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Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth

2019

Pudding mit Sahnehäubchen, gekauft von einem jungen Israeli in Berlin, sorgte 2014 für Aufsehen. Auf der Facebook-Seite Olim-le-Berlin (hebräisch für: Auswandern nach Berlin) postete der Fünfundzwanzigjährige seinen Einkaufszettel: Drei Becher Pudding hatte er in einem Discounter für je neunzehn Cent gekauft. Ein Becher Milky, wie diese Art von Pudding in Israel genannt wird, kostet dort mehr als das Dreifache. 1 Mit seinem Post und dem Aufruf nach Berlin zu ziehen, wo das Leben günstiger war, knüpfte er an eine Debatte um hohe Lebenshaltungskosten in Israel an, die bereits 2011 innerhalb des Landes zu Demonstrationen für günstigere Nahrungsmittel und Mieten sowie für bessere Sozialstandards geführt hatte. Das Symbol dieser sogenannten Boycottage-Kampagne war damals der in Israel beliebte Hüttenkäse (englisch: cottage cheese) geworden, dessen Preis innerhalb der letzten drei Jahre um vierzig Prozent gestiegen war. 2 Nun jedoch wurde die Debatte nach Berlin verlagert und der Aufruf, dorthin auszuwandern, weg vom zu teuer gewordenen Israel, provozierte die Öffentlichkeit und die israelische Regierung gleichermaßen: Wie * "Don't be a Chocolate Soldier" ist der Titel einer Arbeit des Künstlers Micha Laury, die als Anti-Kriegs-Kunstwerk gilt:

Metabolismen Nahrungsmittel als Kunstmaterial Herausgegeben von Isabella Augart und Ina Jessen Veröffentlicht mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und der Geschwister Dr. Meyer Stiftung Impressum BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. LIZENZ Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode.de). Ausgenommen von der oben genannten Lizenz sind Abbildungen und sonstiges Drittmaterial. ONLINE-AUSGABE Die Online-Ausgabe dieses Werkes ist eine Open-Access-Publikation und ist auf den Verlagswebseiten frei verfügbar. Die Deutsche Nationalbibliothek hat die Online-Ausgabe archiviert. Diese ist dauerhaft auf dem Archivserver der Deutschen Nationalbibliothek (https://portal.dnb.de) verfügbar. DOI https://doi.org/10.15460/HUP.202 ISBN 978-3-943423-71-6 COVERGESTALTUNG Hamburg University Press COVERABBILDUNG Bildnachweis: Dieter Roth, Zuckerturm (Schimmelmuseum), 1994. Fotografie: Heini Schneebeli, 1999 © Dieter Roth Foundation, Hamburg / Courtesy Hauser & Wirth. SCHRIFT Alegreya. Copyright 2011: The Alegreya Project Authors (https://github.com/huertatipografica/Alegreya). This Font Software is licensed under the SIL Open Font License, Version 1.1. This license is also available with a FAQ at: http://scripts.sil.org/OFL DRUCK UND BINDUNG Books on Demand – BoD, Norderstedt VERLAG Hamburg University Press, Verlag der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Hamburg (Deutschland), 2019 http://hup.sub.uni-hamburg.de INHALT Metabolismen. Zur Einführung Ina Jessen und Isabella Augart 1 Don’t be a Chocolate Soldier – künstlerische Positionen zur Nahrungsmittelpolitik in Israel und Palästina Isabelle Busch 11 Einverleibungen – interpikturale Bezugnahmen und intermediale Verfahren durch Lebensmittel in der Gegenwartskunst Fabiana Senkpiel 27 The Pages of Day and Night – von Saatgut-Tresoren und Herbarien in Pia Rönickes Arbeit Magdalena Grüner 41 Plastik. Ein spekulativer Metabolismus Inka Lusis 55 Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche Felix Bröcker 65 Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen Barbara Uppenkamp 81 Die Stadt als Organismus – Atelier van Lieshouts Slave City zwischen Nachhaltigkeitsdiktum und künstlerischer Selbstbefragung Anita Hosseini 99 Geschmacksdifferenzen – Kochen als künstlerische Praxis bei Rirkrit Tiravanija 115 Mirja Straub Sonja Alhäuser. Einverleibungen – Hedonismus als künstlerische Befragung Dirk Dobke 129 hoe schilder hoe wilder – Alkoholkonsum von Malern in den Künstlerviten des Karel van Mander Johanna Mocny 145 Das Gegenteil von Appetit – Ekel als ästhetische Erfahrung Tobias Weilandt 161 Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth Ina Jessen 173 Verfasserinnen und Verfasser 193 Meta boli sm en. Zur Einführung Ina Jessen und Isabella Augart Buntgefärbte Zuckerkristalle glitzern in schillernden, gebrochenen Farben. Zahlreiche über-, hinter- und nebeneinander gruppierte Portraitbüsten, Löwenköpfe und seltsam anmutende Hybridformen bilden einen farbenreichen Turm. An den kleinformatigen, zielgerichtet blickenden Zuckerfiguren und ihrer organischen Beschaffenheit ist etwas Ambigues wahrnehmbar. In der Überlagerung von Verfall und Ästhetik einzuordnen, bilden Spuren der Vergänglichkeit das morbide Pendant zu den funkelnd kristallinen Zuckerformen. Filigrane Details zeigen in ihrer Struktur undefinierbare Granulate auf, Spinnweben und die Chitinpanzer von Insekten als Hüllen ausgehauchten Lebens evozieren Vorstellungen von Fäulnis und Verfall. Die bunten Köpfe des Zuckerturms (1994) waren im Ursprung zum Verzehr geeignet, ihre Alters- und Verwesungsspuren entziehen sie jedoch der Verwendung als Lebensmittel und transformieren sie zum „Kunstmaterial“. Der farbenreiche Zuckerturm Dieter Roths, aus Zucker und Lebensmittelfarbe geformt, macht das Material in seiner Prozessualität zwischen Konstruktion, Alterungsprozessen und Zerfall multisensuell erfahrbar.1 Zugleich leitet das Objekt zur Hinterfragung von Rezeptionsmustern, normativen Zuschreibungen an Materialien und Ästhetiken von Nahrungsmitteln als Material. Die visuell und olfaktorisch durch materielle Transformationsprozesse wahrnehmbaren Kunstobjekte im Dieter Roth Museum bildeten den Ausgangspunkt für die Tagung Metabolismen. Nahrungsmittel in der Kunst (Hamburg, 16. und 17. November 2017), deren Perspektiven und Diskussionen 1 Abbildung auf dem Buchcover: Dieter Roth, Zuckerturm (Schimmelmuseum), Holz, Glas, Zucker, Lebensmittelfarbe, Acrylfarbe, 445 x 96 x 96 cm, 1994, Fragmente im Dieter Roth Museum, Hamburg. Vgl. Dieter Roth Foundation (Hg.): Dieter Roth – Originale, bearbeitet von Dirk Dobke, Sammlungskatalog Dieter Roth Museum Hamburg, Hamburg / London 2002, S. 109, S. 205–206. Dieter Roth. Selbste, Ausst. Kat., Aargauer Kunsthaus Aarau, Museum der Moderne Salzburg, Köln 2011. Der Turm ist lediglich in Fragmenten erhalten. Am Beispiel des im Winter 2003 aufgrund der fragilen und prozessualen Materialität und damit einhergehender Beschwerden aus der lokalen Nachbarschaft abgerissenen Schimmelmuseums (Harvestehuder Weg, Hamburg) treten Konstruktion und Dekonstruktion als metabolistische Prozesse eindrücklich zutage. 2 Ina Jessen und Isabella Augart in diesem Band zusammengeführt werden. Im Fokus steht die Nutzung und Reflektion von Nahrungsmitteln als Material in der Kunst.2 Nahrung bildet die biologische Grundvoraussetzung für Stoffwechselprozesse, gelangt durch die orale Aufnahme in den physischen Organismus und transformiert dort in Energie.3 Nahrungsaufnahme ist folglich Grundbedingung allen Lebens. Nahrungsmittel als „Lebensmittel“ sind angesiedelt an der engsten Verbindungsstelle zwischen Menschen und der sie umgebenden Natur. Der in seinem Ursprung naturwissenschaftlich begründete Begriff des „Metabolismus“ als Stoffwechsel eröffnet aufgrund dieser engen Verflechtung zwischen dem Menschen und seiner materiellen Umgebung Felder des Nachdenkens über kulturelle, historische, gesellschafts- und umweltpolitische Dimensionen der Nahrung. Im Kreislauf von Produktion, Zubereitung, Verzehr und Ausscheidung überlagern sich bei Nahrungsmitteln stetig biologische Lebensnotwendigkeit, Kulturtechnik, kulturelle Umformung und globale, umweltpolitische Mechanismen. Diese beschreiben im übertragenen Sinne „metabolistische“ Kausalzusammenhänge von aktueller, gesellschaftlicher Relevanz. Zwischen Hunger und Unterernährung in weiten Teilen des Global South und Überflussgesellschaften mit industrieller Nahrungsmittelproduktion, in denen Nahrungsmittel zwischen Unverträglichkeiten und Lifestyle identitätsstiftend wirken, entspannt sich ein weites Feld. Für Kunst- und Kulturwissenschaftler*innen stellen Nahrungsmittel in gegenwärtiger wie auch in historischer Perspektive einen komplexen Untersuchungsgegenstand dar, da sich aus ihrer jeweiligen Verfügbarkeit, Nutzung, sozialen Funktion, Interpretation und medialen Darstellung Rückschlüsse auf das jeweilige gesellschaftliche Verhältnis von Mensch und Nahrung gewinnen lassen.4 „Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen“5, so Georg Simmel. Über das reine „Über-Lebensmittel“ 2 3 4 5 Nahrungsmittel, Nahrung und Lebensmittel werden in den Beiträgen synonym verwendet. Vgl. zum semantischen Feld um Nahrung/Nahrungsmittel Georg Toepfer: Ernährung, in: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart u.a. 2011, S. 442–460, insbesondere S. 442. Georg Toepfer: Stoffwechsel, in: ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart u.a. 2011, S. 410–425. Vgl. etwa Kikuko Kashiwagi-Wetzel und Anne-Rose Meyer (Hg.): Theorien des Essens, Frankfurt a.M. 2017. Ottmar Ette (Hg.): LebensMittel: Essen und Trinken in den Künsten und Kulturen, Zürich 2013. Alexander Fenton und Eszter Kisbán (Hg.): Food in Change. Eating Habits from the Middle Ages to the Present Day, Edinburgh 1986. Caroline Walker Bynum: Holy feast and holy fast: the religious significance of food to medieval women, Berkeley 1988. Paul Freedman: Food: The History of Taste, London 2007. Anne Schulz: Essen und Trinken im Mittelalter, 1000–1300: literarische, kunsthistorische und archäologische Quellen, Berlin 2011. Ken Albala und Peter Scholliers (Hg.): A Cultural History of Food in the Renaissance, London 2012. Beat Kümin (Hg.): A Cultural History of Food in the Early Modern Age, London 2012. Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim u.a. 1999. Food Revolution 5.0: Gestaltung für die Gesellschaft von morgen, Ausst. Kat., Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Dortmund 2017. Vgl. auch die Zeitschriften Food and Foodways und Food & History zum Forschungsfeld. Georg Simmel: Die Soziologie der Mahlzeit (1910), in: Kashiwagi-Wetzel / Meyer 2017, S. 69. Metabolismen. Zur Einführung 3 hinausgehend, werden Nahrungsmittel jedoch vielfach zum Objekt kultureller Wertaufladungen und tragen zur Distinktion und Identitätskonstruktion von Gruppen bei. Die Spiritualisierung als „geistige Nahrung“, Ernährungsregeln zwischen biblischen Riten und veganer Lebensweise oder menschliche Kategorisierungsbestrebungen der Natur gemäß Essbarkeit, Wohlgeschmack und Nährwerten können als Beispiele dafür gelten, wie kulturelle, religiöse, moralische und gesellschaftspolitische Aufladungen jeweils an die „Materialität“ der Nahrung herangetragen werden und diese mitkonstituieren und sich als Stoffwechselprozess an das Material anlagern. Solche Mechanismen in der Auseinandersetzung mit der Materialität der Nahrung werden in den versammelten Beiträgen aus kunsthistorischen und kunstwissenschaftlichen Perspektiven ausgelotet. Im Fokus stehen die Materialität und mediale Konstruktionen und Reflexionen von Nahrungsmitteln in den Künsten. Die Nutzung von Nahrungsmitteln als Kunstmaterial stellt sich innerhalb der Kunstgeschichte in eine lange Traditionslinie ein. Die Eitempera als Urstoff aller Bildwerdung6 oder die ephemeren Zuckerskulpturen der neuzeitlichen Festkultur7 bilden lediglich zwei Schlaglichter innerhalb dieser materialbezogenen Kunstgeschichte, welche die Forschung mit Blick auf Dimensionen der Produktionsästhetik, sozialen Funktion, Materialikonographie oder der Restaurierung erhellt hat.8 In besonderem Maße wurden pflanzliche und tierische Nahrungsmittel wie beispielhaft Gewürze, Zucker und Kaffee, Brot, Schokolade, Honig und Fett als Werkstoff in der Kunstproduktion im Kontext von Eat Art und dem neu entstandenen Werkbegriff im 20. Jahrhundert im Sinne des Anti Form- oder erweiterten Kunst-Begriffs eingesetzt und hierbei verstärkt auf ihre materiellen und semantischen Dimensionen hin befragt.9 Neben den Einsatz von Nahrungsmitteln als 6 7 8 9 Ann Massing: A short history of tempera painting, in: Phillip Lindley (Hg.): Making medieval art, Donington 2003, S. 30–41. Stefan Zumbühl: "Ich weiss, dass man mit Öl etwas in dieser Art nicht malen kann": maltechnische Experimente in Tempera von Igor Grabar, Alexej von Jawlensky und Dmitri Kardovsky, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 30.1/2016, S. 167–172. Vgl. Ivan Day: Royal sugar sculpture: 600 years of splendor, Barnard 2002. Aufgetischt. Die herzogliche Tafel der Renaissance, Ausst. Kat., Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Braunschweig 2011. Zur Forschungsgeschichte von Nahrungsmitteln als Kunstmaterial, siehe u.a. Roger Fayet und Regula Krähenbühl: Authentizität und Material. Konstellationen in der Kunst seit 1900, Zürich 2018. Angela Matyssek (Hg.): Wann stirbt ein Kunstwerk? Konservierung des Originalen in der Gegenwartskunst, München 2010. Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst, Ausst. Kat., Kunsthalle Düsseldorf, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009. Monika Wagner: Vom Umschmelzen. Plastische Materialien in Kunst und Küche, in: Beate Söntgen und Theodora Vischer (Hg.): Über Dieter Roth, Basel 2004, S. 121–135. Dietmar Rübel: Nahrung, in: Monika Wagner, ders. und Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 182– 186. Ralf Beil: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial von Schiele bis Jason Rhoades, Köln 2002; Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 197–234. Fayet / Krähenbühl 2018; Dietmar Rübel, Monika Wagner und Vera Wolf (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2017; Petra Lange-Berndt (Hg.): Materiality. Documents of Contemporary Art, London 2015; Dietmar Rübel: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012; Matyssek 2010; 4 Ina Jessen und Isabella Augart Material der Kunst stellt sich zudem das weite Feld ihrer motivischen Darstellung: vom Genre der Stilllebenmalerei über Evokationen von Nahrungsmitteln in Materialien wie Bronze oder Marmor bis hin zu zeitgenössischen Visualisierungen der Food Photography im Kontext sozialer Medien binden sich an die Darstellung stets auch Reflexionen über die vielfältigen Semantiken des Materials.10 Vor diesem Hintergrund setzt sich der vorliegende Band zum Ziel, den Dimensionen der Transformation von Nahrungsmitteln zum Kunstmaterial nachzugehen. Welchen Bedeutungsverschiebungen unterliegen Nahrungsmittel, wenn sie zum Werkstoff, Material und Bestandteil von Kunst werden? Wie werden Ursprung und Vergänglichkeit, Aggregat- und Reifezustände von Nahrung als organischem Material im Zuge der künstlerischen Nutzung manifestiert und reflektiert? Welche Rolle spielen die damit einhergehenden sowohl visuellen als auch haptischen und olfaktorischen Reize, die in der Kunst sinnlich erfahrbar werden? Nahrungsmittel als materielle oder imaginative Werkstoffe der Kunst kumulieren zugleich Narrative ihrer ursprünglichen Nutzung und Wertung. Wie werden kulturelle, moralische oder gesellschaftspolitische Diskurse über Nahrung von den Künstler*innen hinterfragt, mitgetragen, legitimiert oder gebrochen? Und welche Form der gesellschaftlichen Verantwortung manifestiert sich in Nahrung als Material und repräsentativem Medium der Künste? Politiken der Nahrung Ein erstes Feld der Beiträge zeichnet nach, auf welche Weise politische, soziale, ökonomische und ökologische Aspekte und Konflikte der Nahrungsmittelproduktion in Kunstwerken verhandelt werden. Insbesondere Dimensionen der nationalen Zuschreibung sowie der globalen Verflechtung werden hierbei in ihrer bedeutungskon- Jörg Daur: Eva Hesse. Zwischen Anti-Form und Materialästhetik. Neue Formen und Materialien der Kunst um 1970, Herzogenrath 2007; Daniel Spoerri: Eat Art – Daniel Spoerris Gastronoptikum, Hamburg 2006; Beil 2002; Wagner 2001; Dirk Luckow: Joseph Beuys und die amerikanische Anti Form-Kunst. Einfluß und Wechselwirkung zwischen Beuys und Morris, Hesse, Nauman, Serra, Berlin 1998; Michael Thompson: Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981. 10 Vgl. mit weiterführender Literatur etwa Valérie Boudier: La Cuisine du peintre, Rennes 2010. Kenneth Bendiner: Food in painting: from the Renaissance to the present, London 2004. Brian Wansink, Anupama Mukund und Andrew Weislogel: Food Art Does Not Reflect Reality: A Quantitative Content Analysis of Meals in Popular Paintings, in: Sage open, 19.07.2016, https://doi.org/10.1177/2158244016654950 (Zugriff am 11.09.2019). Mariella Carrossino: Mangiare con gli occhi: iconografie del cibo nell’arte, Genua 2016. John L. Varriano: Tastes and temptations: food and art in Renaissance Italy, Berkeley 2009. Deceptions and illusions: five centuries of trompe l’œil painting, Ausst. Kat., National Gallery of Art Washington, Aldershot 2002. Inke Beckmann: Geflügel, Austern und Zitronen. Lebensmittel in Kunst und Kultur der Niederlande im 17. Jahrhundert, Darmstadt 2014. Hanneke Grootenboer: The Rhetoric of Perspective: Realism and Illusionism in Seventeenth-Century Dutch Still Life Painting, Chicago 2005. Susan Bright: Feast for the eyes: the story of food in photography, New York 2017. Metabolismen. Zur Einführung 5 stituierenden Kraft für die Ikonologie eines Materials oder die Entstehung eines Objektes untersucht. In ihrem Aufsatz Don’t be a Chocolate Soldier. Künstlerische Positionen zur Nahrungsmittelpolitik in Israel und Palästina verhandelt Isabelle Busch die Bedeutungszuschreibung von Lebensmitteln in aktuellen politischen Kontexten. Künstlerische Arbeiten mit israelischem und palästinensischem Bezug setzt sie in globalpolitische Wechselbeziehungen und thematisiert somit die Diversität nationaler, historisch verankerter Identitätskonstruktionen, die sich über Aspekte wie landwirtschaftliche Produktion und Erzeugnisse, Handelsstrukturen, politische Konfliktsituationen oder gar Rezeptzuschreibungen etabliert haben. Im Zuge dessen zeigt die Autorin Künstler*innen-Positionen, deren Strategien und Potentiale zur Überprüfung von Identitätenbildungen im jeweiligen Objektkontext auf, begreift und reflektiert das Moment der historisch-politisch bedingten Bedeutungszuschreibung von Nahrungsmitteln als Metabolismus. Im Fokus des Beitrags Einverleibungen ‒ Interpikturale Bezugnahmen und intermediale Verfahren durch Lebensmittel in der Gegenwartskunst stehen kritische Reflexionen von Bildern aus Alltagssituationen und deren politischer Konnotation am Beispiel von Kriegsbezügen oder sexistisch-normativen Prägungen. Darin zeigt Fabiana Senkpiel auf, inwiefern bildliche Sinnstiftungen kohärent zu materialspezifischen Aspekten wirken und macht dies anhand topischer, zeitgebundener, Verfall und Vergänglichkeit verhandelnder Motive und Materialien deutlich. Den Metabolismus-Begriff fasst Senkpiel dabei konkret im Moment des Aneignungsprozesses, der tatsächlichen Einverleibung und damit der multisensuellen Rezeption von Arbeiten der Schweizer Künstlerinnenpositionen Isabelle Krieg sowie Celia und Nathalie Sidler. Etwa anhand von Nahrungsresten, Torten oder Pralinen und der jeweilig politisch-dokumentarischen Zuschreibung treten Aspekte wie Ritualisierung, Habitualisierung, Konsum oder massenmediale Verbreitungsmechanismen in den Mittelpunkt. So stellt die Autorin die ausgewählten und als Kunstmaterial verwendeten Lebensmittel in den Kontext verschiedener politischer Bezugnahmen, dokumentiert diese anhand von pikturalen Zuschreibungen und eröffnet die Diskussion in Verbindung mit der Performativität physischer Einverleibung als besonderer Form der Rezeption. Wie sich im Herbarium in der Sammlung konservierter Pflanzen bzw. Pflanzenteile Fragen nach der Herkunft und Sammlung, Kategorisierung und Bewahrung von Pflanzen, nach Verschiebungen zwischen Naturprodukt und gezüchtetem Kulturgut und nach politischen Aushandlungen von Nahrung, Ressourcenzugang und Nahrungsvielfalt bündeln, erläutert Magdalena Grüner in ihrem Beitrag The Pages of Day and Night. Von Saatgut-Tresoren und Herbarien in Pia Rönickes Arbeit. Mit Blick auf neokoloniale Strukturen stellt sie das historische Kopenhagener Herbarium dem zeitgenössischen Global Seed Vault auf Spitzbergen in deren Funktion und politischer Implikation einander gegenüber. Im Kontext werden etwa globalpolitische Aspekte wie gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtstrukturen, die Versorgung 6 Ina Jessen und Isabella Augart der Weltbevölkerung, Eigentumsverhältnisse, koloniale Abhängigkeiten gegenüber gegenwartspolitischen und somit neokolonialen Bezügen im Rahmen von Pia Rönickes Arbeit benannt. Dabei kategorisiert Grüner Rönickes Arbeit als „Schauplatz der Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Kulturpflanze“. Inka Lusis stellt in ihrem Beitrag Plastik. Ein spekulativer Metabolismus gegenwartspolitisch reflektierende und futuristische Perspektiven auf das „Nahrungsmittel“ Plastik in den Fokus. Das Material wird dabei sowohl in körperlicher Hinsicht in metabolistischen Praktiken der Einverleibung wie auch in Anbetracht von ökologischen Prozessen relevant. Sie zeigt damit die Paradoxien aktueller Gesellschaften und die Rolle von Menschen im Umgang mit ökopolitischen Themen sowie deren Konsequenzen auf. Dabei geleitet sie gegenwärtige, global- und ökopolitische Problematiken um die inflationäre Produktion und die ökologischen Konsequenzen etwa durch einen verantwortungslosen Umgang mit dem synthetischen Material hin zu Pinar Yoldas Arbeit Ecosystem of Excess von 2014. Ausgehend vom Material Plastik akzentuiert Lusis somit die Entwicklung von Spezies aus plastikzentrierten Ökosystemen. Sie stellt aktuelle, ökobzw. biopolitische Diskurse heraus, die leitende Gesichtspunkte im Zusammenhang der futuristisch visionären künstlerischen Position bedingen. Institution, System, Prozessualität Die zweite Gruppe von Beiträgen widmet sich den Orten und institutionellen Rahmenbedingungen der metabolistischen Verschiebungen. So stellt Felix Bröcker Strategien der Produktion und Inszenierung von Nahrungsmitteln in der Kunst und in der Spitzengastronomie gegenüber. Anhand von Positionen des 20.–21. Jahrhunderts folgt er in seinem Beitrag Nahrungsmittel als Medium und Material in Kunst und Küche den Verflechtungen zwischen den beiden institutionellen Feldern, dem Spiel mit kulinarischen Normen und der Brechung von Erwartungshaltungen. Mit Blick auf Akteure wie Ferran Adrià oder Rikrit Tiravanija werden die Rollenbilder von kochenden Künstler*innen und genialisch verehrten Küchenchefs innerhalb einer medial mitgeprägten Geschmackskultur beleuchtet. Am Umgang mit den Nahrungsmitteln wird deutlich, wie in Kunst und Küche gesellschaftliche Veränderungen und Wertbeimessungen zu Nahrungsmitteln wie etwa Lokalität, Luxus oder Ursprünglichkeit abgebildet werden. Indem er Prozesse der Zubereitung wie Schneiden und Kochen, Garen und Dünsten als Transformationen des Materials in den künstlerischen und gastronomischen Systemen diskutiert, zeigt er, wie Dynamiken der Materialveränderung in beiden Bereichen durch kulturelle Techniken kontrollierbar und nutzbar gemacht werden. Überlegungen zum technischen Fortschritt als strukturellem und regulativem Eingriff sind auch für Barbara Uppenkamp von zentraler Bedeutung, die in ihrem Aufsatz Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen nach Metabolismen. Zur Einführung 7 den gebauten Rahmenstrukturen der Nahrungsproduktion fragt. In der Auseinandersetzung mit der Architektur des Hamburger Zentralschlachthofes im 19. und 20. Jahrhundert als regelrechte Stadt in der Stadt macht sie deutlich, dass Prozesse der Normierung und Standardisierung konstitutiv für die Abläufe der Fleischproduktion und deren bauliche Realisation innerhalb eines geschlossenen Produktionssystems waren und auch durch in Form von Lithografien, Comics und Fotografien vermittelte Imaginarien eines distanzierten Blickes mitgetragen wurden. Während die bildlichen und architektonischen Bändigungen der Gewalt als eine metabolistische Funktionsebene im Falle des Schlachthofes das Verhältnis von Mensch und Tier betreffen, widmet sich Anita Hosseini einem geschlossenen Stadt-Organismus, der auf einem metabolistischen Kreislauf zur Sicherung und zum Erhalt der Lebensqualität und Nachhaltigkeit beruht. Vor dem Hintergrund des verstärkten Klimawandels im Zeitalter des Anthropozän und daran anschließender Verteilungskonflikte etwa um den Zugang zu Nahrung beleuchtet sie in Die Stadt als Organismus. Atelier van Lieshouts Slave City zwischen Nachhaltigkeitsdiktum und künstlerischer Selbstbefragung einen geschlossenen Kreislauf als Zeitkritik und Utopie. Das System stützt sich auf Arbeits- und Partizipationsabläufe und kreist um die „Verwertung“ des Menschen von seiner physischen Arbeitskraft bis zu seiner materiellen Substanz. Moralische Demarkationslinien der Nutzbarmachung und Nachhaltigkeit werden in dieser künstlerischen Position in einem medienübergreifenden Entwurf vordergründig nivelliert und dadurch hinterfragt. Ausgehend von den Produktionsverhältnissen werden die Systeme der Nahrungsmittelproduktion in ihrer gesellschaftlichen Verortung und Verantwortung rückgebunden. Soziale Gefüge Daran anknüpfend werden durch die heuristische Kategorie der sozialen Gefüge Fragen nach den materiellen, imaginativen und sozialen Relationen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen verhandelt. So beschäftigt sich Mirja Straub mit Rikrit Tiravanija, der als Künstlerkoch vor und für Teilnehmende in Galerien und Kunstvereinen kocht, sie probieren lässt und sie dadurch selbst zum Teil seiner künstlerischen Praxis werden lässt. Innerhalb dieser, zumindest zeitweilig, geformten Tischgemeinschaften kommt Aspekten wie dem geteilten Geschmack, Lokalgerichten und Evokationen des Ungewohnten eine diskursive Qualität zu. In Geschmacksdifferenzen. Kochen als künstlerische Praxis bei Rirkrit Tiravanija erörtert sie die historischen, sozialen und kulturellen Dimensionen für die jeweilige Auswahl der Rezepte von thailändischem PadThai bis hin zur schwäbischen Flädlesuppe und fragt nach den Momenten der Irritation und der Erwartungsbrechung als hierin aufscheinenden metabolistischen Interventionen. Der individuelle und gemeinschaftliche 8 Ina Jessen und Isabella Augart Gestus der Nahrungsmittelkonsumption wird auch in der künstlerischen Praxis der Berliner Künstlerin Sonja Alhäuser unter anderem in Form von ausschweifenden Banketten zelebriert. Dabei erinnern die elaborierten Performanzen der Zubereitung, Präsentation und Konsumption an die ephemeren Genüsse barocker Festmahle. Dirk Dobke macht in seinem Beitrag Sonja Alhäuser – Einverleibungen. Hedonismus als künstlerische Befragung deutlich, wie die Künstlerin Vorstellungen von Zeitlichkeit durch den Einsatz von Nahrungsmitteln als skulpturalen Werkstoffen anlegt. Neben den werkimmanenten Transformationsprozessen ist einerseits die lenkende künstlerische Haltung Alhäusers signifikant, welche die Konzeption und den skulpturalen Schaffensprozess im Umgang mit dem Werkstoff Nahrung umfasst. Indem die Objekte anschließend dem körperlichen Einverleiben und Verdauen durch die Bankett-Teilnehmenden oder durch Ausstellungsbesucher*innen überlassen werden, wird ihre Arbeit gustatorisch erfahrbar, schließlich multipliziert wie auch zerstört. Während Rirkrit Tiravanija und Sonja Alhäuser die Produktion der Nahrung selbst stabilisieren und dem Betrachtenden die Rolle eines konsumierenden Rezipienten zuweisen, wird im folgenden Beitrag der Künstler selbst zum Konsument. Johanna Mocny präsentiert mit Karel van Mander eine zentrale Position der neuzeitlichen Kunstliteratur und widmet sich dessen normativem Blick auf den Alkoholkonsum des Künstlers. Wie eng Trinkkunst und Kunstproduktion im Zeitalter des Barock miteinander verbunden sind, zeigt sie in ihrem Beitrag hoe schilder hoe wilder. Alkoholkonsum von Künstlern in den Künstlerviten des Karel van Mander anhand von Van Manders’ Kritik an ausschweifendem Trinkverhalten und dessen negativen Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen auf. Indem sie den Rausch als metabolistische Transformation des künstlerischen Subjekts beleuchtet, stellt sie heraus, dass Van Mander kunsttheoretische Topoi der Generierung von Schaffenskraft und der Mäßigung auch in nationalen Zuweisungen diskutiert. Zuschreibungen an Nahrungsmittel Nahrungsmittel unterliegen facettenreichen Wahrnehmungsarten etwa im Rahmen künstlerischer Prozesse, bei der Rezeption von Kunstwerken aber auch innerhalb philosophischer Denkräume und im alltäglichen Umgang mit Lebensmitteln. Dass diese Lektüren des Materials keineswegs neutral operieren, machen die folgenden Beiträge deutlich, indem sie die Prozesse, Akzeptanzräume, Deutungshoheiten und normativen Prägungen bei semantischen Zuschreibungen an Nahrungsmittel diskutieren. Gesund und ungesund, lecker und geschmacklos – der menschliche Blick auf die Vielfalt von Nahrungsmitteln lässt sich noch zuspitzen im Ordnungsmuster appetitlich und eklig. Ekel gilt gemeinhin als Abwehrreaktion vor verschimmelten und verdorbenen Lebensmitteln und vor Verwesungsprozessen, wie Tobias Weilandt in Metabolismen. Zur Einführung 9 seinem Beitrag zu Ekel als ästhetische Erfahrung eindringlich vor Augen führt. Mit der Frage, was Ekel denn eigentlich ist, entwickelt der Philosoph die thematische Einbettung im Sinne seiner Typologie des Ekels. Zentrales Moment ist dabei die spezifische Frage danach, ob es einen kunstbezogenen Ekel gibt. Insofern nimmt der Autor in den Blick, inwiefern Lust und Ekel als ambiges Gegensatz- oder einander anregendes Paar gekoppelt sind. Dabei stehen stets die sinnliche Wahrnehmung und Rezeption ekliger Dinge als Ausgangspunkt im Fokus. Dass sich dabei neben die sinnliche oder imaginative, momenthafte Erfahrung zudem Aspekte der Zeitlichkeit stellen, macht Ina Jessen abschließend deutlich. Im Beitrag Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth kontextualisiert und synthetisiert sie die Semantiken im Werkentstehungsprozess von Materialbildern des Künstlers. Dabei beschreibt der Weltbegriff einerseits die subjektive Erinnerungswelt, die durch den Katalysator der Sinneserfahrung von Nahrung reaktiviert, belebt und eröffnet wird. Andererseits spiegelt der kartografische Objektwerdungsprozess bei Roth eine autobiografische Welt wider, die im Zeichen semantischer Konnotationen der Werkstoffe steht. Materialspezifische Aspekte von Zeitlichkeit und Verfall bilden dabei kausale Verbindungen zwischen dem Objektwerdungs- und Transformationsprozess und dem menschlichen Lebensprozess, wodurch das memento mori allgegenwärtig wird. Der Sammelband bündelt Fragen, Diskussionen und Perspektiven der zweitägigen Tagung Metabolismen. Nahrungsmittel in der Kunst im Warburg-Haus und dem Dieter Roth Museum Hamburg im November 2017. Allen Vortragenden und Interessierten danken wir für die lebhaften Diskussionen. Benjamin Fellmann und Eva Landmann sei für den wundervollen Rahmen im Warburg-Haus gedankt. Für ihre Unterstützung bei den Tagungsvorbereitungen möchten wir uns bei Ilka Mestemacher und Alexandra Pietroch herzlich bedanken. Dem Dieter Roth Museum danken wir für die Möglichkeit, den Veranstaltungsauftakt in den Sammlungsräumen zu gestalten sowie für die Bereitstellung der Cover-Abbildung zum vorliegenden Band. Die Tagung wie auch die vorliegende Publikation ermöglichte die großzügige Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und der Geschwister Dr. Meyer Stiftung, ihnen gilt unser besonderer Dank. Tobias Buck und Isabella Meinecke ermöglichten die Aufnahme in die Reihe der Hamburg University Press und begleiteten die Entstehung des Sammelbandes. Für ihr Vertrauen in das gemeinsame Projekt möchten wir uns ganz herzlich bei allen Autorinnen und Autoren des Sammelbandes bedanken. Don’t be a C hocolate Soldier Künstlerische Positionen zur Nahrungsmittelpolitik in Israel und Palästina Isabelle Busch Ein Pudding mit Sahnehäubchen, gekauft von einem jungen Israeli in Berlin, sorgte 2014 für Aufsehen. Auf der Facebook-Seite Olim-le-Berlin (hebräisch für: Auswandern nach Berlin) postete der Fünfundzwanzigjährige seinen Einkaufszettel: Drei Becher Pudding hatte er in einem Discounter für je neunzehn Cent gekauft. Ein Becher Milky, wie diese Art von Pudding in Israel genannt wird, kostet dort mehr als das Dreifache.1 Mit seinem Post und dem Aufruf nach Berlin zu ziehen, wo das Leben günstiger war, knüpfte er an eine Debatte um hohe Lebenshaltungskosten in Israel an, die bereits 2011 innerhalb des Landes zu Demonstrationen für günstigere Nahrungsmittel und Mieten sowie für bessere Sozialstandards geführt hatte. Das Symbol dieser sogenannten Boycottage-Kampagne war damals der in Israel beliebte Hüttenkäse (englisch: cottage cheese) geworden, dessen Preis innerhalb der letzten drei Jahre um vierzig Prozent gestiegen war.2 Nun jedoch wurde die Debatte nach Berlin verlagert und der Aufruf, dorthin auszuwandern, weg vom zu teuer gewordenen Israel, provozierte die Öffentlichkeit und die israelische Regierung gleichermaßen: Wie * 1 2 „Don’t be a Chocolate Soldier“ ist der Titel einer Arbeit des Künstlers Micha Laury, die als Anti-Kriegs-Kunstwerk gilt: Micha Laury, Don’t be a Chocolate Soldier, 1969/1994, Schokoladenabgüsse von Soldatenfiguren (30 cm hoch), Frac Normandie Caen. Vgl. Raniah Salloum: Auf ins Pudding-Paradies! Hype um israelischen Facebook-Post, Spiegel Online, 11.10.2014, http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-und-berlin-auf-facebook-starten-pudding-protestea-996337.html sowie Sonja Salzburger: Israelis beneiden Deutsche um Billigpudding, Süddeutsche Zeitung, 08.10.2014, http://www.sueddeutsche.de/panorama/hohe-lebensmittelpreise-israelis-beneiden-deutscheum-billigpudding-1.2165252 (Zugriff am 09.07.2018). Vgl. Sogar der Hüttenkäse ist politisch, Martin Krauß im Interview mit Felix Zimmermann, taz, 26.10.2012, http://www.taz.de/!5080904/ (Zugriff am 09.07.2018). 12 Isabelle Busch konnten knapp siebzig Jahre nach der Schoah Israelis so bereitwillig nach Deutschland ziehen und ihre Zugehörigkeit zum Staat Israel von wirtschaftlichen Gesichtspunkten abhängig machen?3 Wie dieses Beispiel zeigt, kann die Bedeutung von Lebensmitteln über ihre ernährende Funktion hinaus gehen und Ausdruck politischer Handlungen werden. Diese Umwandlung vom wertneutralen Nahrungsmittel zum Bedeutungsträger und Handlungsauslöser wird im vorliegenden Aufsatz als Metabolismus verstanden. Anhand von künstlerischen Arbeiten werden dieserart Metabolismen von Nahrungsmitteln am Beispiel Israels untersucht und in ein Verhältnis globaler Wechselbeziehungen gesetzt. Israel ist ein von Migration geprägtes Land und vereint auf kleiner Fläche eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Dies spiegelt sich auch in der Vielfalt von Rezepten oder religiös bedingten Produktions- und Zubereitungsformen wider (zum Beispiel koscher und halāl). Rezepte und landesspezifische Nahrungsmittel können zugleich zur Konstruktion nationaler Identitäten beitragen, die auch das globale Image des Landes prägen können. Mitunter stehen die landwirtschaftliche Produktion in Israel und der Zugang zum Handel mit Lebensmitteln unter dem Einfluss der historisch-politischen Auseinandersetzungen und Gebietsansprüche zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Die Herstellung landwirtschaftlicher Produkte hat außerdem zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt, denn trotz umfassender Maßnahmen für eine möglichst ökologische und effiziente Wassernutzung steht die Nachfrage der globalen Märkte den beschränkten Wasserressourcen des trockenen Landes gegenüber.4 Durch den Export von Lebensmitteln weiten sich diese spezifischen kulturellen, historischen, politischen und ökologischen Verflechtungen global aus. Avocados, Datteln oder Zitrusfrüchte in den Supermärkten der Importländer sind zwar per se wertneutral. Durch die globale Zirkulation verlagern sich Aspekte der mit ihnen verbundenen Konflikte jedoch in die importierenden Länder. Auf diese Weise entstehen kontroverse Debatten wie jene um die EU-Kennzeichnungspflicht von Produkten aus den von Israel besetzten Gebieten, die nicht den Grenzen des völkerrechtlichen Abkommens von 1967 entsprechen, oder 3 4 So hielt es etwa der Bildungsminister Schai Piron für problematisch, wenn die Zugehörigkeit zum Staat Israel allein von wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit abhängig gemacht werde. Vgl. Raphael Ahren: Pudding und Proteste, Jüdische Allgemeine, 15.10.2014, https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/20499 (Zugriff am 09.07.2018). Ein Beispiel für die Entwicklung möglichst effizienter und minimaler Nutzung von Wasser in der Landwirtschaft ist die in Israel entwickelte Tröpfchenbewässerung. Don’t be a Chocolate Soldier 13 die öffentlichkeitswirksamen Boykottaufrufe der international organisierten Initiative BDS (deutsch: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen). 5 Grundlage für den vorliegenden Aufsatz ist eine fünfwöchige Recherchereise nach Israel mit Ausflügen in palästinensische Gebiete wie die South Hebron Hills.6 Die höchst komplexe politische Lage in Israel und Palästina zu beurteilen, setzt ein umfassendes Verständnis der politischen, historischen und sozialen Vorgänge voraus und ist nicht Ziel dieses Aufsatzes. Vielmehr wird aus der Perspektive der Kunstwissenschaften eine Auswahl zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten vorgestellt, die sich mit der vielschichtigen Bedeutung von Nahrungsmitteln im israelischen und palästinensischen Kontext beschäftigen. Die Recherche hat gezeigt, dass ein großer Teil der zu diesem Thema entstehenden Arbeiten politische Referenzen aufweist. Die Künstlerinnen und Künstler stammen größtenteils aus Israel und den palästinensischen Gebieten und leben dort oder in Tunesien, Frankreich und Großbritannien. Neben Gesprächen mit den Künstler*innen sowie mit Kurator*innen, Kulturschaffenden und verschiedenen Akteuren innerhalb der Nahrungsmittelkette Israels wurde aufgrund mangelnder Hebräisch- und Arabischkenntnisse ausschließlich englisch- und deutschsprachige Literatur verwendet.7 Zugunsten einer möglichst differenzierten Betrachtung wurde jedoch darauf geachtet, Stimmen verschiedenstämmiger Künstler*innen und Autor*innen sowie Zeitungen unterschiedlichen Profils als Quellen heranzuziehen. Belastete Böden. Nahrungsmittel und Landwirtschaft Die Videoarbeit The Orchard (2014) von Shahar Marcus zeigt eine langsame Kamerafahrt durch einen üppigen Obstgarten, in dem Orangen, Grapefruits, Zitronen und Pomelos wachsen (Abb. 1). Inmitten des Gartens sitzt Shahar Marcus in einem mit 5 6 7 So wurde innerhalb der Debatte um die EU-Richtlinien eine Verbindung zum Aufruf der Nationalsozialisten „Kauft nicht bei Juden“ hergestellt. Vgl. Hans-Christian Rössler et al.: Die Dattel aus Jericho ist nur der Anfang vom Frieden, https://faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/die-dattel-aus-jericho-ist-nur-der-anfang-vom-frieden-1422 9904.html (Zugriff am 16.12.2018). Boykotte israelischer Produkte wurden kritisiert, da sie einzig zu einer Verhärtung der Lager führten und nicht der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aller Beteiligten dienten. Vgl. Lea Hampel: Der Boykott Israelischer Produkte ist sinnlos – und schädlich, Süddeutsche Zeitung, 10.01.2016, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-sinnloser-boykott-1.2811585 (Zugriff am 16.12.2018). Die Recherchereise wurde gefördert durch ein Kurator*innenstipendium des Goethe-Instituts. Die Reise in die South Hebron Hills wurde durchgeführt von der Initiative Breaking The Silence. Der Aufsatz wurde im Bewusstsein über die Teilhabe an diesem globalen Geflecht verfasst und zugleich im Bewusstsein über die Außenperspektive der aus Deutschland stammenden Autorin. Die Autorin dankt Vered Gami, Yael Goldmann, Vardit Gross, Wolf Iro, Susanne Kriemann, Mira Lapidot, Kathleen Reinhardt, Roee Rosen, Joshua Simon und Chen Tamir für ihre großzügigen Recherchehinweise. Es wurden außerdem Gespräche mit einem Kashrut-Aufseher und einem Aktivisten der Initiative Pesiaskitchen geführt, die in Tel Aviv abgelaufene Lebensmittel ,rettet‘ und an Bedürftige verteilt. 14 Isabelle Busch Abb. 1 Shahar Marcus, The Orchard, 2014, HD Einkanalvideo, 04:05 Min, Filmstill Wasser und Orangen gefüllten Becken und singt lauthals das Lied ‫( זהב הכל‬hebräisch für: Alles ist golden) der Gruppe Ha’Tarnegolim aus dem Jahr 1963. 8 Ein Lied, das verklärte Alltagsszenen des ‚goldenen‘ Lebens in Israel beschreibt. Der Drehort des Videos ist ein restaurierter Obstgarten, der Teil des Minkov Citrus Orchard Museum in Rehovot ist. Der jüdische Einwanderer Zalman Minkov hatte 1904 an dieser Stelle den ersten Obstgarten der Stadt gepflanzt. Heute wird er dort als blühendes Exponat zusammen mit landwirtschaftlichem Gerät der frühen Siedlerzeit und des traditionellen arabischen Anbaus von Zitrusfrüchten museal ausgestellt. Mit der Wahl dieses Drehorts führt Marcus die Betrachter*innen in die Zeit der frühen Ansiedlung jüdischer Einwanderer*innen in Palästina, die sich durch die Bewirtschaftung eigener Gärten eine unabhängige Existenz schufen.9 Es ist die Zeit des frühen politischen Zionismus, der in der Kultivierung des Landes Israel (Eretz Israel) eine zentrale Aufgabe 8 9 Englische Übersetzung des Liedes ‫( זהב הכל‬All is Gold) der Gruppe Ha’Tarnegolim: „You go outside to the great wide world / And see that all in it is gold / You sit at sea and tan / And warm up in rays of gold / Caressing locks of gold / Indeed, for it’s all gold / To the orchard I’ll sneak as a thief / And grab me an apple of gold / And when it’s hot, in a heat wave, on a whim / I may lie in between stalks of gold  / When going outside, not everyone / Has eyes to see what’s in front of them / Mostly they’ll go out to the street / Minding their own business / And you feel like approaching them / And telling them with a wide grin / What a night, what a sea / What shadow, how hot / Look ahead man, see / That all is gold “ Vgl. Ora Kraus: All is Gold, in: Shahar Marcus. All is Gold, Ausst. Kat., Rehovot Municipal Gallery, 2014, S. 9–10. Vgl. ebd., S. 7. Es ist die Zeit der ersten Alija (1882–1903), als 20.000–30.000 Juden aus Osteuropa, Russland, Rumänien und dem Jemen nach Palästina auswanderten. Alija ist ein biblischer Begriff, der im Judentum seit dem babylonischen Exil (586–539 v. Chr.) die Rückkehr von Juden in das Land Israel (Eretz Israel) bezeichnet. Seit der Entstehung des politischen Zionismus im 19. Jahrhundert beschreibt die Alija die jüdische Einwanderung nach Palästina bzw. Don’t be a Chocolate Soldier 15 sah. Der politische Zionismus unterscheidet sich vom kulturellen Zionismus durch den Kampf für politische Unabhängigkeit und eine nationale Existenz in Palästina verbunden mit der Entwicklung kultureller Produkte zur Bekräftigung einer nationalen Identität.10 Der österreichische Schriftsteller Theodor Hertzl gilt als einer der Vordenker des politischen Zionismus. In seiner utopischen Erzählung Altneuland (1902) beschrieb er die karge Landschaft Palästinas als ‚das Unheimliche‘, während er eine Begrünung des Gebiets mit Ruhe, Rationalität und Zuhause verband, sprich: mit einer Verwestlichung des Landes.11 Entsprechend des Wunsches nach Kultivierung des Landes Israel wurden Nahrungsmittel in dieser Zeit Teil von zionistischer Propaganda. So wurden etwa Bilder von Produkten wie Weizen, Datteln und Oliven, die in der Bibel beschrieben werden, auf Postkarten verschickt oder auf Plakate für Spendenaufrufe gedruckt. Mit Exportprodukten wie Oliven und Olivenöl sowie Feigen, Datteln, Granatäpfeln und Zitrusfrüchten wurde die zionistische Idee ins Ausland ,verkauft‘.12 Aus dem Geist dieser Zeit erwuchs auch die international berühmte Jaffa-Orange, die Marcus’ Körper im Video so üppig bedeckt. Jahrzehntelang erfolgreich exportiert wurde sie zu einem Nationalsymbol Israels auf der einen Seite und zum Symbol eines verlorenen palästinensischen Heimatlands auf der anderen Seite. Orangen zierten Plattencover israelischer Folksongs und Orange war die Farbe der Kostüme von Stewardessen der israelischen Flugline El Al. Heute hat die Orange ihren Status als Nationalsymbol verloren. Inzwischen kann das Jaffa-Label von anderen Firmen in erfolgreicheren Exportländern wie Spanien oder Südafrika gekauft und für ihre Orangen verwendet werden. In Israel hingegen ging der landwirtschaftliche Export von Orangen in den vergangenen Jahren zugunsten des Technologiesektors zurück.13 Familienbetriebene Obstgärten wie jener in Rehovot hatten lange Zeit das landschaftliche Bild Israels geprägt. Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es sie aber kaum noch.14 Trockenheit, der sogenannte Tristezavirus, der 10 11 12 13 14 seit 1948 nach Israel. Ab 1882 begann der in Frankreich lebende Baron Edmond Rothschild in sechzehn Musterdörfern 12.000 Juden anzusiedeln, die sich selbst ernähren konnten. Der kulturelle Zionismus beschränkt sich auf die Entwicklung der hebräischen Sprache, Literatur und anderer kultureller Ausdrucksweisen, die keiner politischen Autonomie bedürfen. Vgl. Yael Raviv: Falafel Nation. Cuisine and the Making of National Identity in Israel, Lincoln / London 2015, S. 10, zgl. Diss., New York University, 2002. Vgl. Tali Tamir: Agro-Art: Contemporary Agriculture in Israeli Art, in: Agro-Art: Contemporary Agriculture in Israeli Art, Ausst. Kat., Petach Tikva Museum of Art, 2015, S. 136. Tamir bezieht sich auf die in hebräischer Sprache erschienene Dissertation von Naama Meishar: Politics and Ethics in Landscape Architecture: Spacing, Expression, and Representation in Jaffa’s Slope Park, Diss., The Hebrew University, Jerusalem 2015, S. 111–112. Vgl. Raviv 2015, S. 10. Vgl. ebd., S. 36–37. Vgl. Carol Bardenstein: Threads of Memory and Discourses of Rootedness: Of Trees, of Oranges and the prickly-pear cactus in Israel/Palestine, Amsterdam 1998. Vgl. Raviv 2015, S. 7. 16 Isabelle Busch Abb. 2 Gal Weinstein, Sun Stand Still (Jezreel Valley in the Dark), 2017, Polyurethan, Kaffee, Zucker, Ausstellungsansicht, Israelischer Pavilion, 57. Biennale von Venedig, 2017 Preisanstieg für Wasser und Dünger sowie die internationale Konkurrenz der Exportländer hatten dafür gesorgt, dass ihr Anbau zurückging. In der Folge wurden viele der Bäume entwurzelt und das Land zu anderen Zwecken, insbesondere für den Bau von Immobilien, genutzt.15 Mit seiner Videoarbeit verbindet Shahar Marcus die Beschreibung Israels im Text des Liedes Alles ist golden mit „goldenen Äpfeln“, wie Orangen wörtlich auf Hebräisch heißen. Er führt uns zurück in die Zeit des politischen Zionismus und den daraus hervorgegangenen goldenen Jahren des erfolgreichen landwirtschaftlichen Exports. Im Kontext des Entstehungsjahrs der Arbeit, 2014, als der Gaza-Krieg erneut eskaliert war, besitzt der Liedtext einen bitteren Sarkasmus, denn das Ideal des goldenen Lebens hatte sich in dieser Form nicht eingelöst, sondern hatte sich vielmehr zu einem kriegerischen Konflikt verhärtet. Auch der Künstler Gal Weinstein setzte sich in seiner Arbeit Jezreel Valley in the Dark (2017) für den Israelischen Pavillon der 57. Biennale von Venedig mit der frühen jüdischen Besiedlung auseinander, die mitunter durch die Aktivitäten des 1914 gegründeten American Zion Commonwealth geprägt war (Abb. 2). Diese zionistische Körperschaft in den USA spielte vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 durch Ankäufe von Land eine wichtige Rolle bei der Besiedlung Palästinas, so auch bei der von Weinstein behandelten Jesreelebene. Die jüdische Ideologie beinhaltete 15 Vgl. Ronit Vered: Restoring the Glory of local Orachards, Ha’aretz, 08.08.2013, https://www.haaretz.com/premium-survival-from-sabra-orange-to-boutique-limes-1.5318555 (Zugriff am 15.07.2018). Don’t be a Chocolate Soldier 17 Land selbst zu bewirtschaften, womit eine Verpachtung des Tals an die dort ansässigen Araber ausgeschlossen war. Als frühe jüdische Siedlung erlangte die Jesreelebene im kollektiven israelischen Gedächtnis den Status einer mythischen Landschaft und gehört heute aufgrund ihrer fruchtbaren Böden zu den am intensivsten landwirtschaftlich genutzten Gegenden Israels.16 Mit seiner Installation schuf Weinstein jedoch das Gegenteil einer kultivierten Landschaft. Ein schimmelndes Gemisch aus Kaffee und Zucker breitete sich als organisch wachsender Teppich auf dem segmentierten Boden des Pavillons aus. Die grafische Anordnung des Bodens verwies auf die Struktur einer bewirtschafteten Landschaft und ihre Grenzen wurden durch das Wachsen des Schimmels überwunden. Dieses Wuchern kann zunächst wie ein symbolischer Appell zu einer organisch organisierten Koexistenz in Israel erscheinen. Zugleich besitzt der Schimmel die ungute Konnotation des Vernachlässigten. Durch die sensuelle Erfahrung des scharfen Gestanks und durch das prozessuale Fortschreiten der Installation wurden die Besucher*innen des Pavillons unmittelbar in die Arbeit einbezogen. Daher kann sie – besonders im internationalen Kontext der Biennale von Venedig – gleichsam als Aufruf verstanden werden, sich dem Konflikt um die territorialen Gebiete und ihre landwirtschaftlichen Zusammenhänge nicht zu entziehen. Denn dieser ist auch heute noch aktuell. So beruft sich die israelische Regierung auf ein osmanisches Gesetz aus dem Jahr 1858, das besagt, dass Eigentümer von Land, die ihre Felder drei Jahre nicht bewirtschaften, ihr Land abgeben müssen. Dieses wird dann zur Bewirtschaftung an jüdische Siedler gegeben. 17 Daneben sind Ungleichheiten im Zugang zu Wasser als Grundlage für die Landwirtschaft ein Streitpunkt zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. 18 Die landwirtschaftliche Nutzung der Böden ist im klimatisch trockenen Israel zudem ökologisch nicht unproblematisch. Das Künstlerduo Cooking Sections zeigt dies mit ihrer Arbeit Under The Sea There Is A Hole (2015). Ausgangspunkt sind die über 4.000 Sinkhöhlen am Toten Meer. Es handelt sich dabei um Krater in der Erde, die seit etwa zwanzig Jahren an Stellen entstehen, an denen sich die Salzkruste aufgelöst hat, und auf diese Weise die Erde absinken lässt. Diese Entwicklung ist auf drei wesentliche, 16 Vgl. Tami Katz-Freiman: Stopping Time, Molding Mold, in: Gal Weinstein. Sun Stand Still, Ausst.Kat., Israelischer Pavillon, 57. Biennale von Venedig, Hartuv 2017, S. 44. 17 Vgl. Tamir 2015, S. 135. Die gleiche Information wurde während einer Führung der Initiative Breaking The Silence in den South Hebron Hills des Westjordanlands vermittelt. 18 Die Streitpunkte sind schwer messbar und umfassen unter anderem die zur Verfügung gestellte Menge an Wasser und fehlende Wasseranschlüsse in Palästina sowie unterschiedliche Wasserpreise. Schwierigkeiten bei der Berechnung des Wasserverbrauchs in Palästina liegen etwa in der unbekannten Bevölkerungszahl der Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten. Vgl. Gil Yaron: Hat Schulz mit seiner Wasserkritik recht?, Zeit Online, 13.02.2014, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-02/israel-wasser-westjordanlandschulz (Zugriff am 30.07.2018). 18 Isabelle Busch menschlich verursachte Faktoren zurückzuführen. Dazu zählt die intensiv betriebene Bewirtschaftung von Wasser durch Dämme am Jordanbecken in Israel, Jordanien, Syrien und dem Libanon, das die Hauptquelle zur Wiederauffüllung des Toten Meers darstellt. Hinzu kommt die Nutzung von palästinensischem Grundwasser für den Anbau von Dattelpalmen auf israelischen Siedlungen sowie die umfangreiche Förderung mineralischen Düngers aus den Meerwassersalinen, die von den Dead Sea Works in Israel und der Arab Potash Company in Jordanien betrieben werden und das Tote Meer zu den sieben wichtigsten Düngemittelstandorten der Welt gemacht haben.19 Um auf das gravierende ökologische Problem der Sinkhöhlen hinzuweisen wurde im Rahmen der künstlerischen Arbeit Under The Sea There Is A Hole ein Essen veranstaltet, das auf einer Reihe unstabiler, von der Decke hängender Tischplatten serviert wurde. In die Platten waren lange Löcher eingelassen, die den organischen Formen der Sinkhöhlen entlehnt sind. Auf diese Weise war an vielen Stellen der Tische nicht ausreichend Platz, um seine Mahlzeit abzustellen. Mit dem Projekt vergegenwärtigt das Künstlerkollektiv Cooking Sections einen Diskurs um ökologische Konsequenzen aus einer überdüngten, ressourcenbelastenden Welt, in der Nahrungsmittel nur scheinbar endlos verfügbar sind. Barrieren. Die Zirkulation von Nahrungsmitteln als Waren „Warum kann man Mloukhieh nicht einfach im Garten anbauen?“ Die Videoarbeit Soup Over Bethlehem (2006) von Larissa Sansour zeigt die Familie der Künstlerin im Gespräch beim gemeinsamen Essen des palästinensischen Nationalgerichts Mloukhieh auf einer Dachterasse in Bethlehem. Ausgangspunkt für die Unterhaltung ist die Grundzutat der Suppe: die Blätter des Muskrauts (arabisch: Mloukhieh). Die Familie spricht im Folgenden darüber, dass dieses Kraut ein sehr heißes Klima zum Wachsen brauche und daher am besten in Jericho und Gaza angebaut werden könne. Das geschmackvollste Muskraut komme aus Jericho und es werde schwieriger werden es zu bekommen, sobald die Sperranlagen fertig gebaut seien. Die Familie stellt die Vermutung an, dass jedes abgegrenzte palästinensische Gebiet dann alles selbst anbauen müsse und nicht mehr von den besten Anbaugebieten beliefert werden könne, sei es für das Muskraut oder für die besten Aprikosen, die in Beit Jala (Westjordanland, bei Bethlehem) angebaut werden. Gegen Ende kommt die Frage auf, ob Israelis wohl ebenfalls Mloukhieh essen. Die Familie nimmt an, dass sie das nicht tun – es sei somit anders als beim Hummus. 19 Vgl. die Website der Künstler, https://climavore.org/place/dead-sea/ (Zugriff am 16.07.2018). Don’t be a Chocolate Soldier 19 Sansours Video entstand 2006, zu einem Zeitpunkt, als etwa fünfunddreißig Prozent der israelischen Sperranlagen fertiggestellt waren. Aus demselben Jahr stammt auch die Videoarbeit Smuggling Lemons der Künstlerin Jumana Emil Abboud. Die Betrachter*innen der Arbeit folgen der Künstlerin auf ihrem Weg von Jerusalem nach Ramallah. In kleinen Portionen bringt sie Zitronen mit dem Bus von Jerusalem bis zum Checkpoint, wo sie die mühselige Kontrolle passiert, um die geschmuggelten Zitronen schließlich in Ramallah abzuliefern. 20 Während die Arbeiten von Sansour und Abboud 2006 die Einschränkungen der Lebensmittelzufuhr in palästinensische Gebiete imaginiert hatten, dokumentierte das Künstlerduo Cooking Sections mit ihrer Arbeit Dietary Confinement (2013–2014) die wöchentlichen Nahrungsmittel- und Gaslieferungen in den Gazastreifen während des gesamten Jahrs 2013. Rund 1,9 Millionen Palästinenser*innen leben im Gazastreifen, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Nachdem die Hamas die Regierung im Gazastreifen nach einem bewaffneten Konflikt mit der Fatah 2007 übernommen hatte, verschärfte Israel in Zusammenarbeit mit Ägypten seine bereits 2006 auferlegten Sanktionen und riegelte das Gebiet durch stärkere Beschränkungen des Zu- und Ausgangs von Waren und Personen ab. Dies führte zu einer großen Not in der Bevölkerung: 2016 galten siebenundvierzig Prozent der Menschen im Gazastreifen als nicht ernährungsgesichert, das heißt hungernd oder von Unterernährung bedroht.21 Sie sind abhängig von Nahrungsmittellieferungen, Trinkwasser sowie Gas zum Kochen aus Israel beziehungsweise von internationalen Hilfswerken. Die Arbeit Dietary Confinement greift diesen Komplex in dreiundfünfzig Fotografien auf. Jede einzelne Aufnahme zeigt die Menge der Lieferungen in den Gazastreifen pro Woche proportional übersetzt in einen Teig. Ist ein gebackener Teig abgebildet, gab es in jener Woche ausreichend Gas zum Kochen. Ist der Teig ver- 20 Im Gazastreifen ist das Schmuggeln von Nahrungsmitteln und anderen Waren, aber auch Waffen, Realität. Immer wieder verbinden neue unterirdische Tunnelsysteme das abgeriegelte Gebiet mit Ägypten und Israel, in denen immer wieder Palästinenser sterben, u. a. durch gezielte Flutungen und Sprengungen zur Zerstörung dieser illegalen Wege. 2014 beschäftigte dieses illegale Wirtschaftssystem geschätzte 7.000 Menschen in Gaza und brachte der Hamas innerhalb des Jahres eine halbe Milliarde Dollar an ‚Wegzöllen‘ ein. Vgl. Yaniv Kubovich: Footage from Inside Hamas. Arms-smuggling Attack. Tunnel Destroyed by Israel, Ha’aretz, 14.01.2018, https://www.haaretz. com/israel-news/hamas-arms-smuggling-attack-tunnel-destroyed-by-israel-1.5730540; Josef Joffe: Der Dreifach-Krieg, Die Zeit, 07.08.2014, https://www.zeit.de/2014/33/israel-hamas-gaza-nahost-konflikt; The Gaza Tunnels, Al Jazeera, 05.08.2014, https://www.aljazeera.com/programmes/witness/2014/04/gaza-tunnels-201441772 150756893.html; Toi Staff: Egypt destroys 12 Gaza Smuggling tunnels, Times of Israel, 02.01.2017, https://www.timesofisrael.com/egypt-destroys-12-gaza-smuggling-tunnels/ (Zugriff am 22.07.2018). 21 Vgl. Fakten über den Gazastreifen, veröffentlicht unter http://www.rosalux.org.il/fakten-uber-den-gazastrei fen/ (Zugriff am 22.07.2018). 20 Isabelle Busch brannt, gab es zwar ausreichend Gas, jedoch kein Öl zum Braten. Entsprechend dokumentiert ein roher Teig, dass es keine Gaslieferung gab. Zeigt eine Fotografie gar keinen Teig, gab es in jener Woche auch keine Einfuhren. Die Nahrungsmittelsituation im Gazastreifen und die Organisation der Lieferungen erscheinen an diesem politischen Brennpunkt sehr kompliziert. Die Knappheit bestimmter Produkte kann vor Ort zu erhöhten Preisen führen.22 Zugleich ist die wirtschaftliche Kaufkraft eines großen Teils der Bevölkerung im Gazastreifen sehr schwach – ein Umstand, der die Menge der Einfuhren mitbestimmt.23 Nahrungsmittellieferungen in den Gazastreifen können aber auch als politisches Druckmittel genutzt werden. Aktuell üben die USA auf diese Weise Einfluss aus. So stammen sechzig Prozent der Mittel des Hilfswerks der Vereinten Nationen für die Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) aus den USA. Das Hilfswerk ist wesentlich daran beteiligt die Nahrungsmittelsituation im Gazastreifen zu sichern. Beim vergangenen Weltwirtschaftsgipfel in Davos im Januar 2018 hatte Donald Trump bekanntgegeben, dass die USA ihre Hilfsgelder so lange nicht freigeben werden, bis die Palästinenser an Friedensverhandlungen teilnehmen.24 Nicht nur die Einfuhr von Nahrungsmitteln in palästinensische Gebiete ist von Barrieren geprägt, sondern auch ihre Ausfuhr. Mit seiner Serie Produits de Palestine (2002–2004) fotografierte der Künstler Jean-Luc Moulène achtundfünfzig palästinensische Produkte, die vom internationalen Markt ausgeschlossen sind und daher nur für den Gazastreifen und das Westjordanland produziert werden (Abb. 3). Rayya Badran wies auf die Ironie der Arbeit hin: In vergrößerter Darstellung und mit den Codes der Werbeästhetik präsentieren die Aufnahmen auf reizvolle Art palästinensische Waren, die jedoch keinesfalls verfügbar sind.25 Erst durch ihre Existenz als Kunstwerk zirkulieren sie international und erhalten eine neue Form des ökonomischen Werts. 22 Vgl. WFP warns food running out in blocked Gazastrip, https://www.wfp.org/news/news-release/wfp-warnsfood-running-out-blockaded-gaza-strip (Zugriff am 23.07.2018). 23 Vgl. Yaniv Kubovic: Number of Trucks Going Into Gaza Strip at Low Point After Israel Announces Closure of Key Crossing, Ha’artez, 16.07.2018, https://www.haaretz.com/israel-news/.premium-number-of-trucks-going-into-gazaat-low-point-after-border-closure-1.6273122 (Zugriff am 23.07.2018). 24 Vgl. Alexandra Föderl-Schmid: Die Nahrungsmittel in Gaza werden knapp, Süddeutsche Zeitung, 28.01.2018, https:/www.sueddeutsche.de/politik/gaza-die-nahrungsmittel-in-gaza-werden-knapp-1.3843677 (Zugriff am 23.07.2018). 25 Vgl. Rayya Badran: Jean-Luc Moulène. Products of Palestine, in: Bidoun. Arts and Culture from the Middle East, Winter 2008, https://bidoun.org/articles/jean-luc-moulene (Zugriff am 30.07.2018). Don’t be a Chocolate Soldier Abb. 3 Jean-Luc Moulène, Produits de Palestine, 2002, 2002-09-21 Huile d'olive, Cibachrome, Diasec Plexiglas 3mm, Alu , 40 x 50 cm 21 22 Isabelle Busch Abb. 4 Ron Amir, Khamis's Kitchen, 2015, Inkjet print, 130 x 160 cm Auf eine unsichtbare Barriere in Israel verweist die Fotoserie Doing Time In Holot (2014–2016) des Künstlers Ron Amir (Abb. 4). Holot (hebräisch für: Sand) ist der Name eines Auffanglagers für illegal eingereiste Migrant*innen ohne gültige Aufenthaltspapiere, das von Dezember 2013 bis März 2018 in der Negevwüste, umgeben von kilometerweitem Sand, betrieben wurde. Die überwiegend afrikanischen Insassen durften das Gelände in der Zeit von 6 Uhr bis 22 Uhr zwar verlassen. Jedoch machte kaum jemand Gebrauch von dieser Möglichkeit, da die Busfahrt in die nächstgelegene Stadt Be’ersheva vierunddreißig Schekel (circa acht Euro) kostete, was sich die wenigsten leisten konnten.26 Die Barriere lag also in der unüberwindbaren Wüste, die die Geflüchteten abhängig von der Nahrungsmittelausgabe der Einrichtung machte. Vielfach wurde darüber berichtet, dass die ausgegebene Nahrung nur in kleinen Mengen serviert wurde und manchmal nicht für alle reichte, dass sie von 26 Vgl. Joseph Dana: Durch die Wüste Sinai ins Gelobte Land. Afrikanische Flüchtlinge in Israel, in: Edition Le Monde Diplomatique 21/2017, Israel und Palästina. Umkämpft, besetzt, verklärt, S. 86. Erstmals erschienen in Le Monde Diplomatique, September 2012, aktualisiert für den Band Edition Le Monde Diplomatique 21/2017; vgl. Stefan Tomik: Flüchtlinge in Israel. Operation „Beschleunigte Entfernung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2018, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/warum-israel-das-fluechtlingslagerholot-schliessen-will-15374806.html (Zugriff am 30.07.2018). Don’t be a Chocolate Soldier 23 schlechter Qualität war, wenige Nährstoffe enthielt und im Falle von Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes keine spezielle Nahrung angeboten wurde. Es konnte nur an den vorgesehenen Tischen zu den Zeiten der Essensausgabe gegessen werden und es war verboten, Nahrungsmittel in das Lager hineinzubringen. Dieser Umstand bedeutete insbesondere für die muslimischen Migrant*innen in der Zeit des Ramadan eine große Einschränkung. Aufgrund dieser Regelungen entstand zudem in den Außenbereichen des Lagers eine Vielzahl an Provisorien, um Nahrung selbstständig zuzubereiten. So kochten 2016 einige Insassen in selbst eingerichteten Restaurants füreinander. Diese wurden jedoch geräumt und die Betreiber kamen ins Gefängnis.27 Der Künstler Ron Amir ist bekannt für seine politisch engagierte Dokumentarfotografie. In seiner Serie Doing Time In Holot entschied er sich dafür, nicht die Geflüchteten darzustellen, sondern die menschenleere Infrastruktur, die sie sich in der Wüste um das Gelände herum geschaffen hatten. Zusammengezimmerte Küchen mit Feuerstellen und Sitzgelegenheiten, Erdlöcher, die zur Lagerung von Essen dienten, kleine angelegte Maisfelder, aber auch herumliegende Vorratsdosen des Milchpulverkonzentrats NIDO, die mit Sand gefüllt zu Hanteln umfunktioniert wurden sind die prekären und geradezu archaischen Spuren der existenziellen und sozialen Funktion des Essens. In Israel, dessen Geschichte eng mit Migration und Flucht verbunden ist, wurde die Situation im Auffanglager Holot von vielen Seiten scharf kritisiert.28 Immer wieder haben Aktivist*innen das Lager aufgesucht und öffentlich auf die prekäre Lage hingewiesen. So feierten sie beispielsweise jedes Jahr gemeinsam mit Insassen des Auffanglagers das Sederfest. Mit diesem liturgischen Essen erinnern die Juden an die Flucht der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. 29 27 Vgl. Jeremy Sharon: Activists Hold Seder for African Asylum-Seekers at Holot-Facility, The Jerusalem Post, 17.04.2016, https://www.jpost.com/Israel-News/Activists-hold-Seder-for-African-asylum-seekers-at-Holot-faci lity-451436 (Zugriff am 30.07.2018). Vgl. Hotline for Refugees and Migrants (Hg.): Immigration Detention in Israel, Annual Monitoring Report 2016, Tel Aviv 2016, S. 30–31. 28 Eine hohe Sensibilität gegenüber Nahrungsmittelknappheit kann sich möglicherweise auch heute noch auf den mit der Shoah verbundenen Mangel an Lebensmitteln zurückführen lassen. Der notwendige Schmuggel von Speisen und der Hunger in Konzentrationslagern sind im allgemeinen Gedächtnis. Beispielhaft für diese Auseinandersetzung sei die israelische Schriftstellerin Batsheva Dagan (geboren 1925) genannt, die mit Gedichten wie Was man alles aus Lagersuppe machen kann? oder Wie man dort Brot aß die unmenschlichen Zustände im Konzentrationslager Auschwitz- Birkenau beschrieb, wo sie 1943–1945 als Schutzhäftling gefangen war, siehe Batsheva Dagan: Gesegnet sei die Phantasie, verflucht sei sie!, Berlin 2005, S. 22, S. 92. 29 Die Sederfeste wurden veranstaltet von Initiativen wie Rabbihs for Human Rights sowie Right Now: Advocates for Asylum-Seekers in Israel und The Hotline for Refugees and Migrants. 24 Isabelle Busch Nationale Identitäten, global zirkuliert Während die zuletzt beschriebenen Arbeiten auf Barrieren bei der Zirkulation von Nahrungsmitteln verweisen, werden im Folgenden Aspekte ihrer internationalen Verbreitung sowie Fragen des Ursprungs und der materiellen Kultur von Nahrungsmitteln aufgeworfen. Die gemeinschaftliche Arbeit Falafel Road (2010) der Künstlerinnen Oreet Ashery und Larissa Sansour entstand in Falafel-Läden verschiedener Londoner Stadtteile. Angelehnt an das New Yorker Restaurant-Projekt Food (1971) von Caroline Gooden und Gordon Matta-Clark fanden zwanzig Falafel-Essen in Läden von Betreibern unterschiedlicher Nationalität statt, darunter solche israelischer, libanesischer, palästinensischer, irakischer und türkischer Herkunft. In diesem Rahmen wurden Filmscreenings veranstaltet und öffentliche Gespräche mit weiteren Künstler*innen, mit den Ladenbesitzern und den palästinensischen und israelischen Familien der Künstlerinnen geführt. Diese wurden filmisch und später auf einem Blog dokumentiert.30 Ausgangspunkt für die Gespräche war die Frage „did Israel steal the falafel from the palestinians?“. Damit spielt die Arbeit auf eine erhitzte Debatte zwischen Israel und arabischen Ländern wie den palästinensischen Gebieten und dem Libanon an, bei der es um die Beanspruchung der Herkunft von Gerichten und ihre nationale und internationale Vermarktung geht. Jüdische Einwanderer der zweiten (1904–1914) und dritten Alija (1919–1923), die vornehmlich aus Russland, Polen, Litauen und anderen osteuropäischen Ländern nach Palästina kamen, hatten tatsächlich einige lokale arabische Essgewohnheiten angenommen, in welchen sie eine Nähe zur mythischen biblischen Zeit sahen.31 In der Aufnahme einer neuen Esskultur lag für sie die Möglichkeit eine gemeinschaftliche kulturelle Identität zu entwickeln, die über die gemeinsame Religion hinausging.32 So wies Ya’akov Shavit darauf hin, dass durch diese Art von ‚geplanter Kultur‘ eine Gesellschaft der Immigranten zu einer Gesellschaft mit einer nationalen Kultur werden konnte. 33 Aus der Adaption lokaler arabischer Gerichte entwickelte sich jedoch ein Streit um die Beanspruchung von Nationalgerichten, der sich besonders stark in Bezug auf Hummus und Falafel entfachte und zum Teil absurde Ausmaße annahm. So erlangte der Libanon 2010 als Nachfolger Israels den Guinness Weltrekord für den größten Hummusteller mit einem Gewicht von vier Tonnen. Bereits 2008 hatte die Association of Lebanese Indust- 30 Siehe http://www.falafelroad.blogspot.com (Zugriff am 19.01.2019). Vgl. Yael Raviv: Falafel – A National Icon, in: Gastronomica: The Journal of Food and Culture 3/2003, S. 20. 32 Vgl. Raviv 2015, S. 10. 33 Vgl. Ya’akov Shavit: Bein Uma Yotzeret Tarbut le-Tarbut Yotzeret Uma, in: Yehuda Reinhardtz, Gidon Shimoni und Yosef Salomon (Hg.): Le’umiyut u-Politica Yehudit: Perspectivot Hadashot (Jewish nationalism and politics: New Perspectives), Jerusalem 1996, S. 149, zit. nach Raviv 2015, S. 10. 31 Don’t be a Chocolate Soldier 25 rialists (ALI) Klage gegen Israel erhoben, weil das Land Hummus und Falafel als originär israelisch vermarkte. Die ALI aber beansprucht diese Gerichte als libanesisch.34 Kritisiert wird ein israelisches Branding dieser Speisen, das sich nicht nur an der kulturellen Identifikation mit diesen Produkten innerhalb des Landes misst. Vielmehr werden diese Gerichte auch außerhalb Israels mit dem Land verbunden. Dies hat mitunter bedeutende ökonomische Konsequenzen. So lag der amerikanische Marktanteil von Hummus der Marke Sabra, die PepsiCo und der israelischen StraussGruppe gehört, im Jahr 2014 bei dreiundsechzig Prozent. 35 Shahar Marcus führt in seiner Arbeit King of Falafel (2016) diesen Stellvertreterstreit um Gerichte des Nahen Ostens ad absurdum. Sein Video ist im Stil von Weltraumabenteuerfilmen gedreht und zeigt den Künstler als Raumfahrer verkleidet auf einer Reise zum Mond. Seine Mission ist es, dort einen aufblasbaren Falafel-Stand zu eröffnen. Die Mission wird erfüllt, läuft jedoch völlig sinnlos ins Leere: Die verschiedenen Zutaten der Falafel schweben im menschenleeren Weltraum und nicht einmal er selbst kann durch seinen Helm die Falafel essen. Ähnlich wie die Arbeit Falafel Road schafft auch Rafram Chaddad in seiner künstlerischen Praxis Plattformen für einen Dialog über Nahrungsmittel und ihre kulturelle Bedeutung. Seine installativen Aufbauten sind die Voraussetzung für Kochaktionen und gemeinsame Essen. Die Arbeit Black Couscous (2017) wurde auf den Dächern Jerusalems präsentiert. Ein Gerstenfeld und verschiedene Trocknungsanlagen für Tomaten, Weintrauben und Feigen umgaben einen Tisch, an den der Künstler zum Verspeisen dieser Produkte zusammen mit Couscous aus Gerste einlud. Angereichert wurde das Gericht mit Olivenöl. Mit seiner Arbeit lädt Chaddad dazu ein, über den Bedeutungswandel von Nahrungsmitteln zu sprechen und die materielle Kultur der Produkte zu reflektieren. So lässt die Auswahl der Zutaten an die biblische Beschreibung des Heiligen Lands als „Land des Weizens und der Gerste, der Weinstöcke, Feigenbäume und Granatbäume, ein Land mit ölreichen Olivenbäumen und Honig“ (Dtn 8,8) denken. Es bestehen aber auch kulturhistorische, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge. Kirschtomaten wurden in den 1970er Jahren von israelischen Wissenschaftlern im Auftrag der britischen Kaufhauskette Marks & Spencers entwickelt, um durch eine lange Reifezeit und die robuste Rispenstruktur auch weite Transportwege unbeschadet zu überstehen. Ursprünglich gab es diese Züchtung aber 34 Vgl. Isaac Oomen und Khalid Mezaina: The Controversial Kitchen. Making Sense of Mezze, WebArtsResistance Blog, http://www.artsresistances.net/en/article/the-controversial-kitchen-making-sense-of-mezze-122/ (Zugriff am 31.07.2018). 35 Andrew Adam Newman: Tribe, Purveyor of Hummus, Hopes to Narrow Sabra’s Lead With New Campaign, The New York Times, 26.06.2014, https://www.nytimes.com/2014/06/27/business/media/tribe-purveyor-ofhummus-hopes-to-narrow-sabras-lead-with-new-campaign.html (Zugriff am 31.07.2018). 26 Isabelle Busch schon im 16. Jahrhundert in Mexiko.тх Das Olivenöl für Chaddads Gericht stammt aus Nablus (Westjordanland), wo tausende palästinensische Olivenbäume durch israelische Siedler und die Regierung entwurzelt werden. Der titelgebende dunkle Vollkorncouscous war einst ein Armeleuteessen und gilt heute als Inbegriff gesunder Ernährung. Gesellschaftlicher Wandel, ökonomische und ökologische Kreisläufe, Migration, Export, die Einbettung in politische Konflikte, aber auch religiöse Riten oder Kunstwerke können zu einem metabolischen Bedeutungswandel von Nahrungsmitteln führen. Mit seiner Arbeit macht Rafram Chaddad diesen steten Wandel deutlich. Ausblick Mit dem vorliegenden Aufsatz wurde eine Einordnung von Arbeiten ausgewählter Künstler*innen innerhalb ihres jeweiligen Konfliktfelds in Israel und Palästina vorgenommen. Als zentrale wiederkehrende Themen wurden territoriale Konflikte, die sich in der Landwirtschaft spiegeln, Barrieren in der Zirkulation von Waren und Nahrungsmittel als Vehikel für nationale Identitäten herausgearbeitet. Das politische und soziale Gefüge Israels und Palästinas unterliegt einem steten Wandel. Mit ihm aktualisiert sich auch die Bedeutung künstlerischer Arbeiten. Aus diesem Grund beschränkt sich die Auswahl der Kunstwerke auf den überschaubaren Zeitraum der letzten sechzehn Jahre. Doch bereits seit den 1960er Jahren entstanden Arbeiten von Künstler*innen wie Avital Geva, Dov Heller, Micha Laury, Ariane Littman und Ran Morin, die sich mit Nahrungsmitteln befassten. Eine Untersuchung der Arbeiten aus diesen verschiedenen Zeitabschnitten wäre weiterführend und vergleichend relevant. Abbildungsnachweis Abb. 1 Courtesy of Braverman Gallery & Shahar Marcus Abb. 2 Courtesy of Gal Weinstein, Foto: Claudio Franzini Abb. 3 © ADAGP, Jean-Luc Moulène, Courtesy of Thomas Dane Gallery Abb. 4 Courtesy of Ron Amir тх Vgl. Tomaten und Technik made in Israel, Informationen aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln, 08.01.2018, https://www.iwd.de/artikel/tomaten-und-technik-made-in-israel-375641/ (Zugriff am 02.08.2018). Einverlei bunge n Interpikturale Bezugnahmen und intermediale Verfahren durch Lebensmittel in d er Gegenwartskunst Fabiana Senkpiel Lebensmittel und Medienkritik in der Kunst Seit 1960 experimentieren Künstlerinnen im Sinne eines radikal erweiterten Materialbegriffs mit neuen Materialien − vorwiegend aus dem Alltag −, wobei auch instabile bzw. verderbliche Materialien wie Lebensmittel gattungsübergreifend vermehrt in künstlerischen Arbeiten eingesetzt werden, in denen ihre sinnlichen und organischen Eigenschaften sowie ihre Wandlungsfähigkeiten im Vordergrund stehen. 1 Topische, zeitbestimmte Motive dieser Arbeiten sind Vergänglichkeit und Verfall aufgrund des eingesetzten Materials und somit der Kunstwerke selbst, was eine Parallele zur Endlichkeit von Lebensprozessen darstellt. Allan Kaprow realisierte 1960 in der Judson Gallery in New York eine installative und partizipative Arbeit mit dem Titel Apple Shrine, die aus Zeitungen, Maschendraht, Holzleisten, frischen Äpfeln sowie Kunststoffäpfeln bestand.2 In einem halbdunklen Raum lagen Zeitungen auf dem Boden und auch die Wände waren mit zerknitterten Zeitungen tapeziert. Auf diese waren u.a. das Wort Apple oder stilisierte Äpfel gemalt. Beim Betreten des Raumes kamen die Besuchenden in körperlichen Kontakt mit den Zeitungen. Am Ende des 1 2 Lebensmittel schließt hierbei definitionsgemäß „Nahrungs- und Genussmittel [] alle Stoffe, die von Menschen gegessen und getrunken werden, soweit sie nicht Arzneimittel oder Rauschgifte sind“ mit ein, die zum täglichen Lebensbedarf gehören, vgl. Ralf Beil: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial. Von Schiele bis Jason Rhoades, Köln 2002, S. 9; Dietmar Rübel: Nahrung, in: Monika Wagner (Hg.): Blätter der Materialikonographie, Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg 2001. Vgl. (mit Abbildungen) Katharina Hoins: Zeitungen. Medien als Material der Kunst, Berlin 2015, S. 112−114; Claire Bishop: Installation Art. A Critical History, London 2012, S. 26; Allan Kaprow. Art as Life, Ausst. Kat., Haus der Kunst, München et al., London 2008, S. 17‒18. 28 Fabiana Senkpiel Gangs durch das Environment befand sich ein altarartiger Tisch, auf dem frische und künstliche Äpfel verteilt waren, an denen sich die Besuchenden bedienen konnten, wobei das Halbdunkel die visuelle Unterscheidung zwischen essbaren und nichtessbaren Äpfeln erschwerte. Der Raum war übrigens gesättigt von Apfelgeruch.3 Folglich waren dabei die Sinne der Besuchenden angesprochen: Riechen, Fühlen / Tasten sowie Schmecken sollten zum Einsatz kommen.4 Wenig ist bekannt über die Bedeutung dieser nicht erhaltenen künstlerischen Arbeit: Was den Zusammenhang zwischen echten und künstlichen Früchten und Zeitungen anbelangt, wird darauf hingewiesen, dass die echten und künstlichen Äpfel für das Verhältnis von Wahrheit und Schein sowie Original und Kopie standen, was eine Anspielung an die sich wandelnde Medienlandschaft in den 1960er Jahren im Spannungsfeld von physischer Präsenz und Materialität der Printmedien und visuellem Vorrang des Fernsehens darstellen soll.5 Die kunstwissenschaftliche Forschung widmet sich seit der Jahrtausendwende verstärkt dem Thema der Medienreflexion in der Kunst, insbesondere in der Avantgarde und im Rahmen der intermedialen Ausrichtung ab den 1960er Jahren, als die Print- und Massenmedien selbst nicht nur zum Thema, sondern auch zum Material der Kunst wurden.6 Bisher wurde allerdings nicht ausführlich thematisiert, dass dabei auffallend häufig Lebensmittel und Printmedien als Material zum Einsatz kamen. Man denke beispielsweise an Mario Merz’ Tavola a spirale in tubolare di ferro per festino di giornali datati il giorno del festino (Turin 1976, mit Zeitungen und Obst) sowie Wolf Vorstell Energia (Mailand 1973, mit Zeitungen und Brot).7 Kaprows Apple Shrine erlaubt zentrale Aspekte dieser Kopplung von Medienkritik und Lebensmitteln in der Kunst exemplarisch zu veranschaulichen: Dabei erweist sich die von Katharina Hoins in einem anderen Zusammenhang hervorgehobene Parallele zwischen dem aus dem Material der Kunstwerke ausgehenden „kurzen Zeitraum der Reife“8, der sowohl für die Aktualität von Tageszeitungen als auch für die Frische von Obst gilt, von zentraler Gültigkeit. Leben Aspekte der ‚frühen‘ Elaborationen des Zusammenhangs von Lebensmitteln und Medien 3 4 5 6 7 8 Vgl. Clare Bell: Eat up: La Pop Art e il cibo come genere, in: Arts & Foods. Rituali dal 1851, Ausst. Kat., Triennale di Milano und Expo Milano 2015, S. 544−556, hier S. 548. Vgl. Hoins 2015, S. 114, in Anlehnung an Jeff Kelley. Ebd., S. 112−114. Vgl. Hoins 2015; Art and Press. Kunst Wahrheit Wirklichkeit. Ausst. Kat., Martin-Gropius-Bau, Berlin und ZKM Karlsruhe, Köln 2012; Covering the Real. Kunst und Pressebild, von Warhol bis Tillmans: Roy Arden, John Baldessari, Sarah Charlesworth, Ausst. Kat., Kunstmuseum Basel 2005. Vgl. Hoins 2015, S. 112‒116, S. 122‒123, S. 151‒157, die nicht stärker auf werkspezifische Eigenschaften oder materialästhetische Zusammenhänge eingeht; Beil 2002, S. 178‒180. Für eine weitere Variante der Verbindung eines organischen Materials – im spezifischen Fall Pflanzen − mit Zeitungen sei hingewiesen auf den Beitrag von Magdalena Grüner The Pages of Day and Night. Von Saatgut-Tresoren und Herbarien in Pia Rönickes Arbeit in diesem Band. Vgl. Hoins 2015, S. 153. Einverleibungen 29 in der Kunst der 1960er und 1970er Jahre im Zeitgenössischen fort? Im Fokus des vorliegenden Beitrages stehen einige künstlerische Positionen der Gegenwart, die innerhalb derartiger Zugriffe auf das Kunstmaterial Lebensmitteln gerade auf Medienkritik abzielen, indem sie sich mit den Massenmedien (darunter etwa Presse, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Internet) über deren Inhalte, Arbeitsweise und Rezeption kritisch auseinandersetzen. Wie es anhand einiger Fallbeispiele zu zeigen sein wird, kommt der einverleibenden und ‚metabolistischenʼ Wirksamkeit des eingesetzten Kunstmaterials Lebensmittel eine zentrale Rolle zu, um insbesondere die spezifische massenmediale Bildlichkeit zu hinterfragen. Im Folgenden gilt es der Frage nachzugehen, auf welche Weise der Modus bildlicher Sinnstiftung unter Berücksichtigung materialästhetischer Aspekte funktioniert. Die Künstlerin Isabelle Krieg (geb. 1971 in Fribourg, Schweiz) ist in den Bereichen Installation, Objekt, Fotografie und Performance tätig, wobei auch Interventionen im öffentlichen Raum zu ihren Ausdrucksmitteln gehören. Sie lebt und arbeitet zurzeit in Dresden und Zürich. Krieg setzt konsequent in ihrem künstlerischen Schaffen Lebensmittel als Kunstmaterial ein.9 Im Mittelpunkt steht hier ihre Arbeit Unerledigt I−III aus den Jahren 2003−2011 (Abb. 1), die aus Cappuccino-Schaum und Kakao in Porzellantassen, Löffeln, Plastikschüsseln, Wasser sowie Küchenmöbeln in variabler Größe besteht und aus den Teilen Unerledigt I von 2003−2008, Unerledigt II von 2009−2010 und Unerledigt III von 2010−2011 zusammengesetzt ist. Mit der Künstlerin formuliert: Auslöser dieser Arbeit war der Beginn des zweiten Irakkriegs im Jahre 2003. Als ich bemerkte, dass ich diesen Krieg, der mich wütend machte, morgens zeitungslesend genauso „konsumierte“ wie meinen Kaffee und wie alle übrigen Nachrichten, sei es aus dem Weltgeschehen, aus Kultur, Politik, Wissenschaft, Sport oder People, begann ich als Reaktion darauf, diese aktuellen Zeitungsbilder mit Kaffee und Kakao in Tassen zu malen und das „schmutzige Geschirr“ aufzutürmen. Bis Ende 2011 – dem Datum des Abzugs der amerikanischen Truppen aus dem Irak, das ich als Schlusspunkt für die Arbeit nahm – entstanden immer neue Tassenbilder.10 Das Zitat beleuchtet die kritische Auseinandersetzung seitens der Künstlerin mit dem eigenen ‚ritualisierten-habitualisierten‘, ja konsumierenden Umgang mit der Informations- und Bilderflut aus den Massenmedien. Die Tassen mit den aus Zeitungsfotos durch den Einsatz von Kakao und Kaffee abgemalten Hauptdarstellern des Irakkrieges, 9 Vgl. Website Isabelle Krieg, 2019, http://www.isabellekrieg.ch/ (Zugriff am 29.01.2019); Kathleen Bühler: Krieg, Isabelle [2012, 2018], in: SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, http://www.sikart.ch/kuenstlerinnen .aspx?id=10461286 (Zugriff am 29.01.2019). 10 Website Isabelle Krieg, 2019, http://www.isabellekrieg.ch/record/work/155 (Zugriff am 29.01.2019). 30 Fabiana Senkpiel Abb. 1 Isabelle Krieg, Unerledigt I−III, mit Kakao und Cappuccino bemalte Porzellantassen, Löffel, Plastikschüsseln, Wasser und Küchenmöbel, variable Größe, 2003−2011 Abb. 2 Isabelle Krieg, Unerledigt I−III, mit Kakao und Cappuccino bemalte Porzellantassen, Löffel, Plastikschüsseln, Wasser und Küchenmöbel, variable Größe, 2003−2011 (Detail) Einverleibungen Abb.3 31 Celia Sidler und Nathalie Sidler, Lazy Afternoon, Himbeerquarktorte, Zuger Kirschtorte, Truffestorte, Rahmgarnitur Zürinüssli, Tortenvitrine, Verlängerungskabel, Pfistern Alpnach-Dorf, 59,5 x 61,5 x 181 cm, 2011 die sich in der massenmedialen Bildlichkeit mit anderen Figuren des politischen und kulturellen Alltagsgeschehens vermischen (Abb. 2), werden dabei im Modus des schmutzigen, noch abzuwaschenden Geschirres in mit Wasser gefüllten Spülbecken gestapelt, wo sie dem bevorstehenden Abwaschen und somit Auflösen ausgesetzt werden.11 Das in einem beinahe archivarischen Gestus gesammelte Geschirr steht als Zeitdokument da wie gestapelte alte Zeitungen, die bald in die Altpapiersammlung gehören – zum Entsorgen bereit, wobei deren Inhalte, vermutlich unverdaut, bald in Vergessenheit geraten werden. Im Werk Unerledigt I−III von Isabelle Krieg bezieht sich der Einsatz von Kaffee und Kakao zunächst auf den biographischen Kontext der Arbeit, wobei Kaffee und Kakao − Produkte, die ursprünglich aus Amerika bzw. aus dem Vorderen Orient als Kolonialware nach Europa kamen −, als Lebens- und Genussmittel die Wandlung vom Luxuszum Massenprodukt verkörpern und heutzutage sinnbildlich für Konsum stehen.12 11 Vgl. Sabine Rusterholz: Speicher fast voll, in: Speicher fast voll. Sammeln und Ordnen in der Gegenwartskunst, Ausst. Kat., Kunstmuseum Solothurn, Zürich 2008, S. 14; Elio Schenini: Lo sguardo vagabondo di Isabelle Krieg, in: Isabelle Krieg. Wandering through Soul Provinces, Ausst. Kat., Museo Cantonale d’Arte Lugano 2010, S. 23−34, hier S. 32. 12 Vgl. Roman Sandgruber: Genussmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1/1994, S. 73−80. 32 Fabiana Senkpiel Abb. 4 Celia Sidler und Nathalie Sidler, Lazy Afternoon, Himbeerquarktorte, Zuger Kirschtorte, Truffestorte, Rahmgarnitur Zürinüssli, Tortenvitrine, Verlängerungskabel, Pfistern Alpnach -Dorf, 59,5 x 61,5 x 181 cm, 2011 (Detail) Einverleibungen 33 Wie ein roter Faden zieht sich der Einsatz von Lebensmitteln durch das künstlerische Schaffen der als Duo arbeitenden Celia Sidler und Nathalie Sidler (geb. 1983 in Sarnen, Schweiz).13 Die in Basel lebenden und arbeitenden Künstlerinnen sind in den Bereichen Performance / Aktion sowie Installation tätig, häufig ortsspezifisch und immer wieder im öffentlichen Raum. In der installativen Arbeit Lazy Afternoon von 2011 (Abb. 3, Abb. 4) stellte das Künstlerduo essbare Torten in Vitrinen (Himbeerquarktorte, Zuger Kirschtorte, Truffestorte, Rahmgarnitur Zürinüssli, Tortenvitrine, Verlängerungskabel, Größe: 59,5 x 61,5 x 181 cm) in die in ein Restaurant umgestalteten Räumlichkeiten eines ehemaligen Nonnenklosters im römisch-katholisch geprägten Alpnach-Dorf (Kanton Obwalden, Schweiz). Die Künstlerinnen erteilten einem Konditor den Auftrag, die Torten mit Fotografien von Playmates aus den Zeitschriften Playboy und Penthouse zu bedrucken; diese bewusst plakativ durch bzw. als Lebensmittel wiederaufgenommen Pin-ups wurden in ein kulinarisches Angebot transformiert und luden die Besuchenden der Ausstellung zum Verzehr ein.14 Die durch Lebensmittelfarbe übertragenen Bilder verschränken sich mit der verachtenden sowie sexistisch konnotierten Bezeichnung von ‚Torte‘ oder ‚Schnitte‘ für Frauen, welche dem Werk ebenso provokativ zugrunde liegt. In Lazy Afternoon von Sidler / Sidler äußert sich eine kritische Haltung in der Auseinandersetzung mit den massenmedial vermittelten ‚Frauen-Bildern‘. Die Künstlerinnen setzten dabei auf die sinnlichen Anreize der Lebensmittel, um das Verhalten des Publikums vor diesen kulinarischen Verlockungen zu beobachten: Würden die Torten mit den lasziven Frauenbildern aus den medialen Kollektivvorstellungen gegessen werden, würde es beim visuellem Konsum und beim Begehren bleiben oder würden sich die Besuchenden davon abgestoßen fühlen? Bei der Arbeit The Show goes on (Abb. 5) ließ das Künstlerduo vom 19. bis 24. Juni 2015 in den Cafés acht verschiedener Kunsthäuser der Schweiz15 beim Kauf eines Kaffees oder Tees unentgeltlich je ein Petit Four aus Schokoladenkuchen und -überzug servieren. Dieses wurde mit einem Marzipanaufleger versehen, welches analog zur glänzenden Oberfläche und der Form von Münzen16 mit Anspielungen zu vor allem im Netz zirkulierenden Werbeslogans aus der internationalen Banken-, Versicherungs- und Finanzbranche beschriftet war („All you need is us, Invest in you, Our highest interest is you, We listen. You prosper, Weʼre about you, We’re all profit, Weʼre good for you, With us it’s personal, 13 Vgl. Website Celia und Nathalie Sidler, 2019, http://www.celiaundnathaliesidler.ch (Zugriff am 29.01.2019). Vgl. Website Celia und Nathalie Sidler, 2019, http://www.celiaundnathaliesidler.ch/index.php?/projects/lazyafternoon-2011/ (Zugriff am 29.01.2019). 15 Haus für elektronische Künste Basel, Kunstmuseum Bern, Kunsthalle Bern, Centre Pasquʼart Biel, Kunsthaus Glarus, Kunstmuseum Solothurn, Kunsthalle St. Gallen, Kunsthaus Zürich. 16 Die Schokoladen-Pralinés in der Größe von ca. 2 x 2/3 x 3 cm wurden von der in Basel lebenden und arbeitenden Berliner Konditorin Wencke Schmid (http://www.wenckeschmid.ch ) in Kooperation mit den Künstlerinnen realisiert. 14 34 Fabiana Senkpiel Abb. 5 Celia Sidler und Nathalie Sidler, The Show goes on, Petit Fours aus Schokoladenkuchen, Schokoladenüberzug versehen mit gestempelten Marzipanauflegern, 2015 (Detail) You can count on us, Youʼre in good hands“17). Lediglich eine Tafel vermittelte dem Publikum die Information, dass es dabei um ein Kunstprojekt ging: Die subtile und folglich bei manchen im Publikum vielleicht übersehene Infiltrierung der Arbeit The Show goes on in bestehende Strukturen ließ sie als Teil des museumseigenen Auftrittes erscheinen. Die Arbeit hinterfragte das Verhältnis von Kunst(-institutionen) und Geld, indem über eine interessenlose Praxis der Gabe hinaus marketingstrategische Mechanismen wie beispielsweise die Verteilung von Objekten als Geschenken seitens Firmen im Kontext der heutigen Konsumgesellschaft aufgegriffen und eine der Banken-, Versicherungs- und Finanzbranche werbeähnliche Sprache de- und im Kunstbetrieb neu kontextualisiert wurden. Die Arbeiten von Sidler / Sidler erforschen Strategien der sinnlichen Involvierung durch das verführerische Kunstmaterial Lebensmittel und provozieren beim Publikum Formen des Begehrens jenseits eines ‚bloßen Mitessens‘; auf diese Weise erzielt die partizipative Kunstform18 ein verstärktes Bewusstwerden hinsichtlich der Botschaft des Kunstwerkes.19 Die potenziell essbaren künstlerischen Arbeiten von Sidler / 17 Vgl. Website Celia und Nathalie Sidler, 2019, http://www.celiaundnathaliesidler.ch/index.php?/ongoins/theshow-goes-on-2015/ (Zugriff am 29.11.2019). 18 Vgl. Astrid Wege: Partizipation, in: Hubertus Butin (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2014, S. 275−280. 19 Vgl. Jürgen Raap (Hg.): Essen und Trinken I. Kunstforum International 159/2002, S. 191. Einverleibungen 35 Abb. 6 Isabelle Krieg, Unerledigt I−III, mit Kakao und Cappuccino bemalte Porzellantassen, Löffel, Plastikschüsseln, Wasser und Küchenmöbel, variable Größe, 2003−2011 (Detail) Sidler in Form von ‚kulinarischen Verlockungen‘ fungieren als Vehikel für die Botschaft der Arbeiten und machen diese buchstäblich greifbar – leicht verdaulich bleibt sie trotzdem nicht. Einverleibungen In Hinblick auf ein umfassenderes Verständnis der vorgestellten Fallbeispiele mit Lebensmitteln lassen sich einige Bemerkungen zum Modus ihrer bildlichen Sinnstiftung unter Berücksichtigung materialästhetischer Aspekte einwerfen. Durch den Einsatz von Lebensmitteln stellen die vorgestellten künstlerischen Arbeiten vor allem bildliche aber auch textliche Relationen dar, die je mit einer „medialen Grenzüberschreitung“20 einhergehen: Während Unerledigt I−III (Abb. 6) als Medienbilder (Printmedien, Internet und TV) übermittelte Fotografien in durch die Künstlerin ausgeführte Zeichnungen aus Kaffee und Kakao transformiert, führt Lazy Afternoon Fotografien von Playmates aus 20 Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen / Basel: 2002, S. 12; dies.: Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung, in: Joachim Paech und Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog / digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, S. 47−60. 36 Fabiana Senkpiel Zeitschriften durch Lebensmittelfarbe auf essbare Träger über. Diese zwischenbildlichen Bezüge, also Bilder, die sich explizit oder implizit auf andere Bilder bzw. auf die Bildlichkeit anderer Medien beziehen, realisieren künstlerische Aneignungsstrategien jenseits eines bloßen Formzitats, denn gleichzeitig wandeln sie die sich zu eigen gemachten Bilder um.21 The Show goes on de-kontextualisiert schließlich als Werbeslogans dienende Sprüche der Banken-, Versicherungs- und Finanzbranche, welche im Netz zirkulieren, und verlegt sie auf geprägte Marzipanauflager für Schokoladenpralinen, dabei eine mediale und materiale Grenzüberschreitung bewirkend. Die Tatsache, dass durch den Einsatz von Lebensmitteln viele Kunstwerke seit den 1960er Jahren häufig solche interpikturale Bezugnahmen und intermediale Verfahren22 vollziehen, wurde bislang weder in den Forschungsdiskursen zum Verhältnis von Lebensmitteln und Kunst23 noch in den Debatten zu Intermedialität und Interpikturalität explizit hervorgehoben. 21 Vgl. Christoph Zuschlag: Die Kopie ist das Original. Über Appropriation Art, in: Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Ausst. Kat., Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, Bielefeld 2012, S. 126‒135; Von Bildern. Strategien der Aneignung. John Baldessari, Marcel Broodthaers, Harun Farocki, Andrea Fraser, Nina Könnemann, Louise Lawler, Sherrie Levine, Hilary Lloyd, Michaela Meise, Richard Prince, Cindy Sherman, Ausst. Kat., Kunstmuseum Basel / Museum für Gegenwartskunst 2015 (Manual No. 4). 22 Vgl. Klaus Krüger: Bild – Schleier – Palimpsest. Der Begriff des Mediums zwischen Materialität und Metaphorik, in: Ernst Müller (Hg.): Begriffsgeschichte im Umbruch?, Hamburg 2005, S. 81‒112, hier S. 99, sowie ders.: Das Bild als Palimpsest, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 133‒163, hier S. 147; kritisch dazu Victoria von Flemming: Stillleben intermedial: Eine Deutungsstrategie des Barocken von Sam Taylor Wood, in: dies. und Alma-Elisa Kittner (Hg.): Barock – Moderne – Postmoderne: ungeklärte Beziehungen, Wiesbaden 2014 (Reihe Wolfenbüttler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 50), S. 289‒313, hier S. 299; zum ‚interpikturalen Wiedererkennen‘ vgl. Wolfram Pichler und Ralph Ubl: Bildtheorie zur Einführung, Hamburg 2014, S. 101‒104; Christoph Zuschlag: Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität, in: Silke Horstkotte und Karin Leonhard (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text, Köln et al. 2006, S. 89‒99, hier S. 99. Eine etablierte Theorie der zwischenbildlichen Relationen steht im Grunde noch aus, vgl. Gustav Frank und Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft. Bilder in der visuellen Kultur, Darmstadt 2010, S. 47; die kunstwissenschaftliche Forschung befasste sich in den letzten Jahren mit Bild-Bild-Bezügen, wobei auf ein breites Begriffsspektrum zurückgegriffen wurde: Guido Isekenmeier (Hg.): Interpiktorialität. Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge, Bielefeld 2013 (Image 42); Martina Baleva, Ingeborg Reichle und Oliver Lerone Schultz (Hg.): Image Match. Visueller Transfer, ‚Imagescapes‘ und Intervisualität in globalen Bildkulturen, Paderborn / München 2012; Julia Gelshorn: Interikonizität, in: kritische berichte 3/2007, S. 53‒58; Valeska von Rosen: Interpikturalität, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 161−164. Erwähnte Positionen zu Interpikturalität / Interpiktorialität lehnen sich methodisch stark an die literatur- und medienwissenschaftlich geprägten Theorien der Intertextualität sowie der Intermedialität an: Damit spricht man Bildern ähnliche Strukturen und Strategien der Bedeutungsgenerierung wie Texten zu. Fraglich jedoch ist, ob bildliche Bezüge überhaupt analog zu Bezügen zwischen Texten funktionieren können, vgl. Gelshorn 2007, S. 55‒56. Es wurde zu Recht beobachtet, dass eine Theorie der interbildlichen Bezüge parallel zur Entwicklung von Theorien des Bildes verlaufen sollte, vgl. Zuschlag 2006, S. 96. 23 Vgl. Cecilia Novero: Eat Art e Fluxus, in: Arts & Foods 2015, S. 596−608, hier S. 600−602 zu den Bezügen von Spoerris Henkel Banquet (1970) zur eigenen Kunst und zur Pop Art, welche die Forscherin aufgrund des – zoologisch ausge- Einverleibungen 37 Während beim biologisch geprägten Terminus des Metabolismus die Umwandlung als Stoffwechsel im Vordergrund steht, liegt an dieser Stelle bezüglich der angestrebten Beschreibung des Modusʼ bildlicher Sinnstiftung unter Berücksichtigung materialästhetischer Aspekte der interessierenden Fallbeispiele der Akzent auf einem ihm inhärenten Bestandteil: der Einverleibung, das heißt der Art und Weise, wie dieser Prozess initiiert wird. Einverleibung steht an dieser Stelle als ästhetische Kategorie für die genannten künstlerischen Aneignungsverfahren, welche Formate, Techniken und Motive bereits verfügbarer massenmedialer Bildlichkeiten durch veränderte materielle Beschaffenheit nachahmen und folglich transformieren, sowie de- und neu kontextualisieren,24 wobei die ‚metabolistische‘ Umwandlung bzw. Verdauung der vorgestellten künstlerischen Arbeiten bei den jeweiligen Betrachtenden visuell, kognitiv und physisch geschehen kann. Dabei werden demnach zwei Möglichkeiten der Einverleibung als ästhetische Kategorie anvisiert: Auf der Produktionsebene ist die Grundannahme, dass Lebensmittel Material und Akteur besagter künstlerischer Aneignungsprozesse fremder Bildlichkeit sind. Hierbei klingt eine Verbindung zur in der Forschung vielfach diskutierten Handlungsmacht des Materiellen an. 25 Über drückt – Essens von Artgenossen als „kannibalistisch“ bezeichnet; Lara Conte: Sensorio, sensazionale, sensitivo, sensibile, sentimentale e sensuoso. Il cibo nelle pratiche artistiche processuali e nellʼarte povera, in: Arts & Foods 2015, S. 668−674, hier S. 670; Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst. Ausst. Kat., Kunsthalle Düsseldorf et al., Köln 2009, S. 44‒47 zu Daniel Spoerri. Mahlzeit. Essen in der Kunst. Ausst. Kat., Galerie im Traklhaus, Salzburg 2009, S. 7‒ 8; Harald Lemke: Die Kunst des Essens. Zur Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld 2007, S. 64 zu Joseph Beuys; Beil 2002, S. 77‒83 zu Marcel Duchamp. 24 Während ‚Appropriation Art‘ im engeren Sinne eine spezifische Kunstströmung im New York Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre kennzeichnet, definiert der allgemeinere Begriff ‚Aneignungskunst‘ epochenübergreifend Verfahren der visuellen Ähnlichkeit. Die so entstandenen Werke verstehen sich nicht als Plagiate, sondern vielmehr als eigenständige Kreationen, vgl. Von Bildern 2015; Zuschlag 2012, S. 126‒135; David Evans (Hg.): Appropriation. London / Cambridge MA 2009; Stefan Römer: Wem gehört die Appropriation Art?, in: Texte zur Kunst 7.26/1997, S. 129‒137. 25 Im Zuge des material turn beschäftigen sich die Geistes- und Kulturwissenschaften verstärkt mit der Frage, wie der jeweilige materielle Träger ihrer Untersuchungsgegenstände deren Bedeutung mitprägt. Damit einher geht die Frage nach dem Erkenntnispotential des Materiellen, also wie durch die Materialität der Artefakte, Dinge und Objekte sowie Medien Wissen generiert werden kann, vgl. Christiane Heibach und Carsten Rhode: material turn?, in: dies. (Hg.): Ästhetik der Materialität, Paderborn 2015 (Reihe HfG Forschung, Bd. 6), S. 9−30; Tony Bennett und Patrick Joyce (Hg.): Material powers. Cultural studies, history and the material turn, London 2010. Auch der Materialität der Künste wurde folglich eine neue Qualität zugesprochen: Entscheidend zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Materials in den Bildenden Künsten haben Monika Wagner und Dietmar Rübel beigetragen, die das ‚Wie‘ der jeweiligen Materialverwendung in einem Kunstwerk und folglich den Anteil der Materialien nicht nur an dessen Bedeutungskonstitution, sondern auch an dessen Formgestaltung ins Zentrum rückten, vgl. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001; dies.: Material, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart et al. 2001, S. 866−882; dies. und Dietmar Rübel (Hg.): Material in Kunst und Alltag, Berlin 2002 (Reihe Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte. Studien, Theorien, Quellen, Bd. 1); Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, 38 Fabiana Senkpiel die verschiedenen Ausprägungen des material turn hinaus lässt sich seit einigen Jahren eine unter dem Terminus new materialism bekannte Wendung hin zur eigenartigen Wirkmacht des Materials bzw. zu einem Materialhandeln feststellen, die in besonderer Weise die Veränderlichkeit und Eigendynamik eines jeden Materials in den Fokus stellt.26 Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsmacht (agency) ist nach Auffassung der Vertreterinnen dieses neuen Materialismus’ nicht mehr ausschließlich dem Menschen zuzurechnen, sondern wohnt auch materiellen Objekten inne. 27 Vor diesem Hintergrund werden Materialien als ‚Akteure‘ der künstlerischen Prozesse erkannt und Materie als ein aktives Prinzip begriffen. Damit soll eine besondere Form der Interaktion zwischen der dem Kunstwerk zugrunde liegenden materiellen Beschaffenheit und den Kunst-Rezipierenden ins Auge gefasst werden, bei der das Material eine von dem jeweiligen Künstler abgeleitete Form von Wirksamkeit übernimmt und eine reale Auswirkung zeitigt. 28 Lebensmittel als Kunstmaterial stoßen bei den vorgestellten künstlerischen Arbeiten von Isabelle Krieg und Celia und Nathalie Sidler die Verwandlung der Bilder und Inschriften, auf die sie sich beziehen, an: Ihr Einsatz ‚verleibt‘ diese Bilder ‚ein‘ und transformiert sie, sodass sie zu Agenten der zwischenbildlichen Veränderungsprozesse werden. Auf der Rezeptionsebene ‒ und hier scheint ein phänomenologischer Ansatz durch – soll Einverleibung mit der München 2002; Dietmar Rübel, Monika Wagner und Vera Wolff (Hg.): Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design und Architektur, Berlin 2005. Lebensmittel als Kunstmaterialien und die Frage, wie sie die Bedeutungskonstitution der künstlerischen Arbeiten mitprägen, wurden punktuell und exemplarisch untersucht, vgl. Beil 2002, der − einen materialikonologischen Ansatz in künstlermonographischen Kapiteln verfolgend – die Annäherung der Bereiche ‚Leben‘ und ‚Kunst‘ im Zuge des verstärkten Einsatzes von verderblichen Lebensmitteln als künstlerisches Gestaltungsmittel seit der Avantgarde darstellt. 26 Vgl. Sarah Ellenzweig und John H. Zammito (Hg.): The new politics of materialism. History, philosophy, science, London et al. 2017; Nick J. Fox und Pam Alldred (Hg.): Sociology and the New Materialism. Theory, Research, Action, Los Angeles 2017; Susanne Witzgall und Kerstin Stakemeier (Hg.): Macht des Materials / Politik der Materialität, Zürich 2014; Diana H. Coole und Samantha Frost (Hg.): New materialisms. Ontology, agency, and politics, Durham 2010. 27 Zu agency als einer Eigenschaft, die weder Menschen noch Nicht-Menschlichen eingeboren ist, sondern sich aus deren Interakation entwickelt und Materialität in einem komplexen sozio-technischen System verortet vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005; ders.: Pandora’s Hope. An Essay of the Reality of Science Studies, Cambridge MA 1999. Daraus wurde die ‘Akteur-Netzwerk-Theorie’ (ANT) geleitet, die mittlerweile in verschiedensten Ausprägungen weiterentwickelt wurde, vgl. John Law: After ANT: Complexity, Naming and Topology, in: ders. und John Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford 1999, S. 1−14. Zur ‚indirekten‘ bzw. ‚sekundären‘ agency von Kunstwerken aus anthropologischer Perspektive vgl. Alfred Gell: Art and agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, ders.: The Technology of Enchantment and the Enchantment of Technology, in: Jeremy Coote und Anthony Shelton (Hg.): Anthropology, Art and Aesthetics, Oxford 1992 (Reihe Oxford studies in the anthropology of cultural forms), S. 43, S. 52; vgl. auch den Überblick von Angeliki Karagianni, Jürgen Paul Schwindt und Christina Tsouparopoulou: Materialität, in: Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin 2015 (Reihe Materiale Textkulturen, Bd. 1), S. 33−46. 28 Vgl. Karagianni / Schwindt / Tsouparopoulou 2015, S. 36−37 über agency bei Gell, Latour und Law. Einverleibungen 39 aus dem künstlerischen Einsatz von Lebensmitteln hervorgehenden multisensorischen Dimension (Olfaktorik, Gustatorik, Haptik) geknüpft werden, welche mit der ästhetischen Erfahrung bei der Teilhabe an den künstlerischen Arbeiten einhergeht. Dies besitzt allerdings in besonderer Weise für die vorgestellten Arbeiten von Sidler / Sidler Gültigkeit: Dabei kommt den sinnlichen Anreizen, die Lebensmittel als Material der Kunst auslösen, eine wesentliche Rolle zu. Das Künstlerduo stellt das Einverleibungspotential der verwendeten Lebensmittel in den Mittelpunkt. Ihre künstlerischen Arbeiten beziehen sich auf und provozieren durch den Einsatz von Lebensmitteln Formen des Begehrens; die Künstlerinnen können somit das Verhalten des Publikums teilnehmend beobachtend erforschen. Die Rezeptionsmöglichkeiten für die Beteiligten erweitern sich und so wird ihr „Körper zum Erkenntnisorgan“ 29. Angesprochen ist damit auch – mit dem Philosophen Bernhard Waldenfels ‒ jene Leiblichkeit der Sinne, die Reaktion des Leibes auf die Materialität des Bildes. 30 Der Beitrag zeigt auf, dass der Modus bildlicher Sinnstiftung der ausgewählten Fallbeispiele interpiktural und intermedial funktioniert: Durch den Einsatz des Kunstmaterials Lebensmittel greifen die Arbeiten massenmediale Bilder aus Alltagssituationen auf (Einverleibung), werten sie um (Metabolismus) und hinterfragen sie kritisch. Dabei richtete sich der Fokus vor allem auf die form- und bedeutungskonstitutive Rolle der eingesetzten Lebensmittel als Kunstmaterial. Abbildungsnachweis Abb. 1 © Isabelle Krieg & ProLitteris Zürich Abb. 2 © Isabelle Krieg & ProLitteris Zürich Abb. 3 © Celia Sidler / Nathalie Sidler, Foto: Rob Nienburg Abb. 4 © Celia Sidler / Nathalie Sidler, Foto: Rob Nienburg Abb. 5 © Celia Sidler / Nathalie Sidler Abb. 6 © Isabelle Krieg & ProLitteris Zürich 29 30 Vgl. Eating the Universe 2009, S. 6‒7, S. 15‒16. Vgl. Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a. M. 2009; ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel, Berlin 2010. The P ages o f Da y and Night Von Saatgut -Tresoren und Herbarien in Pia Rönickes Arbeit Magdalena Grüner Am 22. April 2014 berichtete der norwegische Online-Nachrichtendienst The Local, dass große Teile der Saatgut-Sammlung des International Centre for Agricultural Research in Dry Areas (ICARDA) aus der nahen Umgebung der syrischen Stadt Aleppo auf die norwegische Insel Svalbard (Spitzbergen) in den sogenannten Global Seed Vault überführt worden waren. Diese Maßnahme war notwendig, um die wertvollen Proben von Kulturpflanzen vor der Zerstörung des sich immer weiter zuspitzenden syrischen Bürgerkriegs zu bewahren.1 Dieses Ereignis bildet den Ausgangspunkt der Ausstellung The Pages of Day and Night der Künstlerin Pia Rönicke (geboren 1974 in Roskilde, Dänemark).2 Der Titel der Ausstellung zitiert den Titel eines Gedichtbandes des syrischen Lyrikers Ali Ahmad Said (genannt Adonis), der seit 1985 in Paris im Exil lebt. Gezeigt wurden insgesamt dreizehn Arbeiten, darunter zwei Filme, zwei Fotoinstallationen sowie drei Podeste mit insgesamt neun geöffnet präsentierten Zeitungen und Büchern, die mit je einem Exemplar einer gepressten und getrockneten Pflanze versehen sind. Die Ausstellung bildet ein vielschichtiges Gewebe von Assoziationen und Bedeutungen, in welchem verschiedene Elemente zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Botanik und ihre Geschichte in den Mittelpunkt stellend, sind narrative und phantasievolle Seiten der Wissenschaften, aber auch ihre soziopolitischen Implikationen Teil dieses Geflechts. Die Fotoserie The Pages of Day and Night bildet in der Ausstellung eine Art Drehund Angelpunkt, von dem ausgehend sich das sinnstiftende Bezugssystem entfaltet. In der Arbeit werden dreißig schwarzweiße Fotogravüren von Herbarblättern (27,5 x 41 cm) aus dem Herbarium des Naturhistorischen Museums in Kopenhagen (Statens Naturhistoriske Museum, Kobenhavns Universitet) gezeigt (Abb. 1). Sie entsprechen 1 2 Https://www.thelocal.no/20140422/syria-genebank-sends-seeds-to-svalbard-vault (Zugriff am 27.11.2018). Die Ausstellung The Pages of Day and Night wurde vom 12. November 2015 bis zum 16. Januar 2016 in der Pariser Galerie gbagency gezeigt. 42 Magdalena Grüner Abb. 1 Pia Rönicke, The Pages of Day and Night , 30 schwarz-weiße Fotogravüren, 52 x 37,5 cm , 2015, Installationsansicht gb agency gallery, Paris Abb. 2 Pia Rönicke, The Pages of Day and Night, 30 schwarz-weiße Fotogravüren, 52 x 37,5 cm, 2015, Installationsansicht gb agency gallery, Paris (Detail) The Pages of Day and Night 43 jenen Spezies, die 2014 von Syrien nach Norwegen transferiert wurden. Diese Pflanzen stammen aus den Gebieten des ehemaligen Mesopotamien – aus Syrien, Irak und Iran –, aber auch Israel und Afghanistan. Die Herbarblätter in Pia Rönickes Arbeit zeigen Kulturpflanzen, die nach hunderten Generationen der Kultivierung den Stellenwert eines wichtigen kulturellen Erbes einnehmen. Die Blätter folgen alle demselben Schema: Das gepresste und getrocknete Exemplar einer Pflanzenspezies ist mittig auf seinem jeweiligen Blatt angebracht (Abb. 2). Ein Etikett in der rechten unteren Ecke gibt über die lateinische Bezeichnung der Art sowie den Fundort und das Fundjahr Auskunft. Ein oder mehrere Stempel zeigen an, aus welcher Sammlung das Herbarblatt stammt bzw. zu welcher es einmal gehörte. Ähnlich wie bei Gemälden wird so eine Art Provenienz des Blattes nachvollziehbar gemacht. Die Fotoserie ist das Ergebnis eines längeren Aufenthaltes der Künstlerin im Herbarium in Kopenhagen. Rönickes Interesse galt dabei der Kolonialgeschichte dänischer Expeditionen, die im Zeichen der Naturerkenntnis – und gleichzeitig mit konkreten wirtschaftlichen Interessen – weite Teile der Welt bereisten und kaum vorstellbare Mengen an (Pflanzen-)Material sammelten und nach Dänemark transportierten. Das dänische Herbarium ist als bewahrende und verwaltende Institution ein bis heute sichtbares Relikt solcher kolonialen Bestrebungen. Modi des Sammelns In der Arbeit The Pages of Day and Night werden somit zwei Institutionen, die sich dem Archivieren von Pflanzenmaterial auf unterschiedliche Art und Weise verschrieben haben, miteinander verlinkt: Das Herbarium in Kopenhagen und der Saatgut-Tresor auf Spitzbergen. Im Folgenden soll ein Blick auf die beiden Institutionen geworfen werden. Wie funktionieren sie und welche Modi des Sammelns von Naturalien kommen zum Tragen? In der Gegenüberstellung werden Verschiebungen in der Sammlungsund Forschungspraxis an Pflanzen erkennbar, die von Pia Rönicke in ihrer Arbeit thematisiert und zum Schauplatz der Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Kulturpflanze gemacht werden. Dabei offenbart sich ein komplexes Geflecht von Machtstrukturen, die sich – historisch gewachsen – bis in die Gegenwart fortschreiben. Zwischen 2014 und 2015 verbrachte Pia Rönicke einen längeren Forschungsaufenthalt in Kopenhagen, um sich mit dem dänischen Herbarium zu beschäftigen, das mit nahezu drei Millionen Herbarbelegen zu den größten Sammlungen von Pflanzenpräparaten weltweit zählt. Ein Herbarium ist ein botanisches Archiv, in dem oftmals Millionen von sogenannten Herbarbelegen in Mappen oder Kisten abgelegt sind. Die Fotografien von Pia Rönicke zeigen eben solche Herbarbelege. Das erklärte Forschungsziel eines Herbariums ist es, die vegetabile Natur in einem System zu erfassen, sie zu benennen, zu ordnen und handhabbar zu machen. Pro Spezies soll dabei mindestens 44 Magdalena Grüner ein Exemplar abgelegt werden, das seine jeweilige Art im Herbarium repräsentiert.3 Die Blätter werden lose, also nicht in einer bestimmten Reihenfolge fixiert, im Herbarium aufbewahrt.4 Die Herbarbelege wurden von Generationen von Pionieren, Naturalisten und Reisenden aus der ganzen Welt zusammengetragen und bleiben bei den richtigen Bedingungen über Jahrhunderte hinweg erhalten.5 Ein Herbarium lebt davon, dass an einem Ort Pflanzen aus aller Welt, aus mehreren Jahrzehnten und Jahrhunderten, aus allen Klimazonen und allen Jahreszeiten, versammelt sind. Der Grundstein eines globalen und generationenübergreifenden Forschungsprojektes wie der Botanik ist die Kompatibilität der Kommunikation; erst in dem Moment, in dem sich unterschiedliche Botaniker*innen zu unterschiedlichen Zeiten auf dieselbe Pflanze unter demselben Namen berufen konnten, war eine umfassende taxonomische Systematisierung denkbar. Mit Lorraine Daston gesprochen: „Botany is the science that strives to undo the mischief of Babel.“ 6 Um also grenzen- und generationenübergreifend dieselbe Sprache zu sprechen, wurde Latein zur offiziellen botanischen Sprache erklärt; sowohl die Nomenklatur und die Taxonomie als auch die Beschreibungen der Pflanzen waren ausschließlich auf Latein zugelassen. Auch die visuelle Kommunikation wurde standardisiert: Pflanzen wurden in Herbarien vorwiegend anhand von Trockenpräparaten dargestellt. Jede*r Reisende konnte diese unabhängig von seiner zeichnerischen Ausbildung bzw. künstlerischen Begabung mit vergleichsweise wenig Aufwand herstellen. Diese Praktiken der Vereinheitlichung ermöglichen es, dass Botaniker*innen, die heute in einem Herbarium arbeiten, Herbarbelege aus mehreren Jahrhunderten dekodieren und erforschen können. Ein Herbarium ist also einerseits der Ort, an dem der Name einer Pflanze permanent an die Pflanze selbst gebunden werden soll und andererseits ein Ort der Wissensproduktion, in dem gesammeltes Pflanzenmaterial handhabbar, vergleichbar und erforschbar gemacht wird.7 Im Gegensatz zu dem antiquiert erscheinenden Archiv des Herbariums präsentiert sich der megalomane Saatgut-Tresor auf Spitzbergen fast schon postapokalyptisch (Abb. 3). Der 2008 im Permafrost des hohen 3 4 5 6 7 Vgl. Lorraine Daston: Type Specimens and Scientific Memory, in: Critical Inquiry 31/2004, S. 153–182. Zur Bedeutung fluider Sammlungsobjekte für die Entwicklung des Taxonomischen Systems vgl. Staffan Müller-Wille: Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels, in: Anke Te Heesen und Emma Spary (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 2002, S. 22–38. Vgl. Daston 2004, S. 165. Ebd., S. 153. Vgl. ebd. The Pages of Day and Night 45 Abb. 3 Rendering und Grundriss des Global Seed Vault Nordens errichtete Bunker hat es sich zum Ziel gemacht, eine möglichst große Sammlung von Kulturpflanzen und ihren nicht-domestizierten Verwandten anzulegen.8 ‚Bunker‘ ist dabei wörtlich zu verstehen: der Tresor soll sicher vor Erdbeben, Überflutungen, sogar gezielten Bombenangriffen und nuklearen Katastrophen sein. 9 Die sechsundzwanzig Meter lange Eingangshalle führt in einen sechsundneunzig Meter langen, stahlbetonverstärkten Tunnel. Am Ende des Tunnels befinden sich drei Tresorräume, jeder davon ist etwa zehn Meter breit, siebenundzwanzig Meter lang und sechs Meter hoch.10 Bislang wird nur die rechte Kammer genutzt: in ihr werden zurzeit 890.886 Saatgut-Proben aus nahezu jedem Land der Welt aufbewahrt.11 Eine Probe besteht aus etwa vierhundert bis fünfhundert Samen, die luftdicht verschweißt in einer Glasampulle abgelegt werden.12 Dieses Projekt ging aus der Überzeugung 8 Cary Fowler: The Svalbard Global Seed Vault: Securing the Future of Agriculture, 2008, S. 6. http://blogs.world bank.org/sites/default/files/climatechange/The%20Svalbard%20Seed%20Vault_Global%20Crop%20Diversi ty%20Trust%202008.pdf (Zugriff am 25.01.2019). 9 Fowler 2008, S. 5, S. 19. 10 Ebd., S. 17. 11 Siehe https://www.croptrust.org/our-work/svalbard-global-seed-vault (Zugriff am 15.01.2019). 12 Fowler 2008, S. 20. 46 Magdalena Grüner hervor, dass diejenigen Nutzpflanzen, die aktuell die Weltbevölkerung mit Nahrung versorgen, sich nicht schnell genug an die klimatischen Veränderungen der nächsten Jahrzehnte anpassen werden können.13 Für die Anpassungsfähigkeit einer Pflanze ist die Diversität innerhalb der Art grundlegend, da diese Varietäten unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und gegenüber unterschiedlichen Bedrohungen (wie Dürre oder Schädlinge) resistent sind.14 Die Hoffnung ist, dass einige dieser Sorten Eigenschaften aufweisen, die in Zukunft wichtig werden. Diese Eigenschaften können mittels gezielter Kreuzung an agrarwirtschaftlich genutzte Varietäten weitergegeben werden.15 Weltweit haben es sich Saatgut-Speicher im Hinblick auf eine rapide Abnahme der Biodiversität zur Aufgabe gemacht, möglichst viele Varietäten von Pflanzen und damit einen möglichst großen Genpool für die Zukunft zu sichern. Der Global Seed Vault auf Spitzbergen dient als Backup für diese global existierenden Sammlungen, das allen Temperaturveränderungen, Umweltkatastrophen und Kriegen standhalten soll. Pia Rönicke reflektiert in ihrer Überblendung von Herbarium und Saatgut-Tresor in ihrer Arbeit The Pages of Day and Night die Sammlungspraktiken, die in den beiden Institutionen zum Tragen kommen. Diese muten sehr unterschiedlich an: Während das Herbarium dem Anspruch dient, das vegetabile Reich der Natur zu systematisieren, liegt der Fokus im Saatgut-Tresor auf dem Bewahren der Pflanzenarten. Das Herbarium hat dabei den Status eines Rohstoffarchivs, das mit ‚der Natur‘ gleichgesetzt wird. In dem Saatgut-Tresor hingegen werden agrarwirtschaftliche Kulturpflanzen und deren nicht domestizierte Verwandte für zukünftige Generationen erhalten. Es werden also gezielt vom Menschen modellierte und kulturell überformte Sorten von Nutzpflanzen gesammelt – und zwar nicht in erster Linie, um sie zu systematisieren und zu erforschen, sondern um sie zu bewahren. Nur in einer Notfallsituation sollen die Proben nutzbar gemacht werden: Der Global Seed Vault 13 Ebd., S. 15. Mittels eines taxonomischen Systems wird die vegetabile Natur in Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten eingeteilt. Innerhalb der Arten (oder Spezies) gibt es jedoch eine Vielzahl an Sorten, die mitunter sehr unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Diese unterschiedlichen Eigenschaften können sichtbar sein – wie beispielsweise orange und lila Möhren, große, kleine, runde und ovale Tomaten etc. – oder auch nicht sichtbar, wie etwa bestimmte Sorten resistent gegen bestimmte Schädlinge sind, oder bei wärmeren Temperaturen und mit mehr oder weniger Wasser gedeihen können. Es ist nicht möglich, eine genaue Anzahl von Varietäten innerhalb einer Spezies zu ermitteln. Gerade Pflanzenspezies, die als Nahrung dienen und dementsprechend in großem Stil über Jahrhunderte hinweg auf unterschiedlichen Kontinenten und unter verschiedenen klimatischen Bedingungen angebaut wurden, weisen eine besonders große Vielfalt innerhalb ihrer Art auf. Schätzungen zufolge sind aktuell mehr als 200.000 Sorten Reis bekannt, etwa 200.000 Sorten Weizen, 30.000 Sorten Bohnen und 30.000 Sorten Mais. Vgl. ebd., S. 7. 15 Für den Verlust von Biodiversität sind vielfältigste Ursachen verantwortlich; darunter zu nennen ist auch die hochkommerzialisierte und -technisierte Lebensmittelerzeugung. Vgl. z. B. Nigel Dudley und Sasha Alexander: Agriculture and Biodiversity: a review, in: Biodiversity 18/2017, Issue 23: Food, Agriculture and Biodiversity, S. 4549; https://doi.org/10.1080/14888386.2017.1366874 (Zugriff am 31.01.2019). 14 The Pages of Day and Night 47 funktioniert wie eine Gendatenbank. Diese unterschiedlichen Zielsetzungen bedingen, dass in einem Saatgut-Tresor eine möglichst große Vielfalt innerhalb einer Spezies angestrebt wird, während in einem Herbarium ein Exemplar einer Pflanze grundsätzlich ausreichend ist, um eine ganze Spezies zu repräsentieren. Eigentumsverhältnisse Die unterschiedlichen Zielsetzungen der Sammlungen bedingen einen grundlegend unterschiedlichen Status der Sammlungsobjekte innerhalb der beiden Institutionen: Herbarblätter sind mobile Artefakte, sie werden lose in den Mappen abgelegt und können jederzeit herausgenommen, mit anderen Blättern verglichen und neu zugeordnet werden.16 Die Saatgut-Proben auf Spitzbergen hingegen bleiben verschweißt und versiegelt in den Kisten der Institutionen, die sie zur Aufbewahrung gesendet haben. Paradoxerweise manifestiert sich an dieser unterschiedlichen Handhabung der Sammlungsobjekte eine Problematik, die beide Institutionen gemeinsam haben: nämlich die Frage nach dem Eigentum. Wem gehören diese Pflanzen? Beide Institutionen erscheinen in ihrer Zielsetzung zunächst losgelöst von ökonomischen Interessen – sie dienen dem Ordnen und Erfassen bzw. Bewahren der Natur. In der Praxis ist das Sammeln von Naturalien jedoch per se kein neutrales, allein der Naturerkenntnis verpflichtetes Unterfangen. Das Sammeln, Darstellen und Klassifizieren von Pflanzen ist ein Prozess der Aneignung und Domestizierung.17 Es wird Anspruch auf Eigentum erhoben, sind Pflanzen doch als Nahrungsmittel – man denke etwa an Zuckerrohr, eine der besonders lukrativen Kulturpflanzen der Kolonialzeit –, aber auch in Form von Textilien und Baumaterial in erster Linie eine Ressource und somit eng an kommerzielle Interessen gekoppelt. Solche Wechselverhältnisse von pflanzensammelnden Institutionen und kolonialen bzw. neokolonialen Mechanismen werden in der Arbeit The Pages of Day and Night thematisiert: Auf einem hüfthohen Sockel direkt vor der Fotoinstallation wird ein aufgeschlagenes Buch präsentiert. Es handelt sich um einen dokumentarischen Roman von Thorkild Hansen aus dem Jahr 1962 mit dem Titel Arabia Felix: The Danish Expedition of 176167.18 Das Buch liegt aufgeschlagen auf einer dunkelblauen Fläche, auf der linken Seite liest man die Kapitelüberschrift The Storm und auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich eine gepresste und getrocknete Pflanze (Abb. 4). 16 Vgl. Müller-Wille 2002, S. 23: „[G]erade erst mit der permutativen Bewegung, die Sammlungsstücke unter den Händen von Naturhistorikern vollführten, [konnten sich] die Umrisse der klassischen taxinomia abzeichnen.“ 17 Vgl. z. B. Andrew J. Lewis: Gathering for the Republic: Botany in Early Republic America, in: Londa Schiebinger und Claudia Swan (Hg.): Colonial Botany: Science, Commerce, and Politics in the Early Modern World, Philadelphia 2005, S. 66–80. 18 Thorkild Jansen: Arabia Felix: The Danish Expedition of 176167, New York 1964. 48 Magdalena Grüner Abb. 4 Pia Rönicke, Arabia Felix: The Danish Expedition of 1761  1767 by Thorkild Hansen, Harper & Row Publishers, 1964, Medicago lupulina , 2015 Das über die Seite wuchernde Pflanzenpräparat tritt in direkten Dialog mit der Schrift und wird in dieser Gegenüberstellung nach seiner Sprachfähigkeit befragt. Die scheinbar interesselose Verbildlichungsstrategie des Trockenpräparates wird als Produkt kultureller Setzungen und Kodierungskonventionen erfahrbar gemacht. Gleichzeitig wird die Verflechtung von Botanik, Expeditionsreisen, Imperialismus und Kolonialismus in diesem Objekt verdichtet zur Schau gestellt. Das ausgestellte Buch berichtet von der Dänisch-Arabischen Expedition, bei der fünf Gelehrte von 17611767 Nordafrika und den Nahen Osten bereisten und erforschten. Teil dieser Expeditionscrew war der schwedische Botaniker Peter Forsskål. Bevor er 1763 im heutigen Jemen der Malaria zum Opfer fiel, konnte er eine umfangreiche Sammlung von Herbarbelegen zusammentragen, die in das Dänische Herbarium in Kopenhagen inkorporiert wurde. Drei der dreißig Fotogravüren aus The Pages of Day and Night zeigen Herbarbelege aus dieser Sammlung. Peter Forsskål war ein Schüler von Carl von Linné. Dieser wird als der Begründer der systematischen Botanik gefeiert, wobei ihm insbesondere das Verdienst der Etablierung einer einheitlichen Nomenklatur zukommt.19 19 Carl von Linné war ein schwedischer Naturforscher und lebte von 1707 bis 1778. Die sogenannte ‚binominale‘ Namensgebung wird heute noch praktiziert. Sie besteht aus einem substantivischen Gattungsnamen und einem adjektivischen Artnamen. The Pages of Day and Night Abb. 5 Jan Wandelaar, Frontispiz des Hortus Cliffortianus von Carl von Linné, Amsterdam 1737 49 50 Magdalena Grüner Der globale Anspruch wird auf dem Frontispiz von Carl von Linnés’ Hortus Cliffortianus, einer Schlüsselpublikation der Botanik aus dem Jahr 1737, greifbar (Abb. 5).20 Zu sehen ist die personifizierte Europa, die zentral auf der Bildfläche gezeigt wird – thronend auf zwei Löwen – sowie die weiblichen Personifikationen von Amerika, Asien und Afrika am linken Bildrand. Sie halten jeweils eine Topfpflanze in den Armen, um sie der Europa darzubringen. Das ikonographisch komplexe Titelbild ist hiermit nicht ausreichend beschrieben – der Anspruch auf eine global ausgerichtete Botanik erschließt sich jedoch aus diesen wenigen Beobachtungen.21 Als Schüler Carl von Linnés war Forsskål direkt mit dessen Propagierung einer globalen Botanik vertraut. Vor dem Hintergrund der Entdeckungsreisen der Zeit des Imperialismus macht ein erneuter Blick auf das Frontispiz von Jan Wandelaar die Interrelation von Botanik und kolonialer Expansion deutlich. Die Hierarchie der Kontinente ist hier klar markiert: Amerika, Asien und Afrika sind der bekrönten Europa untertan und stellen scheinbar bereitwillig ihre pflanzlichen Ressourcen zur Verfügung. Bekanntlich verliefen koloniale Ausbeutungsmechanismen nicht so freiwillig, wie es hier suggeriert wird. Die natürlichen Ressourcen der kolonialisierten Gebiete wurden in einer Kombination von physischer, psychischer und struktureller Gewaltausübung erbeutet. Der Profit des kolonialen Projekts war dabei stark von pflanzlichen Produkten abhängig, sodass die Botanik weniger als eine parallel zur Kolonialisierung sich herausbildende Wissenschaft zu betrachten ist als ein wesentlicher Katalysator derselben: „Botany was ‚big science‘ in the early modern world; it was also big business, enabled by and critical to Europe‘s burgeoning trade and colonialism.“22 Zucker, Gewürze, Kaffee und eine ganze Reihe weiterer pflanzlicher Rohstoffe bildeten das finanzielle Rückgrat kolonialer Eroberungen. Jan Wandelaar bringt in seiner allegorischen Darstellung eben jene hegemoniale Weltvorstellung mit ins Bild, die eine Ausbeutung von Menschen und Boden in kolonialisierten Gebieten überhaupt erst möglich macht. Während der globale Süden um ein Vielfaches reicher ist an pflanzlicher Artenvielfalt, ist es der hochtechnisierte Norden, der seit Jahrhunderten die sprichwörtlichen Früchte erntet: Historically, plant specimens and their genetic material were brought to botanical garden collections in the North and were also propagated as privatized commercial enterprises 20 Carl von Linné: Hortus Cliffordianus, Amsterdam 1737. Darüber hinaus hebt Linné diesen Aspekt in der Widmung an seinen Auftraggeber George Clifford dezidiert hervor: „Keine Wissenschaft ist reichhaltiger als die Botanik, [] Keines ist weiter verbreitet und diverser als das Pflanzenreich; [] und unzählige dieser Pflanzenfamilien sind auf der gesamten Welt verteilt.“ [Übers. d. Verf.], siehe Linné 1737, o. S.: „Nulla scientia amplior Botanica est, [] nullibi magis sidtributa magisque variantia quam in Regno Vegetabili.“ 22 Vgl. Schiebinger / Swan 2005, S. 3. 21 The Pages of Day and Night 51 through research stations and high output production plantations in colonized regions of the South, a competitive design that could cause economic collapse when the originating areas were deprived of markets.23 Im Hinblick auf das koloniale Erbe, das dem Pflanzensammeln anhaftet, sind in dem Global Seed Vault auf Spitzbergen die Eigentumsverhältnisse vertraglich geregelt. Ein sogenanntes ‚Black Box System‘ soll garantieren, dass die Saatgut-Proben im Besitz der Institutionen bleiben, die sie im Tresor ablegen. 24 Es gehen keinerlei Eigentumsrechte auf den Global Seed Vault über, die Proben werden dementsprechend auch nur ihren Besitzer*innen wieder ausgehändigt. Das bedeutet, dass die Sammlungsobjekte im Global Seed Vault nicht etwa nach Eigenschaften der Saatgut-Proben selbst, sondern nach Nationalitäten geordnet sind. Das Ordnungssystem dieser Sammlung basiert somit auf politischen Territorien, die an einen Anspruch auf Eigentum gekoppelt sind. Scheinbar also sind die Eigentumsverhältnisse im Global Seed Vault systematisch geregelt. Allerdings funktionieren Verträge grundsätzlich nur, wenn sich alle Vertragspartner*innen im selben Glaubenssystem aufhalten. Ist das nicht der Fall, sind Verträge nicht mehr als ein belangloses Stück Papier. So sind es oftmals gerade die Gruppen, auf deren physischer und intellektueller Ausbeutung der Profit des kolonialen Projekts beruhte, die dem Global Seed Vault skeptisch gegenübertreten und ihre Saatgut-Sammlungen nicht preisgeben wollen.25 Clayton Brascoupé, der Direktor der Traditional Native American Farmers Association, äußert sich diesbezüglich mit dem nüchternen Satz: „Money opens black boxes.“ 26 Zwischenräume In der Überblendung von Herbarium und Global Seed Vault in der Ausstellung The Pages of Day and Night wird somit nicht nur die koloniale Geschichte der Botanik adressiert, sondern auch die Frage gestellt, inwiefern sich diese Mechanismen bis heute fortschreiben. Aus den Fotografien der Herbarbelege des Dänischen Herbariums erschließt sich die politische Brisanz der Blätter nicht unmittelbar; erst die zusätzliche 23 Breen 2015, S. 42. Siehe https://www.croptrust.org/our-work/svalbard-global-seed-vault (Zugriff am 26.07.2018): „Each country or institution will still own and control access to the seeds they have deposited. The Black Box System entails that the depositor is the only one that can withdraw the seeds and open the boxes.“ 25 Die Tatsache, dass sich der Tresor im globalen Norden befindet, ist dabei nicht hilfreich, genauso wenig wie die Liste der Sponsorinnen, unter denen sich neben (hauptsächlich westlichen) staatlichen Geldgebern auch private Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation und die Rockefeller Foundation sowie kommerzielle Unternehmen wie Bayer und Syngenta befinden. https://www.croptrust.org/about-us/donors (Zugriff am 31.01.2019). 26 Breen 2015, S. 46. 24 52 Magdalena Grüner Abb. 6 Pia Rönicke, 2015, Installationsan sicht gbagency gallery, Paris (Detail) Information bezüglich der Auswahl der Blätter sowie weitere Arbeiten der Ausstellung – insbesondere die mit Pflanzenpräparaten versehenen Zeitungen und Publikationen – weisen auf das geopolitische Geflecht hin, in die das Bildformular des Herbars unwiderruflich verwoben ist (Abb. 6). Die Künstlerin Pia Rönicke arbeitet in ihrer Ausstellung mit einer Reihe von Verschleierungsstrategien, die programmatisch sind. In der Rezeption ihrer Arbeiten steht zunächst der ästhetische Reiz der Herbarblätter im Vordergrund. Der Transfer der Präparate in das druckgrafische Medium der Heliogravüre macht aus wissenschaftlichen Instrumenten, aus epistemischen The Pages of Day and Night 53 Dingen, Objekte des ästhetischen Genusses, die gedruckt und gerahmt an die Wand gehängt werden können. Erst der Titel, der ein Zitat des syrischen Schriftstellers Adonis darstellt, sowie der Verweis auf den syrischen Bürgerkrieg und den Global Seed Vault erzeugen ein Unbehagen, das problematische Dimensionen der Blätter vermuten lässt. Diese Taktik der Verschleierung ist zum einen ein Kommentar zu der vermeintlichen universalen Verständlichkeit der Blätter, dem Irrtum, dass Präparate als materielle Metonymien unmittelbar mit der lebendigen Pflanze gleichgesetzt werden könnten. Wie bei jedem Bild handelt es sich auch hier um kulturelle Setzungen, die nur in bestimmten kulturellen Kontexten decodiert werden können. Hinzu kommt die eigentliche vordergründige Funktion von Herbarblättern: sie sollen die Benennung einer Pflanze dauerhaft an dieselbe binden. Sprache ist in ihrer Essenz identitätsstiftend – mit der lateinischen Namensgebung wird die Vorstellung einer ureuropäischen Identität, die es so nicht gibt und nie gegeben hat, auf natürliche Phänomene projiziert und damit in Beschlag genommen. Die Benennung von Pflanzen ist mit aneignenden Mechanismen verbunden, die in Identitätsbehauptungen münden. Somit ist die Botanik ein Paradebeispiel für den Export hegemonialer Wissens- und Wertevorstellungen, der mit der Kolonialisierung einherging und bis heute globale Gesellschafts- und Machtstrukturen durchzieht. Zum anderen ist die Strategie der Verschleierung analog zu neokolonialen Mechanismen zu verstehen, die mit dem Pflanzensammeln des 21. Jahrhundert einhergehen: diese sind (im wohlhabenden Westen) nicht unmittelbar sichtbar, die kausalen Zusammenhänge sind nicht ohne weiteres ersichtlich. Nichtsdestotrotz setzen sich jahrhundertealte Machtasymmetrien fort und werden ganz konkret an Projekten wie dem Global Seed Vault manifest. Er basiert auf westlichen Vorstellungen von Eigentum, von Wissenschaften, von Saatgut als Träger genetischer Information – Vorstellungen, die eben nicht universal und alternativlos sind. In Pia Rönickes Ausstellung The Pages of Day and Night werden das Dispositiv des Herbariums sowie unterschiedliche Praktiken des Pflanzensammelns, -darstellens und -aneignens untersucht und nach ihren politischen Implikationen befragt. Die Künstlerin stellt ein komplexes Gefüge an Reflexionszusammenhängen her, die scheinbar dichotome Kategorien des Zeigens und Verbergens, der Funktionalität und des Ornaments, des ästhetischen Genusses und ethischen Unbehagens in all ihrer Widersprüchlichkeit koexistieren lassen. Nicht Entitäten, sondern produktive Zwischenräume werden bespielt, die im Beziehungsgeflecht der Ausstellung epistemisch wirksam werden. 54 Magdalena Grüner Abbildungsnachweis Abb. 1 © Pia Rönicke und gbagency Abb. 2 © Pia Rönicke und gbagency Abb. 3 © Fowler 2008, S. 18 © Global Crop Diversity Trust und Statsbygg Abb. 4 © Pia Rönicke und gbagency Abb. 5 © Bibliothek des Real Jardín Botánico Madrid, Of LIN S-328. http://bibdigital.rjb.csic.es/ing/Libro.php?Libro=1927&Pagina=5 Abb. 6 © Pia Rönicke und gbagency Plast ik. Ein spe kulativer M et ab olismus Inka Lusis Plastik galt lange als Material, das nicht verstoffwechselt werden kann. Das synthetische Material unterbricht natürliche Metabolismen und akkumuliert sich in hohen Mengen in unserer Umwelt. Auf Mülldeponien, in und am Rande von Städten, in Wäldern, in den Ozeanen, in der Tiefsee und auch in den Eislandschaften der Arktis und Antarktis. Die Erde versinkt in Plastik – die Menschen ertrinken in ihrem eigenen Müll. Mit der Zeit wird sichtbar, was jahrzehntelang übersehen und ausgeblendet wurde. Es häufen sich Aufnahmen toter Tiere, überwiegend Fische, Schildkröten oder Wasservögel, die an den für sie nicht verdaubaren Plastikteilen, wie etwa Flaschendeckeln, verenden. Bekannt geworden ist die seit 2009 fortlaufende Fotoserie Midway: Message from the Gyre1 von Chris Jordan (geboren 1963), die durch verschluckte Plastikdeckel verendete Albatrosse zeigt. Aufgeschnitten, am Strand liegend, veranschaulichen sie mit Nachdruck, wie die Plastikteilchen das Leben der Vögel vorzeitig beenden, weil es für sie nicht verdaubar ist. Halb Tier halb Plastik ergibt sich nicht selten, wenn das Innere einsehbar wird. Plastik – vom materiellen Träger m oderner Konsumgesellschaften zum Verursacher einer globalen Umweltkatastrophe Plastik ist ein Sammelbegriff für künstlich erzeugte Polymere, die seit etwa 1907 hergestellt und fortlaufend weiterentwickelt werden. Zu den bekanntesten Formen gehören u.a. PE (Polyethylen), PET (Polyethylenterephthalat), Styropor oder Latex. Mit der zunehmenden Massenproduktion von Gütern aller Art und deren globalisierter, kapitalistischer Produktions- und Vertriebsweise wächst auch der Plastikmüll. In 1 Vgl. Chris Jordan: Midway. Message from the Gire, http://www.chrisjordan.com/gallery/midway/#CF000313% 2018x24 (Zugriff am 14.12.2018). 56 Inka Lusis Form von kurzlebigen Artikeln oder als Verpackungsmaterial, besonders in der Lebensmittelindustrie, avancierte Plastik „zum Träger eines fortschreitenden Kapitalismus“2. Die diversen Eigenschaften von Kunststoffarten ermöglichen einen vielfältigen Einsatz in Industrie und Handel, etwa als Autoreifen, Airbag, Teile von Maschinen, Schutzhüllen von Kabeln, Luftpolsterfolie oder Klebeband. Oft ergibt sich eine Gleichzeitigkeit von Flexibilität und Stabilität, die Plastik als Verpackungsmaterial besonders attraktiv macht; zugleich ist es in der Lage Waren, besonders verderbliche Lebensmittel, vor Keimen oder Bakterien abzuschirmen und schützen. Meistens nur für wenige Minuten in Gebrauch, zum Beispiel als Plastikwasserflasche, steht diese kurzweilige Nutzung einer sehr langen Haltbarkeit gegenüber. Im Schnitt braucht ein Plastikartikel 350 bis 400 Jahre, bis er im Meer zersetzt ist, wobei man sich bis heute nicht vollkommen klar darüber ist, ob die synthetischen Polymere durch die mechanische Fragmentierung komplett in ihre einzelnen chemischen Elemente aufgelöst werden und ob diese Prozesse giftige Stoffe freisetzen.3 Erst durch die chemische Zersetzung, im Gegensatz zur mechanischen Fragmentierung oder physikalischen Verwitterung, kann man von einem biologischen Abbau sprechen.4 Durch die kurze Interaktion mit dem Material oder Objekten aus Kunststoff, wie etwa einer Plastikwasserflasche, erscheint das Material selbst auch als vergänglich für den Menschen und eine Reflexion über den weiteren Verlauf des gerade produzierten langlebigen Mülls bleibt aus.5 Die Künstlerin und Wissenschaftlerin Pinar Yoldas (geboren 1979) sagte im Interview mit Michael Hardt: Manche unserer Handlungen beanspruchen nur wenige Minuten – Interaktionen mit Plastik, die ziemlich ephemer, flüchtig und nicht von Dauer sind []. Dadurch fangen Plastik als Material und Objekte aus Kunststoff an, ebenfalls vergänglich zu erscheinen. Aber in Wahrheit trifft das Gegenteil zu: Plastik vergeht nie, Plastik ist für immer. Darum ist Plastik das perfekte Material für die große Illusion des Überflusses und Fortschritts.6 2 3 4 5 6 Heather Davis: Life & Death in the Anthropocene: A Short History of Plastic, in: dies. und Etienne Turpin: Art in the Anthropocene. Encounters Among Aesthetics, Politics, Environments and Epistemologies, London 2015, S. 347–358, hier S. 349. Vgl. Jürgen Bertling: Zersetzung von Kunststoffen, https://www.initiative-mikroplastik.de/index.php/themen/zer setzungskinetik (Zugriff am 14.12.2018). Vgl. ebd. Vgl. Michael Hardt und Pinar Yoldas: Plastik I Geld, in: Heike Catharina Mertens: Pinar Yoldas – Ecosystem of Excess, Berlin 2014, S. 85–91, hier S. 86. Ebd. Plastik. Ein spekulativer Metabolismus 57 Es ergeben sich zwei Formen der Verzerrung im Umgang mit Plastik: Zum einen findet eine zeitliche Verzerrung in der Wahrnehmung des Menschen statt, indem dessen kurzlebige Verwendung über die lange Haltbarkeit hinwegtäuscht. Zum anderen verzerrt Plastik durch seine lange Abbauzeit die biologischen Beziehungen der Erde, indem es deren Stoffwechsel unterbricht und schließlich anhält. 7 Im Vergleich zum Plastik zersetzen sich ‚natürliche‘ Substanzen um einiges schneller in beispielsweise nahrhaften Humus – sie kom-postieren und bieten damit Lebensgrundlage für neue Organismen.8 Ein höherer Verbrauch bedeutet auch eine steigende Menge an Plastikmüll. Ein Teil des Abfalls wird mittlerweile recycelt, jedoch gibt es auch einen erheblichen Anteil, der ‚unsachgemäß‘ verbrannt oder in der Umwelt hinterlassen wird und somit aus einer Abfall-Mehrwegkette herausfällt. So gelangt Plastik oder durch Wind und Wasser zerteilte Plastikteilchen – die kleinste Einheit wird Mikroplastik genannt – in die Ozeane, wo es sich zu riesenhaften Müllinseln ansammelt, in die Tiefsee absinkt oder in arktischen Regionen Teil der Eislandschaft wird. Die enormen Ansammlungen von Mikroplastikteilchen in den Weltmeeren blieben lange unbemerkt, da sie zum Teil unterhalb der Wasseroberfläche treiben oder bis auf den Meeresboden herabsinken.9 Die Plastisphäre – ein neues, globales Ökosystem In den letzten Jahren gab es verschiedene Meldungen, Plastik sei von Bakterien oder Enzymen zersetzt worden, zum Teil im Verdauungstrakt eines tierlichen Körpers, wie der Raupe der großen Wachsmotte10 oder von Mehlwürmern11 und teils auch abgekoppelt von anderen organischen Trägern, wie beispielsweise auf einer Mülldeponie oder auf schwimmenden Plastikinseln in den Ozeanen.12 Die Bakterien bilden sich hier direkt auf der Kunststoffoberfläche und metabolisieren diese langsam. Auch durch menschliche Forschung wird in Laboren seit den ersten Plastik-Metabolismen 7 Vgl. ebd., S. 85–91. Vgl. Donna Haraway, Martha Kenney: Anthropocene, Capitalocene, Chthulhocene — Donna Haraway in conversation with Martha Kenney, in: Davis / Turpin 2015, S. 255–270, hier S. 259. 9 Vgl. Helmholtz-Gemeinschaft: Müll im Meer, https://www.helmholtz.de/erde_und_umwelt/die-plastik-pest; Anja Nehls: Müllhalde Meer, https://www.deutschlandfunk.de/muellhalde-meer.697.de.html?dram:article_ id=243197 (Zugriff am 15.12.2018). 10 Vgl. Paolo Bombelli, Christopher J. Howe und Federica Bertocchini: Polyethylene Bio-degradation by Caterpillars of the Wax Moth Galleria Mellonella, in: Current Biology 27.8/2017, S. 292–293. 11 Vgl. Yu Yang et al.: Biodegradation and Mineralization of Polystyrene by Plastic-Eating Mealworms. Part 1. Chemical and Physical Characterization and Isotopic Tests, in: Environmental Science & Technologie 49/2015, S. 12080–12086. 12 Vgl. Erik R. Zettler, Tracy J. Mincer und Linda A. Amaral-Zettler: Life in the „Plastisphere“. Microbial Communities on Plastic Marine Debris, in: Environmental Science & Technologie, Washington D.C. 47/2013, S. 7137–7146. 8 58 Inka Lusis Abb. 1 Pinar Yoldas, An Ecosystem of Excess (Ausstellungsansicht), Mixed Media, Größe variabel, 2014, Schering Stiftung Berlin an der Modifizierung von Bakterien- und Enzymarten gearbeitet, um einen möglichst schnellen Zersetzungsprozess zu erzielen und so langfristig gegen die globale Müllakkumulation vorzugehen. Natürliche Organismen scheinen sich langsam an die von Menschen künstlich hergestellten Materialien zu ‚gewöhnen‘ und eigene, neue Formen der Zersetzung zu ‚lernen‘ – es generieren sich neue Metabolismen zwischen organischen und synthetischen Materialien. 2013 fand eine Gruppe von USamerikanischen Forscher*innen heraus, dass sich auf den ozeanischen Plastikinseln, auch plastic patches genannt, neue Ökosysteme bilden. Nicht nur Insekten nutzen die neue schwimmende Plastikoberfläche als Brutstätte, sondern auch Mikroorganismen und Bakterien siedeln sich darauf an. Ein Teil dieser Bakterien ist in der Lage, kleine Risse und Furchen in das Material zu ‚graben‘. 13 In der Studie wird geschlussfolgert, dass die bakteriellen Vorgänge damit Anzeichen für die angehende Zersetzung des Materials sind. 13 Vgl. Zettler / Mincer / Amaral-Zettler 2013, S. 7137. Plastik. Ein spekulativer Metabolismus Abb. 2, Abb. 3 Pinar Yoldas, An Ecosystem of Excess – Crustacea&Insecta (Ausstellungsansicht), Mixed Media, Größe va riabel, 2014, Schering Stiftung Berlin 59 60 Inka Lusis Das neue plastikzentrierte Ökosystem wird hier als Plastisphäre bezeichnet. Jennifer Gabrys beschreibt den Vorgang der Zersetzung wie folgt: Kunststoffe bringen einmalige Lebensräume hervor, in denen sich spezifische Gemeinschaften mikrobiellen Lebens entwickeln. Da Kunststoffe hydrophob beziehungsweise wasserabweisend sind, ermöglichen sie die Ansiedelung von bis zu tausend verschiedenen Mikrobenarten auf einem einzigen Stück Plastik. Diese bilden einen Biofilm, der an dem Kunststoff anhaftet, während dessen Oberfläche potenziell verändert wird und durch die Bildung von winzigen Rissen erodiert, in die sich wiederum neue klebrige Flecken mit weiteren mikrobiellen Organismen einnisten.14 Das Ecosystem of Exc ess (Pinar Yoldas, 2014) Ausgehend von diesen Beobachtungen entwarf Pinar Yoldas unter der Fragestellung, welche Spezies sich aus solch einem plastikzentrierten Ökosystem entwickeln könnten, 2014 das Ecosystem of Excess. Dieses umfasst eine Installation aus Objekten, Zeichnungen, eine Art Lexikon und Informationstafeln, die in einer Laborästhetik in einem halb abgedunkelten Raum verteilt sind (Abb. 1).15 Beleuchtete Schaukästen, Glaszylinder und ein Messbecher suggerieren zunächst eher den Eindruck einer naturwissenschaftlichen Experimentierstätte, bis der Blick auf die Plastiktiere und -organe fällt. Die verschiedenen Objekt- und Informationsgruppen sind in kleinen Stationen im komplett weißen Raum verteilt, erhöht durch weiße Sockel bzw. Unterbauten. Den Raum betretend befinden sich rechts zwei hüfthohe, geometrischrechteckige Schaukästen, in denen jeweils Spezies des Ecosystem of Excess, die Plastic Balloon Turtle, Transchromatic Eggs und mehrere Krustentiere unter einer Glasscheibe beleuchtet liegen. Auf dem etwas niedrigeren, vorderen Schaukasten stehen außerdem kleine, geschlossene, durchsichtige Röhrchen – ähnlich Laborproben –, in denen bunte Plastikinsekten stehen (Abb. 2, Abb. 3). In der rechten Raumecke dahinter steht ein niedriger weißer Tisch, auf dem die Federn der Pantone Birds drapiert sind. Gerade durch, aus Türperspektive, stehen die mit Plastikorganen gefüllten Wasserzylinder auf zwei unterschiedliche hohen geometrischen Podesten. Die Glasgefäße sind von unten beleuchtet, sodass die bunten Organe schon von Weitem erkennbar sind. Links vor den Organ-Podesten steht wiederum ein runder, 14 15 Jennifer Gabrys: Spekulationen über Organismen in der Plastisphäre, in: Mertens 2014, S. 51–62, hier S. 53. Vgl. Pinar Yoldas: An Ecosystem of Excess, https://pinaryoldas.info/WORK/Ecosystem-of-Excess-2014 (Zugriff am 13.07.2018). Die nachstehende Beschreibung erfolgt auf Grundlage einer Ausstellungsansicht aus dem Ausstellungskatalog der Schering Stiftung. Vgl. Mertens 2014, S. 104. Plastik. Ein spekulativer Metabolismus 61 Abb. 4 Pinar Yoldas, An Ecosystem of Excess – Organs for sensing and metabolizing plastics (Ausstellungsansicht), Mixed Media, Größe variabel, 2014, Schering Stiftung Berlin hockerähnlicher Tisch, auf dem ein mit dunklem Wasser gefüllt Messbecher steht – es ist eine ‚Plastik-Ursuppe‘. Weiter vorne, links im Raum, stehen drei zylinderförmige, weiße Sockel, in denen obenauf Bildschirme eingefasst sind. Die Besucher*innen können hier Informationen über die Plastisphäre-Studie lesen und Bilder der Bakterien sehen. Die Plastikobjekte lassen sich in zwei Gruppen einteilen, in tierliche 16 Spezies und in Organe. Zusammen formen sie einen spekulativen ozeanischen Tierkreislauf, von Plankton über Krebse und Fische, hin zu Schildkröten und Wasservögeln, die mittels evolutionär angepasster Organe Plastik als Nahrungsmittel verzehren und verdauen können. Die Tiere sind nur in verkleinerter, abstrahierter oder gezeichneter Form in der Installation umgesetzt, die Organe hingegen wurden überdimensional vergrößert. In ihrer Form zum Teil an menschliche Organe angelehnt, liegen sie in ihrer Farbigkeit abseits ‚natürlicher‘ Norm, wenn man an die überwiegend rot-weiß-rosa-fleischlichen Organe des menschlichen Körpers denkt. Blau-, türkis-, orange-, violettfarbige aderähnliche Auswüchse reihen sich an weiß-rosa ballonoder blütenähnliche Strukturen (Abb. 4 und 5). Manche von ihnen hat Yoldas durch mechanisch-technisch angetriebene Pumpen in Bewegung versetzt, um so einen le- 16 Der Begriff tierlich wird an dieser Stelle dem häufiger gebrauchten tierisch vorgezogen, weil er als weniger abwertend gilt. Er findet oftmals Verwendung in den sogenannten Animal Studies. 62 Inka Lusis bensnahen Eindruck zu suggerieren. Einzelteile der Objekte wechseln zwischen Kontraktion und Ausdehnung, ähnlich einem Muskel, und produzieren dadurch gurgelnde Geräusche in den Wasserbehältnissen. Die Organe haben spezifische Eigenschaften, wie das Verdauen (Stomaximus), das Aufspüren (Plastoceptor) und das Reinigen (PetroNephros) des Materials.17 Sie sind den Spezies nicht speziell zugeordnet, könnten also Innenleben von ihnen allen sein. In riesenhafter Dimension von 0,5m bis zu einem Meter schwimmen die fünf Organtypen in den Glaszylindern. Der Stomaximus, als überdimensionales Verdauungsorgan, ist in der Lage durch Bakterien unterschiedliche Plastikarten zu verdauen und komplett aufzulösen. Im Ausstellungskatalog schreibt Yoldas: Der evolutionäre Erfolg eines Plastivoren hängt von seiner Fähigkeit ab, Plastik als Nahrung wahrzunehmen und zu verstoffwechseln. [] Dieses Vielkammer-Verdauungsorgan ist in der Lage, die verschiedensten Plastikarten zu metabolisieren, darunter Polyethylen [], Polypropylen, [] Polystyrol.18 Lebendige Materie – oder Conative Food Jane Bennett schreibt 2010 über vibrant matter – „lebendige Materie“, die abseits menschlicher Erfahrung und Wahrnehmung ihr Eigenleben hat. Im Kapitel Edible Matter – The Efficacy of Fat geht es um Materie in Form von Lebensmitteln, die abseits menschlicher kognitiver Einflussnahme oder Wahrnehmung, den verzehrenden Körper beeinflussen kann. Als Beispiele führt sie u.a. Omega-3-Fettsäuren an, die sich in unterschiedlichen Körpern oder in selbigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten, individuell und nicht linear auf das Gemüt der essenden Person auswirken können. „To eat chips is to enter into an assemblage in which the I is not necessarily the most decisive operator“, schreibt Bennett über den Verzehr von Kartoffelchips. 19 Auch hier kann man sich selbst fragen, ob die Handlung der Hand vom Verzehrenden eher quasi- oder unbeabsichtigt in die Chipstüte greift – die Chips scheinen die manuelle Handlung vielmehr zu bestimmen.20 Zentrales Anliegen in Bennetts Arbeit ist der Wechsel vom Fokus der menschlichen Wahrnehmung von Dingen hin zu den Dingen selbst. Sie schreibt weiter: 17 Vgl. Pinar Yoldas: STOMAXIMUS – Verdauungsorgan der Plastivoren, P-PLASTOCEPTOR – Plastosensorisches Organ, PETRONEPHROS – Niere für Plastivoren, in: Mertens 2014, S. 13, S. 26, S. 73. 18 Ebd., S. 13. 19 Jane Bennett: Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, Durham 2010, S. 40. 20 Vgl. ebd. Plastik. Ein spekulativer Metabolismus 63 Abb. 5 Pinar Yoldas, An Ecosystem of Excess – Organs for sensing and metabolizing plastics (Ausstellungsansicht), Mixed Media, Größe variabel, 2014, Schering Stiftung Berlin Here we stumble on a banal instance of what Michel Foucault might have called ‚the productive power’ of food: once ingested, once, that is, food coacts with the hand that places it in one’s mouth, with the metabolic agencies of intestines, pancreas, kidneys with cultural practices of physical exercise, and so on, food can generate new human tissue.21 In Bezug auf das Ecosystem of Excess kann man von der verstärkten Wahrnehmung aktiver Partizipation des Plastiks sprechen. Das Material, die Materie, die Nahrung hat hier ihr Eigenleben. Die Spezies bilden verschiedene Ausprägungen von Yoldas Überlegungen zum Metabolismus von Plastik: Zum einen spekuliert sie die Entwicklung von Plastik verdauenden Organen, aus einer wissenschaftlichen Studie, in der sich dieser Prozess bisher nur auf kleinster Ebene ansatzweise vollzieht. Zum anderen entwickelte sie die tierlichen Spezies, die Träger dieser Organe, die schon als ganze Körper das Material verdauen und aufnehmen, bzw. bei denen sich durch den Verzehr ganz neue Körperfunktionen und -modifikationen bilden. Die Plastic Balloon Turtle entwickelt durch den Verzehr von Plastikballons einen luftgepolsterten Panzer und nutzt das Material als Energiespender, die Pantone Birds nehmen die Farbe der verzehrten Plastikteilchen in ihr Gefieder auf. Nahrung produziert menschliche Körper – oder wie im Falle des Ecosystem of Excess auch tierliche Körper. Die Plastik verzehrenden Körper werden 21 Ebd. 64 Inka Lusis durch das Material verändert und erweitert – das Material avanciert hier zum conative food, da es in Yoldas’ Spekulation Organismen verändert und selbst mit bildet, was dem Material bisher nicht möglich ist. Yoldas spricht Plastik demnach ein Eigenleben im Wechselspiel mit tierlichen Organismen zu. Wissenschaftlich ist bereits nachgewiesen, dass Bakterien in der Lage sind, Plastik zu metabolisieren, jedoch liegt im Ecosystem of Excess der Fokus auf der (Neu-)Produktion von Körpern, Organen bzw. symbiotischen Zusammensetzungen von organischem und synthetischem Organismus. Es geht dabei nicht nur um die Aufnahme und Verdauung des Plastiks, sondern um die spekulative Genese von Neuem. Das durch Menschen ‚geschöpfte‘ Material Plastik geht im Ecosystem of Excess autonome Wege und bildet symbiotische „assemblagen“22 oder „string figures“23 mit seiner Umwelt. Welche Rolle der Mensch in Yoldas’ Arbeit noch spielt, bleibt ungeklärt, lediglich seine Hinterlassenschaften in Form des Plastikmülls sind noch sichtbar. Sie selbst spricht von einem posthumanen, anthropo-de-zentristischen Ökosystem, im welchem der Mensch keine zentrale Position mehr einnimmt. Plastik wechselt hier von einer destruktiven zu einer produktiven Kraft in einem imaginierten Ökosystem, der Plastisphäre. Abbildungsnachweis Abb. 1 Foto: Sergio Belinchón © Schering Stiftung, Berlin. Courtesy: Pinar Yoldas Abb. 2 Foto: Sergio Belinchón © Schering Stiftung, Berlin. Courtesy: Pinar Yoldas Abb. 3 Foto: Sergio Belinchón © Schering Stiftung, Berlin. Courtesy: Pinar Yoldas Abb. 4 Foto: Sergio Belinchón © Schering Stiftung, Berlin. Courtesy: Pinar Yoldas Abb. 5 Foto: Sergio Belinchón © Schering Stiftung, Berlin. Courtesy: Pinar Yoldas 22 23 Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Donna Haraway: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham 2016, S. 9–30. Leb ensmi tt el al s Medium und Mater ial in Kunst und Küche Felix Bröcker „Die Emanzipation der Kunst von den Erzeugnissen der Küche oder der Pornographie ist irrevokabel“1 schreibt Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie mit Blick auf die Autonomie der künstlerischen Erfahrung. Die sei nur dann gegeben, wenn es nicht um reinen Genuss gehe, was er der Kulinarik aber unterstellt, weshalb er sie aus der Kunst ausschließt. Als Koch, der über Umwege in den Bereich der Kunstgeschichte gelangt ist, möchte ich Adorno widersprechen und Gegensätze, aber auch Parallelen im Umgang mit Lebensmitteln in Kunst und Küche vorstellen. Ich möchte dadurch deutlich machen, dass eine Perspektive, die das Wissen beider Seiten einbezieht, für die kulinarischen Arbeiten von Künstler*innen und auch Köchen relevant sein kann. Ich werde dafür Akteure beider Bereiche vorstellen und einige Verbindungen aufzeigen. Dabei soll deutlich werden, dass Köche und Künstler, die Lebensmittel einsetzen, mitunter ähnliche Ziele verfolgen. Weder in der Kunst noch in der Küche geht es stets lediglich darum, möglichst genussreich oder elaboriert den Hunger zu stillen. In beiden Bereichen kann die Reflexion über den kulturellen Akt der Ernährung eine Rolle spielen. In diesem Sinne sind die hier vorgestellten Metabolismen kulinarisch und kulturell kodiert: Verdaut und umgewandelt wird jeweils sowohl biologische als auch geistige Nahrung, es handelt sich im wörtlichen Sinn um Food for Thought. Futuristen – Rezepte gegen die Tradition Berühmtes Beispiel einer ersten Verbindung von Kunst und Gastronomie ist die futuristische Küche.2 Ein wichtiger Aspekt der 1909 durch den italienischen Schriftsteller 1 2 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 26: „Autonom ist künstlerische Erfahrung einzig, wo sie den genießenden Geschmack abwirft. Die Bahn zu ihr führt durch Interesselosigkeit hindurch; die Emanzipation der Kunst von den Erzeugnissen der Küche oder der Pornographie ist irrevokabel.“ Ralf Beil: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial – von Schiele bis Jason Rhoades, Köln 2002, S. 38ff. Wie Cecilia Novero anmerkt, hat bereits 1913 Guillaume Apollinaire ein „Cubisme Culinaire“ beschrieben, der 66 Felix Bröcker Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) initiierten Bewegung des Futurismus ist die Neuausrichtung der Künste, die neuen Idealen von Mensch und Gesellschaft angepasst werden sollen. Dazu werden verschiedenste Manifeste ausgerufen, neben Überlegungen zu Malerei (1910), Musik (1911) oder Bildhauerei (1913) erscheint 1930 das Manifest der futuristischen Küche. Hier werden bereits wesentliche Aspekte des Kochens im Kunstkontext artikuliert, auf die viele nachfolgende Künstler aber auch Köche zurückgreifen. Die Küche als Ort des alltäglichen Lebens interessierte die Avantgardisten des Futurismus, die Kunst und Leben in einem alle Sinne ansprechenden Gesamtkunstwerk verbinden wollten. Marinetti und seine Mitstreiter kochten zwar nicht selbst, das übertrugen sie Köchen, lieferten aber Ideen für ein neues Küchenverständnis, das in einem 1932 erschienenen futuristischen Kochbuch veröffentlicht wurde.3 Darin wurden Rezepte und Regeln zusammengefasst, die als Grundlage für eine neue Ernährungsweise dienen sollten. Die Futuristen veranstalteten performative Abende, zu denen die von ihnen ersonnenen futuristischen Gerichte serviert wurden. Dabei standen technische Innovationen und multisensorische Erlebnisse im Mittelpunkt, um „[] die Abschaffung der mediokren Alltäglichkeit bei den Gaumenfreuden!“ herbeizuführen.4 Ihre Ideen kombinierten geschmackliche Eindrücke mit den anderen Sinnen. Sie sprachen von Symduft, Symgeräusch oder Symmusik, um den jeweils passenden Duft, das passende Geräusch oder die passende Musik zum jeweiligen Gericht zu benennen.5 Mit Gerichten wie Flugzeugrumpf aus Kalbfleisch, Eingekerkerte Düfte oder Simultaneis6 wollten sie eine wahre Ernährungsrevolution einläuten und die italienische Pasta abschaffen, um den italienischen Volkskörper für kommende Kriege zu stählen und der Nation auch kulinarisch eine Identität zu geben, die dem futuristischen Selbstverständnis entspricht.7 Politische Überlegungen motivierten diesen Ansatz; Marinetti war vom Krieg begeistert und stand den Faschisten um Mussolini nahe.8 Der traditionellen gastronomischen Küche sagten die Futuristen naturgemäß ebenfalls den Kampf an: „Von den heute vorherrschenden Küchen ist diejenige, die wir als die verabscheuungswürdigste und widerwärtigste betrachten, die internationale Küche des Grand Hotels.“9 Die hier 3 4 5 6 7 8 9 ebenfalls das Kulinarische als Kunst neu denkt, vgl. Cecilia Novero: Antidiets of the Avant-Garde. From Futurist Cooking to Eat Art, Minneapolis 2010. Filippo Tommaso Marinetti: Die Futuristische Küche, München 1983. Ebd., S. 27. Ebd., S. 206. Die Begriffe wurden für die deutsche Ausgabe übersetzt, im Original heißt es conprofumo, conrumore und conmusica, vgl. https://it.wikisource.org/wiki/La_cucina_futurista/piccolo_dizionario_della_cucina_futurista (Zugriff am 29.10.2018). Ebd., S. 174, S. 179, S. 188. Ebd., S. 26. Vgl. Harald Lemke: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld 2007, S. 41. Marinetti 1983, S. 59. Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 67 erwähnte Küche ist eng mit dem französischen Koch Auguste Escoffier (1846−1935) verbunden, der durch sein Wirken die Hochküche wesentlich beeinflusste und gemeinsam mit dem Hotelier César Ritz europaweit Restaurants in Luxushotels eröffnete. Seine Menüs und Regeln bildeten ein Paradigma der Küche, die über Escoffiers Guide Culinaire (1903) Verbreitung fanden. Noch etwa 70 Jahre später beherrschte sein Stil die Hotelküchen Europas und Amerikas. Doch dieser Küche widersetzten sich nicht nur die Futuristen. 1973, also einige Jahrzehnte später, riefen junge Köche ihrerseits eine Revolution aus, um mit der Nouvelle Cuisine eine neue Küche zu etablieren, die gesundheitliche Aspekte, Kreativität und Genuss verbindet. Dafür wurden zehn Gebote formuliert, die sich gegen Escoffiers weiterhin gültige Bibel der Küche stellten.10 Die Köche der Nouvelle Cuisine gingen gegen diese schwere Traditionsküche an, mit programmatischen Kochbüchern wie Die große leichte Küche. Als Gourmetköche behaupteten sie, dass gesundheitliche Aspekte nun im Mittelpunkt stünden: „Unsere Hauptsorge ist die Verdauung.“11 Deren Überzeugung, leichter und gesünder kochen zu müssen deckt sich mit den Absichten der futuristischen Küche: „[] die Erfüllung des allgemeinen Wunsches nach Erneuerung unserer Ernährung, ist der Kampf gegen das Gewicht, die Verbauchung, die Fettleibigkeit“12. Mehr noch verbindet diese erste Künstlerküche mit Entwicklungen der europäischen Spitzenküche der letzten Jahrzehnte. Der englische Koch Heston Blumenthal (geboren 1966) vom Restaurant The Fat Duck wurde bekannt für sein Gericht Sound of the Sea (2008). Über einen iPod werden Meeresgeräusche zusammen mit einem Gericht aus Muscheln, Algen und Seeigeln serviert, womit die Idee des Symgeräuschs etwas verspätet gastronomische Berühmtheit erlangte.13 Außerdem 10 Webseite Gault Millau, http://www.gaultmillau.fr/mvc//page/history.jsp (Zugriff am 18.07.2018): „Les 10 commandements de la nouvelle cuisine. Edictés par Christian Millau et Henri Gault, ces commandements étaient censés illustrer la ligne de conduite de tous les chefs qui voulaient s’inscrire dans les valeurs modernes de la cuisine dans les années 70. Des critères qui, pour la plupart, restent aujourd’hui d’actualité: tels la valorisation du produit, l’importance des cuissons justes, des assaisonnements et de l’élimination des sauces inutiles 1« Tu ne cuiras pas trop. » 2« Tu utiliseras des produits frais et de qualité. » 3« Tu allégeras ta carte. » 4« Tu ne seras pas systématiquement moderniste. » 5« Tu rechercheras cependant ce que t’apportent les nouvelles techniques. » 6« Tu éviteras marinades, faisandages, fermentations, etc. » 7« Tu élimineras les sauces riches. » 8« Tu n’ignoreras pas la diététique. » 9« Tu ne truqueras pas tes présentations. » 10« Tu seras inventif. »“ 11 Gebrüder Troisgros, zitiert nach o. A.: Magere Symphonie − Die fetten Jahre der französischen Grande Cuisine sind vorbei: Die neuen Spitzenköche proklamieren magere Zeiten, in: Der Spiegel 48/1978, S. 170. 12 Marinetti 1983, S. 114. 13 Heston Blumenthal: The Fat Duck Cookbook, London 2009, S. 206. 68 Felix Bröcker ist er bekannt für den Einsatz neuester Technik in der Küche: er nutzt zum Beispiel flüssigen Stickstoff, Zentrifugen, Rotationsverdampfer oder Gefriertrockner um seine Speisen herzustellen.14 Weitaus mehr Parallelen bestehen zu Ferran Adrià (geboren 1962, Koch und Besitzer des elBulli in Roses, Spanien). Adrià gilt als einer der einflussreichsten Köche der westlichen Welt. Mit einem sehr ähnlichen Konzept, das den Futuristen half sich den Museen zu entziehen, hat er es umgekehrt in Kunstinstitutionen geschafft. Ferran Adrià ist Koch, wurde aber durch seine Teilnahme an der Documenta 2007 in Kassel auch in der Kunstwelt bekannt. Seine Küche ist aus historischer Perspektive ein Einschnitt, die das bisherige Verständnis von Spitzenküche in Frage gestellt hat. Adrià erscheint in vielen Aspekten als Nachfolger der Futuristen, er teilt deren Begeisterung für Technik und integriert als Koch diese radikale Offenheit in die Gastronomie, um mit Hightech neue Gerichte zu kreieren.15 Er nutzt Knorpel, Haut von Fischen und sogar fertige industrielle Lebensmittel aus dem Supermarkt wie 3-DBugles oder Fisherman’s Friend, um diese in seine Menüs zu integrieren. Damit bricht er mit den Regeln der klassischen Hochküche, indem er deren Zutatenkanon radikal erweitert. Dieser, mit Blick auf die Tradition der französischen Hochküche, vorbehaltlose Umgang mit diversen Materialien schließt die Kluft zwischen einer an Edelprodukten orientierten Küche und industriellen Kunstprodukten. 16 Für Traditionalisten eine Provokation, die im Kunstbetrieb bereits 1913 auf ähnliche Weise von dem französischen Künstler Marcel Duchamp (1887−1968) vollzogen wurde, der mit seinen Readymades das handwerkliche Können des Künstlers negierte und konzeptuelle Aspekte der Kunst betonte.17 Hier wie dort werden das Selbstverständnis einer Disziplin hinterfragt und neue Möglichkeiten aufgezeigt. Die Rolle des Geschmacks wird zugunsten einer multisensorischen Wahrnehmung relativiert, denn alle Sinne sind beim Essen relevant. Wie die Futuristen nutzt auch Adrià ein Manifest, um seine Küche zu erklären, da heißt es zu Beginn: „1.Küche wird als Sprache aufgefasst, die Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und Kultur ausdrücken kann.“18 In diese Sprache bezieht er kulturelle Aspekte 14 Ebd., S. 424ff. „elBullis Philosophy“, in: Richard Hamilton und Vicente Todoli (Hg.): Food for Thought, Thought for Food, New York 2009, S. 280. 16 Im Gegensatz zur klassischen Küche, die bestimmten Produkten wie Gänsestopfleber oder Hummer einen besonderen Wert zugesteht, erklärt Adrià ausdrücklich die Gleichwertigkeit diverser Zutaten. So schreibt er in seiner Kurzdarstellung der Küche des elBulli: „Allen Produkten wird – unabhängig von ihrem Preis – der gleiche gastronomische Wert beigemessen“, vgl. https://elbullifoundation.com/en/synthesis-of-elbullicuisine (Zugriff am 10.11.2018). 17 Duchamp stellte Alltagsgegenstände als Kunst aus und veränderte bzw. erweiterte damit den bestehenden Kunstbegriff. 18 Vgl. https://elbullifoundation.com/en/synthesis-of-elbulli-cuisine/ (Zugriff am 10.11.2018). 15 Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 69 mit ein; seine Speisen werden nicht nur über den Gaumen bzw. alle Sinne rezipiert, sondern sprechen ausdrücklich auch den Intellekt an: „[] der sechste Sinn [ist, Anm. d. Verf.] all das, was an einem Gericht zu denken gibt, was den Gast den Genuss erleben lässt, etwas vorzufinden, das sein Urteilsvermögen und seinen Verstand anspricht.“19 Damit wird explizit auf eine über den sinnlichen Genuss gehende Rezeption verwiesen, die der Küche meist abgesprochen wird. Auch damit wird Kochen in den Bereich des Konzeptuellen überführt und einem modernen Kunstbegriff angenähert. Ferran Adriàs Leitsatz ist: „Creativity is not copying“ 20. Die Futuristen fordern in ihrem Manifest der futuristischen Küche „Unbedingte Originalität“ 21. Mit neuen Gerichten haben beide Küchen gezeigt, dass das Alltäglichste Gegenstand einer künstlerischen Auseinandersetzung sein kann, wodurch Regeln und Traditionen sichtbar werden, die oftmals als gegeben erscheinen und nicht hinterfragt werden. Dass Ferran Adrià mit ähnlich revolutionärer Geste eine fortschrittsoptimistische Küche proklamiert, erweitert die inhaltlichen Verbindungen um formale Aspekte: „Wir suchen das Neue, das Unerhörte. Alles andere interessiert uns nicht“ 22, sagt Adrià, der sich gleichzeitig sowohl mit der Tradition der europäischen Hochküche als auch regionalen Esstraditionen intensiv auseinandersetzt und diese neu interpretiert. Bei Marinetti steht: „Wir Futuristen sind gegen das Praktische und verachten das Beispiel und die Mahnung der Tradition, weil wir um jeden Preis das Neue wollen, das alle für verrückt halten.“23 Verdaut wird sowohl bei Adrià als auch bei den Futuristen eine fest geschriebene gastronomische Tradition. Anstatt diese fortzuführen wird eine eigene Küche entwickelt, die die Möglichkeiten des Kochens und Essens neu denkt. Daniel Spoerri – Eat Art als Mittel eigene kulturelle Prägungen erfahrbar zu machen Nach den Futuristen aber lange vor Adrià nutzte auch der Schweizer Künstler und Mitbegründer des Nouveau Réalisme Daniel Spoerri (geboren 1930) Essen als Material und Medium. Daniel Spoerri war fasziniert von der allumfassenden Bedeutung von 19 Ferran Adrià, Juli Soler und Albert Adrià: elBulli 1994−1997, Roses 2003, S. 202. Vgl. ebd. Dass dieser Satz selbst eine Kopie ist, scheint im Bereich der Gastronomie kaum zu irritieren. Adrià zitiert den Koch Jaques Maximin, vgl. http://www.elbulli.com/historia/index.php?lang=en&seccion=3&subseccion=2 (Zugriff am 18.07.2018). Aus Perspektive der Konzeptkunst ist dies, bei einem derart zentralen Satz, ein Umstand, die das gesamte Werk in ein anderes Licht rückt. Ironie ist jedenfalls nicht nur in den Speisen präsent. 21 Marinetti 1983, S. 27. 22 Ferran Adrià, zitiert nach: Manfred Weber-Lamberdière: Die Revolution des Ferran Adrià, Berlin 2007, S. 5. 23 Marinetti 1983, S. 24. 20 70 Felix Bröcker Essen und Kochen für das menschliche Leben. Er widmete seine künstlerische Auseinandersetzung diesem Bereich, den er mit gastronomischem Interesse untersuchte.24 Für seine Fallenbilder konservierte er die Überlassenschaften einer Esssituation, samt Speiseutensilien und Essensresten. Lebensmittel wurden damit zu seinem künstlerischen Material, die damit entstandenen Werke bezeichnete er als Eat Art. Neben der Verwendung von Lebensmitteln für seine Kunst, richtete Spoerri große thematische Bankette aus, die sich mit Speisetraditionen auseinandersetzten. Beispielsweise vollzog er im Palindromischen Bankett eine doppelte Umkehrung der traditionellen Speisefolge. Begonnen wurde mit einem Espresso, dieser allerdings war tatsächlich eine eingefärbte Bouillon, und zum Schluss wurde ein Melonensorbet serviert, das sich als Suppe ausgab, womit sich die Umkehrungen als gastronomische Trompe-l’Œil entpuppten.25 Das von ihm geführte Restaurant Spoerri in Düsseldorf reichte Speisen wie Elefantenrüsselsteak oder Termiten-Omelette, die auf die kulturelle Prägung des Geschmacks aufmerksam machten. Derartige Gerichte sorgten in einem Restaurant in Deutschland für Aufsehen und provozierten eine Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Speisegewohnheiten. Einige der damals ungewöhnlichen Zutaten wie Mango oder Polenta sind nun Bestandteil der Alltagsküche. 26 Selbst heute noch exotisch anmutende Ideen blieben keine einmaligen Obskuritäten, sondern finden sich in Restaurants der Spitzenklasse wieder. Ameisen servieren auch Alex Atala (1968, brasilianischer Koch des Restaurants D.O.M. in São Paulo) oder René Redzepi (1977, dänischer Koch des Restaurants Noma in Kopenhagen). 27 Diese werden nun zwar als lokale Spezialität angeboten, dennoch geht es letztlich hier wie dort um ein einmaliges Esserlebnis, das die eigene kulturelle Prägung thematisiert, schließlich sind Insekten in anderen Kulturen Teil des Speiseplans. Dass sich diese Provokation gastronomisch begründen lässt, ist für die Köche wichtig, die auf die geschmackliche Besonderheit verweisen. Spoerris spielerische Verwendung von Namen und die Umgestaltung bekannter Gerichte gab es aus küchenhistorischer Perspektive bereits im Rahmen römischer und mittelalterlicher Bankette. 28 Derartiges 24 25 26 27 28 Klaus Taschwer: Der Elefantenrüssel schmeckt nicht besonders gut − so wie Suppenfleisch, in: Der Standard, 16.05.2008, http://derstandard.at/3332676/Elefantenruessel-schmeckt-nicht-besonders-gut-so-wie-Suppenfleisch (Zugriff am 18.07.2018). Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Alex Atala: D.O.M. Rediscovering Brazilian Ingredients, London / New York 2013, S. 40. René Redzepi: A Work in Progress. Noma Recipes, London / New York 2013, S. 204. Im römischen Kochbuch des Apicius (9. Buch, Das Meer, 13) wird ein Rezept für Salzfisch ohne Salzfisch angegeben, wofür die Leber von Tieren zu einem Fisch geformt werden, vgl. Robert Maier (Hg.): Das römische Kochbuch des Apicius, Stuttgart 1991, S. 153. Im Mittelalter gab es Gerichte, die in erster Linie der Unterhaltung dienten, sogenannte entremets, die häufig mit visuellen Täuschungen arbeiteten. Zubereitete Tiere wurden dafür z. B. im Federkleid angerichtet, vgl. Christina Normore: A Feast for the Eyes. Art, Performance and the Late Medieval Banquet, Chicago / Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 71 Abb. 1 Essbarer Stein, Andoni Luis Aduriz, Restaurant Mugaritz**, Errenteria Spanien ist von traditionellen Speisen wie Mock Turtle Soup oder Falschem Hasen29 bekannt, hat aber erst durch ihn als ausgestaltetes Element wieder Einzug in gastronomische Veranstaltungen des 20. Jahrhunderts erhalten. Köche bieten derartige Täuschungen heute in verschiedenen Variationen. Bereits ein Klassiker, und dem Espresso von Spoerri sehr ähnlich, ist die von Alain Chapel in den 1970ern servierte Bouillon de champignons comme un cappuccino, eine aufgeschäumte, in einer Tasse präsentierte Suppe. 30 Dieser Suppen-Cappuccino wurde nachfolgend in verschiedensten Variationen angeboten.31 Neuere Täuschungen sind herzhafte Maccarons von Ferran Adrià oder essbare Steine (Abb. 1) und vegetarisches Carpaccio von Andoni Luis Aduriz (1971, spanischer Koch des Restaurants Mugaritz in San Sebastian). 32 Bei Spoerri geht es 29 30 31 32 London 2015, S. 23, sowie noch später im Kochbuch von Max Rumpolt von 1581, S. LXX. Außerdem gab es Rezepte für Pasteten, aus denen beim Aufschneiden Vögel flogen, wie es Robert May in seinem Kochbuch The Accomplisht Cook von 1688 empfiehlt, siehe http://www.bl.uk/learning/langlit/texts/cook/1600s2/birdh/birds.html (Zugriff am 10.11.2018). Noch in Kochbüchern des 18. Jahrhunderts empfehlen Rezepte für die Fastenzeit Gemüse in Wurstform zu reichen, vgl. Susan Pinkard: A Revolution in Taste, Cambridge 2009, S. 91. Bei der Suppe handelt es sich um ein Gericht, das versucht die teure Schildkrötensuppe mit anderen Zutaten zu imitieren. Falscher Hase ahmte einen Hasenbraten aus Hackfleisch nach. Vgl. Aralyn Beaumont: The Idols of Fine Dining, in: Lucky Peach 20/2016, S. 98. Vgl. Adrià / Soler / Adrià 2003, S. 142. Dieter Müller: Dieter Müller, München 2005, S. 31. Massimo Bottura: Never Trust a Skinny Italian Chef, London / New York 2014, S. 28. Für die Steine werden Kartoffeln mit Kaolin überzogen, das Carpaccio besteht aus getrockneter Wassermelone, siehe: Andoni Luis Aduriz: Mugaritz. A Natural Science of Cooking, London / New York 2012, S. 94, S. 168. 72 Felix Bröcker darum spielerisch auf kulturelle Eigenheiten einzugehen und Konventionen als solche bewusst zu machen. Was und wie wir essen und auch ob wir dieses genussvoll zu uns nehmen ist eben nicht allein biologisch oder geographisch zu begründen, sondern spiegelt kulturelle Eigenheiten bzw. auch gesellschaftliche Wertesysteme wider. In diesem Sinne ist auch die Verdauung ein kulturell kodiertes System. Joseph Beuys – Politik auf dem Teller Kulturelle und vor allem symbolische, soziale und politische Aspekte von Nahrungsmitteln interessierten auch Joseph Beuys (1921−1986). Der deutsche Aktionskünstler arbeitete mit diversen Alltagsmaterialien und Lebensmitteln wie Fett, Schokolade oder Sauerkraut und definierte einen erweiterten Kunstbegriff, der eine direkte gesellschaftliche Relevanz beanspruchte. Beuys vertritt einen Kunstbegriff, der sehr weit gefasst ist und alltägliche kreative Beschäftigungen miteinbezieht. Die Herstellung einer Gemüsesuppe wird in der TV-Dokumentation Jeder Mensch ist ein Künstler zum Leitmotiv für diese Aussage.33 Das Aufzeigen des eigenen Handlungsspielraums eines jeden Menschen, den er als aktives, partizipierendes Mitglied der Gesellschaft begreift, steht für die von ihm benannte Soziale Plastik im Mittelpunkt. Dieses Verständnis von Kunst als transformatorische Kraft, drückt sich vielfach in seinen Arbeiten und Kommentaren aus, die auf Kochen und Essen als Medien eines selbstbestimmten kreativen Lebens Bezug nehmen, wie beispielsweise Intuition statt Kochbuch (1968), Wirtschaftswert Apollo (1977) oder Ich kenne kein Weekend (1970/1971). Bei Beuys verschränkt sich die Bedeutung von geistiger und körperlicher Ernährung. Lebensmittel sind notwendige Energie für die geistige Tätigkeit. Aus gastronomischer Sicht könnte sich die in den Arbeiten artikulierte Kritik auch direkt auf die dort verwendeten Lebensmittel beziehen. Zur Margarine in Wirtschaftswert Apollo als Ersatzprodukt stellt er ein Kärtchen mit der Aufschrift: „Wer nicht denken will fliegt raus“. Die Maggi-Flasche in Ich kenne kein Weekend ergänzt als Geschmacksverstärker die Kritik der reinen Vernunft, die anscheinend nicht auf Lebensmittel übertragen wird, denn beide Produkte stehen im Gegensatz zu einer kulinarisch gedachten Küche, symbolisieren aber die Alltagskost der Deutschen nach dem Krieg. Den Anbau von Lebensmitteln hat Beuys als Teil eines selbstbestimmten Lebens aktiv umgesetzt, indem er im März 1977 im Garten seines Galeristen Renée Block Kartoffeln anpflanzte, die er später erntete. Darüberhinaus bewirtschaftete er auf seinem eigenen Stück Land in 33 Werner Krüger: Joseph Beuys − Jeder Mensch ist ein Künstler, Dokumentarfilm D 1979. Beuys bezieht sich dabei auf Novalis, der schrieb: „Fast jeder Mensch ist in geringen Grad schon Künstler“, siehe Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, in: ders.: Schriften, Bd. III, Stuttgart 1984, S. 571. Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 73 der Toskana einen Garten.34 Den Zusammenhang von Politik und Ernährung hat Beuys früh gesehen und artikuliert: „[] was heute in der Küche erscheint, ist vergiftet, das weiß man. [] Man muss fragen: Wo kommt das her? Das kommt aus dem kapitalistischen System. [] Das sage ich doch, da fängt es doch an, beim Salatkopf, da fängt es doch an [].“35Anders als bei den Futuristen geht es in seiner Politisierung des Essens um eine selbstbestimmte, naturnahe Ernährungsweise, für die er sich 1978 in Italien in der Foundation for the Rebirth of Agriculture einsetzte, die eine alternative, nachhaltige Agrarproduktion erforschte. In der Partei Die Grünen war er außerdem politisch aktiv.36 Was Beuys bereits seit 1960 angesprochen hat, ist heute zum Trend in der Gastronomie geworden. Der Koch wird zum Gärtner oder arbeitet eng mit Produzenten zusammen, die exklusiv für ein Restaurant anbauen oder essbare Pflanzen in der Natur sammeln. Dieses Vorgehen machte auch das Noma in Kopenhagen weltberühmt und dessen Koch Redzepi laut Time Magazine zu einem „Locavore Hero“37, der diesen Trend mitbegründete. Schon vorher arbeiteten die französischen Köche Michel Bras (geboren 1946) oder Alain Passard (geboren 1956) mit regionalen Produkten und eigenen Gärten. Gordon Matta-Clark – ein Restaurant als soziale Skulptur Lebensmittel und deren alchemistischen Umwandlungsprozesse waren auch für den amerikanischen Architekten und Künstler Gordon Matta-Clark (1943−1978) bedeutend, der Skulpturen aus Agar-Agar fertigte oder Fotos frittierte. Bekannt ist er für seine architektonischen Interventionen im urbanen Raum, die sogenannten Cuttings. Davor hat er Lebensmittel als Material für sich entdeckt. Das Restaurant und Kunstprojekt Food, an dem er mitwirkte, überführte diese Interessen in die Gastronomie. Es war Lebensmittelpunkt und Arbeitsplatz für viele Künstler*innen. Gleichzeitig wurde hier nicht nur Essen serviert, sondern über Essen nachgedacht. In Anlehnung an Beuys kann das Food als soziale Skulptur verstanden werden. Allein die offene Küche und die Auseinandersetzung mit Lebensmitteln und deren Herkunft war Anfang 34 Vgl. Lemke 2002, S. 6667. Beuys zitiert nach Beil 2002, S. 224225. Die Zubereitung eines Salats vollzieht seine Fluxus-Kollegin Alison Knowles in Make a Salad 1964 erstmals als Performance. Sie zeigt damit im Rahmen der Fluxus-Bewegung, ähnlich wie Beuys, dass ein alltäglicher Akt Teil der persönlichen Ausdrucksmöglichkeit ist. Vgl. Julia Sherman: Make a Salad. An Interview with the Fluxus Artist Alison Knowles, who turned Salad-Making into Performance Art, in: Lucky Peach 15/2015, S. 4346. 36 Vgl. Lemke 2002, S. 67. 37 René Redzepi wurde 2012 auf dem Titel des Time Magazins als ebensolcher bezeichnet: Time Magazine, 26.03.2012, vgl. http://content.time.com/time/covers/europe/0,16641,20120326,00.html (Zugriff am 18.07.2018). 35 74 Felix Bröcker der 1970er Jahre ungewöhnlich und hatte eine politische Dimension. 38 Fast zeitgleich eröffnete Alice Waters (geboren 1944), eine bis heute sehr einflussreiche amerikanische Köchin, Gastronomin und Slow Food-Aktivistin, das Chez Panisse in Berkeley und in Frankreich setzte sich die Nouvelle Cuisine ebenfalls für eine marktfrische, regionale Küche ein.39 Bei Waters stand ein gastronomisches Interesse im Vordergrund, doch die politischen Motive waren durchaus vergleichbar: Auch hier ging es darum Konsumenten für die Herkunft und Verarbeitung von Lebensmitteln zu sensibilisieren, als Antwort auf eine wachsende Lebensmittelindustrie, die einen derartigen Wissensverfall begünstigt. Derzeit ist die Rückbesinnung auf traditionelle und vergessene lokale Zutaten und Techniken der wichtigste Trend in der Hochküche, am bekanntesten vertreten durch die New Nordic Cuisine. Zu den ungewöhnlichen Veranstaltungen, die MattaClark selbst ausrichtete, gehört ein Bone Meal, bei dem er verschiedene Gerichte mit Knochen reichte, die direkt nach dem Essen gewaschen und zu Schmuck verarbeitet wurden. Zu einem anderen Anlass servierte er lebende Shrimps in einem halbierten gekochten Ei.40 Womit das Töten als essentieller Aspekt des (Über-) Lebens vor Augen geführt wird. Ähnlich wie bei Spoerri gab es Speisen, die nahezu unbekannt waren oder erst später zum Alltag gehören sollten: Ein befreundeter japanischer Künstler bot Sushi an, damals in New York eine noch seltene Speise. 41 Heute sind Transparenz, die durch offene Küchen suggeriert wird und Bioprodukte Standardelemente vieler Gastronomiekonzepte. Auch lebende Garnelen haben es in die Spitzengastronomie geschafft. Redzepi serviert als Vorspeise Fresh Fjord Shrimp and Brown Butter.42 Das Gericht wird als traditionelle Speise dänischer Fischer kulturell begründet, dennoch ist es ein wirksamer Effekt, eigene Speisegewohnheiten überwinden zu müssen.43 Sowohl bei Matta-Clark als auch Beuys spielen neben der kulturellen Bedeutung von Speisen auch gesundheitliche und politische Aspekte des Essens eine wichtige Rolle. Essen wird oft als intime und damit private Angelegenheit betrachtet, Beuys und Matta-Clark hingegen verweisen auf die gesellschaftliche Relevanz unserer Ernährung und auf die damit einhergehende politische Dimension. 38 39 40 41 42 43 Vgl. Gordon Matta-Clark: Food (1972), http://www.ubu.com/film/gmc_food.html (Zugriff am 18.07.2018), darin werden Einkauf und Zubereitung der Produkte dokumentiert. Vgl. Randy Kennedy: When Meals Played the Muse, in: New York Times, 21.02.2007, http://www.nytimes.com/ 2007/02/21/dining/21soho.html?_r=0 (Zugriff am 18.07.2018). Vgl. Ulrike Groos: ‚Optimismus bei Tisch‘ − Zu einigen ausgewählten Künstlerlokalen, in: Kunsthalle Düsseldorf, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstverein Stuttgart (Hg.): Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst, Köln 2009, S. 70. Vgl. Kennedy 2007. Redzepi 2013, S. 72. Derartige, im Kontext europäischer Gewohnheiten, kuriose Speisen gibt es beispielsweise in Asien als Drunken Shrimp. Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 75 Peter Kubelka – Kochen als Kunstgattung Die kulturelle Bedeutung von Gerichten ist für den österreichischen Künstler Peter Kubelka (geboren 1934) ebenfalls zentral, der erstmals als Künstler Kochen an einer Kunsthochschule gelehrt hat. Er versteht Kochen als alltägliche und gleichzeitig älteste künstlerische Tätigkeit überhaupt, im Gegensatz zu Beuys aber ohne direkte politische Implikationen. Wie Beuys tritt Kubelka weniger als aktiver Künstlerkoch, denn als Theoretiker des Kochens als Kunstpraxis in Erscheinung. Im Kochen erkennt er Metaphern, die als Aneignung und Beherrschung, der die Menschen umgebenden Umwelt zu verstehen sind. Sie lassen sich mit dem Mund lesen. Himbeeren mit Milch erzählen beispielsweise von einem Waldrandbewohner, der domestizierte milchgebende Tiere hält.44 Damit konkretisieren sich die bei anderen Künstlern genannten allgemeineren kulturellen Aspekte des Essens zu essbaren Mitteilungen. Ganz konkret wird diese Herangehensweise in der „Welterschleckung“ eines Kindes, worin sich die Bedeutung des Oralen als Erkenntniswerkzeug offenbart. 45 Kubelka selbst hat das praktische Kochen im Rahmen seiner Klasse für Film und Kochen als Kunstgattung als erster an einer Kunsthochschule (Staatliche Hochschule für Bildende Künste Städelschule, Frankfurt a.M.) etabliert und damit institutionalisiert (Abb. 2). Im Rahmen des Gasthauses servierte er mit seinen Studierenden der Öffentlichkeit Essen. Sein Zugang zur Speisenbereitung orientiert sich an überlieferten Rezepten, die synonym einer Muttersprache für einen Kulturkreis stünden. „Kochen ist wie gesprochene Sprache eine Mitteilungsform für Religion, Poesie und Weltanschauung.“46 Das künstlerische Potential, das Kubelka im schöpferischen Akt des Kochens sieht, hat für ihn dabei nichts mit der Kreativität professioneller Köche zu tun, die Traditionen selten in seinem Sinne begreifen. Ihre Abwandlungen, so Kubelka, verfälschten traditionelle Gerichte. 47 Auch die in der Kunst geforderte Originalität entspricht nicht seinem Kunstbegriff, der sich bei ihm vielmehr auf den Anspruch die Welt zu verbessern bezieht.48 Kubelkas Unterricht entspricht daher in keiner Weise der Ausbildung von Köchen und Köchinnen, sondern ist Ergebnis seiner eigenen intensiven Beschäftigung 44 45 46 47 48 Heinz-Norbert Jocks: Peter Kubelka. Kochen, die älteste bildende Kunst, in: Kunstforum International Essen und Trinken I, 159/2002, S. 103. Vgl. Vijay Sapre: Ein Teller von Peter Kubelka: Himbeeren und Obers, in: Effilee 28/2014, S. 74. Die Verbindung von Essen und Oralität ist auch für Salvador Dalis psychoanalytische Annäherung an Essen von Bedeutung. Vgl. Beil 2002, S. 58. Jocks 2002, S. 103. Sapre 2014, S. 75. Die Küche Ferran Adriàs dagegen schätzt er durchaus als eigenständige Küche, vgl. A Meal for Reflection, in: Hamilton / Todoli 2009, S. 217. Sapre 2014, S. 75. 76 Felix Bröcker Abb. 2 Peter Kubelka in der Filmküche der Städelschule 2015 mit dem Kochen als Kunstgattung. Wie für Beuys oder Matta-Clark ist auch für Kubelka die Qualität von Lebensmitteln elementar, die er insbesondere durch traditionelle und naturnahe Herstellungsverfahren gewahrt sieht. Rirkrit Tiravanija – soziale Begegnungen im globalen Kontext Auch für den thailändischen Künstler Rirkrit Tiravanija (geboren 1961), der in Chiang Mai, Berlin und New York lebt und arbeitet, spielen Traditionen von Speisen eine wichtige Rolle. Bei ihm steht aber nicht das authentische Gericht an sich im Vordergrund, das als einzig wahres oder richtiges von Bedeutung ist. Es geht vielmehr um die Dekonstruktion solcher Zuschreibungen. Er thematisiert Diskurse der Identität und Zugehörigkeit über Speisen, die aufgrund von Traditionen kulturell aufgeladen sind und als Medium funktionieren. Jede Speise birgt auch ein kulturelles Konzept, auf das sich Tiravanija in seinen Arbeiten bezieht. Neben dem sozialen Aspekt des Essens, den Nicolas Bourriaud in seiner Relationalen Ästhetik mit Blick auf Tiravanija beschrieben hat, verhandelt Tiravanija Identitätskonflikte der globalisierten Welt.49 Für Bourriaud ist das Essen dabei allerdings nur Mittel zum Zweck, um eine soziale 49 Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon 1998, S. 112. Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 77 Situation zu generieren. Die verschiedenen Bedeutungsebenen, die diesem Medium eigen sind, spielen in seiner Theorie keine Rolle, sind aber in vielen von Tiravanijas Arbeiten ein essentieller Bestandteil. Untitled 1990 (Pad Thai) in der Paula Allen Gallery ist seine erste Einzelausstellung in New York. Bereits in dieser ersten Küchenaktion ist die Speise für das Verständnis der Arbeit zentral. Keinesfalls geht es lediglich darum, Essen nur in seiner allgemeinen sozialisierenden Funktion zu nutzen. Tiravanija hat thailändische Wurzeln, wurde aber in Argentinien geboren, studierte zunächst in Kanada und kam dann in die USA. Die Frage nach der eigenen Identität ist eine sehr persönliche und Teil seiner künstlerischen Praxis. 50 Die Irritation eines westlichen Kunstverständnisses durch Essen erfährt durch die Konkretisierung der gereichten Speise als Pad Thai eine weitere Ebene. Fremd ist es nicht nur, dass keine Werke betrachtet werden, sondern gegessen wird, fremd ist auch das Gericht selbst. Tiravanija kommt als Außenseiter in das amerikanische Kunstsystem. Das spiegelt sich in der Speise wider: „Thai food wasn’t something that everyone had experienced. It was still something on the edge, something exotic, perhaps; it definitely challenged your normal sense of food.“51 Dass Tiravanija Pad Thai als Referenz auf sich serviert, mag eine banale Feststellung sein und noch kein Beleg für die Nutzung der Speise als Medium.52 Doch ein genauer Blick auf dieses ‚typisch‘ thailändische Gericht offenbart den komplexen Zusammenhang zwischen gereichter Speise und eigener Identität. Travanija ist Thailänder, aber seine kulturelle Identität ist, wie dargestellt, sehr heterogen.53 Diese Komplexität der Identitätsbestimmung spiegelt sich im ‚Nationalgericht‘ Pad Thai wider. Denn das Gericht kommt ursprünglich aus China und wurde erst um 1940 von Premierminister Pibulsonggram als Nationalgericht ausgerufen, um die Identität des jungen thailändischen Staats, der 1939 gegründet wurde und vorher Siam hieß, zu stärken und westlich auszurichten. 54 Essen als Medium nimmt bei Tiravanija seit Beginn seines Schaffens nie lediglich eine sozialisierende Funktion ein, sondern wirft Fragen auf, die sich um Identität und Zugehörigkeit in zunehmend globalisierten Kontexten drehen. Dafür passt er die Speisen an die 50 51 52 53 54 Vgl. Francesca Grassi und Rirkrit Tiravanija (Hg.): Rirkrit Tiravanija. A Retrospective. Tomorrow is another fine day, Zürich 2007, S. 4. Tiravanija im Interview mit Daniel Birnbaum: Rirkrit Tiravanija: Meaning is use, in: Cynthia Davidson (Hg.): Log, New York 2015, S. 163. Medium in Verbindung mit Speise oder Essen meint Informationen, die über den konkreten Geschmack sowie die mit der Speise aufgenommenen Kalorien hinausgeht. Es geht um kulturelle Bedeutungsgehalte, die sich z. B. aufgrund von Traditionen ergeben. Für die Ausstellung Traffic 1996 in Bordeaux hat Tiravanija seine Pässe und Visa ausgestellt. Vgl. Antje KrauseWahl: Konstruktionen von Identität: Renée Green, Tracey Emin, Rirkrit Tiravanija, München 2006, S. 156. Reisen und Reisebestimmungen betreffen ihn ständig, vgl. Thomas Kellein (Hg.): Rirkrit Tiravanija. Cookbook. Just Smile and Don’t Talk, Bangkok / London 2010, S. 11. Alexandra Greeley: Finding Pad Thai, in: Gastronomica 2009, S. 78−82. 78 Felix Bröcker Abb. 3 Der Künstler (Rirkrit Tiravanija) und der Koch (Felix Bröcker), Art Basel 2015 lokalen Bedingungen an und schafft immer wieder aufs neue kulinarische Referenzsysteme: Für die Biennale 1993 in Venedig verhandelt Tiravanija mit der Installation Untitled (1271) den Mythos des auf dieses Jahr datierten Nudelimports Marco Polos aus China mit asiatischer Instant-Nudelsuppe. Für Untitled 2003 (social pudding) in der Zeitgenössischen Galerie Leipzig serviert Tiravanija gemeinsam mit der dänischen Künstlergruppe Superflex Pudding. Vorstandsvorsitzender der Stiftung des Ausstellungshauses ist Arend Oetker, ein Urenkel des Gründers des gleichnamigen Lebensmittelkonzerns. Mit seinem Zugang scheint er jenseits gastronomischer Interessen mit Essen zu arbeiten. Doch auch für Köche spielen kulturelle Bezüge eine wichtige Rolle. Umgekehrt befasst sich Tiravanija nicht nur mit den Konzepten von Speisen. Die Zubereitung war bereits in seinen ersten Arbeiten wichtig und auch mit handwerklichen Fähigkeiten verbunden. Zwar behauptet er: „[] I do not care about the craft of cooking.“ 55 Doch nach vielen konzeptuellen Arbeiten hat er 2015 auf der Art Basel (Abb. 3) täglich hunderte Besucher mit Essen versorgt, zuletzt zudem Pop Ups betrieben und ein Restaurant eröffnet, 55 Tiravanija im Interview in Kellein 2010, S. 11. Lebensmittel als Medium und Material in Kunst und Küche 79 Unternehmungen für die das handwerkliche Können durchaus von Bedeutung ist. Die Speisen allerdings fallen weniger durch subtile Manipulationen auf, die sie zum Medium werden lassen. Vielmehr lautet das Credo: „making good food and good atmosphere“ wie Tiravanija sagt, der damit zum Koch ganz ohne künstlerisch-konzeptuellen Anspruch wird.56 Konzepte und Rezepte Ferran Adrià wiederum hat sich von einer handwerklichen Küche so weit entfernt, dass er zur Documenta geladen wurde. Seine Rezepte hat er in aufwendigen Werkkatalogen festgehalten und entsprechen einem Catalogue Raisonée. Derart systematisch hat kein anderer Koch seine Ideen dokumentiert. 2011 hat er das Restaurant elBulli geschlossen und arbeitet seitdem daran seine bisherige Arbeit als Koch zu musealisieren. 2019 soll ein Zentrum eröffnen, das den kreativen Austausch diverser Disziplinen fördert und eine Ausstellung umfasst.57 Die handwerkliche Wiederholung (wie in Restaurants üblich) interessiert ihn weniger als die Entwicklung von Ideen und Konzepten. Trotz diverser Überschneidungen betont Ferran Adrià aber eine Distanz zur Kunstwelt: „What I find fascinating is the dialogue between both disciplines: my dishes, for instance, have nothing to do with art.“58 Der Kunst eigen ist die Verwendung von Nahrungsmitteln, um den Warencharakter von Kunst zu negieren, ästhetische Traditionen aufzuzeigen, Museen und Institutionen zu hinterfragen oder ihnen den Zugriff auf bestimmte Formen der Kunst zu verwehren. Essen wird außerdem als Medium genutzt, um Kunst und Alltag in Verbindung zu bringen. Darüberhinaus wird aber auch mit der symbolischen und kulturellen Bedeutung von Gerichten gearbeitet, wobei der ‚gute‘ Geschmack meist nicht im Vordergrund steht. Für Köche wiederum ist das Medium Essen an sich nichts Besonderes, sie stellen sich daher vorwiegend qualitative Fragen und suchen das Material entsprechend aus, um einmalige Geschmackserlebnisse zu bieten. Aber auch in der Küche bieten kulturelle und symbolische Aspekte, also die Ikonographie der Lebensmittel, eine Möglichkeit 56 Tiravanija zitiert nach Gisela Williams: The Professional Pop Up Artist, in: New York Times, 26.07.2016, https:// www.nytimes.com/2016/07/26/t-magazine/food/rirkrit-tiravanija-dottir-berlin-pop-up-restaurant.html (Zugriff am 18.07.2018). Kat Herriman: A Restaurant where Art is on the Menu, in: New York Times Style, 13.11.2015, https://www.nytimes.com/2015/11/13/t-magazine/rirkrit-tiravanija-gavin-brown-restaurant.html (Zugriff am 18.07.2018). 57 Vgl. https://elbullifoundation.com/en/ (Zugriff am 05.11.2018). 58 Marta Represa: Ferran Adrià on El Bulli, Another Magazin 2013, http://origin.anothermag.com/art-photo graphy/2887/ferran-adria-on-el-bulli (Zugriff am 18.07.2018). 80 Felix Bröcker Speisen über das rein Sinnliche hinaus zu genießen. 59 Die Verbindung von Ästhetik und Konzept, von sinnlichen und intellektuellen Aspekten verbindet Kochkünstler und Künstlerköche. Darin zeigt sich, entgegen Adornos zu Beginn zitierter Aussage, eine Verbindung von Kunst und Küche. Mit Adorno gilt dann „Wer Kunstwerke [auch essbare!, Anm. d. Verf.] konkretistisch genießt ist ein Banause.“60 Abbildungsnachweis Abb. 1 Felix Bröcker Abb. 2 Felix Bröcker Abb. 3 Tobias Roth 59 Ein solcher Umgang zeigt sich bei Tiravanija, der Gerichte und deren historische Bedeutung für seine gastronomischen Installationen nutzt. Im engeren gastronomischen Kontext können bestimmte Zubereitungsarten oder Anrichtestile auf einen bekannten Koch oder eine Tradition verweisen, mithin ebenfalls auf die das Gericht betreffende (gastronomische) Geschichte, die sich erschließt, wenn das Gericht ikonographisch gelesen wird. 60 Adorno 1973, S. 27. Entschuldigung – Sie ha ben da ein to tes Tier i m Ess en Barbara Uppenkamp Dieser Beitrag befasst sich mit Schlachthöfen, einer Baugattung, der bisher in der architekturhistorischen Forschung wenig Beachtung geschenkt wurde. Großschlachthöfe entstanden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika, in den lateinamerikanischen Städten und in jeder größeren europäischen Stadt. Anders als in Amerika, wo die industrielle Fleischproduktion ausschließlich in privater Hand lag und kommerziell ausgerichtet war, dienten die städtischen Betriebe in Europa vornehmlich der Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit Fleisch und Fleischprodukten als Grundnahrungsmittel. Die Zeit der Industrialisierung war auch eine Zeit der Urbanisierung. Das brachte für die Städte Probleme bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und bei der Hygiene mit sich. Betrachtet man die Stadt als einen sozialen Organismus, so musste dieser in einer Phase rasanten Wachstums ausreichend ernährt und vor Krankheiten bewahrt werden.1 Die Metapher der Stadt als Organismus schlägt sich in der Literatur des 19. Jahrhunderts beispielhaft bei Émile Zola nieder, der die zentralen Markthallen als den „Bauch von Paris“ bezeichnete.2 Ausgehend von den amerikanischen Großschlachthöfen in Chicago und Cincinnati behandelt dieser Beitrag die Baulichkeiten von Schlachthöfen und ihre Repräsentation in den Bildmedien. Er vergleicht amerikanische und europäische Schlachthofanlagen und widmet sich abschließend dem Beispiel des Hamburger Zentralschlachthofes. 1 2 Die Körpermetapher für eine Stadtgemeinschaft geht auf die Politik des Aristoteles zurück. Vgl. Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. und hg. von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, 1254b, 1287b. Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte dieser politischen Metapher zurückzuverfolgen. Für interessante weiterführende Gedanken verweise ich auf Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1996, zuerst erschienen als Flesh and Stone, New York 1994. Émile Zola: Der Bauch von Paris, Berlin 1925. Zuerst erschienen als Le ventre de Paris, Paris 1873. 82 Barbara Uppenkamp Von der Ware Tier zur Ware Fleisch im Zeitalter der Industrialisierung In einem frühen comic strip aus der Serie Tim und Struppi gibt der belgische Zeichner Hergé ein treffendes Bild der vermeintlichen Unkenntnis darüber, wie das Fleisch auf unsere Teller kommt. Am Ende der Abenteuer, die der Reporter Tim und sein Hund Struppi in Amerika erleben, steht die Besichtigung eines Chicagoer Großschlachthofes. Zu Beginn ahnt Tim noch nicht, dass er selbst bei dieser Besichtigung unauffällig getötet und zu Hackfleisch verarbeitet werden soll und damit in die Rolle des Tieres gedrängt wird, das zu Fleischware wird. Ein Mitarbeiter erklärt den automatisierten Vorgang in aller Kürze: „Sehen Sie diese Riesen-Maschine? Nun, die Kühe rollen auf einem Fließband hinein  und kommen auf der anderen Seite in Form von Corned Beef, Würstchen und Schmalz heraus  Alles automatisch.“3 Die zugehörige Zeichnung zeigt ein Fließband, auf dem eine Kuh in eine Maschine hineinrollt, während die nächste Zeichnung ein anderes Fließband zeigt, auf dem das portionierte Corned Beef herauskommt und einen Hahn, der eine endlose Kette von Würstchen ausspuckt. Als Vorbild für diese Schilderung dienten die berüchtigten Union Stockyards, mit deren Bau 1865 begonnen wurde (Abb. 1).4 Die Union Stockyards waren eine frühe Agglomeration von industrialisierten Schlachthöfen privater Unternehmer, die sich im 19. Jahrhundert am Ende einer Eisenbahntrasse ansiedelten, über die große Mengen von Vieh aus den ländlichen Gebieten des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten nach Chicago verfrachtet wurden. Erst diese Industrieansiedlung, welche die dünn besiedelten Weidegründe mit den Fleischkonsumenten und -konsumentinnen an der dicht besiedelten Ostküste verband, ermöglichte die Entstehung der Metropole Chicago. Die Vogelschau von Charles Rascher aus den 1870er Jahren zeigt 37 Schlachtbetriebe und weitere Betriebe der fleischverarbeitenden Industrie, wie zum Beispiel Düngerfabriken, Seifensiedereien und Häutesalzereien. Deutlich erkennbar sind am rechten Rand die sich auffächernden Eisenbahngleise und ein Kanal. Links unten fällt ein Teich zur Gewinnung von Eis für die Kühlanlagen der Lagerhäuser ins Auge. Am unteren Rand sind Menschen zu Fuß, zu Pferde und in Kutschen zu sehen. Rinder 3 Vgl. Hergé: Tim in Amerika, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 53. Das Album erschien unter dem Originaltitel Tintin en Amérique erstmals 1932 in Brüssel in Schwarz-Weiß. Davor war es 1931–1932 als Fortsetzungsgeschichte in Le Petit Vingtième abgedruckt. Eine kolorierte Fassung des Albums erschien 1946 in Brüssel. 1973 wurde das Album vollständig überarbeitet. Vgl. Michael Farr: Auf den Spuren von Tim und Struppi, Hamburg 2005, S. 28–38. 4 ´ Charles Rascher, Great Union Stockyards of Chicago, Lithographie, Chicago: Walsh & Co., ca. 1878, Library of Congress, Washington, LC-DIG-pga-02434. Beschriftung: „Packing houses in the distance. Covered pens for hogs and sheep; open pens for cattle. Area of yards, 75 acres; 50 miles railroad tracks. Daily capacity: 25,000 head cattle, 160,000 hogs, 10,000 sheep, and 1,000 horses.“ Zu den Union Stockyards vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a.M. 1982, S. 241; Dominic A. Pacyga: Slaughterhouse. Chicago’s Union Stock Yard and the World it made, Chicago 2016. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 83 Abb. 1 Charles Rascher, Great Union Stockyards of Chicago, Lithographie, Chicago: Walsh & Co., ca. 1878, Library of Congress, Washington werden in die Schlachthofanlagen getrieben. Im vorderen Bereich des Areals befinden sich offene Gehege und gedeckte Stallungen. Weiter im Hintergrund sind Schlacht- und Brühhäuser mit rauchenden Schloten dargestellt. Der Bildlegende zufolge wurden hier täglich bis zu 25.000 Rinder, 160.000 Schweine, 10.000 Schafe und 1.000 Pferde geschlachtet. Die Ansicht aus der Vogelschau mit dreidimensional dargestellten Gebäuden und Staffagefiguren im Vordergrund orientiert sich an einem Darstellungstypus, der seit dem 16. Jahrhundert für Stadtansichten verwendet wurde und der über den mehrbändigen Städteatlas von Georg Braun und Frans Hogenberg zu einem fest etablierten Bildtypus avancierte. 5 Im Grunde referiert dieser Darstellungstypus auf ein wohlgeordnetes, prosperierendes Gemeinwesen. So haftet auch der Ansicht der Union Stockyards die Aura von Ordnung und Wohlstand an. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war der Handel mit frischem Fleisch dadurch eingeschränkt, dass es weder Möglichkeiten zur ununterbrochenen Kühlung noch Möglichkeiten für eine schnelle Transportabwicklung gab. Da die Verwesung bereits kurz nach dem Tode einsetzt, gab es in früheren Zeiten nur 5 Vgl. Georg Braun und Franz Hogenberg: Civitates orbis terrarum, 6 Bde., Köln 1572–1617. Vgl. hierzu Stephan Füssel (Hg.): Städte der Welt. Kupferstiche revolutionieren das Weltbild, Köln 2015. 84 Barbara Uppenkamp die Möglichkeit, Fleisch durch Trocknen, Räuchern oder Salzen haltbar zu machen und über längere Strecken zu den Konsumenten und Konsumentinnen zu transportieren.6 Dies änderte sich im 19. Jahrhundert mit der Erfindung der Kühltechnologie, wodurch der Verwesungsprozess stark verzögert werden konnte. Die Kühlung und die Erfindung der Eisenbahn zum schnellen und massenhaften Transport von Vieh und Fleisch waren entscheidend für die Entwicklung der industriellen Großschlachthöfe. In Chicago war Philipp Danforth Armour der erste Fleischbaron, der seine Schlachthäuser direkt an das Schienennetz anschloss. Seine riesige Schlachthofanlage war ein Großbetrieb, in dem Tiere am Fließband geschlachtet, zerteilt und weiterverarbeitet wurden. Diese Arbeit wurde hauptsächlich von schlecht ausgebildeten, zumeist aus Osteuropa stammenden Zuwanderern durchgeführt, die nach Bedarf angeheuert und wieder entlassen wurden.7 Die amerikanische Fleischindustrie kann als Erfinder der Fließbandproduktion gelten, denn bereits etliche Jahre bevor Henry Ford in seiner 1903 gegründeten Autofabrik in Detroit die Produktion am Fließband aufnahm, wurden in den industriellen Großschlachthöfen die einzelnen Arbeitsschritte arbeitsteilig an Transportbahnen und Fließbändern vorgenommen.8 Das arbeitsteilige Schlachten, Ausweiden und Zerlegen von Schweinen wurde erstmals in Cincinnati um 1870 durchgeführt. Die Methode war so innovativ, dass sie von der Vereinigung der Fleischindustrie von Cincinnati bei der Weltausstellung in Wien 1873 in einem Diorama mit Gemälden von Henry Farny präsentiert wurde.9 Das Diorama mit der Darstellung der industriellen Schweineschlachtung am Fließband war Farnys erster Großauftrag und zeigte die Schweineschlachtung 6 7 8 9 Der Botaniker Ernst Hallier befasste sich Mitte des 19. Jahrhunderts eingehend mit dem Verwesungsprozess. Vgl. Ernst Hallier: Gährungserscheinungen. Untersuchungen über Gährung, Fäulnis und Verwesung mit Berücksichtigung der Miasmen und Contagien sowie der Desinfection, für Ärzte, Naturforscher, Landwirthe und Techniker, Leipzig 1867. Die schlechten Arbeitsbedingungen in der Armour-Fleischfabrik gaben den Anstoß zu Upton Sinclairs berühmtem Roman Der Dschungel, welcher wiederum grundlegend für Bertolt Brechts kritisches Theaterstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe wurde. The Jungle erschien 1905 zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der sozialistischen Zeitschrift Appeal to Reason. Die erste Buchausgabe erschien 1906 in New York. Die erste deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Der Sumpf 1906. Für eine aktuelle Ausgabe vgl. Upton Sinclair: Der Dschungel. Die große März- Kassette, hg. v. Jürg Schröder und Bruno Hof, Erftstadt 2004. Bertold Brechts Theaterstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe von 1929/1930 wurde 1931 publiziert und 1932 als Hörspiel von Radio Berlin ausgestrahlt. Erst 1959 wurde das Theaterstück am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg uraufgeführt. Vgl. Jan Knopf: Brecht-Handbuch in fünf Bänden, Bd. 1, Stücke, Stuttgart 2001, S. 114. Für eine aktuelle Ausgabe vgl. Bertolt Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Werke, hg. v. Manfred Nössing und Werner Hecht, Berlin et al. 1988. Vgl. Giedion 1982, S. 238–277. Vgl. Wolfgang Kos und Ralf Gleis (Hg.): Experiment Metropole – 1873: Wien und die Weltausstellung, Ausst. Kat., Wien-Museum, Wien 2014. Zur Industrialisierung der Schweineschlachtung in Cincinnati vgl. Giedion 1982, S. 244–249. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 85 Abb. 2 Henry Francis Farny, Pork Packing in Cincinnati , Lithographie, Cincinnati: Ehrgott & Krebs, ca. 1873, Library of Congress, Washington auf mehreren Kartons von jeweils über 27 Metern Länge. Das eindrucksvolle Diorama wurde mit einer Medaille prämiert. Die Kartons wurden als Chromolithographie auf einem Blatt zusammengefasst und vervielfältigt (Abb. 2).10 Sie fanden weite Verbreitung, was für ein Industriemotiv dieser Art recht ungewöhnlich ist. Die Lithographie zeigt im ersten Bild – Killing – den Prozess des Tötens, Abbrühens, Abschabens und Reinigens sowie das Aufhängen des ausgeweideten Schweinekörpers an einer Spreize zum Auskühlen. Das zweite Bild – Cutting – zeigt im Hintergrund links die ausgekühlten Tierleiber in langen Reihen hängend und im Vordergrund Metzger beim Zerlegen der Schweinehälften in Stücke. Die Schinken und die großen Bratenstücke rutschen auf Rampen in die Tiefe, während die abgehackten Pfoten und Köpfe bei den Metzgern verbleiben, da sie einen Teil ihres Lohns ausmachen. In der unteren Reihe zeigen zwei nebeneinander angeordnete Bilder mit den Unterschriften Rendering und Salting weitere Arbeitsschritte, in denen das tote Schwein vom Lebewesen zum Lebensmittel umgewandelt wird: Links wird in einer Talgschmelze das Schweinefett zu Schmalz gekocht und rechts werden in einer Pökelei die Speckseiten in Salzfässer eingelegt und so haltbar 10 Henry Francis Farny, Pork Packing in Cincinnati, Lithographie, 1873, Library of Congress, Washington, LC-DIGpga-03169. 86 Barbara Uppenkamp Abb. 3 Das amerikanische System der Schweineschlachtung am Fließband, unter Nutzung der Schwerkraft Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 87 gemacht.11 Die einzelnen Arbeitsschritte sind auf der Lithographie nicht umsonst untereinander angeordnet, denn diese Anordnung entsprach dem industriellen System der amerikanischen Schweineschlachtung. In einer späteren Ausgabe des 1894 erstmals erschienenen und zum Standardwerk gewordenen deutschen Lehrbuchs Bau, Einrichtung und Betrieb öffentlicher Schlacht- und Viehhöfe wird der industrialisierte Prozess der Schweineschlachtung in Amerika schematisch dargestellt (Abb. 3).12 Von links nach rechts und von oben nach unten werden, der Schwerkraft der Schweinekörper folgend, die Arbeitsschritte innerhalb eines viergeschossigen, mit Aufzug und Fließbändern ausgestatteten Schlachthauses gezeigt. Am linken Rand fahren Schweine im Aufzug aus dem Keller in die oberste Etage. Dort werden sie geschlachtet und an einer abschüssigen Transportbahn hängend weiterbefördert, bis sie eine Etage tiefer in einen Brühkessel fallen, in dem sie auf Rollen weitertransportiert werden. Ein automatischer Auswerfer hebt die Schweine aus dem Brühkessel auf ein Band, an dessen Ende sie durch rotierende Bürsten nach unten befördert werden. Die geputzten Schweine landen auf einem abschüssigen Förderband, wo Arbeiter ihre Borsten von Hand abschaben. Mit einem Paternoster fahren die Schweinekörper weiter nach unten und landen in einer Dusche. Aus der Dusche werden sie an eine abschüssige Transportbahn mit Spreizen gehängt, ihre Leiber werden aufgeschlitzt und ausgeweidet. Die gesäuberten und ausgeweideten Leiber werden mit einem zweiten Paternoster auf die Erdgeschossebene gebracht. Hier erfolgt das Zerteilen in Schweinehälften und das Auslösen einzelner Stücke. Die Fleischstücke werden schließlich in Loren gepackt und per Aufzug in den Keller verfrachtet. Hier werden sie in Fässern gepökelt oder anders weiterverarbeitet. Der industrialisierte Vorgang nutzt die Schwerkraft der Tierleiber als Antrieb für die Transportbahnen, die Fließbänder und die Paternoster. Auf allen Ebenen sind die Arbeiter nur mit speziellen Handgriffen beschäftigt und sorgen für den reibungslosen Ablauf des Betriebs. 11 Über die gängigen Methoden der Fleischkonservierung um 1875 berichtet Gustav Jüdell: Ueber die Methoden zur Conservirung des Fleisches, in: Polytechnisches Journal 223/1877, S. 78–80. Dabei nennt er auch die bei der Wiener Weltausstellung von 1873 gezeigten Verfahren. 12 Das amerikanische System der Schweineschlachtung am Fließband, unter Nutzung der Schwerkraft. Illustration aus Oscar Schwarz: Bau, Einrichtung und Betrieb öffentlicher Schlacht- und Viehhöfe. Ein Handbuch für Sanitäts- und Verwaltungsbeamte, Berlin 1894, 3. neubearb. und stark verm. Auflage, Berlin 1903. Die Illustration ist in der ersten Auflage des Buches nicht enthalten. Bis 1932 wurde das Buch fünfmal neu aufgelegt und dabei ständig überarbeitet und ergänzt. Spätere Auflagen wurden ab 1932 von Hugo Heiss herausgegeben. 88 Barbara Uppenkamp Die europäische Schlachthofbewegung In Europa war im Unterschied zu den Vereinigten Staaten das Schlachterhandwerk traditionell innerhalb der Handwerkszünfte organisiert. In den Großstädten unterstanden die Schlachtereien der Aufsicht der städtischen Obrigkeit. Um die Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit einwandfreiem Fleisch zu gewährleisten, entstanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in allen europäischen Metropolen zentrale Schlachthofanlagen, denen zumeist Viehhöfe zugeordnet waren, auf denen das Schlachtvieh verkauft wurde.13 Die Einrichtung der Zentralschlachthöfe war Teil der Hygienebewegung, die unter anderem von der Entdeckung des Cholera-Erregers durch Robert Koch ausgelöst wurde und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Umbau der städtischen Infrastruktur führte. 14 Die Hygienebewegung und die mit ihr verbundenen städtischen Kommissionen sind ein Kernthema in der Geschichte der Urbanisierung.15 In ganz Europa bildeten sich Ende des 19. Jahrhunderts Schlachthofkommissionen, denen sachverständige Beamte, Veterinäre und Architekten angehörten. 16 Die Kommissionen besichtigten die Schlachthöfe verschiedener Städte und verglichen sie miteinander, um für ihre Heimatstadt die beste Lösung zu finden. Manche Architekten widmeten der Bauaufgabe Schlachthof besondere Publikationen, in denen sie Musteranlagen und Best-practice-Beispiele vorstellten.17 Als notwendige Bestandteile 13 14 15 16 17 Vgl. Julius Hennicke: Bericht über Schlachthäuser und Viehmärkte in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Berlin 1866; Hermann Falk: Die Errichtung öffentlicher Schlachthäuser, Osterwieck/Harz 1886; Schwarz 1894; Stefan Tholl: Preußens blutige Mauern. Der Schlachthof als öffentliche Bauaufgabe, Walsheim 1995; Wolfdieter Faust und Thomas Longerich: Schlachthäuser. Zur Entstehung kommunaler Vieh- und Schlachthöfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weimar 2000; Helmut Lackner: Ein „blutiges Geschäft“ – Kommunale Vieh- und Schlachthöfe im Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der städtischen Infrastruktur, in: Technikgeschichte 71.2/2004, S. 89–138. Eine dichte Beschreibung der Cholera-Epidemie von 1892 liefert Richard J. Evans: Tod in Hamburg: Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek bei Hamburg 1991. Das Buch erschien zuerst als Death in Hamburg: society and politics in the cholera years 1830–1910, Oxford 1987. Vgl. Gesundheitsbehörde Hamburg (Hg.): Hygiene und soziale Hygiene in Hamburg. Zur neunzigsten Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Hamburg im Jahre 1928, Hamburg 1928, S. 528–533. Mit dem Umbau deutscher Städte im Zuge der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts befasst sich Anne I. Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit: medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005. Vgl. Hennicke 1866; Franz Wenzel: Die Einrichtung der Viehmärkte und Schlachthäuser in den Hauptstädten Europa’s. Nach einer commissionellen Bereisung, Wien 1874; Schwarz 1894, S. 32; Lackner 2004, S. 96–100. Vgl. Hennicke 1866; Georg Osthoff: Schlachthöfe und Viehmärkte. Märkte für Lebensmittel. Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude (Des Handbuches der Architektur vierter Theil, 3. Halbband), Darmstadt 1881; Georg Osthoff: Anlagen für die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln. Markthallen, Schlachthöfe, Viehmärkte (Handbuch der Hygiene 6, 1), Jena 1894; Schwarz 1894; Ludwig Klasen: Viehmärkte, Schlachthöfe und Markthallen. Handbuch für Baubehörden, Bauherren, Architekten, Ingenieure, Baumeister, Bauunternehmer, Bauhandwerker und technische Lehranstalten (Grundriss-Vorbilder von Gebäuden aller Art, V), Leipzig 1896. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 89 eines Zentralschlachthofes benennt Schwarz 1894: 1. ein Verwaltungsgebäude; 2. eine Schlachthalle, mit einem besonderen Brühraum für Schweine; 3. Viehställe; 4. einen Raum zum Reinigen und Brühen der Eingeweide; 5. ein Kessel- und Maschinenhaus; 6. einen besonderen Schlachtraum nebst Krankenstall für die Einstellung und Schlachtung seuchenkranken oder seuchenverdächtigen Viehs.18 Für alle neu eingerichteten Zentralschlachthöfe waren die Anbindung an das Schienennetz und an die Wasserversorgung die wichtigsten Voraussetzungen. Doch wurde im 19. Jahrhundert auch Wert auf die ästhetische Ausgestaltung der Anlagen gelegt: Wenn auch jeglicher äusserer Luxus möglichst vermieden werden soll, so muss doch stets berücksichtigt werden, dass ‚eine gefällige und praktisch durchgeführte Anlage sich auch die eifrigsten Gegner bald zu Freunden macht und wohltuend auf die Gemüther einwirkt, sodass das Bestreben nach Ordnung, Reinlichkeit und Humanität wesentlich gefördert und für solche angeregt wird.‘ Daher muss das Ganze geschmackvoll ausgeführt werden, und man wird, um den düsteren Eindruck, den vielleicht ein Schlachthof unwillkürlich hervorruft, nach Möglichkeit zu verwischen, thunlichst alle freien Plätze mit Rasen und, wo es angebracht erscheint, mit Bäumen und Sträuchern bepflanzen.19 Im Grundriss folgten die meisten Schlachthöfe dem Beispiel feudaler Schloss- oder Gutsanlagen. Dabei wurden die einzelnen Gebäude entlang einer zentralen Achse oder um einen Hof herum angeordnet. Im Wesentlichen lassen sich bei der Anlage der europäischen Schlachthöfe im 19. Jahrhundert das französische Kammersystem und das deutsche Hallensystem unterschieden. 20 Das Kammersystem orientierte sich an der handwerklichen Schlachtung, bei der alle Handgriffe innerhalb eines abgeschlossenen Raumes, der Schlachtkammer, stattfanden. 21 Beim Hallensystem waren die Schlachthallen mit ihren Nebengebäuden um einen Hof gruppiert. Die offenen Hallen ermöglichten eine koordinierte Arbeitsteilung und eine bessere Kontrolle der Fleischer. Private Fleischfabriken mit auf maximalen Gewinn ausgerichteten Strukturen wie in Amerika erschienen den europäischen Schlachthofkommissionen vor allem aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und der mangelnden behördlichen Kontrolle inakzeptabel. Die Zentralschlachthöfe waren nicht auf die Erwirtschaftung von Gewinn ausgerichtet, sondern wurden als städtische Betriebe mit den Gebühren finanziert, welche die Schlachter für die Benutzung der Einrichtung und 18 Vgl. Schwarz 1894, S. 35–36. Ebd. 1894, S. 37. 20 Vgl. Schwarz 1894, S. 36–37; Jörg Schilling und Barbara Uppenkamp, mit Beiträgen von Anke Höfer: Der Zentralschlachthof 1892 bis heute (hamburger bauheft 19), Hamburg 2017, S. 18–19. 21 Vgl. Giedion 1982, S. 240. 19 90 Barbara Uppenkamp der Gerätschaften sowie für die amtliche Fleisch- und Trichinenbeschau bezahlen mussten.22 In den deutschen Städten wurde mit der Einführung des Schlachthauszwangs Ende des 19. Jahrhunderts das Schlachten außerhalb der Zentralschlachthöfe verboten. Der Schlachthauszwang mit Fleisch- und Trichinenbeschau gehört in den Diskurs um die Stadthygiene und die sanitären Verhältnisse. 23 1860 war erstmals die Trichinenkrankheit als Todesursache beim Menschen festgestellt worden und nach mehreren epidemischen Ausbrüchen der Krankheit wurde 1866 im Königreich Preußen die obligatorische Trichinenschau eingeführt. Seit 1894 galt die Vorschrift, lebende Tiere vor der Schlachtung durch einen Veterinär untersuchen zu lassen. Nur das Fleisch von gesunden Tieren wurde für den menschlichen Verzehr zugelassen. Nach der Schlachtung wurden Fleisch, Organe und Blut der Tiere mikroskopisch auf Krankheitserreger, insbesondere Trichinen untersucht. Da dies nur durch spezialisierte Fachkräfte durchgeführt werden konnte, wurden private Schlachtungen in den Städten weitgehend verboten. Als Beispiel eines europäischen städtischen Betriebs des 19. Jahrhunderts kann der Hamburger Zentralschlachthof herangezogen werden. Der Hamburger Zentralschlachthof In Hamburg wurde der Schlachthauszwang am 19. März 1894 gesetzlich eingeführt. Hamburg folgte damit relativ spät auf die Einführung des Schlachthauszwangs in Preußen mit Erlassen von 1868 und 1881.24 In Hamburg galt zwar seit 1867 für die Innenstadt die Vorschrift, das 1841 errichtete erste öffentliche Schlachthaus am Johannisbollwerk zu nutzen, jedoch reichten die Räumlichkeiten für viele Schlachter nicht aus.25 Daher wurde zwischen 1889 und 1892 auf einem freien Gelände südlich der Sternschanze der Zentralschlachthof errichtet (Abb. 4).26 Das Gelände eignete sich für diesen Zweck, da es am Hamburger Stadtrand an der Grenze zum preußischen Altona lag und sich hier bereits der Viehmarkt für Kälber und Schweine befand. Weiter südlich lagen am Neuen Kamp der Neue Pferdemarkt und der Markt für Rinder und Schafe.27 Ein Wasserdepot auf der Sternschanze und der Schienenanschluss an die Hamburg- 22 23 24 25 26 27 Vgl. Schwarz 1894, S. 30–31; Lackner 2004, S. 101. Vgl. Lackner 2004, S. 92–93. Vgl. Tholl 1995 zu den preußischen Schlachthöfen. Vgl. Hennicke 1865, S. 6–8; Carl Boysen: Hamburgs Viehmärkte und Zentralschlachthof, im Auftrag der Schlachthofdeputation, Hamburg 1897; Schilling und Uppenkamp 2017, S. 4–5. Lageplan der Schlachthofanlagen, aus Johannes Neumann (Hg.): Hamburgs Viehmärkte und Zentralschlachthof, im Auftrage der Schlachthof-Deputation, Hamburg 1910, o. S. Vgl. Anke Höfer et al.: Rindermarkthalle und Schanzenhöfe. Historische Viehmärkte 1864 bis heute (hamburger bauheft 20), Hamburg 2017. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 91 Abb. 4 Lageplan der Schlachthofanlagen des Hamburger Zentralschlachthofs Altonaer Verbindungsbahn boten weitere günstige Voraussetzungen. Das ganze Gelände war von Mauern eingefasst und nur durch wenige Zugangstore betretbar. Die von Westen nach Osten verlaufende Kampstraße bildete die zentrale Achse, an der Verwaltungsgebäude, Restaurants, das Dienstgebäude für die Fleischbeschau, die Häutesalzerei, eine Flüssiggasanlage und das Kühlhaus lagen. Nördlich der Kampstraße erstreckte sich bis zur Lagerstraße der Schweineschlachthof. Er umfasste zwei Schweineschlachthäuser, zwei Spülhäuser zum Reinigen der Därme, Stallungen und eine Kochanstalt, in der beanstandetes, noch genießbares Fleisch abgekocht und dann der Freibank zugeführt wurde. Südlich der Kampstraße befand sich der Ochsenschlachthof. Hier wurden Rinder, Kälber und Schafe geschlachtet. Der Ochsenschlachthof umfasste zwei parallel angeordnete Schlachthäuser, denen Warteställe für Kälber und Hammel im Westen und für Rinder im Osten zugeordnet waren. Den Schlachthäusern waren südlich zwei Spülhäuser vorgelagert, in denen die Eingeweide gereinigt wurden. Südlich des Rinderstalls lag eine Dungentleerstätte, wo der Mageninhalt der geschlachteten Tiere in geschlossene Waggons entladen und auf dem Schienenweg abtransportiert wurde. Östlich der Gleise befand sich in gebührendem Abstand zum übrigen Schlachthof der Kontumazhof mit Quarantänestall und Notschlachthaus. Südlich des Ochsenschlachthofes, jenseits des Neuen Kamps, lag der Zentralviehmarkt mit der Rindermarkthalle.28 28 Vgl. hierzu Höfer et al. 2017. 92 Barbara Uppenkamp Abb. 5 Unbekannter Künstler, Hammelkopf, Sandstein, um 1892, Bauskulptur am Kälber- und Hammelstall, Schlachthofseite, Hamburger Zentralschlachthof Die Gebäude des Hamburger Zentralschlachthofes Der Hamburger Zentralschlachthof bildete eine Stadt in der Stadt. Seine Gebäude waren von hohen Mauern umschlossen, deren Pfeiler mit zinnenartigen Bekrönungen den Anschein einer mittelalterlichen Befestigungsanlage erweckten. Der Zugang zum Schlachthof war durch Pförtner reglementiert, die an den Pforten die von der Schlachthofverwaltung ausgestellten Legitimationskarten kontrollierten. Noch heute ist eine Pförtnerloge am Neuen Kamp erhalten. Mit ihren vorkragenden Eckrisaliten, dem Treppenfries und dem doppelten Rundbogenfenster mit profilierten Fenstergewänden weckt sie das Bild eines mittelalterlichen Gebäudes. Die Architekten des Schlachthofes, Carl Johann Christian Zimmermann und Franz Andreas Meyer folgten der Formensprache des Historismus, die am Polytechnikum in Hannover gelehrt wurde.29 Die symmetrische Anordnung der Schlachthofbauten entlang einer zentralen Achse entsprach dem ästhetischen Bedürfnis der Zeit, sollte aber auch für eine gute Durchlüftung der Anlage sorgen. Als Nutzbauten gehörten 29 Vgl. hierzu allgemein Günther Kokkelink und Monika Lemke-Kokkeling: Baukunst in Norddeutschland. Architektur und Kunsthandwerk der Hannoverschen Schule 1850–1900, Hannover 1998, zu Industriebauten besonders S. 315–348. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 93 Abb. 6 Hamburger Zentralschlachthof, Neue Rinderschlachthalle Aufri ss und Schnitt, 1910, Staatsarchiv Hamburg, Plankammer 720 -1_13406=210_4a Schlachthofgebäude zu den niedrigen Bauaufgaben, die nicht repräsentativ ausgestaltet werden mussten. Dennoch achteten die Architekten auf eine ästhetisch ansprechende Gestaltung der Ziegelbauten durch zurückhaltende Ornamentik und Skulpturen. Noch heute schmückt ein plastischer Hammelkopf die Giebelfront des Kälber- und Hammelstalls an der Sternstraße (Abb. 5).30 Die ältesten erhaltenen Schlachthofbauten sind die Ställe des 1887/1888 errichteten Kontumazhofes an der Grabenstraße. Sie waren mit feuersicheren Decken versehen, da im Dachbereich Heu und Stroh für die Tiere gelagert wurde. Das schon lange stillgelegte Stallgebäude ist ein langgestreckter, zweigeschossiger Ziegelbau, der durch vor- und zurückspringende Wandflächen, Lisenen und Gesimse gegliedert ist. Die Stirnseiten sind durch zinnenartige Aufbauten betont. Oberhalb der Tore, die zu den Einzelabteilungen führen, befinden sich zinnenbekrönte Dachluken, durch die das Futter in den Lagerraum befördert wurde. 30 Unbekannter Künstler, Hammelkopf, Sandstein, um 1892, Bauskulptur am Kälber- und Hammelstall, Schlachthofseite, Hamburger Zentralschlachthof. Ein entsprechender, zur Sternstraße weisender Kopf ist heute nicht mehr vorhanden. Foto: Autorin. 94 Barbara Uppenkamp Zu den heute öffentlich zugänglichen Gebäuden gehört die 1911–1913 gebaute neue Rinderschlachthalle (Abb. 6).31 Es handelt sich um einen hohen, zweigeschossigen Bau, in dessen Untergeschoss Rinder und in dessen Obergeschoss Schafe geschlachtet wurden. Im Unterschied zur älteren Rinderschlachthalle von 1892, wo die Tiere von beiden Seiten eingetrieben wurden und die Schlachter von den Außenseiten zur Mitte hin arbeiteten, erfolgte der Schlachtvorgang in der neuen Rinderschlachthalle ausschließlich von Osten nach Westen, von der unreinen zur reinen Seite. Sauberkeit und Schmutz bzw. Reinheit und Unreinheit lassen sich als relationale Kategorien bezeichnen, die an gesellschaftliche Ordnungen und Zuschreibungen gebunden sind, die religiös, sozial oder hygienisch konnotiert sein können. Im Schlachthof wurden diese Kategorien gemäß den modernen Hygienevorstellungen in ein räumliches System überführt.32 Auf der unreinen Seite im Osten wurden die Rinder in die Halle geführt, geschlachtet, ausgeweidet und enthäutet. Nach der Fleischbeschau wurde der zum Auskühlen an der Spreize hängende Tierkörper an einer Hängetransportbahn auf die westliche Gebäudeseite geschoben. Die Eingeweide hingegen wurden zur Dungentleerstätte und dann ins Spülhaus verbracht, während die Häute in die Häutesalzerei gelangten. Auf der reinen Seite befanden sich ausschließlich die abgehäuteten, ausgenommenen und veterinärmedizinisch untersuchten, einwandfreien Tierkörper, denen bereits die Köpfe und Füße abgehackt waren. Das zweigeschossige Rinderschlachthaus war mit einer bogenförmigen Rampe versehen, die den direkten Verkehr vom Rindermarkt zur oberen Schlachthalle ermöglichte. Sie begann neben dem Trifttunnel, der vom Rindermarkt auf dem Heiligengeistfeld unter dem Neuen Kamp hindurchführte. Die Stirn- und Rückseiten der Halle hatten jeweils einen dreigeschossigen Vorbau. Der unterkellerte südliche Vorbau enthielt Verwaltungs- und Garderobenräume. Im Dachgeschoss befanden sich Gerätekammern und im Keller Kühlräume. Der heute nicht mehr vorhandene nördliche Vorbau enthielt im Inneren eine Zutrittsrampe für die vom Kleinviehstall her anzutreibenden Schafe. Auf dem Schweineschlachthof waren die Bauten entlang einer nord-südlich verlaufenden Achse angeordnet, die im Süden auf die Kampstraße stieß. Die Eingangspforte zum Schweineschlachthof befand sich an der Lagerstraße. An der Hauptachse des Schweineschlachthofes lagen die beiden unterschiedlich großen Schweineschlachthäuser.33 31 Hamburger Zentralschlachthof, Neue Rinderschlachthalle, 1910, Staatsarchiv Hamburg, Plankammer 720-1_13406=210_4a. 32 Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985, S. 45–59. Die Studie erschien zuerst unter dem Titel Purity and danger: an analysis of concepts of pollution and taboo, London 1966. Vgl. auch Lukasz Nieradzik: Der Wiener Schlachthof St. Marx. Transformation einer Arbeitswelt zwischen 1851 und 1914, Wien et al. 2017, S. 39–40. 33 Vgl. Schilling / Uppenkamp 2017, S. 34–39. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen 95 Das große Schweineschlachthaus enthielt einen Anbau für die Trichinenbeschau. Das kleine Schweineschlachthaus war bei gleicher Breite etwas kürzer. Beide Schlachthäuser waren der Länge nach in einen Brühraum und einen Ausschlachtraum unterteilt, die eine dicke Mauer mit Pfeilerarkaden trennte. Im Brühraum wurden die Schweine geschlachtet und sofort danach abgebrüht und enthaart, denn im Unterschied zu Rindern oder Schafen werden Schweine nicht abgehäutet. Um die oberste Schicht der Schwarte mit den Haaren abkratzen zu können, werden die Körper in etwa 62°C heißes Wasser getaucht. Zur Abführung des beim Brühen der Schweine entstehenden Qualms waren die Dächer mit Lüftungslaternen versehen. Nach dem Brühen wurden die Schweine an einer Schienenbahn hängend in den Ausschlachtraum befördert, der mit Hakenrahmengestellen ausgestattet war, an denen sich große Haken zum Aufhängen der Schweinekörper und kleine Haken zum Aufhängen der Innereien für die Fleischbeschau befanden. In einem Bericht von 1926 stellte die Schlachthofdeputation fest, dass eine Trennung in eine reine und eine unreine Seite in den alten Schweineschlachthäusern nicht gewährleistet sei. Daher wurde 1925–1928 unter der Leitung von Oberbaudirektor Fritz Schumacher und Oberbaurat Martin Lenthe eine neue Schweineschlachthalle erbaut und 1933 in Betrieb genommen.34 Der langgestreckte, hauptsächlich zweigeschossige Baukörper aus dunklem Backstein an der Lagerstraße mit einem dreigeschossigen Kopfbau im Westen entspricht ganz dem sachlichen Stil des Neuen Bauens. Er besteht aus schlichten, unterschiedlich hohen, kubischen Baukörpern, die keinerlei Ornamentik aufweisen. Den westlichen Trakt ziert die Bauplastik eines Schweineschlachters aus Beton.35 Zwischen dem Kopfbau, der eine Darmspüle enthielt, und dem langgestreckten Schlachthaus vermittelt ein fünfgeschossiger, turmartiger Block. Im Keller und im Erdgeschoss befanden sich Ställe. Der Kopfbau wird durch drei große, vom Erdgeschoss bis zum Obergeschoss reichende Fensterwände belichtet. Eine vergleichbare, bis zum vierten Geschoss reichende Fensterwand sorgte für die Belichtung des turmartigen Zwischentraktes. Hier kamen neue technische Verfahren mit Rutschen für die Abfuhr der Gedärme und Gleitbahnen für die Schweinekörper zum Einsatz, die bereits viel früher in den amerikanischen Schlachthöfen üblich waren. Ein heute nicht mehr zugänglicher Trifttunnel verband den Schweineschlachthof mit dem Viehhof, sodass die Schweine dem Schlachthof zugeführt werden konnten, ohne die Lagerstraße überqueren zu müssen. Die Anordnung der Bauten des Hamburger Zentralschlachthofs 34 35 Ebd., S. 39–43. Ebd., S. 43. Der Schlachter hält ein Messer in der Hand und zu seinen Füßen stand ein Schwein, das in jüngster Zeit abgebrochen ist. Die Skulptur ist wahrscheinlich Richard Kuöhl zuzuschreiben, der zur Bauzeit des neuen Schweineschlachthofes die meisten Aufträge an den öffentlichen Gebäuden Hamburgs erhielt. Der Stil der Plastik stimmt mit den Werken Kuöhls überein. Zu Richard Kuöhl vgl. Roland Jäger (Hg.): Richard Kuöhl, mit einer Einl. von Rudolf Schmidt, Nachdr. der Ausg. Berlin et al. 1929, Berlin 1998. 96 Barbara Uppenkamp blieb bis zum Ende des 20. Jahrhunderts fast konstant. Im Laufe der Zeit kamen weitere Gebäude hinzu, Kriegsschäden aus dem Zweiten Weltkrieg wurden behoben und die Verwaltungsbauten wurden durch Neubauten ersetzt. Erst seit der Aufhebung des Schlachthauszwangs und der Einführung einer neuen EU-Gesetzesregelung ab Mitte der 1990er Jahre wird auf dem Hamburger Zentralschlachthof nicht mehr geschlachtet. Dennoch bleibt der größte Teil des Geländes dem fleischverarbeitenden Gewerbe und dem Fleischhandel vorbehalten. Nur wenige Gebäude des ehemaligen Zentralschlachthofes sind, ebenso wie die Bauten der Viehhöfe, einer vollständig neuen Nutzung durch Gastronomie, Einzelhandel und Start-up-Unternehmen aus der Kultur- und Medienbranche zugeführt worden.36 Der Arbeitsplatz Schlachthof ist das Sujet zahlreicher Fotografien, die zur Illustration der regelmäßig erscheinenden Berichte der Schlachthofkommissionen dienten. Hier werden die Bauwerke, die Schlachthallen und die technischen Geräte zumeist ohne Personal oder Vieh abgebildet. In den in unregelmäßiger Folge bis in die 1960er Jahre herausgegebenen Publikationen der Hansestadt Hamburg geht es um die Herausstellung der Errungenschaften moderner Technologien im städtischen Betrieb. Zumeist enthalten diese Publikationen einen ersten Teil, in dem der Schlachthof mit seinen Einrichtungen vorgestellt wird und einen zweiten Teil, der den Schlachtbetrieb mit Tabellen und Schlachtzahlen dokumentiert. Die Darstellung der Schlachter bei der Arbeit wurde in den 1920er und 1930er Jahren im Zuge der Neuen Sachlichkeit zu einem interessanten fotografischen Motiv. So hat Lotte Genzsch um 1935 Hamburger Schweineschlachter bei der Arbeit aus dichter Nähe fotografiert, ohne ihren Bildern einen blutgierigen oder sensationsheischenden Anstrich zu geben.37 Diese sachliche Darstellungsweise prägt noch die Schlachthofbroschüren der Nachkriegszeit bis zur Aufhebung des städtischen Zentralschlachthofes. Unter dem Aspekt der physischen und chemischen Umwandlung organischer Substanz betrachtet, ist der Schlachthof ein effizient organisierter Ort des Tötens von Tieren, der Zerlegung der Tierkörper, der Weiterverarbeitung des Fleisches sowie der Verwertung der Abfälle und derjenigen Teile des Tierkadavers, die nicht als Lebensmittel geeignet sind. Das Töten, Ausweiden und Enthäuten der Tiere ist heute keine kommunale Aufgabe mehr und dementsprechend fast ganz aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Es findet in privaten Großbetrieben statt, in denen nicht selten Arbeitsbedingungen herrschen wie ehedem in Chicago. Das Fleisch landet in Plastik verpackt im Kühlregal des Supermarktes und manche Konsumenten und Konsumentinnen machen sich kaum bewusst, dass es sich dabei um ein totes Tier handelt. 36 Vgl. STEG Hamburg und HaGG Hamburg (Hg.): Umbau des südlichen Schlachthofgeländes Hamburg-Karolinenviertel, Hamburg 2000; Schilling / Uppenkamp 2017, S. 59–62. 37 Lotte Genzsch, Schlachten eines Schweins, Fotografie, um 1935, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Inv.-Nr. P2007.495. Entschuldigung – Sie haben da ein totes Tier im Essen Abbildungsnachweis Abb. 1 © Library of Congress, Washington, LC-DIG-pga-0243, http://loc.gov/pictures/resource/pga.02434/ Copyright reg. no. 103163 U.S. Abb. 2 © Library of Congress, Washington, LC-DIG-pga-03169, Abb. 3 Schwarz 1894, 3. neubearb. u. stark verm. Aufl. 1903, S. 237. Abb. 4 Neumann 1910, o.S. Abb. 5 © Foto: Barbara Uppenkamp Abb. 6 © Staatsarchiv Hamburg http://www.loc.gov/pictures/resource/pga.03169/ Copyright reg. no. 5999D U.S. 97 Die Stad t als Or ganismus Atelier van Lieshouts Slave City zwischen Nachhaltigkeitsdiktum und künstlerischer Selbstbefragung Anita Hosseini Die Debatten um Klimawandel, Nachhaltigkeit und Anthropozän bedingen derzeit eine Vielzahl künstlerischer Arbeiten, die sich mit der Kunst oder der Ausstellung als Lebewesen beschäftigen und damit die Einheit von Natur, Kultur und Technik vor Augen stellen. Dem Gaia-Prinzip folgend, das besagt, dass die Erde als Lebensraum einem Organismus gleiche, dessen Bestandteile ihre Erscheinung, Veränderung und Zukunft gleichermaßen bestimmen, verwandeln Künstler wie Pierre Huyghe1 und Philippe Parreno2 die Ausstellungsräume in Orte der Ko- und Interrelation. Kunst, Technik und Natur werden in Interaktion gebracht und so Orte generiert, in denen über metabolistische Prozesse sowie Aktion und Reaktion der einzelnen Werkbestandteile Umwelten geschaffen werden, die sich an natürlichen Mechanismen orientieren und zugleich eine ‚Natur 2.0‘3 zum Thema machen. Technik und Technologie werden zu Elementen einer Verstoffwechselung im Sinne biologischer Prozesse. Sie sind in diesem Geschehen unmittelbar eingebunden und bedingen die Existenz des neugeschaffenen Lebensraumes 1 2 3 Hier beziehe ich mich auf die im Rahmen der Skulptur Projekte Münster im Jahr 2017 entstandene Installation After ALife Ahead. Gemeint ist die vom 25.05.–05.08.2018 stattfindende Ausstellung Rückblick auf eine zukünftige Ausstellung im Martin Gropius Bau in Berlin. Zur Befragung und Genese von Natur durch die Kunst vgl. auch die Einleitung von Hans Dickels Publikation Natur in der zeitgenössischen Kunst, in der er das philosophische und kulturelle Verständnis und Neudefinition von Natur reflektiert und anhand von künstlerischen Arbeiten aufzuspüren versucht. Das neue Verständnis von Natur als Hybrid aus Natur und Kultur werde, Dickel zufolge, besonders durch Installationen und Environments zur Darstellung gebracht. Vgl. Hans Dickel: Natur in der zeitgenössischen Kunst. Konstellationen jenseits von Landschaft und Materialästhetik, München 2016, S. 538, aber auch S. 3944. 100 Anita Hosseini sowie Lebewesens. Hierbei bilden Metabolismen die Grundlage für die Auseinandersetzung mit einer anthropozänen Welt als Folge der ‚big acceleration‘, das heißt der hohen Geschwindigkeit der Gestaltung von Welt und Natur auf der Basis technischer und technologischer Entwicklungen.4 Künstlerische Arbeiten werden demnach zu Medien der Genese von Stoffwechselprozessen, die mit Blick auf korrelative Bedingtheiten Welten der Zukunft schaffen. Die Rolle des Menschen bleibt jedoch unbestimmt: Er ist Schöpfer und Gestalter einer künftigen Welt, aber zugleich auch aus ihr ausgeschlossen, ein Beobachter, der keine relevante (partizipative) Rolle mehr zu spielen vermag. Die Rotterdamer Künstlergruppe Atelier van Lieshout (AvL) jedoch stellt gerade den Menschen ins Zentrum und zeigt durch die multimediale Arbeit Slave City eine mögliche Zukunft, die durch Autarkie und damit völlige Ressourcenfreiheit dem Nachhaltigkeitsdiktum in Gänze entspricht und nur durch und mit dem Menschen geschaffen und erhalten werden kann. Changierend zwischen Drastik und einem Augenzwinkern werden in diesem Werk aktuelle Themen und politische Fragestellungen wie etwa Machtrepräsentation, systemische Defizite, Konsum, Überbevölkerung, Umweltschutz, Klimawandel und Kapitalgesellschaft verhandelt und befragt. Hierbei handelt es sich weniger um den Einsatz neuer Technologien als vielmehr um die Verschiebung sozialer und gesellschaftlicher Normen. AvLs Ziel ist die Schaffung der Grundlagen für ein autarkes Leben, das allen Anforderungen an eine nachhaltige Lebensweise entspricht, dabei jedoch die Wirklichkeit, ihre Ethik und Normen exzessiv auf die Probe stellt. Die Rolle des Menschen ist genau definiert: Er wird zum Agenten, zur Arbeits-, Nahrungs- und Energiequelle und verzichtet zugunsten des Kollektivs auf seine individuellen Ansprüche, wodurch ein Bezug zu faschistischen, aber auch kommunistischen Weltbildern hergestellt wird. Nicht nur gesellschaftsund klimapolitische Aspekte, sondern auch eine referenzielle Selbstbefragung der Kunst zeichnen diese Arbeit aus. Metabolistischen Praktiken kommt dabei eine zentrale Rolle zu. So werden 1. soziale Strukturen in Form einer Stadt als Organismus auf den Kopf gestellt, 2. der Mensch zur Ressource erklärt und 3. das künstlerische Schaffen selbst als metabolistischer Akt gesetzt. Die Stadt der Sklaven – das Konzept Die Stadt der Sklaven funktioniert wie ein geschlossener Organismus, dessen Leben und Überleben durch eine Vielzahl metabolistischer Prozesse gewährleistet wird und auf einer mikrokosmischen Ebene das makrokosmische Prinzip der Erde als Gaia reflektiert. Slave City ist eine konzeptuelle und multimediale Arbeit, die modellhaft das Bild einer Gesellschaft generiert, in dem die Architektur, die Lebensweisen und die 4 Vgl. Jürgen Renn und Bernd Scherer (Hg.): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin 2015, S. 9. Die Stadt als Organismus 101 Abb. 1 Ansicht der Ausstellung Atelier Van Lieshout. Stadt der Sklaven [15.04.06.07.2008] Museum Folkwang, Essen Ressourcenversorgung ausdekliniert werden. Ein Businessplan liefert sämtliche Informationen zur Entwicklung dieser autarken Stadt, die eine Folie zur Befragung gegenwärtiger, gesellschaftlicher Zustände bildet, indem sie mit bissiger Überspitzung eine mögliche Zukunft vergegenwärtigt und Handlungsspielräume eröffnet. Dem Businessplan sowie einer Vielzahl von diagrammatischen Darstellungen (Abb. 1) ist zu entnehmen, dass die Grundfläche der geplanten Stadt 49,37 km2 beträgt und 248.832 Einwohner*innen beherbergt.5 Der Ankauf der Grundfläche würde, laut AvLs Berechnungen aus dem Jahr 2007, 331.301.070 € betragen, die jedoch durch die florierende Wirtschaft schnell finanziert werden können, da mit einem Jahresgewinn in Höhe von 7.500.000.000 € zu rechnen sei. Dieser Jahresumsatz ist die Folge der freien Versorgung innerhalb der Stadt: Energie, Nahrung und Wasser müssen nicht aus externen Quellen importiert werden, sondern werden entweder von den Teilnehmer*innen, wie die Bewohner*innen dieser Stadt von AvL bezeichnet werden, produziert oder stehen durch die Nähe zu Wasserressourcen und fruchtbarem Land in der Umgebung zur Verfügung. Der Alltag der Teilnehmer*innen wird von 7 Stunden Arbeit in sogenannten CallCentern (Wohn- und Arbeitseinheiten), 7 Stunden Arbeit in der Agrarwirtschaft 5 Alle angeführten Zahlen sind dem Business-Plan zu entnehmen. Vgl. Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 248249. 102 Anita Hosseini Abb. 2 Atelier van Lieshout, Schlachtabteilung , mexikanische Keramik, vierteiliges Set bes tehend aus einem großen Teller (47 x 41.5 x 2.5 cm), zwei kleinen Tellern (45 x 31.5 x 2.5 cm und 14.5 x 11.5 x 2.5 cm) sowie einem länglichen Teller (13.5 x 11 x 2.5 cm), 2006 oder Dienstleistung, 3 Stunden Erholung und 7 Stunden Schlaf bestimmt. 6 In etwa 6% der Teilnehmer*innen werden als arbeitsfähig kategorisiert, dennoch tragen alle gleichermaßen zum Erhalt ihrer Stadt bei. Denn die Energieversorgung erfolgt über Biogas, das durch Exkremente und Abfälle gewonnen wird. Ein Überwachungsteam kontrolliert und organisiert die Stadt und ist für die Beseitigung ‚überflüssig‘ gewordener Teilnehmer*innen zuständig.7 Die Entsorgung dieser entspricht dem Prozess 6 7 Diese und die folgenden Angaben werden in diagrammatischen Darstellungen in Acryl auf Leinwand auch im Ausstellungsraum sichtbar (Abb. 1) und können neben weiteren Medien, aus denen sich Slave City zusammensetzt, im oben angegebenen Ausstellungskatalog des Museum Folkwang eingesehen werden. Dieser ist außerdem auch unter folgendem Link digital abrufbar: https://www.ateliervanlieshout.com/wp-content/ uploads/2015/12/SlaveCity.pdf (Zugriff am 01.12.2018). Vgl. Sabine Maria Schmitt: Es ist Menschenfleisch! Zum filmischen und literarischen Kontext der Stadt der Sklaven, in: Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 4853, hier S. 48. Die Stadt als Organismus Abb. 3 Atelier van Lieshout, CallCenter units, Arbeits- und Schlafeinheiten, Stahl, Holz, Gesamtinstallation 1400 x 1200 x 480 cm, 2006, Museum Folkwang, Essen 103 104 Anita Hosseini des Recyclings: Die etwa 35 Kilogramm Fleisch, die ein Menschenkörper im Durchschnitt bereithält, werden verzehrt (Abb. 2),8 wobei gesunde Organe der Getöteten den anderen Teilnehmer*innen zur Steigerung ihrer Leistung transplantiert werden. In Graphen, Zeichnungen, Entwürfen, Modellen und Installationen überführt AvL seit 2005 diese fiktive Stadt in sichtbare Zeugnisse, die ihre potenzielle Existenz begründen. Im musealen, aber auch im öffentlichen Raum werden Orte der Imagination geschaffen, die neben den Modellen und diagrammatischen Darstellungen als begehbare Installationen (Abb. 3) eine immersive Erfahrung ermöglichen und damit das Bild von Slave City auf vielfältige Weise konturieren. Gerechtigkeit, Partizipation und Lebensqualität – Slave City und die Nachhaltigkeit Bereits aus dem Titel und der Konzeptbeschreibung lassen sich Aspekte herauskristallisieren, die das Leben in Slave City als menschenunwürdig charakterisieren: Sklaverei, Kontrolle, Überwachung, stetige Arbeit und Kannibalismus. Dennoch gestaltet sich eine eindeutige Zuschreibung von Gut und Böse im Œuvre von AvL als schwierig und es ist gerade diese Ambivalenz, die die Arbeit ausmacht. Denn Slave City ist nicht nur erschütternd und beängstigend, sondern eröffnet neue Perspektiven auf Leben, Umwelt und Gesellschaft. Mit dem Ziel, den ökologischen Fußabdruck zu reduzieren und die Erde als Lebensraum zu erhalten, liefert das Konzept der Stadt der Sklaven eine umsetzbare und mögliche Lösung, die – (allein) aus dieser Perspektive betrachtet – wie eine Utopie erscheint. Die durch das Nachhaltigkeitsdiktum und das Anthropozän propagierte Zukunftsangst, der allein durch eine Veränderung der Lebensweisen entgegengewirkt werden kann, bildete bereits 1972 den Tenor globaler Umweltschutzbewegungen. Unter dem Slogan „Only one Earth“ fand im Juni 1972 die erste UN-Konferenz zum Thema „Nachhaltigkeit“ statt. Aus der debattenreichen Konferenz resultierte die Überlegung, dass wir „unsere Vorstellung vom Platz des Menschen in der Biosphäre [ändern müssen]. Unser Überleben in einer Welt, in der 8 Der kannibalistische Akt wird in Zeichnungen auf den Porzellantellern, die als Merchandise-Artikel und Bestandteil des Kunstwerks angefertigt sind, dargestellt. Die Darstellungen erinnern sowohl an enzyklopädische Illustrationen, da sie (auf dem großen Teller) die Handlung sowie (auf den dazugehörigen Schälchen) die Details und verwendeten Instrumente zeigen, zum anderen weisen sie Parallelen zur barocken Tradition der Porzellanmalerei auf, die den Alltag ebenso zur Darstellung bringen wie Narrative aus Mythologie, Herrscherrepräsentation oder auch Theologie. Die Darstellung der Schlachtabteilung setzt den Prozess der Tötung von Menschen mit dem der Schlachtung von Nutztieren gleich und damit wird Kannibalismus durch die Verschiebung ethischer Prinzipien legitimiert. Die Stadt als Organismus 105 sich weiter lohnt zu leben, hängt davon ab, ob wir diese neue Wahrnehmung in relevante Prinzipien und konkrete Handlungen umsetzen.“9 Diese Perspektivverschiebung bedingte nachhaltige Handlungsanweisungen. In einem Bericht des australischen Biologen Charles Birch von 1974 werden die Prinzipien nachhaltigen Lebens formuliert10 und bilden die Basis für die drei Säulen der Nachhaltigkeit: Die Soziale, die Ökonomische und die Ökologische. Um diese aufrechtzuerhalten, müssen nachhaltige Handlungsweisen Gerechtigkeit, Partizipation und Lebensqualität gleichermaßen ermöglichen.11 Parallel zu diesen Überlegungen entwickelte sich eine neue Perspektive auf die Erde. So besagt die ab 1971 aus der Zusammenarbeit des Lebenswissenschaftlers James Lovelock und der Evolutionsbiologin Lynn Margulis hervorgegangene Gaia-Theorie, dass die Erde wie ein Organismus funktioniere.12 Jedes Lebewesen, jede Pflanze, jedes Ökosystem, jedes Mineral, jedes Gewässer, die Sonne und die chemischen Bestandteile innerhalb der Luft, der Erde und des Wassers stehen in Abhängigkeit zueinander und schaffen durch ihre Korrelation und Kooperation im Sinne eines autopoietischen Systems den Lebensraum Erde.13 Der Mensch als Teil dieses Systems kann entweder zum Erhalt oder zur Zerstörung dieses einen Lebensraumes beitragen. So fordern die Internationale Union für die Bewahrung der Natur und der natürlichen Ressourcen (IUCN) sowie die UNUmweltorganisation (UNEP) die Beschaffung, die Verwendung und den Erhalt erneuerbarer Ressourcen.14 Diese handlungsorientierte Forderung ist jedoch nicht für alle Bewohner*innen der Erde gleichermaßen umsetzbar,15 woraus sich ein soziales und ökonomisches Gefälle ableitet, das sich in einer Armutsschere manifestiert, 16 die zum Ausgangspunkt weiterer Debatten über die Möglichkeiten der Realisierung nachhaltiger Lebensweisen wird. Die Umsetzung der Ziele Gerechtigkeit, Partizipation und Lebensqualität gerät damit ins Wanken. Wie könnte also eine Welt aussehen, in der diese Ziele umsetzbar werden? Auf diese Frage liefert Slave City eine mögliche Antwort, so drakonisch sie auch sein mag. Die Teilnehmer*innen der Stadt der Sklaven leben von den Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen: Das fruchtbare Land in der Umgebung der Stadt wird agrarwirtschaftlich genutzt und liefert genügend Obst, Gemüse und Getreide. Die 9 10 11 12 13 14 15 16 Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit, München 2010, S. 236237. Vgl. ebd., S. 240. Vgl. ebd., S. 241. Vgl. James Lovelock: Das Gaia-Prinzip: die Biographie unseres Planeten. (Aus dem Engl. übertragen von Peter Gillhofer und Barbara Müller), Zürich / München 1991. Vgl. Grober 2010, S. 242ff. Vgl. ebd., S. 252. Vgl. ebd., S. 253. Vgl. Bruno Latour: Warten auf Gaia. Komposition der gemeinsamen Welt durch Kunst und Politik, in: Michael Hagner (Hg.): Wissenschaft und Demokratie, Berlin 2012, S. 163188, hier S. 169. 106 Anita Hosseini Wasserquellen, welche die Stadt flankieren, versorgen die Bewohner*innen mit ausreichend Wasser. Energie zum Antreiben von Autos, Licht, Motoren etc. wird durch Abfall, aber vor allem auch durch Exkremente in Form von Biogas gewonnen. Die Nachfrage nach Fleisch wird durch die Teilnehmer*innen selbst gedeckt, die nach ihrer Tötung verspeist werden. So fügt sich der Mensch in diesem System ganz im Sinne der Gaia-Theorie in die Kette der Erhaltung der Erde als Organismus ein – er ist für die Sicherung des Lebensraumes ein ebenso wichtiger Bestandteil wie alle anderen Elemente der Erde. Der zum Sinnbild für die Nachhaltigkeit gewordene ökologische Fußabdruck bleibt somit so klein wie möglich. Alles, was die Teilnehmer*innen verbrauchen, geben sie ihrem Lebensraum und dem Kollektiv auch zurück, und setzen dabei keinerlei Grenzen – nicht einmal dann, wenn es um ihr eigenes Leben geht. Die ökologische Nachhaltigkeit wird somit durch das Konzept von AvL vollständig abgedeckt. Durch die autarke Versorgung und die daraus resultierende Autonomie der Stadt werden Importe unnötig und Exporte befördert. Darüber hinaus wird durch die Nutzung und Erneuerung vorhandener Ressourcen, durch die Produktion von Biogas und durch die hohe Arbeitskraft der Teilnehmer*innen der hohe Jahresgewinn erwirtschaftet. Da dieser Ertrag durch das Konzept der Stadt dauerhaft gewährleistet werden kann, löst Slave City die Anforderungen der ökonomischen Nachhaltigkeit ebenfalls ein. Wie verhält es sich nun mit der sozialen Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit sollte dazu dienen Gerechtigkeit und Partizipation zu ermöglichen und die Lebensqualität zu steigern. In Anbetracht der Tatsache, dass die Teilnehmer*innen getötet werden, sobald sie nicht weiter arbeitsfähig sind, scheinen diese Prinzipien vollständig aus dem Konzept der Stadt der Sklaven ausgeklammert zu sein. Soziale Gerechtigkeit unterliegt hier jedoch einer Neubewertung: Gleichheit aller wird nicht auf der Ebene der Freiheit des Individuums und durch seine Entfaltungsmöglichkeiten gewährleistet, sondern durch seine Egalisierung. Alle sind insofern gleich, als sie als Material zum Erhalt der Autarkie und zur Genese erneuerbarer Ressourcen bereitstehen. Dies zeigen auch die Modelle und Zeichnungen, in denen die dargestellten Figuren identitätslos bleiben und eine uniforme Masse bilden, die jede Form von Individualität negiert. Nicht die individuellen Ziele stehen im Fokus, sondern der Bestand der Stadt, die Beschaffung von Kapital und die autonome Versorgung der Gesamtgesellschaft. Freiheit definiert sich hier also als kollektives Gut, als Autonomie der Stadt gegenüber externen Mächten, für welche die individuelle Freiheit aufgegeben werden muss. Herfried Münkler stellt heraus, dass die Knechtschaft stets auf eine externe Macht bezogen werde, verdeutlicht aber, dass es auch Formen der freiwilligen Die Stadt als Organismus 107 Knechtschaft gebe, die zumeist negiert würden. 17 Diese freiwillige Knechtschaft tritt dann zutage, wenn die Lasten der Freiheit nicht zu tragen sind und die Knechtschaft Sicherung der Lebensbedingungen bedeutet.18 Die individuelle Freiheitsabgabe kann eine erstrebenswerte Sicherheit mit sich bringen. Somit sei Knechtschaft wesentlich stärker mit Freiwilligkeit verbunden, wohingegen der Wille zur Freiheit paradoxerweise nur mit Zwang und Erziehung umzusetzen sei. 19 Auch den Teilnehmer*innen von Slave City ermöglicht die freiwillige Knechtschaft gesicherten Wohnraum, finanzielle Mittel und Nahrungsversorgung für alle zu jeder Zeit. Wenn soziale Nachhaltigkeit die Sicherung der Lebensbedingungen meint, so wird dies durch das Konzept von Slave City ebenso eingelöst wie die ökologische und ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit. Trotz der freiwilligen Knechtschaft, die den Erhalt aller lebensnotwendigen Grundlagen gewährleistet und zugleich die Erde schützt, ist die Aussicht auf einen für die Gesellschaft bestimmten Tod alles andere als lebensfreundlich. Daher stellt Claus Leggewie die berechtigte Frage, ob „Freunde der Erde“ auch zugleich „Feinde des Menschen“ sein müssen.20 Im Rahmen der populären Kommunikation von Nachhaltigkeit wird eine Apokalypse in Aussicht gestellt, sollte sich die Menschheit nicht ‚richtig‘ im Sinne der Nachhaltigkeit verhalten und löst damit ein Sicherheitsbedürfnis aus. Doch welches Leben wird durch die Sorge um die Zukunft noch möglich sein? Was sind erstrebenswerte Ziele? Geht es um Leben oder allein um das Überleben der Gattung Mensch? Genau diesen Fragen widmet sich Slave City, in dem es das Bild einer möglichen Realität zeichnet, die sich in allen Punkten der Erhaltung des Systems – dem Erhalt der Erde – verschrieben hat. Das propagierte Leben in dieser konzipierten Stadt schafft im Zusammenhang mit der Erderhaltung und der Nachhaltigkeit eine willkommene Utopie, die jedoch in eine dystopische Vision umschlägt, sobald das Humanitäre, das Individuelle und die persönliche Freiheit in den Fokus geraten. Wie sieht also eine Zukunft aus, die sich allein der Nachhaltigkeit widmet? Ist dieser neu geschaffene Lebensraum noch lebenswert? Innerhalb dieses Kunstwerks werden Imaginationsräume offeriert, die diese Fragen in einem übertragenen Gedankenexperiment exemplarisch beantworten. Durch diese Arbeit erfährt der/die Rezipient*in, wie es sein könnte, beobachtet zu 17 Vgl. Herfried Münkler: Nachhaltige Sicherheit, gesicherte Nachhaltigkeit. Die Beobachtung freiwilliger Knechtschaft und die negativen Utopien des 20. Jahrhunderts, in: Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 131136, hier S. 136. 18 Ebd., S. 132. 19 Vgl. ebd., S. 136. 20 Vgl. Claus Leggewie: Klima-Kommissare. Oder: Müssen Freunde der Erde Feinde der Menschen sein?, in: Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 190201. 108 Anita Hosseini Abb. 4 Atelier van Lieshout, Gedärme-Museum, schematisch, Acryl auf Leinwand, 173 x 191 cm, 2008 sein, kontrolliert zu werden, als Individuum nicht zu zählen, für das Kollektiv zu leben und seine Freiheit für ein hehres Ziel aufzugeben. Im Gegensatz zu den Teilnehmer*innen, mit denen er/sie sich identifiziert, kann er/sie jedoch den Ausstellungsraum verlassen und in die Wirklichkeit zurückkehren, in der er/sie glaubt, frei zu sein. Doch auch diese Freiheit wird in Frage gestellt. Nach dem Verlassen der Ausstellungssituation – nach dem Hinter-Sich-Lassen der augenscheinlichen und ins Exzess durchdeklinierten Sklavenmaschine, in der der Mensch nichts weiter zu sein scheint als ein Teil eines größeren Ganzen  werden auch die realen Lebensumstände hinterfragt. Dies wiederum führt vor Augen, wie sehr die Menschheit durch die systemische Kontrolle und das Sicherheitsbedürfnis bereits jetzt in selbstverschuldeter Sklaverei lebt.21 Der Blick auf diese selbstverschuldete Sklaverei wird zumeist durch Räume der Selbstverwirklichung, durch die Unterhaltungsindustrie und den Konsum verschleiert. Auch in Slave City wurde an diese Beruhigungs-, Ruhigstellungsund Ablenkungsstrategien gedacht. Das Konzept der Stadt hat nämlich einen weiten Bereich zur Steigerung der Lebensqualität vorgesehen, der den Willen zur freiwilligen Knechtschaft befördern soll: So bieten unter anderem die Arschbar, Bordelle, ein 21 Vgl. Tanja Dückers und Anton Landgraf: Wir sind so frei. Selbstausbeutung bei Freiberuflern in kreativen Arbeitsfeldern, in: Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 214220. Die Stadt als Organismus 109 Abb. 5 Atelier van Lieshout, Modell Gedärme-Museum, Schaumstoff, Fiberglas, 110 x 100 x 155 cm, 2008 Einkaufszentrum, Universitäten und das Gedärme-Museum Orte der Unterhaltung, des Konsums, der Selbstentfaltung und der Weiterbildung, die allen Teilnehmer*innen zur Verfügung stehen. Die Modelle, Zeichnungen und Installationen veranschaulichen die Architektur, die für diese Einrichtungen vorgesehen ist. Einige dieser Bauten adaptieren das Aussehen von Bestandteilen des menschlichen Körpers: Die Bordelle sind wie Spermien oder Ovarien geformt, das Einkaufszentrum erinnert an einen Wirbel oder das Rückgrat und das Gedärme-Museum (Abb. 4, Abb. 5) übernimmt die Windungen des menschlichen Verdauungssystems. In ihrer morphologischen Adaption von menschlichen Organen und anatomischen Bestandteilen werden die architektonischen Modelle zu Metaphern für die Erde als Organismus. Die einzelnen Orte zeichnen sich als Bestandteile des lebendigen Kosmos ‚Stadt‘ aus, in denen der Mensch sich seiner Aufgabe als Glied einer Kette bewusst wird, die dem Erhalt der Gesellschaft (mikrokosmisch), aber auch dem des Globus (makrokosmisch) dient. Die frühneuzeitliche modellhafte Gleichsetzung des menschlichen Körpers mit einer Fabrik, in der die einzelnen Organe Maschinen gleich Aufgaben für die Fabrik Mensch übernehmen,22 wird umgedreht. Nun ist das Vorbild nicht die Fabrik, der 22 Wie es etwa in der Schrift des Anatomen Andreas Vesalius Andreae Vesalii Bruxellensis, scholae medicorum Patauinae professoris, de Humani corporis fabrica Libri septem aus dem Jahre 1543 zur Anwendung kommt. 110 Anita Hosseini Mechanismus, sondern die Anatomie, der Organismus, der modellhaft auf urbanistische und damit gesellschaftliche Strukturen übertragen wird. Zugleich wird der Platz des Menschen auf der Erde genau definiert: Ebenso wie alle anderen Bestandteile der Erde soll auch er nicht mehr verbrauchen, als er benötigt, soll den Lebensraum schützen, erhalten und mitgestalten. Als Energielieferant und Nahrungsquelle ist er zudem ein wichtiges Element innerhalb des globalen Stoffwechsels – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die anatomische Formübernahme bedient sich auf einer weiteren Ebene der symbolischen Konnotation unterschiedlicher Körperteile, um die Rolle der jeweiligen Orte innerhalb der konzipierten Gesellschaft sichtbar zu machen. Dementsprechend markiert das Einkaufszentrum als ‚Rückgrat der Gesellschaft‘ die besondere Relevanz von Konsum und Kapital. Die Form der Bordelle nimmt wider Erwarten nicht die Gestalt sekundärer Geschlechtsmerkmale oder anderer erotischer Zeichen an, sondern orientiert sich an Spermien und Ovarien. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Geschlechtsakt in diesen Einrichtungen nicht der reinen sexuellen Befriedigung dienen sollte, sondern vielmehr der Reproduktion. Neben der Fortpflanzung stellt die Reproduktion auch im Sinne der Erschaffung von Ressourcen eine wichtige und stete Aufgabe der Bewohner*innen der Stadt der Sklaven dar. Biogas als die primäre Energiequelle wird durch die Verarbeitung von Exkrementen gewonnen. Somit entwickelt sich das ‚stille Örtchen‘ zu einer Arbeitseinheit, bestehend aus nebeneinander angeordneten Trockentoiletten, dem sogenannten CallCenter (Abb. 3). Dort verrichten die Teilnehmer*innen im wörtlichen Sinne ihr ‚Geschäft‘ und generieren dabei Kapital, gewinnen aber auch Energie, die allen gleichermaßen zugutekommt. Fäkalien, die bestenfalls so entsorgt werden, dass nicht mehr auf ihre Existenz hindeutet als unbedingt notwendig, werden in Slave City zu einer der wichtigsten Energie- und Kapitalquellen. Das, was aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird; das, was nicht wahrgenommen werden soll, das Abstoßende und Ekelerregende, der Stuhlgang, ist das, was die Stadt der Sklaven autonom hält, was Energie generiert, was Kapital schafft. Ein geschlossener Energiekreislauf, der in jeder Hinsicht genutzt wird. Künstlerische Selbstbefragung – Kunst als Stoffwechselprozess Die zentrale Rolle von Fäkalien in Slave City, ihre Neubewertung, Relevanz und Status, wird in den Architekturmodellen gespiegelt und fortgeführt. So nimmt die Arschbar die Form eines Rektums an und das Gedärme-Museum (Abb. 5) ist dem menschlichen Darm nachempfunden. Wie die schematische Darstellung des Museums deutlich macht (Abb. 4), werden den künstlerischen Exponaten unterschiedlicher Gattun- Die Stadt als Organismus 111 gen und Epochen Räume innerhalb des gewundenen Baus zugewiesen. Die Kunst befindet sich im Darm, dem Ort, der für die Verwertung und Ausscheidung der Reste, des Nichtbrauchbaren, der Fäkalien, zuständig ist. Heißt dies also, Kunst = Kot und Kot = Kunst? Was bedeutet es, wenn eine Künstlergruppe in ihrer gesellschaftskritischen und gesellschaftsreflektierenden Arbeit, innerhalb eines Kunstwerks, dem unterschiedliche Kunstgattungen angehören, ein Kunstmuseum entwickelt, das dem Aufbau und der Form des Darms entspricht? Damit drängt sich die Frage nach Kunst, Kunstvermittlung und Kunstmarkt unmittelbar auf. Wird im Kunstmarkt mit ‚Scheiße‘ gehandelt? Wird nur Mist ausgestellt? Wird die geistige Nahrung, die von einem Kunstwerk im sprichwörtlichen Sinne geliefert wird, im Kunstmuseum zu Dung verarbeitet? Oder ist Kunst einfach nur Shit, wie der Künstler Martin Creed vielfach betont? Der Turner-Preisträger Creed beschäftigt sich immer wieder mit der Frage, was es ist, was er tut und lotet dabei seinen Status als Künstler und den seiner Arbeiten aus. In Interviews betont er: The more I work, the more I think I don‘t know what I am doing. I have absolutely no idea what I am doing. It is like sweat or shit. It comes out as I go along [] Art is shit. Art galleries are toilets. Curators are toilet attendants. Artists are bullshitters.23 Damit geht eine Abwertung der Kunst und des Kunstsystems einher, aber zugleich auch eine Kategorisierung künstlerischer Praxis als metabolistischer und damit biologisch notwendiger Akt. Es gibt keinen Ausweg, denn die Kunstproduktion ist eine Notwendigkeit. Sie erfolgt natürlich, auch wenn der Künstler vermeintlich nicht einmal weiß, was er dort tut. Die österreichische Künstlergruppe Gelatin erhebt Kot zur Kunst, indem sie aus Lehm monumentale Skulpturen in Form von Fäkalien anfertigt. Sie möchte das Verdrängte in das Feld der Sichtbarkeit rücken und zugleich aufzeigen, dass es keinen Unterschied mache, wer der/die Urheber*in des Haufens sei, egal welchen Geschlechts, welcher Herkunft oder auch welchem Status er/sie entstammt. Beinahe versöhnlich mutet diese Arbeit an, die getreu dem Gedicht Die Scheiße von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1964 selbigem die Rolle zuschreibt, „eigentümlich gewaltlos“ und „von allen Werken des Menschen vermutlich das friedlichste“ zu sein.24 Diese künstlerischen Auseinandersetzungen mit Exkrementen, bei denen Ekel, Humor und Ironie sowie ein spielerisches, schöpferisches, aber auch kritisches Potenzial nicht auszuklammern sind, weisen die Kunst zum einen als notwendigen, beinahe biologisch determinierten Akt aus, inszenieren zum anderen (vermeintlich 23 Martin Creed im Interview mit Chalotte Higgins: Turner prize-winning artist to have first career retrospective at Hayward Gallery, The Guardian, 09.10.2013, https://www.theguardian.com/artanddesign/2013/oct/09/turnerprize-martin-creed-retrospective-hayward-gallery (Zugriff am 01.12.2018). 24 Hans Magnus Enzensberger: Die Scheiße, in: ders.: Gedichte 19551970, Frankfurt a.M. 1971, S. 156. 112 Anita Hosseini provokant) das Unerwünschte, den Kot, als künstlerische Arbeit und befragen damit das Kunstsystem. Diese Ebenen spielen auch bei AvL eine wichtige Rolle, resultieren aber stets aus der Klassifizierung von Exkrementen als Objekt der Ausscheidung im doppelten Sinne: ausgeschieden aus dem Körper als Abfall des Stoffwechsels, aber auch ausgeschieden aus der Gesellschaft als Übel, mit dem niemand zu tun haben möchte. Die Scheiße steht stellvertretend für Dinge und Handlungen, die uns missfallen, wie Enzensberger betont: Immerzu höre ich von ihr Reden als wär sie an allem Schuld. [] Warum besudeln wir denn ihren guten Namen und leihen ihn dem Präsidenten der USA, den Bullen, dem Krieg und dem Kapitalismus? [] Sie, die Nachgiebige, führen wir auf der Zunge und meinen die Ausbeuter. Sie, die wir ausgedrückt haben, soll nun auch noch ausdrücken unsere Wut?25 Mit diesem Urteil spielen Creed und Gelatin. Kot als Ausscheidungsprodukt entspricht dem Kunstwerk, das der/die Künstler*in ‚ausdrückte‘. Aber er verkörpert auch zugleich das Schlechte, das abwertet oder durch den Sockel, den die Kunstinstitutionen bereitstellen, aufgewertet werden soll. Durch das Konzept der Stadt der Sklaven führt die Parallelisierung von Kunst und Kot nicht etwa zu einer kritischen Abwertung des Kunstwerks, auch werden Exkremente nicht selbst zum Kunstwerk stilisiert und damit aufgewertet. Vielmehr führt die Arbeit vor, wie das Ausgeschiedene, das Unerwünschte, an Wert gewinnen kann. Das Nicht-Beachtete wird zur Energiequelle in Slave City und ermöglicht ihr eine autarke Existenz. Damit wird gerade durch die Parallelsetzung von Kunst und Kot im Kontext dieser konzeptuellen Arbeit die Relevanz von Kunst hervorgehoben. Die Fiktion als Grundlage der künstlerischen Arbeit wird immer mehr zum Feld der Verhandlung und Reflexion über die Realität. Denn der Zugang zur Welt und der Welt im ‚Inneren‘ des Menschen vollzieht sich in der Imagination und durch das Medium Bild. 26 Die Imagination schafft Realitäten und dient zugleich der Erzeugung von Bildern der Realität, mit deren Hilfe Deutungen von Welt erst möglich werden.27 So markiert auch Martin Seel im Zusammenhang mit der künstlerischen Imagination, dass diese „nicht allein eine bestimmte Situation des Inderweltseins dar[stellt], vermöge dieser Darstellung stellt es [das Kunstwerk] eine bestimmte Situation des Lebens her (oder gibt ihr Kontur).“28 25 Ebd. Vgl. Christoph Wulf: Bilder des Menschen. Imaginäre und performative Grundlagen der Kultur, Bielefeld 2014, S. 10. 27 Vgl. ebd., S. 12. 28 Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M. 1996, S. 240. 26 Die Stadt als Organismus 113 Daher besitzt Kunst die Fähigkeit, „den existentiellen Raum ihrer Anschauung korresponsiv zu verändern oder zu verwandeln.“29 Auch AvL schafft nicht nur Räume der Erinnerung und der Ermahnung und auch nicht allein ein Konzept für eine mögliche und künftige Realität, sondern reflektiert die präsente Wirklichkeit, in dem ihr eine konzipierte und in aller Vehemenz durchdeklinierte gegenübergestellt wird. Das Kunstwerk schafft also nicht nur Aufmerksamkeit, sondern bildet sowohl einen Erfahrungs- als auch einen Reflexionsraum. Doch diese durch die Drastik der Arbeit angestoßene Reflexion umfasst nicht nur das Konzept der Stadt der Slaven, sondern bedingt darüber hinaus die Befragung der Wirklichkeit. Eine Gesellschaft wird kreiert, die den zeitgenössischen Anforderungen auf der Ebene des Kapitals und des Umweltschutzes, der Unterhaltungsindustrie und der Reduzierung der Überbevölkerung entspricht. Durch die Konsequenz, in der diese menschenfeindlichen Handlungsweisen das Werk bestimmen und zur Darstellung gebracht werden, drängt sich die Frage auf, wie ernst dies gemeint sein kann – Enthumanisierung zugunsten von Umweltschutz, Kapital und Autarkie? Die Grundfeste der Menschheit – zumindest jene, die von ihr für diese gehalten werden – werden in Frage gestellt. Dies befremdet, irritiert und löst die Frage aus, wie mit diesem Werk umgegangen werden soll. Der Gehalt an Witz und Provokation, der hervorgebracht wird, kann nicht negiert werden. Im wörtlichen Sinne wird darin aus ‚Scheiße Gold gemacht‘. Humor schafft eine Distanz zu der Brutalität der Arbeit und ihrer Konsequenz. Er macht es möglich, zum einen über die Arbeit zu schmunzeln, zum anderen aber auf einer zweiten Ebene über gesellschaftliche und politische Handlungsweisen nachzudenken – je nach Perspektive aber auch über das Medium selbst – die Kunst – ihre Verbreitung und Vermarktung. Das eine schließt demnach das andere nicht aus. Die Arbeit stößt in diesem zweiten Schritt Diskurse an, welche die gegebenen Umstände befragen und zur Diskussion stellen. Der tiefe Ernst lässt sich nur über die humorvolle Distanzierung ertragen, aber nicht verleugnen.30 Die Frage, die sich stellt, ist die nach der realen Wirklichkeit mit ihren politischen und kapitalistischen Praktiken, die bisweilen unbemerkt unsere Leben bestimmen und kontrollieren. Was bleibt, ist eine sichtbare und erfahrbare Realitätskonstruktion, die unter dem Schutzmantel des Künstlerischen alle Lebensweisen erproben kann, die durch humanitäre, individuelle und normative Reglementierung verhindert werden. Die Konstruktion dieser fiktiven Stadt mit dem Ziel der Erhaltung des Lebensraums fordert den/die Betrachter*in auf, das Gewesene, das Präsente und das Bevorstehende sowie die damit verbundenen Handlungsebenen zu bedenken und sich zu diesen zu verhalten. Der Kunst, die hier als metabolistischer Schöpfungsakt mit einem der wertvollsten Güter des autopoetischen Systems Slave City parallelisiert wird, dem Kot, haftet 29 30 Ebd. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Leipzig 1844, S. 100. 114 Anita Hosseini ein kritisches Potenzial an, das die Ausscheidungsprodukte politischer und gesellschaftlicher Debatten aufgreift und diese bis in den Exzess fortspinnt, soweit, bis es beinahe nicht mehr zu ertragen ist und unsere aufgeklärten und säkularen Weltbilder ins Wanken geraten. Kontrolle, Kannibalismus und Kot als Sinnbilder des Unerwünschten werden zu Aspekten der Sicherung von Lebensstandards; die freiwillige Knechtschaft zum Ziel eines Lebens für eine Gesellschaft, in der das Überleben gesichert scheint. Damit wird das, was als Übel angesehen wird, zur Tugend und vice versa. Im Sinne globaler Verstoffwechselung spielen das Individuelle und der Humanismus keine Rolle mehr. Slave City setzt die Leitidee ‚Folge den Naturgesetzen und sichere das Überleben deiner Art, indem du das Überleben der Erde sicherst‘ bis ins Unerträgliche. Damit konfrontiert diese Arbeit die Rezipient*innen aber zugleich auch mit dem, wozu die Menschheit bisher im Stande war und wozu sie im Stande sein könnte. Die Frage, die bleibt ist: Wie wollen wir leben? Abbildungsnachweis Abb. 1 Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 80– 81. Abb. 2 Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 38–39. Abb. 3 Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 97. Abb. 4 Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 260. Abb. 5 Atelier Van Lieshout – Stadt der Sklaven, Ausst. Kat., Museum Folkwang, Essen 2008, S. 22–23. Gesch macksd iff erenzen Kochen als künstlerische Praxis bei Rirkrit Tiravanija Mirja Straub Würziger Curryduft schwebt durch die Räume des Galerieraums. Es ertönt das Geklapper von Besteck und das Gemurmel von Menschen, die essen, trinken und sich unterhalten. An einem schlichten Klapptisch mit einfachen Kochplatten steht ein Mann und kocht. Wer möchte, kann an den Kochtopf herantreten und sich selbst von der darin zubereiteten Speise auftun. Ausgestattet mit Curry und Reis kann man sich zu den anderen Besucher*innen an eine einfache Bierzeltgarnitur setzen. Vor sich die dampfende Speise, wird der Löffel nun in das Essen getaucht und zum Mund geführt. Die heiße Mahlzeit wird im Gaumen ertastet, zerkaut, geschluckt, geschmeckt. In dieser und ähnlicher Form können die Koch-Aktionen des Künstlers Rirkrit Tiravanija beschrieben werden. Seit 1989 besteht ein Teil seines Kunstschaffens darin, in Kunstvereinen und Galerien zu kochen. 1 Dabei haben die Anwesenden die Möglichkeit, diese vom Künstler zubereiteten Speisen auch zu essen. 2 Provisorische Sitzgelegenheiten und einfaches Geschirr sind dafür vorhanden, es gibt Bier und Cola dazu. Tiravanija kocht, während die Besucher*innen da sind. Er bietet in diesem Sinne eine ‚Live-Kochaktion‘ und macht damit nicht nur sich selbst, sondern auch diejenigen, die daran teilhaben und von seinem Essen kosten, zum Bestandteil des Kunstwerks.3 Damit lässt sich seine Koch-Kunst durchaus als eine Fortführung der Eat Art-Bewegung verstehen, einen Begriff, den der Künstler Daniel Spoerri (geboren 1930) ab den 1960er Jahren prägte. Im Vordergrund dieser Kunstströmung 1 2 3 Die Koch-Aktionen stellen nur eine mögliche, wenn auch zentrale Rolle in Tiravanijas Kunstschaffen dar. Darüber hinaus nutzt er verschiedene andere Ausdrucksmöglichkeiten, so Aktionen, Performances und Installationen unterschiedlichster Art. Vgl. hierzu Rirkrit Tiravanija: Cook Book, Bangkok / London 2010. Immer wieder überlässt Tiravanija es auch anderen zu kochen: Künstler*innen, Kurator*innen, Mitarbeiter*innen der jeweiligen Institution, Besucher*innen. Tiravanija nennt es „performance cooking event“ (Tiravanija 2010, S. 12). Hier soll das Wort ‚Koch-Aktion‘ verwendet werden, das Konzept, Prozess und Performance mit einschließt. 116 Mirja Straub stand die Beschäftigung mit Lebensmitteln und damit einhergehende Verwesungsprozesse und Konsumpraktiken.4 Ein zentraler Gedanke war dabei die Verschränkung von Alltag und Kunst. Ein Anliegen, das Tiravanija mit der Eat Art teilt: „I think my work is definitely about being alive. [] My work is about change. [] If people’s attitudes would change towards more life and towards more experience! Letting things burn and cook and boil, that’s great.“ 5 Indem Tiravanija kocht, gelingt es ihm nicht nur, dass seine Kunst lebendig bleibt. Es gelingt ihm auch eine Einbindung in das Alltägliche, in den Kreislauf des Lebens: Denn Tiravanijas Kunst, oder ein Teil davon, wird einverleibt. Sie wird gekaut, anschließend geschluckt, verdaut und damit dem Stoffwechsel – dem Metabolismus  zugeführt. Darin zeigt sich eine Vergänglichkeit seiner Kunst, die nicht in einer Vitrine konserviert werden kann. Zusätzlich verweist sein Kochen auf weit mehr Bedeutungsebenen. Tiravanija äußert sich: „The cooking is therefore very relational. It refers to the culture, the environment, the site, the previous art styles, and all that at once. At the same time it is very basic.“6 In der Ausdrucksform Kochen lassen sich nicht nur Kunst und Alltag miteinander verbinden, sondern es werden auch wichtige Fragen nach Identität, Kultur und Geschmack verhandelt: „The reason for me to cook was more, well, it has to do with an idea of the blurring of art and life, and probably more, but it was also a certain relationship to the idea of identity.“7 Eine zentrale Rolle hierbei spielt der Aspekt des Geschmacks, der in der bisherigen Forschung über den Künstler viel zu kurz gekommen ist. Der eigentliche Spannungsmoment liegt in der Doppeldeutigkeit des Begriffes: Auf der einen Seite die Sinnesfunktion und die sinnliche Wahrnehmung von Essen, auf der anderen Seite die ästhetische (oder intellektuelle) Wahrnehmung und Beurteilung von Gegenständen / Kunstobjekten.8 Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie es dem Künstler über das Spiel mit der Doppeldeutigkeit gelingt, etablierte Geschmacksmuster aufzuzeigen. Eine Strategie des Künstlers ist es dabei, Differenzen aufzumachen und dadurch Irritationen zu schaffen. Dies erreicht er, indem er sich von den Konventionen des Kunst- 4 5 6 7 8 Vgl. Elisabeth Hartung: Die Küche, die Kunst und das Leben, in: Journal Culinaire. Wissenschaft und Kultur des Essens 2/2006, S. 8–9. Tiravanija 2010, S. 9. Ebd., S. 7. Ebd. Seit dem 18. Jahrhundert hat sich dieser Begriff des Geschmacks für die Beurteilung im ästhetischen Kontext eingebürgert. Vgl. Frauke A. Kurbacher Schönborn: Geschmack, in: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart / Weimar 2006, S. 140. Geschmack wird in diesem Zusammenhang als „Sinn für Schönes in Farbe und Form“ (Brockhaus. Die Enzyklopädie, Bd. 7, Wiesbaden 1969, S. 207) definiert. Nach Pierre Bourdieu meint Geschmack hier eine „Fähigkeit, über ästhetische Qualitäten unmittelbar und intuitiv zu urteilen“, so Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), Frankfurt a.M. 2013, S. 171. Geschmacksdifferenzen 117 feldes differenziert. Tiravanija macht den Unterschied – in Bezug auf tradierte Vorstellungen beispielsweise von ‚Kunstwahrnehmung‘, ‚dem Kunstwerk‘, oder ‚dem Künstler‘. Am liebsten hätte Tiravanija nach eigener Aussage „eine Überraschung nach der anderen“, denn er wolle „nicht zu viele Erwartungen erfüllen“; weiter führt er aus: „Manchmal erfülle ich sie, aber wenn man genauer hinsieht, gibt es Überraschungen.“9 Die Überraschungen und dieses Spiel mit den Erwartungen sollen mit einigen Beispielen aufgezeigt werden. Sie sollen es ermöglichen, sich der Haltung des Künstlers anzunähern und zu verstehen, warum er sich das Kochen als künstlerisches Ausdrucksmittel ausgesucht hat. Dem zugrunde liegt zunächst die Absicht, eine neue und andere Art der Wahrnehmung im Kunstkontext zu ermöglichen. Differenz durch Kunstwahrnehmung Tiravanija bringt die Sinnlichkeit, und zwar mit allen Sinnen, in die Kunstwelt: „[I am] looking for a new way to make art possible, other than dealing with it purely on an aesthetic or perceptual level.“10 Rirkrit Tiravanijas Koch-Kunst geht über das reine Sehen hinaus. Sie kann mit allen fünf Sinnen wahrgenommen werden. Damit steht sein Schaffen im Widerspruch zu der gewohnten Rezeption von Kunst: Kunstwerke werden in der Regel betrachtet. In den wenigsten Fällen können oder dürfen die Objekte im Museumskontext berührt werden. Man kann sie selten hören oder riechen, noch viel weniger kann man sie schmecken. Bei Tiravanija ist genau das möglich, wie Thomas Kellein festhält: „The visitors [] can, if they want to eat something, get physically (not just mentally) closer to his works. They are invited in via the handling of pots and pans, the filling of bowls, and the olfactory sensations.“11 Was aber bedeutet es für den Künstler, dass die Kunst, oder ein Teil der Kunst, verspeist werden kann? Zu dieser Frage äußert er sich wie folgt: „It [the food] refers to the way that we deal with art, the way in which the spectator has always been neutral. My art is beyond just looking.“12 Mit dem Einbringen der sinnlichen Wahrnehmung in den Kunstkontext wendet sich Tiravanija bewusst gegen eine Form der „neutralen“ Art der Kunstwahrnehmung, die sich seit der 9 Raimar Stange: Interview Rirkrit Tiravanija, #31 Frühling 2012, https://www.spikeartmagazine.com/de/artikel/interview-rirkrit-tiravanija (Zugriff am 01.08.2018). 10 Carol Lutfy und Lynn Gumpert: A lot to digest, in: ARTNews 05/1997, S. 152. 11 Thomas Kellein: „If you want to make an open fire inside the museum, just make it“, in Tiravanija 2010, S. 145. 12 Mark Sanders: Á la carte art. Rirkrit Tiravanija, artist and chef extraordinaire, spends his time cooking in galleries for the sake of art, in: Dazed&Confused 16/1995, S. 90. 118 Mirja Straub Abb. 1 Rirkrit Tiravanija, untitled 1992 (free), 1992, 303 Gallery, New York Autonomisierung der Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts zur kanonischen Voraussetzung für ästhetische Erfahrung etabliert hat:13 Es ist die Art und Weise, Kunst vornehmlich mit dem Auge aufzunehmen, sie zu objektivieren und zu intellektualisieren, die er zum Thema macht:14 „You’re still always looking for something, looking for it and looking for meaning, when actually you’re in it and the meaning is made through you. I think it’s a different way of experiencing art in that sense. It’s not art as life, it’s different.“15 Tiravanija hat den Anspruch, Situationen zu schaffen, die keine Distanz zum Kunstwerk zulassen, die den Körper in seiner Präsenz und seiner Körperlichkeit immer mit einbeziehen: „My work is not about looking at art but being in it.“ 16 Ein Bestandteil dieses In-der-Kunst-Seins ist auch der soziale Raum, der entsteht, wenn gemeinsam gegessen und getrunken wird. In diesen Zusammenhängen wurden 13 Vgl. hierzu Harald Lemke: Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks, Bielefeld 2007, S. 151–192. Lemke setzt sich in diesem Kapitel mit den ästhetischen Dimensionen des Geschmacks auseinander und hebt die Bedeutung des Sehsinns, gerade in der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, hervor. So zeigt sich, laut Lemke, diese unter anderem in einer Hierarchie der Sinne, die seit der Antike existiert und die den Sehsinn an erster Stelle positioniert. Der Geschmackssinn hingegen nimmt den letzten Platz ein. Dem Sehsinn wird Erkenntnisgewinn zugeschrieben, er wird mit dem Verstand, mit dem Geist assoziiert, ihm sollen Distanz und Objektivität zu Eigen sein. 14 Vgl. hierzu Brian O’Doherty: In der weißen Zelle / Inside the White Cube, hg. v. Wolfgang Kemp, Berlin 1996, S. 34–69. 15 Tiravanija in Laura Trippi: Untitled Artists’ Projects by Janine Antoni, Ben Kinmont, Rirkrit Tiravanija, in: Ron Scapp und Brian Seitz (Hg.): Eating Culture, New York 1998, S. 156. 16 Tiravanija in Sanders 1995, S. 90. Geschmacksdifferenzen 119 Abb. 2 Rirkrit Tiravanija, untitled 1992 (free), 1992, 303 Gallery, New York seine Koch-Aktionen in der Forschungsliteratur bereits mehrfach untersucht und gedeutet.17 Doch diese Deutung soll hier nicht im Fokus stehen, da sie die Arbeit des Künstlers nur an der Oberfläche streift. Schließlich fallen bei der Auseinandersetzung mit Tiravanijas Koch-Aktionen weitere, weitaus tragendere Aspekte ins Auge, die im Kunstkontext gleichfalls ungewöhnlich erscheinen: die Orte, an denen er kocht (an welcher Stelle im Galerieraum), wie er kocht, was er kocht, ob er selbst kocht, oder andere für sich kochen lässt. Im Nachgehen dieser unterschiedlichen Aspekte und damit der ‚Inszenierung‘18 seiner Koch-Aktionen zeigt sich eine institutionskritische Haltung des Künstlers. Exemplarisch dafür kann Tiravanijas erste Einzelausstellung in New York stehen: untitled 1992 (free). 17 Vgl. hierzu u.a. Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon 2010 und Nina Möntmann: Kunst als sozialer Raum: Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green, Köln 2002. 18 In Anlehnung an Martin Steinhoff, der Inszenierung als ein „gestaltetes Erscheinenlassen“ bezeichnet. Dabei gebe es unterschiedliche „Erscheinungsebenen“, die sich überlagern und zwischen aufdecken und verdecken changieren, wodurch die Identität des Werkes verschwimme. Ein zentraler Bestandteil der ästhetischen Betrachtung sei gerade die „Verstellung und Aufdeckung“ des inszenierten Werkes. Vgl. Martin Steinhoff: Einleitung, in: Josef Früchtl und Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, Frankfurt a.M. 2001, S. 7–8. 120 Mirja Straub Differenz durch Inszenierung: untitled 1992 (free) 1992 nutzte Tiravanija die Räumlichkeiten der 303 Gallery in New York für eine ungewöhnliche Anordnung.19 Im eigentlichen Ausstellungsraum versammelte er alle Möbel und Objekte aus den Büros und Lagerräumen der Galerie (Abb. 1). Selbst der Schreibtisch der Mitarbeiter*innen wurde dorthin versetzt, so dass diese vor den Augen der Besucher*innen ihrer Arbeit nachgehen mussten. Übrig blieb nur ein schmaler Durchgang, der die Besucher*innen in den zweiten, ursprünglichen Lagerraum führte, auf dem hier das Augenmerk liegen soll (Abb. 2; Abb. 3). Dort erwartete die Besucher*innen ein würziges Curry, das in zwei Töpfen kochte.20 Dieses ließ sich direkt aus den Töpfen, die auf einfachen Gaskochern auf dem Boden standen, schöpfen. An Klapptischen und Klappstühlen konnte Platz genommen werden. Der Kühlschrank zur Aufbewahrung der Lebensmittel stand mitten im Raum, genauso wie das Verpackungsmaterial der verwendeten Zutaten und die Kochutensilien noch verstreut herumlagen. In Kombination mit dem ‚eigentlichen‘ Ausstellungsraum, der aussah wie ein Lagerraum, machte die Ausstellung Tiravanijas den Eindruck eines Provisoriums, auf das nicht viel Mühe verwendet wurde. Gleichzeitig vermittelte der Raum, in dem gegessen und getrunken wurde, eine karge, fast ungemütliche Nüchternheit. So konnte der Eindruck entstehen, der Künstler habe improvisiert, oder es nicht mehr geschafft aufzuräumen, bevor die Besucher*innen eintreffen. Nichts erinnerte an die cleane Welt des ‚White Cube‘ (wie ihn Brian O’Doherty treffend beschrieben hat21) oder die aufgeräumte Atmosphäre eines schicken Restaurants. Die gesamte Ästhetik der Ausstellung stand also in Differenz zu der bekannten Ästhetik einer Galerie. Sie ermöglichte nicht nur eine andere, ungewohnte Art der Wahrnehmung – über das Essen und das sinnliche, körperliche Erleben – sondern auch eine ungewohnte, beinahe nachlässige Art der Inszenierung. Für die Koch-Aktion hatte sich Tiravanija bewusst den Platz in dem leeren Büroraum zwischen Eingangstür und Fenster ausgesucht, eine Art „nonspace“22. Keiner sonst hätte dort bisher ausgestellt, alle anderen 19 Vgl. Tiravanija in Trippi 1998, S. 153ff. Vgl. auch Jörn Schafaff: Sets and Scenarios. Rirkrit Tiravanija’s untitled 1992 (free), in: Maren Butte, Kirsten Maar und Fiona McGovern (Hg.): Assign and Arrange. Methodologies of Presentation in Art and Dance, Berlin 2014, S. 154–170. 21 O’Doherty 1996, S. 9: „Die ideale Galerie hält vom Kunstwerk alle Hinweise fern, welche die Tatsache, daß es „Kunst“ ist, stören könnten. Sie schirmt das Werk von allem ab, was seiner Selbstbestimmung hinderlich in den Weg tritt. Dies verleiht dem Raum eine gesteigerte Präsenz, wie sie auch andere Räume besitzen, in denen ein geschlossenes Wertsystem durch Wiederholung am Leben erhalten wird. Etwas von der Heiligkeit einer Kirche, etwas von der Gemessenheit des Gerichtssaales, etwas vom Geheimnis des Forschungslabors verbindet sich mit chicem [sic] Design zu einem einzigartigen Kultraum der Ästhetik.“ 22 Tiravanija in Trippi 1998, S. 154. 20 Geschmacksdifferenzen 121 Abb. 3 Rirkrit Tiravanija, untitled 1992 (free): Der Raum, in dem gekocht und gegessen wurde, 1992, 303 Gallery New York Künstler*innen wollten in der Galerie sein. Tiravanija erklärte: „I made that piece because I didn’t want to do what everyone else was trying to do – ‚your first chance to be in a show on West broadway.“23 Und weiter sagt er: „[I]t wasn’t making a masterpiece.“24 Tiravanija scheint sich also mit der Wahl des Ortes, dem „nonspace“, gegenüber den anderen Künstler*innen abzugrenzen. Genauso im nachlässigen Umgang mit der ‚großen Chance‘, in New York die erste Einzelausstellung zu präsentieren. Weder stellt er ein ‚masterpiece‘ aus, noch suggeriert er den Besucher*innen aktiv, dass es sich um einen Beitrag zur Ausstellung handelt. Als Künstler nimmt er sich selbst zurück, wodurch seine Autorschaft aus dem Fokus rückt. Dadurch kann der Eindruck entstehen, bei der Performance handele es sich lediglich um das Catering als Beiwerk zur Ausstellung. Mit seiner nachlässig wirkenden Inszenierung ermöglicht Tiravanija eine Kunsterfahrung, die bei den Besucher*innen Irritationen entstehen lassen und (eventuell in einem zweiten Schritt) Fragen aufwerfen kann: Wo bzw. was ist eigentlich die Kunst hier (denn dass Kunst irgendwo sein muss, legt der Ort der Galerie nahe)? Wer ist der Künstler? Warum ist der Raum so wenig ansprechend hergerichtet? Was bedeutet es, dass die Kunst verspeist werden kann? Gefällt mir diese Art von Inszenierung? Gefällt mir diese Kunst? Schmeckt sie mir? 23 24 Ebd., S. 155. Ebd. 122 Mirja Straub Die Ebene des Geschmacks wird also unweigerlich angestoßen. Dabei ist Geschmack immer verbunden mit einem subjektiven Urteil, einem Geschmacksurteil. Sowohl beim Essen als auch im Bereich des Ästhetischen kann etwas als besonders ‚geschmackvoll‘ oder ‚geschmacklos‘ bezeichnet werden. Allein das Wort ‚Gericht‘ in seiner Zweideutigkeit macht das deutlich, denn es meint nicht nur die Mahlzeit, sondern auch den Ort, an dem Urteile ausgesprochen werden. Diese Geschmacksurteile hinterfragt Tiravanija, wenn er nicht nach den Regeln der Kunstwelt spielt, wenn er kein klassisches Werk schafft, nicht als ‚typischer‘ Künstler auftritt, oder die Galerie nicht als ästhetischen ‚White Cube‘ begreift. Aus diesem Grund bezeichnet Tiravanija die Arbeit in der 303 Gallery als „Institutionskritik“.25 Er untergräbt die Erwartungen des kunstkennenden und kunsterfahrenen Publikums. Die Inszenierung seiner Kunst entspricht nicht dem ‚guten Geschmack‘ im herkömmlichen Sinne. Sie entspricht nicht dem traditionellen Kunstverständnis des ‚White Cube‘. Tiravanija wendet sich gegen den ‚Geschmackskonservatismus‘, indem er mit den Konventionen spielt und herkömmliche Geschmacksurteile über Kunst und den Zugang zu ihr in Frage stellt: Wie wird Kunst wahrgenommen? Wer entscheidet darüber, was gute und was schlechte Kunst ist? Wie ist der Legitimationsprozess? Wer hat Zugang zum Kunstfeld als Feld der Macht? Wer entscheidet, wer ein guter, ein schlechter Künstler ist? Wessen Geschmacksurteil zählt? Der Einsatz des Geschmacks verweist aber auch noch auf etwas anderes: auf das bekannte Sprichwort ‚über Geschmack lässt sich nicht streiten‘. Dieses Sprichwort kommt nicht von ungefähr, macht es doch deutlich, dass Geschmacksurteile stets individuell und deshalb niemals verallgemeinerbar sind.26 Insbesondere der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinem Werk Die feinen Unterschiede von 1979 darauf aufmerksam gemacht, wie stark individuelle Geschmacksvorlieben oder Abneigungen von der jeweiligen Sozialisation abhängen. 27 Wie und wo jemand aufwächst, entscheidet maßgeblich über das, was diese Person mag oder nicht mag. Geschmack ist Unterscheidungsmerkmal, wenn es um Strategien der Distinktion geht, der Abgrenzung gegenüber anderen, der Einteilung in die Gesellschaft. Diese Mechanismen der Distinktion greifen im Kunstkontext genauso wie beim Essen (oder im Kino, in der Literatur, beim Theater, oder bei Musik): Wie jede Geschmacksäußerung eint und trennt die ästhetische Einstellung gleichermaßen. [] Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat – Personen und 25 Vgl. Tiravanija in Trippi 1998, S. 154. Auch wenn Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft versucht hat zu beweisen, dass ein allgemeingültiges Geschmacksurteil existiert. Siehe hierzu Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), Hamburg 2009. 27 Vgl. Bourdieu 2013. 26 Geschmacksdifferenzen 123 Sachen , wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird.28 Mit dem Geschmack wird soziale Differenz deutlich, oder um es mit dem passenden Vokabular auszudrücken: Im Schmecken schmecken wir ‚die feinen Unterschiede‘. Diese feinen Unterschiede greift Tiravanija auf. Seine Kunst trifft zwar auf ein ganz bestimmtes Publikum, das sich innerhalb eines gewissen Kontextes bewegt, aber dennoch auf verschiedene Geschmäcker, sowohl im sozialen, kulturellen und physischen Sinne. Diesen Umstand hebt Tiravanija hervor, um dadurch auf etablierte Geschmacksmuster und Vorurteile aufmerksam zu machen. Aus diesem Grund lohnt es nun genauer hinzuschauen, wenn es um die Rezepte und die von ihm verwendeten Lebensmittel geht. Dabei wird sich zeigen, dass Tiravanija tief in die Materie des Kochens eingreift, und dass er sich mit den Nahrungsmitteln über ihr Dasein als Nährstoff hinaus beschäftigt. Berühmt sind vor allem seine Pad Thais und Curries, die er schon an zahlreichen Orten zubereitet hat oder zubereiten ließ. Es handelt sich um typische thailändische Gerichte, die als ein Verweis auf seine Herkunft und seinen kulturellen Hintergrund zu verstehen sind: Der Künstler wurde 1961 in Buenos Aires geboren und wuchs in Kanada und Thailand auf. Heute lebt er abwechselnd in Berlin, Bangkok und New York. Damit ist Tiravanija ein Künstler, der nicht eine Kultur lebt, sondern mehrere; der nicht nur eine Heimat hat, sondern viele. Immer wieder macht er deshalb über das Kochen als absolute gemeinschaftsstiftende Basis die Vermischung von Kulturen, seine eigene Identität und die der anderen Menschen zum Thema. Eine Strategie, die er häufig nutzt, ist das Verändern von bekannten, traditionellen Rezepten des jeweiligen Landes, in dem er kocht. Nicht nur durch seine Art der Inszenierung entsteht also eine Irritation, aus der sich eine Reflexion über Geschmacksmuster ergeben kann, sondern auch wenn er bekannte Rezepte modifiziert. Anhand von zwei Beispielen soll dies aufgezeigt werden. Differenz durch Irritation: untitled 1994 (swedish meat balls) und untitled 1993 (flädlesuppe) Swedish Meat Ball with Red Curry Infusion 1) 1,300 gram lean ground beef 2) 1,300 gram lean ground pork 3) 2 large egg yolk 4) 1 teaspoon sea salt 28 Ebd., S. 104. 124 Mirja Straub 5) ¼ teaspoon ground black pepper 6) ¼ teaspoon grated nutmeg 7) ¼ teaspoon ground allspice 8) 8 tablespoons red curry paste 9) 2/3 cup Wassa bread or old rye/whole wheat bread (crumbled) 10) 2 cups water 11) 1 tablespoon butter 12) 5 tablespoons minced onion 13) 2 tablespoons flour (all purpose) 14) 2 cups beef stock29 Für The New Reality Mix bereitete Tiravanija 1994 zusammen mit schwedischen Studierenden in Stockholm Hackfleischbällchen zu. Tiravanija berichtet, dass einige Studierende zu dieser Koch-Aktion die Rezepte ihrer Großmütter mitbrachten.30 Damit beziehen sie sich auf die eigene Tradition, indem sie auf überliefertes Schriftgut, in diesem Fall Rezepte, zurückgreifen. Gerade der Geschmack wird vor allem durch Kindheitserinnerungen – man mag das, was man von Zuhause kennt, was die Mutter oder die Großmutter gekocht hat – ausgeprägt. Für Hans Jürgen Teuteberg beispielsweise erscheint es ganz selbstverständlich, dass „die Kennzeichnung ‚gekocht wie zu Großmutters Zeiten‘ immer positive Emotionen auslöst.“ 31 Der Mensch neige unbewusst dazu, „traditionelle und in seiner Lebenswelt vorhandene Geschmacksrichtungen zu adaptieren und fortan als seine eigenen auszugeben.“ 32 Vorbilder spielen in der Ausbildung des Geschmacks für ihn daher eine wichtige Rolle. 33 Rirkrit Tiravanija wurde in seinem Nahrungsverhalten maßgeblich von seiner Großmutter beeinflusst, die ein Restaurant in Bangkok besaß und eine bekannte Fernsehköchin in Thailand war. Der Künstler berichtet in einem Interview, dass er in der Küche ihres Restaurants aufgewachsen sei. 34 Eltern und Großeltern, oder – um es mit Teuteberg zu formulieren – „meinungsbildenden Vorbildern“35 kommt also eine entscheidende Rolle zu, wenn es um die Ausprägung des Geschmacksverhaltens 29 30 31 32 33 34 35 Tiravanija 2010, S. 68. Vgl. ebd., S. 9. Hans Jürgen Teuteberg: Der Essensgeschmack als Brücke zwischen Natur und Kultur, in: Thomas Hauer (Hg.): Das Geheimnis des Geschmacks. Aspekte der Ess- und Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2005, S. 114. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Bruce Hainley: Where Are We Going? And What Are We Doing? Rirkrit Tiravanija’s Art of Living, in: Artforum 2/1996, S. 56, S. 59. Teuteberg 2005, S. 114. Geschmacksdifferenzen 125 geht. Teuteberg weist außerdem darauf hin, dass „geschmackliche Vorlieben und Abneigungen beim Essen und Trinken überall ein charakteristisches Beharrungsvermögen zeigen und sich nur ganz zögerlich verändern“; daher spricht er von einem „prinzipiell vorhandenen Geschmackskonservatismus“36. Tiravanija spielt mit jenem Geschmackskonservatismus, indem er dieses traditionelle schwedische Essen verwandelte und mit Merkmalen seiner eigenen Esskultur vermengte: „[T]hen I would put some Thai curry paste into their meat ball recipe. So it is very similar to the ‚Flädlesoup’ in that way, something very familiar turns in something unexpected.“ 37 Die entscheidende Zutat ist hier die thailändische Currypaste. Sie macht das, was bekannt erscheint, zu etwas Unerwartetem. Die Besucher*innen werden irritiert, weil es nicht wie erwartet schmeckt. Ähnlich setzte Tiravanija die Würze seines thailändischen Hintergrunds bei einer Aktion in Hamburg 1993 ein: untitled 1993 (flädlesuppe): Flädlesoup with Chili 1) 200 gram all purpose flour 2) 2 eggs 3) ¼ liter milk 4) pinch of salt 5) lard / cooking fat / butter (whichever suits your taste) 6) 4 tablespoons chives chopped 7) 1 tablespoon cayenne chili38 Während der Ausstellung Backstage, die 1993 im Hamburger Kunstverein stattfand, kochte Tiravanija Flädlesuppe, ein typisches deutsches, genau genommen schwäbisches Gericht.39 Inspirieren ließ er sich dabei von dem deutschen Film Drachenfutter, der von Einwanderern handelt, die nach Deutschland kommen, dort in einem Restaurant arbeiten und die Frage diskutieren, wie man ein ‚echter Deutscher‘ werden kann. Die Antwort des afrikanischen Hilfskochs lautet: Man muss lernen, wie man Flädlesuppe kocht.40 Während der Ausstellung und während Tiravanija kochte, zeigte er den Film Drachenfutter in einer Dauerschleife auf einem Monitor, der auf einem Regal neben der Küche platziert war. Tiravanija bemerkt dazu: „[T]he soup is 36 Ebd., S. 111–112. Tiravanija 2010, S. 12. 38 Vgl. Tiravanija 2010, S. 50. 39 Vgl. ebd., S. 11–12. 40 Vgl. ebd., S. 11. 37 126 Mirja Straub about the idea of authenticity“41. Zunächst hatte Tiravanija vorgehabt, die Suppe nach dem Originalrezept zu kochen. Dann kam ihm die Idee, Cayennepfeffer hinzuzufügen.42 Eine entscheidende Zutat, welche der traditionell deutschen Suppe eine ungewohnte Geschmacksnuance verlieh. Statt des schwäbischen Geschmacks, den die Besucher*innen erwarteten, schmeckte das Gericht plötzlich anders. Tiravanija konfrontiert mit dieser Aktion die Besucher*innen nicht nur mit ihrer eigenen (deutschen) Kultur, sondern ebenso mit der seinen und damit generell der anderen Kultur. Thomas Kellein bezeichnet Tiravanijas Flädlesoup als „voice-over or a cultural subtext, providing the museum visitor with yet another type of confrontation.“ 43 Er weist außerdem darauf hin: „In Tiravanija’s work, cultures are not reconciled, but collide with each other. However, his work never involves war. It presents co-existences.“44 Die Besucher*innen glauben zu wissen, wie Flädlesuppe schmeckt und erwarten einen gewissen Geschmack. Doch sie werden in ihren Vermutungen nicht bestätigt. Damit wird nicht nur deutlich, wie stark Geschmack und Erinnerung zusammenspielen, sondern ebenfalls wie kulturell aufgeladen eine Mahlzeit sein kann. Eva Barlösius stellt fest, dass die „kulturellen Zuschreibungen“, die eine Speise in sich trägt, so mächtig seien, „daß schon der Gedanke an sie als Genußversprechen wahrgenommen wird“; darin erkennt sie das spezifische Charakteristikum des Geschmacks: „zu verifizieren, ob das Tatsächliche dem Erwarteten entspricht.“ 45 In eben diesen Moment – wenn der Geschmack überprüft und verifiziert wird – greift Tiravanija ein. Thomas Kellein bezeichnet die Aktionen des Künstlers treffend als „gentle traps“ 46. Was die Besucher*innen erwarten, findet keine Bestätigung. Stattdessen werden sie irritiert und konfrontiert und treten in eine Falle. Noch einmal Kellein: „We are invited to eat. But afterwards, we stumble, because we almost always experience a clash of cultures.“47 Diese Irritation lädt zu einer weiteren Reflexion ein; nämlich darüber, was dieser Moment auslöst oder bedeutet und welche Motivation Tiravanijas dahinter steht. Was ist die Symbolik hinter den Speisen, die er zubereitet? Was ist ‚typisch‘ schwedisch / deutsch / thailändisch? Welchen Geschmack kenne ich? Welchen mag ich, welchen nicht? Und warum? Mit was identifiziere ich mich, mit was grenze ich mich ab? Was zähle ich mir zugehörig, was nicht? Dabei spielt der Moment des Hinterfragens eine Rolle. Genauso wie die Tatsache, dass dieser Moment des Schmeckens auf ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und 41 42 43 44 45 46 47 Ebd. Vgl. ebd., S. 12. Kellein, in: Tiravanija 2010, S. 150–151. Ebd., S. 152. Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim / München 1999, S. 85. Vgl. Kellein, in: Tiravanija 2010, S. 152. Ebd. Geschmacksdifferenzen 127 Hintergründen trifft. Dass heißt, wie und was bei den Besucher*innen ankommt, hängt von deren Sozialisation, von deren sozialer und kultureller Herkunft und Erfahrung ab: I think it is that moment when you have to think, well, when is it art work? Or is it ever going to be? I think it occurs differently for different people with different experience. It might not occur at all – which I think is quite good! Or it might be constantly conscious. You bring yourself to it. I like that different level of things. Then maybe some people may try to bring themselves to a different level of thinking.48 Tiravanija schafft nicht nur Differenz als Produzent von Kunst – in seiner Inszenierung und seiner Vorgehensweise – sondern verweist auch auf die Differenz in der Rezeption, im Geschmack, in der Erfahrung, in der Wahrnehmung. Die Wirkung seiner Koch-Aktionen, was wie bei wem ankommt, lässt er dabei bewusst offen. Trotzdem ist es gerade dieses Hinterfragen („when is it art work?“), das ein Nachdenken über Kunstwahrnehmung, über Kunstwerke, Künstlerrollen oder Geschmacksfragen anregen kann. Fundamental bleibt der Gedanke, dass jeder seinen individuellen Geschmack hat. Das lässt die eine weitere Lesart zu: meine Art der Herangehensweise an Kunst ist nur eine mögliche Art. Mein Geschmack ist nur einer von vielen. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um einen Blick ‚über den Tellerrand‘. Das Kochen als grundlegende, gemeinschaftsstiftende Basis zu nehmen, es als immer wiederkehrendes Ausdrucksmittel zu nutzen, scheint dabei ein äußerst kluger Schachzug Tiravanijas. Abbildungsnachweis Abb. 1 Rirkrit Tiravanija, courtesy 303 Gallery, New York Abb. 2 Rirkrit Tiravanija, courtesy 303 Gallery, New York Abb. 3 Rirkrit Tiravanija, courtesy 303 Gallery, New York 48 Ebd., S. 160. Sonja Alhäus er. Einverlei bungen Hedonismus als künstlerische Befragung Dirk Dobke Was Metabolismen – also wörtlich Stoffwechselprozesse – im physiologischen mit solchen im zwischenmenschlichen Sinn gemeinsam haben, untersucht die 1969 geborene, in Berlin lebende Künstlerin Sonja Alhäuser. In der christlichen Lehre steht am Anfang der Menschheitsgeschichte der Sündenfall und der vollzieht sich über die Verführung mit einem Apfel, also über das Essen. „Und auch im Hohen Lied Salomos werden Essen, Trinken und die Liebe in der Weise mit einander verbunden, dass mit Bildern des Essens beschrieben wird, was die Liebenden zu tun wünschen.“1 Die Lust, die Freude, das Vergnügen und der Genuss stecken begrifflich im altgriechischen Wort hēdoné, das der philosophischen Lehre des Hedonismus zu ihrem Namen verhalf. Im Hedonismus geht es aber nicht nur um den Genuss des Einzelnen, sondern grundsätzlich um das Genießen als Streben nach vollkommener Seelenruhe, genannt Ataraxie. Zurück geht diese Theorie auf den griechischen Philosophen Aristippos von Kyrene (ca. 435–ca. 355 v. Chr.), einen Zeitgenossen von Sokrates, der damit eine Erfüllung und Gelassenheit des Individuums in der sozialen Gemeinschaft als Idealzustand definierte. Epikur greift diesen Gedanken auf.2 Ein Grundmotiv seiner Philosophie ist es, nicht nach einem ewigen, glücklichen Leben im Jenseits zu streben, sondern bereits zu Lebzeiten den Zustand der vollendeten Seelenruhe, eben jener Ataraxie, zu erlangen. Dazu sei es unerlässlich, ein ‚erfülltes‘ Leben zu führen, das dann letztlich wieder dem Gemeinwohl diene. Schon nach antiker Auffassung spielt vor allem die Ernährung eine entscheidende Rolle für ein ausgeglichenes und glückliches Leben. Neben der körperlichen Ertüchtigung gelangt man demnach ganz wesentlich über das Essen zum angestrebten Einklang von Körper und Seele. Die- 1 2 Monika Machnicki: Paradiesisch – Die anständige und die unanständige Lust, in: Sonja Alhäuser – Hartgesotten, Ausst. Kat., Städtische Galerie Delmenhorst, 2010. Griechischer Philosoph des Hedonismus, geb. um 341 v. Chr. auf Samos; gest. 271 oder 270 v. Chr. in Athen. 130 Dirk Dobke ser Zusammenhang wird bis heute von vielen als logisch und nachvollziehbar angesehen. Zum philosophischen Ideal eines ‚guten Lebens‘ gab es bereits in der frühen Neuzeit eine umfangreiche Literatur, zu der auch immer eine Diätetik mit entsprechenden Ernährungsempfehlungen gehörte. Dass nicht allein das Denken das menschliche Sein ausmache, sondern sich auch die Ernährung positiv im Geistigen niederschlägt, erklärte beispielsweise im 19. Jahrhundert der Philosoph Ludwig Feuerbach: „Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen. Der Mensch ist, was er ißt.“3 Bis in die Gegenwart haben sich in der Religion wie in der Ernährungsphilosophie ethische Ansätze erhalten oder neu definiert, die unseren Seelen- und Seinszustand ursächlich auf die Ernährung beziehungsweise den gezielten Verzicht auf gewisse Speisen zurückführen wollen. In der jüdischen Küche sind das koschere oder in der arabischen halāl, also erlaubte, zugelassene Speisen. Heute könnte man Feuerbach sinngemäß ergänzen, dass der Mensch nicht nur ist, was er isst, sondern, dass er gerade auch das ist, was er nicht isst. In der zeitgenössischen Ernährungslehre wären da der erstarkende Vegetarismus, Veganismus, das vermeintliche Massenauftreten von Lebensmittel-Unverträglichkeiten oder der Fokus auf ökologisch korrekt produzierte Lebensmittel zu nennen. Gerade bei Ernährungsspezialisierungen, wie wir sie derzeit in der westlichen Welt erleben, findet dieser Ansatz eine fast parareligiöse Fortsetzung, indem Nahrung und Nahrungsausschluss dergestalt ethisch aufgeladen werden, dass ihnen ein stark identitätsstiftender Charakter zukommt. Die eigene soziale Gruppenzugehörigkeit wird heute ganz wesentlich auch über die Ernährung definiert. Unser Streben nach Glück, also nach Liebe, Befriedigung, Anerkennung und damit verbunden nach Genuss und Lust stehen im Zentrum der künstlerischen Arbeit von Sonja Alhäuser. Das zentrale Thema ihrer Kunst ist die Lust als Lebensantrieb und gleichzeitig auch das damit verbundene inhärente oder zumindest immer drohende Scheitern. Der ewige Kreislauf des Lebens beginnt häufig gastrosophisch 4 durch ein genüssliches Füllen des Magens und führt weiter zur körperlichen, sexuellen Lust. Und oft endet er tragisch oder im schlimmsten Fall tödlich. Sonja Alhäuser schildert in ihrem Werk variantenreich den Zusammenhang von Essen und Lust und wie das kulinarische und das körperliche Sich-Einverleiben korrelieren. Einer der ersten, radikalen Auftritte Alhäusers in der Kunstwelt war ein Stand auf der Kunstmesse in Berlin 2001 (Abb. 1). Statt auf der Messe mit künstlerischen Einzelarbeiten 3 4 Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, Bd. 10, Kleinere Schriften III (1846–1850), hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1982, S. 367. Der Begriff geht auf Eugen von Vaerst (1782–1855) zurück und setzt sich aus den altgriechischen Wörtern γαστήρ (gaster=Magen) und σóφos (sophos=kundig, gebildet, weise) zusammen. Eugen von Vaerst: Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851. Sonja Alhäuser. Einverleibungen 131 Abb. 1 Sonja Alhäuser, Messestand, Lebkuchen, Schokolade, Zuckerguss, Marzipan, Nüsse, Karamell, Popcorn, 2001, Messe artforum Berlin (Galerie Sies + Höke, Düsseldorf), zerstört; Foto Achim Kukulies, Düsseldorf vertreten zu werden, erschuf sie gleich den ganzen Stand selbst. Bilder, Skulpturen, also die ‚Kunstwerke‘, aber auch deren Sockel und der Glastisch, der Stuhl und sogar die Wände des Standes waren dazu von der Künstlerin aus Lebensmitteln geformt worden. Die ‚Kunstwerke‘ an den Wänden, aber eben auch das Mobiliar und selbst den Wandputz zeigte sie in verblüffender Materialmimesis unter anderem bestehend aus Lebkuchen, Schokolade und Zuckerguss.5 Die Installation war damit nicht nur eine theoretisch essbare Skulptur, sondern ausdrücklich zum Verzehr durch die Besucher bestimmt. Was auf den ersten Blick als vermeintlich edel gestalteter Messestand erschien, entwickelte sich durch die ihn verzehrenden Besucher schon nach kurzer Zeit in ein drastisches memento mori aus abgebrochenem, angebissenem und genüsslich zerstörtem Kunst-Material. Schließlich blieb von der Installation nur noch ein eher unappetitlich zu nennendes ‚Rest-Kunstwerk‘ für die verbliebene Messezeit stehen. Sie schuf so einen lustvollen und letztlich entlarvenden Verweis auf die Fragwürdigkeit des schönen Scheins der Kunst-Konsumwelt. Nichts ist, was es zu sein scheint, aber immerhin existiert es so lange, wie es ästhetisch auftritt. Und sie definiert ihre radikale Sicht von Eat Art. Kann man aufgegessene Kunst überhaupt 5 Sonja Alhäuser, Messestand, 2001, artforum Berlin, Galerie Sies + Höke, Düsseldorf. 132 Dirk Dobke noch als Kunst ansehen, wenn materiell nichts oder zumindest fast nichts mehr davon übrig ist? In der Zerstörung liegt aus Sicht der Künstlerin wiederum umgekehrt ein schöpferischer Akt, denn das Sich-Einverleiben gehört schließlich zum künstlerischen Konzept und so lässt sie den Betrachter zum Kollaborateur werden. Die sorgfältige gestalterische Arbeit wird durch den sehr wörtlich genommenen Kunstgenuss des Betrachters sozusagen entmaterialisiert. Kurz zuvor war ihr Werk Pyramide (2000) entstanden. Dieses besteht aus zehn aufeinander getürmten Schokoladentrüffeln aus feiner belgischer Schokolade: unten sechs Kugeln, drei in der Mitte und eine oben als Abschluss der Pyramide. Es handelt sich dabei um eine Trüffelarbeit im Riesenformat, denn jede einzelne dieser massiven Schokoladenkugeln hatte einen Durchmesser von 60 cm. Das postminimalistische Arrangement bestach zunächst durch seinen ironisch-strengen Formalismus, ergänzt um einen delikaten olfaktorischen Aspekt. Auch diese Plastik durfte im Laufe der Ausstellung von den Besuchern verspeist werden. In den begleitenden Zeichnungen führte sie einen fantastischen, vermeintlichen Produktionsprozess der Riesentrüffel vor, als würden diese von nackten Konditorinnen mit vollem Körpereinsatz in einem quasi industriellen Rahmen in Form gebracht werden. Die Künstlerin führt mit ihren Installationen auf eine radikale Art die Endlichkeit alles Irdischen und vor allem aber auch die damit denkbare Endlichkeit der Kunst selbst vor. Den ersten Tabubruch in dieser Hinsicht hatten Daniel Spoerri und Dieter Roth in den 1960er Jahren gewagt. Spoerri, indem er auf den Tischen seines Eat Art Restaurants Ende der 1960er Jahre in Düsseldorf nach beendetem Essen alle Reste fixierte und sie in die Vertikale als Fallenbilder zum Tafelbild werden ließ. Roth erweiterte zur gleichen Zeit seine Material-Palette um alle erdenklichen Lebensmittel und ließ diese nach seinem komponierten Arrangement verwesen, verfaulen und verfallen, so sie denn nicht rechtzeitig eintrockneten. Ende der 1960er Jahre führt er die Schokolade als Material in seine Kunst ein. Das war optisch und olfaktorisch für den Rezipienten angenehmer als schimmelnde und sich durch Wurmlarven zersetzende Käsepyramiden und verwesende Hackfleisch-Bilder, mit denen er ab 1965 die Kunstwelt verunsichert hatte. Das Prozesshafte der Kunst durch Verwendung organischer Materialien erlaubte ihm ikonographisch eine neue, radikale Vielschichtigkeit seiner Objekte.6 Laut Jan Voss sah Roth die Kunst und ihre Rezeption generell als „Teil des Stoffwechselkreislaufs“7 an. In seinem treffenderweise Die gesamte Scheisse genannten Lyrikband heißt es: „Mein Auge ist ein Mund“ und „meine Verdauung ist des Auges Bilder“.8 Sonja Alhäuser greift den 6 7 8 Vgl. Dirk Dobke: Melancholischer Nippes – Dieter Roths frühe Objekte und Materialbilder (1960–75), ergänzt und kommentiert von Dieter Roth, 2 Bde., Köln 2002. Jan Voss et al. (Hg.): Dieter Roth. Da drinnen vor dem Auge, Frankfurt a.M. 2005, Jan Voss, Nachwort, S. 304. Diter Rot: Die gesamte Scheiße. Gedichte und Zeichnungen von Diter Rot, Stuttgart 1968, S. 30. Sonja Alhäuser. Einverleibungen 133 Abb. 2 Sonja Alhäuser, Schokoladenmaschine I, Edelstahl, Flüssigschokolade temperiert, Silikon, 105 x 10 x 70 cm, Privatbesitz Tabubruch von der Endlichkeit der Kunst, aller darin liegenden philosophischen Schwere zum Trotz, mit einer gewissen Leichtigkeit in ihrem Werk Ende der 1990er Jahre wieder auf.9 Vor allem Schokolade spielt dabei in ihren frühen plastischen Arbeiten als künstlerisch genutzter Werkstoff eine zentrale Rolle. Anders als die genannten historischen Vorbilder verwendet Alhäuser das ungewöhnliche Material aber nicht reziprok, um den eigenen, sukzessiven Zerfall vorzuführen, sondern explizit als Eat Art und bezieht so den Rezipienten als aktiven Mitgestalter in die Werkentstehung mit ein. In der Schokoladenmaschine I (1997, Abb. 2) verbindet sie suggerierten Genuss mit kühl anmutender Technik. In den einen Meter hohen rechteckigen Edelstahlbehälter füllt sie flüssige Schokolade, die durch Erhitzen am Aushärten gehindert wird. Aus dieser Masse taucht regelmäßig eine kleine, nackte menschliche Figur auf, die von einem Mechanismus so bewegt wird, dass sie auf der einen Seite auftaucht, bis sie fast vollständig aus ihr heraustritt, um an der gegenüberliegenden Seite wieder vollständig in dem braunen Bad zu verschwinden. Die Schokoladenmasse läuft dabei zäh glänzend an der Figur herunter und gibt sie erst langsam frei, bevor die Figur wieder darin untergeht. Durch das zyklische Auf9 Formal ähnlich radikal, wenn auch aus einem anderen Material, verfährt seit einigen Jahren der schweizerische Künstler Urs Fischer, wenn er lebensgroße realistisch abbildende Plastiken, häufig Portraits, aus Wachs formt, die er dann in Ausstellungssituationen wie riesige Kerzen herunterbrennen lässt. 134 Dirk Dobke Abb. 3 Sonja Alhäuser Das Willkommen, 2010 Margarine, Kühlvitrine 180 x 60 x 60 cm, Michael Schultz Gallery, Berlin Sonja Alhäuser. Einverleibungen 135 und Abtauchen erscheint diese jedes Mal wie neu geformt, um sich dann scheinbar wieder in der Masse aufzulösen. So haftet der repetitiven Bewegung neben dem zyklischen Werden und Vergehen zugleich etwas stark Sexuelles an. Fast spielerisch thematisiert die Künstlerin damit auch das Werden der Plastiken aus der flüssigen und dann sich erhärtenden Materie. Wenngleich sie in dieser Arbeit auf den Werkprozess nur anspielt, gießt und modelliert sie normalerweise ihre Schokoladenobjekte durchaus aus erhitzter, zähflüssiger Schokoladenmasse. Bei jüngeren Arbeiten, wie beispielsweise bei Das Willkommen (2010, Abb. 3), einem von Putti lustvoll umspielten, sichtlich erregten nackten Mann aus Ziehmargarine, spielen das Wissen um die weiche Beschaffenheit, die Fragilität und die Notwendigkeit der Konservierung des Materials noch eine Rolle, jedoch nicht mehr der Verzehr. Diese neueren Skulpturen arrangiert Alhäuser in großen Kühlvitrinen, die damit nicht nur Präsentationsform sind, sondern zum Bestandteil der Arbeit werden. Erotisch aufgeladen und zugleich verstörend wirkt die Installation Schokoladenbad (2004). Hier dient ein mit flüssiger Schokolade gefüllter Edelstahlbehälter, der ebenfalls auch eine Wärmevorrichtung verbirgt, als eine Art Badewanne für den Ausstellungsbesucher. Ergänzt wird die Wanne durch einen Paravent, auf den die Künstlerin Handlungsanweisungen gezeichnet hat, wie mit dem Schokoladenbad zu verfahren sei. Demnach ist der Besucher aufgefordert, sich hinter dem Paravent zunächst vollständig zu entkleiden, um dann genüsslich ein Vollbad in der schokoladigen Masse inmitten der Ausstellung zu nehmen. 10 Zeichnungen Wie auf dem Paravent, nehmen neben den skulpturalen Werken ihre überbordend detailreichen Zeichnungen einen großen Raum in ihrem Werk ein. Bei diesen handelt es sich nicht, wie in der gegenständlichen Malerei üblich, um ikonographisch determinierte Schlüsselszenen und somit gemalte Momentaufnahmen, die stellvertretend für eine Handlung stehen, sondern um schrittweise entwickelte, zeichnerisch erzählte Handlungsabläufe mit fast filmischem Charakter. Die prozesshaften Bilderzählungen sind oder wirken vielfach wie gezeichnete Handlungsanweisungen. Sie entwickelt ihre Themen in einer für das Medium Zeichnung ungewöhnlichen Simultaneität der Ereignisse nebeneinander auf dem Papier. Einen eigenen Strang bilden, dem wichtigen kulinarischen Aspekt in ihrem Werk folgend, die Rezeptzeichnungen. Das sind konkret 10 De facto wurde die Installation – vermutlich aus Schamgründen – bislang vom Publikum noch nicht aktiv benutzt, statt dessen badeten darin von der Künstlerin eingesetzte Akteure. 136 Dirk Dobke Abb. 4 Sonja Alhäuser, Maishuhnsuppe, 2001, Aquarell, Acrylweiß und Bleistift auf Papier, 100 x 200 cm, Sammlung Klocker, Innsbruck ausgeführte, mitunter drastisch zugespitzte oder humorvoll verunklärte Kochanweisungen wie in Wildgulasch vom Schwein, einfach (2005), Gladbecker Kaninchenbraten (2006), Lachs lieblich (2013) oder Scampinixen (2013). Bei der großformatigen Zeichnung Maishuhnsuppe (2001, Abb. 4) schildert sie detailliert schrittweise den Ablauf vom abgeernteten Maisfeld über das den Mais fressende Huhn samt seiner organischen Innenansichten, welche den Prozess der Maisverdauung zeigen, über seine Schlachtung, bis hin zur Zubereitung der Suppe mit Knoblauch, Karotten und den hinzugefügten Buchstabennudeln. Jeder einzelne Schritt wird thematisiert. Im unteren rechten Bereich der nicht linear entwickelten Bildhandlung erkennt man schließlich den Sinn und Hintergrund des Rezepts, wenn die fertige Suppe dem offenbar kranken Geliebten zur Stärkung von der Köchin eingelöffelt wird. Die Künstlerin entwickelt die Maishuhnsuppe als großformatige, vielschichtige metabolistische Zeichnung. Das Personal ihrer Zeichnungen ist nicht festgelegt. Es geht ihr weniger um persönlich Erlebtes, als vielmehr um archetypisch Zwischenmenschliches. Alltägliche Begebenheiten stehen neben antik-mythologisch anmutenden Szenen, in anderen Darstellungen lässt sie wie erwähnt barocke Putti frivol agieren. Das zweite große Thema ihrer Zeichnungen ist dementsprechend die zwischenmenschliche, körperliche – also sexuelle – Interaktion. Alhäuser erzählt darin genüsslich und ohne Zensur von Verführung, Liebe, Orgie und Tod in allen erdenklichen Spielarten. Verführung und Liebesakt einschließlich aller möglicher organischer Abläufe werden minutiös und detailiert von ihr geschildert und häufig begleiten „Pfeile [] diese Darstellungen wie bei einer Gebrauchsanweisung. [] Oft werden auch bestimmte als privat, wenn nicht intim angesehene Handlungen wie Uri- Sonja Alhäuser. Einverleibungen 137 nieren oder Ejakulieren durch freizügige Darstellung enttabuisiert.“ 11 Ihre Darstellungen haben bei aller darstellerischen Deutlichkeit nichts Pornographisches, eher assoziiert man eine paradiesische, zwangsläufige Nacktheit der Dargestellten. Die erotischen Handlungen wirken dabei zuweilen fast technisch, wenn sie die Körperteile der Akteure ihren Funktionen entsprechend isoliert und fragmentiert und so den Ablauf des Essens, Trinkens, Sich-Liebens wie im Stopp-Trick-Film in verschiedenen Zuständen zeigt. Häufig weist sie ihren Protagonisten verschiedene Kleider zu, die kostümartig die Akteure begleiten oder lässt unterschiedliche Frisuren wie Perücken über ihren Köpfen schweben. So verdeutlicht sie die Austauschbarkeit der Szenerie und der handelnden Personen. Nicht selten sind die Dargestellten am Ende tot, agieren aber weiter als Skelette, welche die eben noch gelebte Pose als Knochenmann bzw. -frau fortzuführen scheinen. Alhäuser schildert in ihren Papierarbeiten keine konkreten Ereignisse, sondern allgemeingültige und übertragbare Situationen und die immerwährenden Kreisläufe alles Irdischen. Vielleicht stellt sie so mitunter auch konkrete persönliche Erlebnisse dar, die von ihr auf diese Art entpersonalisiert und damit überindividuell lesbar werden. Die Lithographie Schlundschocker (2015) gehört zu ihren jüngeren Arbeiten, die malerischer wirken als viele ihrer früheren Arbeiten, fast abstrakt. In einer amorphen Form zeigt sie einen mit spitzen Zähnen bewehrten Schlund. Erst aus der Nähe definieren sich die für die Künstlerin typischen anspielungsreichen Details. Kinderspielzeuge und Kuscheltiere liegen zwischen Totenschädeln und schmelzenden Schneemännern, darüber ergießen sich endlos zwei Weinkrüge ineinander, analog neben ebenso endlos ineinander speienden Köpfen. An den abgetrennten Schädeln hängen noch Speiseröhre und Magen, die Organe fast ornamental ausgebreitet. Die spitzen Zähne des Mauls werden in der näheren Betrachtung zu triefendem, fädenziehendem Glibber. Der Tod tritt heran und nimmt sich ein Gläschen davon und markiert so das unausweichliche Ende jedes metabolistischen Prozesses. Das aus der Ferne Bedrohliche wird bei genauer Betrachtung noch ins Ekelige gesteigert. Mit einem Mal erscheinen die präzisen, schrittweise von ihr entwickelten Ketten aus Zwangsläufigkeiten motivisch gesprengt. Der Schlundschocker ist bereits die Hölle, ihm fehlen die Euphorie und Leidenschaft des Anfangs oder der sinnliche Rausch der jungen Liebe. Als Horror vacui bezeichnet man bekanntlich die Furcht vor der (bildlichen) Leere, gern verwendet im Zusammenhang der überbordenden Szenerien der Barockmalerei. Bei Sonja Alhäusers Arbeit kommen einem sofort Hieronymus Boschs alptraumartige Szenen wie in der Hölle im Garten der Lüste12 in den Sinn. 11 Ulrike Lehmann: Aus dem Einen kommt das Andere, figürliche Zeichnungen ohne Finale, in: Dirk Dobke, Werner Meyer und Roland Nachtigäller (Hg.): Sonja Alhäuser – Immerzu, Ausst. Kat., Kunsthalle Göppingen / Städtische Galerie Nordhorn, Köln 2007. 12 Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, 1503–1515, 2,2 x 3,89 m, Museo del Prado, Madrid. 138 Dirk Dobke Abb. 5 Sonja Alhäuser, Gesunder Hase, 2006, Acrylfarbe und Bleistift auf Papier, 29,7 x 42 cm, Sammlung Saarländischer Kultur besitz, Saarland Museum Saarbrücken Wenn uns die Künstlerin bislang vorführte, wie das, was froh beginnt, oft in der Tragödie endet, so ist der Schlundschocker das Endstadium. Hier kreist das Böse nur noch um sich selbst, und sein Sog zieht in den Schlund, am Knochenmann vorbei, ins Nichts des leeren Zentrums der Zeichnung.13 Alhäuser entwickelt in ihren Zeichnungen keine Einzelbildabfolgen wie beispielsweise im Comic, sondern schildert ihre Bilderzählungen in synchron ineinander verwobenen, eher assoziativen als linearen Handlungsabläufen. So nähert sich bei ihr das Zeichnerische stark dem Literarischen an. Variantenreich entwickelt sie sinnenfrohe, lustvolle und mitunter erotische Reigen und schildert gleichsam zumeist das ihnen zugedachte bittere Ende. Was froh und orgiastisch beginnt, endet im Kater nach dem Rausch oder womöglich mit dem Tod. Indem die Künstlerin alles gleich farbenfroh und mit leichter Hand entwickelt, versüßt sie dem Betrachter optisch die Schrecken, die das Schicksal noch in der Hinterhand hat. Wenn Hermann Hesse dichtet: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“ 14, so dreht das Sonja Alhäuser mit ihren Zeichnungen charmant um und führt vor, wie sie jedem Anfangszauber eben 13 Schlundschocker, Lithographie für die Griffelkunst-Vereinigung Hamburg e.V., 2015. Teile der Textpassage entstammen Dirk Dobke: Horror vacui, in: Mitgliedermagazin Griffelkunst-Vereinigung Hamburg e.V., 2015, S. 62–63. 14 Auszug aus dem Gedicht Stufen: Hermann Hesse: Ausgewählte Gedichte 1895 bis 1941, Frankfurt a.M. 1970, S. 187. Sonja Alhäuser. Einverleibungen 139 häufig auch schon sein trauriges Ende eingeschrieben sieht. Ihre detailreich ausformulierten Erzählungen erscheinen wie Handlungsanweisungen, wenn sie von berauschender Liebe erzählen, voller sexueller oder expliziter Details. In anderen Zeichnungen zeigt sie kunstvoll verknotetes Gedärm und schildert großformatig und beinahe ornamental Verdauungsvorgänge. Kommt Fleisch in ein Rezept, beginnt sie mit der Darstellung der Schlachtung des Tieres wie in der Arbeit Gesunder Hase (2006, Abb. 5) und führt schonungslos sein Zerlegen und anschließendes Ausweiden vor. Bankett -Performances In ihrer künstlerischen Suche nach dem intensiv erlebten Augenblick, den sie zeigen und an dem sie den Betrachter aktiv teilhaben lassen möchte, hat Sonja Alhäuser mit ihren Banketten so etwas wie eine eigene Performance-Form kreiert. Emsrausch (Abb. 6) betitelte sie das fünfte Festmahl ihrer Aktionsreihe Sechs Bankette ohne Anlass, das im Dezember 2006 im Künstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems stattfand. Die Künstlerin bat zum festlichen Empfang ins ehemalige Schloss und gut hundert auserwählte Gäste erschienen in festlicher Abendgarderobe. Im Zentrum des Abends stand eine prachtvoll geschmückte und mit allem erdenklichen Meeresgetier beladene und skulptural reich geschmückte Tafel im historischen Festsaal des Schlosses. Appetitlich verlockend, wurden die edlen Speisen zunächst durch zwei Saaldiener vor dem direkten Ansturm bewahrt. Gedämpftes Licht und brennende Kerzen, dazu von einem Trio gespielte Kammermusik. Schließlich begrüßte die Künstlerin, stilvoll im Abendkleid, ihre Gäste und eröffnete das Buffet. Die Diener gaben den Gästen den Weg frei zum Schlemmen und Genießen und das kunstvolle Gourmet-Arrangement wurde lustvoll und beinahe rückstandslos geplündert. So fand das Kunstwerk nach gut einer Stunde seinen Abschluss. Zurück blieb eine abgegessene Bankett-Ruine aus Platten, Vorlegetellern und Schalen, bevor alles gereinigt wieder in Schränken und Truhen verschwand. Sterlingsilberne Vorlegeskulpturen und Tischaufsätze erweitern in den letzten Jahren die Bankett-Arrangements als bleibende, auch wieder zu verwendende, eigenständige künstlerische Arbeiten. Die Installation Deutsche Riesen, für sechzig fand in einem ehemaligen Stall der Humboldt-Universität zu Berlin, ebenfalls 2006, statt. Alhäuser setzte dort für einige Wochen ein Dutzend Kaninchen der besonders groß gewachsenen Rasse Deutsche Riesen in das Stallgebäude und zeigte dazu einen Zeichentrickfilm, in dem sie deren Aufzucht, Schlachtung und schließlich ihre Zubereitung als Kaninchengericht vorführte. Das Arrangement war als Installation öffentlich zugänglich. Den Abschluss und 140 Dirk Dobke Abb. 6 Sonja Alhäuser, Emsrausch, 2007, Bankett-Installation, Künstlerhaus Schloß Balmoral, Bad Ems, ca. 400 x 100 x 70 cm, aufgegessen folgerichtigen Höhepunkt der Ausstellung bildete ein feierliches Festmahl mit Kaninchenbraten inmitten der Installation, zu dem sie sechzig Gäste eingeladen hatte. Nachdem diese eingetroffen waren, ließ sie alle Kaninchen einfangen und aus dem Raum bringen, wenig später wurde das Menü serviert. Jede dieser Bankett-Performances wird von der Künstlerin präzise vorbereitet: Zunächst werden der genaue Ablauf, die Speisenfolge und die Präsentation festgelegt und sie entwickelt neben den Speisen den gezeichneten, den essbaren und den sterlingsilbernen Tischschmuck. Dann konzipiert sie das künstlerische Arrangement der Tafel minutiös auf einer Reihe detaillierter Projektzeichnungen und Skizzen. Die Vorarbeiten reichen von grundsätzlichen Ideenskizzen und Entwürfen bis hin zu Vorzeichnungen mythologischer Skulpturen wie den von Putti umspielten Heroen oder Göttern als ephemere Plastiken aus Ziehmargarine oder Butter. In ihren narrativen Rezeptzeichnungen veranschaulicht sie dazu Schritt für Schritt den Zubereitungsprozess und die Darbietung der einzelnen Speisen. Nach diesen Vorarbeiten werden die Speisen in Zusammenarbeit mit einem Koch vorbereitet und es werden Assistenten und Gehilfen rekrutiert. Schließlich begrüßt die Künstlerin die Anwesenden, moderiert den Ablauf des Abends und von da an übernehmen die Gäste ihre eher destruktive, kollaborative Hauptrolle. Erst im Verzehr durch den Rezipienten Sonja Alhäuser. Einverleibungen 141 vollendet sich so die Arbeit der Künstlerin. Alhäuser macht festliche Bankette zu Performances mit barocken Motiven und Elementen, die prunkvoll arrangiert und überbordend wirken, ohne dabei kitschig zu sein, weil sie immer auch den Fatalismus und das drohende Ende thematisieren. „In einer Welt der Selbstoptimierung ist das Unbotmäßige an dieser Kunstaktion die Irrationalität des ungezügelt Rauschhaften“ 15, beschreibt Christoph Tannert seinen Eindruck dieser Bankette. Bleiben die Betrachter normalerweise bei Performances eher unbeteiligte Zuschauer im Hintergrund, so werden sie bei Sonja Alhäuser zum aktiv Ausführenden der Aktion und damit zu genießenden Kunstkannibalen. Erst indem sie sich das Kunstwerk einverleiben, zerstören und vollenden sie es. Die Künstlerin erschafft und gibt ihr Werk dann der intendierten Zerstörung preis. Auf Ekstase und Gier folgen Kater und Ernüchterung und das barockartige Festmahl endet als abgefressene, unansehnliche Tafel. Anders als Daniel Spoerri erhält sie diese Relikte des Orgiastischen jedoch nicht als eigenständige künstlerische Arbeiten. Diesen sehr wörtlich verstandenen Stoffwechsel von Schönheit und Anmut zu (Kunst-)Nahrung führt die Künstlerin in immer neuen Varianten drastisch vor. Damit scheint sie auch die Behauptung, dass Kunst eine rein geistige Nahrung sei, zu verhöhnen. Der Zerstörung des von ihr sorgsam komponierten und aufwendig gestalteten Werkes beizuwohnen, muss schmerzlich für sie sein. Den Rezipienten Freude und Befriedigung zu verschaffen, indem diese sich das eigene Kunstwerk einverleiben und es damit letztlich auslöschen, hat ein aufopferndes und zugleich masochistisches Momentum. Unmittelbarer und wörtlicher wurde das memento mori in der Kunst selten vorgeführt. Die Künstlerin zielt darauf, den feinen Grat zwischen Genuss und Gier beim Betrachter auszuloten und mit anzusehen, wie er zunächst zögerlich und dann zunehmend gieriger seiner Bestimmung nachkommt. Wen anfangs die Ästhetik des Wohlgeformten bremst, dessen Hemmungen fallen mit zunehmender formaler Auflösung. Alhäuser verwöhnt Freunde und Gäste mit unvergesslichen Abenden, die fortan nur noch in deren Erinnerung oder wie im Fall der Emsrausch-Performance zumindest als Filmdokumentation fortbestehen: Im mit Reihen spitzer Zähne bewehrten Maul eines gebratenen Seeteufels, eines der dargereichten Gerichte auf der Tafel, hatte sie eine Spionagekamera installiert, die das Plündern des Banketts aus Sicht des Fisches in Echtzeit dokumentierte. Sonja Alhäuser macht ihre Kunstaktionen zu Festen und hebt die Grenzen zwischen kulinarischen Banketten und Kunstwerken auf. Neben den sinnlichen Stoffwechseln, in denen sich Kunst und Küche liieren, neben dem Kreislauf aus Zeugung und Verspeisung, der sich im Austausch der Lüste bis in den 15 Christoph Tannert: Von der lustvollen Verschwendung des Augenblicks, in: Sonja Alhäuser: Maximelange, Ausst. Kat., Galerie Michael Schultz, Berlin 2013, S. 8. 142 Dirk Dobke symbolischen Kannibalismus zu steigern vermag, findet sich bei Alhäuser eine geradezu grundmotivische Hingabe an die gemeinschaftsstiftende Ekstase des Festes.16 Ihr besonderes Verständnis von Fest-Performances kennzeichnet, dass sie diese als unmittelbar sinnliche Kunst-Erlebnisse für den Gast begreift, die dieser sich nach der von ihr vorgegebenen Dramaturgie einverleibt und die letztlich nur noch in seiner Erinnerung existieren. Damit bewahrt jeder Besucher das Werk als etwas Immaterielles, ausschließlich subjektiv Erinnertes und es bleiben nur ihre Vorzeichnungen als (materielle) künstlerische Arbeiten erhalten. Die Lust am Essen steht bei ihr synonym für sexuelle Lust, und die Künstlerin zeigt, dass das Eine wie das Andere oft nicht von Dauer ist. Das genüssliche SichEinverleiben von Leckereien wird zur Spielart oder zum Vorspiel aller Formen sexueller Einverleibungen. Wenn die antiken Philosophen den Hedonismus als Lehre verstehen, wonach das lustvolle Streben des Menschen nach einem Zustand der absoluten Ausgeglichenheit und Seelenruhe liegen sollte, führt uns Sonja Alhäuser ernüchternd vor, wie Rausch zu Kater und Lust zu Frust werden können und wie die frisch aufkeimende Liebe schließlich im Desaster oder in der Tragödie ihr Ende findet. Dies schildert sie trotz mitunter ungeschönt drastischer Stoffwechseldetails mit einer fast romantisch zu nennenden Hingabe. Ihre Protagonisten stehen für Liebe und ewige Lust. Gleichzeitig zeigt sie schonungslos auf, wie eng Ekstase und Ernüchterung beieinander liegen können. So verhält es sich mit der ersehnten Seelenruhe wie mit dem Glück: Beides sind eher angestrebte Ziele als Zustände von Dauer. Die fatalen Kreisläufe lässt die Künstlerin den Betrachter entweder aktiv selbst vollziehen oder erzählt ihm davon sachlich präzise und visionär in ihren Zeichnungen. Sie schildert fatalistisch die ewigen Zyklen von Verlieben und Entlieben und von Verführung und Trennung als zwangsläufig und nicht anklagend, sondern eher mit dem Credo des amerikanischen Dichters Robert Frost, wenn dieser schreibt: „Happiness Makes Up in Height For What It Lacks in Lenght“.17 16 Sven Grünwitzky: Das weiche Fleisch der Margarinen. Über Sonja Alhäuser, in: Qjubes.com/kunstmagazin, 25.01.2012, http://www.qjubes.com/kunstmagazin/2012/01/sonja-alhaeuser-das-weiche-fleisch-der-margarinenbutter-schokolade-skulpturen/ (Zugriff am 03.10.2018). 17 Übers. d.V.: „Das Glück macht mit Höhe wett, was ihm an Dauer fehlt“. Happiness Makes Up in Height for What It Lacks in Length ist der Titel eines Gedichts von Robert Frost, vgl.: Complete Poems of Robert Frost, New York et al. 1964, S. 445. Sonja Alhäuser. Einverleibungen Abbildungsnachweis Abb. 1 Foto Achim Kukulies, Düsseldorf Abb. 2 Foto Achim Kukulies, Düsseldorf Abb. 3 Foto Jürgen Brinkmann, Hannover Abb. 4 Foto Achim Kukulies, Düsseldorf Abb. 5 Foto Sonja Alhäuser, Berlin Abb. 6 Foto Carsten Gliese, Köln 143 hoe schilder hoe wilder Alkoholkonsum von Malern in den Künstlerviten des Karel van Mander Johanna Mocny Im ersten Teil seines 1604 veröffentlichten Schilder-boeck erläutert Karel van Mander (15481606) wie ein „junger Geist“1 in der Entwicklung zum Maler gefördert werden sollte. Mehrere Seiten sind dem vorbildlichen Verhalten der jungen Künstler gewidmet. Insbesondere in Bezug auf Alkohol und dessen Auswirkungen auf das Benehmen formuliert er die Bitte: „Das Sprichwort, >je mehr Maler; desto wilder<, muss an Bedeutung verlieren.“ / „Het spreekwoord >hoe schilder hoe wilder< moest verdwijnen“2. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Konsum und der Bewertung von Alkohol in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, insbesondere in Verbindung mit den Zielen Karel van Manders für das Ansehen der Malerei sowie einer neuen Generation von Künstlern. Deutlich wird dabei, dass Van Mander seine ablehnende Einstellung zum Rausch in entsprechenden Künstlerviten differenziert: Auch Trunkenbolde und Braumeister können gefällige Kunstwerke produzieren. Der Konsum wird nicht nur gerügt, voller Bewunderung spricht Van Mander von einigen Künstlern über ihre Trinkfestigkeit. Alkohol in der Kunst Die zahllosen Darstellungen von alkoholischen Getränken auf niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts zeugen von der weiten Verbreitung und gesellschaftlichen Akzeptanz von Alkohol als Teil der Mahlzeit. Beispiele, welche alkoholische Getränke 1 2 Hessel Miedema: Karel van Mander: Den grond der edel vry schilder-const, Utrecht 1973, S. 45, Absatz 15. Ebd., S. 78, Anmerkung zu Absatz 23. Zum Sprichwort vgl. Frederik August Stoett: Nederlandse spreekworden, spreekwijzen, uitdrukkingen en gezegden, Zutphen 19231925, Nr. 621, https://www.dbnl.org/tekst/stoe002nede 01_01/stoe002nede01_01_0625.php#v621 (Zugriff am 28.11.2018). 146 Johanna Mocny aus dem Kontext der Mahlzeit lösen, verweisen hingegen auf Bier als Laster und als Rauschmittel. Durch Spuren von Konsum, wie angebissene Lebensmittel oder halbleere Gläser, wird hier unter anderem auf die Wirkung von Alkohol auf den Menschen verwiesen, welche damals wie heute von gemeinem Unfug bis hin zu grober Fahrlässigkeit und Verlust der Beherrschung führen. Jan van de Velde III (1620–1662) präsentiert Bier in einer Aufreihung von Lastern, wie Glücksspiel und Tabakkonsum (Abb. 1). Die minimalistische Darstellung mit wenigen Farben erlaubt es dem Künstler, den Fokus auf einzelne Objekte zu lenken und forciert eine Kontemplation des Betrachters über deren Bedeutung. Die Karten symbolisieren Glücksspiel, eine möglicherweise finanziell fatale Beschäftigung. Tabak- und Alkoholkonsum, durch Pfeife, Ascher und Bierglas dargestellt, weisen auf Rausch- und Suchtmittel sowie die damit einhergehende Maßlosigkeit hin. Das Glas mit den herausgearbeiteten parallelen Ringen kann zudem für ein Trinkspiel genutzt werden. Ziel ist es, das Glas anzusetzen und nur bis zum nächsten Ring zu trinken. Wer die Markierung verfehlt, muss ein weiteres Mal ansetzen. Hier wird gezielt der Überfluss gelebt, ein Rausch angestrebt und der damit verbundene Verlust von Motorik, der räumlichen Verortung, aber auch ein Verlust des moralischen Kompasses in Kauf genommen. Die häufige Darstellung dieser sogenannten Paßgläser auf Genrewerken und Stillleben zeugt von der weiten Verbreitung dieser Gläser, und demnach auch dem Konsum von Bier im Kontext des Trinkspiels als Brauchtum. Auf den Werken von Pieter Claesz (1597/98–1660/61) (Abb. 2) und Willem Claesz Heda (1594–1680) (Abb. 3) sieht man jeweils einen gedeckten Tisch mit allerlei handelsüblichen europäischen Nahrungsmitteln und Getränken; eine moralisierende Botschaft ist hier von den Künstlern nicht vorrangig inszeniert. Im Werk von Pieter Claesz lassen saftige Früchte, glänzende Oliven und knuspriges Brot dem Betrachter das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zur Erfrischung bietet der Künstler einen großen Römer voll Weißwein und ein noch unberührtes, frisch gezapftes Bier mit Schaumkrone an. Das Paßglas bildet auch hier, wie bei Van de Velde III, den höchsten Punkt der diesmal pyramidalen Komposition. Die sich windenden Formen der Lebensmittel, wie die Schale der Zitrone oder die Ranken des Weins sowie eine Überlappung vieler Gegenstände im Bild, suggerieren dem Betrachter, dass alle Objekte zusammengehörig sind und einen Teil eines ganzen opulenten Mahls formen. Willem Claesz Heda hingegen bereitet dem Betrachter ein weniger ausladendes Mahl. An Speisen befinden sich lediglich eine feine Pastete sowie Nüsse und eine Zitrone auf dem Werk. Auch Bier und Wein sind nicht frisch eingegossen, sondern schon zum Teil getrunken. Sein Fokus liegt nicht auf der Darbietung eines frischgedeckten Tischs; im Gegenteil, hier wurde bereits gegessen und getrunken, konsumiert und verdaut. hoe schilder hoe wilder 147 Abb. 1 Jan van de Velde III, Stillleben mit Paßglas, bezeichnet: J. J. van de Velde fecit, Öl auf Holz, 14,6 x 12 cm, Sotheby’s (London, England) 2004-07-08, LotNr. 145 Heda legt in diesem Werk primär Wert auf die verschiedenen kunsthandwerklichen Utensilien. Venezianische, deutsche und niederländische Glasbläserkunst, einfache Silberteller, eine aufwendig und dekorativ geschmiedete Tazza und ein goldener, prunkvoller Zierpokal sowie ein grober Tischläufer und ein feines Leinentuch zeigen im Werk die Vielfalt der Handwerkskunst auf. All diese Objekte waren in den Niederlanden auf Märkten erhältlich. In dieser Fülle zeigt sich die Bandbreite der Waren: luxuriös und alltagstauglich, teuer und erschwinglich, fein und grob. Auch 148 Johanna Mocny Abb. 2 Pieter Claesz, Bankettstillleben, bezeichnet: PC 1654, Öl auf Holz, 57,8 x 73 cm, zuletzt bei Sotheby’s (New York City) 2004-01-22, LotNr. 60 Abb. 3 Willem Claesz Heda, Stillleben mit Trinkgefäßen , bezeichnet: HEDA, 1638, Öl auf Eichenholz, 72 x 90 cm, zuletzt bei Sotheby’s (London, England) 2015-12-08–2015-12-10, LotNr. 37 hoe schilder hoe wilder 149 kunsttheoretisch ist dieses Werk spannend, da nicht nur unter den abgebildeten Objekten eine Dichotomie aufgezeigt wird. Durch die naturgetreue und realistische Malweise, bei welcher die dargestellten Objekte versuchen das Original in Ausführung und Eleganz zu übertreffen, bringt der Künstler eine erweiterte Debatte des Paragone ein: Ist die Malerei vom Handwerk zu trennen und diesem zudem überlegen? 3 Alkoholkonsum von Künstlern in der Kunst Themen und Objekte, welche Künstler im 17. Jahrhundert in ihren Werken darstellen, sind nicht zwingend auch Ausdruck ihrer eigenen Ideen und Bräuche. Moden und Auftraggeber sind entscheidende Einflüsse in der Wahl von Themen und Art der Ausführung. In Selbstbildnissen hingegen können wir jedoch auch Eigenmotivation und Ansichten der Künstler selbst finden. In der Gemäldegalerie Dresden befindet sich ein Selbstbildnis Rembrandts (1606–1669) mit seiner Frau Saskia (1612–1642) (Abb. 4). Das Thema wird als Darstellung des Verlorenen Sohns gedeutet. Rembrandt und seine Frau gehören zur oberen gesellschaftlichen Schicht – auch der verlorene Sohn ist ein studierter, beziehungsweise studierender Mann. Diese dargestellte Szene aus dem Gleichnis beschreibt jedoch einen Moment des moralischen Verfalls, bevor der Sohn wieder nach Hause kehrt. Rembrandt wendet sich hier, mit seiner jungen Frau auf dem Schoß, den Säbelgurt so weit verschoben, dass er ihn zu Not nicht mehr greifen kann, mit breitem Grinsen, in welchem er die Zähne zeigt und mit erhobenem, halb leerem Bierglas, dem Betrachter zu. Eindeutig hat die Laune des Moments Scharfsinn und Vernunft besiegt. Besonders hervorzuheben ist das Signal, dass Rembrandt mit der Inklusion seines eigenen Gesichts hier sendet: Er, der Maler selbst, ein Künstler, ein Geschäftsmann mit Ansehen, also Teil der oberen Schicht, gibt sich dem Bier hin, frönt dem Laster. Im Vergleich zu Rembrandts Selbstportrait unter dem Deckmantel einer biblischen Geschichte, hat sich der Künstler David Teniers II (1610–1690) in einem Selbstbildnis zu den Bauern in der Wirtsstube gesellt (Abb. 5). Er trägt elegantere Kleidung als die anderen Gäste,4 unterscheidet sich in Gestik, Mimik und Handeln jedoch wenig 3 4 Auf die Diskussion um die erhabene Stellung eines Künstlern gegenüber der des Handwerkers wird in diesem Beitrag später, mit der Analyse Van Manders Texten, näher eingegangen. Er verbindet einen gehobenen Geist, also den des Künstlers im Gegensatz zum Handwerker, mit einem moralischen, gesunden und gemäßigten Lebensstil. Fragen zur Stellung der eigenen Zunft innerhalb der Handwerke sind für Van Mander direkt mit dem Auftreten des Künstlers in der Öffentlichkeit verknüpft. Zur hohen gesellschaftlichen Stellung des Teniers II berichtet Joachim Sandrart in seiner Teutschen Academie von des Malers Tätigkeit für den König von Spanien. Siehe Joachim Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675/1679/1680, S. CCXXXI, http://ta.sandrart.net/de/text/545?item= auto18144#auto18144 (Zugriff am 28.11.2018). Arnould Houbraken erwähnt knapp 75 Jahre später auch Königin Christina sowie Erzherzog Leopold und weitere edle Mäzene. Siehe Arnold Houbraken: De groote 150 Johanna Mocny Abb. 4 Rembrandt Harmensz. van Rijn, Rembrandt und Saskia im Gleichnis vom verlorenen Sohn , bezeichnet: Rembrandt f, Öl auf Leinwand, 161 x 131 cm, SKD Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden, Inv.Nr. 1559 von den Bauern in der Taverne. Seine linke Hand, welche den Griff einer großen Amphore umfasst, spiegelt die Hand mit Krug des stehenden Bauern im Hinterzimmer wider. Auch in der Malweise sieht man keine Unterschiede. Während die bäuerlichen Hintergrundfiguren pastöser ausgearbeitet sind, hat Teniers II den eine Pfeife vorbereitenden Bauern zu seiner Rechten mit der gleichen feinen Malweise ausgearbeitet wie sein eigenes Abbild. schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Den Haag 1753, S. 346, https://www.dbnl.org/tekst/houb005groo01_01/houb005groo01_01_0161.php (Zugriff am 28.11.2018). hoe schilder hoe wilder 151 Abb. 5 David Teniers II, Im Wirtshaus, 1646, Öl auf Eichenholz, 42,5 x 55 cm, SKD Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden, Inv.Nr ‚1075 Die Interaktion der beiden scheint von uns, den Betrachtern, unterbrochen. Teniers II richtet seinen Blick auf jemanden außerhalb der Bildgrenze. Die nur mit einer Kante aufgesetzte Amphore und die Andeutung eines Prosits mit seinem Bier scheinen eine Einladung an den Betrachter zu sein, sich zu ihm zu gesellen. Ohne sich einer übertriebenen Symbolik hinzugeben, scheint das Bier, welches der Maler den Betrachter entgegenhält, als ein Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Schichten in dem Werk zu fungieren. Sowohl die Bauern als auch der gehobene Handwerker, der Künstler, erfrischen sich an diesem Getränk, und auch der Betrachter ist eingeladen. Der Bierkonsum wird weder positiv noch negativ gewertet, gepaart mit der einladenden Geste steht das Getränk hier eher für eine gesellschaftliche Konvention, ein eindeutig zu verstehendes Signal an den Betrachter, ohne moralische Konnotation. Im Rahmen von Bildnissen Alkohol trinkender Künstler stellt sich auch die Frage nach dem Konzept des bewusst berauschten Künstlers. Es ist der Quellenlage jedoch nur schwerlich zu entnehmen, inwiefern sich der Künstler im Goldenen Zeitalter, welches die kulturelle und ökonomische Blüteperiode der Niederlande im 17. Jahrhundert umfasst, vorsätzlich betrank, um eine erhöhte Kreativität zu erlangen. Vergleichbar mit den Jahren im Wechsel zum 20. Jahrhundert, in 152 Johanna Mocny denen Künstler sich durch Absinth eine gesteigerte künstlerische Leistung versprachen,5 oder der 1960er und 1970er Jahre, in welchen Künstler ihr Bewusstsein gezielt mit Rauschmitteln erweiterten,6 kann man es sich wahrscheinlich nicht vorstellen. Man kann sich dennoch sicher sein, dass ein gewisser Alkoholgrundpegel bei Bewohnern der Niederländischen Republik, wie auch anderen europäischen Ländern zur selben Zeit, herrschte  sauberes Wasser war Mangelware, und Bier (zwar viel leichter als heute im Alkoholgehalt) war Grundnahrungsmittel. Die Quellenlage in Hinblick auf bewusst berauschte Künstler ist jedoch so dünn, dass neben gesellschaftlichen Anlässen und spontanen Zusammenkünften von Künstlern, ein organisiertes Betrinken zum Zweck der Selbstoptimierung nicht hinreichend belegbar ist. Karel van Mander und die Viten Einblicke in die gesellschaftliche und ästhetische Wahrnehmung des Alkoholkonsums von Künstlern ermöglicht einer der zentralen Texte der niederländischen Kunsttheorie, das Schilder-boeck von Karel van Mander, welcher zudem Maler und aktives Mitglied in der Künstler- sowie Dichtergilde war. Mit zwei anderen Künstlern in Haarlem, Hendrick Goltzius (1558–1617) und Cornelis Cornelisz van Haarlem (1562–1638), betrieb er zudem, was man heute unter einer Kunstakademie verstehen könnte. Durch Reisen in die großen europäischen Kunstzentren der Zeit wie Florenz, Rom, Wien, Nürnberg und Brügge wird Van Mander zu einem belesenen Mann. 7 So war er nach seiner Rückkehr durch den Vertrieb seiner Kunstwerke und Literatur auch maßgeblich an der Verbreitung von italienischen Einflüssen in den Niederlanden beteiligt. Der Erhalt seines Schilder-boeck bis in die heutige Zeit zeugt von der weiten Verbreitung seiner Schriften und demnach auch seiner Ideen. 8 Der zweite Teil des Schilder-boeck erzählt Lebensgeschichten der antiken sowie modernen italienischen Maler nach dem Vorbild der von Giorgo Vasari (1511–1574) verfassten Le Vite. Van Manders Neuerung stellen die Leben der Niederländischen und Hochdeutschen Maler / Het Leven der Doorluchtighe Nederlandtsche, en Hooghduytsche Schilders dar. Hierbei sind 5 6 7 8 Für prominente Beispiele aus der französischen, insbesondere der Pariser, Künstlergemeinde vgl. z. B. Jad Adams: The Drink that fuelled a nation’s art: Degas, Sickert and Toulouse-Lautrec, Tate Etc. issue 5: Autumn 2005, https:// www.tate.org.uk/context-comment/articles/drink-fuelled-nations-art (Zugriff am 24.01.2019). Für Berichte von Zeitzeugen, Analysen von Kunstwerken im Hinblick auf den Konsum von psychodelischen Drogen bei Künstler und/oder Betrachter, sowie einer Verortung der Künstler und Werke in den diversen Kulturströmungen vgl. Ken Johnson: Are you experienced? How Psychedelic Consciousness Transformed Modern Art, München 2011. Vgl. https://rkd.nl/nl/explore/artists/Mander%2C%20Karel%20van%20%28I%29 (Zugriff am 29.11.2018). Zu Einfluss und Verbreitung des Schilder-boeck vgl. Anette de Vries: Hondius meets Van Mander, in: Heiko Damm et al. (Hg.): The Artist as a Reader. On Education and Non-Education of Early Modern Artists, Leiden 2013 (Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture, Bd. 27), S. 264ff; Apendix 1, S. 300301. hoe schilder hoe wilder 153 Künstler aus dem mehrheitlich deutschsprachigen Raum zwischen Nord-und Ostsee und den Alpen gemeint. In den teils langen, teils sehr kurzen Berichten zu bereits verstorbenen aber auch zu zeitgenössischen Künstlern, finden sich Referenzen zu Abstammung und Werdegang der Künstler, Kooperationen mit anderen Malern, berühmte Auftraggeber, Orte, an welchen Werke angesehen werden können, sowie eine Beschreibung und Bewertung des Malstils, der Handwerkskunst, aber auch des Wesens der Künstler, ihres Geistes. In den Künstlerviten finden sich zudem durchweg Hinweise auf den Konsum von Alkohol. Der Kommentar Van Manders reicht von Gegenüberstellungen („im Gegensatz zu seiner noblen Kunst, lebte er ein wildes Leben“ / „neffens zijn edel Const was van een rouw leven“9) über reine Beobachtungen („Sohn eines Brauers“ / „Sijn Vader was een Brouwer“10) bis hin zu Erklärungen für den Absturz eines Menschen („in der Jugend dem Trinken abgeneigt, doch während seines Aufenthalts am Hof, wandte er sich so, dass selbst erfahrene Trinker eingeschüchtert von ihm waren, wodurch er [als Künstler, Anm. d. V.] unterging“ und „durch das Trinken schlecht [als Maler und Mensch, Anm. d. V.] geworden“ 11 / „in zijn jeught heel dronck-hatigh: maer by den grooten verkeerende in Hoven, werdt so heel anders, dat self groote dronckaerts van hem bevreest waren, des het heel met hem verviel“ und „door den dranck heel slecht geworden“). Diese vielseitige Berichterstattung muss jedoch auch kritisch betrachtet werden, da Van Mander auch zum Amüsement des Lesers 9 Hessel Miedema: Karel van Mander. The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters, from the first edition of the Schilder-boeck (16031604), Bd. 1, Doornspijk 1994, fol. 219r, Das Leben des Joachim Patinir: „im Gegensatz zu seiner noblen Kunst, lebte er ein wildes Leben, war dem Trinken zugeneigt, sodass er ganze Tage im Wirtshaus verbrachte und sein Vermögen verprasste bis, er von der Not getrieben, wieder zum geldbringenden Pinsel greifen musste.“ / „Desen Patenier was een Mensch, die neffens zijn edel Const was van een rouw leven, seer tot den dranck gheneghen, dat hy heel daghen sat in de Herbergh, zijn ghewin overdadigh doorbrenghende, tot dat hy dan door noodt ghedronghen hem tot de gheld-vruchtighe Pinceelen most begheven“. Übersetzungen ins Deutsche von der Autorin. 10 Ebd., fol. 226r: Das Leben des Augustijn Joorisz., maler zu Delft. 11 Ebd., fol. 227v: Das Leben des Swart Jan, oder Jan Swart, kunt-voler Maler zu Groningen „Dann gab es da auch einen höchst kunst-vollen, namenhaften Portraitist, Cornelis, geboren in Gouda, ein Schüler des Heemskerck; in seiner Jugend war er dem Trinken sehr abgeneigt, doch während seines Aufenthalts am Hof in der Gesellschaft der Großen, wandte er sich dramatisch, sodass selbst große Trinker ihn bewunderten, und daraufhin geriet er in Vergessenheit und wurde ein Schluderer, deshalb müssen Jugendliche nicht seinem Beispiel folgenDa gab es auch einen feinen Maler und Portraitierst, namens Hans Bamesbier, ein Deutscher, ein Schüler des Lambert Lombardus – auch er wurde sehr schlecht in hohem Alter durch das Trinken.“ / „Daer is noch gheweest een seer constigh dapper Conterfeyter nae t’leven, Cornelis, gheboren ter Goude, een Discipel van Hemskerck: desen was in zijn jeught heel dronckhatigh: maer by den grooten verkeerende in Hoven, werdt so heel anders, dat self groote dronckaerts van hem bevreest waren, des het heel met hem verviel, en werdt een brodder, waerom de jeught sulcke voorbeelden te volgen sal vermijden. [] Daer is noch geweest een fraey Schilder en Conterfeyter, genoemt Hans Bamesbier, een Hooghduyts, een Discipel van Lambert Lombardus: desen is in zijn ouderdom oock door den dranck heel slecht geworden“. 154 Johanna Mocny schreibt, wie die folgenden, dramatischen aber auch humorvollen Textstellen belegen. In der Beschreibung Das Leben des Jan Mostart, Maler zu Haarlem findet sich ein geselliges Ritual in der Werkstatt des Malers: „[] zum Frühstück [] tranken alle gemeinsam von einem Humpen Bier, welchen sie untereinander herumreichten.“ / „t’ontbijten [] droncken een can bier onder malcander om“ 12. Auch in Leiden trinken Gesellen gemeinsam mit ihren Meistern: Das Leben des Aertgen von Leiden, Maler Er hatte einen Brauch, dass er montags nur wenig oder gar nicht arbeitete, sondern mit seinen Schülern ins Wirtshaus ging und sich mit ihnen vergnügte; obwohl er, von Natur aus, kein Trunkenbold war. Hy hiel een ghewoont, dat hy des Maendaeghs weynigh oft selden wrocht: maer gingh met zijn Discipulen in de herberghe, om hem met hun te verlustighen, van natueren doch geen dronckaert wesende.13 Minder herzlich geht hingegen der Lehrmeister Jan Scorels mit seinen Schülern um: Sein Meister hatte ihn nur mit striktem Dreijahresvertrag genommen; bei Abbruch der Lehre musste seine Familie für Verluste aufkommen. Der Meister war ein Trunkenbold und drohte Scorel regelmäßig mit dem Vertrag, sollte der junge Maler, welcher dem Meister schon im ersten Lehrjahr viel Gewinn einbrachte, ihn frühzeitig verlassen. „Jan, erinnere dich, ich habe dich in der Hand.“ / „Ian, weet dat ick u in mijn Tessche draghe“14. Van Mander setzt hier Wut und irrationale Argumentation in direkten Verbund mit der Trunksucht des Meisters. Abwertend fallen die Kommentare jedoch nicht allzeit aus. In der Lebensbeschreibung des Lehrers des Van Mander, Pieter Vlerick, und wiederum seinem Lehrmeister Carel van Yper, kommt eine amüsante Geschichte zu Tage: Ein Mal verließen sich beide auf einander, und glaubten, des anderen Geldbeutel prall gefüllt; als es zur Abrechnung kam hatte keiner von beiden Geld. Was taten sie? Sie gaben dem Wirt all ihre Socken als Zahlungsversprechen, schwärzten ihre Beine, zogen ihre Schuhe an, banden ihre Strumpfbänder und gingen so – und es sah aus wie feine Stümpfe, welche sehr eng anlagen. Verlieten hun eens op malcander, meenende elck dat een anders buydel wel gespeckt was: en als men t’gelagh betalen soude, hadde niemant ghelt. Wat hadden sy te doen? Gaven den Weerdt al hun nederbasen, oft coussen te pandt, namen swartsel, en maeckten hun 12 Ebd., fol. 229r. Ebd., fol. 237r. 14 Ebd., fol. 234v. 13 hoe schilder hoe wilder 155 beenen swart, deden hun schoenen aen, en bonden de coussebanden aen, ginghen soo heen, en het gheleken seer fijn hosen te wesen, die heel dicht aen de beenen pasten.15 Diese vielseitigen Berichte zeugen davon, wie Alkoholkonsum und ein Künstlerdasein Hand in Hand gingen. Die Beispiele zeigen auch, welchen Einfluss Alkohol auf den Menschen und seinen Geist hat – körperlicher und moralischer Verfall sind Produkt des Konsums. Bei Künstlern, welche großes Ansehen bei Van Mander genießen, ist er nicht ganz so maßregelnd wie bei anderen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist neben der vorausgegangenen Erzählung von seinem eigenen Lehrmeister, die Vita des Frans Floris.16 In dieser Erzählung eint sich die Beschreibung von einem großen Meister, seiner Kunst, seinem Leben und seiner Laster. Die Vita des Frans Floris Van Manders Beschreibung des Lebens des Frans Floris (1519/20–1570) beginnt mit einem Vergleich von Kunstfertigkeit in Italien und in den Niederlanden. Er geht insbesondere auf die meisterhafte Art des Floris ein, einen dargestellten Körper an das Alter des Menschen anzupassen. Was andere als zähe oder trockene Figuren missverstehen, ist eine Beobachtung der Natur, welche auch Raffael von Urbino meisterte. Van Mander verteidigt Frans Floris also vor seinen zeitgenössischen Kritikern, welche oft nur Stiche oder Zeichnungen nach seinen Werken gesehen hatten, und darauf ihre Meinung begründeten. Als nächstes widmet Van Mander sich der Herkunft des Frans Floris. Bis hin zu seinem Großvater beschreibt Van Mander Männer mit herausragenden kreativen und handwerklichen Fähigkeiten. Weiter geht es mit der Beschreibung seines künstlerischen Werdegangs. Begonnen als Bildhauer, kam er mit 20 Jahren in das Atelier des Lambert Lombardus, von welchem er (laut dem Meister selbst) die Kunst stahl – diese Anekdote gibt Van Mander die Möglichkeit Frans Floris mit Zeuxis zu vergleichen, welcher Apollodor die Kunst stahl. 17 Im Anschluss an die Lehrzeit geht Frans Floris nach Italien, um dort die alten Meister zu studieren. Nach der Rückkehr in die Niederlande hatte sich Frans Floris schnell einen Namen machen können – nicht nur durch Werke, welche öffentlich zugänglich gezeigt wurden, sondern auch durch seine eloquente Art, welche Van Mander besonders unterstreicht. 15 Ebd., fol. 250v. Ebd., fol. 238v bis fol. 243v. 17 Zu Plinius: XXXV, 62 siehe Roderich König: Gaius Plinius Secundus: Naturkunde, Bd. 35, Düsseldorf 2013, S. 55, https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/231481 (Zugriff am 30.11.2018). 16 156 Johanna Mocny [] jedoch später, als Reichtum und Überfluss bei ihm seinen Platz gefunden hatten, durch die gut-bezahlten großen Kirchen Werke, und andere, und als er von Prinzen und großen Herren weggezogen wurde, und von manchen angelockt und verleitet wurde seine Zeit zu verschwenden, begann er in unsere typisch Niederländische Krankheit der Trunksucht zu verfallen, sodass er der Kunst und seinem edlen Geist zu Unrecht, als ein ebenso großer Trunkenbold wie Maler gehalten wurde. [] dan naderhandt, doe den rijckdom en overvloet by hem plaetse hadden, door de wel beloonde groote Kerck wercken, en ander, also hy by Princen en groote Heeren werdt voortghetrocken, en van sommighen daer toe aengelockt en verleydt, is tijt-quistigh begonnen vallen in ons ghemeen Nederlandtsche sieckte van dranck-liefdicheyt, soo dat hy de Const en zijnen edelen gheest ongelijck doende, werdt ghehouden voor een also groot Dronckaert als Schilder.18 Nach dieser Anekdote, die bezeugen soll, dass sich auch Zeitgenossen um den Maler sorgten, will Van Mander sich den Errungenschaften des Frans Floris widmen – doch nicht ohne zuvor über viele Zeilen hinweg eine Warnung auszusprechen. Hierbei ist aufschlußreich, wie er die gesellschaftliche Akzeptanz von Alkoholkonsum erläutert: Mit Unlust werde ich hier nun von einigen seiner Exzesse erzählen, wobei ich doch hoffe, dass diese zu mehr Unverständnis und Horror führen als dass sie nachgemacht und gepriesen werden, und dass die Künstler und unsere Jugend, so stark [trinkfest, Anm. d. V.] wie sie auch sind, nicht versuchen Ruhm auf diese Art zu gewinnen; denn obwohl bei uns Germanischen das exzessive, unbedachte Trinken generell toleriert wird und nicht als Schande, wertlos und sündiger Missbrauch gesehen wird – ja, in manchen Kreisen das Vermögen viel trinken zu können gepriesen und gerühmt wird – sehen andere vernünftige Nationen diese brotlose Kunst als die mit der meisten Schande der Welt, ja eher als bestialische, unbedachte und unnatürlichste Sünde, und als wirklich verdorbene Mutter aller Missgunst und Zügellosigkeit an, und vermeiden diese Scheußlichkeit. Met onlust sal ick hier nu eenighe zijner overdadighe stucken verhalen, die ick wensch meer ghelastert en verwondert onder die van onse Const, als naeghevolght en ghepresen mochten worden, en dat de Jeught, hoe sterck vermogende, hier in geen vermaertheyt en sochten te becomen: want of al schoon by ons Duytschen met onrecht t’onmaetlijck overdadigh drincken in’t gemeen wort geleden, oft als geen schandigh vuyl sondigh misbruyck aengesien: maer te som plaetsen t’veel drancks vermoghen ghepresen en gheroemt. Soo wort by ander vernuftighe volcken dese brooloose Const ghehouden voor de meeste vuyle schande van der Weerelt, jae meer als beestlijcke, onredelijcke, en onnatuerlijcke zonde, 18 Hessel Miedema: Karel van Mander. The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters, from the first edition of the Schilder-boeck (16031604), Bd. 1, Doornspijk 1994, fol. 240r. hoe schilder hoe wilder 157 en als een verderflijcke rechte Moeder aller quaetwillicheyt en ongheschicktheden, ghelastert, ghegrouwelt, en ghevloden.19 Der Autor belässt es nicht bei dieser generellen Warnung, viele weitere Zeilen widmet er nun konkreten Geschichten um Trinkgelage bei Frans Floris zu Hause, im Atelier und in Wirtshäusern. Das Schicksal des Frans Floris nimmt seinen Lauf. Seine Frau und sein Bruder treiben seine verschwenderische Art an und auch seine Schüler und Mitarbeiter verfallen den vielen Trinkgelagen. Van Mander schätzt, dass Frans Floris seine Karriere und finanzielle Stabilität durch eine Beendigung des Alkoholkonsums hätte retten können, doch dafür war der Künstler dem Alkohol zu sehr verfallen. In der Wortwahl Van Manders und seiner Entscheidung, diese Geschichten für den Leser auszubreiten, erkennen wir, dass Van Mander, trotz Tadels, beeindruckt von der Trinkfestigkeit des Frans Floris ist. Und nicht nur Van Mander; es kam so weit, dass Menschen von außerhalb anreisten, um sich im Trinken mit Floris zu messen. In einer Anekdote gibt Van Mander wieder, dass der Künstler von sechs Bassspielern aus Antwerpen besucht wurde, um sich mit ihm im Wetttrinken zu messen. Drei der sechs Musiker hatte er schon bei der Hälfte des Abendessens unter den Tisch getrunken; zwei weitere hielten bis zum Ende des Essens durch. Den letzten begleitete Frans Floris nach draußen vor das Lokal, und als der Bassist den Künstler als Gewinner anerkannte, zückte dieser noch einen Beutel Wein, leerte diesen komplett in einem Zug (während er auf einem Bein stand), schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Nun erst beginnt Van Mander mit der Beschreibung der Werke, deren Standorte und der Kunstfertigkeit, welche Fran Floris besaß. Er formuliert Lob wie „ein wunderbar aufgebautes, kunstsinniges, und gut gemaltes Stück, um alle Künstler und Kunstsinnigen vor Neid erblassen zu lassen, und mit Bewunderung zu erfüllen“ / „een wonderlijck geordineert, constich, en wel gheschildert stuck, om alle Constenaren en Const-verstandighe verbaest te maken, en met verwonderingh te vervullen“ (über den Altar in der Frauenkirche in Antwerpen) oder „der beste Porträtist den man zu finden vermag“ / „den besten Conterfeyter was die men vinden mocht“ oder „sehr erfinderisch“ / „seer versierlijc“20. Van Mander zeigt in seiner Beschreibung auch auf, wie beliebt der Maler zu seiner Zeit war – tätig für die Stadt, den spanischen Hof; aber auch reiche Bürger in der benachbarten Republik besaßen viele seiner Werke. Auch heute lässt sich anhand von alten Inventaren feststellen, wie geschätzt die Kunstwerke des berühmten Künstlers und Trinkers waren: Über 70 Werke des Künstlers lassen sich heute alleine in den Amsterdamer und Antwerpener Archivdokumenten des 17. Jahrhunderts (in Inventaren, Testamenten, Hausauflösungen, Auktionen und 19 20 Ebd., fol. 240r. Ebd., fol. 241r–242r. 158 Johanna Mocny Lotterien) identifizieren.21 Dafür, dass Frans Floris nur von 1539 bis 1570 (also 31 Jahre) als Meister in der Gilde tätig war, ist dies alleine schon eine enorme Arbeitsleistung. Zum Ansporn und der Produktivität des Floris beleuchtet Van Mander noch einen Aspekt, der sich als aufschlußreich in Bezug auf Alkohol und die Auswirkung während des künstlerischen Schaffens erweist: Er war ein Mann, der immer malen wollte. Oft, wenn er nach Hause kam, angetrunken oder schlimmer, nahm er den Pinsel zur Hand und vollbrachte noch einen großen Haufen Arbeit. Es schien als war er dann noch geistreicher, oder konnte seinen Geist damit unterhalten, denn er hatte ein Sprichwort, welches er oft sagte: Wenn ich arbeite dann lebe ich, wenn ich aufhöre dann sterbe ich. Dies will von unseren jungen Malern auch gelernt sein; in ihrer Natur Kraft zu sehen und dieser zu folgen. Hy was een Man, die altijt grooten lust hadde om te schilderen: oock dickwils t’huys comende half oft meer beschoncken wesende, sloegh handt aen de Pinceelen, en maeckte noch grooten hoop wercks, schijnende dan meer gheestigh, oft zijnen geest asoo te vermaken: want hy hadde oock een ghemeen Spreeckwoort, dat hy dickwils seyde: Als ick werck, dan leef ick: als ick spelen gae, dan sterf ick. Dit mocht onse Schilder-jeught oock wel leeren in der natuere en cracht seggen, en nae volghen.22 Es ist geradezu erstaunlich, wie Van Mander hier eine tadelhafte Anekdote von einem alkoholisierten Künstler, welcher sich in diesem toxischen Zustand noch der Malerei widmet, in einen Lehrappell für die jungen Künstler wandelt. Er übergeht die Tatsache, dass Floris berauscht arbeitet und lobt hingegen seine Hingabe zur Kunst. Darüber hinaus ist spannend, dass Van Mander vermerkt, dass es womöglich die Auswirkung des konsumierten Alkohols sei, die Floris, und seinem Geist, den Antrieb gibt weitere Werke zu schaffen. Dies steht im starken Kontrast zu all seinen anderen Äußerungen, sei es, dass man behutsam und ehrfürchtig mit der Kunst umgehen soll, oder dass Alkohol den Menschen und seinen Geist verdirbt. Zu erklären ist dies womöglich mit der Tatsache, dass Frans Floris ein extrem gefragter und erfolgreicher Künstler war, der noch Jahrzehnte nach seinem Tod stilprägend für die Niederlande wirkte. Van Mander wird den hohen Stellenwert seiner Kunst gekannt haben, seine Beliebtheit bei den Kunstsammlern, und sich daher womöglich nicht abfällig über den Künstler äußern wollen. So misst Van Mander mit zweierlei Maß: Die bereits er- 21 Für Antwerpener Dokumente vgl. Eric Duverger: Antwerpse kunstinventarissen uit de zeventiende eeuw, Bd. 1, 16001617, Brüssel 1984, über 30 namentliche Nennungen. Zu Amsterdamer Dokumente vgl. http://research. frick.org/montiasart/recordlist.php, Reiter: Advances Search Art, Suchfeld: Artist: Frans Floris. (Zugriff am 28.11.2018), über 40 namentliche Nennungen. 22 Hessel Miedema: Karel van Mander. The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters, from the first edition of the Schilder-boeck (16031604), Bd. 1, Doornspijk 1994, fol. 424r. hoe schilder hoe wilder 159 folgreichen Künstler können trotz (oder sogar genau wegen) des Konsums von Alkohol großartige Werke schaffen, doch der junge Künstler, die neue Generation soll abstinent sein oder sich nur in Maßen berauschen. Kunstwerke und Künstlerbiografien belegen, dass sich das Trinken von Alkohol durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht, und jederzeit ausgeübt werden kann: von täglicher Trunksucht bis hin zu einem feierlich erhobenen Glas an Festtagen. Das Sprichwort „hoe schilder hoe wilder“ – welches den Anreiz für diesen Beitrag lieferte und welches Van Mander aus der Welt schaffen möchte  zielt demnach auf eine zukünftige Generation ab. Van Mander weiß, wie es um die Meister seiner Zeit steht, und appelliert an die jungen Lehrlinge. Es ist umstritten, an wen genau seine Traktate gerichtet sind, doch ist er sehr explizit mit den Warnungen vor dem Alkoholkonsum: Der junge Maler müsse sich von dem Bild des Künstlers als Trunkenbold lösen. Dies mag nicht nur moralische und gesellschaftliche Gründe für Van Mander gehabt haben, sondern auch seinem tiefen Wunsch entsprechen, dass der Maler sich aus der Nische des Handwerkers löse und, wie in Italien, sich zum gelehrten, frei denkenden und eigenständigen Künstlergenie entwickle. Abbildungsnachweis Abb. 1 © Photo Collection RKD-Netherlands Institute for Art History, The Hague Abb. 2 © Sotheby’s 2019 Abb. 3 © Photo Collection RKD-Netherlands Institute for Art History, The Hague Abb. 4 © bpk I Staatliche Kunstsammlungen Dresden I Elke Estel I Hans-Peter Klut Abb. 5 © bpk I Staatliche Kunstsammlungen Dresden I Elke Estel I Hans-Peter Klut Das Gegent eil v on Appetit Ekel als ästhetische Erfahrung Tobias Weilandt Die Frage danach, was wir empfinden und erfahren, wenn wir uns Kunstwerke anschauen, ist eine Fragestellung, die in den letzten Jahren eine neue Popularität erfahren hat. Zahlreiche Ansätze verhandeln unterschiedliche differentia specificae sogenannter ästhetischer Erfahrungen in Kontrast zu nicht durch Kunst ausgelösten Gefühlen und Empfindungen. Aussichtsreiche Kandidaten, die ein genuines Erleben von Kunst auszeichnen sollen, sind u.a. das interesselose Wohlgefallen (Kant), eine besondere Form der Liebe (Edmund Burke) oder auch die an sich wertvolle Erfahrung eines Kunstobjektes (Gary Iseminger).1 Auffallend dabei ist, dass diese Merkmale fast durchgehend positiv konnotiert sind. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Gefühle wie Zorn, Angst oder Ekel nichts bei der Kunstbetrachtung zu suchen hätten. Nun schauen wir aber nicht nur Bilder von Claude Lorrain an, sondern auch Bilder und Installationen, die beispielsweise durch mimetische Darstellungen von Verdauungsprozessen oder verschimmelten Lebensmitteln Ekel bei uns auslösen können. 2 Die Frage, inwiefern beim Ekel von einer (negativen) ästhetischen Erfahrung gesprochen werden kann, werde ich im Folgenden zu klären versuchen. Dabei werde ich in einem ersten Schritt allgemeine Charakteristika des Ekelgefühls abseits von Kunsterfahrungen skizzieren, gefolgt von einer Vorstellung einer kurzen Typologie des Ekels anhand des aktuellen Forschungsstandes. Den Schluss bildet die Bearbeitung der Fragestellungen, inwiefern von einer kunstbezogenen Ekelerfahrung gesprochen 1 2 Ein detailreicher Überblick über die Debatte um die unterschiedlichen Propria der ästhetischen Erfahrungen findet sich im folgenden Sammelband: Stefan Deines, Jasper Liptow und Martin Seel (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013. Insbesondere in der Entwicklungspsychologie wird häufig die These vertreten, der erste Ekel bei Kleinkindern werde von (bitter schmeckender) Nahrung ausgelöst. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Behauptung ist Paul Rozin. Vgl. hierzu u.a. Paul Rozin und April E. Fallon: A perspective on disgust, in: Psychological Review 91.1/1987, S. 23–41. 162 Tobias Weilandt werden kann, wie sich diese begrifflich fassen ließe und inwiefern sie sich vom herkömmlichen Ekel kategorial unterscheidet. Was ist Ekel? Ekel gilt gemeinhin als Abwehrreaktion vor organischen Dingen. Er tritt plötzlich und deutlich spürbar auf. Die heftigste körperliche Reaktion auf den Ekel ist das Erbrechen, dessen Eintreten von verschiedenen Graden des Würgereflexes begleitet ist. Dieser Reflex ist jedoch noch keine substanzielle, sondern nur eine akzidentelle Eigenschaft des Ekelempfindens. So können Übelkeit und Brechreiz auch als Körperreaktionen bei bestimmten Krankheiten auftreten. Mit der Feststellung, Ekel äußere sich in Stufen der Übelkeit, ist das Phänomen bei weitem noch nicht präzise gefasst. Aus evolutionsbiologischer Perspektive lässt er sich als ein Warnsystem verstehen, der uns vor Kontamination mit einem ekelerregenden Objekt, ja sogar vor dem Tod schützen soll.3 Wir erfahren die ungewollte Nähe einer sich uns aufdrängenden Präsenz eines Gegenstandes, die vornehmlich gustatorisch, olfaktorisch und haptisch oder taktil wahrgenommen wird. Aus phänomenologischer Sicht bilden die ekelauslösenden Gegenstände den Verdichtungsbereich des Ekelgefühls, denn um sie herum bildet sich das Gefühl.4 Verdichtungselemente sind stets organischer Natur, wie beispielsweise Fäkalien, Erbrochenes, Eiter, Sperma, Wunden, entstellte Organismen und vor allem verschimmelte und verwesende Nahrungsmittel. Insbesondere bei stark verdorbenen Nahrungsmitteln kann der Ekel besonders heftig ausfallen, handelt es sich doch bei Speisen im genießbaren Zustand eben um Lebensmittel. Diese erwecken in uns gewöhnlich den Wunsch nach Nähe und Konsumtion. Somit lässt sich sagen, der Ekel ist das Gegenteil des Appetits. Dort, wo Ekel ausbricht, finden Grenzüberschreitungen statt. Dies kann aus der Perspektive des Sich-Ekelnden die Überschreitung der eigenen, oder die Körpergrenze eines anderen Menschen sein. In ihrer philosophischen Anthologie Philosophie der Gefühle (2007) weisen die Autor*innen Demmerling und Landweer auf diese zwei Richtungen der Grenzüberschreitung hin. Erstens: Etwas von außen droht die eigene oder fremde Körpergrenze zu durchdringen oder durchdringt sie sogar. Diese Richtung findet sich insbesondere beim Lebensmittelekel und beim Ekel vor bestimmten Gerüchen, die einen umgeben und drohen durch Mund und Nase in den Körper aufgenommen zu 3 4 Vgl. u.a. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 1999, S. 30. Vgl. Christoph Demmerling und Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart / Weimar 2007, S. 93. Das Gegenteil von Appetit 163 werden. Diese Richtung von außen nach innen kann jedoch auch dann beobachtet werden, wenn andere Menschen sich Substanzen einverleiben, vor denen es uns selbst ekelt. Die zweite Richtungsoption liegt vor, wenn sich etwas seinen Weg von innen nach außen bahnt. Bluten und Erbrechen sind Beispiele für die ungewollte Überschreitung der eigenen Körpergrenze von innen nach außen. Auch hierbei werden wir durch das Bluten und Erbrechen anderer gleichermaßen affiziert.5 Das „gewöhnliche SichEkeln“6, als eine Grundform des körperlich affizierten Ekelns, bedarf eines oder mehrerer äußerer Anlässe. Hierbei handelt es sich um Vorkommnisse, die vermittelt durch den Seh-, Tast-, Geruchs- oder Geschmackssinn Ekel bei einem Subjekt auslösen. Ekel bedarf grundsätzlich eines Subjektes, da er empfunden werden muss und es einen Ekel an sich nicht gibt. Hierdurch offenbart sich sein Merkmal der Leibgebundenheit. Dieses zeigt sich laut dem Philosophen Aurel Kolnai in den genannten physischen Reaktionen des Würgereflexes und des Brechreizes.7 Kolnai zählt, in seiner für die Diskussion über das Phänomen des Degoutanten maßgebenden Schrift Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle (1929), die durch Ekel affizierbaren Sinne auf, wobei der Geschmackssinn aus physiologischen Gründen im Geruchssinn aufgehe: Sehen, Tasten, Riechen erfassen die materiellen Gegenstände von verschiedenen Seiten her und jedes von ihnen unter einer unüberschreitbaren Wissensbegrenzung, doch alle mit einer dem Hören ganz fremden Unmittelbarkeit; Figur und Farbe, Oberfläche und Konsistenz, Geruch und Geschmack gehören in ungleich mehr konstitutivem Sinne dem Wahrnehmungsgegenstande als seine ‚Stimme‘, das von ihm ‚verursachte‘ Geräusch. [] Aller Hörekel ist zum guten Teil ‚moralischer Ekel‘. 8 Ekel wird demzufolge weniger durch den Hörsinn, wohl aber über unsere anderen Sinne ausgelöst. Weiche und schleimige Konsistenzen können ebenso Ekel verursachen, wie starke und stechende Gerüche. Bestimmte Farben können uns sogar anwidern. Es ist auch Kolnai, der eine Hierarchisierung der Sinne formuliert, die sich derart etabliert hat, dass sich nachfolgende Untersuchungen häufig auf diese Reihung berufen: An erster Stelle stünde der Geruchssinn als „Stammesort des Ekels“9 gefolgt vom Tastsinn: „An zweiter Stelle scheint zweifellos der Tastsinn zu folgen: auch dieser ist noch intimer als das Gesicht, in gewissem Sinne noch mehr nähebetonend – 5 6 7 8 9 Ebd., S. 9596. Ulrich Diehl: Lebensekel, Sinnkrise und existentielle Freiheit. Philosophische Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel, in: Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Hürtgenwald 2003, S. 67. Vgl. Aurel Kolnai: Ekel. Hochmut. Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt a.M. 2007, S. 9. Ebd., S. 2526. Ebd., S. 26. 164 Tobias Weilandt obwohl nie eine so intime Nähe suggerierend – als der Geruchssinn.“10 Der Sehsinn, und damit der letzte Typ in der Hierarchie, vermittle einen Gegenstand genauer und umfassender als die anderen Sinne, als Auslöser von Ekel sei er aber eher gering zu schätzen.11 Der Ekel, ausgelöst allein durch den Sehsinn, muss gegenüber den Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen tatsächlich sehr viel schwächer sein, denn die Gefahr der Kontamination ist beim bloßen Sehen stark verringert, wenn nicht letztendlich bloß eine Einbildung oder, wie in einigen Fällen, Resultat von Assoziationen. Im Falle des Ekels durch visuelle Betrachtung liegt deshalb eine sehr abgeschwächte Bedrohung der eigenen Körpergrenze vor, ganz gleich ob von innen nach außen oder außen nach innen. Dem Ekel durch räumlich vor uns liegende Objekte können wir unterschiedlich begegnen. Reagieren wir abwehrend, stehen uns Verhaltensoptionen wie Weggehen, Augen verschließen, Zuhalten der Nase und Kontaktvermeidung zur Auswahl. Laut Kolnai sei ein häufiges Verhalten, um den Ekel zu vermeiden, nicht das bloße Wegschauen oder Weggehen, sondern die schnelle Beseitigung des Ekel erregenden Objektes.12 Wir können aber auch versuchen, den Ekel zu überwinden. Dies wird uns umso eher gelingen, als wir durch wiederholtes Aussetzen unseres Körpers in bestimmte Situationen den Ekel nicht mehr als so stark empfinden können. So wird es uns ermöglicht, bestimmte berufliche, elterliche sowie andere verwandtschaftliche aber auch mitmenschliche Aufgaben zu bewältigen, wie zum Beispiel Pflegeaufgaben. Wir sind in der Lage, durch Training den physischen Ekel zu überwinden. Eine kleine Typologie des Ekels Ekel ist ein fest in unserer Natur verankertes Gefühl. Es ist ubiquitär, denn es findet sich in allen menschlichen Kulturen wieder, auch wenn dessen Auslöser kulturell verschieden sein können.13 Gleichwohl das Phänomen des Ekels starke biologische Wurzeln trägt, sollte es nicht als ein irgendwie geartetes primitives Gefühl klassifiziert wer- 10 Ebd., S. 27. Ebd., S. 2728. 12 Hierin unterscheide sich laut Kolnai der Ekel vom Gefühl der Angst. Ängstigen wir uns, versuchen wir unseren Körper aus der Gefahrenzone zu schaffen. Beim Ekel sind wir eher gewillt, die Gefahrenquelle zu beseitigen. Vgl. ebd., S. 18. 13 Eine ganze Reihe psychologischer und anthropologischer Untersuchungen liegen vor, die diese Universalitätsthese bestätigen. Klassiker sind die Ausführungen zum Begriff der basic emotions, wie Ekel eines ist bei Paul Ekman: Darwin and facial expression: A century of research in review, New York 1973 und die Untersuchungen zum Phänomen des core disgusts bei Paul Rozin, Jonathan Haidt und Clark R. McCauley: Disgust, in: Michael Lewis, Jeanette M. HavilandJones und Lisa Feldman Barrett (Hg.): Handbook of emotions. New York 2008, S. 757–776. 11 Das Gegenteil von Appetit 165 den, denn er affiziert uns in mannigfaltiger Weise. Dass der Ekel trotz seiner biologischen und zugleich kulturellen Verortung ein vielgestaltiges Gefühl ist, zeigt ein Blick in die Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Hier finden sich vielzählige Untersuchungen aus unterschiedlichen Disziplinen, die dem Ekel auf die Spur zu kommen versuchen. Dabei sticht besonders die bereits genannte Abhandlung Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle des Philosophen Aurel Kolnai aus dem Jahre 1929 heraus. Er lieferte die erste umfangreiche Untersuchung des Ekel- Phänomens. Seine herausgearbeiteten Eigenschaften des Ekels sind bis heute weitestgehend unwidersprochen und bilden die Ausgangslage vieler nachfolgender Untersuchungen.14 Eines der Resultate dieser langjährigen Beschäftigung mit dem Ekel ist eine detaillierte Typologie des Degoutanten. Zu nennen seien hier vor allem der „Überdrussekel“15 bei Aurel Kolnai, der „prohobitive Ekel“16 bei Winfried Menninghaus sowie der „Lebensekel“17 und das bereits genannte „gewöhnliche Sich-Ekeln“18 in den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen von Ulrich Diehl. Der Überdrußekel stellt sich ein, wenn wir ein Zuviel von etwas erfahren, beispielsweise das Hören eines Musikstückes. Der prohibitive Ekel hingegen bricht die Konsumption von Speisen und ähnlichem ab, bevor sich ein Überdrußekel überhaupt erst einstellen kann. Dem Lebensekel können wir hingegen nicht fliehen, und seine Ursache ist das Leben selbst. Das gewöhnliche Sich-Ekeln hat demgegenüber eine konkrete Ursache: das Ungenießbare, wie Schimmel, Kot und Körperflüssigkeiten. Zur groben Unterteilung der genannten Gestalten des Ekels sollen die zwei Kategorien „moralisch“ und „physisch“ dienen. Der Lebensekel und der Überdrußekel wären dabei auf der Seite der moralischen Ekelformen einzuordnen, das Sich-Ekeln und der prohibitive Ekel hingegen lassen sich als eine einheitliche physische Klasse begreifen. Trotz dieser umfangreichen Bearbeitung des Ekelphänomens wurde die Frage, inwiefern es eine kunstbezogene Ekelerfahrung geben kann, bisher zumeist nur gestreift. Oftmals sind es nur vereinzelte und elliptische Überlegungen darüber, wie Kunstwerke Ekel auslösen können. Wenige moderne Ausnahmen bilden hier die Überlegungen der Literaturwissenschaftler*innen Thomas Anz, Winfried Menninghaus und Julia Kristeva sowie der Kunsthistorikerin Claudia Reiß. Menninghaus legte fraglos die bisher materialreichste Bearbeitung des Themas vor und zeichnet eine umfassende Kulturgeschichte des Ekels. Anz hingegen beschränkt sich in seinen Ausführungen allein auf die Wirkung des Ekels im literarischen 14 15 16 17 18 Zu nennen sind hier insbesondere Menninghaus 1999; Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998; Thomas Anz: Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst, in: Hermes A. Kick (Hg.): Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten, Hürtgenwald 2003. Kolnai 2007, S. 19. Menninghaus 1999, S. 30. Diehl 2003, S. 67. Ebd. 166 Tobias Weilandt Kontext. Zwar votieren beide für ein Ekelempfinden, das durch Literatur und Kunst verursacht wird, berühren dabei aber kaum die Frage, wie denn ein solches Phänomen begrifflich zu fassen sei. Eine genuin kunsthistorische Untersuchung zum Ekel-Phänomen legte im Jahre 2007 Claudia Reiß vor, die aber in ihrer Dissertation Ekel. Ikonografie des Ausgeschlossenen eine kulturhistorische Genealogie des Ekels formulierte und hier die Möglichkeit und die begriffliche Ausbildung eines kunstbezogenen Ekels nur grob skizziert. Julia Kristeva formulierte mit dem Begriff des „Abjekten“ (Abject)19 einen umbrella term des Ekelerregenden. Auch bei Kristeva finden sich meines Wissens keine systematischen Überlegungen zur Frage nach einem genuin durch Kunst ausgelösten Ekel. Wir betreten also beinahe Neuland, wenn wir uns fragen, ob es eine kunstbezogene Ekelerfahrung gibt und durch welche Merkmale sie sich auszeichnet. Im Folgenden werde ich versuchen, diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen. Leitend für meinen Gedankengang ist die These, dass mindestens ein kategorischer Unterschied auszumachen ist, mit Hilfe dessen sich ein kunstbezogener Ekel von seinem nichtkunstbezogenen Pendant abgrenzen lässt. Aufgabe wird es also sein, zumindest ein Merkmal zu identifizieren, anhand dessen ein wesentlicher Unterschied formuliert und dadurch eine klare Trennung beider Formen vollzogen werden kann. Wenn ich im Folgenden vom Ekel als (negative) ästhetische Erfahrung spreche, so meine ich stets den physischen Ekel und nicht sein moralisches Gegenstück. Gibt es einen kun stbezogenen Ekel? Hinsichtlich der Charakteristika des physischen Ekels, verursacht durch real präsente Gegenstände, herrscht Einigkeit. Die aufgezählten Merkmale lassen ein klares Bild des physischen Ekels entstehen. Wie lässt sich nun aber der nicht-kunstbezogene Ekel von seinem kunstbezogenen Gegenstück wesentlich unterscheiden? Mit dem Ekel im Kunstkontext meine ich eine Ausgestaltung dieses Gefühls, das durch Bilder ausgelöst wird, die konkrete und „naturalistische“ Darstellungen von ekelerregenden Dingen zeigen. Wenn ich im Folgenden also von Bildern spreche, dann meine ich solcherlei materielle und externe Repräsentationen, die wir gemeinhin als Abbilder der Wirklichkeit bezeichnen. Unbestritten ist der Sachverhalt, dass kunstbezogener Ekel die gleichen körperlichen Reaktionen auslöst, wie bei tatsächlich vorliegenden Dingen. So meint beispielsweise Claudia Reiß: 19 Webseite des College of Liberal Arts and Sciences, http://users.clas.ufl.edu/burt/touchyfeelingsmalicious objects/Kristevapowersofhorrorabjection.pdf (Zugriff am 10.07.2018), S. 10. Das Gegenteil von Appetit 167 Ekelerreger ist das Kunstwerk, welches durch seine Betrachtung in die Nähe des Rezipienten rückt. Insofern bildet die Kunstbetrachtung als Sachverhaltsbeziehung die Brücke zwischen ekelhaftem Kunstwerk und angeekeltem Rezipienten.20 Der Kunstbetrachter wird so zum sich ekelnden Subjekt, dessen Leib physisch affiziert wird. Das Bild selbst wird zum Auslöser des Unwohlseins. Beim kunstbezogenen Ekel handelt es sich um eine abgeschwächte Form des nicht-kunstbezogenen Ekels. So stellt Werner Kübler in einer Arbeit zum Ekel aus ernährungsphysiologischer Sicht zu Recht fest: „Ausgelöst durch mündliche oder schriftliche Schilderungen, durch bildliche Darstellungen oder sogar spontan (vor allem durch Erinnerungsbilder), kommt es zu typischen Ekelempfindungen – allerdings selten zum Erbrechen.“21 Die Palette des Unwohlseins ist demnach nicht so reichhaltig, wie beim nicht-kunstbezogenen Ekel. Dies liegt laut Thomas Anz daran, dass „[d]ie Ekelgefühle, die das Ekelhafte im Rezipienten auslöst, [] durch das Wissen gemildert [werden, T.W.], dass das Dargestellte keine reale Präsenz hat. Dieses Wissen kann ungemein erleichternd sein.“22 Das Wissen um die Gefahrlosigkeit des ekelerregenden Objekts, mindert den Erfahrungsgrad des Ekels. Einzige Ausnahmen sind Bilder, die den Betrachter derart täuschen, dass er glaubt, reale Ekelobjekte vor sich zu sehen.23 Insofern die Täuschung in einem solchen Falle besteht, lässt sich das damit verbundene Verhalten mit dem Verhalten des nicht-kunstbezogenen Ekelgefühls graduell und phänomenologisch gleichstellen. In diesem Fall ist das Ekelempfinden, ausgelöst durch ein Kunstwerk, nicht zu unterscheiden von einem nicht-kunstbezogenen Ekelgefühl, da durch die Täuschung der Eindruck vermittelt wird, es handle sich um real vorliegende Gegenstände und nicht nur um deren künstlerisches Abbild. Der Grad des Ekelgefühls richtet sich nach dem Stil einer bildlichen Darstellung. In einem Spektrum zwischen mimetischer Darstellung und non-figurativer Inter- 20 Webseite der Universität Duisburg / Essen, https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServ let/Derivate-22051/ekel.pdf (Zugriff am 16.05.2018), S. 23. 21 Werner Kübler: Gedanken über Ekel aus ernährungsphysiologischer Sicht, in: Kick 2003, S. 22. 22 Anz, in: Kick 2003, S. 158. 23 Hierzu gehören (Ab-)Bilder, die in der Tradition des aristotelischen Leitsatzes „Ars imitatur naturam“ standen und die Kunst als Werkzeug der bloßen Naturnachahmung definierten. Bekannt ist auch ein Beispiel, das diesen Leitsatz veranschaulicht und wiederholt bei Ernst Gombrich auftritt und in der abendländischen Kunstgeschichte als ZeuxisAnekdote bekannt geworden ist. In dieser wird berichtet, wie Zeuxis ein Bild malte, auf dem Trauben so täuschend echt dargestellt wurden, dass sogar Vögel angeflogen kamen, um diese Trauben zu verzehren. Zeuxis’ Malerrivale Parrhasios lud daraufhin Zeuxis in sein Atelier, um ihn wiederum durch seine künstlerischen Fähigkeiten zu beeindrucken. Gerade als Zeuxis einen Vorhang zur Seite schieben wollte, um einen Blick auf die Werke des Parrhasios zu werfen, erkannte Zeuxis, dass es sich bei dem Vorhang um ein Gemälde handelte und er sich, wie die Vögel beim Bild des Zeuxis, täuschen lies. Vgl. Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin 2014, S. 172. 168 Tobias Weilandt pretation, variiert das Ekelempfinden in hohem Maße. Je naturalistischer und detailgetreuer eine Darstellung ein ekelerregendes Objekt abbildet, desto stärker wird der Ekel beim Betrachter sein. So werden etwa die Fotografien von verschimmelten Früchten, die Klaus Pichler im Rahmen seines Kunstprojektes One third präsentierte, Ekel beim Betrachter auslösen, da sie konkrete Dinge zeigen, die realiter Ekelgefühle verursachen würden. Wenden wir uns dem anderen Ende des Spektrums zu, so wird kaum noch ein Unwohlsein beim Betrachter verursacht. Beispielhaft kann hier das Sujet des Bildes Semen and Blood III von Andres Serrano genannt werden. Sollte sich dennoch Ekel durch abstrakte Darstellungen beim Betrachter einstellen, so ist nicht das Bild der Auslöser, sondern eine mentale Verstärkung. Eine solche verstärkende Wirkung können Vorstellungen, Assoziationen und Erinnerungen haben. Ein Bild mit einem abstrakten Sujet wird keinen Ekel unvermittelt beim Betrachter oder bei der Betrachterin auslösen. Motiviert der Bildinhalt hingegen Erinnerungen an vergangene ekelerregende Situationen oder wird beispielsweise ein Farbauftrag mit Erbrochenem assoziiert, so sind diese mentalen Zustände die eigentlichen Auslöser des Übelseins. Je weiter ein Bildinhalt einer abstrakten Darstellungsweise zuzuordnen ist, desto stärker bedarf es eines mentalen Boosters, um überhaupt ein, wenn auch geringes, Ekelgefühl zu verursachen. Abstrakte Darstellungen werden eben nicht als Quellen für Kontaminationen durch das Ekelerregende und als in irgendeiner Form gefährlich für die eigene leibliche Unversehrtheit angesehen, weil sie den/die Betrachter*in nicht unvermittelt treffen.24 Allein das Merkmal des schwächeren Empfindens des kunstbezogenen Ekels ist aber nicht ausreichend für eine klare begriffliche Abgrenzung. Dadurch, dass das physische Ekeln, ganz gleich welchen Typs, graduelle Abstufungen vom leichten Würgereflex bis zum Erbrechen zeigt, ist der genuin kunstbezogene, und eben schwächere Ekel nicht klar verortbar. Er würde sich irgendwo auf der Übelkeits-Skala des physischen nicht-kunstbezogenen Ekels verlieren. Bereits alltägliche Beobachtungen weisen jedoch auf einen stärkeren Unterschied zwischen beiden Typen hin: Der Ekel im Kontext der Kunst tritt nicht plötzlich auf. Ihm fehlt der Widerfahrnischarakter des nichtkunstbezogenen Ekels. Widerfahrnisse sind Ereignisse, die uns zustoßen. Der Wimpernlidschlag, der unkontrolliert das Auge vor dem Eindringen eines Fremdkörpers schützen soll oder der Lottogewinn, der uns durch die zufällige Ziehung der „richtigen“ Zahlen glückt, können als typische Widerfahrnisse charakterisiert werden. Damit stehen Widerfahrnisse geradezu dem Begriff des Handels, als eines intendierten und 24 Die Erfahrung von non-figurativer Kunst kann als eher kognitiv, denn als emotiv verstanden werden, da diese weniger den Rezipienten affizieren, sondern ihn eher zum Nachdenken bringen soll. Abstrakte Kunst lotet die Grenzen der Kunst aus, wird also zur selbstreflexiven Kunst, die das Nachdenken über den Begriff Kunst motivieren und nicht vornehmlich durch Harmonie und Schönheit im traditionellen Sinne beeindrucken soll. Das Gegenteil von Appetit 169 zweckgerichteten Tuns entgegen, zu dem wir eine Person auffordern können.25 Auf Widerfahrnisse haben wir per definitionem keinen Einfluss. Wir müssen sie regelrecht hinnehmen. Ekelerregende, nicht-künstlerische Dinge überraschen uns. Wir suchen nicht deren Nähe, sondern sie drängen sich uns in einem unachtsamen oder überraschenden Moment auf: Das verschimmelte Obst in der Schale, das vorquellende Blut am Finger durch eine Verletzung oder die verschmierten Kotreste in einer Bahnhofstoilette lassen uns die Ausformungen des Ekels unvermittelt erleben. Besuchen wir hingegen eine Ausstellung, in der ekelerregende Kunst gezeigt wird, werden wir oftmals am Eingang schon darauf hingewiesen, dass sich sanfte Gemüter den Besuch vielleicht lieber ersparen sollten. So berichtet Claudia Reiß von der Ausstellung Sensation in New York im Jahre 2007, vor der das lokale Gesundheitsamt Hinweisschilder aufstellte, die darüber informieren sollten, dass die Inhalte der Ausstellungen zu Erbrechen, Panik und Angst führen können. Laut Reiß sei dies in den letzten Jahren eine gängige Praxis des Ausstellungswesens geworden, um Schaden von Besucher*innen fernzuhalten.26 Wagen wir es trotz Warnhinweisen dennoch die Räumlichkeiten von Museum oder Galerie zu betreten, sind wir vorgewarnt, dass hinter jeder Ecke Darstellungen von Schimmel, Eingeweiden und Ausscheidungen auf uns warten. Mit dem Fehlen des Widerfahrnischarakters liegt ein erstes, wenn auch negatives, Distinktionsmerkmal vor, dass den Ekel ausgelöst durch darstellende Kunst genauer fasst und von anderen Formen des physischen Ekels unterscheidet. Zusätzlich zur These von Thomas Anz, nachdem ein kunstbezogener Ekel als abgeschwächt empfunden werden muss, da sich der/die Rezipient*in in Sicherheit wägt, wird das Ekelgefühl auch durch den fehlenden Widerfahrnischarakter vermindert.27 Es lässt sich fragen, warum wir uns überhaupt in solcherlei Ausstellungen begeben und wir uns freiwillig ekelerregender Kunst aussetzen. Wir scheinen regelrecht das Unwohlsein und das Übelkeitsgefühl zu suchen. Gilt Ekel, wie eingangs beschrieben, als eine Abwehrreaktion, die vor unerwünschter Nähe zu einem degoutanten Objekt und vor Kontaminationsgefahr schützen soll, ist der kunstbezogene Ekel offenbar in Kauf genommen, ja sogar gewollt. Wir suchen das Ekelempfinden, den Schauer, der uns durchfährt und uns veranlasst, den Blick angewidert abzuwenden. Der kunstbezogene Ekel scheint demnach Resultat eines widersprüchlichen Zusammenspiels von Wunsch und Gefühl zu sein; Dem Wunsch, ekelerregende Kunst zu betrachten und sich von ihr affizieren zu lassen, bei Eintritt des Ekelgefühls aber dennoch zu erschauern. 25 Vgl. insb. Peter Janich: Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001, S. 27ff. Vgl. Webseite der Universität Duisburg / Essen, https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/Derivate Servlet/Derivate-22051/ekel.pdf (Zugriff am 16.05.2018), S. 11. 27 Es läge der paradoxe Fall der Selbsttäuschung vor, würden Rezipienten auf ekelerregende Kunst in gleichem Maße reagieren, wie auf real vorliegende Gegenstände. 26 170 Tobias Weilandt Laut des Literaturwissenschaftlers Thomas Anz treibt uns das Vergnügen, ja sogar ein Lustempfinden an der Ekelrezeption an. Er notiert: Und da generell kein Zwang besteht, sich künstlerische und literarische Darstellungen des Ekelhaften bieten zu lassen, diese aber dennoch angeschaut und gelesen werden, ist es keine Frage, dass es eine Lust am Ekelhaften gibt, sehr wohl jedoch eine Frage, worin diese Lust besteht.28 In eine ähnliche Kerbe schlägt Menninghaus, wenn er referiert: Die Theorie der heftigen Gemütsbewegungen in der Linie von Dubos und Burke spricht den künstlichen Schrecknissen der Tragödie und den wirklichen von Gladiatorenkampf und grausamer Hinrichtung die gleiche segensreiche Wirkung zu: sie agitieren maximal unsere Seelenkräfte und verschaffen so eine angenehme Selbst-Apperzeption, die unseren Willen zur Selbsterhaltung stärkt und vor Erschlaffung, Langeweile und gar zur Tendenz zum Selbstmord bewahrt.29 Auch wenn Menninghaus hier nur vom Schauspiel spricht, so lässt sich seine Erklärung auch auf das Gebiet der bildenden Künste anwenden, wird dadurch doch nur das mediale Angebot erweitert, um unsere Lust am Ekel zu befriedigen. In Anlehnung an Norbert Elias behauptet Thomas Anz, dass wir aufgrund zivilisatorischer Prozesse seit dem 18. Jahrhundert emotional verkümmert sind. Der/die zivilisierte Bürger*in müsse seine/ihre emotionalen Wünsche zurückhalten und unterdrücken. Laut Elias hielte den Menschen, eine von ihm selbst aufoktroyierte Kontrollapparatur in gewissen gesellschaftlichen Bahnen, um so das bürgerliche Verhalten berechenbar zu machen. Dem/der Bürger*in sei es demnach untersagt, zu wüten, wenn ihm/ihr nach wüten ist. Schauspiel, Kunst und sicher auch Literatur dienten dann als Füllmaterial einer drohenden emotionalen Leere.30 Man könnte hierbei von einem zivilisatorischen Kompensationsansatz sprechen.31 Durch die freiwillige Aussetzung des eigenen Körpers in eine Ekel auslösende Situation schlussfolgert Anz das parallele Empfinden eines Vergnügens oder sogar einer Lust an der Betrachtung ekelerregender Sujets. Es muss sich demzufolge um eine 28 Anz 2003, S. 150. Menninghaus 1999, S. 52. 30 Vgl. Anz 1998, S. 139140. 31 Wir suchen gemeinhin die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, weil wir dieser Erfahrung einen Wert an sich zuweisen. Kunstbetrachtung ist oftmals Selbstzweck. Stimmt hingegen Elias’ Kompensationsansatz, so ließe sich fragen, ob es sich bei der Betrachtung von ekelerregender Kunst noch um Kunstbetrachtung handelt, denn mit ihr ist ein Zweck (Lustgewinn und Ekelaffizierung zur Auslöschung der emotionalen Ödnis) verbunden. 29 Das Gegenteil von Appetit 171 genuin ekelbezogene Lust und damit ganz offensichtlich um eine paradoxe Kombination an Empfindungen handeln. Unlust am Ekel verbindet sich mit der Lust am Ekel. Wir können hier also von einem angenehmen Ekeln sprechen. Einige Autor*innen sprechen gar von einer „Ekellust“, die dieses Mehrkomponentengefühl aus Ekel und Lust bezeichnen soll.32 Überlegungen zu sogenannten „gemischten Gefühlen“ (Lust und Ekel) rekurrieren häufig auf den Begriff der „Angstlust“ (thrill)33 , wie er von Michael Balint gefasst wurde. Angstlust umfasst laut Balint drei Charakteristika: 1. Das Empfinden einer bewussten Angst und das Wissen um eine gefährliche Situation, in die man sich begibt. 2. Das willentliche Aussetzen in diese gefährliche Situation. 3. Das Wissen um die Sicherheit, dass wohl alles gut gehen wird. 34 Ähnliche Punkte finden sich auch bei den Überlegungen von Thomas Anz wieder, wenn es um den kunstbezogenen Ekel geht. Kunst kann Ekel erzeugen und wir setzen uns bewusst dieser Kunst aus, um, wie Anz mit Elias behauptet, unsere emotionale Leere zu füllen. Zudem fehlt Ekelempfindungen im Kunstkontext der Widerfahrnischarakter, der eng verbunden ist mit dem Wissen um die eigene leibliche Sicherheit. Wären wir nicht davon überzeugt, dass wir uns keiner echten Gefahr aussetzten, würden wir auch keine Ausstellungen mit ekelerregender Kunst besuchen. Die Phänomene Ekellust und Angstlust sind Konstrukte, die aber streng genommen keine Gefühle sind. So umfasst der dritte Definitionspunkt von Angstlust kein Gefühl, sondern eine Überzeugung. Die Überzeugung nämlich, sich in keine reale Gefahrensituation zu begeben. Eine Überzeugung ist kein Gefühl, sondern ein mentaler oder kognitiver Zustand. Stellen Gefühle klassischerweise das Andere der Vernunft dar, so ist Angstlust und Ekellust eine Mischform aus emotiven (Angst bzw. Ekel und Lust) und kognitiven Zuständen (Sicherheitsüberzeugung). Die Überzeugung der eigenen Sicherheit, als kognitive Komponente, ist die Bedingung dafür, dass wir überhaupt ekelerregende Kunst betrachten. Mit der Verflechtung von Emotion und Kognition betreten wir das Feld der kognitiven Gefühlstheorien. Grundlage vieler solcher kognitiven Ansätze ist die Annahme, dass es bestimmter Überzeugungen und Wünsche bedürfe, damit überhaupt ein bestimmtes Gefühl entstehen kann. Mag die kognitive Komponente notwendig für die emotive Seite der Ekellust sein, so sind beide dennoch ontologisch voneinander zu trennen. Überzeugungen, Wünsche und andere mentale Zustände sind eben grundverschieden von Gefühlen. Gefühle besitzen einen phänomenalen Gehalt, d.h. das Empfinden eines Gefühls ist stets an ein Subjekt gebunden, für 32 In vielen Fällen wird anhand der „Angstlust“ das paradoxe Gefühl der „Ekellust“ zu erklären versucht. Vgl. hierzu insbesondere: Menninghaus 1999, S. 55–58.; ferner: Julius Krebs: Ekellust, in: Ekel und Allergie. Kursbuch 129, September 1997, S. 88–99. 33 Michael Balint: Angstlust und Regression, Stuttgart 2017, S. 21. 34 Vgl. Balint 2017, S. 20. 172 Tobias Weilandt das es sich irgendwie anfühlt, diesen mentalen Zustand im Augenblick zu haben. Jedes Subjekt hat einen privilegierten Zugang zu seinen eigenen mentalen Zuständen dieser Art und es lässt sich fragen, wie es für dieses Subjekt ist, eine ganz bestimmte Empfindung zu erfahren.35 Überzeugungen und Wünsche besitzen nicht einen solchen subjektiven Gehalt. Weder ist mit dem Haben eines Wunsches, noch einer Überzeugung eine vergleichbare Empfindungsqualität verbunden. Überzeugung und Ekelempfinden sind also voneinander zu trennen und nicht als ein gemeinsames Phänomen zu denken. Die Begriffsschöpfung Ekellust ist hier also wenig überzeugend, da sie auf einer unzulässigen begriffslogischen Vermischung beruht. Erkennen wir die Überzeugung aus dem dritten Punkt als notwendige Bedingung an, so haben wir den kategorialen Unterschied zwischen Ekel als ästhetische Erfahrung und einem nicht-kunstbezogenen Ekel gefunden. Das Proprium liegt nicht in den unterschiedlichen Intensitäten des Empfindens, sondern in der Bedingung der ästhetischen Erfahrung. Der Widerfahrnischarakter des nicht-kunstbezogenen Ekels lässt eine solche Überzeugung nicht zu, da wir direkt und unvorbereitet stark vom Ekelobjekt affiziert werden. Beim Ekel durch Kunst ausgelöst sind wir stets, durch die Überzeugung – gemäß des dritten Definitionspunktes –, vorbereitet. Es fehlt durch die eigentümliche Situation im Kunstkontext der „Überraschungseffekt“. Selbst, wenn wir diese Überzeugung durch eine kurze Überwältigung verlieren und stark von einem Kunstwerk angesteckt werden, so gewinnen wir das Wissen um die eigene Sicherheit wieder, wenn wir erkennen, dass es sich nur um ein Kunstwerk handelt und wir einer Täuschung erlegen sind. Wir atmen durch, entspannen uns und erkennen, wir haben den Schrecken überstanden. Eine erneute Täuschung durch dasselbe Kunstwerk ist dann höchst unwahrscheinlich. Es ist nicht ein Gefühl, das die kunstbezogene Ekelerfahrung wesentlich ausmacht, wie dies der Begriff Ekellust zu suggerieren mag, sondern die Bedingung seiner Entstehung ermöglichen eine kategoriale Unterscheidung. 35 Die grammatikalisch eigentümliche Frage „Wie es für ein Subjekt ist?“, etwas Bestimmtes zu empfinden, geht auf den Aufsatz des Philosophen Thomas Nagel What is it like to be a bat? (1974) zurück, in dem er das Problem formulierte, ob es für den Menschen möglich ist, die Bewusstseinsinhalte eines artfremden Subjektes zu erkennen. Zugleich kritisiert er in seinem Beitrag naturalistische Positionen, die behaupten, Bewusstseinszustände ließen sich ausschließlich mittels naturwissenschaftlichen Wissens erklären. Nagel optiert dafür, dass bspw. neurobiologisches Wissen über das Bewusstsein zwar Aufschluss über dessen Natur geben kann, der Empfindungsmoment (phänomenales Bewusstsein) werde dabei aber fälschlicherweise außer Acht gelassen. Vgl. Thomas Nagel: What is it like to be a bat?, in: The Philosophical Review 84.4/1974, S. 435–450. Mapping a Worl d. Zur Tisch matt e von Dieter R oth Ina Jessen Ein süßlich-warmer Duft alternder Schokolade gepaart mit jenem eines staubigen Raumes, von Holzmöbeln, altem Teppichboden, Büchern, Papier und anderen undefinierbaren Geruchsnoten – diese sinnlichen Reize begleiten die Besucher*innen beim Betreten des Appartements des deutsch-schweizer Künstlers Dieter Roth (1930–1998) in der Hamburger Abteistraße, wo sich heutzutage ein Konglomerat aus Lebens- und Arbeitsspuren künstlerischer Prozesse eröffnet. Neben dem Wohninventar und Grafikschränken zählen hierzu Portraitbüsten bestehend aus farbigem Zucker und Schokolade, Prototypen aus Gips zu den vier Multiple-Formen des Künstler-Selbst sowie die entsprechenden Silikon-Gussformen.1 In den hölzernen Wandregalen sind Arbeitsutensilien, diverse Materialien und Werkstoffe sowie zahlreiche Bücher zu entdecken, bei denen unklar ist, ob diese einst als Materialien zur Verarbeitung in Roths Literaturwürsten oder zur ernsthaften Lektüre gedacht waren.2 Zwischen der Eingangstür und dem Bett ist zudem eine eigens angefertigte Garderobenkonstruktion lokalisiert, an der noch immer Roths Morgenmantel hängt, als sei er nur eben aus dem Zimmer gegangen. Erst im Raum stehend wird die Sicht auf eine zentrale Arbeit des Künstlers eröffnet: Über dem von einer Wolldecke geschützten Bett gehängt und auf einer Tischlerplatte fixiert, handelt es sich um die zwischen 1991 und 1998 entstandene Akkumulage Tischmatte, die zugleich das letzte in Hamburg entstandene Objekt von Dieter Roth vor dessen Tod im Juni desselben Jahres darstellt (Abb. 1).3 1 2 3 Die vier Multiple-Formen sind als Löwenselbst, Selbstbüste, Hybrid und Sphinx tituliert. Zu Roths Literaturwürsten, vgl. u.a.: Das Große Fressen. Von Pop bis heute, Ausst. Kat., Kunsthalle Bielefeld, 2004, S. 130. Vgl. Dirk Dobke: Die Dieter Roth Foundation. Ein Künstlermuseum, in: Dieter Roth Foundation (Hg.): Dieter Roth. Originale, bearbeitet von Dirk Dobke, Hamburg / London 2002, S. 214. 174 Ina Jessen Abb. 1 Dieter Roth Tischmatte 1991–1998, Schreibtischunterlage aus Karton mit fixierten Fotos, Schreibgeräten, Tomaten auf Tischlerplatte, 104 x 200 cm, Dieter Roth Museum, Hamburg Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 175 Die Arbeit besteht aus vielfältigen, in ihrer ursprünglichen Eigenschaft und Funktion unterschiedlichen Elementen und Materialien.4 Neben all dem bereits Gezeichneten und Festgeklebten standen und lagen [auf der Matte, Anm. d. Verf.] Flaschen, Tassen, leere und noch volle Tablettenpackungen, Tomaten, etwas Brot und alle möglichen Abfälle, die Zeugnis vom Wochenende ablegten. [] [Roth] klebte [] die Stifte, Zettel, die Tomaten und alles das, was für ihn einen gewissen tagebuchartigen Mehrwert besaß, an der Stelle auf dem Graukarton fest, wo es gerade gelegen hatte.5 Gebunden an den Einsatz solcher alltäglichen Materialien kommen der Aspekt des Prozessualen und der in der menschlichen Existenz angelegte Verfall zudem als physische und intellektuelle Entwicklungsebenen Roths zum Vorschein. Nicht zuletzt aufgrund seiner körperlich geschwächten Verfassung zum Ende des Objektwerdungsprozesses verweist die Materialität seiner Arbeit auf die existenzielle Auseinandersetzung im Sinne des memento mori. Dabei wurde das Metabolistische des Selbst künstlerisch produziert, reproduziert und anhand unterschiedlicher Materialkonstruktionen, -beschaffenheiten und semantischer Zuschreibungen verhandelt. Dem Einsatz von Nahrungsmitteln als Kunstmaterial kommt hier eine Sonderrolle zu, da diese eine eigene, stark wandelbare Prozessualität aufweisen und durch Fäulnisprozesse visuelle und olfaktorische Rezeptionsweisen provozieren. In ihrer substanziellen Beschaffenheit ist zugleich die immanente Vergänglichkeit von Nahrungs- und Lebensmitteln angelegt, die entweder dem metabolistischen Prozess von Verdauung zuteil werden oder – so sie nicht verspeist oder konserviert werden – natürlichen Verfalls-, Verwesungs-, Schimmel- und Fäulnisprozessen anheimfallen. Aktiven Transformationsprozessen von Nahrungsmitteln als künstlerischem Werkstoff kommt insofern eine Sonderrolle zu, als diese beispielsweise multisensuell wahrnehmbar sind, unkonventionelle Praktiken verhandeln und zur Hinterfragung normativ geprägter Rezeptionsmuster beitragen. Sie spiegeln somit einen Kunstbegriff wider, der losgelöst von jedwedem Statischen funktioniert und sich der Evidenz und des Nomos eines immerwährend gleichbleibenden Kunstwerks verwehrt. Mit dem transmedialen Einsatz von Nahrungsmitteln, solchen und anderen 4 5 Roth arbeitete bis 1994 an der Tischmatte. Nach einer dreijährigen Pause nahm er die Bearbeitung im Januar 1998 wieder auf. Im Anschluss an eine Herzattacke beendete Roth die Bearbeitung, sodass die Tischmatte nach Ostern und damit wenige Monate vor seinem Tod als Objekt an der Wand im Appartment der Abteistraße fixiert wurde. Gespräch mit Dirk Dobke, 31.12.2018, vgl. auch: Dirk Dobke: Das Atelier als Kunstwerk bei Dieter Roth, in: Hayo Heye (Hg.): Wo Kunst entsteht. Künstlerateliers in Hamburg, Hamburg 2013, S. 52–53. Ebd. 176 Ina Jessen Abfällen im Werk Dieter Roths gelten seine Arbeiten als beispielhaft für den gemeinsam mit Daniel Spoerri (*1930) definierten Begriff Eat Art und die gleichnamige Kunstform.6 Schokolade, Käse, Früchte, Gewürze, Hackfleisch und viele andere Lebensmittel finden in Roths Œuvre ihre Verwendung als Kunstmaterial und damit einhergehend eine Neuzuschreibung in ihrer Funktion. Deren Einsatz birgt zugleich Raum für alternative Darstellungs- sowie multisensuell geprägte Wahrnehmungsund Rezeptionsweisen, aus denen heterogene Fragestellungen an das jeweilige Kunstobjekt wie auch Konzepte der Urheber- und Autorschaft resultieren. Hierbei wird die Reflexion von Aspekten wie Zufall und Zeitlichkeit, werk- und existenzbezogene Prozessualität oder Formen von Erinnerungskultur angeregt. Dieter Roths bislang in der Forschung wenig beachtete Werkgruppe der Tischmatten leitet in Hinblick auf diese Aspekte zu Fragen der Materialität, deren semantischer Konnotation und sensuellen Rezeptions-Wahrnehmung sowie der im Transformationsprozess vom Alltags- zum Kunstobjekt begriffenen Performativität. Im Zusammenhang der Werkgenese und -analyse des Objekts Tischmatte erschließen sich Materialzuschreibungen und Bedeutungsebenen mit konkretem Zeit- und Ortsbezug. So stellt sie eine sich translokativ wiederholende Raumstruktur dar, die als Kartografie von Arbeitsund Lebensorten, -prozessen und -zuschreibungen lesbar ist. Diese Einheit beschreibt der Sohn des Künstlers Björn Roth 2010: The studio was at once a workplace and an appartment. Things were flowed together and became isolated. It was a kind of laboratory, to search for the beauty in nothing, and a workship for assembling findings.7 Im Titelzusammenhang Mapping a World klingen unterschiedliche Perspektiven respektive Welten Dieter Roths an, deren Rezeptionsvoraussetzung wiederum auf der jeweiligen Materialität und bildlichen Darstellung sowie deren semantischer Aufladung basieren. Vom kulturell geprägten Ort der sozialen Begegnung etwa am Küchentisch, über die Verknüpfung von Esskultur, Lebensmitteln und deren Zuschreibung bis hin 6 7 Zur Forschungsgeschichte von Nahrungsmitteln als Kunstmaterial, siehe u.a. Roger Fayet und Regula Krähenbühl: Authentizität und Material. Konstellationen in der Kunst seit 1900, Zürich 2018. Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst, Ausst. Kat., Kunsthalle Düsseldorf, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009. Monika Wagner: Vom Umschmelzen. Plastische Materialien in Kunst und Küche, in: Beate Söntgen und Theodora Vischer (Hg.): Über Dieter Roth, Basel 2004, S. 121–135. Dietmar Rübel: Nahrung, in: Monika Wagner, ders. und Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002, S. 182–186. Ralf Beil: Künstlerküche. Lebensmittel als Kunstmaterial von Schiele bis Jason Rhoades, Köln 2002. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 197–234. Björn Roth: Introduction, in: Barry Rosen (Hg.): Dieter Roth, Björn Roth. Work Tables & Tischmatten, New Haven 2010, S. 29. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 177 zum Arbeitsplatz oder gar Lebensort Tisch – die Tischmatte verknüpft unterschiedliche Gebrauchs- und Deutungsformen des Objektträgers. Nachdem Roth Mitte der 1950er Jahre nach Island gezogen war, bedeutete der Tisch bereits in den Anfangsjahren den zentralen Arbeitsort für ihn. Da der Künstler in dieser Zeit, in der er sowohl Schmuck, Bücher als auch Möbel produzierte, nicht über ein Atelier verfügte, wurde der Tisch neben der gemeinschaftlich sozialen Komponente als Arbeitsort relevant.8 Die Tischmatte spiegelt das darauf stattfindende Leben. Dabei ist die darauf befestigte Materialsammlung äquivalent zur Kartografie bzw. den Landmarken, Orten und Ebenen einer Landkarte zu erachten, sodass die Fäden von Roths kunstspezifischer Lebensstruktur in bzw. auf der Tischmatte zusammen laufen. Einerseits sind es Ateliers und Lebensorte, die sich in der Tischmatte anhand entsprechender Utensilien oder Fotografien abbilden. So beschrieb Björn Roth ihren Stellenwert in den Ateliersituationen: Our studios were like ‚safe houses’. We could always find shelter there from various kinds of intrusion. In Mosfellsbær, Sey∂isfjör∂ur, Hamburg, Basel, Unterterzen, and Vienna. Different Places and different ambiences, but with one common elemnent: the work tables and the place mats – Tischmatten.9 Andererseits lassen die Materialzuschreibungen Rückschlüsse auf Roths Urheberund Autorschaft zu.10 Im selben Moment ist allen Deutungsebenen gemein, dass ihnen ein selbstreflexives Moment des Künstlers innewohnt. In der Abteistraße entstanden und von Roth über dem Bett – somit einem der intimsten Orte – gehängt, ist die Tischmatte eindeutig dem Hamburger Künstleratelier zuzuschreiben. Roth unterhielt zeitweise sieben Ateliers, die einem vergleichbaren Konstruktionsmodell mit wiederkehrenden Materialien, Schreib- und Arbeitsutensilien bis hin zu seinen selbstkonstruierten Holzmöbeln folgten und das künstlerische Wirken mit den realen Narrativen des Lebens verbanden. Seine in den wechselnden Lebens- und Arbeitsorten begriffene nomadische Existenz ist demnach in den Ateliersituationen gebannt, da diese wiederkehrende räumliche Voraussetzungen und Lebensstrukturen darstellen.11 Strukturell bildet sich der Atelierraum zudem in der Werkgruppe der Tischmatten und insbesondere im gleichnamigen Objekt ab. Indem Roth Zeichnungen 8 Vgl. Dobke 2013, S. 48. Roth 2010, S. 29. 10 Zu Autorschaft und Entgrenzung des Werkbegriffs vgl. u.a. Angela Matyssek: Entgrenzung / Begrenzung. Dieter Roths «Originale» als Museums- und Sammlungsobjekte, in: Roger Fayet und Regula Krähenbühl: Authentizität und Material. Konstellationen in der Kunst seit 1900, Zürich 2018, S. 132–153, S. 134. 11 Dauerhafte Ateliers hatte Roth in Island (Mosfellsbaer, Hellnar, Sey∂isfjör∂ur), Wien, Hamburg, Basel sowie teilweise in Zürich, London, Zug und anderen Orten. Vgl. hierzu Dieter Roth Foundation 2002, S. 196. 9 178 Ina Jessen und handschriftliche Notizen vermerkte, Arbeitsutensilien, Fotografien als Momentaufnahmen seines familiären Lebens und die Dokumentation von Werkentstehungsund Arbeitsprozessen festhielt sowie Relikte des alltäglichen Lebens in Form von Abfällen wie auch Notizen armierte, akkumuliert sich das Künstleratelier als Kleinformat wiederum in der Tischmatte. An der Wand über dem Bett in der Abteistraße 57 hat demzufolge ein Mapping stattgefunden, das sowohl kunst-, subjekt- und ortsspezifische als auch translokative Inhalte miteinander verknüpft. 12 Als Materialobjekt an der Schnittstelle zwischen Arbeits- und Lebensort begriffen, ist die Tischmatte zugleich als abstraktes, subjektives sowie lokal geprägtes Abbild ihres Urhebers lesbar. Letztgenannter Aspekt transportiert im Zusammenhang von Roths Ansicht seit den 1980er Jahren – „das tägliche Leben sei die wahre wirkliche Kunst“13– zugleich die Frage nach der tagebuchähnlichen, dokumentarischen oder kommentierenden Zuschreibung, wie sie etwa im Sammlungskatalog des Dieter Roth Museums in Hamburg (2002) mit der Gleichsetzung von Tagebüchern, Tischmatten und Zufallszeichnungen (im Sinne von Telefonzeichnungen 14) als Resultate von Roths konsequenter wie schonungsloser Selbstdarstellung begriffen ist. 15 Der vorliegende Beitrag dient der Untersuchung von Roths Tischmatte in Hinblick auf den Aspekt der Liminalität, inwiefern diese als Akkumulage reale, physische Räume simultan als Denk- und Reflexionsraum verknüpft, sodass beide Ebenen miteinander korrespondieren. Hierbei stellen materialspezifische Metabolismen im Sinne realer Transformationsprozesse den Ausgangspunkt zur Objektuntersuchung dar. Auf dem Objektträger fixierte Gegenstände, Roths Zeichnungen sowie jeweils einhergehende Bedeutungszuschreibungen stehen dabei ebenso im Betrachtungsfokus wie die Semantiken geistiger, physischer und kunstbezogener Nahrung und schließlich der Objektwerdungsprozess der Tischmatte. Die Tischmatte (1991–1998) Die mit vielfältigen Materialien versehene Kartonfläche beträgt in den Maßen 104 x 200 cm und ist ausgehend von beiden Querseiten bearbeitet. Roth wirkte folglich 12 Im Moment der Gleichgewichtung aller Materialien als „Leben in der Kunst“ anerkennt und zeigt Roth die Gattungszuschreibungen auf, verwehrt sich dieser Form der Hierarchisierung jedoch. 13 Roth entwickelte die seitens der Künstler*innen-Generation der 1960er Jahren geforderte kausale Einflussnahme von Kunst und Leben weiter, indem er diese kausale Verwebung seit den 1980er Jahren nicht länger als Forderung postulierte, sondern diese zum zentralen Gegenstand und Ausgangpunkt seiner Kunst im alltäglichen Umgang manifestierte, vgl. Dieter Roth Foundation 2002, S. 201. 14 Zu den Telefonzeichnungen vgl. Klaus Fischer et al.: Über Telefonzeichnungen von / about telephonedrawings by Franz Eggenschwieler, Alfonso Hüppi, Dieter Roth, Stuttgart / London 1980. 15 Vgl. Dieter Roth Foundation 2002, S. 201. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 179 perspektivisch von zwei Seiten daran, zeichnete darauf, integrierte Notizen und beklebte sie mit Fotos und diversen anderen Gegenständen. Von beiden Seiten weist das Zentrum der Pappoberfläche zahlreiche, bis zur Unkenntlichkeit ineinander verwobene Zeichnungen auf. Das Gewimmel erinnert in übersteigerter Form an den 1970 von Roth gestalteten Siebdruck Daheim, der ebenfalls eine Vielzahl unterschiedlicher Motive und ineinander verwobene Schraffuren aufweist und somit einen vergleichbar chaotischen Zustand widergibt.16 Im Verhältnis zur benannten Druckgraphik handelt es sich bei den Zeichnungen auf der Tischmatte jedoch vielmehr um Linienformationen und Kompositionen, die ihren Ursprung etwa in der konzentrisch-spiralförmig entwickelten Rahmung von Notizen wie Namen, Telefonnummern oder ähnlichem fanden und somit keine eigentlichen Motive darstellen. Die Linien und Schraffuren sind vielfach so eng ineinandergreifend, dass der Eindruck des Chaos umso stärker hervortritt. In diesem zeichnerischen, auf den alltäglichen Arbeitsprozess rekurrierenden Objektelement der Tischmatte liegt zugleich der Ursprung dieser Objektgattung begründet. Während andere Künstler jener Zeit unter Drogeneinfluss, mit verbundenen Augen oder der linken Hand arbeiteten, um zu einer authentischen Zeichnung zu gelangen, begann Roth schlichtweg seine beim Telefonieren entstandenen Zeichnungen und gekritzelten Notizen aufzuheben. Ab 1977 definierte er jene vollgeschriebenen dicken Graupappen, Buchbinderkartons, die als Schutz auf allen Arbeitstischen in den Ateliers lagen, als vollwertige Bilder. Damit hatte er sich fast beiläufig eine neue Form der annähernd automatischen Bildproduktion erschlossen.17 Die auf der Tischmatte sichtbaren Zeichnungen lassen keine konkrete Motivik – wie etwa jene Stempelzeichnungen zum Mundunculum (1961) – erkennen. Diese Tatsache geht auf die in den 1970er Jahren im Sinne des freien Zeichnens entstandenen Telefonzeichnungen zurück.18 Die willkürlich erscheinende Akkumulage unterschiedlicher Gegenstände und Materialien auf der Pappe wirkt vergleichbar in der Beiläufigkeit und ist zugleich bild- und objektprägend für die Tischmatte. Teilweise dienen Papierstücke wie die auf dem Karton fixierte Quittung der Drogerie Meister als Zeichnungsgrundlage, meist zeichnete Roth hingegen direkt auf der Pappunterlage. Zu 16 Dieter Roth, Daheim, 1970, Siebdruck, 15 Farben auf grauem Karton, 65 x 92 cm, Auflage: 120, nummerierte und signierte Unikate, ca. 20 Künstlerexemplare, Druck: Hartmut Kaminski, Düsseldorf, Verlag: Dieter Roth, Düsseldorf und U. Breger, Göttingen. Inv.-Nr. DRF: G 7020143. 17 Dobke 2013, S. 49. 18 Telefonzeichnungen entstanden während des Telefonierens und implizieren eine Unmittelbarkeit im Entstehungsprozess, die darauf zurückgeht, dass es sich um eine nicht-intendierte Motivik als Kritzelei handelt. Der zeitgleiche Prozess des Zeichnens und Telefonierens findet auf einer Metaebene statt, die keine bewusste Intention des Gezeichneten bedingt. Diese Prozessualität schildert Roth im Vorwort zur gleichnamigen gemeinsamen Publikation mit Alfonso Hüppi und Franz Eggenschwiler, vgl. Dieter Roth: Vorwort, in: Fischer 1980, o.S. 180 Ina Jessen Abb. 2 Dieter Roth, Supermatte, 1976–1977, Bleistift, Tusche, Acrylfarbe auf Karton, 70 x 100 cm, Dieter Roth Museum, Hamburg den typographischen Elementen zählen handschriftliche Notate wie die Namen von Beat K. oder WOOL Ira, jeweils mit der entsprechenden Telefonnummer versehen, oder die Notiz, dass Vera in der Schule ist (Vera edda i skolen). 19 Mit dem im Ursprung als Arbeitsunterlage verwendeten Karton hatte Roth einen der hölzernen Tische im Hamburger Atelier versehen, ehe er den Umwandlungsprozess von der Arbeitsunterlage zum Kunstobjekt vollzog. Einerseits diente der Karton somit im Ursprung als Schutz der Tischplatte vor etwaigen Verschmutzungen, sodass sich hierin seine ursprüngliche Funktion als Arbeitsunterlage zeigt, andererseits versah der Künstler seine papierenen Unterlagen mit Farbproben, Zeichnungen und anderen handschriftlichen Notaten. Dies geht etwa aus den ebenso zur Objektgattung der Tischmatten zählenden Arbeit Supermatte (1976–1977) hervor (Abb. 2). Bei dieser hatte Roth darauf verzichtet, unterschiedliche Materialien zu assemblieren und es bei der Einbindung von Zeichnungen, Farbproben und handschriftlichen Beigaben belassen. Die gleichnamig zu der von Roth konzipierten Gattung titulierte Tischmatte be- 19 Im Rahmen künstlerischer Arbeitsprozesse – etwa in dem noch heute zu besichtigenden Raum mit Selbstturm und Löwenturm im Kunstmuseum Basel I Gegenwart – wurde Dieter Roth unter anderem durch seinen langjährigen Freund Beat Keusch unterstützt. In Kollaboration mit seinen Kindern, für und bei dem befreundeten Ira Wool hatte Dieter Roth zwischen 1976 und 1984 das große Wandbild Chicago Wall. Hommage à Ira and Glorye Wool (1976–1984) angefertigt, vgl. hierzu: Ina Jessen: Dieter Roth. Chicago Wall. Hommage to Ira and Glorye Wool, 1976–1984, in: Kunstmuseum Bern. Die Meisterwerke, Sammlungskatalog, München 2016, S. 151. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 181 schreibt aufgrund ihrer Materialfülle und -diversität sowie den damit einhergehenden semantischen Lesarten eine besondere Objektreferenz. So zählen sowohl Lebensmittel als auch Fotografien, ebenso zahlreiche wie unterschiedliche Arbeitsutensilien, Abfälle, Besteck und Notizzettel zu den darauf fixierten Elementen. Der Tisch ist für seine an sich sehr ordnungsliebende Art ungewöhnlich vollgemüllt. Vor seinem Stuhl in der Mitte liegt ein Buch über die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Drum herum benutzte Gläser, Münzen, leere Joghurtbecher, aufgebrauchte Tablettenverpackungen und sonstiger Abfall, der dort vom Wochenende liegen geblieben ist. Bier und Kaffeereste, erklärte er, seien die Zeugen eines eiligen Alkoholentzugs. [Dieter Roths] Herzprobleme seien über Ostern so stark geworden, dass er sich mittels Kaffee, Bier und Medikamenten von einem Tag auf den anderen vom täglichen Gin kuriert habe.20 In Dirk Dobkes Beschreibung wie auch der Objektdatierung 1991 bis 1998 klingt bereits der vom alltäglichen Leben geprägte, langwierige Entwicklungs- und Objektwerdungsprozess an. So war die Tischmatte Unterlage für alle Dinge, mit denen Roth alltäglich umging, die sein Leben dokumentieren und die er im Objektwerdungsprozess einsetzte. Dies sind Elemente unterschiedlicher Funktion und Materialität, die ebenso divers konnotiert sind, wie aus den Beschreibungen zum Zustand des Tisches wie auch Roths körperlicher Verfassung hervorgeht. So belegt die leere Medikamentenpackung von Thomapyrin-Schmerztabletten dessen physischen Schmerz und wiederum den kalten Alkoholentzug, bedingt durch das unmittelbare und heftige Herzleiden. Zugleich zeigt sich hieran Roths Auseinandersetzung mit dem Tod, dessen Nähe für den Künstler im Moment der akuten Gesundheitsgefährdung eine existenzielle wie bedrohliche Erfahrung gewesen sein muss. Insofern tritt ein implizites memento mori zutage, wobei das Visionäre zur bedrohlichen Gewissheit transzendieren sollte. Einerseits bezeugen die befestigten Gegenstände den Exzess, andererseits zugleich den damit einhergehenden Verfall. Violettblaue Eierschalen-Fragmente verweisen auf den zeitlichen Zusammenhang um Ostern 1998 und zugleich das zeitliche Moment des Objektstatus-Wandels von der Tischmatte als Arbeitsunterlage zum gleichnamigen Kunstobjekt.21 Zu den weiteren akkumulierten Elementen zählt der Haken eines Kleiderbügels ebenso wie Gummibänder, Rechnungen und Quittung sowie ein Reinigungsbeleg. Neben kleinformatigen Geburtstagskuchen-Kerzenhaltern aus Plastik fixierte Roth Korkenzieher und Korken sowie Kronkorken, die als Relikt des Alkoholkonsums ebenso den Kreislauf von Versuchung und Zerstörung dokumentieren. Letztere 20 21 Vgl. Dieter Roth Foundation 2002, S. 214. Zur Datierung der abschließenden Arbeiten an der Tischmatte an Ostern 1998, vgl. Dobke 2013, S. 52–53. 182 Ina Jessen kennzeichnen zudem die selbstreflexive Ebene Roths als Trinker, wie sie beispielsweise auch in der Mappe Unterhaltungsmusik 1 verhandelt wird und insbesondere an der Ätzradierung Warum der Wittgenstein ein Asket sein muß und warum der Rot kein Philosoph sein kann von 1966 deutlich wird.22 Das Blatt verbindet Querschnitt-Zeichnungen zu den Kopfprofilen Roths und Ludwig Wittgensteins inklusive den jeweilig schematisch aufgezeigten Gehirnwindungen mit entsprechend erläuterndem Text. Roth stellt sein Konterfei konkret dem österreichisch-britischen Wittgenstein gegenüber, dessen Philosophie maßgeblich auf Fragen des Wesens, der Form und Wahrheit des Satzes im Sinne der Logik zum Wesen der Welt basiert. Der direkte Vergleich impliziert etwa Roths Bezug auf Wittgensteins Welterklärung „1. Die Welt ist alles, was der Fall ist. 1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“, indem Roth die Tatsachen entsprechend beigefügter Attribute wie Zigaretten, Alkohol und Nahrung respektive „Scheisse“ aufzeigt. Zudem findet eine kritische Selbstüberprüfung statt, indem die Radierung mit „Bemerkungen“ ergänzt ist: 1: der fluss des denkens hat die form der haut 2: das denken des philosophen will im kreis fliessen 3: Rots denken fliesst um die in seine haut eingegangenen dinge herum [] zu A + 1: die denkbahnen des Vegetariers und Nichtrauchers und Nichttrinkers zu B + 2: die denkbahnen des fastenden leeren Asketen Wittgenstein zu C + 3: die denkbahnen des rauchenden und trinkenden und Scheisse fressenden Rot. Diese existenzielle Selbstbeleuchtung findet am Beispiel der Tischmatte neben den alltäglich gebrauchten Gegenständen wie Korkenziehern oder Abfällen mit Rothreflexiver Zuschreibung zudem anhand von Fotografien statt. Selbstportraits, Fotos und Polaroid-Aufnahmen etwa von Roths Familienangehörigen sowie Ateliersituationen, dem Materialobjekt Keller-Duo (1980–1989) im Entstehungsprozess sowie Moment- und Zustandsaufnahmen vom Entstehungsprozess der Tischmatte zählen zu diesen Aufnahmen. Zu den weiteren befestigten Alltagsgegenständen zählen Löffel, ein CocktailStick, Einkaufszettel, das Stanniolpapier einer Pralinenummantelung, Batterien, Locher-Konfetti, eine Glühbirne,23 Büroutensilien wie Klebstoff (UHU), Büroklammern, Stifte, Klebeband, zudem Schrauben, Dübel und 21 Nägel zur Befestigung der Tischmatte auf der Tischlerplatte, damit diese nicht verrutscht sowie Hygieneutensilien wie 22 Dieter Roth, Warum der Wittgenstein ein Asket sein muß und warum der Rot kein Philosoph sein kann, 1966, Tiefdruck (Ätzung), schwarz auf weißem Bütten, 27,5 x 22,3 cm (Platte), ca. 10 Probedrucke, Druck: Radierklasse Dadi Wirz, Rhode Island School of Design, Providence, in: Unterhaltungsmusik 1, schwarz auf weißem Bütten, 57 x 79 cm, Druck: Harry Snook, London, Verlag: Divers Press, London 1969. 23 In motivischer Hinsicht treten hieran erneut Werkbezüge zutage wie etwa zu Dieter Roth, Zwei Birnen (1969), Pressung, Glühbirnen und Leim in Plastiktasche, 35 x 43 cm, Aufl.: 100, nummerierte und signierte Unikat, 5 Künstlerexemplare. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 183 Wattestäbchen, Zündhölzer (2 Päckchen), Gepäckanhänger, ein Boardingpass und Bierdeckel. Über diese persönlichen wie auch tätigkeitsbezogenen Gegenstände und Fragmente von Dingen aus dem Appartement, Atelier und persönlichen Leben des Künstler hinaus sind Lebensmittel wie zwei fragmentierte Scheiben Toastbrot, Tomaten, halbierte Pfirsiche oder Äpfel und Brotkanten auf der Tischmatte erkennbar. Dabei weist das Objekt im Zuge von Alterungsprozessen aktuell einen heterogenen Zustand im Vergleich zu früheren Objektzuständen auf. Insbesondere die Lebensmittel haben starke Veränderungsprozesse durchlaufen und sind teilweise nicht mehr vorhanden. Küchenabfälle wie die Eierschalenstücke und andere übriggebliebene Lebensmittel stellen alltägliche Lebens- und Alltagsbezüge her und bedeuten aufgrund ihres organischen Verfallsprozesses ein aktives Vanitas-Moment. Sind sie nicht einem natürlichen Vertrocknungsprozess anheim ge- oder tatsächlich zerfallen, wurden sie buchstäblich aufgefressen, wie es die Einfluglöcher von Insekten etwa an den Brotkanten belegen. So fehlen die getoasteten Brotscheiben, Tomaten und Früchte sind vertrocknet sowie farblich vergraut, die Brotkanten weisen ausgeprägte Fresskanäle auf. Dies wird im Verhältnis des aktuellen Objektzustands gegenüber einer Abbildung von 2002 deutlich.24 Hieran zeigt sich der Alterungsprozess als metabolistisches Verdauungsmoment, das der Tischmatte implizit ist und aus der sich die Konsequenz dieses Werkstoffes ableitet: diese besteht im Aspekt des Ephemeren und damit in der Auflösung des Nahrungsmittels als Kunstmaterial sowie dem schwindenden Kunstobjekt. Da die Materialien im Sinne von Roths Credo der Einheit von Kunst und Leben demokratisiert und gleichgestellt sind, ist der durch ihn performativ angestoßene Transformationsund Verfallsprozess zugleich auf jedwede menschliche Existenz und somit auch die seine zu beziehen. Waren die eingesetzten Nahrungsmittel einst zu Verzehr und Einverleibung bestimmt, findet der Metabolismus hier nicht mehr im menschlichen Verdauungstrakt sondern als organischer Verfallsprozess des Kunstobjektes statt und ist als „materielle Kommunikation des Essens selbst [] Gegenstand der Kunst.“25 Gleichzeitig ist die Nahrungsaufnahme mit der visuellen und olfaktorischen Wahrnehmung von Kunst gleichzusetzen. Diese körperlich-sinnliche Rezeptionsform ruft kognitive Bezüge hervor, wie sie etwa in Marcel Prousts physischer und memorativer GenussErfahrung der ‚Madeleine’ in Verbindung mit dem Lindenblütentee geschildert wird. 24 25 Vgl. Dieter Roth Foundation 2002, S. 190‒191. Rübel 2002, S. 184. 184 Ina Jessen Wie es sich mit der ‚Madeleine’ verhält. Semantiken geistiger, physischer und kunstbezogener Nahrung „Wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.“26 In seiner vielfach zitierten Episode über das kleine Gebäck ‚Madeleine’ verhandelt der französische Schriftsteller und Sozialkritiker Marcel Proust (1871–1922) die Verankerung und Verknüpfung von Erlebtem mit und in der sinnlichen Wahrnehmung von Nahrung. Das kleine Gebäck entsendet den Protagonisten im Moment der gustatorischen Erfahrung seines Geschmacks in Verbindung mit dem Lindenblütentee in eine vormalige Welt, die in der Vergangenheit existierte. Allein durch dieses gustatorische und olfaktorische Moment, kann das Erlebte als Erinnerung ins Bewusstsein gerufen werden und somit kognitiv und emotional in der Gegenwart fortbestehen. Dieses Erfahrungsmoment ist subjektiver Natur und durch die Reduktion auf das geistige Moment rein ephemer. Einen auf soziale Gefüge und die Verbindung mit sprachlichen Ausdrucksweisen bezogenen Aspekt stellt Klaus Pfenning 2017 heraus. Die erinnerungsgeprägte, semantische und im Spiegel der Literaturgeschichte betrachtete Konnotation von Essen und dessen Diskrepanz zur ‚Mahlzeit’ beschreibt er folgendermaßen: Und dann erst das Schmecken! Allein die Erinnerungen sind ein lustvolles Erlebnis. Seit Jahrhunderten schreibt die Literatur immer wieder von ihm. Sie macht uns klar, dass jede Mahlzeit auch eine soziale Situation ist, unser Gedächtnis bestätigt diese Einsicht und erweist sich als vielschichtig abhängig von der Sprache. Fragt man im Rückblick, was denn nun die beste ‚Mahlzeit’ überhaupt gewesen sei, die man zu sich nehmen durfte, lenkt uns die Erinnerung primär auf die Speisen, die man auf dem Teller hatte. [] Fragt man dagegen nach dem schönsten Essen, das man erlebt hat, stehen nicht die Speisen, sondern die Atmosphäre, die Kontakte, die Gesprächspartner im Vordergrund des Gedächtnisses. Der Sprachgebrauch zeigt es: Das ‚Essen’, so erweist sich, ist ein komplexer Begriff, er umfasst sowohl eine Handlung als auch eine Speise und eine vielschichtige Bedeutungssituation.27 26 27 Marcel Proust: In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit I, zitiert nach: Beil 2002, S. 26. Klaus Pfenning: Neue Drucktechnologien als Appetizer, in: Alois Wierlacher und Regina Bendix (Hg.): Kulinaristik. Forschung – Lehre – Praxis, Berlin 2008, S. 187. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 185 Hierin spiegelt sich ein soziologisch bedingter, in der jeweiligen Erinnerung sichtbar werdender Verdauungsprozess, der das individuelle Subjekt, also die sich an das Essen oder die Mahlzeit erinnernde Person, durch Einflüsse wie soziale und damit zwischenmenschliche Beziehungen und Interaktionen prägt. Die olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung bildet dabei die sinnbildliche Brücke zu subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen. Es handelt sich um das Erlebnis des Essens und der Speisen, die etwa Pfenning beschreibt und die im Essens-Gedächtnis gespeichert bleiben sowie assoziativ auf die Gegenwart transferiert werden. Dies geschieht, indem die Erinnerung als Maßstab fungiert und somit als Vergleichsmoment im Positiven wie Negativen Verwendung findet. In diesem Zuschreibungs-Zusammenhang ist auch die semantische Ebene von Lebensmitteln wie Schokolade, Fett, Brot, Gewürzen, Käse, oder Wurst zu erachten, wie Roth sie in seinen Arbeiten als Kunstmaterial und Werkstoff einsetzte. In zahlreichen Fällen wirken solche Kunstmaterialien dabei zunächst über den Geruchssinn, ehe die Rezeption über den visuellen oder gar taktilen Sinn erfolgt und schließlich synästhetisch wahrnehmbar wird. Am Beispiel eines Museumsbesuchs wird deutlich, dass bereits beim Betreten musealer Räume wie dem 2003 abgerissenen Schimmelmuseum oder dem heutigen Dieter Roth Museum in Hamburg der Duft von alter, süßlich-klebriger Schokolade wahrnehmbar ist. So geht von Roths Schokoladenobjekten – etwa dem 1993 umgesetzten Schokoladenlöwenturm – trotz einiger Dekaden zwischen Produktion und Geruchserlebnis ein intensiver Duft aus.28 Eine besondere Gattung spiegeln in diesem Kontext die zwischen 1967 und 1972 angefertigten Objekte der Werkgruppe des Melancholischen Nippes unter der vielfach primären Verwendung des Werkstoffs Schokolade dar.29 Der metaphorische Verweis auf die Zeit der Kindheit, der mit dem visuell und olfaktorisch wahrnehmbaren Material der Schokolade in Kombination etwa mit Blechspielzeugen einher geht, deutet als Rekurs auf Roths eigene frühen Jahre in Hannover und ab 1943 in der 28 Vgl. Beil 2002, S. 21. Mit materiellen Verfallsprozessen geht vielfach eine Transformation von Gerüchen einher, die aufgrund von Fäulnis- und Zersetzungsprozessen zunächst verstärkt wahrnehmbar sind, die Intensität des Geruchserlebnisses jedoch sukzessive abebbt. Diese sind abhängig vom jeweiligen Lebensmittel und dessen Eigenschaften. So führt der Restaurator Christian Scheidemann in Bezug auf die werkimmanente Geruchskomponente als wesentlichem Objektbestandteil an: „Dieter Roths Camembert-Objekte strahlten damals einen penetranten Geruch aus, heute nicht mehr. Als Restaurator müsste man vielleicht, quasi als Retusche, eine Form von Aromastoff finden, um solche Gerüche wiederherzustellen.“ Peter Sager: Der Herr der Speisereste. Peter Sager im Gespräch mit Christian Scheidemann, in: ZEIT-Magazin, Nr. 49, Essen & Trinken Special, 28.11.1997, S. 62. 29 Vgl. Dobke 2002, S. 56; Zur Werkgruppe des Melancholischen Nippes, siehe Dirk Dobke: Melancholischer Nippes, 2 Bde., Köln 2002. 186 Ina Jessen Abb. 3 Dieter Roth, Motorradrennen III, 1970–1990, Spielzeugmotorräder und fahrer (mit Beiwagen- und Beiwagenfahrern), Mal- und Kochutensilien in Schokolade auf Holz, 33 x 46 x 18 cm, Dieter Roth Museum, Hamburg Schweiz hin. Das Objekt Motorradrennen III (1970–1994) verdeutlicht diese Lesart, indem Motorradfahrer mit Beiwagen als Blechspielzeuge in einem Block aus Schokolade eingegossen und fixiert sind (Abb. 3).30 Sieben Motorradfahrer-Fragmente sind erkennbar, die – so scheint es – entgegen der Leserichtung in eine Schokoladen-Überschwemmung hineinfahren und von dem Material umringt und eingeschlossen sind. Die Schokolade gibt die kleinen Blechleiber und ihre Gefährte nicht mehr frei, sodass die Biker im metaphorischen Sinne unweigerlich erdrückt werden und in der ausgehärteten Schokolademasse ersticken. Zugleich handelt es sich bei der üppig die Blechspielzeuge übergossene Schokolade um einen besonderen Werkstoff: Schokolade als Rarität und teures Gut stellte insbesondere in den Jahren des Mangels der Kriegs- und Nachkriegsjahre eine Seltenheit und Kostbarkeit dar. Die von Roth eingesetzten, verschwenderisch großen Materialmengen lassen im Umkehrschluss soziokritische und moralisch bewertende Lesarten zu Idiomen wie ‚Mit dem Essen spielt man nicht’ zu. 30 Dieter Roth, Motorradrennen III, Köln 1970 – Hamburg 1990, Spielzeugmotorräder und -fahrer (mit Beiwagenund Beiwagenfahrern), Mal- und Kochutensilien in Schokolade auf Holz, 33 x 46 x 18 cm, Hamburg, Dieter Roth Foundation. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 187 Im Interview mit Peter Hans Göpfert beantwortete Roth die Frage, ob die von ihm eingesetzten Lebensmittel eine symbolische Bedeutung innehaben, mit: „Ich glaube nicht. Vielleicht auch doch. Da muß man die Spezialisten fragen []“31. Im Sinne Prousts impliziert Roths Arbeitsweise eine naheliegende Verbindung von kognitiv-emotionaler Rezeption im Moment der organischen Nahrungsaufnahme respektive Wahrnehmung, wobei der Schriftsteller Proust lediglich das Bild der ‚Madeleine’ wiedergibt, der bildende Künstler Roth den Rezipierenden das Nahrungsmittel Schokolade hingegen tatsächlich visuell und olfaktorisch präsentiert. Es ist die schwere Süße, die durch die alternde Schokolade ausdünstet und den olfaktorischen Reiz der Rezipierenden erfüllt. Im Zusammenspiel mit blechernen Spielzeugen als buchstäbliche Zeugen und Relikte einer Zeit, in der auch Roth Kind war, verweist die Intensität des Schokoladengeruchs fast plakativ auf eine selbstreflexive Lesart. 32 Insofern erscheint der Verweis auf autobiographische Kindheitserfahrungen in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs naheliegend. In Hinblick auf die reproduzierte Wiedergabe von Lebensmitteln und damit Abbildungen derselben, schreibt Pfenninger: Das Auge isst also mit, wissen wir. Es stiftet einen Teil des Sinnlichen Wahrnehmung, häufig den ersten. In aller erster Linie gilt dies natürlich für den Anblick von OriginalLebensmitteln. Bei der gedruckten Darstellung von Speisen und Getränken verhält es sich vom Grundsatz her aber nicht anders: Eine fotografisch und drucktechnisch hochwertige Abbildung in Kochbüchern, Katalogen, Anzeigen, Kalendern und Prospekten kann schnell Appetit machen, eine schlechte ihn leicht verderben.33 Die reine Abbildung von Lebensmittel wird durch Künstler*innen verstärkt seit den 1960er Jahren durch den aktiven Einsatz derselben als Kunstmaterial ergänzt und ersetzt. Als beispielhaft sind demzufolge auch die an der Schnittstelle von Nahrung als Kunstmaterial und semantischer Zuschreibung fungierenden Arbeiten der angeführten Künstlerposition Roths zu begreifen. Er verhandelt die Redewendung ‚das Auge isst mit’ in metaphorischer Hinsicht, indem er die metabolistische Beziehung von Sehens- und physischen Verdauungsprozessen zum Gegenstand seines Gedichts Mein Auge ist ein Mund (1973) macht. 31 Dieter Roth und Peter Hans Göpfert: Ich weiß es nicht. Wie ein Gespräch mit Di(e)ter Rot(h) verläuft, in: Barbara Wien (Hg.): Dieter Roth. Gesammelte Interviews, London / Berlin 2002, S. 189–190, S. 190. 32 Roths Auseinandersetzung mit dem Themenspektrum um Maskulinität und Potenz in Hinblick auf das Motorradfahrer-Motiv wird an dieser Stelle nicht näher beleuchtet. Zur Ikonographie des Motorradfahrers, des erschlafften männlichen Geschlechtsorgans und „kaschierter Impotenz“ vgl. Ina Conzen: Dieter Roth. Die Haut der Welt, Köln 2000, S. 28. 33 Pfenning 2008, S. 188. 188 Ina Jessen mein Auge ist ein Mund meine Lider sind des Mundes Lippen meine Wimpern sind des Mundes Zaehne mein Augapfel ist des Mundes Zunge mein Augenstern ist des Mundes Zungenspitze meine Pupille ist des Mundes Kuss meine Augenhoehle ist des Mundes Gaumen mein Sehnerf ist des Mundes Schlund mein Gehirn ist des Mundes Magen meine Bilder sind des Mundes Verdauung mein Leben ist des Mundes Kot mein Kot ist des Auges Leben meine Verdauung ist des Auges Bilder mein Magen ist des Auges Gehirn mein Schlund ist des Auges Sehnerf mein Gaumen ist des Auges Hoehle mein Kuss ist des Auges Pupille meine Zungenspitze ist des Auges Stern meine Zunge ist des Auges Apfel meine Zaehne sind des Auges Wimpern meine Lippen sind des Auges Lider mein Mund ist ein Auge34 Das Gedicht zeigt den visuellen Metabolismus in reziproker Verbindung mit dessen organischer Zuschreibung und bindet somit die Assoziation von visualisierter und aktiver Verdauung an sich. Dabei nimmt der hier beschriebene Metabolismus über den physischen Verdauungsprozess hinaus auch den kognitiven, mentalen und sinnlichen Metabolismus in sich auf, sodass die Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung sowohl auf körperliche Metabolismen als auch metaphysische Prozesse Bezug nehmen. In der Kombination unterschiedlicher, oftmals alltäglicher Materialien sind Roths Lebensmittelobjekte multisensuell erfahrbar. Darin setzt er den eindeutig der Verdauung und dem Zerfall zugedachten Werkstoff Nahrungsmittel in Hinblick auf diese zentrale Eigenschaft ein. 34 Dieter Roth: Frühe Schriften und typische Scheiße, Darmstadt bei Neuwied 1973, o.S. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 189 Entstehungs - und Objektwerdungsprozess der Tischmatte als statusbezogener Metabolismus Die Tischmatte selbst gibt Aufschluss über ihren Objektwerdungsprozess, indem Fotografien derselben im Entstehungsprozess darauf befestigt sind und somit Momentaufnahmen des Transformationsprozesses in einem früheren Stadium abbilden. Die ursprüngliche Arbeitsunterlage wird seitens des Künstlers und allen am Entstehungsprozess beteiligten Personen sukzessive zu einem Kunstobjekt transformiert, wodurch ein statusbezogener Umwandlungsprozess stattfindet. Demnach zeichnete Roth auf der Pappe und fixierte die Fotografien, ehe er die übrigen organischen und dreidimensionalen Materialien hinzufügte. Zwei überlappend angebrachte Fotografien in der oberen linken Tischmatten-Ecke dokumentieren darüber hinaus, dass Roth die Matte tatsächlich als Arbeitsunterlage nutzte; erkennbar sind neben einem Telefon, Kaffeetassen, Bücher oder andere Büroutensilien.35 In Zusammenarbeit mit dem Schreiner Heinz Busse und dessen Sohn Dirk Busse wurde die Tischmatte auf einer „etwa zwei Meter breite Tischplatte auf Holz aufgezogen und über sein Bett gehängt (O 98 0001)“ (Abb. 4).36 Dabei stimmt das zugrundeliegende Konzept mit den Fallenbildern Daniel Spoerris überein. So beschreibt Spoerri 1968 „das Fallenbild“ in seinen Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls.37 In unordentlichen oder ordentlichen Situationen zufällig gefundene Gegenstände werden, genau dort, wo sie sich befinden, auf ihrer Unterlage (je nach Zufall – Tisch Stuhl, Schachtel u. a. m.) befestigt. Verändert wird nur ihre Lage im Verhältnis zum Betrachter: Das Resultat wird zum Bild erklärt, Horizontales wird Vertikales. Beispiel: Die Reste eines Frühstücks werden auf dem Tisch befestigt und mit dem Tisch an der Wand aufgehängt38 Als Tische konzipiert, wurden die darauf platzierten Speisen buchstäblich aufgegessen. Verwendete Utensilien wie Geschirr, Besteck und die Lebensmittel und wiederum abgegessene oder übrig gelassene Speisen und Essenskultur-Relikte wurden nach dem Mahl auf den Tischplatten fixiert. Einerseits bilden sich hieran Spuren der Nahrungsaufnahme sowie der Essgemeinschaft ab, sodass das Lebensmittel semantisch mit der soziokulturellen Zuschreibung des Essens und der Tischgemeinschaft konnotiert ist. 35 Ausgangspunkt der Betrachtung ist die aktuelle Hängung im Dieter Roth Museum (2019). Dieter Roth Foundation 2002, S. 214. 37 Vgl. ebd. 38 Daniel Spoerri: Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls, Neuwied / Berlin 1968, S. 122. 36 190 Ina Jessen Abb. 4 Dieter Roth, Heinz Busse und Dirk Busse während der Hängungsvorbereitung der Tischmatte im Künstleratelier (Abteistraße, Hamburg), April 1998 Es bindet eine Dokumentation von sozialer Gemeinschaft, Interaktion und Einverleibung in sich.39 Andererseits wird der performative skulpturale Akt der Objektherstellung deutlich. Letzterer zeigt sich beispielsweise in der Arbeit vorher – nachher von 2013 (Abb. 5). Mit dem Shift des dargestellten Tisches aus der horizontalen Ausrichtung in die Vertikale und ihrer Hängung an die Wand, entzog der Künstler respektive die jeweilig beteiligte Person ihr die ursprüngliche Intention als Tischplatte und verlieh ihr zugleich einen neuen Status: den eines Kunstobjekts. Im Zusammenhang des Tisches sowie des Objektwerdungsprinzips, das unter anderem aus dem Spiel der Perspektiven – aus der Horizontalen in die Vertikale – resultiert, ist die Werkgruppe der Tischmatten Dieter Roths äquivalent zu betrachten. Im Ausgangsmoment besteht ein Anklang an Daniel Spoerris Arbeiten, indem etwa Bezüge auf die formale Struktur, den performativen Akt des Hängens und gewissermaßen auch auf die Intention in dessen Fallenbildern bestehen. Dabei ist Roths Tischmatten-Prinzip ein spezifischer, auf drei Ebenen wirksamer Metabolismus immanent: einerseits wird dieser anhand der Materialität und damit einhergehender, tatsächlicher Verfallsprozesse sowie den jeweiligen semantischen Zuschreibungen generiert. Ein zweiter Aspekt besteht in der tagebuchähnlichen Implikation der Tischmatte, um die Objektgattung im Werkzusammenhang einordnen und kategorisieren zu können. Schließlich 39 Vgl. Renate Buschmann: Evokationen von Genuss und Ekel. Daniel Spoerri und die Etablierung der Eat Art, in: Eating the Universe. Vom Essen in der Kunst, Ausst. Kat., Kunsthalle Düsseldorf, Galerie im Taxispalais Innsbruck, Kunstmuseum Stuttgart, Köln 2009, S. 20–55, S. 32. Mapping a World. Zur Tischmatte von Dieter Roth 191 Abb. 5 Daniel Spoerri, vorher – nachher, 2013, 75 x 75 x 1,5 cm, zwei Motive à 25 Blatt im Block, Schuber aus Balsaholz, vorder - und rückseitig mit jeweils signiertem Blatt kaschiert, Rücken mit Lasergravur, Edition griffelkunst bildet sich die dritte Ebene im transformativen Hängungs- und damit Objektwerdungsprinzip ab. Mit der Befestigung der im Atelier und zum Herstellungsprozess der Tischmatte notwendigen Materialien und Arbeitsutensilien schließt Roth die Fertigstellung der Tischmatte schließlich auch bildlich ab. „Roth [] fixierte Schreibutensilien, die sich gerade auf den Unterlagen befanden. Erst nach diesem Finish signierte er sie und erklärte sie zu Werken.“40 Dobke beschreibt den Objektwerdungsprozess, indem „im Erkennen der Bildhaftigkeit des Gefundenen und durch den Akt der Rahmung [und Hängung, Anm. d. Verf.] das Kunstwerk per definitionem [entsteht]. Nicht mit dem eigentlichen Schöpfungsakt, sondern durch seine künstlerische Haltung erscheint der Künstler.“41 Dem Moment der Hängung ist entgegen der Differenzierung von Schöpfungsakt und künstlerischer Haltung jedoch ebenfalls ein schöpferischer Objektwerdungsprozesses immanent, da der Alltagsgegenstand in den Kunststatus erhoben und damit einem Transformationsprozess unterzogen wird. Dieser Schritt zur Vollendung des Objektwerdungsprozesses ist anhand der Werkgruppe der Materialbilder seit den 1970er und 1980er Jahren zu beobachten. 42 Roth vollzog die Bearbeitung der Tischmatte in der Horizontalen und verwob darin seine Lebens- und Arbeitswelten mit kontemplativen Denk- und Reflexionsräumen und wiederum Mate- 40 Ebd., S. 50. Dieter Roth Foundation, S. 201. 42 Ebd., S. 200. 41 192 Ina Jessen rial- und Verfallsstrukturen miteinander. Mit dem Shift in die Vertikale und der einhergehenden Perspektivverschiebung ist ebenso der statusbezogene Wandel vollzogen: die Arbeitsmatte wurde Tischmatte und vom Handwerkszeug zum Kunstwerk. Damit folgt und zeigt sich anhand der finalen Hamburger Arbeit Tischmatte von 1998 Dieter Roths seit den 1980er Jahren vertretene Auffassung und Handlungsweise, die sich einer Differenzierung von Leben und Kunst verwehrte, sodass sich im Künstler und seinen Arbeiten vielmehr die metabolistische Verwebung beider Bereiche manifestiert. Abbildungsnachweis Abb. 1 © Dieter Roth Foundation, Hamburg, Courtesy Hauser & Wirth Abb. 2 © Dieter Roth Foundation, Hamburg / Courtesy Hauser & Wirth Abb. 3 © Dieter Roth Foundation, Hamburg / Courtesy Hauser & Wirth Abb. 4 © Foto Dirk Dobke, Hamburg Abb. 5 © griffelkunst und Daniel Spoerri Verfa sserinnen und Verfass er ISABELLA AUGART ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar und an der Kunstsammlung der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte bilden die Kunst der Frühen Neuzeit v.a. in Italien und Deutschland, sakrale Kunst und Architektur, die Bildgeschichte der Landschaft und Semantiken von Naturmaterialien. FELIX BRÖCKER arbeitete nach seiner Ausbildung zunächst als Koch und absolvierte später einen Bachelor in Filmwissenschaft und Philosophie sowie einen Master in Curatorial Studies. Der Master an der Goethe-Universität und Städelschule in Frankfurt ermöglichte es ihm, Verbindungen von Kochen und Kunst praktisch und theoretisch zu betrachten. Derzeit promoviert er an der HfG Offenbach über visuelle Inszenierungsstrategien in der Hochküche. ISABELLE BUSCH ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und war zuvor unter anderem als Co-Direktorin des Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg tätig. 2017 war sie Stipendiatin des Residenzprogramms für Kurator*innen des Goethe-Instituts Tel Aviv. DIRK DOBKE studierte Kunstgeschichte in Hamburg. Von 1998–2010 leitete er die Dieter Roth Foundation in Hamburg und kuratierte u.a. die internationale Retrospektive des Künstlers. 2001 Mitbegründer der Galerie artfinder in Hamburg und betreute von 2006–2010 das Werkarchiv Sonja Alhäuser. Seit 2010 leitet er die Griffelkunst-Vereinigung Hamburg. Dobke ist Senior President der Dieter Roth Foundation. MAGDALENA GRÜNER studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Design. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte der Ozeanographie, der feministischen Wissenschaftskritik sowie der Interrelation von Künsten und Naturwissenschaften. ANITA HOSSEINI studierte Kunstgeschichte, Sozialpsychologie/-anthropologie und Gender Studies. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund „Bilderfahrzeuge“ am Warburg Institute in London. Ihre Forschung fokussiert die Migration von Bildern, das Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaften sowie Fragen der Wissensgeschichte. 194 Verfasserinnen und Verfasser INA JESSEN Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre widmet Ina Jessen kunstpolitischen Reziprozitäten der Klassischen Moderne sowie dem Prozessualen und Ephemeren in der Kunst. Zu beruflichen Stationen zählen ihre Tätigkeit als Kuratorin (Dieter Roth Museum; Sammlung Hans Holtorf) sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Forschungsstelle „Entartete Kunst“, UHH / Prof. Dr. Françoise Forster-Hahn, UCR). INKA LUSIS studierte Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaften in Kassel und Lüneburg. Derzeit beschäftigt sie sich mit Steinen und Pflanzen. Sie ist freie Kuratorin und im Natur- und Umweltschutz aktiv. JOHANNA MOCNY Seit Abschluss des Studiums in Schottland und den Niederlanden promoviert Johanna Mocny zum Thema früher niederländischer Stillleben mit Fokus auf künstlerischen Austausch in Europa. Neben der Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bibliotheca Hertziana arbeitet sie freiberuflich als Kunsthistorikerin (zum Beispiel Alte Pinakothek München). FABIANA SENKPIEL ist Kunstwissenschaftlerin im „Institut Praktiken und Theorien der Künste" an der Hochschule der Künste Bern und leitet seit 2019 das Forschungsprojekt „Lebensmittel als Material in installativen und partizipativ-performativen künstlerischen Arbeiten – Dokumentation, Analyse, Rezeption“, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird. MIRJA STRAUB lebt und arbeitet in Freiburg im Breisgau. Am dortigen Augustinermuseum zeichnet sie verantwortlich für den Bereich Ausstellungsmanagement. Sie hat in Konstanz, Paris und Braunschweig Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit forscht sie zu den Koch-Aktionen des Künstlers Rirkrit Tiravanija. BARBARA UPPENKAMP studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Indogermanistik in Hamburg. Sie kuratierte mehrere internationale Ausstellungen und war als Dozentin für Kunstgeschichte an deutschen und englischen Universitäten tätig. Von 2016 bis 2017 vertrat sie die Juniorprofessur für Architekturgeschichte am Kunstgeschichtlichen Seminar Hamburg. TOBIAS WEILANDT studierte Kulturwissenschaften, Jura und Philosophie in Frankfurt (Oder), Malmö und Marburg. 2008 war er eines der Gründungsmitglieder des Museumsprojektes „DenkWelten – Deutsches Museum für Philosophie“ und war dort 10 Jahre Vorstandsmitglied. Er hielt zahlreiche Vorträge und veröffentlichte Aufsätze, vor allem zu bildwissenschaftlichen Themen.