Soziale Systeme 18
17 (2012),
(2011), Heft 11,+S.2, S. 153-167
© Lucius & Lucius, Stuttgart
Sybille Krämer
Karten erzeugen doch Welten, oder?
Zusammenfassung: Dass Karten ihr Territorium abbilden oder diesem gar ähnlich sind,
ist ein theoretisches Tabu geworden für kulturkritische und konstruktivistisch orientierte Positionen; die Leitidee ist dabei: Karten erzeugen, was sie zeigen. Der Aufsatz
setzt sich mit dieser Diskreditierung von Abbildung und Ähnlichkeit kritisch auseinander, indem er ein grundlegendes Wechselverhältnis zwischen Erzeugung und
Abbildung diagnostiziert. Der Zweck des Kartengebrauchs besteht darin, ein fremdes Terrain für einen Kartennutzer in einen zugänglichen Bewegungsraum zu verwandeln und zwar mithilfe der indexikalischen Verortung der Nutzerin in der Karte.
Solche kartographische Operation gelingt nur, wenn eine strukturbewahrende Abbildung mit Hilfe einer Projektionsmethode sowie die freie Erfindung von Hilfslinien
wie Längen- und Breitengrade miteinander interagieren. Abbildung und Erzeugung
schließen sich bei Karten also nicht aus, sondern schließen sich ein. Dieser kartographische Impuls, der darin besteht, mithilfe der Karte ein unbekanntes Terrain für
einen Akteur in einen Handlungsraum zu verwandeln, kann auch auf den Umgang
mit Wissen übertragen werden: Was die Karte für das alltägliche räumliche Orientierungsverhalten, das ist dann das Diagramm für das Orientieren auf Wissensfeldern.
Was das bedeutet wird an historischen Beispielen erläutert: den Weltkarten von Klaudius Ptolemaios und Gerhard Mercator, aber auch anhand der graphischen Aufzeichnung des philosophischen Weltenaufbaus in Platons Liniengleichnis.
1. Jenseits der ›Ähnlichkeit‹?
›Ähnlichkeit‹ – und damit verbunden: ›Nachahmung‹ – als bildgebende oder
gar bildkonstituierende Prinzipien zurückzuweisen ist en vogue1 und wurde in
den letzten Jahrzehnten geradezu zum Ausweis eines ›fortschrittlichen‹ Bildverständnisses. Was immer der Mensch visualisiert – so diese Auffassung –,
verdankt seine Bildmächtigkeit jedenfalls nicht dem Umstand, dass das, was
auf dem Bild zu sehen ist, etwas ähnelt, was außerhalb des Bildes gegeben ist.
Bilder erzeugen Welten und bilden sie nicht ab.
Dieses bildtheoretische Credo ist wirksam nicht nur in unserer Einstellung zu
Kunstbildern. Da parallel zum Verdikt gegen die Ähnlichkeit die kognitive Rolle
wissenschaftlicher Visualisierungen entdeckt und anerkannt wurde, stieg die
Bereitschaft, auch diese zu epistemisch-kognitivem Nutzen eingesetzten Visualisierungen als bloße Konstruktionen zu deuten, die keinesfalls ›Abbilder‹ jener
1 Beispielhaft für die Kritik an der Ähnlichkeit als ikonischem Prinzip: Goodman 1998, 4 ff.
und Scholz 1991, 20 ff.
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Objekte sind und sein können, die sie vergegenwärtigen. Die Gemachtheit des
Bildes – gerade auch dann, wenn es sich um ›Wissensbilder‹ handelt – wurde
zum Konsensus einer bildkritischen Position, die sich mit repräsentationsskeptischen Ansätzen der philosophischen Dekonstruktion und des soziologischen
Konstruktivismus trefflich verbündete: Jacques Derridas Aufzeichnungen eines
Blinden erinnern daran, dass der Maler, um malen zu können, immer auch blind
bleiben muss gegenüber seinem Sujet (Derrida 1997). Bruno Latour (1997) zeigt
in seinem Pedologenfaden von Boa Vista, wie die sperrigen Materien naturwissenschaftlicher Feldforschung sukzessive in ein Reservoir konventioneller Zeichen im künstlichen Medium einer graphischen Sprache umgewandelt werden.
Die postrepräsentationale Perspektive kann also am Kunstbild ebenso wie am
Diagramm und an der Karte aufzeigen: Bilder jedweder Art machen nicht einfach Welten sichtbar, sondern sie erzeugen sichtbare Welten.
Daher scheint es so ausgemacht wie selbstverständlich: Eine Karte ist nicht
das Territorium. Eine Vielzahl von Novellen kommentiert ironisch und
scharfsichtig die Paradoxie der Erwartung, eine Karte müsse die kartierte
Landschaft möglichst wirklichkeitsgetreu reproduzieren.2 Und doch lehrt das
Umfahren eines Autostaus per Straßenatlas, das zielgerichtete Umsteigen mithilfe der Überblickskarte der U-Bahn ebenso wie die Hüttensuche im fremden Gebirge mithilfe der Wanderkarte: Karteninformationen sind durchaus
als Informationen über ein Gebiet zu interpretieren; spätestens beim Verfehlen eines anvisierten Ziels werden wir darüber belehrt, dass Karten mehr
sind und mehr sein sollen als weltbilderzeugende Konstrukte. Karten, die der
Orientierung dienen, wie Wanderkarten, Atlanten oder Stadtpläne, und deren
Zentrum die topographische Karte markiert, erzeugen nicht nur eine Welt,
sondern sind Zeugen und Zeugnisse eben jener Welt, die sie kartieren, und
des Wissens, welches dazu vonnöten ist. Fehlt Karten solche Zeugenschaft für
das aufgezeichnete Terrain, können sie immer noch schöne oder interessante
Karten sein – doch als Orientierungsmittel sind sie nutzlos. Daher haben Karten einen Zeitindex: Sie können veralten.
Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Abbild und Konstruktion
im Horizont eines Entweder-Oder zu begreifen, fehlgeht – jedenfalls, wenn
es um die ›operativen Bilder‹3 der Wissenskünste zu tun ist, die wir hier von
den Bildern der ›schönen Künste‹ durchaus abgrenzen wollen.4 Orientierende
Karten gelten uns als ein Paradefall, an dem wir ausloten wollen, wie das für
viele Formen der Darstellung bedeutsame Wechselverhältnis zwischen Abbildung einerseits und Erzeugung andererseits zu bestimmen ist.
2 Exemplarisch: Eco 1990, 85-97.
3 Zum Begriff des ›operativen Bildes‹ vgl. Krämer 2009.
4 Dass diese Unterscheidung nicht absolut zu setzen ist, ist klar. Doch sind Kunstbilder,
deren grundlegendes Charakteristikum der Selbstbezug ist, von ›Wissensbildern‹, die mit
dem Anspruch auf Fremdreferenz eingesetzt werden, unterscheidbar, auch wenn Selbst- und
Fremdreferenz begrifflich nur die Pole bilden, zwischen denen verschiedene Phänomene
des Sichtbarmachens jeweils changieren.
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2. Transparente versus opake Karte?
Es ist kein Vorrecht des kulturwissenschaftlichen und bildkritischen Diskurses, eine postrepräsentationale Position einzunehmen (Krämer 2010). Tatsächlich hat sich im Schoße der Geographie und Kartographie ein Disput entwickelt, in dem eine dekonstruktivistische gegen eine repräsentationalistische
Position in Stellung gebracht wird, mit der Folge, dass Abbildung und Erzeugung als miteinander konkurrierende und sich wechselseitig ausschließende
Potenziale von Karten gedeutet werden. Christian Jacob (1966, 191) hat diese
Polarisierung die Narrative der transparenten und der opaken Karte genannt.
(i) Im Narrativ der transparenten Karte wirkt das Leitbild der exakten Repräsentation: Ein externes Territorium ist möglichst genau und pragmatisch sinnvoll
so in der Karte abzubilden, dass diese ein korrektes, relationales Modell ihres
Territoriums abgibt. In dem Maße wie Vermessungstechnik und graphische
Darstellungsmethoden sich fortentwickeln, erfolgt auch ein Fortschritt in der
Exaktheit der Repräsentationsfunktion von Karten: Die Karte gilt als ein visuelles Medium der Repräsentation zwecks Übermittlung raumbezogenen Wissens; ihre artifizielle, symbolische und technische Medialität tritt dabei zurück
gegenüber ihrem Informationsgehalt: Die gute Karte ist eine Karte höchstmöglicher Transparenz für das Territorium, welches sie verzeichnet.
(ii) Im Narrativ der opaken Karte ist nicht das, was die Karte zeigt, sondern wie
sie es zeigt, der Gegenstand des Interesses. In der opaken Perspektive bildet die Karte das Territorium nicht etwa ab, sondern bringt es hervor. Die
Bedingungen dieser Hervorbringung umfassen die logischen und mathematischen Gesetze der kartographischen Projektion ebenso wie die technischen,
semiotischen, ästhetischen, politischen und ideologischen Bedingungen der
Kartenproduktion. Karten werden zu Texten; sie sind soziale Konstrukte und
immer auch Instrumente der Macht. Die Vertreter dieser postrepräsentalen
Position (Cosgrove 2004; Harley 2004; Pickels 1995; Wood 1992) innerhalb der
Kartographie berufen sich auf Foucaults Sozialisierung der Episteme und auf
Derridas Dekonstruktion der Textualität.
Wir sehen also: Die Anhänger der transparenten Karte naturalisieren das Artifizielle und stellen sich gerne in die Traditionen des britischen Empirismus; die
Anhänger der opaken Karte kulturalisieren das Natürliche und verorten sich in
der diskurskritischen kontinentalen Philosophie.
Für Christian Jacob steht außer Frage, dass es sich bei diesen Positionen um
opponierende Schulbildungen und miteinander konkurrierende Interpretationsansätze handelt. Wir aber wollen die Blickrichtung umkehren und eine
Vermutung formulieren: Transparenz und Opazität, ›Abbildung‹ und ›Konstruktion‹ schließen sich nicht aus, sondern sie schließen sich ein. Wir loten
nun aus, wie dieses Wechselspiel präzisiert werden kann, und zwar bezogen
auf den orientierenden Umgang mit Karten.
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3. Die kartographische Operation
Zwei Raumauffassungen können unterschieden werden; dies hat Michel de
Certeau exemplarisch herausgearbeitet, indem er ›Ort‹ (lieu) von ›Raum‹ (espace)
unterscheidet (de Certeau 1988, 217 ff.). ›Orte‹ sind charakterisierbar durch ihre
Lage in einer topologischen Ordnung, bei der Körper in Beziehungen der Koexistenz zueinanderstehen: Jedes Ding hat seinen wohlbestimmten Platz und
steht in Relation zu dem, was sich an einem anderen Platz befindet. Ein ›Ort‹
ist einem festen Punkt vergleichbar, der durch Strukturen stabiler Simultaneität mit den ihn umgebenden Punkten verbunden ist. Anders der ›Raum‹, der
nicht durch stabile Konfigurationen von Orten gegeben ist, sondern durch die
Bewegungen handelnder Akteure erzeugt wird und auch nur im Vollzug dieser
Bewegungen – also temporär – existiert. Es geht um einen Handlungs- und Bewegungsraum, der durch das Tun von Subjekten entsteht und mit ihm vergeht.
Die von de Certeau analysierte Differenz von Raumarten begegnet uns auch
in der Psychologie des räumlichen Orientierungsverhaltens oder in der Theorie kognitiver Raumrepräsentationen (Wagner 2010). Bei Raumdarstellungen
kann zwischen einer dynamischen ›Routenkarte‹ und einer statischen ›Überblickskarte‹ unterschieden werden, und dies impliziert ein je unterschiedliches
Orientierungsverhalten (vgl. Shemyakin 1961; Wagner 2010, 245 ff.). Einer
›Routenkarte‹ zu folgen, bedeutet, ein Ziel dadurch zu erreichen, dass eine
bestimmte Bewegungsfolge gespeichert wird, die dabei sukzessive einzuhalten ist (»Gehe jetzt nach rechts, dann biege bei der nächsten Kreuzung links
ab …«). Einer ›Überblickskarte‹ zu folgen, heißt, simultan ein Terrain so darzustellen, dass der einzuschlagende Weg wie eine fortlaufende, eingezeichnete Linie erscheint. Während der Psychologe Jean Piaget noch vermutete,
dass Routenkarten für das frühkindliche Orientierungsverhalten, Überblickskarten aber für das erwachsene Verhalten charakteristisch sind, konnten die
Soziolinguisten Charlotte Linde und William Labov zeigen (Linde / Labov
1985, 44), dass beide Formen der Raumdarstellung im erwachsenen Leben eine
Rolle spielen. Denken wir nur an die Beschreibung einer Wohnung: Wir können dies entweder in der Feldperspektive als Erzählung eines fiktiven Ganges
durch die Wohnung tun oder in der Vogelflugperspektive einer Skizze, die den
Grundriss der Zimmer synoptisch aufzeichnet (Wagner 2010, 244).
Ob es ontologisch – mit de Certeau – interessiert, was Räume sind, oder psychologisch – mit Shemyakin und Piaget – thematisch wird, wie wir Raumwissen darstellen und speichern: Stets geht es um eine Differenz, die zwar verschiedene Namen trägt, jedoch im Kern um den Unterschied kreist zwischen
einem in simultaner Koexistenz gegebenen stabilen Strukturraum und einem
in sukzessiver Abfolge entstehenden temporären Bewegungsraum.
Die Differenz zwischen ›Strukturraum‹ und ›Bewegungsraum‹ bildet für uns
eine Leitunterscheidung, in deren Horizont das Zusammenspiel von Abbildung und Erzeugung einer Welt im Gebrauch der Karte zutage treten kann.
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Denn die pragmatische Funktion von Karten besteht eben darin, ein uns unvertrautes und unübersichtliches Terrain in einen für uns zugänglichen Bewegungs- und Handlungsraum zu verwandeln; und dies kann genau dann gelingen, wenn die Karte ein Strukturmodell dieses Terrains abgibt, sodass die
Positionen und Bewegungen von Subjekten im realen Territorium als Punkte
und Linien im Strukturbild der Karte erscheinen können. Karten werden dann
zu Übersetzungsmanualen, die graphische Anordnungen in reale Bewegungen
und vice versa übertragbar machen (können). Die Güte einer Karte, das Kriterium ihrer Darstellungsleistung, liegt dann darin, wie gut die Metamorphose
gelingt, bei der die imaginäre Linienkonfiguration in der Karte – verstanden
als die anvisierte Fortbewegung – in eine absichtsvolle Bewegung im lebensweltlichen Handlungsraum umsetzbar ist.
Wir wollen die Transformation eines unvertrauten Terrains in einen Bewegungsraum mithilfe eines graphischen Strukturmodells die ›kartographische
Operation‹ nennen. Im Alltag sind solche Operationen im Umgang mit Stadtplänen, Wanderkarten, Netzkarten des öffentlichen Verkehrs höchst geläufig.
Doch werfen wir nun einen genaueren Blick auf das Verfahren der kartographischen Operation und fragen, welche Rolle dabei die Ähnlichkeit zwischen
Territorium und Karte spielt. Dabei ist eines vorab klar: ein handliches Stück
bedrucktes Papier in Gestalt einer alpinen Wanderkarte einerseits – ein sich
auftürmendes, unübersichtliches und nahezu unüberwindlich erscheinendes
Gebirge andererseits: Unterschiedlicher können ›Dinge‹ kaum sein. Wenn wir
hier nach einer ›Ähnlichkeit‹ fragen, bezieht diese sich selbstverständlich nicht
auf die Substanz, sondern auf eine Struktur, die Gebirge und Karte inhärent
ist. Und wir kommen dieser Strukturähnlichkeit auf die Spur, wenn wir vom
Phänomen der Indexikalisierung ausgehen, das unabdingbar ist, wenn Karten praktisch orientieren sollen.
4. Indexikalisierung und kartographisches Paradox:
Die Konventionalität von Karten
Das Gelingen der kartographischen Operation bedarf der erfolgreichen Indexikalisierung (Krämer 2008): Um Karten zu Orientierungszwecken einzusetzen, müssen wir uns selbst innerhalb der Karte verorten – das ist eben
das, was bei Navigationssystemen die Satelliten erledigen. Diese Verortung in
der Karte bildet das Bindeglied zwischen der Symbolwelt der Karte und der
Lebenswelt der Kartennutzer. Durch Lokalisierung verwandeln sich Kartennutzer in Punkte in bzw. auf der Karte; ihre Positionalität verdoppelt sich in
eine lebensweltliche und eine symbolische Situiertheit. Das ›Ich bin hier‹ im
Gelände verwandelt sich in das ›Ich bin dort‹ auf der Karte: eine deiktische
Geste, die vom Körper weg auf die Karte und damit doch auf sich selbst als
Bestandteil der Karte verweist. Die Duplizität der Positionierung verdankt sich
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der Dualität von Teilnehmer- und Beobachterperspektive: Im ›Ich bin hier‹ sind
wir leibliche Teilnehmer eines Feldes und nehmen einen unverwechselbaren
Ort ein, der singulär ist, weil er gleichzeitig von niemand anderem eingenommen werden kann. Im ›Ich bin dort‹ nehmen wir eine externe Beobachter- und
Überblicksposition ein, indem wir uns zum Bestandteil von etwas machen,
das in der Vogelflugperspektive überschaubar ist: Erste-Person-Perspektive
und Dritte-Person-Perspektive greifen ineinander. Wenn diese oftmals sehr
mühevolle Selbstlokalisierung richtig ist – und sie kann selbstverständlich
misslingen –, dann ist eine Karte nicht nur die allgemeine Darstellung eines
Territoriums, sondern sie wird zur singulären Aufzeichnung der gegenwärtigen Position des Kartennutzers. Es ist diese Möglichkeit einer erfolgreichen
Transformation der Lokalisierung ›im Feld‹ in diejenige auf ›der Karte‹, die
deutlich macht, dass hier eine Homogenität am Werk sein muss, dass ein Passungsverhältnis zwischen Territorium und Karte vorauszusetzen ist. Wie aber
kommt dieses zustande? Wir wollen darauf eine Antwort geben, indem wir
uns dem Phänomen des ›kartographischen Paradoxons‹ zuwenden: Es besagt,
dass eine richtige Lokalisierung nur dank einer kartographischen Verzerrung
möglich ist. Eine unverzerrte Übertragung bzw. Abbildung der Struktur der
Welt auf die Struktur einer Karte ist nicht möglich. Die systematische Verzerrung ist geradezu die Bedingung orientierenden Kartengebrauchs.
Machen wir uns noch einmal klar, wie radikal die Heterogenität zwischen der
flächigen Karte und unserer tiefenräumlichen (Lebens-)Welt ist. Es gibt keine
Flächen; doch wir behandeln die Oberflächen inskribierter Körper wie etwa
Schriftstücke, Diagramme, Karten oder Bilder so, als ob sie keine Tiefe hätten.
Durch diese Annullierung der dritten Dimension bietet sich im Gestaltungsraum der Fläche dem Auge alles als Synopsis, mithin als Überblick, dar. Was
immer die Fläche ›enthält‹, zeigt sich auch; es gibt – gewöhnlich – nichts Verborgenes, das hinter der inskribierten Fläche liegt. Die Vogelflugperspektive,
die in der umgebenden Lebenswelt einzunehmen uns gewöhnlich verwehrt
ist, wird in Gestalt inskribierter Flächen artifiziell und explizit inszeniert und
für die Orientierung in komplexen, unübersichtlichen Räumen brauchbar gemacht.
Doch was geschieht, wenn Dreidimensionales auf eine Fläche übertragen
werden soll? Wenn wir auf einer Orangenschale die Umrisse Europas und
darin als Konstellation die Städte Paris, Stockholm, Warschau und Rom einzeichnen, dann die Schale vorsichtig ablösen und platt drücken, so merken
wir: Die Relationen haben sich auf der zur Fläche platt gedrückten Schale verschoben: Sie sind verzerrt und entsprechen nicht mehr jenem Punktegefüge,
das dem Strukturmodell der gekrümmten Oberfläche eingezeichnet war. Der
Übergang von der dreidimensionalen in die zweidimensionale Darstellung
macht – und zwar als mathematisch-logische Gesetzmäßigkeit – eine Verzerrung unausweichlich. Präziser ausgedrückt: Da die geographische Karte Territorien um ihre Krümmung bringt, kann es keine zweidimensionale Karte
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geben, die gleichzeitig Flächen, Winkel, Umrisse, Entfernungen und Richtungen verzerrungsfrei abbildet (Monmonier 1996, 27 ff.; Schlögel 2003, 97 ff.).
Stets gibt es dabei eine Pluralität von Projektionsmethoden; welche Projektion
bevorzugt wird, hängt vom pragmatischen Zweck der Karte ab. Und es ist
dann die gewählte Projektionsmethode, welche über Art und Grad der Verzerrung entscheidet. Das kartographische Paradox legt also nahe: Repräsentation und Relativität schließen sich nicht aus, sondern ein.
Verdeutlichen wir dies anhand eines Beispiels: 1569 hat Gerhard Mercator (1512-1594) eine winkeltreue Weltkarte entworfen (Monmonier 2004;
Buchholz 1994), die – so die dekonstruktivistische Kritik – offensichtlich eurozentrisch ist, da vom Äquator zu den Polen die Flächen sich im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Umfang überproportional vergrößern: Grönland
(2,2 Mio. km²) erscheint nahezu so groß wie Afrika (30,3 Mio. km²).
Schemabild, Mercator-Projektion
Weltkarte von Gerhard Mercator
(http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mercator; www.geschichteinchronologie.ch)
Abbildung 1: Mercator-Projektion sowie Weltkarte von Gerhard Mercator
Das Konstruktionsprinzip der Mercator-Karte enthüllt sich, wenn wir fragen,
was geschieht, wenn eine Kugeloberfläche auf einen Zylinder projiziert wird.
Machen wir ein Experiment: Ein Zylinder wird als Mantel so um einen Globus gewickelt, dass er den Globus am Äquator berührt. Der Globus wird von
innen beleuchtet und wirft dann die Umrisslinien der Kontinente als Schatten auf den Zylinder. Wenn wir den Zylinder aufschneiden und ausrollen,
haben wir nahezu eine Mercator-Weltkarte, bei der die äquatorfernen Regionen gegenüber den äquatornahen gedehnt sind – und dies umso mehr, als
es in Richtung Pole geht. Doch just infolge der Dehnung der äquatorfernen
Regionen konnte Mercator die Winkel zwischen Längen-und Breitengraden
beibehalten – doch eben nur um den Preis der sukzessiven Veränderung der
Abstände der Breitengrade. Die Winkeltreue wird erkauft durch Flächenverzerrung.
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Die pragmatische Funktion der Mercator-Karte besteht darin, Seefahrern das
Navigieren zu ermöglichen. Denn die Eigenschaft der Winkeltreue5 ermöglicht es, Loxodrome, die auf dem gekrümmten Globus die Form spiraliger Windungen annehmen, auf der flachen Karte als gerade Linien einzuzeichnen; so
wird es möglich, einen konstanten Kurs (mit nur einer Kompass-Einstellung)
auf dem Meer einzuhalten, welcher zwar nicht der kürzeste, jedoch der einfachste und sicherste Weg ist, den anvisierten Zielhafen anzusteuern. Dieses
Navigieren entlang einer in kartographischer Operation ermittelten Strecke
gilt übrigens nicht nur für die Schiffs-, sondern auch für die Luftfahrt. Die
Mercator-Projektion liegt auch heute noch fast allen Seekarten sowie vielen
Luftkarten zugrunde.
(http://lv-twk.oekosys.tu-berlin.de/project/lv-twk/03-intro-21-twk.htm)
Abbildung 2: Orthogonale Weltkarte von Arno Peters mit flächentreuer Projektion
Gleichwohl entwickelte sich im Zusammenhang mit der Mercator-Karte eine
Art Kulturkampf6 um die ›richtige‹, um die ›politisch korrekte‹ Karte: Dass der
Mercator-Karte ein Eurozentrismus unterstellt wurde, animiert 1974 Arno Peters dazu, eine Kartenprojektion zu entwickeln (Peters 1983), die den Ländern
der ›Dritten Welt‹ Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Die Peters-Karte ist
5 Im Verein mit einer damit verbundenen konstanten Ausrichtung der Karten nach Norden.
6 Zu dieser Diskussion: Deutsche Gesellschaft für Kartografie 1918; Crampton 1994; Robinson 1985.
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flächentreu, insofern jedem Quadratmeter der Erdoberfläche ein proportionaler Teil auf der Karte entspricht – dafür aber werden die Längen und Winkel ›entstellt‹. Die Peters-Karte ist als ein Aufklärungsinstrument zweifellos
fruchtbar, um auf die impliziten kartographischen Verzerrungen – und deren
soziopolitischen Implikationen – aufmerksam zu machen, doch als Navigationsinstrument ist sie nutzlos.
Und noch etwas anderes wird augenfällig: Jede Kritik an einer bestimmten
kartographischen Verzerrung muss nolens volens Gebrauch machen vom
Narrativ der transparenten Karte: Die Korrespondenz zwischen Karte und
Territorium wird damit ausdrücklich als organisierendes Prinzip der Kartierung vorausgesetzt. Und der Anspruch, dass das, was an Karten interessiert, genau darin besteht, ein möglichst genaues Abbild ihres Territoriums
zu geben, ist dabei so federführend, dass der originäre pragmatische Zweck,
die Verwendungszusammenhänge einer Karte, ausgeblendet wird, der umgekehrt doch überhaupt erst das Kriterium abgeben kann, an dem gemessen
eine Karte gut oder schlecht ist.
Karten sind nicht einfach visuelle Darstellungen von etwas, sondern sie sind
Instrumente der Exploration von und des Bewegens in komplexen Territorien.
Nur im Rahmen dieser praktischen Zweckbestimmung kann jeweils zutage treten, worin Reichweite und Grenzen einer Karte liegen. Und das heißt:
Die Ähnlichkeit zwischen Karte und Territorium, auf deren Spur wir uns hier
setzen, findet ihr Kriterium nicht in visueller oder gar substanzieller Übereinstimmung, sondern im Gelingen einer Handlung: Die Mercator-Karte ›ähnelt‹
der Welt, sofern der Seefahrer mit ihrer Hilfe seinen Kurs trotz der unübersehbaren Weiten des markierungslosen Ozeans einzustellen und einzuhalten vermag. Die Peters-Karte ähnelt der Welt, insofern die in ihr realisierte fremdartige ›Flächentreue‹ die Pluralität möglicher Projektionsmethoden
dokumentiert und damit auf die Artifizialität der Mercator-Projektion – an die
wir uns so gewöhnt haben, als sei sie ›natürlich‹ – aufmerksam macht.
Was wir hier am Beispiel der ›Gemachtheit‹ und Konventionalität der Projektionsmethode entwickelten als eine Voraussetzung dafür, sich mit Karten auf
die wirkliche Welt zu beziehen und sich in ihr zu orientieren, lässt sich auch
anhand vieler anderer symboltechnischer Darstellungsprinzipien ausweisen.
Denken wir nur an das artifizielle Koordinatensystem der Längen- und Breitengrade, ein mathematisches Konstrukt, das die Karte (wie auch den Globus)
mit einem künstlichen Netz ausstattet, welches alle Orte dieser Erde – ob auf
den Spitzen der Gebirge oder den Untiefen der Meere – so homogenisiert,
dass sie bezüglich ihrer Lage vergleichbar werden, insofern diese Orte auf der
kartierten Fläche die Gestalt von Punkten annehmen, deren Relationen durch
berechenbare Linienkonstellationen zu verzeichnen sind. Oder denken wir an
die Techniken der Generalisierung, Schematisierung und Stilisierung, ohne
die es keine Karten geben kann und die just den Unterschied ausmachen,
warum wir, wenn wir in einer fremden Stadt den Weg vom Bahnhof zum
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Hotel suchen, uns dabei nicht mit dem Luftbild von ›Google Earth‹, sondern
vielmehr mithilfe von ›Google Maps‹ orientieren.
Nur durch die Erfindung und Erzeugung artifizieller, ›ideeller‹ Tatbestände wie
der Meridiane oder des Äquators können wir räumliche Zusammenhänge
der Realwelt auf der Karte in Gestalt eines relationalen Abbildes überhaupt
repräsentieren. Der ›Abbildcharakter‹ der Karte ist zu verstehen im Sinne
einer ›transnaturalen Abbildung‹. Kern dieser ›Transnaturalität‹ ist nicht nur
die Unabdingbarkeit einer konventionalisierten Projektionsmethode oder der
Tatbestand der kulturalistischen und soziopolitischen Prägungen der Darstellungsverfahren; Kern ist vielmehr der Umstand, dass es zumeist – für Menschenaugen – Unsichtbares ist, was in der Karte visualisiert wird: Denn nicht
ein Terrain, sondern das Wissen über ein Terrain wird ›abgebildet‹.
Anliegen dieser Überlegungen ist, das Wechselverhältnis von Abbildung und
Erzeugung im Umgang mit orientierenden Karten zu erörtern und dabei auch
die ›Ähnlichkeit‹ – jedenfalls im Rahmen der ›operativen Bildlichkeit‹, für welche die Fremdreferenz charakteristisch ist – ein Stück weit zu rehabilitieren.
Die Gelenkstelle dieser Rehabilitierung ist die Möglichkeit, mithilfe der flächigen Strukturräume von Karten unvertraute Gebiete für unser Bewegen
und Handeln qua Indexikalisierung zugänglich zu machen.
Aufschlussreich nun ist, dass dieses Prinzip einer Wechselwirkung zwischen
Struktur- und Bewegungsraum, die die ›kartographische Operation‹ charakterisiert, nicht nur für Bewegungen in realen Territorien, sondern auch für
kognitive Bewegungen in Wissensgebieten gilt. Was die Karte für das alltägliche
Orientierungsverhalten ist, das verkörpern Diagramme für Erkenntnisbewegungen in Wissensfeldern.
Es ist hier nicht der Ort, detailliert zu zeigen, wieso Diagramme Wissen nicht
nur aufzeichnen, sondern auch neues Wissen generieren und damit Bewegungsformen des Erkennens und Denkens stimulieren und präformieren.7
In einer gewissen Hinsicht können Karten ›nur‹ als das äußerste Ende eines
Spektrums angesehen werden, welches ›das Diagrammatische‹ genannt werden kann und aus der Interaktion von Punkt, Linie und Fläche hervorgeht
und so unterschiedliche Formen ›operativer Bildlichkeit‹ aufweist wie Listen,
Tabellen, Notationen, Graphen, Diagramme und eben auch: Karten.8 Die welterschließende Funktion von Karten zeigt sich – so unsere Vermutung – auch
im Phänomen des intellektuellen Diagrammgebrauches, gilt also nicht nur für
terrestrische Orientierungsleistungen, sondern auch für kognitiv-begriffliche
Operationen. Anhand eines antiken Beispiels sei abschließend der kartographische Impuls in Geographie und Philosophie hier kursorisch angedeutet.
7 Dies hat jüngst Jan Wöpking 2012 in seiner Doktorarbeit untersucht.
8 Gemeinsam ist diesen Darstellungsformen, in je unterschiedlichem Maße zweidimensionale Raumrelationen für semantische Zwecke einzusetzen (vgl. Krämer 2012).
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5. Platon und Ptolemaios: Die Aufzeichnung eines begrifflichen
und eines irdischen Universums
Der griechische Philosoph Platon (428-348 v. Chr.) hat anhand eines Liniengleichnisses sein philosophisches Weltbild visualisiert (Politeia, VII, 509f-511e);
Jahrhunderte später hat der alexandrinische Astronom, Geograph und Mathematiker Klaudios Ptolemaios (ca. 100-170 n. Chr.) einen Atlas der bekannten
Welt inklusive einer Weltkarte in der Vogelflugperspektive geliefert.9 So unterschiedlich das philosophische und das geographische Weltbild auch
sind: Beide Male dienen
die Weltbilder dazu, ›Bewegungen von Akteuren
bzw. Subjekten‹ zu ermöglichen – sei es auf
der Erde oder im Geist.
In der Politeia (509f-511e)
erläutert Platon die Gliederung der Welt – also
seine Ontologie – in Gestalt eines Gleichnisses:
Man solle eine Linie
ziehen und in zwei ungleiche Abschnitte teilen,
sodass der kleinere Abschnitt das Sichtbare und
der größere das Denkbare
darstelle; das Denkbare
verhält sich zum Sichtbaren wie ein Urbild zu Abbildung 3: Das Liniengleichnis Platons (Politeia 509 ff.)
seinem Abbild. Sodann
sollen diese beiden Abschnitte noch einmal in demselben Verhältnis unterteilt
werden. So entsteht eine viergliedrige Aufteilung von Seinsbereichen, die – und
das ist wichtig – zugleich eine Stufenfolge im Erkennen verkörpert, und zwar
mit einem progressiv ansteigenden Grad an theoretischer Deutlichkeit.
Den untersten, sichtbaren Teil bilden die Bilder, Spiegelungen und Schatten;
es folgen deren Vorbilder: die Dinge, Pflanzen und Lebewesen; der dritte Abschnitt – jetzt schon im unsichtbaren Bereich gelegen – enthält die Begriffe
und mathematischen Gegenstände; der letzte und größte Teil schließlich repräsentiert die Domäne der Ideen.
9 Neu übersetzt und herausgegeben von Stücklenberger / Graßhoff 2006.
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Mithilfe topologischer Beziehungen wie oben und unten, näher oder ferner
werden theoretische Zusammenhänge ›einsichtig‹, also evident, gemacht.
Mit dem Liniengleichnis kartographiert Platon sein Weltbild, seine Ontologie. Er setzt Raumrelationen als eine ›Sprache‹ der philosophischen Spekulation ein. Worauf es nun ankommt, ist, dass diese Linienkonfiguration nicht
nur die platonische Ontologie sichtbar macht, sondern vielmehr zugleich den
Weg vorzeichnet, den der Erkennende zu nehmen hat, wenn er die Wahrheit
anstrebt. Das Denken hat – für Platon – eine Richtung und diese Richtung
ist als ein Aufstieg, als eine Stufenfolge charakterisierbar. Daher bildet das
Höhlengleichnis im nächsten Buch der Politeia, welches nicht abstrakte Linien, sondern eine konkrete Höhlensituation visualisiert, die Fortsetzung des
Liniengleichnisses mit quasi dreidimensionalen Mitteln (Platon, Politeia, VII,
514-519).
Alle gängigen Editionen Platons überliefern das Gleichnis in Textform; doch
eine der vielleicht ältesten überlieferten Handschriften der Politeia, archiviert
in Paris, enthält tatsächlich eine Zeichnung.10
(Butler, Samuel / Dent, J. M. / Dutton, E. P. (1907): Atlas of Ancient and Classical Geography;
http://www.gutenberg.org/files/17124/17124 h/17124h.htm)
Abbildung 4: Ptolemaios' Weltkarte
10 Codex Parisinus graecus 1807, datiert in das dritte Viertel des 9. Jahrhunderts.: vgl. Perria
1991. Diesen Hinweis gab mir Dieter Harlfinger, Direktor des Aristoteles-Archivs an der FU
Berlin.
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Kommen wir zur Geographie: Ptolemaios hat das geographische Wissen
seiner Zeit in einem Handbuch der Geographie zusammengeführt und kann
als Gründerfigur der wissenschaftlichen Kartographie gelten (Stücklenberger / Graßhoff 2006; Stücklenberger 2004; Stücklenberger / Graßhoff 2006;
Kleineberg / Knobloch / Leigemann 2006). Er stellt eine Fülle unübersichtlicher
und oftmals inkohärenter geographischer Informationen aus Reiseberichten,
mathematischen Berechnungen, astronomischen Beobachtungen und vorliegenden Karten zusammen und homogenisiert diese unterschiedlichen Datensammlungen durch die Erfindung eines einheitlichen Koordinatensystem mit
Längen- und Breitengraden. So kann er die Lage von ca. 8000 Örtlichkeiten
der damals bekannten Oikumene in Form seitenlanger Tabellen in seinem
Handbuch aufnehmen. Zugleich entwickelte er eine neuartige Projektionsmethode, um die Erdkugel ›realitätsnah‹ auf die zweidimensionale Fläche
abzubilden; er benutzt gerade keine Zylinderprojektion, die wir am Beispiel
der Mercator-Karte erläuterten, sondern eine Kegelprojektion, welche Flächenverhältnisse der Kugeloberfläche ›getreuer‹ auf der Ebene wiederzugeben vermag. Den Abschluss seines Werkes bilden dann die Weltkarte sowie mehrere
regionale Karten.
Signifikant nun ist, dass Ptolemaios sein Werk – angesichts des Fehlens zuverlässiger Methoden der Reproduktion von Bildern bzw. Karten – als eine
Anleitung zu einer individuellen Kartierung im Do-it-yourself-Verfahren versteht: Mithilfe des von ihm angegebenen tabellarischen Verzeichnisses der
Ortskoordinaten und der detaillierten Beschreibungen seiner Projektionsmethode soll – das fordert Ptolemaios explizit – jeder Reisende befähigt werden,
eine je singuläre Karte anzufertigen, die er für seine individuelle Orientierung
im zu bereisenden Gebiet benötigt.
Sowohl bei Platon als auch bei Ptolemaios zeigt sich ein kartographischer Impuls: Beide stellen ein geographisches Wissen oder eine philosophische Konzeption mithilfe von räumlichen Relationen dar und begreifen diese Darstellung als eine Anleitung zu einem Tun. Platon beschreibt und verzeichnet den
Denkraum seiner Theorie über den Aufbau der Welt und will damit zugleich
unseren Erkenntnishandlungen die Richtung aufzeigen und vorgeben. Ptolemaios beschreibt und verzeichnet den Realraum der ihm bekannten Erde und
will damit Reisende mit Gebietsorientierungen versorgen. Beide setzen Linien
als ein Ordnungsraster ein, mit dem sichtbare und unsichtbare Sachverhalte
auf der Fläche einen anschaulichen Ort bekommen, sodass Bewegungen zwischen diesen Orten als Linienfiguration zutage treten können. Beide versetzen den Betrachter in die Vogelflugposition und realisieren damit einen Gesichtspunkt, der Menschenaugen gewöhnlich verwehrt ist, und konstruieren
auf diese Weise ein Weltbild in der Perspektive des ›göttlichen Auges‹ eines
externen, nicht länger im Feld eingeschlossenen Betrachters.
Häufig wird diese Position des externen Beobachters, der die Welt betrachtet, insofern er sich als deren intrinsischer Teilnehmer gerade annulliert, mit
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Sybille Krämer
der Perspektive des neuzeitlichen Subjektes in Zusammenhang gebracht. Und
Kants Frage »Was heißt es, sich im Denken zu orientieren?« gilt als ein spezifisch neuzeitlicher Gestus, insofern der kartographische Blick des Geographen
sich nun zum objektivierenden Blickpunkt wissenschaftlicher Erkenntnisbewegungen überhaupt verallgemeinert. Ohne die Distanzen und Brüche zwischen Antike und Neuzeit hier zu marginalisieren und zu glätten, bleibt eines
doch bemerkenswert: Der Versuch, Situationen der Unübersichtlichkeit zu begegnen mithilfe der ›Verdoppelungen‹ der komplexen, labyrinthischen Realwelt in flächige, handhabbare und also kontrollierbare Symbolwelten, arbeitet
mit der Verräumlichung als einem Instrument, um (zeitliche) Bewegungen
und Handlungen in unvertrauten Domänen vollziehen zu können. In diesem
Sinne sind Weltbilder – insofern sie den kartographischen Impuls einer Metamorphose von Struktur in Handlung und vice versa bergen – nicht einfach
Bilder von der Welt, sondern von Handlungsoptionen in der Welt.
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Prof. Dr. Sybille Krämer
Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 30, D-14195 Berlin
[email protected]