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Karten erzeugen doch Welten, oder?

Soziale Systeme

ZusammenfassungDass Karten ihr Territorium abbilden oder diesem gar ähnlich sind, ist ein theoretisches Tabu geworden für kulturkritische und konstruktivistisch orientierte Positionen; die Leitidee ist dabei: Karten erzeugen, was sie zeigen. Der Aufsatz setzt sich mit dieser Diskreditierung von Abbildung und Ähnlichkeit kritisch auseinander, indem er ein grundlegendes Wechselverhältnis zwischen Erzeugung und Abbildung diagnostiziert. Der Zweck des Kartengebrauchs besteht darin, ein fremdes Terrain für einen Kartennutzer in einen zugänglichen Bewegungsraum zu verwandeln und zwar mithilfe der indexikalischen Verortung der Nutzerin in der Karte. Solche kartographische Operation gelingt nur, wenn eine strukturbewahrende Abbildung mit Hilfe einer Projektionsmethode sowie die freie Erfindung von Hilfslinien wie Längen- und Breitengrade miteinander interagieren. Abbildung und Erzeugung schließen sich bei Karten also nicht aus, sondern schließen sich ein. Dieser kartographische Impuls, der ...

Soziale Systeme 18 17 (2012), (2011), Heft 11,+S.2, S. 153-167 © Lucius & Lucius, Stuttgart Sybille Krämer Karten erzeugen doch Welten, oder? Zusammenfassung: Dass Karten ihr Territorium abbilden oder diesem gar ähnlich sind, ist ein theoretisches Tabu geworden für kulturkritische und konstruktivistisch orientierte Positionen; die Leitidee ist dabei: Karten erzeugen, was sie zeigen. Der Aufsatz setzt sich mit dieser Diskreditierung von Abbildung und Ähnlichkeit kritisch auseinander, indem er ein grundlegendes Wechselverhältnis zwischen Erzeugung und Abbildung diagnostiziert. Der Zweck des Kartengebrauchs besteht darin, ein fremdes Terrain für einen Kartennutzer in einen zugänglichen Bewegungsraum zu verwandeln und zwar mithilfe der indexikalischen Verortung der Nutzerin in der Karte. Solche kartographische Operation gelingt nur, wenn eine strukturbewahrende Abbildung mit Hilfe einer Projektionsmethode sowie die freie Erfindung von Hilfslinien wie Längen- und Breitengrade miteinander interagieren. Abbildung und Erzeugung schließen sich bei Karten also nicht aus, sondern schließen sich ein. Dieser kartographische Impuls, der darin besteht, mithilfe der Karte ein unbekanntes Terrain für einen Akteur in einen Handlungsraum zu verwandeln, kann auch auf den Umgang mit Wissen übertragen werden: Was die Karte für das alltägliche räumliche Orientierungsverhalten, das ist dann das Diagramm für das Orientieren auf Wissensfeldern. Was das bedeutet wird an historischen Beispielen erläutert: den Weltkarten von Klaudius Ptolemaios und Gerhard Mercator, aber auch anhand der graphischen Aufzeichnung des philosophischen Weltenaufbaus in Platons Liniengleichnis. 1. Jenseits der ›Ähnlichkeit‹? ›Ähnlichkeit‹ – und damit verbunden: ›Nachahmung‹ – als bildgebende oder gar bildkonstituierende Prinzipien zurückzuweisen ist en vogue1 und wurde in den letzten Jahrzehnten geradezu zum Ausweis eines ›fortschrittlichen‹ Bildverständnisses. Was immer der Mensch visualisiert – so diese Auffassung –, verdankt seine Bildmächtigkeit jedenfalls nicht dem Umstand, dass das, was auf dem Bild zu sehen ist, etwas ähnelt, was außerhalb des Bildes gegeben ist. Bilder erzeugen Welten und bilden sie nicht ab. Dieses bildtheoretische Credo ist wirksam nicht nur in unserer Einstellung zu Kunstbildern. Da parallel zum Verdikt gegen die Ähnlichkeit die kognitive Rolle wissenschaftlicher Visualisierungen entdeckt und anerkannt wurde, stieg die Bereitschaft, auch diese zu epistemisch-kognitivem Nutzen eingesetzten Visualisierungen als bloße Konstruktionen zu deuten, die keinesfalls ›Abbilder‹ jener 1 Beispielhaft für die Kritik an der Ähnlichkeit als ikonischem Prinzip: Goodman 1998, 4 ff. und Scholz 1991, 20 ff. 154 Sybille Krämer Objekte sind und sein können, die sie vergegenwärtigen. Die Gemachtheit des Bildes – gerade auch dann, wenn es sich um ›Wissensbilder‹ handelt – wurde zum Konsensus einer bildkritischen Position, die sich mit repräsentationsskeptischen Ansätzen der philosophischen Dekonstruktion und des soziologischen Konstruktivismus trefflich verbündete: Jacques Derridas Aufzeichnungen eines Blinden erinnern daran, dass der Maler, um malen zu können, immer auch blind bleiben muss gegenüber seinem Sujet (Derrida 1997). Bruno Latour (1997) zeigt in seinem Pedologenfaden von Boa Vista, wie die sperrigen Materien naturwissenschaftlicher Feldforschung sukzessive in ein Reservoir konventioneller Zeichen im künstlichen Medium einer graphischen Sprache umgewandelt werden. Die postrepräsentationale Perspektive kann also am Kunstbild ebenso wie am Diagramm und an der Karte aufzeigen: Bilder jedweder Art machen nicht einfach Welten sichtbar, sondern sie erzeugen sichtbare Welten. Daher scheint es so ausgemacht wie selbstverständlich: Eine Karte ist nicht das Territorium. Eine Vielzahl von Novellen kommentiert ironisch und scharfsichtig die Paradoxie der Erwartung, eine Karte müsse die kartierte Landschaft möglichst wirklichkeitsgetreu reproduzieren.2 Und doch lehrt das Umfahren eines Autostaus per Straßenatlas, das zielgerichtete Umsteigen mithilfe der Überblickskarte der U-Bahn ebenso wie die Hüttensuche im fremden Gebirge mithilfe der Wanderkarte: Karteninformationen sind durchaus als Informationen über ein Gebiet zu interpretieren; spätestens beim Verfehlen eines anvisierten Ziels werden wir darüber belehrt, dass Karten mehr sind und mehr sein sollen als weltbilderzeugende Konstrukte. Karten, die der Orientierung dienen, wie Wanderkarten, Atlanten oder Stadtpläne, und deren Zentrum die topographische Karte markiert, erzeugen nicht nur eine Welt, sondern sind Zeugen und Zeugnisse eben jener Welt, die sie kartieren, und des Wissens, welches dazu vonnöten ist. Fehlt Karten solche Zeugenschaft für das aufgezeichnete Terrain, können sie immer noch schöne oder interessante Karten sein – doch als Orientierungsmittel sind sie nutzlos. Daher haben Karten einen Zeitindex: Sie können veralten. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Abbild und Konstruktion im Horizont eines Entweder-Oder zu begreifen, fehlgeht – jedenfalls, wenn es um die ›operativen Bilder‹3 der Wissenskünste zu tun ist, die wir hier von den Bildern der ›schönen Künste‹ durchaus abgrenzen wollen.4 Orientierende Karten gelten uns als ein Paradefall, an dem wir ausloten wollen, wie das für viele Formen der Darstellung bedeutsame Wechselverhältnis zwischen Abbildung einerseits und Erzeugung andererseits zu bestimmen ist. 2 Exemplarisch: Eco 1990, 85-97. 3 Zum Begriff des ›operativen Bildes‹ vgl. Krämer 2009. 4 Dass diese Unterscheidung nicht absolut zu setzen ist, ist klar. Doch sind Kunstbilder, deren grundlegendes Charakteristikum der Selbstbezug ist, von ›Wissensbildern‹, die mit dem Anspruch auf Fremdreferenz eingesetzt werden, unterscheidbar, auch wenn Selbst- und Fremdreferenz begrifflich nur die Pole bilden, zwischen denen verschiedene Phänomene des Sichtbarmachens jeweils changieren. Karten erzeugen doch Welten, oder? 155 2. Transparente versus opake Karte? Es ist kein Vorrecht des kulturwissenschaftlichen und bildkritischen Diskurses, eine postrepräsentationale Position einzunehmen (Krämer 2010). Tatsächlich hat sich im Schoße der Geographie und Kartographie ein Disput entwickelt, in dem eine dekonstruktivistische gegen eine repräsentationalistische Position in Stellung gebracht wird, mit der Folge, dass Abbildung und Erzeugung als miteinander konkurrierende und sich wechselseitig ausschließende Potenziale von Karten gedeutet werden. Christian Jacob (1966, 191) hat diese Polarisierung die Narrative der transparenten und der opaken Karte genannt. (i) Im Narrativ der transparenten Karte wirkt das Leitbild der exakten Repräsentation: Ein externes Territorium ist möglichst genau und pragmatisch sinnvoll so in der Karte abzubilden, dass diese ein korrektes, relationales Modell ihres Territoriums abgibt. In dem Maße wie Vermessungstechnik und graphische Darstellungsmethoden sich fortentwickeln, erfolgt auch ein Fortschritt in der Exaktheit der Repräsentationsfunktion von Karten: Die Karte gilt als ein visuelles Medium der Repräsentation zwecks Übermittlung raumbezogenen Wissens; ihre artifizielle, symbolische und technische Medialität tritt dabei zurück gegenüber ihrem Informationsgehalt: Die gute Karte ist eine Karte höchstmöglicher Transparenz für das Territorium, welches sie verzeichnet. (ii) Im Narrativ der opaken Karte ist nicht das, was die Karte zeigt, sondern wie sie es zeigt, der Gegenstand des Interesses. In der opaken Perspektive bildet die Karte das Territorium nicht etwa ab, sondern bringt es hervor. Die Bedingungen dieser Hervorbringung umfassen die logischen und mathematischen Gesetze der kartographischen Projektion ebenso wie die technischen, semiotischen, ästhetischen, politischen und ideologischen Bedingungen der Kartenproduktion. Karten werden zu Texten; sie sind soziale Konstrukte und immer auch Instrumente der Macht. Die Vertreter dieser postrepräsentalen Position (Cosgrove 2004; Harley 2004; Pickels 1995; Wood 1992) innerhalb der Kartographie berufen sich auf Foucaults Sozialisierung der Episteme und auf Derridas Dekonstruktion der Textualität. Wir sehen also: Die Anhänger der transparenten Karte naturalisieren das Artifizielle und stellen sich gerne in die Traditionen des britischen Empirismus; die Anhänger der opaken Karte kulturalisieren das Natürliche und verorten sich in der diskurskritischen kontinentalen Philosophie. Für Christian Jacob steht außer Frage, dass es sich bei diesen Positionen um opponierende Schulbildungen und miteinander konkurrierende Interpretationsansätze handelt. Wir aber wollen die Blickrichtung umkehren und eine Vermutung formulieren: Transparenz und Opazität, ›Abbildung‹ und ›Konstruktion‹ schließen sich nicht aus, sondern sie schließen sich ein. Wir loten nun aus, wie dieses Wechselspiel präzisiert werden kann, und zwar bezogen auf den orientierenden Umgang mit Karten. 156 Sybille Krämer 3. Die kartographische Operation Zwei Raumauffassungen können unterschieden werden; dies hat Michel de Certeau exemplarisch herausgearbeitet, indem er ›Ort‹ (lieu) von ›Raum‹ (espace) unterscheidet (de Certeau 1988, 217 ff.). ›Orte‹ sind charakterisierbar durch ihre Lage in einer topologischen Ordnung, bei der Körper in Beziehungen der Koexistenz zueinanderstehen: Jedes Ding hat seinen wohlbestimmten Platz und steht in Relation zu dem, was sich an einem anderen Platz befindet. Ein ›Ort‹ ist einem festen Punkt vergleichbar, der durch Strukturen stabiler Simultaneität mit den ihn umgebenden Punkten verbunden ist. Anders der ›Raum‹, der nicht durch stabile Konfigurationen von Orten gegeben ist, sondern durch die Bewegungen handelnder Akteure erzeugt wird und auch nur im Vollzug dieser Bewegungen – also temporär – existiert. Es geht um einen Handlungs- und Bewegungsraum, der durch das Tun von Subjekten entsteht und mit ihm vergeht. Die von de Certeau analysierte Differenz von Raumarten begegnet uns auch in der Psychologie des räumlichen Orientierungsverhaltens oder in der Theorie kognitiver Raumrepräsentationen (Wagner 2010). Bei Raumdarstellungen kann zwischen einer dynamischen ›Routenkarte‹ und einer statischen ›Überblickskarte‹ unterschieden werden, und dies impliziert ein je unterschiedliches Orientierungsverhalten (vgl. Shemyakin 1961; Wagner 2010, 245 ff.). Einer ›Routenkarte‹ zu folgen, bedeutet, ein Ziel dadurch zu erreichen, dass eine bestimmte Bewegungsfolge gespeichert wird, die dabei sukzessive einzuhalten ist (»Gehe jetzt nach rechts, dann biege bei der nächsten Kreuzung links ab …«). Einer ›Überblickskarte‹ zu folgen, heißt, simultan ein Terrain so darzustellen, dass der einzuschlagende Weg wie eine fortlaufende, eingezeichnete Linie erscheint. Während der Psychologe Jean Piaget noch vermutete, dass Routenkarten für das frühkindliche Orientierungsverhalten, Überblickskarten aber für das erwachsene Verhalten charakteristisch sind, konnten die Soziolinguisten Charlotte Linde und William Labov zeigen (Linde / Labov 1985, 44), dass beide Formen der Raumdarstellung im erwachsenen Leben eine Rolle spielen. Denken wir nur an die Beschreibung einer Wohnung: Wir können dies entweder in der Feldperspektive als Erzählung eines fiktiven Ganges durch die Wohnung tun oder in der Vogelflugperspektive einer Skizze, die den Grundriss der Zimmer synoptisch aufzeichnet (Wagner 2010, 244). Ob es ontologisch – mit de Certeau – interessiert, was Räume sind, oder psychologisch – mit Shemyakin und Piaget – thematisch wird, wie wir Raumwissen darstellen und speichern: Stets geht es um eine Differenz, die zwar verschiedene Namen trägt, jedoch im Kern um den Unterschied kreist zwischen einem in simultaner Koexistenz gegebenen stabilen Strukturraum und einem in sukzessiver Abfolge entstehenden temporären Bewegungsraum. Die Differenz zwischen ›Strukturraum‹ und ›Bewegungsraum‹ bildet für uns eine Leitunterscheidung, in deren Horizont das Zusammenspiel von Abbildung und Erzeugung einer Welt im Gebrauch der Karte zutage treten kann. Karten erzeugen doch Welten, oder? 157 Denn die pragmatische Funktion von Karten besteht eben darin, ein uns unvertrautes und unübersichtliches Terrain in einen für uns zugänglichen Bewegungs- und Handlungsraum zu verwandeln; und dies kann genau dann gelingen, wenn die Karte ein Strukturmodell dieses Terrains abgibt, sodass die Positionen und Bewegungen von Subjekten im realen Territorium als Punkte und Linien im Strukturbild der Karte erscheinen können. Karten werden dann zu Übersetzungsmanualen, die graphische Anordnungen in reale Bewegungen und vice versa übertragbar machen (können). Die Güte einer Karte, das Kriterium ihrer Darstellungsleistung, liegt dann darin, wie gut die Metamorphose gelingt, bei der die imaginäre Linienkonfiguration in der Karte – verstanden als die anvisierte Fortbewegung – in eine absichtsvolle Bewegung im lebensweltlichen Handlungsraum umsetzbar ist. Wir wollen die Transformation eines unvertrauten Terrains in einen Bewegungsraum mithilfe eines graphischen Strukturmodells die ›kartographische Operation‹ nennen. Im Alltag sind solche Operationen im Umgang mit Stadtplänen, Wanderkarten, Netzkarten des öffentlichen Verkehrs höchst geläufig. Doch werfen wir nun einen genaueren Blick auf das Verfahren der kartographischen Operation und fragen, welche Rolle dabei die Ähnlichkeit zwischen Territorium und Karte spielt. Dabei ist eines vorab klar: ein handliches Stück bedrucktes Papier in Gestalt einer alpinen Wanderkarte einerseits – ein sich auftürmendes, unübersichtliches und nahezu unüberwindlich erscheinendes Gebirge andererseits: Unterschiedlicher können ›Dinge‹ kaum sein. Wenn wir hier nach einer ›Ähnlichkeit‹ fragen, bezieht diese sich selbstverständlich nicht auf die Substanz, sondern auf eine Struktur, die Gebirge und Karte inhärent ist. Und wir kommen dieser Strukturähnlichkeit auf die Spur, wenn wir vom Phänomen der Indexikalisierung ausgehen, das unabdingbar ist, wenn Karten praktisch orientieren sollen. 4. Indexikalisierung und kartographisches Paradox: Die Konventionalität von Karten Das Gelingen der kartographischen Operation bedarf der erfolgreichen Indexikalisierung (Krämer 2008): Um Karten zu Orientierungszwecken einzusetzen, müssen wir uns selbst innerhalb der Karte verorten – das ist eben das, was bei Navigationssystemen die Satelliten erledigen. Diese Verortung in der Karte bildet das Bindeglied zwischen der Symbolwelt der Karte und der Lebenswelt der Kartennutzer. Durch Lokalisierung verwandeln sich Kartennutzer in Punkte in bzw. auf der Karte; ihre Positionalität verdoppelt sich in eine lebensweltliche und eine symbolische Situiertheit. Das ›Ich bin hier‹ im Gelände verwandelt sich in das ›Ich bin dort‹ auf der Karte: eine deiktische Geste, die vom Körper weg auf die Karte und damit doch auf sich selbst als Bestandteil der Karte verweist. Die Duplizität der Positionierung verdankt sich 158 Sybille Krämer der Dualität von Teilnehmer- und Beobachterperspektive: Im ›Ich bin hier‹ sind wir leibliche Teilnehmer eines Feldes und nehmen einen unverwechselbaren Ort ein, der singulär ist, weil er gleichzeitig von niemand anderem eingenommen werden kann. Im ›Ich bin dort‹ nehmen wir eine externe Beobachter- und Überblicksposition ein, indem wir uns zum Bestandteil von etwas machen, das in der Vogelflugperspektive überschaubar ist: Erste-Person-Perspektive und Dritte-Person-Perspektive greifen ineinander. Wenn diese oftmals sehr mühevolle Selbstlokalisierung richtig ist – und sie kann selbstverständlich misslingen –, dann ist eine Karte nicht nur die allgemeine Darstellung eines Territoriums, sondern sie wird zur singulären Aufzeichnung der gegenwärtigen Position des Kartennutzers. Es ist diese Möglichkeit einer erfolgreichen Transformation der Lokalisierung ›im Feld‹ in diejenige auf ›der Karte‹, die deutlich macht, dass hier eine Homogenität am Werk sein muss, dass ein Passungsverhältnis zwischen Territorium und Karte vorauszusetzen ist. Wie aber kommt dieses zustande? Wir wollen darauf eine Antwort geben, indem wir uns dem Phänomen des ›kartographischen Paradoxons‹ zuwenden: Es besagt, dass eine richtige Lokalisierung nur dank einer kartographischen Verzerrung möglich ist. Eine unverzerrte Übertragung bzw. Abbildung der Struktur der Welt auf die Struktur einer Karte ist nicht möglich. Die systematische Verzerrung ist geradezu die Bedingung orientierenden Kartengebrauchs. Machen wir uns noch einmal klar, wie radikal die Heterogenität zwischen der flächigen Karte und unserer tiefenräumlichen (Lebens-)Welt ist. Es gibt keine Flächen; doch wir behandeln die Oberflächen inskribierter Körper wie etwa Schriftstücke, Diagramme, Karten oder Bilder so, als ob sie keine Tiefe hätten. Durch diese Annullierung der dritten Dimension bietet sich im Gestaltungsraum der Fläche dem Auge alles als Synopsis, mithin als Überblick, dar. Was immer die Fläche ›enthält‹, zeigt sich auch; es gibt – gewöhnlich – nichts Verborgenes, das hinter der inskribierten Fläche liegt. Die Vogelflugperspektive, die in der umgebenden Lebenswelt einzunehmen uns gewöhnlich verwehrt ist, wird in Gestalt inskribierter Flächen artifiziell und explizit inszeniert und für die Orientierung in komplexen, unübersichtlichen Räumen brauchbar gemacht. Doch was geschieht, wenn Dreidimensionales auf eine Fläche übertragen werden soll? Wenn wir auf einer Orangenschale die Umrisse Europas und darin als Konstellation die Städte Paris, Stockholm, Warschau und Rom einzeichnen, dann die Schale vorsichtig ablösen und platt drücken, so merken wir: Die Relationen haben sich auf der zur Fläche platt gedrückten Schale verschoben: Sie sind verzerrt und entsprechen nicht mehr jenem Punktegefüge, das dem Strukturmodell der gekrümmten Oberfläche eingezeichnet war. Der Übergang von der dreidimensionalen in die zweidimensionale Darstellung macht – und zwar als mathematisch-logische Gesetzmäßigkeit – eine Verzerrung unausweichlich. Präziser ausgedrückt: Da die geographische Karte Territorien um ihre Krümmung bringt, kann es keine zweidimensionale Karte Karten erzeugen doch Welten, oder? 159 geben, die gleichzeitig Flächen, Winkel, Umrisse, Entfernungen und Richtungen verzerrungsfrei abbildet (Monmonier 1996, 27 ff.; Schlögel 2003, 97 ff.). Stets gibt es dabei eine Pluralität von Projektionsmethoden; welche Projektion bevorzugt wird, hängt vom pragmatischen Zweck der Karte ab. Und es ist dann die gewählte Projektionsmethode, welche über Art und Grad der Verzerrung entscheidet. Das kartographische Paradox legt also nahe: Repräsentation und Relativität schließen sich nicht aus, sondern ein. Verdeutlichen wir dies anhand eines Beispiels: 1569 hat Gerhard Mercator (1512-1594) eine winkeltreue Weltkarte entworfen (Monmonier 2004; Buchholz 1994), die – so die dekonstruktivistische Kritik – offensichtlich eurozentrisch ist, da vom Äquator zu den Polen die Flächen sich im Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Umfang überproportional vergrößern: Grönland (2,2 Mio. km²) erscheint nahezu so groß wie Afrika (30,3 Mio. km²). Schemabild, Mercator-Projektion Weltkarte von Gerhard Mercator (http://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Mercator; www.geschichteinchronologie.ch) Abbildung 1: Mercator-Projektion sowie Weltkarte von Gerhard Mercator Das Konstruktionsprinzip der Mercator-Karte enthüllt sich, wenn wir fragen, was geschieht, wenn eine Kugeloberfläche auf einen Zylinder projiziert wird. Machen wir ein Experiment: Ein Zylinder wird als Mantel so um einen Globus gewickelt, dass er den Globus am Äquator berührt. Der Globus wird von innen beleuchtet und wirft dann die Umrisslinien der Kontinente als Schatten auf den Zylinder. Wenn wir den Zylinder aufschneiden und ausrollen, haben wir nahezu eine Mercator-Weltkarte, bei der die äquatorfernen Regionen gegenüber den äquatornahen gedehnt sind – und dies umso mehr, als es in Richtung Pole geht. Doch just infolge der Dehnung der äquatorfernen Regionen konnte Mercator die Winkel zwischen Längen-und Breitengraden beibehalten – doch eben nur um den Preis der sukzessiven Veränderung der Abstände der Breitengrade. Die Winkeltreue wird erkauft durch Flächenverzerrung. 160 Sybille Krämer Die pragmatische Funktion der Mercator-Karte besteht darin, Seefahrern das Navigieren zu ermöglichen. Denn die Eigenschaft der Winkeltreue5 ermöglicht es, Loxodrome, die auf dem gekrümmten Globus die Form spiraliger Windungen annehmen, auf der flachen Karte als gerade Linien einzuzeichnen; so wird es möglich, einen konstanten Kurs (mit nur einer Kompass-Einstellung) auf dem Meer einzuhalten, welcher zwar nicht der kürzeste, jedoch der einfachste und sicherste Weg ist, den anvisierten Zielhafen anzusteuern. Dieses Navigieren entlang einer in kartographischer Operation ermittelten Strecke gilt übrigens nicht nur für die Schiffs-, sondern auch für die Luftfahrt. Die Mercator-Projektion liegt auch heute noch fast allen Seekarten sowie vielen Luftkarten zugrunde. (http://lv-twk.oekosys.tu-berlin.de/project/lv-twk/03-intro-21-twk.htm) Abbildung 2: Orthogonale Weltkarte von Arno Peters mit flächentreuer Projektion Gleichwohl entwickelte sich im Zusammenhang mit der Mercator-Karte eine Art Kulturkampf6 um die ›richtige‹, um die ›politisch korrekte‹ Karte: Dass der Mercator-Karte ein Eurozentrismus unterstellt wurde, animiert 1974 Arno Peters dazu, eine Kartenprojektion zu entwickeln (Peters 1983), die den Ländern der ›Dritten Welt‹ Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Die Peters-Karte ist 5 Im Verein mit einer damit verbundenen konstanten Ausrichtung der Karten nach Norden. 6 Zu dieser Diskussion: Deutsche Gesellschaft für Kartografie 1918; Crampton 1994; Robinson 1985. Karten erzeugen doch Welten, oder? 161 flächentreu, insofern jedem Quadratmeter der Erdoberfläche ein proportionaler Teil auf der Karte entspricht – dafür aber werden die Längen und Winkel ›entstellt‹. Die Peters-Karte ist als ein Aufklärungsinstrument zweifellos fruchtbar, um auf die impliziten kartographischen Verzerrungen – und deren soziopolitischen Implikationen – aufmerksam zu machen, doch als Navigationsinstrument ist sie nutzlos. Und noch etwas anderes wird augenfällig: Jede Kritik an einer bestimmten kartographischen Verzerrung muss nolens volens Gebrauch machen vom Narrativ der transparenten Karte: Die Korrespondenz zwischen Karte und Territorium wird damit ausdrücklich als organisierendes Prinzip der Kartierung vorausgesetzt. Und der Anspruch, dass das, was an Karten interessiert, genau darin besteht, ein möglichst genaues Abbild ihres Territoriums zu geben, ist dabei so federführend, dass der originäre pragmatische Zweck, die Verwendungszusammenhänge einer Karte, ausgeblendet wird, der umgekehrt doch überhaupt erst das Kriterium abgeben kann, an dem gemessen eine Karte gut oder schlecht ist. Karten sind nicht einfach visuelle Darstellungen von etwas, sondern sie sind Instrumente der Exploration von und des Bewegens in komplexen Territorien. Nur im Rahmen dieser praktischen Zweckbestimmung kann jeweils zutage treten, worin Reichweite und Grenzen einer Karte liegen. Und das heißt: Die Ähnlichkeit zwischen Karte und Territorium, auf deren Spur wir uns hier setzen, findet ihr Kriterium nicht in visueller oder gar substanzieller Übereinstimmung, sondern im Gelingen einer Handlung: Die Mercator-Karte ›ähnelt‹ der Welt, sofern der Seefahrer mit ihrer Hilfe seinen Kurs trotz der unübersehbaren Weiten des markierungslosen Ozeans einzustellen und einzuhalten vermag. Die Peters-Karte ähnelt der Welt, insofern die in ihr realisierte fremdartige ›Flächentreue‹ die Pluralität möglicher Projektionsmethoden dokumentiert und damit auf die Artifizialität der Mercator-Projektion – an die wir uns so gewöhnt haben, als sei sie ›natürlich‹ – aufmerksam macht. Was wir hier am Beispiel der ›Gemachtheit‹ und Konventionalität der Projektionsmethode entwickelten als eine Voraussetzung dafür, sich mit Karten auf die wirkliche Welt zu beziehen und sich in ihr zu orientieren, lässt sich auch anhand vieler anderer symboltechnischer Darstellungsprinzipien ausweisen. Denken wir nur an das artifizielle Koordinatensystem der Längen- und Breitengrade, ein mathematisches Konstrukt, das die Karte (wie auch den Globus) mit einem künstlichen Netz ausstattet, welches alle Orte dieser Erde – ob auf den Spitzen der Gebirge oder den Untiefen der Meere – so homogenisiert, dass sie bezüglich ihrer Lage vergleichbar werden, insofern diese Orte auf der kartierten Fläche die Gestalt von Punkten annehmen, deren Relationen durch berechenbare Linienkonstellationen zu verzeichnen sind. Oder denken wir an die Techniken der Generalisierung, Schematisierung und Stilisierung, ohne die es keine Karten geben kann und die just den Unterschied ausmachen, warum wir, wenn wir in einer fremden Stadt den Weg vom Bahnhof zum 162 Sybille Krämer Hotel suchen, uns dabei nicht mit dem Luftbild von ›Google Earth‹, sondern vielmehr mithilfe von ›Google Maps‹ orientieren. Nur durch die Erfindung und Erzeugung artifizieller, ›ideeller‹ Tatbestände wie der Meridiane oder des Äquators können wir räumliche Zusammenhänge der Realwelt auf der Karte in Gestalt eines relationalen Abbildes überhaupt repräsentieren. Der ›Abbildcharakter‹ der Karte ist zu verstehen im Sinne einer ›transnaturalen Abbildung‹. Kern dieser ›Transnaturalität‹ ist nicht nur die Unabdingbarkeit einer konventionalisierten Projektionsmethode oder der Tatbestand der kulturalistischen und soziopolitischen Prägungen der Darstellungsverfahren; Kern ist vielmehr der Umstand, dass es zumeist – für Menschenaugen – Unsichtbares ist, was in der Karte visualisiert wird: Denn nicht ein Terrain, sondern das Wissen über ein Terrain wird ›abgebildet‹. Anliegen dieser Überlegungen ist, das Wechselverhältnis von Abbildung und Erzeugung im Umgang mit orientierenden Karten zu erörtern und dabei auch die ›Ähnlichkeit‹ – jedenfalls im Rahmen der ›operativen Bildlichkeit‹, für welche die Fremdreferenz charakteristisch ist – ein Stück weit zu rehabilitieren. Die Gelenkstelle dieser Rehabilitierung ist die Möglichkeit, mithilfe der flächigen Strukturräume von Karten unvertraute Gebiete für unser Bewegen und Handeln qua Indexikalisierung zugänglich zu machen. Aufschlussreich nun ist, dass dieses Prinzip einer Wechselwirkung zwischen Struktur- und Bewegungsraum, die die ›kartographische Operation‹ charakterisiert, nicht nur für Bewegungen in realen Territorien, sondern auch für kognitive Bewegungen in Wissensgebieten gilt. Was die Karte für das alltägliche Orientierungsverhalten ist, das verkörpern Diagramme für Erkenntnisbewegungen in Wissensfeldern. Es ist hier nicht der Ort, detailliert zu zeigen, wieso Diagramme Wissen nicht nur aufzeichnen, sondern auch neues Wissen generieren und damit Bewegungsformen des Erkennens und Denkens stimulieren und präformieren.7 In einer gewissen Hinsicht können Karten ›nur‹ als das äußerste Ende eines Spektrums angesehen werden, welches ›das Diagrammatische‹ genannt werden kann und aus der Interaktion von Punkt, Linie und Fläche hervorgeht und so unterschiedliche Formen ›operativer Bildlichkeit‹ aufweist wie Listen, Tabellen, Notationen, Graphen, Diagramme und eben auch: Karten.8 Die welterschließende Funktion von Karten zeigt sich – so unsere Vermutung – auch im Phänomen des intellektuellen Diagrammgebrauches, gilt also nicht nur für terrestrische Orientierungsleistungen, sondern auch für kognitiv-begriffliche Operationen. Anhand eines antiken Beispiels sei abschließend der kartographische Impuls in Geographie und Philosophie hier kursorisch angedeutet. 7 Dies hat jüngst Jan Wöpking 2012 in seiner Doktorarbeit untersucht. 8 Gemeinsam ist diesen Darstellungsformen, in je unterschiedlichem Maße zweidimensionale Raumrelationen für semantische Zwecke einzusetzen (vgl. Krämer 2012). Karten erzeugen doch Welten, oder? 163 5. Platon und Ptolemaios: Die Aufzeichnung eines begrifflichen und eines irdischen Universums Der griechische Philosoph Platon (428-348 v. Chr.) hat anhand eines Liniengleichnisses sein philosophisches Weltbild visualisiert (Politeia, VII, 509f-511e); Jahrhunderte später hat der alexandrinische Astronom, Geograph und Mathematiker Klaudios Ptolemaios (ca. 100-170 n. Chr.) einen Atlas der bekannten Welt inklusive einer Weltkarte in der Vogelflugperspektive geliefert.9 So unterschiedlich das philosophische und das geographische Weltbild auch sind: Beide Male dienen die Weltbilder dazu, ›Bewegungen von Akteuren bzw. Subjekten‹ zu ermöglichen – sei es auf der Erde oder im Geist. In der Politeia (509f-511e) erläutert Platon die Gliederung der Welt – also seine Ontologie – in Gestalt eines Gleichnisses: Man solle eine Linie ziehen und in zwei ungleiche Abschnitte teilen, sodass der kleinere Abschnitt das Sichtbare und der größere das Denkbare darstelle; das Denkbare verhält sich zum Sichtbaren wie ein Urbild zu Abbildung 3: Das Liniengleichnis Platons (Politeia 509 ff.) seinem Abbild. Sodann sollen diese beiden Abschnitte noch einmal in demselben Verhältnis unterteilt werden. So entsteht eine viergliedrige Aufteilung von Seinsbereichen, die – und das ist wichtig – zugleich eine Stufenfolge im Erkennen verkörpert, und zwar mit einem progressiv ansteigenden Grad an theoretischer Deutlichkeit. Den untersten, sichtbaren Teil bilden die Bilder, Spiegelungen und Schatten; es folgen deren Vorbilder: die Dinge, Pflanzen und Lebewesen; der dritte Abschnitt – jetzt schon im unsichtbaren Bereich gelegen – enthält die Begriffe und mathematischen Gegenstände; der letzte und größte Teil schließlich repräsentiert die Domäne der Ideen. 9 Neu übersetzt und herausgegeben von Stücklenberger / Graßhoff 2006. 164 Sybille Krämer Mithilfe topologischer Beziehungen wie oben und unten, näher oder ferner werden theoretische Zusammenhänge ›einsichtig‹, also evident, gemacht. Mit dem Liniengleichnis kartographiert Platon sein Weltbild, seine Ontologie. Er setzt Raumrelationen als eine ›Sprache‹ der philosophischen Spekulation ein. Worauf es nun ankommt, ist, dass diese Linienkonfiguration nicht nur die platonische Ontologie sichtbar macht, sondern vielmehr zugleich den Weg vorzeichnet, den der Erkennende zu nehmen hat, wenn er die Wahrheit anstrebt. Das Denken hat – für Platon – eine Richtung und diese Richtung ist als ein Aufstieg, als eine Stufenfolge charakterisierbar. Daher bildet das Höhlengleichnis im nächsten Buch der Politeia, welches nicht abstrakte Linien, sondern eine konkrete Höhlensituation visualisiert, die Fortsetzung des Liniengleichnisses mit quasi dreidimensionalen Mitteln (Platon, Politeia, VII, 514-519). Alle gängigen Editionen Platons überliefern das Gleichnis in Textform; doch eine der vielleicht ältesten überlieferten Handschriften der Politeia, archiviert in Paris, enthält tatsächlich eine Zeichnung.10 (Butler, Samuel / Dent, J. M. / Dutton, E. P. (1907): Atlas of Ancient and Classical Geography; http://www.gutenberg.org/files/17124/17124 h/17124h.htm) Abbildung 4: Ptolemaios' Weltkarte 10 Codex Parisinus graecus 1807, datiert in das dritte Viertel des 9. Jahrhunderts.: vgl. Perria 1991. Diesen Hinweis gab mir Dieter Harlfinger, Direktor des Aristoteles-Archivs an der FU Berlin. Karten erzeugen doch Welten, oder? 165 Kommen wir zur Geographie: Ptolemaios hat das geographische Wissen seiner Zeit in einem Handbuch der Geographie zusammengeführt und kann als Gründerfigur der wissenschaftlichen Kartographie gelten (Stücklenberger / Graßhoff 2006; Stücklenberger 2004; Stücklenberger / Graßhoff 2006; Kleineberg / Knobloch / Leigemann 2006). Er stellt eine Fülle unübersichtlicher und oftmals inkohärenter geographischer Informationen aus Reiseberichten, mathematischen Berechnungen, astronomischen Beobachtungen und vorliegenden Karten zusammen und homogenisiert diese unterschiedlichen Datensammlungen durch die Erfindung eines einheitlichen Koordinatensystem mit Längen- und Breitengraden. So kann er die Lage von ca. 8000 Örtlichkeiten der damals bekannten Oikumene in Form seitenlanger Tabellen in seinem Handbuch aufnehmen. Zugleich entwickelte er eine neuartige Projektionsmethode, um die Erdkugel ›realitätsnah‹ auf die zweidimensionale Fläche abzubilden; er benutzt gerade keine Zylinderprojektion, die wir am Beispiel der Mercator-Karte erläuterten, sondern eine Kegelprojektion, welche Flächenverhältnisse der Kugeloberfläche ›getreuer‹ auf der Ebene wiederzugeben vermag. Den Abschluss seines Werkes bilden dann die Weltkarte sowie mehrere regionale Karten. Signifikant nun ist, dass Ptolemaios sein Werk – angesichts des Fehlens zuverlässiger Methoden der Reproduktion von Bildern bzw. Karten – als eine Anleitung zu einer individuellen Kartierung im Do-it-yourself-Verfahren versteht: Mithilfe des von ihm angegebenen tabellarischen Verzeichnisses der Ortskoordinaten und der detaillierten Beschreibungen seiner Projektionsmethode soll – das fordert Ptolemaios explizit – jeder Reisende befähigt werden, eine je singuläre Karte anzufertigen, die er für seine individuelle Orientierung im zu bereisenden Gebiet benötigt. Sowohl bei Platon als auch bei Ptolemaios zeigt sich ein kartographischer Impuls: Beide stellen ein geographisches Wissen oder eine philosophische Konzeption mithilfe von räumlichen Relationen dar und begreifen diese Darstellung als eine Anleitung zu einem Tun. Platon beschreibt und verzeichnet den Denkraum seiner Theorie über den Aufbau der Welt und will damit zugleich unseren Erkenntnishandlungen die Richtung aufzeigen und vorgeben. Ptolemaios beschreibt und verzeichnet den Realraum der ihm bekannten Erde und will damit Reisende mit Gebietsorientierungen versorgen. Beide setzen Linien als ein Ordnungsraster ein, mit dem sichtbare und unsichtbare Sachverhalte auf der Fläche einen anschaulichen Ort bekommen, sodass Bewegungen zwischen diesen Orten als Linienfiguration zutage treten können. Beide versetzen den Betrachter in die Vogelflugposition und realisieren damit einen Gesichtspunkt, der Menschenaugen gewöhnlich verwehrt ist, und konstruieren auf diese Weise ein Weltbild in der Perspektive des ›göttlichen Auges‹ eines externen, nicht länger im Feld eingeschlossenen Betrachters. Häufig wird diese Position des externen Beobachters, der die Welt betrachtet, insofern er sich als deren intrinsischer Teilnehmer gerade annulliert, mit 166 Sybille Krämer der Perspektive des neuzeitlichen Subjektes in Zusammenhang gebracht. Und Kants Frage »Was heißt es, sich im Denken zu orientieren?« gilt als ein spezifisch neuzeitlicher Gestus, insofern der kartographische Blick des Geographen sich nun zum objektivierenden Blickpunkt wissenschaftlicher Erkenntnisbewegungen überhaupt verallgemeinert. Ohne die Distanzen und Brüche zwischen Antike und Neuzeit hier zu marginalisieren und zu glätten, bleibt eines doch bemerkenswert: Der Versuch, Situationen der Unübersichtlichkeit zu begegnen mithilfe der ›Verdoppelungen‹ der komplexen, labyrinthischen Realwelt in flächige, handhabbare und also kontrollierbare Symbolwelten, arbeitet mit der Verräumlichung als einem Instrument, um (zeitliche) Bewegungen und Handlungen in unvertrauten Domänen vollziehen zu können. In diesem Sinne sind Weltbilder – insofern sie den kartographischen Impuls einer Metamorphose von Struktur in Handlung und vice versa bergen – nicht einfach Bilder von der Welt, sondern von Handlungsoptionen in der Welt. Literatur Buchholz, Reinhard / Krücken, Wilhelm (1994): Die Mercator-Projektion. Zu Ehren von Gerhard Mercator (1512-1594). Velten: Becker. Certeau, Michel de (1988): Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve. Crampton, Jeremy (1994): Cartography's Defining Moment. The Peters Projection Controversy 1974-1990. Cartographica 31, 4, 16-32. Deutsche Gesellschaft für Kartographie (1981): Die sogenannte Peters-Projektion: Eine Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kartographie. Geographische Rundschau 33, 334-335. Goodman, Nelson (1998): Sprachen der Kunst [engl.: Languages of Art. Indianapolis, 1968]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Derrida, Jaques (1997): Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen [frz.: Mémoires d'aveugle. 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