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Der mögliche Frieden

2008, Oldenbourg Wissenschaftsverlag eBooks

Die Modernisierung der Außenpolitik 25 Staatsmann« 70 findet jedoch keine Entsprechung bei anderen beteiligten Personen 71 , vor allem nicht bei den hohen Beamten 72. Allerdings gibt es auch einige Bereiche, die nicht oder nur kaum erforscht sind. Dies gilt z.B. für den deutsch-französischen Handelsvertrag. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in ihrem gesamten Umfang noch nicht umfassend dargestellt wurden. Nach diesen einleitenden Überlegungen soll nun die Modernisierung der Außenpolitik und ihr Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen 1923 bis 1929 untersucht werden. Den Anfang werden dabei die Rahmenbedingungen der Modernisierung, vor allem der Versailler Vertrag und die administrativen Reformen im AA und dem Quai d'Orsay machen.

Blessing · Der mögliche Frieden deutsches historisches Inst it ut historique allemand paris Pariser Historische Studien Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris Band 76 R. Oldenbourg Verlag München 2008 Der mögliche Frieden Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923-1929 von Ralph Blessing R. Oldenbourg Verlag München 2008 Pariser Historische Studien Herausgeberin: Prof. Dr. Gudrun GERSMANN Redaktion: Veronika VOLLMER Institutslogo: Heinrich PARAVICINI, unter Verwendung eines Motivs am Hötel Duret-de-Chevry Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut historique allemand) Hötel Duret-de-Chevry, 8, rue du Parc-Royal, F-75003 Paris Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://www.dnb-d-nb.de> abrufbar. 150 Jah re I Wissen für die Zukunft Olde n bo urg Ve rlag © 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Umschlagbild: Völkerbund Gruppenbild in Genf © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza ISBN: 978-3-486-58027-3 ISSN: 0479-5997 INHALT Vorwort 7 1. Einleitung: Die Modernisierung der Außenpolitik 9 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte der Modernisierung der Außenpolitik 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste in Deutschland und Frankreich 2.3. Die blockierte Modernisierung, 1919-1922 3. Die Anfänge der modernen Außenpolitik 3.1. Der Ruhrkampf 3.2. Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung in den deutschfranzösischen Beziehungen, 1924-1929 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 4.1.1. Sicherheit und kollektive Sicherheit 4.1.2. Französische Sicherheits- und deutsche Revisionspolitik als Problem der deutsch-französischen Beziehungen 4.1.3. Ansätze zur kollektiven Sicherheit: Von den ersten Versuchen im Völkerbund zur deutschen Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 4.1.4. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 und Locarno 4.1.5. Die Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheit im Völkerbund 4.1.6. Sicherheit durch Kriegsächtung? Der Briand-KelloggPakt 4.1.7. Kollektive Sicherheit 1924-1929: Ein Resümee 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems ... 4.2.1. Die Reparationsfrage 4.2.2. Die Verbesserung der bilateralen Handelsbeziehungen und der deutsch-französische Handelsvertrag 4.2.3. Die multilaterale Ebene der Handelspolitik: Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und ihre Folgen 4.2.4. Weltwirtschaftliche Verflechtung und die Modernisierung der Außenpolitik: Eine Bilanz 27 30 57 70 91 91 138 185 185 185 191 198 217 265 312 328 332 335 391 423 434 6 Inhalt 5. Schluß: Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan 439 Abkürzungsverzeichnis 467 Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Darstellungen 469 469 477 Personenverzeichnis 503 VORWORT Die vorliegende Untersuchung stellt die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die ich unter dem Titel »Die Modernisierung der Außenpolitik: Kollektive Sicherheit und wirtschaftliche Verflechtung in den deutsch-französischen Beziehungen 1923-1929« an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin bei Dekan Professor Oswald Schwemmer eingereicht habe. Zu besonderem Dank bin ich den Herren Professoren Clemens A. Wurm und Klaus Schwabe verpflichtet, die mir nicht nur als Erst- bzw. Zweitgutachter zur Verfugung standen, sondern mich während der gesamten Promotion, die ich am 2. Juli 2004 mit der Disputation abschließen konnten, konstruktiv unterstützten. Meinen Eltern, Freunden und vor allem meiner Frau kann ich nicht genug für ihren moralischen Beistand danken. Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung durch die Friedrich-Ebert-Stifitung und das Deutsche Historische Institut in Paris. Besonders Herrn Professor Paravicini sei an dieser Stelle gedankt. Auch den Mitarbeitern im Bundesarchiv, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, den Archiven der Banque de France und der BNP-Paribas, dem Centre des archives economiques et financiers und den Archives du Ministere des affaires etrangeres in Paris schulde ich Dank für ihre Hilfsbereitschaft und ihre Geduld. Sunnyside, NY, im November 2006 Ralph Blessing 1. EINLEITUNG DIE MODERNISIERUNG DER AUSSENPOLITIK Die deutsch-französischen Beziehungen der 1920er Jahre waren einem dramatischen Wandel unterworfen. Hatte es 1923, während des sogenannten »Ruhrkampfs«, noch so ausgesehen, als würde die »guerre froide«1, die zwischen Deutschland und Frankreich seit dem Ende der Feindseligkeiten am 11. November 1918 geherrscht hatte, erneut in einen gewaltsamen Konflikt umschlagen, so normalisierte sich das Verhältnis zwischen beiden Ländern bis zum Ende des Jahrzehnts und konnte gelegentlich sogar als freundschaftlich gelten. Die Ursachen für diesen ebenso schnellen wie radikalen Wandlungsprozeß so die These dieser Studie - lagen vor allem darin begründet, daß die bilateralen Beziehungen beider Länder zwischen 1923 und 1929 einer »Modernisierung« unterzogen wurden, die sich nachhaltig auf die Methoden und Zielsetzungen der deutschen und französischen Außenpolitik auswirkte. Klassische Ansätze der Außenpolitik, in denen es vor allem darum ging, die Machtposition des eigenen Landes zu stärken oder doch zumindest gegen Konkurrenten abzusichern, wurden teilweise durch kooperativere Formen des zwischenstaatlichen Verkehrs ersetzt, in denen das gemeinsame Ziel der Friedenssicherung einen höheren Rang einnahm. An die Stelle der Geheim- trat vielfach die Konferenzdiplomatie, und die multilaterale Diplomatie des Völkerbunds ergänzte die vor dem Weltkrieg vorherrschende bilaterale Politik. Die Außenwirtschafts- und auswärtige Kulturpolitik - um nur zwei Beispiele zu nennen wurden als neue Felder für die Diplomatie erschlossen. Um jedoch »Modernisierung« zu einem für die Fragestellungen dieser Arbeit funktionalen analytischen Begriff zu machen, sind einige Präzisierungen und Ergänzungen zu bereits bestehenden Definitionen notwendig. Ursprünglich tauchte der Begriff der »Modernisierung« in den 1950er und 1960er Jahren in der Politikwissenschaft und der Soziologie auf und diente zur Beschreibung der Entwicklung der Länder der Dritten Welt2. »Modernisierung« wurde vor allem als eine »Strategie des Nachholens, orientiert am je erreichten Entwicklungsstand der industriell am höchsten entwickelten Gesellschaften«3 ver' Vgl. die Überschrift zu Kap. 15 von Raymond POIDEVIN, Jacques BARLFITY, Les relations franco-allemandes 1815-1975, Paris 1977. 2 M. Rainer LEPSIUS, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der »Moderne« und die »Modernisierung«, in: Reinhart KOSELLECK (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977 (Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 20), S. 10-29, hier S. 11. 3 Reinhart KÖSSLER, Tihnan SCHIEL, Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie der Modernisierung, Frankfurt a. M. 1996 (Umbrüche der Moderne, 2), S. 16. 10 1. Einleitung standen. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde der Begriff erweitert, um allgemein den Prozeß zu beschreiben, der von der vormodernen zur modernen Gesellschaft führte4: »Industrielle Revolution und Aufklärung, ausgehend vom Europa des 18. Jahrhunderts, haben eine gesellschaftliche Entwicklung ins Leben gerufen, die heutzutage gemeinhin mit dem Begriff derusronigedM Modernisierung [Herv. i.O.] gekennzeichnet wird«5. Soweit die Modernisierungstheorie fur geschichtliche Phänomene herangezogen wurde, bezog sie sich ebenfalls meist auf diese der Soziologie entlehnten Kategorien6. In den »Geschichtlichen Grundbegriffen« finden sich zwar die Stichworte »Modern, Modernität, Moderne«, aber nicht das der Modernisierung, wobei die dort verwandten Definitionen ebenso hilfreich wie trivial sind: Modern ist »>gegenwärtig<, Gegenbegriff: >vorherig<«, zweitens »>neu<, Gegenbegriff: >alt<« und drittens »>vorübergehend<, Gegenbegriff: >ewig<«7. Diese Definitionen sind fur das Thema dieser Arbeit allerdings unzureichend, denn sie befassen sich hauptsächlich mit innergesellschaftlichen Problemen, d.h. sie klammern die Außenbeziehungen von Staaten weitgehend aus. Werden dennoch internationale Prozesse im Zusammenhang mit der Modernisierung betrachtet8, so steht auch dabei meist der soziale Wandel9 im Mittelpunkt. Die verwandten Modernisierungsbegriffe umfassen außerdem in der Regel nur die »Makroebene«10, also relativ lange Zeitspannen und große geographische Räume, die für die Betrachtung eines zeitlich wie räumlich begrenzten Untersuchungsbereichs inadäquat sind. Hilfreicher erscheint die Studie Peter Krügers, der die Neuansätze einer »eigenständige[n] republikanische[n] Außenpolitik«11 in der Weimarer Republik untersucht. Diese Neuerungen bestanden seiner Ansicht nach vor allem in den größeren Anforderungen, welche die intensiveren und vielfaltigeren internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg an die deutsche Außenpolitik stellten. Ursachen hierfür seien die größere Informationsflut infolge ver4 Siehe LEPSIUS, Theoreme, S . l l . Volker HILDEBRANDT, Epochenumbruch in der Moderne. Eine Kontroverse zwischen Robert Kurz und Ulrich Beck, Münster 1996 (Politikwissenschaft, 33), S. 1. Eine ähnliche Definition findet sich bei: Reinhard BENDIX, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969 (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 31), S. 507-512, hier S. 506. 6 Vgl. Hans-Ulrich WEHLER, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, 5 S. 1 1 - 1 7 . 7 Hans Ulrich GUMBRECHT, Modern, Moderne, Modernität, in: Otto BRUNNER, Werner CONZE, Reinhart KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131, hier S. 96. 8 Vgl. hierzu die Aufsätze in Teil 8 von: Wolfgang ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969 (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 31). 9 Siehe beispielsweise BENDIX, Modernisierung. 10 11 WEHLER, Modernisierungstheorie, S. 17. Peter KRÜGER, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, S. 16, zum folgenden S. 11-16. Ähnlich argumentiert auch Klaus HILDEBRAND, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Berlin 1999, S. 552. Die Modernisierung der Außenpolitik 11 besserter Kommunikationsmittel, der größer werdende Einfluß wirtschaftlicher Fragen auf die Außenpolitik (und dadurch auch vielfältigere Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten) sowie die Kulturpolitik als neues Element der Außenpolitik. Folge davon seien die personelle Ausweitung und Spezialisierung des Auswärtigen Dienstes, die, zusammen mit einem gewachsenen Einfluß von Parlament und Öffentlichkeit und neugegründeten, einflußreicheren internationalen Organisationen, vor allem zu moderneren Methoden der deutschen Außenpolitik führten12. Diese Änderungen erlaubten es, so Krüger weiter, von einer distinkt republikanischen Außenpolitik zu sprechen, in der wirtschaftliche Macht Vorrang vor militärischer habe, und ein insgesamt kooperativeres Klima vorherrsche. Viele der Elemente der »republikanischen Außenpolitik«, die Krüger und andere beschreiben, sind - das wird diese Untersuchung zeigen - auch kennzeichnend für eine im Sinne dieser Arbeit moderne Außenpolitik13. Dennoch erscheint mir der von Krüger entwickelte Begriff unvollständig, um die »Modernisierung« richtig zu erfassen: Er ist fast ausschließlich phänomenologisch und klammert das Prozessuale weitgehend aus. Außerdem werden durch die von Krüger betonten Neuansätze, wie Niedhart zu Recht feststellt14, die antirepublikanischen Kräfte zu wenig einbezogen und sie beziehen sich weniger auf die Inhalte als vielmehr auf die Formen der Außenpolitik. Madeleine Herren fuhrt einen anderen Modernisierungsbegriff ein: Für sie besteht die Modernisierung der Außenpolitik in einem Internationalisierungsprozeß, der hauptsächlich durch zunehmende multilaterale Kooperation geprägt ist15. In ihrer Untersuchung steht dabei der gouvernementale Internationalismus im Mittelpunkt, dessen zentrales Problem der Zugang zur Information sei. Modernisierung bedeute deshalb vor allem zunehmende Vernetzung16, wobei im Gegensatz zur klassischen Diplomatie nicht von einem »exklusiv von den Großmächten kontrollierten internationalen System« ausgegangen werden könne, sondern von »multilateralen Netzwerken«17. »Modernisierung beschreibt langfristigen und großräumigen sowohl gesellschaftli- 12 13 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 1 1 - 1 6 , 520f. Zur Gleichsetzung von republikanischer Außenpolitik und »modernerer« Außenpolitik siehe Gottfried NIEDHART, Locarno, Ostpolitik und die Rückkehr Deutschlands in die internationale Ordnung nach den beiden Weltkriegen, in: DERS., Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 3-17, hier S. 5f. 14 Gottfried NIEDHART, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 1999 (EdG, 53), S. 43 f. 15 Siehe Madeleine HERREN, Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modemisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865-1914, München 2000, S. 2. 16 Siehe ibid. S. 4. 17 Ibid. S. 3. 12 1. Einleitung chen wie auch ökonomischen Wandel«18, wobei militärische Macht zusehends von der Wirtschaftskraft als entscheidendem Machtfaktor abgelöst werde. »Schlüsselbegriffe außenpolitischer Modernisierung«19 seien somit Normenbildung, Standardisierung und Informationstransfer. Für die Zwecke dieser Arbeit ist der von Herren entwickelte Modernisierungsbegriff jedoch nur bedingt brauchbar, betont er doch in erster Linie die Multilateralität der Außenpolitik und ist deshalb kaum auf die bilateralen deutsch-französischen Beziehungen anwendbar. Auch sieht die Autorin den von ihr gebrauchten Begriff des gouvernementalen Internationalismus überwiegend als Mittel der kleineren Mächte, Einfluß zu gewinnen, weshalb sich ihre Definition der Anwendung auf zwei europäische Großmächte entzieht. Außerdem war in den deutsch-französischen Beziehungen weniger »Information« das Problem, sondern vielmehr »Macht« und deren Kontrolle, die im Sicherheitsverlangen Frankreichs und den deutschen Revisionsbestrebungen ihren Ausdruck fand. Wiewohl die von Krüger und von Herren entwickelten Begriffe wichtige Aufschlüsse über die Modernisierung der Außenpolitik liefern, sind sie für diese Arbeit unzureichend, weil sie die Außenbeziehungen Deutschlands und Frankreichs - bi- wie multilateral - nur teilweise erfassen und sie außerdem keinen Prozeßbegriff darstellen, durch den sowohl der Wandel des deutschfranzösischen Verhältnisses wie auch die Widerstände dagegen erfaßt werden können. Weil die vorhandenen Modernisierungsbegriffe für die Zwecke dieser Arbeit nur bedingt brauchbar sind, muß eine neue Definition von »moderner Außenpolitik« gefunden werden. Was also ist unter »Modernisierung« zu verstehen20? 18 Ibid. "Ibid. S. 11. 20 Die folgenden Ausführungen zum Begriff der Modernisierung haben Joseph Schumpeters Überlegungen zur Innovation zum Ausgangspunkt, wie er sie v.a. in seinem Werk »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus« (München, Leipzig 41935, insbesondere S. 88-130) dargelegt hat. Weil sich Schumpeters Überlegungen aber natürlich vorrangig auf die Untersuchung der ökonomischen Entwicklung beziehen, erschienen mir einige Modifizierungen und Differenzierungen notwendig. In Schumpeters Diktion entspricht Innovation dem, was im folgenden als Modernisierung definiert wird: die »Durchsetzung neuer Kombinationen« (ibid. S. 100). Mir erschien die Trennung von Innovation (gemeint als die Idee und das Programm, das dem Prozeß Modernisierung zugrunde liegt) und der Modernisierung (als Umsetzung der Innovation) angebracht, um die Bedeutung der Innovation zu unterstreichen. Außerdem soll, wie in dieser Studie gezeigt wird, deutlich werden, daß das Auftauchen innovativer Ideen und theoretischer Debatten keinesfalls auch automatisch die Umsetzung dieser Ideen bedeutet. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, daß ich Innovation, anders als Schumpeter, weder als festes Datum noch als normativ gebunden sehe. Modernisierung ist eben nicht nur die »Durchsetzung neuer Kombinationen«, die Modernisierung kann auch dazu führen, daß die ihr zugrundeliegenden Innovationen durch den Prozeß der Die Modernisierung der Außenpolitik 13 Modernisierung ist vor allem ein Prozeß. »Prozeß« wird dabei definiert als die Veränderung von Strukturen im Laufe der Zeit, wobei unter »Strukturen« die materiellen und immateriellen Gebundenheiten einer Gesellschaft verstanden werden. Zu den materiellen Gegebenheiten gehören beispielsweise die Bevölkerungsgröße eines Landes, die Wirtschaftskraft und -struktur einer Region oder der Aufbau der Verwaltung eines Staates. Immaterielle Faktoren sind unter anderem die kollektiven Werte einer Gesellschaft, die ihren Ausdruck in der politischen Verfassung, im Wirtschafts- oder Rechtssystem, aber auch in der Religion finden. Strukturen haben eine gewisse zeitliche Dauer, sind deswegen aber nicht unwandelbar. Sie verändern sich, eher langsam als schnell, eben durch Prozesse. Die Beziehung zweier Staaten ist ebenfalls ein struktureller Zusammenhang. Sie ist bestimmt durch materielle Faktoren, wie die Bevölkerungsgröße des einen Landes im Vergleich zu der des andern, die Zusammensetzung und den Umfang des Handels oder die relative militärische Stärke beider Länder. Daneben gibt es aber auch immaterielle Strukturen, die Auskunft darüber geben wie »gut« oder »schlecht« die Beziehungen sind, inwieweit ein Verständnis für die Gesellschaft des anderen Landes vorhanden ist und so weiter. Modernisierung ist eine bestimmte Art von Prozeß, der durch die Umsetzung bzw. Realisierung von »Innovationen« gekennzeichnet ist. Die Innovation selbst ist zunächst nur eine Idee. Sie ist dabei nicht nur als etwas genuin Neues zu sehen, sondern auch als ein Konzept, das aus der Kombination bestehender Entwürfe hervorgeht oder auf erkannte Fehler und Schwächen des Bestehenden reagiert. Sie ist dabei zunächst einmal wertfrei zu sehen: Die Aussage, ob eine Innovation positive oder negative Auswirkungen hat, ob sie die beabsichtigten Ziele erreicht oder nicht, ob sie wie auch immer sinnvoll ist, kann in der Regel erst am Ende der Modernisierungsphase bewertet werden. Modernisierung verändert werden. Modernisierung in dem von mir gebrauchten Sinne ist außerdem nicht gleichzusetzen mit Fortschritt: Schumpeter konnte dies tun, weil für ihn Innovation objektivierbar ist, was sich in einer besseren Produktionsfunktion darstellen läßt. Für historische Entwicklungen ist diese Objektivierbarkeit jedoch nicht oder nur bedingt gegeben. Übernommen habe ich unterdessen die Idee des Prozessualen und die Annahme, daß eine Innovation eben nicht nur das Alte ersetzt, sondern daß der Übergang vom Alten zum Neuen ein Verdrängungswettbewerb ist, in dem das Neue gegen das Alte durchgesetzt werden muß (siehe ibid. S. 101). Während Schumpeter jedoch vor allem den »Unternehmer« als eigentlichen Träger dieses Prozesses sieht (siehe ibid. S. 119—121), kommt es meines Erachtens nicht nur darauf an, einen Akteur zu haben, der sich durch »Führerschaft« (siehe ibid. S. 124-126) auszeichnet, sondern auch darauf, daß die strukturellen Rahmenbedingungen ittr den Modernisierungsprozeß stimmen. Die Modernisierung hängt von zahlreichen Faktoren ab, die den Handlungsspielraum des »Unternehmers« (bzw. Außenpolitikers) einengen. Allerdings stellt auch Schumpeter fest: »Zur Durchsetzung der neuen Kombinationen bedarf es der Verfügung über Produktionsmittel« (ibid. S. 103). Es ist jedoch nicht davon auszugehen, daß es etwa ein festes Verhältnis zwischen strukturellen und personalen Anteilen im Modernisierungsprozeß gibt: Sie schwanken spezifisch in dem Maße, in dem jeweils modernisierungsfördernde bzw. -hemmende Faktoren vorhanden sind. 14 1. Einleitung Eine Innovation setzt aber nur dann einen Prozeß in Gang, wenn sie realisiert wird. Umsetzung bedeutet dabei nicht nur den Austausch des Alten durch das Neue, sondern das Innovative tritt zunächst neben das bereits Existierende. Die Innovation setzt sich nicht automatisch durch, sondern tritt mit dem Bestehenden in einen Verdrängungswettbewerb - und kann in diesem Wettbewerb durchaus scheitern. Für den Erfolg des Modernisierungsprozesses kommt es nicht nur darauf an, daß das Neue objektiv »besser« ist als das Alte (das ist für das Neue auch noch nicht unbedingt feststellbar), sondern ob die Innovation eine ausreichende Durchsetzungsfahigkeit hat. Letztere hat eine personale Komponente, die vor allem den Durchsetzungswillen eines Akteurs beschreibt, und einen materiellen Bestandteil, der die Ressourcen umfaßt, die einem Akteur zur Durchsetzung einer Innovation zur Verfugung stehen. Diese Ressourcen können zum Beispiel aus Kapital oder auch parlamentarischen Mehrheiten bestehen. Die personale und die materielle Komponente bedingen sich gegenseitig. Ein Akteur kann zwar die materiellen Voraussetzungen zur Durchsetzung seiner Innovation positiv beeinflussen, indem er andere überzeugt, in der Regel reicht der Durchsetzungswille allein aber nicht aus. Andererseits müssen die Ressourcen durch einen bestimmten Willen und ein bestimmtes Programm geleitet werden, weil sie sonst im Prozeß der Modernisierung keine Funktion haben. Die Durchsetzungsmöglichkeiten eines innovativen oder konservativen (im Sinne eines innovationsverhindernden) Programms hängen von verschiedenen modernisierungshemmenden und -fördernden Faktoren ab. Modernisierungshemmend wirken sich in erster Linie die Vorzüge aus, die aus einem bestehenden System erwachsen: Diese Vorteile können materieller Art (wie z.B. monetäre Werte) sein, oder auch immaterieller Natur (wie Prestige, Ruhm oder Ehre). Modernisierungshemmend sind aber auch die Kosten, die mit der Umsetzung der Innovation verbunden sind. Kosten sind dabei sowohl rein geldmäßig zu sehen - wie etwa die Investitionen in ein neues Verkehrssystem - , können aber auch gesellschaftlicher Natur sein, wenn beispielsweise durch neue Technologien Arbeitsplätze verloren gehen. Modernisierungshemmend wirkt außerdem das Funktionieren des Alten. Je besser das Alte funktioniert (oder zu funktionieren scheint) und je unsicherer die Vorteile des Neuen sind (oder erscheinen), desto schwieriger wird eine Neuerung durchsetzbar sein. Modernisierungsfördernd sind im Umkehrschluß dann diejenigen Vorteile, die aus einer Innovation erwachsen könnten, und die Kosten, die entstünden, falls die Modernisierung verhindert würde. Auch wird die Bereitschaft, das Alte durch das Neue zu ersetzen, um so größer sein, je schlechter das Bestehende funktioniert. Da Innovationen aber immer mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet sind (funktioniert und bewährt sich das Neue wirklich?), müssen die modernisie- Die Modernisierung der Außenpolitik 15 rungsfördernden Elemente, um sich durchzusetzen, tendenziell vorteilhafter sein (oder erscheinen) als die modernisierungshemmenden. Je unsicherer aber das Neue ist, desto größer müssen vergleichsweise auch die zu erwartenden Vorteile sein. Allerdings ist die mit der Modernisierung verbundene Unsicherheit abhängig von deren individueller und kollektiver Wahrnehmung und Bewertung, die jedoch wiederum durch verschiedene Akteure zielgerichtet beeinflußt werden kann. Das gerade Vorgestellte ist eine allgemeine Definition von Modernisierung. Sie ist notwendig, um grundsätzliche Prinzipien der Modernisierung zu erläutern. »Innovation« ist jedoch ein sowohl themen- wie zeitspezifischer Platzhalter, weil die Innovation von heute morgen schon wieder das Bestehende, Etablierte ist. Die Innovation, deren Umsetzung im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, ist das liberale Modell der Friedenssicherung. »Modernisierung der Außenpolitik« bedeutet also konkret die Einflüsse dieses Konzepts auf die Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen in den Jahren 1923 bis 1929. Dabei soll nicht die ideengeschichtliche Betrachtung im Vordergrund stehen, sondern die Untersuchung der Einflüsse des liberalen Modells auf die konkreten historischen Abläufe. Worin bestand nun idealtypischerweise dieses Friedensmodell, das unter anderem vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson propagiert wurde21? Ziel des liberalen Konzepts war, Wilson zufolge, die Herbeiführung eines gerechten Friedens, denn nur dieser könne ein auf Dauer sicherer Frieden sein22. Voraussetzung dafür sei vor allem die Demokratie im Innern der Staaten: »Eine feste Vereinigung für den Frieden kann nur aufrechterhalten werden, wenn die Mitglieder demokratische Nationen sind. Man könnte keiner autokratischen Regierung das Vertrauen schenken, daß sie ihr treu bleiben oder ihre Vereinbarungen innehalten würde«23. Aus dieser Grundforderung nach Demokratie leitete er weitere Voraussetzungen ab, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Ausdruck dafür, daß jedes Volk selbst demokratisch über 21 Wilsons Verdienst bestand vor allem in der »grand synthesis and propagation« dieses Modells der Friedenssicherung, Thomas J. KNOCK, Wilsonian Concepts and International Realities at the End of the War, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 111-129, hier S. 111. Wilson selbst war sogar »a rather belated adherent to the collective security idea«, Inis L. CLAUDE jr., Power and International Relations, New York 1962, S. 109. 22 Siehe Rede Wilsons vor dem Kongreß (2.4.1917), in: Herbert MICHAELIS, Ernst SCHRAEPLER, Günter SCHEEL (Hg.), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 1, Berlin 1958, Nr. 102. 23 Ibid. 16 1. Einleitung sein Schicksal bestimmen solle24. Wie das Leben im Innern des demokratischen Staates, sollten auch die internationalen Beziehungen durch das Recht geregelt werden, also durch [d]ie Einwilligung aller Nationen, sich in ihrem Verhalten zueinander von denselben Grundsätzen der Ehre und der Achtung vor dem gemeinen Recht der zivilisierten Gesellschaft leiten zu lassen, die für die einzelnen Bürger aller modernen [R.B.: also demokratischen Rechts-] Staaten in ihren Beziehungen zueinander gelten, dergestalt, daß alle Versprechen und Abmachungen gewissenhaft beobachtet, daß keine Sonderanschläge und Verschwörungen angezettelt werden, daß keine selbstsüchtigen Schädigungen ungestraft zugefügt werden, und daß wechselseitiges Vertrauen geschaffen werde auf der vornehmen Grundlage wechselseitiger Achtung vor dem Recht25. Eine weitere, ebenfalls aus der innerstaatlichen Demokratie abgeleitete Forderung Wilsons war das Ende der Geheimdiplomatie (Punkt I der Vierzehn Punkte)26. Ebenso wie im demokratischen Rechtsstaat Kontrolle durch öffentliche Verhandlung, Debatten und Abstimmungen erzielt werde, müsse dies nun auch auf internationaler Ebene durchgesetzt werden. Eine weitere Komponente des liberalen Modells der Friedenssicherung war die Durchsetzung des Freihandels27, die konkret in den Punkten II (Freiheit der Schiffahrt und der Meere) und III (Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken und Errichtung gleicher Handelsbeziehungen) der Vierzehn Punkte verlangt wurde. Denn fur Wilson stand fest, daß nicht nur politische Streitigkeiten, sondern auch »wirtschaftliche Rivalitäten [...] eine ergiebige Quelle für Pläne und Leidenschaften« seien, »die Krieg erzeugen«28. Wilson forderte außerdem die möglichst universelle Umsetzung der erwähnten Voraussetzungen, denn nur dann sei die Sicherung des Friedens dauerhaft möglich. Diese Universalität Schloß Bündnisse einzelner Staaten aus, die gegen die Interessen anderer Staaten oder der Friedenserhaltung gerichtet waren29. Waren diese Voraussetzungen erfüllt, so sollten nach dem Willen des amerikanischen Präsidenten durch einen Völkerbund die Konflikte zwischen den Staaten friedlich geregelt werden. Mittel hierfür waren die allgemeine Abrü- 24 Siehe Botschaft Wilsons an den KongreßbSMLIHECA (11.2.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399b. 25 Rede Wilsons in Mount Vernon (4.7.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399c. 26 Abgedruckt in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399a. 27 Siehe Gottfried NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, Locaino und die Grenzen der Entspannung, in: Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 416-425, hier S. 416. 28 Rede Wilsons in Mount Vernon (4.7.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399c. 29 Siehe Rede Wilsons in New York (27.9.1918), in: ibid. Nr. 399d; Sara MOORE, Peace without Victory for the Allies, 1918-1932, Oxford, Providence 1994, S. 20f. Die Modernisierung der Außenpolitik 17 stung und der Aufbau eines Systems der kollektiven Sicherheit im Rahmen eines »Völkerbunds«30. Das von Wilson vertretene Modell der liberalen Friedenssicherung ist nicht snieda das, sondern nur ein Konzept, das helfen sollte, den Frieden zu bewahren; seine Annahmen und Voraussetzungen blieben nicht unwidersprochen31. Es bildet einen von vielen möglichen Idealtypen, mit dessen Hilfe reale Ereignisse gewissermaßen vermessen werden können. Daß der von Wilson inspirierte Prozeß der Modernisierung, deren zugrundeliegende Innovation im übrigen auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition zurückblicken kann32, wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Beziehungen auch zwischen Deutschland und Frankreich hatte, steht außer Frage. Nicht nur wurde das Modell zumindest teilweise, beispielsweise durch den Völkerbund, dessen Satzung dem Völkerrecht eine »epochale Wendung«33 verlieh, umgesetzt. Viele Aspekte des Konzeptes, wie die Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen oder die Liberalisierung des Handels, haben die internationalen - und die deutschfranzösischen - Beziehungen der 1920er Jahre entscheidend geprägt. Sie blieben insofern also nicht nur Innovation, sondern setzten tatsächlich einen Modernisierungsprozeß in Gang. Der hier eingeführte und in dieser Definition durchaus neue Modernisierungsbegriff ist aber nicht nur für den Untersuchungszeitraum relevant, sondern bietet auch andere Vorteile. Durch ihn kann der begriffliche Rahmen der bisherigen Untersuchungen über die deutsch-französischen Beziehungen der 1920er Jahre erweitert werden, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens war die französische Perspektive bisher weitgehend vom Problem der Sicherheit dominiert34, während auf deutscher Seite vor allem die Frage der Revision des Versailler Vertrags und, damit zusammenhängend, die der Kontinuität deut- 30 Siehe Punkte IV und XIV der Vierzehn Punkte, in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399a. 31 Zusammenfassend hierzu: Jörg MEYER, Theorien zum Frieden im neuen Europa. Ein Beitrag zur Debatte um eine europäische Friedensordnung, Berlin 2000 (Berliner EuropaStudien, 8), S. 94-110 (Kritik am Konzept von Frieden durch Demokratie), S. 152-164 (Kritik am Institutionalismus-Modell, das dem Völkerbund zugrunde liegt), S. 211-224 (Kritik am Frieden durch Freihandel-Modell). 32 Es lassen sich, zurückgreifend auf die Definition Fetschers, mindestens drei Grundmodelle der Friedenssicherung im wilsonschen Konzept ausmachen: das des Weltstaats, das des Friedens durch Freihandel und das des Friedens durch Demokratie. Zu den verschiedenen Modellen vgl. Iring FETSCHER, Modelle der Friedenssicherung, München 2 1973, S. 13-24 (Weltstaat), S. 38-43 (Frieden durch Freihandel) und S. 53-58 (Frieden durch Demokratie). 33 Otto KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, München u.a. 3 1987, S. 84. 34 So z.B. Clemens A. WURM, Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924-1926, Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1979 (Europäische Hochschulschriften ReiheutsrponlihfedcaSRPONJHFEA ΙΠ, 115), S. 16; Stanislas JEANNESSON, Poincarf, la France et la Ruhr (1922-1924). Histoire d'une occupation, Straßburg 1998, S. 27. 18 1. Einleitung scher Außen- und Großmachtpolitik im Mittelpunkt des Interesses standen35. Stellt man jedoch den deutschen Revisionsanspruch und das französische Sicherheitsverlangen einander gegenüber, so wird schnell deutlich, daß diese beiden Konzepte sich gegenseitig ausschlossen36: Frankreichs Sicherheit lag vor allem in der Verhinderung deutscher Revisionsansprüche begründet. Besonders die Entwicklung der Jahre 1924 bis 1929 zeigte aber, daß ein Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich in begrenztem Rahmen möglich war, trotz Revisions- und Sicherheitsstreben. Neben diesen beiden unzweifelhaft vorhandenen und wesentlichen Triebfedern der gegenseitigen Beziehungen muß es also noch ein »Mehr« gegeben haben, das diesen Ausgleich ermöglichte. Dieses »Mehr«, das wird in der Arbeit zu zeigen sein, lag darin begründet, daß sowohl Deutschland als auch Frankreich bereit waren, sich auf die Modernisierung ihrer Beziehungen einzulassen. Allerdings wurde diese Bereitschaft durch verschiedene Faktoren begrenzt, und Revisions- bzw. Sicherheitsforderungen waren hierfür sicherlich entscheidend. Durch die Erweiterung um den Begriff der Modernisierung soll außerdem zweitens erreicht werden, die Geschichte der internationalen Beziehungen der 1920er Jahre nicht ausschließlich unter den bislang vorherrschenden Gesichtspunkten der Vorgeschichte zum Zweiten Weltkrieg und der Kontinuität deutschen Machtstrebens zu sehen37. Der betrachtete Zeitraum war eben einerseits nicht nur von denjenigen deutschen Ambitionen geprägt, die im Angriffskrieg gegen Polen und bald darauf gegen fast den Rest der Welt gipfelten. Andererseits setzte in Frankreich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs eine Phase des kontinuierlichen Verfalls, dernedca decadence38, ein, die viele Historiker für die bittere Niederlage von 1940 verantwortlich machen39. Es gilt desSo z.B. Marshall M. LEE, WolfganglYWUTSRONMLKIHEDCBA MlCHALKA, German Foreign Policy 1917-1933. Continuity or Break?, Leamington Spa, Hamburg, New York 1987; zusammenfassend NlEDHART, Außenpolitik, S. 50f. Die Arbeit Krügers, die die neuen Ansätze der deutschen Außenpolitik hervorhebt, stellt letztlich nur die Antithese bzw. Erweiterung des Revisionsansatzes dar, vgl. KRÜGER, Außenpolitik, insbesondere S. 13-16. 36 Siehe Franz KN1PPING, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locamo-Ära 1 9 2 8 1931. Studien zur internationalen Politik in der Anfangsphase der Weltwirtschaftskrise, München 1987, S. 1. 37 Siehe NIBDHART, Außenpolitik, S. 4 1 ; MOORE, Peace, S. 6 . Boyce stellt hierzu fest: »More fundamentally, the unceasing search for the origins of the Second World War and its consequences has probably had the unintended effect of >flattening out< the inter-war period by highlighting the longevity of certain political and ideological tendencies or sources of instability and aggression. Thus the continuities are stressed far more than the discontinuities«, Robert BOYCE, The Collapse of Globalisation in the Inter-War Period. Some Implications for Twentieth-Century History, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift Peter Krüger), Stuttgart 2 0 0 1 , S. 1 2 1 - 1 3 2 , hier S. 121. 38 So der Titel der Studie Duroselles: Jean-Baptiste DUROSELLE, La Decadence, Paris 1 9 7 9 . 39 So z.B. Anthony ADAMTHWAITE, Grandeur and Misery. France's Bid for Power in Europe, 1 9 1 4 - 1 9 4 0 , London, New York 1995, S. 15. Eine ähnliche Tendenz findet sich in 35 Die Modernisierung der Außenpolitik 19 halb, den eigenständigen Charakter der Periode herauszuarbeiten, ohne aus dem Blick zu verlieren, daß die 1920er Jahre natürlich auch Vorgeschichte der 1930er Jahre und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs waren. Es wäre unhistorisch, dies zu leugnen. Allerdings sind die 1920er Jahre ebenso Vorgeschichte zu heute, wo das Konzept des liberalen Modells der Friedenssicherung - besonders nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks - im Rahmen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur eine Renaissance feiert40. Ebenso unhistorisch ist es deshalb, einen Determinismus zu konstruieren, der zwangsläufig vom Friedensschluß des Jahres 1919 in die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 mündet. Darum ist es notwendig, die Ambiguitäten und Interdependenzen der Entwicklung herauszuarbeiten und die Freiheit der Entscheidung der Akteure zu akzeptieren. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß diese wiederum durch viele Faktoren - wie beispielsweise ihre Weltanschauung oder ihre Verfügungsgewalt über materielle Mittel - begrenzt (aber eben nicht determiniert!) werden. Der Begriff der Modernisierung erlaubt es darüber hinaus drittens, Aspekte in die Untersuchung der internationalen wie bilateralen Beziehungen aufzunehmen, die bisher vernachlässigt wurden oder das Thema separater Untersuchungen waren, wie beispielsweise Wirtschaftsfragen41. Dabei beruht die Vernachlässigung ökonomischer Aspekte nicht so sehr darauf, daß diese nicht für einzelne Akteure herausgearbeitet worden wären: Die Literatur über Stresemann beispielsweise gibt beredt Auskunft darüber, welche wichtige Rolle wirtschaftliche Überlegungen in seinem politischen Denken einnahmen, die in einer »ökonomischen Variante deutscher Machtpolitik«42 gipfelten. Die Vernachlässigung ist vielmehr darin zu sehen, daß die politischen Konzepte und Ambitionen zu wenig mit den realwirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten verglichen wurden43. Gerade aber in den komplexen Wechselwirdem Sammelband von Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918— 1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, dessen einleitendes Kapitel vom Herausgeber mit »1940 as end and beginning in French inter-war history and historiography«, überschrieben ist. Zur Gegenposition siehe Clemens A. WURM, Frankreich und die Rolle Deutschlands in Europa während der Ära Briand-Stresemann, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 150-170, hier S. 157f.; Robert FRANK, La hantise du d6clin. Le rang de la France en Europe, 1920-1960. Finances, difense, identit6 nationale, Paris 1994, S. 159,283. 40 Siehe MEYER, Theorien zum Frieden, S. 7-9. 41 Die Untersuchung Pohls ist in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, weil sie den Einfluß von Wirtschaftsinteressen auf die Außenpolitik der Weimarer Republik überbewertet, siehe Karl-Heinrich POHL, Weimars Wirtschaft und die Außenpolitik der Republik 1924-1926. Vom Dawes-Plan zum internationalen Eisenpakt, Düsseldorf 1979. 42 NIEDHART, Außenpolitik, S. 46. 43 Wichtige Ausnahmen sind die Arbeiten Wurms zur Umorientierung der französischen Sicherheitspolitik und Soutous zur französischen Politik in Osteuropa: WURM, Sicherheitspolitik und Georges-Henri SOUTOU, L'imp6rialisme du pauvre: la politique iconomique du 20 1. Einleitung kungen zwischen politischer und ökonomischer Sphäre liegen wichtige Ursachen für die Modernisierung der Außenpolitik wie auch für ihr Scheitern begründet44. Aus dem hier vorgestellten Modell der Modernisierung - als Prozeß der Beeinflussung der Außenpolitik durch das liberale Konzept der Friedenssicherung als wesentlicher Innovation - ergeben sich die zwei zentralen Fragestellungen dieser Arbeit: Erstens, inwieweit hat in den Jahren 1923 bis 1929 eine Modernisierung der deutsch-französischen Beziehungen stattgefunden, d.h. inwieweit haben die deutsche und die französische Diplomatie moderne Elemente in ihre Außenpolitik inkorporiert, und zweitens, wo lagen die Defizite im Modernisierungsprozeß und was waren die Ursachen hierfür? Lagen sie darin begründet, daß moderne Elemente nur unzureichend einbezogen wurden, oder war das liberale Modell etwa in sich selbst unschlüssig? Inwiefern waren diese Defizite ursächlich fur das Scheitern der Modernisierung der Außenpolitik am Ende der 1920er Jahre? Aus diesen beiden Hauptfragen leiten sich weitere Untersuchungsthemen ab: Wer waren die Akteure der Modernisierung der Außenpolitik, wer ihre Gegner? Was waren deren Motive? Wie haben gesellschaftliche, wirtschaftliche und außenpolitische Rahmenbedingungen als hemmende oder fördernde Faktoren die Modernisierung der Außenpolitik beeinflußt? Aus der Fragestellung ergibt sich der Untersuchungszeitraum der Arbeit: Bis zum Ruhrkampf waren die deutsch-französischen Beziehungen geprägt durch die bereits erwähnte »guerre firoide«, in deren Klima das unzweifelhaft vorhandene Innovationspotential nicht genutzt werden konnte45. Deshalb stellt der Ruhrkampf, der die Wende hin zur Modernisierung einleitete, den Ausgangspunkt der Untersuchung dar, wobei eine genaue Datierung dieser Wende aufgrund der prozessualen Entwicklung nicht möglich und auch wenig sinnvoll ist. Wie in Kapitel 3 dargestellt wird, fand der Umschwung zwischen September 1923 (Abbruch des Ruhrkampfs) und August 1924 (Londoner Konferenz) statt. Ein Ende für den Betrachtungszeitraum zu finden, ist schwieriger. Die Untersuchung wird zeigen, daß die Modernisierung von Anfang an von Widersprüchlichkeiten geprägt war, die ihren Abbruch Anfang der 1930er Jahre begünstigten. Was letztlich auslösendes Moment für den Politikwechsel Ende der 1920er Jahre war und wann genau er einsetzte, ist weitgehend umstritten: Während Krüger den Tod Stresemanns (3. Oktober 1929), den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise (»Schwarzer Donnerstag« am 24. Oktober 1929, gefolgt gouvernement franyais en Europe centrale et Orientale de 1918 a 1929. Essai d'interpretation, in: Relations internationales 7 (1976), S. 219-239. 44 Siehe Philipp HEYDE, Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frankreich und der Young-Plan 1929-1932, Paderborn u.a. 1998, S. 24f. 45 Siehe Kap. 2.3. Die Modernisierung der Außenpolitik 21 vom »Schwarzen Dienstag« am 29. Oktober 1929), das Scheitern der Regirung Müller und den Übergang zum Präsidialregime Brünings (30. März 1930) als Anfang vom Ende der »republikanischen Außenpolitik« sieht46, stellen beispielsweise Niedhart und Knipping die Erosion der 1923/24 etablierten Ordnung bereits in den Jahren 1927 bzw. 1928 fest47. Da in unserem Modell der Modernisierung personale und strukturelle Aspekte eine Rolle spielen, kommt aber auch dem Wechsel des politischen Personals 1929, der übrigens auch in Frankreich stattfand48, eine wichtige Rolle zu. Auch wenn der Tod Stresemanns, der Rücktritt Poincares, die Weltwirtschaftskrise oder der Rücktritt Müllers allein nicht ursächlich das Ende der Modernisierung bewirkt haben und zurecht auf die Krisenerscheinungen ab 1927 hingewiesen worden ist, so ist doch meines Erachtens erst mit den Ereignissen Ende 1929/Anfang 1930 das vorläufige Ende einer Entwicklung erreicht. Diese sollen deshalb als Endpunkt der Arbeit dienen. Die Gliederung dieser Untersuchung ergibt sich aus der Fragestellung einerseits und der Periodisierung andererseits. Nach den einleitenden Überlegungen dieses Abschnittes werden im zweiten Kapitel strukturelle Aspekte der Modernisierung der Außenpolitik erläutert. Im Mittelpunkt stehen dabei der Versailler Vertrag und die administrativen Reformen im Quai d'Orsay und im Auswärtigen Amt (AA), mit denen auf die neuen Anforderungen an die Außenpolitik reagiert wurde. Dort wird ebenfalls kurz die Entwicklung der Jahre 1919 bis 1922 dargestellt und untersucht, weshalb der Modernisierungsprozeß trotz verschiedener innovativer Ansätze bis 1922/23 weitgehend blockiert blieb. Im Anschluß daran werden der Ruhrkampf und der Dawes-Plan als auslösende Momente des Modernisierungsprozesses betrachtet. Das vierte Kapitel bildet den Schwerpunkt der Untersuchung und befaßt sich mit dem Prozeß der Modernisierung in den Jahren 1924-1929. Da das Ziel des liberalen Modells der Friedenssicherung, die dauerhafte Sicherung eines gerechten Friedens, vor allem durch den Auf- und Ausbau tragfähiger kollektiver Sicherheitsstrukturen und der Etablierung eines liberalen internationalen Handelssystems erreicht werden sollte, wird sich die Gliederung dieses Teils an diesen beiden Hauptlinien des Konzeptes orientieren. Im sicherheitspolitischen Teil werden unter 46 47 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 161. Siehe Gottfried NIEDHART, Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn u.a. 1989, S. 80-82; KNIPPING, Locamo-Ära, S. 4. 48 Poincard mußte aufgrund eines Prostataleidens im Sommer 1929 zurücktreten (siehe Aufzeichnung Köpke (28.7.1929), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), R 7050). Im gleichen Jahr verstarben Marschall Foch und Clemenceau, siehe Ren6 REMOND, Frankreich im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994 (Geschichte Frankreichs, 6), S. 152f. Briands Rücktritt erfolgte zwar erst Anfang 1932, doch sank sein Einfluß innerhalb der Regierung Tardieus ab 1930 zunehmend, siehe Christian DELPORTE, LayurqponmliedcbaRPDB ΠΓ R6publique, Bd. 3: 1919-1940: De Raymond Poincari ä Paul Raynaud, Paris 1998 (Histoire politique de la France, 3), S. 204. 22 1. Einleitung anderem Locarno, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund, die internationalen Abrüstungsbemühungen und der Kellogg-Briand-Pakt sowie deren Bedeutung für den Modernisierungsprozeß untersucht. Anschließend wird dargestellt, wie die deutsch-französischen Beziehungen durch die zweite Säule des liberalen Friedensmodells - die Liberalisierung des Außenhandels - beeinflußt wurden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Verhandlungen zum deutschfranzösischen Handelsvertrag und die Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und ihre Folgen. Weil die Reparationen bedeutenden Einfluß auf die Gestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen hatten, wird dieser Teil mit einer etwas genaueren Betrachtung dieses Problembereichs eingeleitet. Der Aufbau demokratischer Strukturen im Innern der Staaten, der dritte Hauptaspekt des liberalen Konzepts, wird dagegen nur am Rande thematisiert. Dies geschieht vor allem deshalb, weil der Einfluß des Auslandes auf die demokratische Entwicklung eines Staates - außer im Falle eines von außen erzwungenen Regimewechsels49 - nur sehr mittelbar ist und diese sehr viel stärker von innenpolitischen Einflüssen geprägt ist. Eine Untersuchung dieser Frage würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefaßt und die Frage untersucht, warum die Modernisierung der deutsch-französischen Beziehungen 1929/1930 zum Abbruch kam. Der Europa-Plan Briands wird einen Schwerpunkt dieser Überlegungen bilden. Anspruch dieser Studie ist es, die deutsche und die französische Seite möglichst gleichberechtigt zu betrachten. Dieser Anspruch muß sich natürlich in der Quellenauswahl widerspiegeln, was allerdings einige Schwierigkeiten bereitete: Während im Falle Deutschlands in wesentlich größerem Umfang auf veröffentlichtes Material, z.B. aus den »Akten zur deutschen Auswärtigen Politik« oder den »Akten der Reichskanzlei«, zurückgegriffen werden konnte, fehlen solche Publikationen für die französische Seite fast völlig50. Durch entsprechend umfangreichere Recherchen in französischen Archiven habe ich versucht, diese Schieflage etwas abzugleichen. Ein ungleich größeres Problem ergibt sich jedoch daraus, daß viele Quellen in Frankreich schwieriger einzusehen oder gar nicht vorhanden sind51. Beispielsweise gibt es keine offi49 Dabei sollte nicht vergessen werden, daß die USA auch für einen Regimewechsel in Deutschland in den Krieg gezogen sind, siehe Rede Wilsons vor dem Kongreß (2.4.1917), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 1, Nr. 102. 50 serie 1920-1932 liegen erst für den Zeitraum Die »Documents diplomatiques franfais« dersrie 1920-1921 vor. 51 Zur Quellenproblematik siehe HEYDE, Reparationen, S. 32f.; Hagspiel weist darauf hin, daß infolge des Zweiten Weltkrieges und der Verlagerung der Archivbestände des Quai d'Orsay nach Berlin viele Unterlagen verloren gegangen sind, siehe Hermann HAGSPIEL, Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich? Die deutsch-französische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder, Bonn 1987 (Pariser Historische Studien, 24), S. 17. Die Modernisierung der Außenpolitik 23 ziellen Aufzeichnungen über die Sitzungen des Ministerrats, also dessen, was den deutschen Kabinettsprotokollen entspricht52. Auch wichtige persönliche Zeugnisse und Aufzeichnungen fehlen: Briand galt als ausgesprochen schreibfaul53, Philippe Berthelot, über lange Jahretsrnligedca secretaire gendral des französischen Außenministeriums (eine Position, die der des Staatssekretärs in einem deutschen Ministerium ähnlich war), verbrannte nach seinem Ausscheiden aus dem Quai d'Orsay seine Papiere, wodurch ein wichtiger Quellenbestand verloren gegangen ist54. Über viele Vorgänge scheinen gar keine Aufzeichnungen zu bestehen55. Trotz aller Bemühungen, einen Ausgleich zu schaffen, besteht also eine gewisse, zum Teil unvermeidbare Asymmetrie der Quellenlage. Die Fragestellung, die der Auswertung der Quellen zugrunde liegt, ist, wie die jeweiligen Außenministerien in der Konzeption und Durchführung ihrer Politik durch verschiedene modernisierungsfördernde und -hemmende Faktoren beeinflußt worden sind und wie sie selbst die Modernisierung vorangetrieben haben. Um ein vollständigeres Bild dieser Faktoren, besonders der wirtschaftlichen, zu gewinnen, wurden auch andere Quellenbestände einbezogen, so vor allem aus dem Reichswirtschaftsministerium (RWiM) und dem Ministere du commerce, die bei Handelsvertragsverhandlungen und Reparationsfragen Einfluß auf außenpolitische Themen nahmen. Im Falle Frankreichs wurde auch das Finanzministerium berücksichtigt, da die Bestände des Handelsministeriums sich als wenig aufschlußreich für das Thema erwiesen haben. Ergänzenden Charakter haben die herangezogenen Quellenbestände der beiden Zentralbanken, der Reichsbank und der Banque de France, und verschiedene andere Quellenbestände, die vor allem Privatbanken umfassen, welche sich aber insgesamt für die Fragestellung als recht dürftig erwiesen haben56. Bisher gibt es keine umfassende Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen für den Untersuchungszeitraum57. Einige Untersuchungen, wie die 52 Siehe ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 11; Jacques BARIETY, Les relations franco-allemandes apres la premifere guerre mondiale 10 novembre 1918-10 janvier 1925. De l'ex6cutionvutsronmlihgfe έ la nigociation, Paris 1977, S. 635. 53 Siehe Emmanuel PEREm DELLA ROCCA, Briand et Poincare (souvenirs), in: Revue de Paris Nr. 43/24 (1936), S. 767-788, hier S. 767f. 54 Siehe ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 114. 55 Z.B. über die Motivation Poincares zur Unterstützung der Putschisten im Rheinland und die Zustimmung zur Einsetzung der späteren Dawes-Kommission (siehe BARLFETY, Relations franco-allemandes, S. 249) oder die französischen Vorbereitungen zu den Gesprächen in Chequers, wo Herriot und MacDonald die Umsetzung des Dawes-Plans besprachen (siehe ibid. S. 392). 56 Zu Einzelheiten vgl. Quellenverzeichnis. 57 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 3. Die Arbeit Maxeions (Michael-OlafutsronmlkihedcaXWSPONL ΜAXELON, Stresemann und Frankreich 1924-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972) ist insofern wenig hilfreich, weil die französische Seite unzureichend berücksichtigt wird und seine Auffassung von der Ost-West-Balance inzwischen als überholt gelten kann, siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 90f. 24 1. Einleitung Barietys58, enden früher, andere, so z.B. die von Knipping59, beginnen später. Dies ist insofern verwunderlich, als die deutsch-französischen Beziehungen eine zentrale Rolle in den internationalen bzw. europäischen Beziehungen einnahmen60, und der Zeitraum, vor allem wegen der Entspannung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern, von besonderem Interesse ist. Die Studie Hagspiels bleibt - was sicherlich eine Ursache darin hat, daß seine Fragestellung eine andere ist - unbefriedigend, weil einige wichtige Ereignisse, wie z.B. der deutsch-französische Handelsvertrag von 1927, weitgehend ausgeklammert bleiben61. Insgesamt, und dies trifft besonders für Frankreich zu, gibt es ein doppeltes Ungleichgewicht in der Forschungslage, und zwar dergestalt, daß die 1920er Jahre generell weniger untersucht sind als die 1930er Jahre und die zweite Hälfte der 1920er Jahre wiederum weniger gut erforscht ist als die erste62. Über Einzelaspekte, die die Außenpolitik Deutschlands und Frankreichs in dieser Zeit betreffen, gibt es zahlreiche neuere Untersuchungen, so z.B. zum Ruhrkampf63, zum Kellogg-Briand-Pakt64, zum Young-Plan65 oder zur Weltwirtschaftskonferenz66. Das gesellschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche Umfeld ist, zumindest in seinen groben Zügen, erforscht67. Über viele der Akteure, die eine Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen spielten, gibt es Biographien68. Vor allem zu Stresemann gab es in den letzten Jahren einige neue Studien69. Dieses wiedererwachte Interesse an »Weimars größtem 58 BARLFITY, Relations franco-allemandes. 59 KNIPPING, Locamo-Ära. 00 Siehe ibid. S. 5. Hagspiel erwähnt den deutsch-französischen Handelsvertrag lediglich vier Mal (HAGSPIEL, Verständigung, S. 236, 334, 339f., 360), ohne jedoch dessen Ergebnisse kritisch zu bewerten. 42 Siehe R£MOND, Frankreich, S. 19; WURM, Rolle Deutschlands, S. 151. 63 JEANNESSON, Poincard; Conan FISCHER, The Ruhr Crisis, 1923-1924, Oxford, New York 2003. 64 Eva BUCHHEIT, Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Machtpolitik oder Friedensstreben?, Münster 1998. 65 HEYDE, Reparationen. 66 Matthias SCHULZ, Deutschland der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung, 1925-1933, Hamburg 1997 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, 19). 67 Vgl. die bibliographischen Angaben in Kap. 2. 68 Vgl. Literaturverzeichnis. 69 Zusammenfassend hierzu: Karl Heinrich POHL, Gustav Stresemann. Überlegungen zu einer neuen Biographie, in: DERS. (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002, S. 13-40. Im einzelnen ist hinzuweisen auf: Christian BAECHLER, Gustave Stresemann (1878-1929). De l'impdrialismelaέ la s6curitä collective, Straßburg 1996; Jonathan WRIGHT, Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman, Oxford u.a. 2002; Eberhard KOLB, Gustav Stresemann, München 2003; John P. BLRKELUND, Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biographie, Hamburg 2003. 61 Die Modernisierung der Außenpolitik 25 Staatsmann«70 findet jedoch keine Entsprechung bei anderen beteiligten Personen71, vor allem nicht bei den hohen Beamten72. Allerdings gibt es auch einige Bereiche, die nicht oder nur kaum erforscht sind. Dies gilt z.B. für den deutsch-französischen Handelsvertrag. Insgesamt läßt sich feststellen, daß die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in ihrem gesamten Umfang noch nicht umfassend dargestellt wurden. Nach diesen einleitenden Überlegungen soll nun die Modernisierung der Außenpolitik und ihr Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen 1923 bis 1929 untersucht werden. Den Anfang werden dabei die Rahmenbedingungen der Modernisierung, vor allem der Versailler Vertrag und die administrativen Reformen im AA und dem Quai d'Orsay machen. 70 So der Untertitel von WRIGHT, Stresemann. Eine Ausnahme bildet Poincarö, vgl. hierzu: John F. V. KEIGER, Raymond Poincarö, Cambridge u.a. 1997; Francois ROTH, Raymond Poincarö. Un homme d'fetat röpublicain, Paris 2000. 72 Über Berthelot und den französischen Botschafter in Berlin, de Margerie, gibt es Biographien: Jean-Luc BARR£, Philippe Berthelot. L'6minence grise, 1866-1934, Paris 21998; Bernard AUFFRAY, Pierre de Margerie (1861-1942) et la vie diplomatique de son temps, Paris 1976. Über Jacques Seydoux gibt es einen Aufsatz von Nicole JORDAN, The Reorientation of French Diplomacy in the mid-1920s: the Role of Jacques Seydoux, in: English Historical Review, Bd. 117, Heft 473 (2002), S. 867-888. Über die wichtigen deutschen Spitzenbeamten existieren hingegen nur wenige Studien, vgl. Peter KRÜGER, Carl von Schubert und die deutsch-französischen Beziehungen, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit 1914-1963, München 2000 (Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien, 46), S. 73-96. 71 2. RAHMENBEDINGUNGEN UND VORGESCHICHTE DER MODERNISIERUNG DER AUSSENPOLITIK Wie jede historische Entwicklung war die Modernisierung der Außenpolitik Teil einer komplexen historischen Wirklichkeit. Politische, wirtschaftliche und kulturelle Einflüsse erzeugten Handlungsspielräume und -begrenzungen für die außenpolitischen Akteure, die diesen verschiedene Optionen ermöglichten oder verschlossen1. Man kann deshalb »Geschichte nicht mehr als einen geradlinig verlaufendem und >totalisierenden< Prozeß einer dynamisch fortschreitenden Entwicklung auffassen«2. Dennoch wird sie bestimmt durch das, »what occurred (or might occur) in the context of what could have happened (or could happen), and in the demarcation of this from what could not«3. Der Historiker befindet sich bei der Beleuchtung dieser Handlungsspielräume in einem Dilemma. Während nämlich die geschriebene Geschichte nach Linearitäten, Kausalitäten und Kontinuitäten sucht4, verläuft der eigentliche historische Prozeß doch ganz anders: Es werden, beschränkt auf die Dauer des winzigen Augenblicks, den man die Gegenwart nennt, parallel Entscheidungen getroffen, aus denen sich Linearitäten oder Kontinuitäten erst in der Rückschau als Konstrukt ergeben5. Dies hat natürlich auch Einfluß darauf, welche Informationen dem Handelnden und dem Historiker zur Verfügung stehen. Der Geschichtsschreiber hat den Vorteil, daß er die Ergebnisse einer Entscheidung oder einer Entwicklung kennt - was ihn jedoch leicht zu jenem »creeping determinism«6 verleitet, der ihn in der Nachschau scheinbar zwangsläufige Handlungsverläufe zeichnen läßt, die in der Realität nie bestanden haben. Das historische Subjekt dagegen verfugt über das, was an dieser Stelle als Gegenwartswissen bezeichnet werden soll. Zwar weiß es nicht unbedingt, welches Ergebnis seine Entscheidung haben wird, doch verfügt es über das Bewußtsein der momentanen Lage, kennt Freund und Feind (und die Abstufungen dazwischen), weiß über all die 1 Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 5. Hans Ulrich GUMBRECHT, 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 10. 3 Isaiah Berlin, zitiert nach: Niall FERGUSON, Virtual History. Towards a >chaotic< theory of the past, in: DERS. (Hg.), Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London, Basingstoke, Oxford 1998 [Taschenbuchausgabe der Erstauflage von 1997], S. 1-90, hier S. 83f. 4 Siehe Ferdinand SEIBT, Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition des historischen Sinns, in: Heinz GUMIN, Heinrich MEIER (Hg.), Die Zeit. Dauer und Augenblick, München, Zürich 21990 (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2), S. 149. 5 Siehe ibid. S. 149f. 6 Zum Problem des creeping determinism vgl. Malcolm GLADWELL, A Critic at Large. The Problem with Intelligence Reform, in: The New Yorker (10.3.2003), S. 83-88. 2 28 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte »weichen« Faktoren Bescheid, die aus Quellen nur sehr schwierig oder gar nicht zu erschließen - und zu verstehen - sind. Die Rekonstruktion dieses Gegenwartswissens 7 würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb an dieser Stelle der Hinweis auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur genügen muß: In Deutschland wie in Frankreich wurde die Außenpolitik durch die Instabilität des politischen Systems beeinflußt 8 , wobei die Situation in Deutschland insofern eine schwierigere war, weil von weiten Teilen der Bevölkerung die neue republikanische Staatsform in Frage gestellt wurde 9 , während dies in Frankreich kaum der Fall war 10 . Pazifisten einerseits und Nationalisten andererseits stellten konträre außenpolitische Forderungen an die Außenpolitik ihrer Regierungen 11 . 7 Zu diesem Gegenwartswissen und der nur bedingten Rekonstruierbarkeit eben dieses Wissens vgl. GUMBRECHT, 1926, S. 460-465. 8 Zur politischen Entwicklung Europas in der Zwischenkriegszeit vgl. Volker BERGHAHN, Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt a. M. 2002; Walther L. BERNECKER, Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945, Stuttgart 2002 (Handbuch der Geschichte Europas, 9); Gunther MAI, Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Horst MÖLLER, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998 (OGG, 21). Zu Deutschland in der Zwischenkriegszeit vgl. Karl Dietrich BRACHER, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 'i960 (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft der FU Berlin, 4); DERS., Manfred FUNKE, HansAdolf JACOBSEN (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1988 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, 251); Eberhard KOLB, Die Weimarer Republik, München 31993 (OGG, 16); Horst MÖLLER, Weimar. Die unvollendete Demokratie, München 51994 (dtv Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, ohne Bandzählung); Hans MOMMSEN, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918— 1933, Überarb. u. aktual. Aufl., Berlin 1998; Detlev J. K. PEUKERT, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Moderne, Frankfurt a. M. 1987; Hagen SCHULZE, Weimar. Deutschland 1918-1933, durchges. Aufl. [ohne Zählung], Berlin 1994, Heinrich August WINKLER, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, durchges. Aufl. [ohne Zählung], München 1998. Zu Frankreich: Philippe BERNARD, Pierre DUBIEF, The Decline of the Third Republic 1914-1938, [Nachdruck der ersten Taschenbuchaufl. 1988], Cambridge 1993 (The Cambridge History of Modern France, 5); GisÄUe und Serge BERSTEIN, La Troisi£me R6publique. Les noms, les thfemes, les lieux, Paris 1987 (Les grandes encyclop6dies du monde de..., hg. v. Xavier BROWAEYS); Serge BERSTEIN, Pierre MILZA, Histoire de la France au XX* siicle, Bd. 1: 1900-1930, Brüssel 21999; Charles BLOCH, Die Dritte französische Republik. Entwicklung und Kampf einer parlamentarischen Demokratie (1870-1940), Stuttgart 1972; DELPORTE,yvutsrqponligedcbaYURPONMLJIGFEA ΠΓ R£publique; Jean Marie MAYEUR, La vie politique sous la ΠΓ R6publique 1870-1940, Paris 1984; Jean-Yves MOLLIER, Jocelyne GEORGE, La plus longue des republiques 1870-1940, Paris 1994; Fridiric MONIER, Les annöes 20 (19191930), Paris 1999 (La France contemporaine, ohne Bandzählung); Ren6 REMOND, La ^publique souveraine. La vie politique en France 1879-1939, Paris 2002; DERS., Frankreich. 9 Siehe MÖLLER, Weimar, S. 214. Siehe MAYEUR, Vie politique, S. 256. " Jacques BARLFITY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987; Robert H. FERRELL, Peace in Their Time. The Origins of the Kellogg-Briand-Pact, 10 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte 29 Natürlich belastete auch die vor allem in Deutschland schleppende wirtschaftliche Entwicklung12 die Außenpolitik - einmal ganz direkt die Außenwirtschaftspolitik, aber, durch die Verschärfung der sozialen und politischen Gegensätze, die politische Entwicklung insgesamt. New Haven, London 1952, insbes. S. 16-20; Ilde GORGUET, Les mouvements pacifistes et la röconciliation franco-allemande dans les annöes vingt (1919-1931), Bern u.a. 1999; Karl HOLL, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Keith ROBBINS, European Peace Movements and Their Influence on Policy after the First World War, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 73-86. 12 Zur Entwicklung der europäischen bzw. Weltwirtschaft: Gerald AMBROSIUS, W. H. HUBBARD, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, München 1986; Youssef CASSIS (Hg.), Finance and Financiers in European History, 1880-1960, Cambridge u.a. 1992; Carlo M. ClPOLLA, Knut BORCHARDT (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 5: Die europäischen Volkswirtschaften im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart, New York 1980; Wolfram FISCHER u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987; Georges DUPEUX (Hg.), Guerres et crises 1914-1917, Paris 1977 (Histoire 6conomique et sociale du monde, 5); Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of Europe, 8); Barry ElCHENGREEN, Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000. Zu Deutschland: Gerald AMBROSIUS, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft, in: Michael NORTH (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2000, S. 282-350; DERS., Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001 (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, 3); Hermann AUBIN, Wolfgang ZORN (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976; Gerald D. FELDMAN, The Great disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914-1924, New York, Oxford 1997; Friedrich-Wilhelm HENNING, Das industrialisierte Deutschland 1914-1992, Paderborn u.a. "1993; Harold JAMES, The German Slump. Politics and Economics 1924-1936, Oxford 1986; Hans MOMMSEN, Dietmar PETZINA, Bernd WEISBROD (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17. Juni 1973, Düsseldorf 1974; Albrecht RlTSCHL, Deutschlands Krise und Konjunktur. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. Zu Frankreich: Fernand BRAUDEL, Ernest LABROUSSE (Hg.), Histoire dconomique de la France, Bd. 4: L'ere industrielle et la societe d'aujourd'hui (siecle 1880-1980), Paris 1979; Francois CARON, Histoire economique de la France XIXe-XXe si£cle, Paris 21995; Jean-Noel JEANNENEY, L'argent cachi. Milieux d'affaires et pouvoirs politiques dans la France du XX® siÄcle, Paris 21984; DERS., Francis de Wendel en r6publique. L'argent et le pouvoir, 1914-1940, 3 Bde., Lille 1976; Richard F. KUISEL, Le capitalisme et l'Etat en France. Modernisation et dirigisme au XXe sidcle, Paris 1984; Georges LEFRANC, Les organisations patronales en France. Du passe au pr6sent, Paris 1976; Maurice LEVY-LEBOYER (Hg.), Histoire de la France industrielle, Paris 1996; Aim6e MOUTET, Les logiques de l'entreprise. La rationalisation dans l'industrie franjaise de l'entre-deux-guerres, Paris 1997 (Diss. Paris 1992, Civilisations et soci6tis, 93); Jacques NfiRli, Le probleme du mur d'argent. Les crises du franc (1924—1926), Paris 1985; Alfred SAUVY, Histoire economique de la France entre les deux guerres, 4 Bde., Paris 19651975. 30 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Wie gesagt, auf eine detaillierte Darstellung dieser Zusammenhänge muß hier verzichtet werden. Dennoch sollen zwei Aspekte, die wichtige Rahmenbedingungen für die Modernisierung der Außenpolitik und die deutschfranzösischen Beziehungen darstellten und eng mit dem eigentlichen Thema dieser Studie zusammenhängen, etwas genauer erörtert werden. Es handelt sich dabei um den Versailler Vertrag und dessen Auswirkungen auf das internationale System der 1920er Jahre und die administrativen Reformen in den auswärtigen Diensten Deutschlands und Frankreichs, die die technischen Voraussetzungen für eine moderne Außenpolitik schufen. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System Der Versailler Vertrag, »das am meisten geschmähte und am wenigsten gelesene Schriftstück der Geschichte«13, bildete eine der wesentlichen Grundlagen der internationalen Staatenordnung der Zwischenkriegszeit und hatte somit eine zentrale Bedeutung für die Modernisierung der Außenpolitik. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, daß das europäische Staatensystem nicht ausschließlich auf dem Versailler Vertrag ruhte, sondern auch auf den anderen sogenannten Vorortverträgen zwischen den Alliierten und Assoziierten und Österreich, Bulgarien, Ungarn und der Türkei14. In einem weiteren Kontext gehören auch die Beziehungen Frankreichs und Deutschlands zu Großbritannien, den USA, den neu entstandenen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas und zur Sowjetunion dazu15. London setzte nach dem Krieg seine Gleichgewichtspolitik fort, indem es sowohl eine deutsche wie auch eine französische Hegemonie - wirtschaftlich wie politisch - auf dem europäischen Kontinent zu vermeiden suchte16. Um die negativen Folgen, die der Erste Weltkrieg auf die eigene Wirtschaft und das Empire gehabt hatte, aufzuarbeiten, versuchte es, auf dem europäischen Festland Stabilität zu schaffen17. Insofern bremste es Frankreich bei seinen 13 David Lloyd George, zitiert nach: Ferdinand CZERNIN, Die Friedensstifter. Männer und Mächte um den Versailler Vertrag, Bern, München 1968, S. 7. 14 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 34. 15 Siehe MÖLLER, Europa, S. 19. 16 Siehe Stephanie SALZMANN, Großbritannien und Deutschland während der Locamo-Ära. Persönliche Sympathien im Konflikt mit nationalen Interessen, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 233-245, hier S. 235. 17 Siehe Philip TOWLE, British Security and Disarmament Policy in Europe in the 1920s, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S.127-153, hier S. 127. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 31 Versuchen, den Versailler Vertrag allzu strikt durchzusetzen, und stand den Forderungen der deutschen Außenpolitik durchaus maßvoll gegenüber, gab es doch eine Reihe von gemeinsamen Interessen mit dem ehemaligen Kriegsgegner: England war an einer raschen wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands interessiert, um dort seine Waren absetzen zu können18, und es sah Deutschland als wichtiges Bollwerk gegen die bolschewistische Gefahr19. Für Frankreich blieb Großbritannien, das sein Kriegsbündnis mit Paris nicht erneuert hatte, der wichtigste außenpolitische Bezugspunkt, doch waren die bilateralen Beziehungen durch vielerlei Probleme belastet20: London glaubte, die Ambitionen Polens, des wichtigsten Verbündeten Frankreichs im Osten, destabilisiere die Lage gerade dort, wo sie ohnehin am prekärsten in Europa sei21. In den übrigen Staaten Osteuropas kollidierten vor allem die wirtschaftlichen Interessen Londons und Paris'22. Auch in anderen Bereichen gab es zahlreiche Konflikte zwischen beiden Ländern: In der Türkeipolitik; im Nahen Osten, wo es um konkurrierende Erdölinteressen ging23; bei dem dornigen Problem der interalliierten Schulden, das ja nicht nur Frankreich und die USA betraf, sondern auch zwischen Frankreich und Großbritannien bestand24; in der Deutschland- und Reparationspolitik, in der London, wie am Beispiel des Ruhrkampfs zu sehen sein wird, andere Interessen als Paris hatte und folglich die Meinungen weit auseinandergingen25. Vergleicht man die lange Liste der Streitpunkte, die zwischen Paris und London bestanden, mit der kurzen, die Deutschland und Großbritannien betrafen, stellt sich die Frage, warum England Frankreich in seinen Beziehungen weiter die Priorität einräumte26 und sich nicht stärker gegen Paris auf die Seite 18 Siehe Constanze BAUMGART, Stresemann und England, Köln, Weimar, Wien 1996 (Diss. Köln 1995), S. 98. 19 Siehe Christoph JAHR, Britische Außenpolitik unter dem Eindruck von Versailles, in: Gerd KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14), S. 113-125, hier S. 120. 20 Zusammenfassend siehe Hans Otto SCHÖTZ, Der britisch-französische Gegensatz in der Deutschlandpolitik am Beispiel des Versuchs der Gründung einer Notenbank für die besetzten Gebiete am Jahreswechsel 1923/24. Thesen und Fragestellungen zur Problematik der Europapolitik beider Großmächte vor der deutschen Stabilisierung, in: Gerald D. FELDMAN u.a. (Hg.), Konsequenzen der Inflation, Berlin 1989 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 67), S. 125-147, hier S. 142-144. 21 Siehe Piotr S. WANDYCZ, The Twilight of French Eastern Alliances 1926-1936. FrancoCzechoslovakian-Polish relations from Locarno to the Remilitarisation of the Rhineland, Princeton 1988, S. 4. 22 Siehe Magda ADÄM, The Little Entente and Europe, 1920-1929, Budapest 1993, S. 50f. 23 έ 1945, Siehe Jean-Baptiste DUROSELLE, Histoire des relations internationales de 1919utsrqponlihedcaUTS Paris 122001, S. 27. 24 Siehe Denise ARTAUD, La question des dettes interalli6es et la reconstruction de l'Europe 1917-1929, Bd. 1, Paris 1978 (Diss. Paris 1976), S. 62. 25 Siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 16f. 26 Siehe BAUMGART, England, S. 109. 32 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Berlins stellte. Sicherlich machte die französisch-britische Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg gegen den »boche« bzw. die »huns« ein solches Revirement psychologisch nur schwer denkbar. Außerdem betrieb Großbritannien nicht erst seit 1938 eine Politik des Appeasements, und nicht nur gegenüber Deutschland27. Nach der Logik des Appeasements mußte gerade auf das Land mäßigend eingegangen werden, das am ehesten in der Lage war, britische Ansprüche in Frage zu stellen oder zu bedrohen, und das war - vor wie nach dem Ersten Weltkrieg - nun gerade nicht Deutschland, sondern Frankreich. Die Entente Cordiale vom 8. April 190428 zwischen London und Paris stand ebenso in dieser Tradition wie die britische Nachkriegspolitik nach 1918. In die Logik des Arguments paßt, daß die englische Regierung dazu neigte, die Macht Frankreichs zu überschätzen, was im Gegenzug natürlich bedeutete, daß Deutschland eher unterschätzt wurde29. Während in der Politik Großbritanniens in bezug auf Frankreich und Deutschland also durchaus Parallelen und Kontinuitäten zur Vorkriegszeit auszumachen sind, rückten die USA - vor dem Krieg eine Quantite negligeable in der Politik der europäischen Mächte - in eine wichtige, vielleicht sogar die entscheidende Position30. Dies stand in krassem Gegensatz dazu, wie die USA Europa sahen, denn »[p]our ces cousins d'outre-Atlantique [...] l'Europe demeure petite et lointaine«31. Das französisch-amerikanische Verhältnis war vor allem durch zwei Faktoren belastet: Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch den amerikanischen Kongreß beraubte Frankreich auch des damit verbundenen Beistandsabkommens und ließ Frankreichs Bedürfnis nach Sicherheit gegenüber Deutschland ungestillt32. Die Kriegsschuldenfrage vergiftete dazu das Verhältnis zwischen beiden Ländern über Jahre. Dem Beharren Washingtons auf Rückzahlung der Kriegsschulden und strikter Trennung von »politischen« Re27 Zum folgenden vgl. Niall FERGUSON, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 21999, S. 89-91. 28 Siehe Gustav ROLOFF (Hg.), Schulthess' europäischer Geschichtskalender, Neue Folge, Bd. 20 (1904), München 1905, S. 221f. 29 Siehe Stephen A. SCHUKER, The End of French Predominance in Europe. The Financial Crisis of 1924 and the Adoption of the Dawes Plan, Chapell Hill 1976, S. 384. 30 Die neueste Übersicht zur amerikanischen Außenpolitik findet sich bei Klaus SCHWABE, Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart. Eine Jahrhundertgeschichte, Paderborn 2006, insbesondere S. 43-77, 85-89. 31 Ren£ GlRAULT, Robert FRANK, Turbulente Europe et nouveaux mondes 1914-1941, Paris 1988, S. 71. Zu den Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik siehe Frank COSTIGLIOLA, Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural Relations with Europe, 1919-1933, Ithaca, London 1984, S. 56-75. 32 Zu den Hintergründen der Nichtratifikation siehe Klaus SCHWABE, Die Vereinigten Staaten und die Sicherheit Frankreichs 1918-1955, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutschfranzösischen Beziehungen, München 1996, S. 19-44, hier S. 21. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 33 parations- und »kommerziellen« Kriegsschulden stand die ebenso unnachgiebige französische Haltung gegenüber, die darin bestand, daß Amerika vor seinem Kriegseintritt gut am Krieg verdient habe, der vor allem das Blut französischer Soldaten gekostet habe, und daß deshalb ohne deutsche Reparationen die Rückzahlung der französischen Schulden undenkbar sei33. Außer in der Schuldenfrage sahen die USA jedoch kaum die Notwendigkeit, sich politisch in Europa zu engagieren, weil sie der Meinung waren, ihr wirtschaftlicher Einfluß würde ausreichen, um die eigenen - auch politischen Ziele - durchzusetzen. Außerdem wollte Washington vermeiden, in europäische Querelen hineingezogen zu werden34. Die französische Sicherheit sahen sie hingegen als weitgehend gewährleistet an, ja es galt sogar, »zu viel Sicherheit«35 für Frankreich - im Sinne einer französischen Hegemonie in Europa - zu verhindern, weshalb sie das Werben Paris' um Allianzen nicht erwiderten. Im Gegenteil, durch das Verknüpfen von Abrüstung und Schuldenfrage, getreu dem Motto »rüstet ab, damit ihr eure Schulden bezahlen könnt«, trafen die USA in Frankreich einen ganz empfindlichen Nerv36. Etwas rosiger war es dagegen um das deutsch-amerikanische Verhältnis bestellt37. Nach gewonnenem Krieg und der Beseitigung des in amerikanischen Augen undemokratischen und militaristischen kaiserlichen Regimes in Deutschland hatte man in Washington mit den neuen Machthabern in Berlin keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr. Eine »deutsche Gefahr« sah man in Washington - anders als vor allem in Paris - nicht38. Im Gegenteil: Ebenso wie Deutschland waren auch die USA an einer wirtschaftlichen Erholung interessiert, denn Deutschland war ein potentiell guter Kunde und bot ein riesiges Feld für amerikanische Investitionen. Die Deutschen wiederum sahen im finanziellen Engagement der Vereinigten Staaten eine Möglichkeit, die eigene Kapitalknappheit zu mildern und die USA an sich zu binden39. Die Reparationszahlungen und die anderen wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags sah man dabei in Berlin und Washington übereinstimmend als 33 Siehe Jean-Baptiste DUROSELLE, France and the United States. From the Beginnings to the Present, Chicago, London 1978, S. 123f. 34 Siehe Manfred BERG, Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika. Weltwirtschaftliche Verflechtung und Revisionspolitik 1907-1929, Baden-Baden 1990 (Diss. Heidelberg 1988), S. 424. 35 SCHWABE, Sicherheit, S. 19. 36 Siehe ibid. S. 23f. 37 Zusammenfassend: Klaus SCHWABE, Die USA, Deutschland und der Ausgang des Ersten Weltkrieges, in: Manfred KNAPP u.a., Die USA und Deutschland 1918-1975. Deutschamerikanische Beziehungen zwischen Rivalität und Partnerschaft, München 1978, S. 11-61, hier S. 60. 38 Siehe BERG, Vereinigte Staaten, S. 419. 39 Siehe Wemer LINK, Die Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und den USA, in: Manfred KNAPP u.a., Die USA und Deutschland 1918-1975. Deutsch-amerikanische Beziehungen zwischen Rivalität und Partnerschaft, München 1978, S. 62-106, hier S. 66. 34 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Haupthindernis für die wirtschaftliche Erholung an, und man war sich über die Abschaffung, zumindest aber die Abmilderung dieser Bestimmungen, einig40. Insofern bestand also eine zumindest teilweise Interessenparallelität zwischen Deutschland und den USA, solange Deutschland sich an die amerikanischen Spielregeln des friedlichen Wandels hielt41. Die jeweiligen bilateralen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zu den USA und Großbritannien beeinflußten aber auch das deutsch-französische Verhältnis. Insgesamt kann man davon ausgehen, daß von den angelsächsischen Mächten ein mäßigender Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen ausgeübt wurde. Die ökonomischen Interessen und der wirtschaftliche Einfluß Washingtons und Londons verhinderten einerseits, daß Frankreich einseitig gegen Deutschland seine Reparations- und Sicherheitsinteressen durchsetzte, und Deutschland wurde andererseits durch wirtschaftliche Anreize ermuntert, seine Revisionsziele nicht gewaltsam, sondern friedlich durchzusetzen. Mittel hierzu war die von Washington verfolgte Politik der »offenen Tür« 42, die nicht nur den freien Zugang zu allen (nichtamerikanischen) Märkten umfaßte, sondern auch die Befriedung der Welt auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, der Demokratie und allgemeiner Abrüstung, sowie des friedlichen Wandels43. Trotz der Ablehnung des Völkerbunds durch den Kongreß und der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags blieb die amerikanische Außenpolitik also vielen der Ziele, die Wilson proklamiert hatte, treu, auch wenn sich unter dem neuen Außenminister Charles Hughes die Methoden wandelten44. So wirkte Washington - zusammen mit London - weiter im Sinne einer Modernisierung der Außenpolitik. Allerdings bestanden zwischen Theorie und Praxis der amerikanischen Politik verschiedene Spannungsverhältnisse, Ungereimtheiten und Fiktionen. Während die USA den freien Zugang zu den internationalen Märkten forderten, schütteten sie selbst sich wirtschaftlich ab: Die »offene Tür« ließ sich nur in einer Richtung durchschreiten, wodurch viele Wirtschaftsprobleme der Zwischenkriegszeit verschärft wurden. Auch in der Reparationspolitik spielte Washington eine etwas 40 Siehe ibid. S. 65,68. Siehe ibid. S. 102. 42 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 62. 43 Die Open Door Policy im eigentlichen Sinne umfaßt lediglich die wirtschaftlichen Aspekte des gleichberechtigten, möglichst freien Zugangs zu den internationalen Märkten, vgl. Wayne ANDREWS (Hg.), Concise Dictionary of American History, New York31962, S. 667. Die anderen hier genannten Aspekte stehen aber durchaus im logischen Zusammenhang mit der Entwicklung der Open Door Policy, vgl. Akira IRIYE, The Cambridge History of American Foreign Relations, Bd. 3: The Globalizing of America, 1913-1945, Cambridge u.a. 1993, S. 46f. und zum »liberalen Modell der Friedenssicherung«, NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 13-19. 44 Vgl. hierzu Patrick O. COHRS, The First >Real< Peace Settlements after the First World War: Britain, the United States and the Accords of London and Locarno, in: Central European History 12/1 (2003), S. 1-31, hier S. 9f. 41 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 35 dubiose Rolle. Die Vereinigten Staaten waren in dieser Frage nämlich keinesfalls der »unabhängige Schiedsrichter«, zu dem sie sich gerne stilisierten, sondern waren durch das Kriegsschuldenproblem - obwohl das stets bestritten wurde - eben doch indirekt Reparationsgläubiger45. Andererseits war Deutschland durch das große finanzielle Engagement der USA seit dem Dawes-Plan keineswegs mehr unabhängig gegenüber Washington46. Durch seine entscheidende Bedeutung im Kreislauf von Auslandskrediten, Reparationen und KriegsschuldenrUckzahlungen sicherte sich Washington aber auch ein wesentliches Mitspracherecht bei den meisten politischen Fragen, die Europa betrafen. Sowohl für Deutschland als auch für Frankreich blieben die USA also ein wichtiger außenpolitischer Faktor, den es auch in das gegenseitige Verhältnis einzubeziehen galt. Gleichzeitig machte die Asymmetrie der Kräfteverhältnisse zugunsten der Vereinigten Staaten die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich schwieriger, wenn nicht unmöglich. Denn es war ja gerade das divide et impera in der Kriegsschulden- und Reparationsfrage, das den amerikanischen Einfluß in Europa sicherte. Letztlich erfolgte die Einflußnahme Washingtons nur in zweiter Linie, um die wirtschaftliche und politische Lage in Europa - und speziell zwischen Deutschland und Frankreich - zu stabilisieren, sondern blieb den eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen untergeordnet: Die Politik der USA war deswegen modernisierungsfördernd und -hemmend in einem, weil die Friedenssicherung der Wahrung der eigenen Interessen in vielen Bereichen untergeordnet wurde. Die nach dem Krieg entstandenen osteuropäischen Staaten von Polen bis Rumänien waren sowohl für Frankreich als auch für Deutschland ein wichtiges Betätigungsfeld ihrer Diplomatie. Für Frankreich sollte Osteuropa strategisch das werden, was Rußland vor dem Ersten Weltkrieg in der französischen Außenpolitik war: Ein starkes Gegengewicht zu Deutschland47. Die französische Strategie beruhte dabei auf zwei Faktoren: Polen sollte als ein »mächtiges Bollwerk«48 ausgebaut werden, und Paris versuchte, die sogenannte Kleine Entente - bestehend aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien als weiteren Pfeiler des französischen Sicherheitssystems in Europa auszubilden49. Dabei richtete sich diesertsroniedca cordon sanitaire nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen die bolschewistische Gefahr aus der Sowjetunion50 und nicht zuletzt gegen die wirtschaftlichen Ambitionen Großbritanniens und Itali45 Siehe LINK, USA, S. 69. Siehe ibid. S. 97. 47 Siehe BERNARD, Decline, S. 105. 48 KOLB, Weimarer Republik, S. 27. 49 Siehe Kalerovo Hovi, Security before Disarmament, or Hegemony? The French Alliance Policy, 1917-1927, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 115126, hier S. 118f. 50 Siehe RjfeMOND, Frankreich, S. 55. 46 36 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte ens im Donauraum51. Die Kleine Entente war jedoch, wenn schon keine Totgeburt, so doch von Anfang an eine schwächliche Kreatur52: Der Kitt, der sie zusammenhielt, war in erster Linie die Angst der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawiens vor der »ungarischen Gefahr«53. Dieser Zusammenhalt aber war prekär. Minderheitenprobleme und Grenzstreitigkeiten belasteten das Verhältnis der Staaten untereinander54. Diese latenten Konflikte mußten natürlich auch die Stabilität der Kleinen Entente untergraben. Ost- und Südosteuropa war die »Krisenzone Nummer eins im Europa der Zwischenkriegszeit«55, was den Wert dieser Staaten als Bündnispartner für Frankreich selbstverständlich schmälerte. Neben diesen internen Querelen und Zwistigkeiten wurde die französische Bündnispolitik noch durch andere Faktoren geschwächt: Wie dargestellt, war der eigentliche Hauptgegner der Kleinen Entente nicht Deutschland, sondern Ungarn, während die französischen strategischen Planungen ja vor allem gegen Deutschland und zum Teil auch gegen die Sowjetunion gerichtet waren. Die Kleine Entente ließ sich deshalb nur bedingt gegen Deutschland mobilisieren56. Außerdem hatten die mittel- und osteuropäischen Staaten nach der gerade gewonnenen Unabhängigkeit kein Interesse daran, in die Abhängigkeit eines anderen Landes zu geraten und versuchten aus diesem Grund, »einen komplizierten Kurs zwischen den Großmächten zu steuern«57. Nicht nur aufgrund dieser Faktoren war die Kleine Entente fur die Zwecke der französische Außen- und Sicherheitspolitik nur bedingt geeignet. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Staaten in der östlichen Hälfte Europas außerdem noch wirtschaftlich rückständig und schwach und allein deshalb schon materiell nicht in der Lage, die französische Sicherheitspolitik nachhaltig zu stärken58. Von französischer Seite wurde dies durchaus erkannt, und die Regierung versuchte, französisches Kapital in diese Region zu lenken59. Allerdings blieben die französischen Anleger, nach dem Verlust des vor dem Krieg in Rußland angelegten Kapitals, mit Investitionen in diesem krisengeschüttelten Raum zurückhaltend60, und der französische Staat war - belastet durch Wie51 52 Siehe ADAM, Little Entente, S. 49. Siehe Sally MARKS, The Ebbing of European Ascendancy. An International History of the World 1914-1945, London, N e w York 2002, S. 275-278. 53 Zur Entstehungsgeschichte der Kleinen Entente vgl. DUROSELLE, Histoire, S. 2 2 - 2 4 und ausführlich ADAM, Little Entente, S. 47-109. 54 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 16f. 55 KOLB, Weimarer Republik, S. 60. 56 Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 5, 15. WURM, Sicherheitspolitik, S. 96. Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 27. 57 58 59 Siehe Alice TEICHOVA, Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit, München 1988 (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, 18), S. 88-91. 60 Eine Ausnahme bildet sicherlich das starke Engagement Schneiders und des CreusotKonzerns in Osteuropa, vgl. DUROSELLE, Histoire, S. 22. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 37 deraufbau, Kriegsschulden und Inflation - nicht in der Lage, einzuspringen. Der Warenverkehr dieser Staaten wurde aber weiterhin zum großen Teil mit dem geographisch günstiger gelegenen Deutschland abgewickelt, so daß Frankreich seine Marktanteile in dieser Region kaum vergrößern konnte61. Neben diese strukturellen Schwächen des französischen Bündnis- und Einflußsystems in Osteuropa traten auch taktische Widersprüchlichkeiten der französischen Politik. So war die wirtschaftliche Durchdringung Frankreichs in Osteuropa oftmals von kurzfristigen Wirtschaftsinteressen geleitet, die langfristig der französischen Position dort eher schadeten62. Auch die französische Militärdoktrin stand in krassem Widerspruch zu einer Allianzpolitik. Sie war rein defensiv, während für eine aktive Bündnispolitik eine bewegliche Armee notwendig gewesen wäre, um den Bundesgenossen in Osteuropa zu Hilfe kommen zu können63. Für Polen galten in vielerlei Hinsicht die gleichen Probleme wie für die Staaten der Kleinen Entente, doch war die Situation dort vielfach noch schwieriger. Dies ergab sich vor allem aus der Zweifrontenstellung Warschaus gegenüber Deutschland und der Sowjetunion: Durch die weitgehende Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wurde der neu entstandene polnische Staat Hauptobjekt deutscher territorialer .Revisionsbegierden. Dabei war der deutsch-polnische Gegensatz kein zwangsläufiges Ergebnis des Krieges und der deutschen Gebietsverluste im Osten64. Was die deutschen Ressentiments hervorrief, war weniger die Abtrennung Posens und Westpreußens, sondern vor allem die Abtretung Danzigs als »Freie Stadt« unter Völkerbundsverwaltung und die Trennung Ostpreußens vom Rest des Reiches. Die Teilung Oberschlesiens zu - aus deutscher Sicht - Polens Gunsten vergiftete das deutschpolnische Verhältnis weiter65. Durch den polnischen Angriff auf die Sowjetunion hatte sich Warschau aber auch im Osten einen dauerhaften Gegner geschaffen66. Im Grunde genommen war Polen, wie die Länder der Kleinen Entente, für Frankreich ein Verbündeter von zweifelhaftem Wert: verstrickt in Händel mit den Nachbarn, politisch instabil und wirtschaftlich schwach. Auch militärisch 61 Vgl. SOUTOU, Imperialisme, S. 237. Siehe Bernd Jürgen WENDT, England und der deutsche »Drang nach Südosten«. Kapitalbeziehungen und Warenverkehr in Sttdosteuropa zwischen den Weltkriegen, in: Immanuel GEISS, Bernd Jürgen WENDT (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 483-512, hier S. 507. 63 Siehe GlRAULT, Europe, S. 102. 64 Zum folgenden vgl. Heinrich KÜPPERS, Der Faktor Polen in der deutschen Frankreichpolitik 1918-1934, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München 1996, S. 155-164, hier S. 156-161. Vgl. auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 114. 65 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 25. 66 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 61. 62 38 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte war von den mittel- und osteuropäischen Staaten wenig zu erwarten67. In vielerlei Hinsicht schien es so,, als behindere Warschau die französische Politik mehr als daß es ihr half, denn das ohnehin problematische deutschfranzösische Verhältnis wurde durch die französische Rücksichtnahme auf Polen weiter belastet. In abgeschwächter Form galt dies sicherlich auch für das französisch-sowjetische Verhältnis. Umgekehrt führte der gemeinsame Gegner Polen zu einer Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion, die ebenfalls nicht im Interesse Frankreichs liegen konnte und die merkwürdige Kooperation zwischen konservativem, preußisch-deutschem Militär und der Roten Armee erst ermöglichte. Die deutsche Politik im Osteuropa war aufgrund der fehlenden militärischen Machtmittel vor allem darauf ausgerichtet, durch die Wiederaufnahme von Handels- und Wirtschaftskontakten dort wieder an Einfluß zu gewinnen: Bereits 1920 und 1921 konnten Handelsabkommen mit der Tschechoslowakei und Jugoslawien abgeschlossen werden68. Dies ist auch im Zusammenhang mit der zweiten Priorität deutscher Außenpolitik in diesem Raum zu sehen, nämlich der Eindämmung des polnischen Expansionismus'69. An der Stellung Polens wird deutlich, daß auch die Sowjetunion - obwohl ausgeblutet durch Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg - zumindest mittelbar Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen ausübte70. Nachdem sich die Hoffnungen der sowjetischen Kommunisten auf eine Weltrevolution zerschlagen hatten, kehrte die neue Führung in den Jahren 1920/21 zu den normalen zwischenstaatlichen Beziehungen zurück und versuchte, sich außenpolitisch Ruhe zu verschaffen, um das Regime im Inneren konsolidieren zu können71. Trotz dieser Rückkehr zu den klassischen Formen der Diplomatie blieb die Sowjetunion außenpolitisch isoliert, fürchteten doch die westlichen Regierungen die innenpolitische Destabilisierung nach bolschewistischem Vorbild durch die Komintern72. Die einzige Ausnahme dabei bildete das Deutsche Reich. Dies ergab sich vor allem aus der gemeinsamen Gegnerschaft zu Polen und der Tatsache, daß beide Länder - Deutschland nach dem verlorenen Krieg und die Sowjetunion aufgrund ihres neuen politischen Systems - die Parias der neuen internationalen Ordnung waren73. Aus sowjetischer Sicht ergab sich durch die Annäherung an Deutschland zudem die Chance, einen Teil der kapitalistischen Einheitsfront, von der man sich in Moskau umgeben sah, 67 Für die Tschechoslowakei exemplarisch dargelegt: WURM, Sicherheitspolitik, S. 96-99. Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 113. 69 Siehe ibid. S. 115. 70 Zu den deutsch-russischen Beziehungen, nicht nur auf politischer Ebene, vgl. Gerd KOENEN, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005, insbes. S. 287-386. 71 Siehe GlRAULT, Europe, S. 95. 72 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 62. 73 Siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 12. 68 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 39 zu sprengen74. Obwohl sich für Deutschland und die Sowjetunion die außenpolitische Lage und Frontstellung ähnelten, betrieb Deutschland - und das ist seit einigen Jahren Konsens in der Forschung - keine »Politik der Ost-WestBalance«75. Die Prioritäten der deutschen Politik lagen eindeutig im Westen, denn was für die britische Außenpolitik des Appeasement galt, war auch das Axiom der deutschen Beziehungen mit dem Westen: Der Ausgleich mußte mit den Staaten erfolgen, mit denen die meisten Konfliktpunkte bestanden. Frankreich und die anderen westlichen Staaten waren die Reparationsgläubiger Deutschlands, nicht die Sowjetunion. Es waren französische, belgische und britische Truppen, die das Rheinland besetzt hielten, nicht sowjetische. Das notwendige Kapital für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands konnte nur aus dem Westen kommen, und durch das französisch-polnische Bündnis wurde die Revision der deutschen Ostgrenzen auch zu einem deutschfranzösischen Problem76. Angesichts der deutschen militärischen Impotenz blieb deshalb der Ausgleich mit dem Westen, zumindest bis zur Konsolidierung der deutschen Machtposition, die einzige Option77. Außerdem ging auch - und vielleicht besonders - in Berlin das Gespenst vor einem »Deutschen Oktober« um78. Für die deutsche Außenpolitik war die Sowjetunion lediglich eine taktische Reserve79. Allerdings, obwohl die Probleme des Ostens in vielerlei Hinsicht mit denen Westeuropas verknüpft waren, blieben sie doch oft, auf eine ganz erstaunliche Weise unverbunden. Während sich die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Westen nach Locarno und dem deutsch-französischen Handelsvertrag zaghaft in Richtung Kooperation zu bewegen schienen, waren es gerade die weiterhin bestehenden Gegensätze zwischen Frankreich und seinen osteuropäischen Verbündeten einerseits und Deutschland und der Sowjetunion andererseits, die die Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland bremsten. Im Sinne der Definition waren die Beziehungen, die Deutschland und Frankreich zu den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion unterhielten, also modernisierungshemmend, weil sie Konflikte zementierten und Interessengegensätze schufen. 74 Siehe DERS., Internationale Beziehungen, S. 51. So der Titel des Buches von Maxeion: Michael-Olaf MAXELON, Stresemann und Frankreich 1924-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972. Im gleichen Sinne auch Marc POULAIN, Zur Vorgeschichte der Thoiry-Gespräche, in: Wolfgang BENZ, Hermann GRAML (Hg.), Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis, Stuttgart 1976, S. 87-120, hier S. 87. Zu den Anfängen der deutschen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 115. 76 Siehe Gaines POST jr., Diplomatie und Machtpolitik. Stresemanns West-Ost-Balance, in: Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege 75 der Forschung, 539), S. 2 5 0 - 2 7 5 , hier S. 252. 77 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76f. 78 Siehe DERS., Außenpolitik, S. 12. 79 Siehe DERS., Internationale Beziehungen, S. 77. 40 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Neben der diplomatischen Ebene wurden die internationalen Beziehungen natürlich auch durch »forces profondes«80 beeinflußt, also durch Faktoren von säkularem Charakter, auf die die Tagespolitik nur begrenzt einwirken kann, wie beispielsweise langfristige Trends des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Entwicklung81, sowie durch andere transnationale Einflüsse, wie den Ideologien des Kommunismus, Nationalismus, Liberalismus oder Faschismus, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann82. Neben diesen internationalen Rahmenbedingungen war der Versailler Vertrag also nur ein Faktor der internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Es gab somit auch nur bedingt ein »Versailler System«83. Deshalb ist es auch falsch, die Defizite des internationalen Systems ausschließlich im Friedensvertrag von Versailles zu suchen. Vielleicht wäre die internationale Lage sehr viel stabiler gewesen, wenn die USA den Versailler Vertrag ratifiziert hätten und dem Völkerbund beigetreten wären - was weniger Folge außen- als vielmehr innenpolitischer Schwierigkeiten gewesen war84. Dies hätte das Kriegsbündnis zwischen Frankreich, den USA und Großbritannien (und den anderen, kleineren alliierten und assoziierten Staaten) in eine effektive Friedensallianz überfuhrt85. Was, wenn das sogenannte Genfer Protokoll von 1924 von Großbritannien akzeptiert worden wäre und den Völkerbund in ein wirkliches Instrument der kollektiven Sicherheit umgewandelt hätte?86 Was, wenn es Frankreich gelungen wäre, die Kleine Entente als wirksamentsroniedca cordon sanitaire gegen Deutschland auszubauen?87 All dies hätte bewirken können, daß der Versailler Vertrag - ohne auch nur einen Buchstaben zu ändern - zu einem effizienteren Instrument der europäischen Nachkriegsordnung hätte werden können. Er scheiterte weniger an sich selbst, sondern viel mehr »durch das Abrücken nahezu aller Unterzeichner [...] von dessen Bestimmungen [...] Unter den Siegern wie den Besiegten gab es genau besehen nur Revisionisten«88. 80 Siehe GlRAULT, Europe, S. 71. Siehe ibid. S. 73. 82 Siehe Klaus-Jürgen MOLLER, Einleitung, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München 1996, S. 9-16, hier S. 9f. und GLRAULT, Europe, S. 80-88. 83 Vgl. die Kapitelüberschriften in Teil 1: NIEDHART, Außenpolitik. Die französische Literatur spricht - vielleicht zutreffender - von einer »ordre versaillais«: GlRAULT, Europe, S. 121. 84 Siehe BERNARD, Decline, S. 102; Alan SHARP, The Versailles Settlement. Peacemaking in Paris, 1919, Basingstoke, London 1991, S. 39f. 85 Auch Zeitgenossen sahen in der Abwesenheit der USA im Völkerbund eine große Schwächung des internationalen Systems: Siehe Martin LÖFFLER, Vereinigte Staaten von Amerika, Versailler Vertrag und Völkerbund, Berlin 1932 (Politische Wissenschaft, 11), S. 139f. 86 Vgl. DELPORTE, Hf Republique, S. 108f. 87 Vgl. BERNARD, Decline, S. 105. 88 PEUKERT, Weimarer Republik, S. 65. 81 3.2 Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz 41 Nichtsdestotrotz war der Friedensvertrag ein wesentlicher Faktor der internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Der Versailler Vertrag89 wurde am 28. Juni 1919 von Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten des Ersten Weltkriegs unterzeichnet und trat am 10. Januar 1920 in Kraft. Mit ihm wurde versucht, die Folgen des bis dahin mörderischsten Krieges der Menschheitsgeschichte in 440 Artikeln und diversen Anlagen zu regeln. Auf eine Schilderung der Umstände, wie der Vertrag zustande kam und wie um die einzelnen Bestimmungen gerungen wurde, wird hier verzichtet; dies wurde oft - und ausfuhrlich - getan90. Doch inwiefern beeinflußte der Versailler Vertrag die Modernisierung der Außenpolitik? Analysieren wir zunächst die 15 Teile des Vertragswerkes hinsichtlich ihrer modernisierungsfÖrdernden bzw. -hemmenden Bestimmungen. Der erste Teil beinhaltete die Völkerbundssatzung. Die Schaffung des Völkerbunds stellte eine wesentliche Wendemarke dar, indem nämlich durch die Einführung der Kriegsächtung (Art. 11) der »Grundpfeiler des klassischen Völkerrechts, nämlich die Souveränität und das aus ihr fließende Recht der souveränen Staaten zum Krieg (ius ad bellum), zum Einsturz«91 gebracht wurde. Dieser Artikel bedeutete zwar noch kein generelles Kriegsverbot - dies wurde erst mit dem Kellogg-Briand-Pakt vom 27. August 1928 eine völkerrechtliche Norm - , etablierte aber erstmals ein Kriegsverhütungsrecht, das aus den Elementen Abrüstung (Art. 8, 9), Schiedssprechung bzw. Streitschlichtung (Art. 11-15) und kollektiver Sicherheit (Art. 10, 16) bestand92. Mit dem Völkerbund wurde also eine der zentralen wilsonschen Forderungen, die er in seinem Friedenskonzept formuliert hatte, erfüllt - im Prinzip zumindest: »Aber die neue Institution entpuppte sich doch rasch als ein schwaches und problematisches Gebilde, das die großen Erwartungen nur zu einem kleinen Teil erfüllte und schließlich nur noch ein Schattendasein führte«93. Die Gründe hier89 Text des Versailler Vertrags: o.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925. Zwar ist nur die französische und englische Version des Vertrags authentisch (vgl. Ratifizierungsvermerk im Anschluß an Artikel 440), doch habe ich zugunsten der besseren Lesbarkeit auf die deutsche Fassung zurückgegriffen, zumal es in dieser Arbeit nicht um eine Exegese des Versailler Vertrags geht. 90 Ausführliche bibliographische Hinweise zum Versailler Vertrag in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 637-657. Einen Überblick über die Ereignisse auf der Friedenskonferenz gibt: SHARP, Versailles Settlement. Weitere aktuelle Darstellung: Patrick de GMELINE, Versailles 1919. Chronique d'une fausse paix, o.O. 2001; Gerd KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14); Margaret MACMILLAN, Paris 1919. Six Months That Changed the World, New York 2003. 91 92 93 KlMMINICH, Völkerrecht, S. 85. Siehe ibid. S. 84. KOLB, Weimarer Republik, S. 26. 42 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte für waren vielfältig. Oft waren es Konstruktionsfehler oder nicht ausreichend festgelegte Mechanismen, die die Arbeit des Völkerbunds blockierten. Das Einstimmigkeitsprinzip im Völkerbundsrat behinderte die Entscheidungsfindung94, und die in Artikel 16 festgelegten Sanktionsmöglichkeiten blieben faktisch wenig wirksam, weil unverbindlich95. Versuche, den Völkerbund schlagkräftiger zu gestalten, scheiterten an den widersprüchlichen außenpolitischen Konzeptionen der Mitgliedsländer, die den Bund nur so weit unterstützten, wie es den eigenen Interessen nutzte, und ansonsten darauf bedacht waren, ihre Souveränität zu verteidigen96. Ein Beispiel hierfür war das Scheitern des sogenannten Genfer Protokolls. Eine weitere Schwäche des Völkerbunds war seine mangelnde Universalität. Die Verlierer des Weltkrieges und auch die Sowjetunion blieben zunächst ausgeschlossen, und die USA wurden, nachdem die Ratifizierung des Versailler Vertrags im Kongreß gescheitert war, ebenfalls nicht Mitglied des Bunds97. So schürte der Ausschluß der Verliererstaaten dort Vorbehalte gegen den Bund als eines »Clubs der Sieger«, den diese zur Sicherung ihrer Vorrechte aus dem Friedensvertrag nutzten, und machte andererseits die universelle Gültigkeit der neuen, modernen völkerrechtlichen Normen zur Illusion. In den Teilen II bis IV des Versailler Vertrags wurden die neuen Grenzen Deutschlands festgelegt: Deutschland mußte Elsaß-Lothringen (Art. 51-79) und Eupen-Malmedy (Art. 34)98 abtreten. Das Saargebiet kam für 15 Jahre unter die Verwaltung des Völkerbunds. Anschließend sollte durch eine Volksabstimmung darüber entschieden werden, ob es zu Deutschland oder zu Frankreich kommen oder unter Völkerbundsverwaltung bleiben sollte (Art. 45-50 und Anlage). Danzig wurde zur freien Stadt, ebenfalls unter Völkerbundsaufsicht (Art. 100-108), und das Memelgebiet wurde von Deutschland abgetrennt (Art. 99)". In Oberschlesien und Teilen Schleswigs sollte die Bevölkerung darüber entscheiden, ob sie zu Polen bzw. Dänemark oder Deutschland gehören wollte. Femer mußte Deutschland ohne Abstimmung auf Teile Westpreußens und der Provinz Posen verzichten (Art. 28). Der »Anschluß« DeutschÖsterreichs an das Deutsche Reich wurde faktisch untersagt (Art. 80)100. Deutschland ging aller seiner Kolonien verlustig, die unter die Mandatsverwaltung des Völkerbunds (Art. 119) kamen. 94 Siehe GIRAULT, Europe, S. 108. Siehe ibid. S. 109. 96 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 26. 97 Siehe Alfred PFEIL, Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner Geschichte, Darmstadt 1976 (Erträge der Forschung, 58), S. 63-65. 98 Auch der Verzicht Eupen-Malmedys erfolgte de jure erst nach einer Volksabstimmung, S. Art. 34. 99 Der endgültige Verbleib dieses Gebiets wurde im Versailler Vertrag nicht festgelegt, ibid. 100 Er war nur mit Zustimmung des Völkerbundsrates möglich. 95 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 43 Die territorialen Bedingungen des Versailler Vertrags waren in vielerlei Hinsicht nicht mit dem liberalen Modell der Friedenssicherung vereinbar: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde zumindest formal in den Fällen mißachtet101, in denen Gebiete ohne Volksabstimmung abgetrennt wurden (dies galt vor allem für Elsaß-Lothringen, Westpreußen und Posen), auch wenn in diesen Fällen wohl Mehrheiten für Frankreich bzw. Polen zustande gekommen wären. Die Abtrennung des Saargebiets und seine wirtschaftliche Ausbeutung durch Frankreich war vor allem ökonomisch begründet102, und die Übertragung Danzigs an den Völkerbund und die Abtrennung Memels entsprangen vor allem strategischen Überlegungen, nämlich Polen einen Zugang zum Meer zu gewähren. Mit dem Willen der Bevölkerung hatten diese Bestimmungen also wenig zu tun. Allerdings hatten selbst die Vierzehn Punkte die Abtrennung Elsaß-Lothringens und den freien Zugang eines zu schaffenden polnischen Staates zum Meer enthalten, so daß diese Bestimmungen, auf die sich Deutschland bei seinem Ersuchen um Waffenstillstand ausdrücklich berufen hatte, die deutsche Regierung nicht unvorbereitet getroffen hatten103. Auch die explizite Verweigerung des friedlichen Anschlusses DeutschÖsterreichs stellte eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker dar und war eine sicherheitspolitische Maßnahme zur Vermeidung eines mächtigen, geeinten Großdeutschlands. Allerdings - und das muß den Verfassern des Versailler Vertrags zugute gehalten werden - wurde das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht soweit beschnitten, daß die Existenz eines deutschen Staates in Frage gestellt wurde: Die Deutschen durften ihr Land bis auf die erwähnten Abtretungen ungeteilt behalten. Im Versailler Vertrag wurde also eine wichtige Forderung des modernen Friedenskonzepts, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, nur teilweise und vor allem auf Kosten der Verlierer verwirklicht. Es blieb vielfach den wirtschaftlichen und strategischen Interessen der Siegermächte untergeordnet. Selbst wenn aber in allen Abtrennungsgebieten ordnungsgemäße Volksabstimmungen stattgefunden hätten, das Selbstbestimmungsrecht an sich ist eine nicht unproblematische Innovation des modernen Völkerrechts, weil es im Widerspruch zum Oberziel des liberalen Friedenskonzepts, der Sicherung des Friedens, stehen kann104: 101 Siehe Thomas WÜRTENBERGER, Gemot SYDOW, Versailles und das Völkerrecht, in: Gerd KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14), S. 35-52, hier S. 45. 102 Vgl. Artikel 45 des Versailler Vertrags. 103 Siehe Klaus SCHWABE, Woodrow Wilson, Revolutionary Germany and Peacemaking, 1918-1919. Missionary Diplomacy and the Realities of Power, Chapel Hill, London 1985, S. 17. 104 Siehe DERS., Woodrow Wilson und das europäische Mächtesystem in Versailles: Friedensorganisation und nationale Selbstbestimmung, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift Peter Krüger), Stuttgart 2001, S. 89-107, hier S. 91. 44 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Das beginnt mit definitorischen Fragen. Was ist ein Volk im Vergleich zu einer Volksgruppe, einem Stamm oder einem Clan? Wie läßt sich das Selbstbestimmungsrecht in Gebieten mit einer starken ethnischen Durchmischung, wie sie in Mittel- und Osteuropa vorherrschten und zum Teil immer noch vorherrschen, umsetzen? Bedeutete dies nicht in letzter Konsequenz sogenannte »ethnische Säuberung«, also, weniger euphemistisch ausgedrückt, Vertreibimg? Macht das Selbstbestimmungsrecht überhaupt Sinn, wenn dadurch Klein- und Kleinststaaten entstehen, die politisch wie wirtschaftlich kaum überlebensfähig sind? In Teil V des Versailler Vertrags wurden die militärischen Verpflichtungen Deutschlands fixiert. Deutschland war ein Heer von maximal 100 000 Mann erlaubt (Art. 160, Tafeln 1 und 2), die Marine durfte nicht mehr als 15 000 Mann umfassen (Art. 183). Eine Luftwaffe durfte Deutschland nicht mehr unterhalten (Art. 198). Die Wehrpflicht wurde abgeschafft (Art. 173), die Ergänzung der Heeresstärke hatte nach strengen Richtlinien zu erfolgen (Art. 174 u. 175). Die Bewaffnung der deutschen Streitkräfte wurde stark beschränkt: Deutschland durfte keine schweren Waffen, Panzer und Giftgas besitzen (Art. 164, 166, 171), ebenso wenig U-Boote (Art. 191). Stückzahl und Munition der erlaubten Waffen waren sprichwörtlich für jeden einzelnen Schuß festgelegt (Tafel 3). Die Zahl der Kriegsschiffe und deren maximale Tonnage waren begrenzt (Art. 181 u. 190). Deutschland mußte alle Festungen westlich des Rheins und in einem 50 Kilometer breiten Streifen östlich davon schleifen (Art. 42, 180). Dort durfte es außerdem keine militärischen Einheiten stationieren (Art. 43). Auch einige Küstenbefestigungen mußten zerstört werden (Art. 195). Zur Überwachimg der militärischen Bestimmungen wurden alliierte Kontrollkommissionen mit umfangreichen Befugnissen eingesetzt (Art. 203-210)105. So positiv die Entwaffnungsbestimmungen im Hinblick auf eine allgemeine Abrüstung waren, wie sie das liberale Modell forderte und wie sie in Artikel 8 der Völkerbundssatzung festgeschrieben war, sie beschränkten sich lediglich auf die Verlierer des Krieges, während die Sieger sich aus Gründen der »nationalen Sicherheit« nicht auf konkrete Abrüstungsschritte festlegen wollten. Auch die Kontrollkommissionen waren nur gegen die Verlierer gerichtet und etablierten kein System der gegenseitigen Rüstungsüberwachung und -kontrolle. Der VI. Teil befaßte sich mit Kriegsgefangenen und Kriegsgräbern. Teil VII (vor allem die Artikel 227 und 228) enthielt Strafbestimmungen, die die Auslieferung Wilhelms II. und anderer deutscher »Kriegsverbrecher« festlegten, und deren Verurteilung durch ein alliiertes Sondergericht vorsahen. 105 Für jede Waffengattung war eine eigene Kontrollkommission vorgesehen: Die Interalliierte militärische Kontrollkommission, die Interalliierte Marine-Kontroll-Kommission und die Interalliierte Kontroll-Kommission für das Luftfahrtwesen, vgl. Art. 203-210. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 45 Der folgende, VIII. Teil, umfaßte die von Deutschland in Geld- und Sachleistungen zu erbringenden Reparationen und wurde durch den berühmtberüchtigten »Kriegsschuldartikel« 231 eingeleitet106. In Artikel 232 wurde jedoch ausdrücklich anerkannt, daß Deutschland nicht alle Kriegsschäden ersetzen konnte. Die Höhe der Leistungen sollte endgültig durch die Reparationskommission (RepKo)107 fixiert werden (Art. 233). Allerdings sollte Deutschland eine Art Vorschuß in Höhe von 20 Mrd. Goldmark (GM) leisten. Teil VII und VIII waren in bezug auf die Modernisierung der Außenpolitik äußerst heikle Punkte. Traf es zwar einerseits zu, daß das neue Völkerrecht auf dem Recht ruhen sollte und ein Verstoß gegen dessen oberste Maxime - die Bewahrung des Friedens - ein Straftatbestand darstellte, so ist doch festzuhalten, daß es dieses Recht bei Ausbruch des Krieges noch nicht gegeben hatte108. Gemäß des Grundsatzes nulla poena sine lege waren die Forderungen, die aufgrund der Teile VII und VIII gegenüber deutschen Militärs und Politikern, die für den Krieg verantwortlich zeichneten, und den Ersatzleistungen, die gefordert wurden, schwierig: Das klassische Völkerrecht kannte »keine allgemeinen Rechtsnormen [...], die den Staaten die Pflicht auferlegten, den Frieden zu erhalten«109. Es gab somit keinen Tatbestand, schon gar nicht völkerrechtlich, der - wie etwa Artikel 26 (1) des Grundgesetzes - die Einleitung eines Angriffskrieges unter Strafe gestellt hätte. Auch war die Kriegsschuld ohne eine neutrale Untersuchung von vornherein nur den Verlierern des Krieges auferlegt worden. Die Bestimmung, all jene Personen zu richten, die »gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßenden Handlung angeklagt sind«110, bezog sich auch nicht auf die alliierten Streitkräfte, obwohl beispielsweise die Seeblockade der Alliierten völkerrechtlich auf tönernen Füßen stand111. Neben der rechtlichen Fragwürdigkeit der Straf- und Reparationsbestimmungen ergab sich hinsichtlich der Reparationen außerdem die Frage nach ihrem ökonomischen Sinn: Hier bestand eine offensichtliche Inkongruenz zur Forderung nach freiem Wirtschaftsverkehr als Grundlage für allgemeinen Wohlstand, der dem Frieden dienen sollte. 106 Der Wortlaut des Artikels 231 ist: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündete als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Angehörigen infolge des Krieges durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben«. 107 Aufbau, Aufgaben und Befugnisse der RepKo sind in Art. 233 sowie in den AnlagentslgfeYWVRNL ΠVI festgelegt. Vgl. ΈΫΒΗΗΒ WEILL-RAYNAL, Les röparations allemandes et la France, Bd. 1: D4s origines jusqu'ä l'institution detiaV Vitat des payements (novembre 1918-mai 1921), Paris 1938, S. 143-162. 101 Siehe WÜRTENBERGER, Völkerrecht, S. 47. 109 Siehe KIMMINICH, Völkerrecht, S. 76. 110 Artikel 228 des Versailler Vertrags. 111 Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 122. 46 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Im IX. Teil wurden finanzielle Bestimmungen getroffen, die unter anderem besagten, daß Deutschland für die Besatzungskosten durch die alliierten und assoziierten Truppen aufzukommen habe (Art. 249). Die wirtschaftlichen Bestimmungen waren in Teil X festgelegt. Wichtigste Punkte waren die einseitige Meistbegünstigung, die Deutschland den alliierten und assoziierten Mächten gewähren mußte (Art. 264 u. 265), sowie die Einfuhr zollfreier Kontingente aus Elsaß-Lothringen, Luxemburg und dem Saargebiet nach Deutschland (Art. 268). Diese Bestimmungen sollten fur 5 Jahre, bis zum 10. Januar 1925, gelten, konnten aber durch einstimmigen Beschluß des Völkerbundsrates verlängert werden (Art. 280). Die Teile XI und XII beschäftigten sich mit Luftschiffahrt, Wasserstraßen, Häfen und Eisenbahnen und den Rechten, die Deutschland diesbezüglich den alliierten und assoziierten Staaten einzuräumen hatte. Die Bestimmungen der Teile X-XII entsprachen in ihren eindeutig die Verlierer benachteiligenden Bestimmungen nicht dem Geist des liberalen Friedenskonzeptes, das, wie mehrmals betont wurde, den freien Welthandel als eine Grundlage der Friedenssicherung sah. Auch hier waren die Friedensbedingungen weniger vom wilsonschen Gedankengut als vielmehr von vor allem französischen Wirtschafts- und zum Teil auch Sicherheitsinteressen geprägt: Es galt, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Krieg hinterlassen hatte, und die mit der Eingliederung Elsaß-Lothringens verbundenen Probleme abzufedern sowie das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands abzubauen112. Teil XIII befaßte sich mit der Schaffung eines Internationalen Arbeitsamtes, dessen Aufgabe es sein sollte, die Arbeitsbedingungen und die sozialen Bedingungen der Arbeiter zu verbessern113. Wie der Völkerbund selbst, so stellte auch das ihm angegliederte Internationale Arbeitsamt eine genuine und wichtige Neuerung im Sinne des hier gebrauchten Begriffs der Modernisierung dar. In der Präambel zu diesem Teil wurde die dem wilsonschen Gedankengut entnommene Gleichung »Wohlstand gleich Friedenssicherung« deutlich: Da der Völkerbund die Begründung des Weltfriedens zum Ziele hat und ein solcher Friede nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit begründet werden kann; und da ferner Arbeitsbedingungen bestehen, welche für eine große Zahl von Menschen Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen mit sich bringen, durch die eine derartige Unzufriedenheit erzeugt wird, daß der Weltfriede und die Welteintracht in Gefahr geraten, und eine Verbesserung dieser Verhältnisse dringend erforderlich ist114. Im vorletzten Abschnitt, Teil XIV, wurden die »Sicherheiten für die Ausfuhrungen« der Bestimmungen des Versailler Vertrags festgelegt. Sie umfaßten vor allem die Besetzung des linksrheinischen Reichsgebiets und einiger 112 113 1,4 Ausführlich hierzu in Kapitel 4.2. Vgl. die Präambel dessliedbTI ΧΠΙ. Teils. Ibid. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 47 rechtsrheinischer Brückenköpfe für maximal 15 Jahre (Art. 428) und die Festlegung derjenigen Zonen, die bereits nach fünf bzw. zehn Jahren geräumt werden sollten (Art. 429). Der Vertrag sah ausdrücklich die Verlängerung der alliierten und assoziierten Besetzung vor, falls Deutschland seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkäme (Art. 430). Allerdings war ebenso ausdrücklich vorgesehen, daß eine vorzeitige Räumung dann erfolgen sollte, wenn Deutschland alle seine Verpflichtungen erfüllte (Art. 431). Da die Reparationen selbst, wie wir gesehen haben, völkerrechtlich fragwürdig waren, waren es die daraus abgeleiteten Sicherheiten auch. Die Besetzung hatte außerdem einen schweren Eingriff in die Souveränität Deutschlands zur Folge, der sich, wie die deutsche Seite nicht müde wurde zu betonen, kaum mit dem Geist der Vierzehn Punkte vereinbaren ließ. Im letzten Teil wurden verschiedene andere Bestimmungen festgelegt, die im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht weiter von Interesse sind. Vergleicht man die Bestimmungen des Versailler Vertrags mit den hehren Worten wilsonscher Friedensrhetorik - auf die sich die deutsche Regierung in ihrem Ersuchen um Waffenstillstand bezogen hatte115 - so war die Ernüchterung groß. Man kann feststellen, daß der Versailler Vertrag eigentlich (mindestens) zwei Friedensverträge darstellte: Einige Abschnitte bekannten sich zu den Prinzipien Wilsons. Dazu sind vor allem Teil I (Völkerbundssatzung) und XIII (Internationales Arbeitsamt) zu zählen. Andere Teile, vor allem die Wirtschaftsbestimmungen (Teil X) und die Reparationsbestimmungen (Teil VIII) standen dagegen in mehr oder weniger starkem Gegensatz zu den Prinzipien des liberalen Modells. Wieder andere Teile blieben in sich widersprüchlich. In den territorialen Bestimmungen wurde das Selbstbestimmungsrecht formal das galt für die Abstimmungsgebiete - geachtet, oft wurde es jedoch anderen Interessen (dies betraf vor allem Danzig und den »Korridor« und das Verbot des »Anschlusses«) untergeordnet. Die Entwaffnungsbestimmungen waren zwar prinzipiell begrüßenswert, betrafen aber faktisch nur die Verlierer: Die Forderung nach allgemeiner Abrüstung, wie sie in Artikel 8 des Versailler Vertrags festgelegt wurde, blieb für die Sieger Theorie. Wichtigstes Kennzeichen des Versailler Vertrags war also die »ambigu'ite«116, der »zwitterhafte Charakter der Pariser Friedensordnimg«117 zwischen modernen und nichtmodernen Bestimmungen, die zum Teil in mehr oder weniger offenem Widerspruch zueinander standen. Durch den Friedensvertrag war sowohl die Ruhrpolitik Poincares 115 Siehe Note der deutschen Regierung an die US-RegierungYVTSRNMLIHECBA ( 3 . 1 0 . 1 9 1 8 ) , M I C H A E L I S u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 400. 1.6 Georges-Henri SOUTOU, L'Allemagne et la France en 1919, in: Jacques B A R L I T Y , J. M. V A L E N T I N , A. GUTH (Hg.), La France et l'Allemagne entre les deux guerres mondiales. Actes du colloque tenue en Sorbonne (Paris IV), 15-16-17 janvier 1987, Nancy 1987, S. 9-20, hier S. 19. M A I , Europa 1 9 1 8 - 1 9 3 9 , S. 2 0 2 . 1.7 48 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte im Jahre 1923 als auch die verständigungsorientierte Politik Briands gedeckt118. Der Versailler Vertrag war deshalb sowohl modernisierungsfördernd wie -hemmend. In der »complex reality of peacemaking«119, die eingebettet war in eine wirtschaftliche Krise bei Siegern und Besiegten, in politische und soziale Unruhen und die psychologischen Folgen des Krieges und verschiedene, spezifische Interessen120, war die Durchsetzung eines ganz und gar modernen Friedens auf Grundlage des liberalen Modells der Friedenssicherung aber sicherlich unrealistisch. Der Versailler Vertrag war ein Kompromiß und konnte wohl unter den herrschenden Umständen auch nur ein Kompromiß sein121. Nicht nur die eigentlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags beeinflußten die Modernisierung der Außenpolitik, negativ wie positiv. Der Friedensvertrag wirkte auch mittelbar. In diesem Zusammenhang sollen drei Phänomene genauer betrachtet werden: Der erste Aspekt bezieht sich auf die Komplexität des Vertragswerkes, der zweite auf dessen Dynamik und der dritte umfaßt schließlich die zunehmende Beteiligung der Öffentlichkeit an außenpolitischen Prozessen und dem damit einhergehenden Einzug der »Moral« in die internationalen Beziehungen. Der Versailler Vertrag war ein äußerst weitreichendes Abkommen, seine Regelungsdichte hatte bis dahin nicht gekannte Dimensionen122. Diese Komplexität bezog sich nicht nur auf die Anzahl der Paragraphen und Anlagen, sondern auch auf seine inhaltlichen Bestimmungen. Der Friedensvertrag ging über die klassischen Bestimmungen, wie die Beendigung des Kriegszustandes und die Festlegung von Grenzen und Reparationen, weit hinaus und eröffnete mit seinen vielfältigen Wirtschaftsbestimmungen, der Völkerbundssatzung und der Schaffung eines Internationalen Arbeitsamtes völlig neue Bereiche der Außenpolitik und des Völkerrechts. Entsprechend war auch die Detailfulle des Vertrags bis dato unbekannt: Deutlich wurde dies beispielsweise an den genauen Vorschriften zu Umfang und Bewaffnung der deutschen Streitkräfte. So wie der moderne Krieg alle Bereiche des Lebens beeinflußt hatte, so ging nun auch der Frieden über die Sphäre des Politischen oder Militärischen hinaus 118 Siehe Georges-Henri SOUTOU, The French Peace Makers and Their Home Front, in: Manfred F.SRONMLKIGFEDCBA BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 167-188, hier S. 187. 119 Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER, Introduction, in: DIES. (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge 1998, S. 1-20, hier S. 2. 120 Vgl. KNOCK, Wilsonian Concepts, S. 123-126. 121 Siehe BOEMEKE, Introduction, S. 3. 122 Siehe Peter KRÜGER, Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 21993 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit [ohne Bandzählung]), S. 12. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 49 und drang ein in Wirtschaft und Soziales. Auf die Totalität des Krieges folgte, wenn man so will, die Totalität des Friedens123. Die Komplexität der internationalen Beziehungen erhöhte sich auch durch die Schaffung neuer Institutionen und Gremien. Dies bezog sich nicht nur auf die Schaffung internationaler Organisationen, wie dem Völkerbund, dem Internationalen Arbeitsamt und anderen, dem Völkerbund angeschlossenen Institutionen, sondern in vielleicht noch stärkerem Maße auf die Kommissionen, die zur Durchsetzung des Versailler Vertrags geschaffen wurden: die RepKo, die interalliierten Militärkontrollkommissionen, die Hohe interalliierte Rheinlandkommission (H.C.I.T.R.) und als Koordinationsorgan auf höchster Ebene die Botschafterkonferenz124 in Paris. Dies waren zum Teil supranationale Gremien, denen, den Fall der RepKo als Beispiel gesetzt, Vertreter der USA125, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans, Belgiens und des serbo-kroatisch-slowenischen Staates (Jugoslawiens) angehörten126. Die Kommissionen hatten weitgehende Kompetenzen, die allerdings hauptsächlich die deutsche Seite betrafen. So war die RepKo durch »keine Gesetzgebung, durch kein Gesetzbuch und durch keine Sonderbestimmungen«127 gebunden und hatte »überhaupt die weitestgehende Vollmacht zur Überwachung hinsichtlich der Fragen der Wiedergutmachung«128. Die Entscheidungen innerhalb der Kommission wurden durch Mehrheitsbeschluß gefaßt, nur in Ausnahmefällen gab es ein Vetorecht einzelner Vertreter129. Durch diese Kommissionen wurde eine Zusammenarbeit und Koordination der Außenpolitik zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkriegs auch ohne förmliche Bündnisse notwendig. Die Arbeit dieser Gremien mußte außerdem mit den nationalen Trägern der Außenpolitik und der nationalen Politik überhaupt koordiniert werden130 und schuf so einen verstärkten Zwang zur Konsultation zwischen den Siegermächten einerseits und zwischen den Siegermächten und Deutschland andererseits. So trugen die Bestimmungen des Vertrags und die mit ihrer Umsetzung beauftragten Kommissionen dazu bei, Interdependenzen, Koordinations- und Konsultationsnetze zu schaffen, die zu einer in dieser Form wahrscheinlich neuartigen Dichte des zwischenstaatlichen Austauschs führten. Allerdings waren 123 Siehe Keith HAMILTON, Richard LANGHORNE, The Practice of Diplomacy. Its Evolution, Theory and Administration, London, New York 22003, S. 183. 124 Vgl. Jürgen HEIDEKING, Areopag der Diplomaten. Die Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Hauptmächte und die Probleme der europäischen Politik 1920-1931, Husum 1979 (Historische Studien, 436). 123 Dies änderte sich natürlich mit der Nichtratifikation des Versailler Vertrags durch die USA. 126 Siehe AnlagezwutsrpnligedbaVTIB Π zu Teil VIII des Versailler Vertrags, § 2. 127 Ibid. §11. 128 Ibid. § 12. 129 Vgl. ibid. § 16a. 130 Beispielsweise waren bei den militärischen Bestimmungen und in der Frage der Besatzungsarmeen ja auch die jeweiligen Kriegs- bzw. Verteidigungsministerien einzubeziehen. 50 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte diese neuen zwischenstaatlichen Kontakte geprägt von einer starken Asymmetrie zwischen den Siegermächten, die Forderungen stellten, und Deutschland und den anderen Kriegsverlierern, die vielfach die Entscheidungen der interalliierten Gremien nur hinnehmen konnten. Allerdings hatte der gewaltige Umfang des Friedensprogramms auch Koordinationsprobleme zur Folge. Schon in Versailles traf sich ein noch nie dagewesener Troß aus Politikern, Diplomaten und Experten aus verschiedensten Bereichen in 58 Kommissionen und Unterkommissionen, die die einzelnen Vertragsbedingungen ausarbeiteten131. In der Tat hatte es »[e]inen solchen staunenswerten Apparat [...] noch nie auf einer internationalen Konferenz gegeben«132. Die Konsequenzen einer solchen Ausdehnung, personell wie inhaltlich, ließen sich in Versailles feststellen und trugen zum Teil zu der bereits festgestellten Widersprüchlichkeit der einzelnen Vertragsteile bei. Diese waren zum Teil nicht aufeinander abgestimmt, eine Schwerpunktsetzung war nicht immer zu erkennen und es kam zu einer »wohl unbeabsichtigte[n] Kumulierung«133 vertraglicher Bestimmungen, was oft auch der ungenügenden Vorbereitung der Delegationen geschuldet war134. So führte also die Komplexität des Versailler Vertrags auch mittelbar zu einer Modernisierung der Außenpolitik: Es kam zu einer thematischen Ausweitung außenpolitischer Problemstellung (sozusagen zur »Totalisierung der Außenpolitik«), die notwendigerweise die Spezialisierung und Professionalisierung des diplomatischen Apparats nach sich zog, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. Daraus ergab sich außerdem das Problem der verstärkten Koordinierung einzelner Politikbereiche, Strategien und Akteure der auswärtigen Beziehungen. Versailles war auch deshalb ein moderner Friedensvertrag, weil er, wie die moderne Außenpolitik auch, einen umfassenden Ansatz zur Friedenssicherung verfolgte. Der Versailler Vertrag beschränkte sich eben nicht mehr nur ausschließlich auf politische oder diplomatische Fragen, sondern bezog wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte mit ein. 131 Siehe Andre TARDIEU, La Paix, Paris 1921, S. 103. »Es handelte sich um eine Mammutkonferenz mit ca. 10 000 Delegierten und Sachverständigen, die in 58 Kommissionen zur Klärung der Einzelfragen arbeiteten. Am Ende verzeichnete man 1 646 Sitzungen«, NLEDHART, Internationale Beziehungen, S. 29. 132 KRÜGER, Versailles, S. 12. 133 Ibid. S. 13. Soutou indes betont die Komplexität der französischen Friedensstrategie (SOUTOU, Peace Makers, S. 170), Bariity und Stevenson weisen zu Recht auf die Verbindungen zwischen territorialen, wirtschaftlichen und militärischen Kriegszielen in der französischen Planung hin (BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 65; David STEVENSON, French War Aims and Peace Planning, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 87-109, hier S. 90). 134 Sally MARKS, The Illusion of Peace. International Relations in Europe, 1918-1933, Basingstoke, New York 22003, S. If. 3.2 Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz 51 Eng mit der gestiegenen Komplexität der durch den Versailler Frieden umgestalteten europäischen Staatenordnung war die Dynamisierung der internationalen Beziehungen verbunden. Diese war zum einen Ergebnis des aus der Vielzahl der zu regelnden Bereiche resultierenden mangelnden Wissens oder auch nur die Vertagung eines Problems, über das sich die alliierten und assoziierten Mächte bei ihren Beratungen auf der Friedenskonferenz nicht hatten einigen können. Dies galt vor allem für den gesamten Komplex der Reparationen. So wurde die Festlegung der Gesamthöhe der Reparationen der Entscheidung der RepKo überlassen (Art. 233 des Versailler Vertrags). Gleichzeitig besagte dieser Artikel aber auch: »Die Kommission wird die Schadensmeldungen prüfen und der deutschen Regierung angemessene Gelegenheit geben, gehört zu werden. Die Beschlüsse dieser Kommission über die Höhe der obenbezeichneten Schäden sollen spätestens am l.Mai 1921 aufgesetzt und der deutschen Regierung als Gesamtbetrag der Verpflichtungen mitgeteilt werden«. Dadurch war der Möglichkeit der deutschen Intervention in Fragen der Reparationen - und, wenn man so will, der Revision des Vertrags - die Tür zumindest einen Spalt breit geöffnet. Folge dieser Flexibilität war eine eingebaute Dynamik, vor allem in Form der Fristen, die der Vertrag setzte. Diese Fristen spielten aber nicht nur gegen Deutschland, sondern auch zu seinen Gunsten, denn die Besetzung des Rheinlandes war beispielsweise auf 15 Jahre beschränkt, die Beschränkungen der Handelsfreiheit auf fünf135, und auch an anderen Stellen werden Fristen gesetzt136. Der Versailler Vertrag revidierte sich gewissermaßen selbst. Noch flexibler wurde das Vertragswerk dadurch, daß Fristen, ganz abhängig vom Wohlverhalten Deutschlands, verlängert oder - was oft genug vergessen wird - auch verkürzt werden konnten137. Zeitlich befristete Druckmittel hatten zudem den Nachteil, daß sie um so wertloser wurden, je näher ihr Ablauf rückte. Dies bewirkte eine weitere Dynamisierung der Entwicklung, nämlich eine Art Torschlußpanik bei den Mächten, denen diese befristeten Vorteile zugute kamen, und ermöglichte Deutschland außenpolitische Spielräume. Für wieder andere Bestimmungen sah der Versailler Vertrag eine Revision des Vertrags vor, wenn diese durch den Völkerbundsrat gebilligt wurde, so z.B. beim »Anschluß« Deutsch-Österreichs138 - auch wenn dies zugegebenermaßen nur eine sehr theoretische Möglichkeit war. Auch der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund wurde von dessen Wohlverhalten 135 Fristen der Rheinlandbesetzung: Art. 428, 429 Versailler Vertrag, Fristen für die Handelsbeschränkungen: Art. 280 Versailler Vertrag. 136 Z.B. fur die Dauer des Völkerbundsregimes im Saargebiet (Art. 49 Versailler Vertrag), Volksabstimmungen, beispielsweise für Eupen-Malm6dy (Art. 34) etc. 137 Art. 430 sah die Verlängerung der Besatzungszeit vor, falls Deutschland nicht seinen Verpflichtungen nachkommen sollte, Art. 431 legte die vorzeitige Räumung fur den Fall fest, daß Deutschland alle Forderungen des Vertrags vorzeitig erfüllen würde. 138 Vgl. Art. 80 Versailler Vertrag. 52 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte abhängig gemacht139. Die militärischen Bestimmungen, denen Deutschland unterworfen war, konnten ebenfalls durch den Völkerbund gelockert werden140. In vielen Fällen sah der Vertrag die Möglichkeit zumindest der Anhörung der deutschen Vertreter vor141. In der Mantelnote zum Versailler Vertrag wurde zudem ausdrücklich eine Revision in Aussicht gestellt142, und Wilson selbst setzte vor allem Hoffnungen in den Völkerbund als Mittel, um die von ihm erkannten Schwächen des Friedensvertrags zu revidieren143. Der Versailler Vertrag schuf so keinen neuen Status quo, sondern sorgte dafür, daß die Beziehungen zwischen den Staaten stets im Fluß blieben. So gab es in der Nachkriegsordnung nicht nur die Status quo-Mächte und die revisionistischen Staaten. Der durch den Versailler Vertrag geschaffene Zustand wurde durch den Friedensvertrag selbst ständig in Frage gestellt. Die Dynamik des Versailler Vertrags wirkte außerdem modernisierungsfördernd, weil Wohlverhalten belohnt und Fehlverhalten, im Sinne eines Abweichens der Verliererstaaten von den von den Siegermächten festgelegten Friedensbestimmungen, bestraft wurde. Auch wurde die Dynamik und Flexibilität der neuen komplexen Nachkriegssituation besser gerecht. Die gestiegene Bedeutung der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung - und damit einhergehend der Einzug der Moral in das zwischenstaatliche Leben - war ein weiteres Phänomen, das nur mittelbar mit dem Versailler Vertrag verknüpft war, nichtsdestotrotz aber Bedeutung für die Modernisierung der Außenpolitik hatte. Zwar war der Einfluß der Öffentlichkeit auf die eigentlichen Friedensverhandlungen relativ gering144, allerdings wurde von den Teilnehmern selbst in den Verhandlungen versucht, die öffentliche Meinung als vermeintliches Druckmittel zu instrumentalisieren145. Auch wenn die Be- 139 Vgl. Mantelnote zum Versailler Vertrag (16.6.1919), abgedruckt in: O.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausfiihrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 1-13. 140 Art. 164 des Versailler Vertrags. 141 Für die RepKo siehe AnlagezutsrpnmlihgfedcaVTREBA Π zum Teil Vm. des Versailler Vertrags, § 10. 142 »Er [der Versailler Vertrag, R.B.] schafft auch gleichzeitig den Apparat für die friedliche Erledigung aller völkerrechtlichen Fragen durch Aussprache und Übereinstimmung, wodurch die im Jahre 1919 geschaffene Regelung selber von Zeit zu Zeit abgeändert werden und neuen Ereignissen und neu entstehenden Verhältnissen angepaßt werden kann«, Mantelnote. 143 Siehe SHARP, Versailles Settlement, S. 59. 144 »public opinion as such, though it found frequent and sometimes sensational expression, on the whole produced noise rather than a discernible impact on the decisions reached in Paris«, Anthony LENTIN, A Comment, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 221-243. 145 Siehe Klaus SCHWABE, Germany's Peace Aims and the Domestic and International Constraints, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 53 deutung der öffentlichen Meinung auf die Ergebnisse der Friedenskonferenz begrenzt war, so hatte die Außenpolitik im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit stets mit der durch überzogene Kriegsziele angeheizten und durch den Friedensvertrag enttäuschten öffentlichen Meinung zu kämpfen, gewissermaßen mit den Geistern, die sie selbst gerufen hatte146. In Deutschland, wo nach Jahren der Siegespropaganda das Ausmaß der Niederlage kaum realisiert worden war147, hatte der Versailler Vertrag, gelinde gesagt, eine äußerst schlechte Presse148. Die Reaktionen in Frankreich waren nicht viel freundlicher149. Vor allem Poincare und Foch warnten vor der Aufgabe der Rheingrenze, zumal das versprochene Bündnis mit den USA und Großbritannien nicht zustande kam150, und diese Garantien »Papierfetzen«151 blieben. Insgesamt stimmte die Mehrheit der Franzosen, mit Ausnahme der extremen Rechten und Linken152, dem Frieden zwar zu153, doch bestand zugleich die Ansicht: »nous avions perdu la paix«154. Natürlich war die Öffentlichkeit nicht erst deshalb ein außenpolitischer Faktor, weil sie von der Politik mobilisiert wurde; sie konnte erst von der Politik mobilisiert werden, weil es Öffentlichkeit, im Sinne von Staatsbürgern, die das Verhalten von Politikern in Wahlen sanktionieren können, als Öffentlichkeit, die in großem Umfang Zugang zu Informationen durch die Presse hat, gab. Zum Zeitpunkt der Friedensverhandlungen war diese Art von Öffentlichkeit nun zwar kein gänzlich neues Element in der politischen Auseinandersetzung mehr; so etabliert, wie es heute jedoch erscheinen mag, war sie aber auch noch of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 37-67, hier S. 53 und LENTIN, Comment, S. 242f. 146 Dies gilt vor allem für die deutsche Öffentlichkeit, für die der Versailler Vertrag über den ganzen Zeitraum hinweg ein »Schandfrieden« blieb, siehe S C H W A B E , Peace Aims, S . 64 und Fritz K L E I N , Between Compiegne and Versailles: The Germans on the Way from a Misunderstood Defeat to an Unwanted Peace, in: Manfred F . B O E M E K E , Gerald D. F E L D M A N , Elisabeth G L A S E R (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 203-220, hier S. 219f. 147 Zur zeitgenössischen Deutung und Wahrnehmung zusammenfassend vgl. M Ö L L E R , Europa, S. 161-163, 173-175 und K O L B , Weimarer Republik, S. 195f. 148 »Annahme des Gewaltfriedens«, Vossische Zeitung (24.6.1919). 149 Siehe David S T E V E N S O N , France at the Paris Peace Conference. Addressing the Dilemmas of Security, in: Robert B O Y C E (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1 9 1 8 - 1 9 4 0 . The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 10-29, hier S. lOf. 150 Zur Position Fochs siehe sein Memorandum vom 10.1.1919, auszugsweise zitiert in: Bertrand de JOUVENEL, D'une guerre ä l'autre, Bd. 1: De Versailles a Locarno, Paris 1940, S. 75f. Zu den Ansichten Poincares siehe ibid. S. 83. Siehe auch F I S C H E R , Ruhr Crisis, S. 5f. 151 Foch, zitiert nach: Raymond R E C O U L Y , Le memorial de Foch. Mes entretiens avec le Marechal, Paris 1929, S. 237. 152 Vgl. S O U T O U , Peace Makers, S . 182-186. 153 Pierre MlQUEL, La paix de Versailles et l'opinion publique franfaise, Paris 1972, S. 558. 154 Ibid. S. 563. Vgl. auch K O L B , Weimarer Republik, S. 196 und M O N I E R , Annees 20, S. 61f. 54 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte nicht155. Gerade in Deutschland, wo die Außenpolitik erst mit den Oktoberreformen und der Novemberrevolution dem Parlament (zur Zeit der Verhandlungen zum Versailler Vertrag: der Nationalversammlung) verantwortlich geworden war, war Öffentlichkeit im außenpolitischen Prozeß etwas durchaus Neues und nichts Selbstverständliches156. Der gestiegene Einfluß der Öffentlichkeit auf außenpolitische Entscheidungen führte somit auch zu einer gewissen Demokratisierung der Außenpolitik, wenn dies auch - wie die innenpolitische Debatte um die Revision des Versailler Vertrags in Deutschland in den 1920er Jahren oder die »Dolchstoßlegende« zeigten - nicht indem von Wilson gedachten friedensfordernden Sinne wirkte. Eng verbunden mit dem gestiegenen Einfluß der öffentlichen Meinung auf die Außenpolitik war auch der Einzug der Moral in das Völkerrecht, wie dies an mehreren Stellen auch im Versailler Vertrag zum Ausdruck kam157. Von einigen wurde dies bedauert und kritisiert158, öffnete es doch einer vermeintlichen »Siegeijustiz« Tür und Tor, und war es doch gerade die moralische Verurteilung Deutschlands, die die deutsche öffentliche Meinung hinsichtlich des Versailler Vertrags nachhaltig vergiftete, was die vielleicht schwerwiegendste Folge des Friedens von Versailles war159. Der Einzug der Moral in das Völkerrecht war aber eine notwendige Folge des Weltkrieges. Dies hatte zum einen mit der völlig neuen Dimension des Krieges zu tun: Ein Krieg, der Millionen Menschen das Leben kostete, Millionen mehr verstümmelte, zu Witwen und Waisen machte und so gut wie jedem materielle Opfer abverlangte, ein solcher Krieg war nicht mehr durch eine wie auch immer geartete Staatsräson zu rechtfertigen. Zum anderen hatte dies auch mit dem Bedeutungsgewinn und dem Entstehen von Öffentlichkeit zu tun. Denn die Öffentlichkeit brauchte eine Begründung, eine Rechfertigung, um Kampf und Elend zu ertragen und die Entbehrungen von vier Jahren Krieg durchzustehen. Welcher Grund wäre besser, als für »die« Gerechtigkeit und »das« Gute zu kämpfen (was den Gegner aber zwangsläufig zu »dem« Bösen schlechthin macht)? Letztlich ergab sich aus der Absolutheit der moralischen Ansprüche, auf Grund derer der Krieg gefuhrt wurde und geführt werden mußte, die öffentliche Kritik am zustande gekommenen Friedensschluß: Im Lichte eines für »die« Gerechtigkeit und »das« Gute geführten Krieges konnte ein Frieden, der in einen Kompromiß mündet, nur einen schalen Beigeschmack haben. Die einzige Alternative 155 Dies galt für Deutschland und Frankreich gleichermaßen, siehe Paul Gordon LAUREN, Diplomats and Bureaucrats. The First Institutional Response to Twentieth Century Diplomacy in France and Germany, Stanford 1976 (Hoover Institution Publications, 153), S. 29f. 156 Vgl. Ragna BODEN, Die Weimarer Nationalversammlung und die deutsche Außenpolitik. Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und internationale Beziehungen in den Debatten von Februar bis August 1919, Frankfurt a. M. u.a. 2000, S. 17f., 52-55. 157 Siehe KRÜGER, Versailles, S. 30. 158 Vgl. ibid. 159 Vgl. KLEIN, Compidgne, S. 219. 2.1. Versailler Vertrag und internationales System 55 zu einem Kompromißfrieden wäre jedoch die totale Zerstörung des Gegners, zu der sich die Alliierten - auch aufgrund ihres moralischen Anspruches nicht bereit fanden. Dementsprechend war der Versailler Vertrag voll von moralischen Begründungen. Der »Kriegsschuldartikel« 231 und die Artikel zur Auslieferung von Kriegsverbrechern (Art. 227f.) wurden bereits genannt. Der Vertrag postulierte aber durchaus auch Normen, die sich zugunsten Deutschlands interpretieren ließen: Die zumindest teilweise Ächtung des Krieges in der Präambel des Völkerbunds und die in Artikel 8 des Versailler Vertrags geforderte allgemeine Abrüstung erwiesen sich als durchaus stichhaltiges Argument der deutschen Delegationen bei den diversen Abrüstungskonferenzen160. Das normative Element wurde also (spätestens) mit dem Versailler Vertrag integraler Bestandteil nicht nur des Völkerrechts, sondern auch der Außenpolitik, und wurde ein wesentlicher Faktor der Modernisierung. Der Versailler Vertrag hatte also für die deutsch-französischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit eine zweifache Bedeutung: Unmittelbar legte er die Grundlagen für die Modernisierung der Außenpolitik, indem einige Elemente des liberalen Konzepts der Friedenssicherung explizit festgeschrieben wurden. Darunter fallen vor allem die Gründung von Völkerbund und Internationalem Arbeitsamt. Gleichzeitig wurden diese Neuerungen aber nicht konsequent durchgesetzt und durch andere Vertragsbestimmungen, die den wilsonschen Prinzipien mehr oder weniger entgegenstanden - hier ist vor allem an einige Teile der territorialen Bestimmungen, die Wirtschaftsklauseln und die Reparationen zu denken - eingeschränkt. Mittelbar führte der Versailler Vertrag durch seine hohe Komplexität und die damit einhergehende Dynamisierung der Außenpolitik - wohl mehr unfreiwillig als beabsichtigt - zur Modernisierung der Außenpolitik, weil er ein dichtes Netz von Abhängigkeiten zwischen Siegern und Besiegten schuf, das zu einer Verdichtung der außenpolitischen Kontakte führte. Diese Kontakte betrafen nicht mehr nur die klassischen Bereiche der Außenpolitik, sondern auch Felder, die der traditionellen Diplomatie verschlossen geblieben waren. Die Verdichtung der Kontakte führte außerdem zu einem erhöhten Bedarf an Spezialisierung und Koordination der Außenpolitik, die durch die Interpretations- und Handlungsspielräume des Versailler Vertrags noch verstärkt wurde. Der gestiegene Einfluß der öffentlichen Meinung, zum Teil unvermeidbares Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung in den vertragsschließenden Ländern, zum Teil durchaus aber auch gewollter Bestandteil der »neuen Diplomatie« im Sinne Wilsons161, war dagegen im konkreten Fall eher als modernisierungshemmend einzustufen. Zumin160 Auch in der Präambel des V. Teils des Versailler Vertrags (Bestimmungen über die Land-, See- und Luftstreitkräfte) wird von der »allgemeinen Beschränkung der Rüstung aller Nationen« gesprochen. 161 Vgl. Punkt I der Vierzehn Punkte, in dem Wilson die Abkehr von der Geheimdiplomatie fordert, in:SMLIHECA MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2 , Nr. 399a. 56 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte dest in der Zeitspanne unmittelbar nach dem Weltkrieg wurde in Deutschland der Versailler Vertrag als ganzes abgelehnt und seine modemisierungsfördernden Aspekte nur unzureichend erkannt. In Frankreich wiederum wurde oft auch auf öffentlichen Druck hin - eine Politik betrieben, die sich häufig auf die repressiven Elemente des Versailler Vertrags stützte. Der Friedensvertrag von Versailles und die Wirkung, die er entfaltete, waren also in hohem Maße ambivalent. Je nach Betonung der modernisierungsfÖrdernden oder -hemmenden Aspekte waren verschiedene politische Strategien möglich, in Richtung Modernisierung ebenso wie zu deren Verhinderung. Clemenceau faßte die dem Friedensvertrag innewohnenden Möglichkeiten treffend zusammen: »The treaty [...] will only be worth what you are worth; it will be what you make it«162. Eine wesentliche Begrenzung dieser Spielräume läßt sich auf die Einflüsse des internationalen Systems zurückfuhren, die oben bereits kurz angedeutet wurden. Erstens setzten die angelsächsischen Mächte - wenn man so will als die Erben der Ideen Wilsons - das liberale Modell der Friedenssicherung nicht als integrales Ganzes um, sondern nur dessen wirtschaftlichen Teil. Dabei ließen sie sich vornehmlich von den eigenen ökonomischen Interessen leiten. Deshalb blieb auch die Umsetzung der wirtschaftlichen Komponente des liberalen Modells der Friedenssicherung inkonsequent. Dies wurde besonders an der amerikanischen Hochzollpolitik und dem Festhalten an den ökonomisch unsinnigen Kriegsschulden und Reparationen deutlich, worauf jedoch vor allem deshalb nicht verzichtet werden konnte, weil sie die wesentlichen Mittel zur Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen waren. Die zweite begrenzende Wirkung des internationalen Systems auf die deutschfranzösischen Beziehungen bestand darin, daß die Beziehungen der westeuropäischen Staaten und Deutschlands mit Osteuropa weniger modern waren als die Beziehungen zwischen dem Westen und Berlin. In Osteuropa herrschte eine mehr oder weniger klassische Bündnisstruktur vor, in der sich die Staaten der Kleinen Entente und Polen - als Verbündete Frankreichs - sowie Deutschland und die Sowjetunion mehr oder weniger antagonistisch gegenüberstanden. Durch die kleineren revisionistischen Mächte, wie z.B. Ungarn und die Konflikte innerhalb der Kleinen Entente, wurde diese Asymmetrie zwischen Ost und West noch verstärkt. Die Konflikte in Osteuropa wirkten sich jedoch wieder negativ auf die Beziehungen zwischen den Westmächten - speziell Frankreich - und Deutschland aus. Die von Moskau verfolgte Mischung aus ideologisch-antikapitalistischer und machtorientierter Außenpolitik und das deutsch-sowjetische Sonderverhältnis bildeten die dritte Begrenzung, die modernisierungshemmend auf die deutsch-französischen Beziehungen wirkte. 162 Zitiert nach STEVENSON, French War Aims, S. 101. 2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste 57 Betrachtet man das europäische System der internationalen Beziehungen in seiner Gesamtheit, so lag das deutsch-französische Verhältnis im Schnittpunkt der drei beschriebenen Problemkreise. Während die Auswirkungen des Versailler Vertrags auf die Modernisierung der Außenpolitik ambivalent waren, wirkten also die Einflüsse des internationalen Systems - mit der bedingten Ausnahme der Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zu den USA und England - eher modernisierungshemmend. 2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste in Deutschland und Frankreich Die gestiegene Komplexität der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, die Folge der geänderten internationalen Rahmenbedingungen und des Versailler Vertrags war, übten, ebenso wie die neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikationsverbreitung163, einen Modernisierungsdruck auf die Außenpolitik aus. Dies hatte natürlich auch Folgen für die administrative Durchführung der Diplomatie: Neue Themenbereiche der Außenpolitik, wie zum Beispiel die auswärtige Kultur- und Außenwirtschaftspolitik, machten eine Spezialisierung innerhalb der auswärtigen Dienste notwendig164. In diesem Kapitel wird dargestellt, mit welchen administrativen Maßnahmen auf diese neuen Herausforderungen im AA und im Quai d'Orsay reagiert wurde. Außerdem soll untersucht werden, wie effizient die »government machine«165 in Deutschland und in Frankreich war, denn nur wenn man einen Überblick über die Funktion und die Effektivität des administrativen Apparates der Außenpolitik hat, kann die Frage beantwortet werden, ob der Erfolg (oder Mißerfolg) einer poltischen Strategie durch thematisch-programmatische Faktoren bestimmt war, oder ob schon die technischen Voraussetzungen dafür mangelhaft waren. Das AA behielt im Zeitraum zwischen 1922 und 1936 weitgehend seinen organisatorischen Aufbau bei166. Die oberste Leitungsebene bestand aus dem Reichsminister des Auswärtigen - vom 13. August 1923 bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929 Gustav Stresemann - und dem Staatssekretär. Der Posten 163 164 Siehe LAUREN, Bureaucrats, S. 38f. Allgemein zu diesen neuen Herausforderungen vgl. HAMILTON, Practice of Diplomacy, S. 136-174. 165 Anthony ADAMTHWAITE, France's Government Machine in the Approach to the Second World War, in: H. SHAMIR (Hg.), France and Germany in an Age of Crisis, 1900-1960. Essays in Honour of Charles Bloch, Leiden 1990, S. 203-213, hier S. 203. 166 Zu den folgenden Ausführungen über den organisatorischen Aufbau des AA von 1922 bis 1936 siehe ADAP, Ergänzungsband, S. 548-550, zur personellen Besetzung ibid. S. 556f., 561-563. 58 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte des Staatssekretärs wurde im Untersuchungszeitraum von Ago von Maltzan und ab dem 23. Dezember 1924 bis zum 18. Juni 1930 von Carl von Schubert bekleidet. Unterhalb des Staatssekretärs gliederte sich das Amt in sieben Abteilungen. Abteilung I war für Personal und Verwaltung zuständig, die Abteilungen II bis IV hatten regionale Zuständigkeiten. Abteilung II, die im ganzen Untersuchungszeitraum von Gerhard Köpke geleitet wurde, befaßte sich mit West- und Südosteuropa. Abteilung III, zuständig für das britische Empire, Amerika und den Orient, stand zunächst unter der Leitung Schuberts. Nach dessen Aufstieg zum Staatssekretär wurde sie von Walter de Haas geführt. Die Abteilung IV (Ost- und Nordeuropa, Ostasien)167 unterstand zunächst Erich Wallroth und ab dem 19. September 1928 Oskar Trautmann. Abteilung V, die Rechtsabteilung, wurde von Friedrich Gaus geleitet. Der Zuständigkeitsbereich der Abteilung VI war »Kultur und Deutschtum im Ausland«. Eine Sonderstellung nahm die »Vereinigte Pressestelle der Reichsregierung und des AA« ein: Sie war zwar Teil des AA, ihr Leiter168 aber der Reichskanzlei unterstellt. Neben den Abteilungen, die ihrerseits in Referate unterteilt waren, standen einige Sondereinheiten, die nicht an einzelne Abteilungen angegliedert waren. Dazu gehörten beispielsweise das Sonderreferat Vbd. (Völkerbund)169, das von seiner Gründung am 6. Februar 1923 bis zum 26. Januar 1928 von Bernhard Wilhelm von Bülow und anschließend von Ernst Freiherr von Weizsäcker geleitet wurde, und ein Sonderreferat für wirtschaftliche Fragen, das unter verschiedenen Namen (Sonderreferat W, W. Rep. bzw. Abteilung W) geführt wurde, unter Leitung von Karl Ritter. Der Aufbau des französischen Ministere des affaires etrangeres ähnelte in vielerlei Hinsicht dem des AA, war insgesamt jedoch komplexer170. Dem Posten des Staatssekretärs im AA entsprach die Position des Secretaire general, die von 1920 bis 1933 - mit der Ausnahme der Jahre 1922-1925171 - von Phil167 Die Abteilung IV wurde am 15.7.1924 aus den Abteilungen IVa (Osteuropa und Skandinavien) und IVb (Ostasien) gebildet. Die Abteilung IVa wurde seit dem 12.2. bzw. 10.4.1923 von Erich Wallroth geleitet, IVb seit dem 1.1.1920 von Hubert Knipping. 168 Karl Spiecker (4.12.1924-16.1.1925), Carl Otto Kiep (16.1.1925^.11.1926) und anschließend Walter Zechlin. Einzelheiten zur Organisation der Vereinigten Presseabteilung bei Markus SCHÖNEBERGER, Diplomatie im Dialog. Ein Jahrhundert Informationspolitik des Auswärtigen Amtes, München, Wien 1981, S. 42-47, sowie BAECHLER, Stresemann, S. 480. 169 Das Völkerbundsreferat wurde am 25.2.1927 der AbteilungzywvutsrqponmlihgfedcbaZVUSQP Π angegliedert. 170 Zum Aufbau des Quai d'Orsay siehe Jean BAILLOU (Hg.), Les affaires itrangferes et le corps diplomatique fran5ais. Histoire de radministration franchise, Bd. 2: 1870-1980, Paris 1984, S. 385-387. 171 Die zeitweise »Verbannung« Berthelots vom 30.12.1921 bis 2.4.1925 aus dem Secritariat gendral war Folge von Gerüchten, Berthelot sei in den Skandal um die finanziell angeschlagene Banque industrielle de Chine, deren Präsident sein Bruder Andr6 war, verwickelt. Poincare nahm die Affäre zum Anlaß, den ihm ungenehmen Berthelot zu entfernen. Zu dieser Affäre: BARRE, Berthelot, S. 363-379, JEANNENEY, L'argent cachi, S. 118-168, und Richard D. CHALLENER, The French Foreign Office. The Era of Philippe Berthelot, in: Gordon A. CRAIG, Felix GILBERT (Hg.), The Diplomats 1919-1939, Princeton 1953 (Nachdruck 2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste 59 ippe Berthelot besetzt war. Dem Minister stand als sein persönlicher Stab von Beratern das Cabinet zur Seite, das, obwohl technisch unabhängig von der eigentlichen Ministerialbürokratie172, großen Einfluß auf die Gestaltung der Außenpolitik hatte173. Als Zwischenstufe zwischen der Leitung des Quai d'Orsay und den einzelnen Abteilungen stand die Direction des affaires politiques et commerciales, die in unserem Untersuchungszeitraum von verschiedenen Männern geleitet wurde174. Analog zu den einzelnen Abteilungen des AA war die Direction des affaires politiques et commerciales in fünf sous-directions (S.D.) unterteilt, von denen vier nach geographischen Gesichtpunkten gegliedert waren (S.D. d'Asie et d'Oceanie, S.D. d'Europe, S.D. d'Afrique und S.D. d'Amerique). Die fünfte, die S.D. des relations commerciales, war für Wirtschafts- und Handelsfragen zuständig. Den für diese Untersuchung wichtigsten sousdirections standen in den Jahren 1924 bis 1929 de Lacroix, Corbin und Lefebvre de Laboulaye (S.D. d'Europe) sowie Jacques Seydoux und Robert Coulondre (S.D. des relations commerciales) vor175. Direkt dem Minister bzw. seinem Cabinet und dem Secretaire general waren weitere bureaux, services und sous-directions unterstellt. Die bureaux hatten dabei meist technische Aufgaben, wie das bureau du depart et de l'arrivee, das für die Korrespondenz zuständig war. Services konnten sowohl technische als auch politischadministrative Aufgaben haben. Zur ersten Gruppe zählte beispielsweise der Service telegraphique et telephonique, zur zweiten der Service des reparations 1994), S. 49-85, S. 70f. Zur Person Andre Berthelots siehe Daniel LANGLOIS-BERTHELOT, Marcelin Berthelot. Un savant engage, Paris 2000, S. 301-316. 172 Zur Rolle des Cabinet du Ministre siehe CHALLENER, Era, S. 59 und BAILLOU, Affaires etrangeres, S. 378f. 173 Der Einfluß ergab sich zum einen aus dem täglichen persönlichen Kontakt mit dem Minister, zum anderen aber auch daraus, daß der Chef du cabinet innerhalb der Ministerialbürokratie eine hohe Stellung einnehmen konnte; so war Alexis L6ger in seiner Zeit als Chef du cabinet (1925-1932) zunächst Leiter der sous-direction d'Asie et d'Oceanie (31.10.192510.12.1927), später directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales (10.12.192710.12.1929) und anschließend directeur des affaires politiques et commerciales, (10.12.1929-28.2.1932). Allerdings wurden auch Nicht-Diplomaten als Chef du Cabinet in den Quai d'Orsay geholt, wie etwa Gaston Bergery von Edouard Herriot, der vom 15.6.1924-10.4.1925 Ministerpräsident und Außenminister war, siehe BAILLOU, Affaires dtrangeres, S. 378f. 174 Nämlich vom 31.8.1920-24.10.1924 von Emmanuel Perretti de la Rocca, vom 24.10.1924-31.12.1925 von Jules Laroche, vom 31.12.1926-28.11.1927 von Maurice Delarüe Caron de Beaumarchais, vom 31.12.1926-3.9.1927 von Charles Corbin vom 3.9.192710.12.1929 und vom 10.12.1929-28.2.1933 von Alexis L6ger. Vgl. Annuaire diplomatique et consulaire de la Ripublique Franfaise pour 1923. hg. v. Ministere des affaires etrangeres, Nouvelle Serie - Tome XXXVI Soixante et unieme annee, Paris 1923 und die folgenden Jahrgänge. 175 Jacques Seydoux war sous-directeur des relations commerciales vom 28.5.191931.12.1926, Robert Coulondre anschließend bis 1933, siehe Annuaire diplomatique, 19231933. 60 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte et de la Ruhr176 unter Leitung von Pierre Arnal, oder die Völkerbundsabteilung im französischen Außenministerium, der Service franfais de la Societe des Nations, der sukzessive von Jean Gout, Bertrand Clauzel und Rene Massigli geleitet wurde177. Diesem Service war auch das Generalsekretariat der Botschafterkonferenz angegliedert178. Die französische auswärtige Kulturpolitik wurde vom Service des oeuvres franfais ä l'etranger gefuhrt179. Die beiden anderen sous-directions, die direkt der Führung des Quai d'Orsay verantwortlich waren, hatten technische Bedeutung und sind im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht von Interesse180. Anders als in Deutschland hatte das französische Außenministerium aber eine eigene Presseabteilung (Service de la presse et de l'information), die direkt dem Cabinet du Ministre unterstellt war181. Natürlich waren die administrativen Reformen nicht nur das Ergebnis des Krieges und des Versailler Vertrags. In Deutschland war bereits vor dem Krieg mehrfach Unmut über die Inhalte und die Organisation der Außenpolitik geäußert worden. Die Bevorzugung des Adels, die Vernachlässigung wirtschaftlicher Belange, die fehlende parlamentarische Kontrolle, Ineffizienz und die Interventionen des Kaisers waren dabei die Hauptkritikpunkte gewesen182. Während des Krieges, als das AA rapide an Bedeutung verlor und durch die sogenannte Luxburg-Affäre183 diskreditiert wurde, mehrten sich die Forderungen nach umfassenden Reformen, besonders aus den Kreisen des Handels und der exportorientierten Industrie184. Auch die 1917 im Rahmen der Mobilisierung der Kriegswirtschaft erfolgte Gründung des Reichswirtschaftsamtes185, 176 Ab 1925 nur noch service des reparations, siehe BAILLOU, Affaires etrangeres, S. 386. Zum Service franfais de la Soci£t6 des Nations siehe ibid. S. 387. Zur Person Massigiis und seiner Haltung gegenüber Deutschland vgl. Raphaelle ULRICH, Rene Massigli and Germany, 1919-1938, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 132-148. 178 Siehe BAILLOU, AffaireszxvutsronmlihgfedcbaSKED έ ί ^ έ τ β β , S. 387f. 179 Siehe ibid. S. 393, 451f. 180 Es handelte sich dabei um die S.D. des affaires administratives et des unions internationa­ les und die S.D. des chancelleries et du contentieux, zu Einzelheiten vgl. ibid. S. 398­401. 181 Siehe ibid. S. 379, 391f. 182 Kurt Doss, Das deutsche Auswärtige Amt im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Die Schülersche Reform, Düsseldorf 1977, S. 147f., 153f. Siehe auch LAUREN, Bureaucrats, S. 55-68. 183 Die sogenannte Luxburg-Affäre wurde ausgelöst durch ein von den Alliierten abgefangenes Telegramm des deutsche Gesandten in Buenos Aires, Karl Graf von Luxburg, in dem dieser gefordert hatte, neutrale Schiffe möglichst »spurlos« zu versenken, um internationale Verwicklungen zu vermeiden, und obendrein noch den argentinischen Außenminister beleidigt hatte. Ausführlich: DOSS, Schülersche Reform, S. 21-48. 184 Zu Einzelheiten vgl. ibid. S. 92-118. 185 Das Reichswirtschaftsamt, Vorläufer des Reichswirtschaftsministeriums, ging aus einigen Abteilungen des Reichsamts des Innern und einigen Behörden, die im Rahmen der Kriegswirtschaft erreichtet worden waren, hervor. Es nahm am 1.9.1917 seine Tätigkeit auf, am 21.10.1917 erfolgte durch Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt die formale Errichtung der Behörde, siehe Walther HUBATSCH, Entstehung und Entwicklung des Reichswirtschaftsmi177 2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste 61 das bald auch die Außenwirtschaftspolitik für sich beanspruchte, schärfte bei den Verantwortlichen im AA die Wahrnehmung für notwendige Reformen, weil man sich nun unliebsamer Konkurrenz im Bereich der Handelspolitik ausgesetzt sah186. Den wichtigsten Katalysator für die Reformen im AA stellten jedoch der Ausgang des Krieges und die Novemberrevolution dar187. In Frankreich, wo das politische System überlebte, besaß der Reformprozeß eine größere Kontinuität und dauerte über einen längeren Zeitraum an188. Allerdings war auch dort bereits vor dem Krieg Kritik an der mangelnden Innovationsbereitschaft laut geworden189. Wenn man als Anfangspunkt der Reformen im Quai d'Orsay die Einführung des Regionalprinzips betrachtet (die Einfuhrung dieser Aufteilung wurde zu einem der Kernpunkte der sogenannten Schülerschen Reform), so begannen sie bereits 1907190 und waren erst gegen 1920 abgeschlossen, wenn die offizielle Einführung des Postens des Secretaire general als Endpunkt des Reformprozesses angesehen wird191. In Deutschland hingegen konzentrierten sich die Reformen weitestgehend auf den Zeitraum zwischen Mai 1918 und Juni 1921192. Natürlich ist diese zeitliche Begrenzung der Reformprozesse etwas willkürlich, denn in komplexen Organisationen wie Ministerien finden ständig Anpassungen und Umstrukturierungen statt, die die Abgrenzung zur »Reform« im umfassenden Sinne schwierig machen193. Trotz vieler Unterschiede im Detail und der konkreten Umsetzung gab es viele Parallelen zwischen den Reformen im Quai d'Orsay und im AA. Zum einen ist dabei der gesteigerte Einfluß der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung auf die Außenpolitik zu nennen. Dies galt vor allem für Deutschland, denn dort wurde die Außenpolitik nach der Oktoberverfassung und der Revolution erstmals dem Parlament verantwortlich, und es wurde ein Reichstags- nisteriums 1880-1933. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Reichsministerien, Darstellung und Dokumentation, Berlin o.J., S. 18f. 186 Vgl. DOSS, Schülersche Reform, S. 145, 169-172. 187 Siehe ibid. S. 200. 188 Zusammenfassend siehe Maurice VAlSSE, L'adaption du Quai d'Orsay aux nouvelles conditions diplomatiques (1919-1929), Revue d'histoire moderne et contemporaine, ΧΧΧΠ/1 (1985), S. 145­162. 189 Vgl. LAUREN, Bureaucrats, S. 44­55. 190 Siehe BAILLOU, Affaires etrangeres, S. 383. 191 Siehe CHALLENER, Era, S. 50. Allerdings wurde bereits am 1.10.1915 Titel und Funktion des Secrdtaire g6neral eingeführt, die Position jedoch erst 1920 geschaffen und definiert, siehe VAISSE, adaption, S. 147. Die Reformen werden detailliert dargestellt in LAUREN, Bur e a u c r a t s , S. 8 0 - 1 1 7 . 192 In dieser Zeit war Edmund Schüler für die Reformen zuständig, die seinen Namen tragen, siehe Doss, Schülersche Reform, S. 162; LAUREN, Bureaucrats, S. 118-153. 193 Beispielsweise wurde die Stelle des zweiten, für Wirtschaftsfragen zuständigen Staatssekretärs im AA 1922, nach dem Ausscheiden Schülers, abgeschafft, da sie sich nicht bewährt hatte, vgl. Doss, Schülersche Reform, S. 226-228. wutsronmlk 62 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte ausschuß für auswärtige Politik eingerichtet194. In geringerem Umfange galt dies aber auch in Frankreich, wobei allerdings festzuhalten bleibt, daß »neither the Chamber or the Senate Committees on Foreign Affaires emerged as the masters of the Quai d'Orsay«195 und daß der Spielraum der französischen Diplomatie groß blieb196. Allerdings dürfte fur beide Länder gelten, daß das gesellschaftliche Interesse an außenpolitischen Fragen nach dem Krieg und dem Friedensschluß zugenommen haben dürfte. Entsprechend dieser wichtigeren Rolle der Öffentlichkeit gewann die Informationspolitik an Bedeutung. Die »Vereinigte Pressestelle der Reichsregierung und des AA« wurde bereits angesprochen. Im Quai d'Orsay wurde ebenfalls eine Presseabteilung eingerichtet, nämlich der Service de la Presse et de l'information, der am 2. September 1920 gegründet wurde und aus der 1916 auf Initiative Berihelots gegründeten Maison de la Presse hervorgegangen war197. In beiden Ländern wurde auch auf die erweiterten Anforderungen reagiert, die an die Außenpolitik gestellt wurden. Für beide Länder galt, daß neue Aufgaben, die bisher nicht oder nur peripher im Bereich der Diplomatie lagen, zu lösen waren. Eine dieser Neuerungen war die Einfuhrung der multilateralen Diplomatie durch den Völkerbund, die die klassische bilaterale Diplomatie ersetzte oder ergänzte. Dementsprechend wurden im AA und dem Quai d'Orsay Spezialabteilungen geschaffen, die sich mit Fragen des Völkerbunds befaßten: das Völkerbundreferat bzw. der Service fran^ais de la Societe des Nations198. Als weiteres wichtiges kollektives Entscheidungsgremium auf internationaler Ebene sind sicherlich auch die Botschafterkonferenz anzusprechen und andere Organisationen, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des Versailler Vertrags standen, wie die Hohe interalliierte Kommission für die besetzten Gebiete im Rheinland (H.C.I.T.R.) oder die verschiedenen interalliierten Militärkontrollkommissionen (IMKK). Sinnigerweise war dem Service franfais de la S.D.N. auch das Sekretariat für die Botschafterkonferenz angegliedert. Für die Außenpolitik beider Länder spielten auch wirtschaftliche Fragestellungen eine zunehmend wichtigere Rolle199, denn die Folgen des Krieges waren ökonomisch ebenso einschneidend wie politisch. Als Folge dieser neuen wirtschaftlichen Anforderungen wurden in den auswärtigen Diensten wieder194 Peter KRÜGER, Struktur, Organisation und außenpolitische Wirkungsmöglichkeiten der leitenden Beamten des Auswärtigen Dienstes 1921-1933, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Das diplomatische Korps 1871-1945, Boppard 1985 (Bündinger Forschungen zur Sozialgeschichte,ywvutsronmlihgfedcbaUSRPONMLIHFECBA 1φ, S. 101­169, hier S. 139f. 195 196 CHALLENER, Era, S. 57. Siehe ibid. S. 58. Siehe BAILLOU, Affaires 6trang6res, S. 379. 198 Siehe ibid. S. 387, 502f. 199 »Prior to the twentieth century, Ministries of Foreign Affairs has relatively little involve­ ment with commercial matters«, LAUREN, Bureaucrats, S. 154. 197 2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste 63 um Spezialeinheiten eingerichtet: Deutschland schuf das schon genannte Son­ derreferat f٧r wirtschaftliche Fragen. Außerdem wurde die Stelle eines Staatssekretärs für Wirtschaft eingeführt, die sich jedoch nicht bewährte200. In Frankreich wurde am 1. Mai 1919 die sous-direction des relations commerciales gegründet201, die durch andere offizielle und halboffizielle Stellen zur französischen Außenhandelsförderung, wie z.B. den Office national du commerce exterieur ergänzt wurde202. Auch die Aufhebung der Trennung zwischen diplomatischem und konsularischem Dienst und die Einführung des Regionalprinzips, wodurch nun wirtschaftliche und politische Angelegenheiten gleichermaßen bearbeitet wurden, kann als Aufwertung wirtschaftlicher Belange gesehen werden203. Nicht immer allerdings wurden die Reformen gleich vollständig umgesetzt. Jacques Seydoux forderte die Schaffung des Postens des attache financier bei den großen Botschaften204, und die Handelsattaches, deren Position bereits 1908 geschaffen worden war, wurden erst in den 1930er Jahren zur wichtigen Einflußgröße der französischen Diplomatie205. Kulturelle Belange wurden ebenfalls als neues Feld außenpolitischer Betätigung entdeckt. Zwar hatte es in beiden Ländern bereits vor dem Krieg Ansätze zu einer auswärtigen Kulturpolitik gegeben, wobei besonders Frankreich mit seinen zahlreichen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen als Vorreiter und Vorbild kulturellen Engagements im Ausland gegolten hatte. In diesem Zusammenhang spielte die 1883 gegründete Alliance franfaise eine wichtige Rolle und der bureau des travaux speciaux, aus dem am 15. Januar 1920 die eigentliche Kulturabteilung des Quai d'Orsay, der Service des ceuvres franfaises ä l'etranger, hervorging. In Deutschland, wo Kulturpolitik auch in der Kaiser- und Weimarer Zeit vor allem Ländersache war, blieben die Ansätze sehr viel bescheidener: Zwar wurde im AA 1906 ein für die deutschen Auslandsschulen zuständiges Schulreferat gegründet, doch war dieses insgesamt wenig bedeutsam206. Erst mit einem Erlaß Brockdorff-Rantzaus vom 24. April 1919 200 Siehe Doss, Schülersche Reform, S. 170. Siehe Pierre Foumie im Vorwort des Inventars der Serie Relations Commerciales, S. Ι­Π, unveröffentlichtes Manuskript. 202 Siehe G. de TARDE, Die französischen Dienststellen zur Ausdehnung des Handels - das Auswärtige Handelsamt, in: O.V., Les grands vins de Francc, Sondernummer von »La vie Technique et Industrielle«, Paris [?] 1928, Fundort: BArch R 3101, 2644. Eine umfassende Darstellung der staatlichen französischen Außenhandelsforderung findet sich auch in: Aufzeichnung Hoffmann [?] (28.1.1929), BArch R 3101, 2645 u. Aufzeichnung Hoffmann [?] (1.2.1929), BArch R 3101, 2645. 203 Siehe DOSS, Schülersche Reform, S. 214, 216. 204 Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. 205 Siehe Laurence BADEL, Les acteurs de la diplomatie economique de la France au XX® siecle: les mutations du corps des attach6s commerciaux (1919-1950), in: Relations internationales 114(2003), S. 189-211,hier S. 189f. 206 Siehe Doss, Schülersche Reform, S. 60, 68. 201 64 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte wurde das Schul­ faktisch zum Kulturreferat207. In beiden Lδndern litt die auswδrtige Kulturpolitik jedoch an der Krise der φffentlichen Finanzen208. In gewissem Sinne ist die gewachsenen Bedeutung der auswδrtigen Kultur­ politik auch als Ergδnzung des verstδrkten φffentlichen Interesses an der Au­ ßenpolitik zu sehen, wobei hier die Wirkung weniger auf die heimische Öffentlichkeit abzielte als auf die des Auslandes. In Frankreich entsprang die auswärtige Kulturpolitik dem Sendungsbewußtsein in Sachen Kultur und der Verbreitung eines universalen Fortschrittsgedankens, der bis auf die Französische Revolution zurückging209. Die Bedeutung, die man dort der Kulturpolitik zumaß, wurde nicht zuletzt daran deutlich, daß Frankreich das 1922 gegründete und dem Völkerbund angegliederte Institut international de cooperation intellectuelle - der Vorläufer der UNESCO - mit Sitz in Paris zum großen Teil finanzierte210. In Deutschland hingegen war die Motivation für auswärtige Kulturpolitik sehr viel bodenständiger: Nach der weitgehenden politischen und militärischen Entmachtung des Reiches wurde sie als neuer Aufgabenbereich entdeckt, der den Einfluß Deutschlands in der Welt wieder stärken sollte. Weil außerdem infolge der Kriegsniederlage und der Propagandaschlachten während des Krieges das Image Deutschlands im Ausland denkbar schlecht war, wurde auch die Verbesserung des Deutschlandbildes zu einer wichtigen Aufgabe der Außenpolitik211. Die Entstehung großer deutscher Minderheiten vor allem in den Ländern Osteuropas und des östlichen Mitteleuropas als Folge des Versailler Vertrags und des Zusammenbruchs der Donau-Monarchie spielten eine weitere wichtige Rolle für das stärkere kulturelle Engagement des AA im Ausland212. Unmittelbar nach dem Krieg war die auswärtige Kulturpolitik, oder vielmehr die auswärtige Kulturpropaganda, explizit auch gegen das jeweils andere Land gerichtet. So stellte der Senator Henri de Jouvenel in einer Parlamentsdebatte über die deutsche Kulturpolitik fest: »>die Mittel der deutschen Propaganda sind Lüge, Verleumdung und Bestechung, ihr Ziel ist Revanche[<]. Für Jouvenel ist die deutsche Propaganda nicht bloss [sie] eine zur Vorbereitung der Revanche geschmiedete Waffe, sie bildet ein wahres Attentat gegen den Menschengeist, sie ist kein Teil der Aussenpolitik [sie], sie ist die Aussenpoli- 207 Siehe ibid. S. 82. In den folgenden Jahren fanden noch diverse Umorganisationen statt, zu Einzelheiten: vgl. ibid. S. 82-95. 208 Für Frankreich BAILLOU, Affaires e t o u ^ r e s , S. 393; für Deutschland Kurt DÜWELL, Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln, Wien 1976, S. 237, 250. 209 Siehe Jean-Francis de RAYMOND, L'action culturelle exterieure de la France, Paris 2000, S. 18. 210 Siehe DÜWELL, Kulturpolitik, S. 44. 211 Siehe ibid. S. 32. 212 Siehe ibid. S. 103. Zur Organisation der Deutschtumspflege vgl. ibid. S. 105-117. 2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste 65 tik Deutschlands selbst213«. In den besetzten Gebieten Deutschlands westlich des Rheins diente die franzφsische Kulturpolitik aber auch dazu, »que les re­ gions occupees ne fussent gagnees par la contagion de 1'esprit de revanche, trop souvent entretenu et encourage dans d'autres provinces d'Allemagne«214. Sie sollte dazu dienen, nachdem Deutschland 1918 formal Republik geworden war, nun auch tatsδchlich den demokratischen Geist in die deutsche Gesell­ schaft einzupflanzen, wie dies unter anderem Foch forderte: [I]l ne suffira, sans doute, de changer la forme du Gouvernement allemand [...] C'est seule­ ment du redressement des esprits ramends par la difaite, puis par la libre discussion,xutsrponligedcaJD έ des notions plus exactes du Droit et de la Justice, c'est de leur participation large au contrφle du Pouvoir executif, que pourra sortir un fonctionnement democratique des institutions d'apparence r6publicaine qui auraient, sans cela, toute la puissance d'un pouvoir absolu. Nous ne verrons se produire une pareille evolution qu'avec le temps, beaucoup de temps sans doute215. Die Linke um Briand, Blum oder Herriot hofften, durch die aktive Fφrderung der demokratischen Parteien und Institutionen in Deutschland, die Sicherheit Frankreichs zu erhφhen216. Dies sollte dadurch geschehen, daß Deutschland begrenzte Zugeständnisse gemacht wurden und die demokratischen Parteien sich diesen Erfolg auf die Fahne schreiben konnten217. Allerdings sollte die Substanz des Versailler Vertrags dadurch nicht angetastet werden, im Gegenteil, durch die »Humanisierung«218 des Versailler Vertrags sollte Deutschland dazu gebracht werden, den Friedensvertrag endgültig zu akzeptieren, womit dem deutschen Revisionismus der Boden entzogen werden sollte219. Eine weitere Neuerung der außenpolitischen Entscheidungsprozesse war die zunehmende Zusammenfassung außenpolitischer Entscheidung in den Zentralen220. Dies dürfte einerseits Ergebnis technischer Neuerungen gewesen sein, die Informationen schneller in den Hauptstädten verfugbar machten. Andererseits erforderten die zunehmende Ausweitung der Aufgaben der auswärtigen Politik und die daraus folgende administrative Diversifizierung einen höheren 213 Botschaft Paris an AA (ohne Datum und Unterschrift, ca. 9.7.1923), BArch R 3101, 14553, siehe auch DÜWELL, Kulturpolitik, S. 242. 214 Paul TlRARD, La France sur le Rhin. Douze anndes d'occupation rhdnane, Paris 1930, S. 259. 215 Aufzeichnung Foch an die Bevollmächtigen der Mächte (10.10.1919), in: Documents diplomatiques. Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations concemant les garanties de securit6 contre une agression de l'Allemagne (10 janvier 1919-7 ddcembre 1923), hg. v. Ministäre des affaires 6trang£res, Paris 1924, Nr. 1. 216 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 18. 217 Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 155. 218 Vincent J. PITTS, France and the German Problem. Politics and Economics in the Locarno Period, 1924-1929, New York 1987 (Diss. Cambridge 1975), S. 335. 219 Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 153. 220 Siehe KRÜGER, Struktur, S. 115 (AA); CHALLENER, Era, S. 63f. (Quai d'Orsay). 66 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Koordinationsbedarf durch die Zentralen. Auch inhaltlich spiegelte sich dieser hφhere Koordinationsbedarf wieder: War die klassische Diplomatie vor allem bilateral ausgerichtet, mußten mit der Zunahme multilateraler Probleme, z.B. im Rahmen des Völkerbunds, viel mehr außenpolitische Akteure sinnvoll miteinander in Bezug gesetzt werden als noch vor dem Ersten Weltkrieg. Nach diesem kurzen Rundumblick über den institutionellen Rahmen und die Anpassung der Außenpolitik in Deutschland und Frankreich soll noch einmal auf die Ausgangsfrage nach der Effizienz des außenpolitischen Prozesses zurück gekommen werden. Diese Frage ist natürlich kaum zufriedenstellend zu beantworten, ja die Frage nach der Effizienz staatlichen Handelns wirft Probleme auf, mit der sich ganze Wissenschaftszweige befassen221. Notwendigerweise werden die Antworten darauf deshalb auch eher impressionistisch ausfallen und gelten nur für den Bereich der Außenpolitik. Adamthwaite sieht einen (wenn nicht den) ausschlaggebenden Grund für die Malaise der französische Außenpolitik und letztlich den Untergang der Dritten Republik im Strudel von Kriegsniederlage und deutscher Besetzung 1940 in den Mängeln des französischen Regierungssystems222. Er greift dabei vor allem auf eine Untersuchung Sharps223 vom Anfang der 1930er Jahre zurück. Aus mehreren Gründen scheint diese Ansicht, zumindest was den Untersuchungszeitraum dieser Studie betrifft, unzutreffend zu sein. Zum einen stellt Sharp selbst fest, daß der Quai d'Orsay indem allgemeinen bürokratischen Wirrwarr der Dritten Republik relativ gut organisiert war224. Auch der Einwand Challeners, der Quai d'Orsay habe auf die neuen Herausforderungen, die sich aus der Völkerbundsdiplomatie und den zunehmend wirtschaftlichen Fragestellungen in der Außenpolitik ergaben, nur halbherzig reagiert225, ist meines Erachtens nur bedingt haltbar. Viele organisatorische Änderungen, die zur stärkeren Berücksichtigung wirtschaftlicher Fragestellungen führten, sind im 221 Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von LAUREN, Bureaucrats, S. 228-234. Eine weitere Erklärung der Kriegniederlage Frankreichs, die durchaus in die Logik Adamthwaites paßt, ist die der »blockierten Gesellschaft«, die davon ausgeht, daß es Frankreich aufgrund seiner mangelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik nicht gelang, »optimal seine Ressourcen und seinen außenpolitischen Handlungsspielraum zur Wahrung seiner Sicherheitsinteressen« zu nutzen (Roland HÖHNE, Die politische Blockierung der Modernisierung im Frankreich der Zwischenkriegszeit, in: Hartmut ELSENHANS u.a. (Hg.), Frankreich - Europa - Weltpolitik. [Festschrift Gilbert Ziebura], Opladen 1989, S. 50-60, hier S. 50). Wie aus diesem Abschnitt hervorgeht, halte ich diese These zumindest für die 1920er Jahre für nicht ganz tragföhig. Zur Relativierung des Ansatzes der »soci£t6 bloquie« vgl. Ingo KOLBOOM, Wie modern war die Dritte Republik? Von der »Zerstörung der republikanischen Synthese« zur Revision der »blockierten Gesellschaft«, in: Hartmut ELSENHANS u.a. (Hg.), Frankreich - Europa - Weltpolitik. (Festschrift Gilbert Ziebura), Opladen 1989, S. 61-72, hier S. 63-65. 223 Walter Rice SHARP, The French Civil Service: Bureaucracy in Transition, New York 1931 (Nachdruck von 1971). 224 Siehe ibid. S. 334. 222 225 CHALLENER, Era, S. 62. 2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste 67 Gegenteil in Frankreich viel fr٧her umgesetzt worden als in Deutschland, wie die Einfuhrung des Regionalprinzips und damit die Verschmelzung konsulari­ scher und diplomatischer Aufgaben. Bereits im Mai 1919 wurde, wie schon angesprochen, eine eigene sous­direction f٧r wirtschaftliche Aufgaben ge­ schaffen, die in Jacques Seydoux nicht nur einen äußerst kundigen, sondern auch einen einflußreichen Diplomaten als Leiter hatte (am Ende seiner Laufbahn war Seydoux immerhin directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales)226. Die Vernachlässigung des Völkerbunds und der multilateralen Diplomatie durch den Quai d'Orsay erscheint ebenfalls nicht sehr stichhaltig: Auch hier reagierte man schnell mit der Errichtung einer eigenen Fachabteilung, die zudem personell gut ausgestattet war227. Die Verknüpfung der Völkerbundsabteilung mit dem französischen Sekretariat der Botschafterkonferenz und die Leitung durch Rene Massigli (dem späteren Secretaire general des Quai d'Orsay), der als französischer Delegierter an vielen wichtigen Konferenzen teilnahm, lassen eine enge Verzahnung der »neuen« multilateralen mit der »klassischen« Diplomatie erkennen228. Auch die Rolle, die die französische Diplomatie dem Völkerbund inhaltlich beispielsweise mit dem Genfer Protokoll oder dem briandschen Europaplan zuwies, lassen keinesfalls auf eine Unterschätzung dieses neuen Instruments der internationalen Politik schließen. Personelle Faktoren sprechen außerdem dafür, daß die französische Außenpolitik zumindest eher besser denn schlechter organisiert war. Im Gegensatz zur hohen Fluktuation in anderen Ministerien229 herrschte im Quai d'Orsay, was die Ministerposten betrifft, eine außergewöhnlich hohe Kontinuität: Bis auf das Zwischenspiel Herriots und des nur sechs Tage amtierenden Lefebvre du Prey230 wurde der Quai d'Orsay in den 1920er Jahren von Poincare und Briand geleitet. Zudem galt das Verhältnis zwischen Briand und Berthelot, zwischen Minister und oberstem Diplomaten, als vertrauensvoll und gut231. Die perso226 »>Involved with all the great questions posed since the War<, Seydoux had enormous influence over French diplomacy and policymaking«, JORDAN, Reorientation, S. 868. 227 Erst in den 1930er Jahren, mit dem Bedeutungsverlust des Völkerbunds, geht auch die personelle Ausstattung des service zurück, siehe BAILLOU, Affaires 6trangferes, S. 386-388. Frankreich war das einzige Land, das während der ganzen Zwischenkriegszeit in seinem Außenministerium eine selbständige Völkerbundsabteilung unterhielt, HAMILTON, Practice of Diplomacy, S. 161. 228 So war Massigli Delegierter auf der Haager Konferenz, vgl. Annuaire diplomatique 1934, S. 322-323. Zur Rolle Massigiis in der Botschafterkonferenz siehe ULRICH, Massigli, S. 134f. 229 Vgl. Bertold SPULER, Regenten und Regierungen der Welt (Minister Ploetz), Teil II Bd. 4: Neueste Zeit 1917/18-1964, Würzburg 21964, S. 186-191. 230 Edmond Leftbvre du Prey war Außenminister vom 8.-13.6.1924 im Kabinett Fran<;oisMarsal, das nach dem Wahlsieg des Linkskartells und vor dem Zusammentritt des neuen Parlaments und den Rücktritten Poincaris und Millerands die Amtgeschäfte wahrnahm, siehe ibid. S. 187. 231 Siehe CHALLENER, Era, S. 78f. 68 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte nelle Kontinuitδt bei den Diplomaten war hoch (wenn auch die einzelnen Po­ sten in der Zentrale φfter umbesetzt zu werden schienen als beispielsweise in Deutschland), und die Ausbildung ­ fast alle Diplomaten waren Absolventen der Ecole libre des sciences politiques ­ galt als ausgezeichnet, auch wenn sie zum Teil theorielastig und zu wenig wirtschaftsorientiert war232. Erst Anfang der 1930er Jahre wurde die franzφsische Diplomatie zunehmend unbeweg­ licher und der Quai d'Orsay geriet in die Krise233. Kr٧ger stellt fest, daß sich das AA den neuen Erfordernissen der Außenpolitik nach einigen Anpassungsschwierigkeiten im Anschluß an die Schülersche Reform im großen und ganzen gut angepaßt habe234. Darüber hinaus wird die Frage der organisatorischen Effizienz eigentlich kaum erörtert, auch wenn für Deutschland die Frage zu stellen wäre, wie effizient - bei aller Problematik des Begriffes - eine Außenpolitik sein kann bei instabilen Regierungen, prekären Mehrheitsverhältnissen im Parlament und einem fehlenden außenpolitischen Konsens in der Öffentlichkeit, zumal auch »[persönliche Feindschaften [...] in den höheren Rängen des Auswärtigen Amtes nicht unbekannt«235 waren. Für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit kann deshalb davon ausgegangen werden, daß Effizienzprobleme, verstanden als unzureichende organisatorische, personelle und konzeptionelle Ausstattung der auswärtigen Dienste beider Länder, kein Faktor waren, der die Außenpolitik nachhaltig belastete. Im Gegenteil »[t]he reforms and innovations instituted for the Quai d'Orsay and the Wilhelmstrasse demonstrated an ability to respond creatively to the rigorous demands of twentieth-century diplomacy«236. Daß große Organisationen natürlich immer Reibungsverluste im Innern und mit der Umwelt haben, soll dabei ebenso wenig vergessen werden wie die Tatsachen, daß die Reformen oftmals auf Widerstände in den Ministerien trafen und viele Herausforderungen an die damalige Diplomatie neu waren und der Umgang damit erst gelernt werden mußte237. 232 Siehe GlRAULT, Europe, S. 105. Jeanneney stellt fest, daß sich die Ausbildung in wirtschaftlicher Hinsicht an der Ecole hauptsächlich auf die liberale Wirtschaftstheorie und die Ablehnung des Staatsinterventionismus beschränkte, siehe Jean-Nogl JEANNENEY, Pr6face, in: Richard F. KuiSEL, Le capitalisme et l'Etat en France. Modernisation et dirigisme au XX* siecle, Paris 1984, S. 7-15, hier S. 8. Zur Ausbildung speziell der Botschafter siehe Jean-Claude ALLAIN, Les ambassadeurs fran?ais en poste de 1900-1939, in: Rainer HUDEMANN, Georges Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 265-279, hier S. 273f. 233 Siehe V A I S S E , adaption, S. 1 5 4 ­ 1 6 2 . 234 Siehe K R ٢ G E R , Struktur, S. 155; BAECHLER, Stresemann, S. 472. 235 POST, Diplomatie, S. 262. Dies betraf besonders die Konkurrenz zwischen Anhängern der West- und Ostpolitik, siehe ibid. S. 262-264. 236 L A U R E N , Bureaucrats, S . 2 0 8 . 237 Siehe ibid. S. 209-221. 2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste 69 Die Interpretation der vermeintlichen Ineffizienz des Quai d'Orsay scheint mir dabei vor allem auf drei Faktoren zu beruhen: Erstens wird die Zwischen­ kriegszeit in Frankreich zu sehr als eine in sich geschlossene Periode gesehen, in der die Defizite des Friedensschlusses von 1918/19 direkt zur Niederlage des Jahres 1940 f٧hrten. Dies war jedoch nicht der Fall, denn wie in Deutsch­ land zeigte sich auch in Frankreich erst wδhrend der Weltwirtschaftskrise eine innen­ und außenpolitische Erosion, die für den Zeitraum bis 1929 nicht gegeben war. Außerdem wurde zweitens die vermeintliche oder tatsächliche Ineffizienz anderer französischer Behörden recht undifferenziert auf den Quai d'Orsay übertragen, obwohl das französische Außenministerium in vielerlei Hinsicht besser organisiert war als andere Ministerien238. Drittens hatte die französische Außenpolitik während des Untersuchungszeitraumes mit einer viel komplexeren Problemstellung zu kämpfen als die deutsche. Während es in Deutschland vor allem um Revision ging, wobei Frankreich als das größte Hindernis dieses Revisionsverlangens identifiziert wurde, war die französische Lage komplexer: Zwar war das Ziel der französischen Außenpolitik fur den Untersuchungszeitraum klar definiert, nämlich Sicherheit, vor allem (aber nicht nur) vor Deutschland. Die praktische Umsetzung jedoch war sehr schwierig, weil verschiedene, sich zum Teil ausschließende Politikentwürfe miteinander konkurrierten. Allein die Behandlung des ehemaligen Kriegsgegners war problematisch: Sollte er mit Macht niedergehalten werden oder sollte im Gegenteil durch Annäherung eine Befriedung erreicht werden? Durch das Verhalten der ehemaligen und momentanen Verbündeten wurde die Lage weiter kompliziert. Die Kleine Entente war militärisch schwach, untereinander zerstritten und deshalb nur bedingt brauchbar. Großbritannien zauderte, den eigenen Vorteil im Auge behaltend, und blieb ein bestenfalls halbherziger Verbündeter, der das Sicherheitsbestreben Frankreichs nicht oder mißverstand, aber dennoch nicht verprellt werden durfte, denn ein schlechter Verbündeter war schließlich besser als gar keiner. Schließlich war die Rolle der USA problematisch, die als politischer Faktor zwar weitgehend ausgeschieden, aber aufgrund ihrer zentralen wirtschaftlichen Rolle stets präsent waren. Auch hier galt es fur Frankreich, die eigenen Interessen zu wahren und dabei die USA als wichtigen Kreditgeber und potentiellen Verbündeten zu erhalten. Dabei fand sich Frankreich in einer Zwickmühle, zwischen, so behaupteten Freund und Feind, überzogenen Reparationsforderungen einerseits und dem ständigen Vorwurf mangelnder Zahlungsbereitschaft bei seinen Kriegsschulden andererseits. Insgesamt gesehen läßt sich also feststellen, daß sowohl Deutschland als auch Frankreich in den 1920er Jahren über einen funktionierenden administrativen Apparat für die Außenpolitik verfugten. Beide Länder hatten sich dabei 238 Siehe SHARP, Bureaucracy, S. 333-335. 70 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte den neuen Anforderungen ­ also vor allem neuen oder erweiterten Politikfel­ dern, wie Außenwirtschafts- und auswärtiger Kulturpolitik, und den neuen Methoden, wie der multilateralen Diplomatie im Rahmen von Botschafterkonferenz, Völkerbund und der internationalen Konferenzdiplomatie - im großen und ganzen angepaßt. Außerdem läßt sich konstatieren, daß viele administrative Änderungen ähnlich umgesetzt wurde, z.B. die Schaffung spezieller Wirtschafts- oder Presseäbteilungen, daß aber das Tempo der Reformen unterschiedlich war: In Frankreich über Jahre gedehnt, in Deutschland, vor allem als Ergebnis der Novemberrevolution und des verlorenen Krieges, stärker gedrängt239. 2.3. Die blockierte Modernisierung, 1919­1922 Die Modernisierung der Außenpolitik, die ab 1923 einsetzte, hatte eine Vorgeschichte: Vieles, was nach 1923 versucht wurde, war schon zuvor gedacht worden. Erst das Scheitern der Nachkriegspolitik bis 1923 kann erklären, warum und auf welche bereits vorher vorhandenen Ansätze zurückgegriffen wurde. Gleichzeitig waren viele Probleme der deutsch-französischen Beziehungen vor 1923 auch die der späteren Jahre. Die unmittelbar seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vorhandenen, vergleichsweise modernen Politikansätze blieben jedoch zunächst blockiert; das deutsch-französische Verhältnis oszillierte zwischen vorsichtigen Verständigungsbemühungen und Versuchen, die Situation mit Gewalt zu bereinigen, ohne daß eine der beiden Optionen zur vollen Anwendung kamen. Es hatte sich ein Kreislauf gebildet, indem gerade, als die eine Seite vorsichtigen Verständigungswillen andeutete, die andere Seite ihre Gangart verschärfte, was wiederum die Verständigungsbemühungen der ersten Partei frustrieren mußte und so fort. Kompliziert wurde das ganze Problem noch durch den Einfluß Dritter, vor allem das Verhältnis Frankreichs zu seinen ehemaligen Kriegsverbündeten. Kamen diese Frankreich entgegen, war Frankreich auch zu einer konzilianteren Politik gegenüber Deutschland bereit, fühlte Frankreich sich dagegen allein gelassen, zog es auch in der Deutschlandpolitik die Zügel an240. 239 Siehe Peter KRÜGER, Die deutschen Diplomaten in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in: Rainer HUDEMANN, Georges Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 281-291, hier S. 281,287. 240 Siehe Jacques BARI£TY, Die französische Politik in der Ruhrkrise, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 11-27, hier S. 17. 2.3. Die blockierte Modernisierung 71 Obwohl das Reparationsproblem beileibe nicht das einzige Problem war241, soll sich die Darstellung vor allem auf diese Frage konzentrieren, denn sie war die bei weitem wichtigste und drδngte die anderen Probleme weitgehend in den Hintergrund242. Sie »represented also a contest for dominance in the Euro­ pean economy, or more precisely a struggle over access to scarce capital and energy resources in a period of increasing competition and shrinking mar­ kets«243. Es waren vor allem die Reparationen, die die Labilitδt der deutsch­ franzφsischen Beziehungen so lange konservierten. Was die Lφsung dieser Frage so schwierig machte, war, daß sie mit so gut wie allen anderen Problemen der deutsch-französischen Beziehungen und des internationalen Systems zusammenhing: Sie war aufs engste mit wirtschaftlichen Fragen verknüpft, außerdem natürlich mit dem Problem der interalliierten Schulden. Die bedeutendste - und auch schwierigste - Verbindung ergab sich jedoch aus der Verknüpfung von Reparationsfrage und der Sicherheit Frankreichs, dem Kernanliegen französischer Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg244. Einmal ganz direkt: Die Stärkung der französischen Wirtschaftskraft und die Schwächung der deutschen verbesserte Frankreichs Sicherheitslage245. Außerdem konnte Deutschland das Geld, was es für Reparationen zahlen mußte, nicht zur Wiederaufrüstung verwenden246. Indirekt bestand eine Verbindung zwischen Sicherheits-, Reparations- und Rheinlandproblem. Gemäß Artikel 428 des Versailler Vertrags war die Besetzung des Rheinlands als Sicherheit für die Ausführung der Vertragsbestimmungen gedacht, also in erster Linie für die Reparationen, aber auch die Entwaffhungsbestimmungen etc. Seit Herbst 1918 rückte vor allem auf Betreiben Marschall Fochs247 der Rhein als militärische Grenze Frankreichs zunehmend in den Mittelpunkt der 241 Tatsδchlich waren die ersten auίenpolitischen Probleme, die nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags auftauchten, die Fragen nach der Auslieferung mutmaίlicher deutscher Kriegsverbrecher, allen voran WilhelmwvutsrnlihgfedcaRFE Π., und Fragen der Entwaffnung der Reichswehr, vgl. KRÜGER, Auίenpolitik, S. 95, 103. 242 So ٧bereinstimmend Marc TRACHTENBERG, Reparation in World Politics. France and European Economic Diplomacy, 1916­1923, New York 1980, S. VE; GLRAULT, Europe, S. 127; PEUKERT, Weimarer Republik, S. 65. 243 SCHUKER, French Predominance, S. 384. 244 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 27; BARLFITY, Relations franco­allemandes, S. 25. 245 Georges­Henri SOUTOU, Der Einfluί der Schwerindustrie auf die Gestaltung der Frank­ reichpolitik Deutschlands 1919­1921, in: Hans MOMMSEN, Dietmar PETZINA, Bernd WEISBROD (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.­17. Juni 1973, D٧ssel­ dorf 1974, S. 543­552, hier S. 543f. 246 Siehe Stephen A. SCHUKER, The Rhineland Question. West European Security at the Paris Peace Conference of 1919, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 275­312, hier S. 294. 247 Zu den Plδnen Fochs siehe Gitta STEINMEYER, Die Grundlagen der französischen Deutschlandpolitik 1917-1919, Stattgart 1979, S. 99-101. 72 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte άberlegungen, um die franzφsische Sicherheit dauerhaft vor seinem großen östlichen Nachbarn zu sichern248. In Anlehnung an Aufzeichnungen Fochs vom Ende des Jahres 1918 und Anfang 1919249 legte Andre Tardieu in einer Denkschrift vom 25. Februar 1919 die Ziele der französischen Rheinlandpolitik dar250: Der Rhein und die rechtsrheinischen Brückenköpfe sollten die militärische und ökonomische Grenze Frankreichs werden, das Rheinland selbst ein weitgehend autonomer Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich, natürlich mit starker Anbindung an Paris. Foch, zu diesem Zeitpunkt unumschränkter Herrscher über das Rheinland - seine Truppen hatten nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November 1918 das Rheinland besetzt und es herrschte das Kriegsrecht - , versuchte unterdessen, Fakten zu schaffen: Er beauftragte Paul Tirard, der seine Überlegungen bezüglich des Rheinlands teilte, mit dem Aufbau ziviler administrativer Organe, die dem Stab Fochs angegliedert waren. Maugas wurde von Foch mit dem Aufbau einer Wirtschaftsverwaltung betraut, der die Aufgabe zukam, enge Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Belgien einerseits und dem Rheinland andererseits herzustellen251. Besonders der Aufbau der Wirtschaftskontakte gestaltete sich jedoch schwierig, da die rheinische Industrie der französischen so überlegen war, daß französische Präferenzzölle fur rheinische Waren die eigene Wirtschaft hart getroffen hätten252. Bei den Friedensvertragsverhandlungen konnte Clemenceau die weitreichenden Forderungen, die Foch und andere hinsichtlich des Rheinlands stellten, nicht durchsetzen: Die französischen Pläne stießen bei den Alliierten und Assoziierten, die die Etablierung einerfranzösischenHegemonie auf dem Kontinent fürchteten, auf wenig Gegenliebe. Darüber hinaus war Clemenceau selbst davon überzeugt, daß das Bündnisabkommen, das er den Amerikanern und Briten abgerungen hatte, eine weitaus bessere Sicherheitsgarantie darstellte alsfranzösischeTruppen am Rhein, auf deutschem Gebiet mit einer Bevölkerung, die für die Besatzungsmacht wenig Wohlwollen hegte253. Nach der Bündniszusage Wilsons und Lloyd Georges gab sich der französische Ministerpräsident - zum Ärger Fochs254 und Zum folgenden vgl.YTSRONJIEBA BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 26-32; JEANNESSON, Poincarö, S. 27. 249 Siehe JeanvutsrponmlihgfedcaVSPMF ΑυτΠΝ, Foch ou le triomphe de la volonte, Paris 32000, S. 278f. Vgl. auch Memorandum Fochs an die Bevollmächtigen der Mächte (10.1.1919), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations concemant les garanties de s6curit6 contre une agression de l'Allemagne (10 janvier 1919-7 dicembre 1923), hg. v. Ministöre des affaires dtrangeres, Paris 1924, Nr. 1. 250 Abgedruckt in: TARDIEU, Paix, S. 165-184 und in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux ndgociations concemant les garanties de s6curit6 1924, Nr. 2. 251 Siehe BARifiTY, Relations franco-allemandes, S. 34-36. 252 Siehe SCHUKER, Rhineland Question, S. 290. 253 Siehe BARISTY, Relations franco-allemandes, S. 46. 254 Siehe Aufzeichnung Foch (31.3.1919), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs 248 2.3. Die blockierte Modernisierung 73 Poincares255, der zu diesem Zeitpunkt Staatsprδsident war ­ mit einer auf 15 Jahre befristeten Besetzung des Rheinlands zufrieden und stimmte auch dem Be­ satzungsstatut256 zu, indem die Rechte der Alliierten und die administrativen Grundlagen f٧r die Besetzung festgelegt wurden. Im Rheinlandstatut wurde die deutsche Verwaltungshoheit wiederhergestellt. Als zentrales alliiertes Organ wurde die Haute commission interalliee des territoires rhenans (H.C.I.T.R) geschaffen, in der die alliierten Kommissare die Grundlagen der Besatzungspolitik bestimmten. Es handelte sich bei der H.C.I.T.R. um eine zivile Behφrde, die den militδrischen Stellen im Rheinland ٧bergeordnet war. Allerdings war die neue Behφrde immer noch ein machtvolles Mittel in den Hδnden Frankreichs: Ihr Prδsident wurde Tirard, ein Exponent der franzφsischen Rheinlandpolitik, und sie konnte Verordnungen erlassen, an die sich sowohl die Besatzungstruppen wie auch die deutsche Verwaltung zu halten hatten257. Besonders nach dem Auszug der Amerikaner aus der H.C.I.T.R. hatte Frankreich in diesem Gremium fast immer die Mehrheit, da der belgische Kommissar in der Regel seinem franzφsischen Kollegen folgte und bei Stimmengleichheit die Stimme des franzφsischen Vorsitzenden entschied258. Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch die USA δnderte hin­ sichtlich der Sicherheitsfrage jedoch f٧r Frankreich alles: Dadurch wurden auch die Beistandspakte mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien hinfällig. Das Sicherheitsprogramm Frankreichs, das zum Großteil auf diesen Bündniszusagen ruhte, drohte Makulatur zu werden259, denn der Alternative einer aktiven französischen Rheinlandpolitik im Sinne einer Perpetuierung der Besetzung und Autonomisierung des Rheinlandes - war durch das Rheinlandstatut und den Versailler Vertrag zunächst ein Riegel vorgeschoben. Allerdings gewannen die Anhänger einer aktiven französischen Rheinlandpolitik zu denen neben Fochdie Deputierten Maurice Barres, Tardieu, Barthou, Leon Daudet, Louis Marin, Desire Ferry und als Lobby vor allem der Comite de la rive gauche du Rhin zählten, der seine Mitglieder aus den Reihen der Politik, des Militärs, und rechter Intellektueller rekrutierte - wieder an Zulauf, ohne aux negotiations concemant les garanties de sdcuriteiheSONJEA 1924, Nr. 5, Foch an Clemenceau (5.5.1919), ibid. Nr. 9, und Auszug aus dem Protokoll der Vollversammlung der Friedenskonferenz (6.5.1919), ibid. Nr. 13. 255 Siehe Pomcard an Clemenceau (28.4.1919), ibid. Nr. 8. 256 Das Rheinlandstatut wurde zusammen mit dem Versailler Vertrag am 28.6.1919 unterzeichnet. Der Text findet sich u.a. in: o.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 242­246. 257 Siehe Pierre JARDIN, La politique rh6nane de Paul Tirard, in: Revue d'AUemagne et des pays de langue allemande 21/2 (1989), S. 208­216, hier S. 208. 2S! »Ainsi, on le voit, la >d6faite< de Foch n'etait pas totale«, BARIETY, Relations francoallemandes, S. 61. 2S ' Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 29. 74 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte daß es freilich eine direkte Beeinflussung der französischen Außenpolitik durch diese »Rheinland-Lobby« gegeben hätte260. Allerdings bestand zwischen der Reparations- und Sicherheits- (sprich: Rheinland-)Politik ein grundsätzlicher Widerspruch261. Es mußte aus wirtschaftlichen Gründen im Interesse Frankreichs sein, ein Maximum an deutschen Reparationen zu erhalten, um die verwüsteten Gebiete Nordostfrankreichs schnell wieder aufzubauen und Deutschland auf den Weltmärkten Paroli bieten zu können. Dies setzte aber voraus, das Deutschland ökonomisch leistungsfähig und als wirtschaftliche und politische Einheit erhalten blieb. Sicherheitspolitisch betrachtet war es dagegen geboten, Deutschland wirtschaftlich zu ruinieren und als Staat zu zerschlagen. Die Reparationen wurden in diesem Konzept nur noch zum Instrument der französischen Sicherheitspolitik: Die Reparationslasten sollten so hoch gesetzt werden, daß Deutschland sie gar nicht erfüllen konnte, was als Verstoß gegen die Bedingungen des Versailler Vertrags mit einer Verlängerung der Besatzungsfristen (Artikel 430 des Versailler Vertrags) geahndet werden konnte. Das Dilemma fur Frankreich war offensichtlich: Entweder ein relativ starkes und wohlhabendes Deutschland, das kräftig Reparationen zahlen konnte, oder ein zerschlagenes Deutschland, von dem an wirtschaftlicher Wiederaufbauhilfe nichts zu erwarten war. Bis 1924 lavierte die französische Politik zwischen diesen beiden Optionen262. Gründe hierfür waren der häufige Wechsel des politischen Personals und die oft unklare Politik insbesondere Großbritanniens, das weder bereit war, Frankreich ausreichende Sicherheitsgarantien zu geben, noch diese gänzlich ablehnte, wodurch sich Paris in einem sicherheitspolitischen Nirwana befand. Die mal konziliantere, mal halsstarrigere Haltung Deutschlands erschwerte die französische Positionsbestimmung weiter, wobei jedoch die Voraussetzung für eine kontinuierliche deutsche Außenpolitik denkbar schlecht waren263: Die junge Republik wurde von Putschversuchen von rechts und links heimgesucht, und es kam aufgrund der schwierigen innenpolitischen Lage zu häufigen Regierungswechseln. Allein schon wegen dieser Probleme, die durch die Umstrukturierung des AA und das Fehlen von geeignetem Führungspersonal weiter erschwert wurden, »konnte von einer konsequenten, eindeutigen Linie der deutschen Außenpolitik 1919 bis 1923 keine Rede sein«264. Die Bürde des verlorenen Krieges und des von Deutschland als »Schandfrieden« und »Diktat« empfundenen Versailler Vertrags, zusammen mit seiner außenpolitischen 260 Siehe ibid. S. 30-33; WURM, Rolle Deutschlands, S. 153f. Vgl. hierzu: BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 65f.; JEANNESSON, Poincar6, S. 33; GlRAULT, Europe, S. 101, 128f.; REMOND, Frankreich, S. 90. 262 In diesem Sinne auch Keiger: »Viewed positively it was a policy of many strands; more negatively it was a cluster of confused and contradictory policies variously grasped at by an anxious and insecure power«, KEIGER, Poincare, S. 278. 263 Zum folgenden siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 77-79. 264 Ibid. S. 78. 261 2.3. Die blockierte Modernisierung 75 Isolierung und fehlenden Machtmitteln, erschwerten die Entwicklung von tragfδhigen außenpolitischen Konzepten und machten Deutschland mehr zum Objekt denn zu einem Akteur in den internationalen Beziehungen. Die Revision des Versailler Vertrags blieb zwar wichtigstes und vordringliches Ziel deutscher Politik, allerdings war man sich in der Wilhelmstraße nicht darüber einig, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Neben Überlegungen zur Zusammenarbeit mit den Siegern, zur Wiedereingliederung Deutschlands in ein liberales Weltwirtschaftssystem und zur Schaffung einer internationalen Staatengemeinschaft, die auf Recht, kollektiver Sicherheit und Schiedsgerichtsbarkeit ruhen sollte, gab es durchaus auch Konzeptionen, in denen die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion angestrebt wurde, um nötigenfalls gewaltsam die Ergebnisse von Versailles umzustoßen. Wieder andere versuchten, die Allianz der Gegner zu unterminieren und die Sieger gegeneinander auszuspielen, wobei die deutschen Möglichkeiten aber überschätzt wurden. Insgesamt war die deutsche Politik defensiv in dem Sinne, daß verbittert versucht wurde, in Entscheidungen, die durch den Versailler Vertrag noch nicht endgültig herbeigeführt waren (Oberschlesien, Höhe und Konditionen der Reparationen usw.), möglichst den Besitzstand zu waren. Konstruktive Elemente gab es kaum. Selbst die Erfiilhingspolitik265 Wirths war ja im Grunde genommen kein positiver Ansatz: Dem Gegner zu zeigen, daß selbst beim besten Willen seine Forderungen nicht zu erreichen sind, um ihn dadurch zum Nachgeben zu zwingen, nahm durchaus die Logik der brüningschen Katastrophenpolitik in der Weltwirtschaftskrise vorweg. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß weder Frankreich noch Deutschland über ein schlüssiges außenpolitisches Konzept verfugten. Die Modernisierung der Außenpolitik kam zunächst nicht zustande, weil in beiden Ländern eine klare politische Linie fehlte. Es gab vielmehr unterschiedliche, konkurrierende Ansätze, wie an den Ereignissen der Jahre 1919 bis 1922 deutlich wurde. Die erste große Etappe der Reparationspolitik nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Konferenz von Spa (5.-16. Juli 1920) dar266. Dabei konnte Deutschland erreichen, daß es weniger Kohlen als Reparationen liefern mußte (die Menge wurde von 2,4 auf 2 Mio. t pro Monat reduziert). Um die wirtschaftliche Lage in Deutschland zu verbessern und die Kohlenförderung anzukurbeln, wurden für die Reparationskohlen zusätzlich befristet Vorschüsse und Exportprämien bezahlt. Außerdem wurden die Fristen für den Personalabbau der Reichswehr verlängert. Allerdings scheiterte die deutsche Delegation, die erstmals wieder zu Verhandlungen zugelassen war, mit ihrem Versuch, über die Reparationsfrage zur Revision anderer wesentlicher Bestimmungen des 265 Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 55. 266 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 104-111; DUROSELLE, Histoire, S. 15; FISCHER, Ruhr Crisis, S. 18. 76 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Friedensvertrags zu gelangen. Wichtigstes Ergebnis von Spa war, daß sich die Alliierten darauf verständigen konnten, wie die deutschen Reparationen untereinander aufgeteilt werden sollten: Frankreich sollte 52 Prozent, das Britische Empire 22, Italien 10, Belgien 8, Portugal und Japan jeweils 0,75, Jugoslawien 5, Griechenland 0,4 und Rumänien 1,1 Prozent der Reparationen erhalten, über deren Höhe aber noch keine Einigung erzielt werden konnte267. Bereits vor Spa war es auf französischer Seite allerdings zu einem gewissen Meinungswechsel, was die Deutschlandpolitik anging, gekommen. In seinen Instruktionen für den französischen Geschäftsträger in Berlin, Henri de Marcilly, stellte der noch amtierende Außenminister Stephen Pichon fest268, daß das Ziel der bisherigen Reparationspolitik - hohe Reparationsleistungen bei einer gleichzeitig möglichst starken Schwächung Deutschlands - unerreichbar sei. Außerdem sei nicht davon auszugehen, daß die deutsche Regierung sich weigere, seinen Pflichten aus dem Versailler Vertrag nachzukommen, sondern vielmehr aufgrund des starken innenpolitischen Drucks von rechts und links nur wenige Möglichkeiten zur Vertragserfüllung habe. Es gebe Anzeichen dafür, daß die deutsche Politik zunehmend von ihrer Verweigerungshaltung abgehe und statt dessen die Revision des Vertrags anstrebe. Auch von seiten der deutschen Industrie gebe es zunehmend Signale für eine Zusammenarbeit mit Frankreich. Pichon schloß: »Nous n'avons aucune raison pour ne pas reprendre avec l'Allemagne des relations commerciales actives, mais ces relations seront dictees uniquement par notre interet, et celui-ci dependra du traitement que l'Allemagne nous accordera«269. Allerdings wurde zu diesem Zeitpunkt noch keine Schlußfolgerung für die zu verfolgende Politik gegenüber Deutschland gezogen: Zunächst gelte es, abzuwarten. Aber die Dinge entwickelten sich: In dem Maße, in dem die deutschen Zahlungsschwierigkeiten zunahmen270, wuchs in Frankreich die Ansicht, daß die Reparationen vernünftigerweise vor allem durch Sachlieferungen geleistet werden sollten. Außerdem setzte sich in der französischen Regierung, die seit Januar 1920 von Millerand geleitet wurde, zunehmend die Ansicht durch, daß das durch den Versailler Vertrag in Teil VIII Anhang IV etablierte System für die Sachlieferungen zu bürokratisch war und für Frankreich nicht schnell genug die zum Wiederaufbau benötigten Leistungen erbrachte271. Nachdem zu267 Allerdings war man zu einer prinzipiellen Anerkennung des »Plan de Boulogne«, der f٧nf Annuitδten zu 3 Mrd. GM, f٧nf Annuitδten zu 6 Mrd. GM und 32 Annuitδten zu 7 Mrd. GM vorsah, gekommen, siehe SAUVY, Histoire economique, Bd. 1, S. 138, 143. 268 Vgl. Pichon an de Marcilly (13.1.1920), in: MAE PAAP 261, 1. Aus einer handschriftli­ chen Notiz geht hervor, daί Seydoux Urheber der Aufzeichnung war. 269 Ibid. 270 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 116. 271 Siehe Georges­Henri SOUTOU, Probltoies concemant le rdtablissement des relations 6co­ nomiques franco­allemandes apres la Premiere Guerre mondiale, in: Francia 2 (1974), S. 580­596, hier S. 581. 2.3. Die blockierte Modernisierung 77 vor Gesprδche ٧ber Fragen der Schwerindustrie zwischen Deutschland und Frankreich Anfang 1920 an der Weigerung der deutschen Schwerindustrie, an solchen Verhandlungen teilzunehmen, gescheitert waren und die deutsche Re­ gierung bei den Verhandlungen in Spa ein vφllig unzureichendes Angebot fur die Sachlieferungen gemacht hatte272, setzte Millerand, inspiriert von Seydoux, zunehmend auf eine aktivere Politik. Die deutsche Regierung hielt man fiir zu schwach, um konstruktive Vorschlδge zu machen, und zu England befand man sich nicht nur in Reparationsfragen zunehmend im Widerspruch273. Millerand ging von der These aus, daß es vor allem die wirtschaftlichen Probleme seien, die die Politik in Europa während der nächsten Jahre prägen würden, und daß die Ziele der deutschen Außenpolitik die Revision des Versailler Vertrags und der wirtschaftliche Wiederaufstieg seien274. Eine Revision des Versailler Vertrags könne aber nur dann vermieden werden, wenn es der französischen Politik gelänge, Deutschland begreiflich zu machen, daß der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nicht im Widerspruch zum Versailler Vertrag stehe. Nur so könne verhindert werden, daß Frankreich zum Sündenbock für die deutsche Wirtschaftskrise gemacht werde und sich die Alliierten, angestoßen durch Keynes275, für eine weitgehende Revision des Versailler Vertrags stark machten: »Le resultat de cette situation est qu'il nous faut nous-memes nous occuper du relevement economique de l'Allemagne, de fa?on ä le Her au nötre dans la mesure qui nous semblera preferable, ä Pempecher de se dresser contre nous et ä en tirer les avantages qu'il peut nous procurer«276. Millerand begründete eine derart gestaltete Zusammenarbeit damit, daß im Bereich der Wirtschaft momentan die einzige Möglichkeit bestehe, zu einer Annäherung mit Deutschland zu kommen daß und die Nachbarschaft beider Länder eine Zusammenarbeit zwingend notwendig mache, zumal sich Deutschland und Frankreich wirtschaftlich ergänzten: Deutschland habe die Kohlen und Frankreich das Erz für die Stahlerzeugung. Während in Frankreich Arbeitskräftemangel herrsche, habe Deutschland die notwendigen Arbeitskräfte. Auch gegenüber England und den USA bestehe eine Interessengemeinschaft zwischen Deutschland und Frankreich: Auf den Rohstoffmärkten könne man gemeinsam auftreten, und durch französische Kapitalbeteiligungen an der deutschen Wirtschaft könne die einseitige Abhängigkeit Deutschlands von amerikanischem 272 273 Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 156, 159. Siehe ibid. S. 165, 168f. 274 Zum folgenden siehe Instructions ä l'ambassadeur de France ä Berlin [Charles Laurent] (26.6.1920), MAE, PAAP 261, 1. Die Aufzeichnung ist ohne Unterschrift, jedoch wahrscheinlich von Millerand. Aus einer handschriftlichen Anmerkung geht hervor, daß das Schreiben von Seydoux vorbereitet worden war. 275 John Maynard Keynes' »The Economic Consequences of the Peace« war 1920 erschienen. 276 Instructions ä l'ambassadeur de France ä Berlin [Charles Laurent] (26.6.1920), MAE, PAAP 261, 1. Zum folgenden ibid. 78 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte und englischem Kapital vermieden werderi. Auch in Osteuropa sei eine deutsch­franzφsische Kooperation anzustreben, da Deutschland andernfalls versuchen werde, seinen wirtschaftlichen Einfluß dort zum Schaden Frankreichs durchzusetzen. Da Deutschland außerdem bezüglich Rußlands allein aufgrund seiner geographischen Lage im Vorteil sei, könne Frankreich, bei einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Deutschland, auch daraus wichtige Vorteile ziehen. Entlang der hier skizzierten Linie entwickelte Frankreich bis zur Brüssler Konferenz (16.-22. Dezember 1920) den sogenannten Seydoux-Plan277. Er sah vor, daß die Sachlieferungen vereinfacht und sozusagen kommerzialisiert werden sollten: Französische Firmen sollten direkt bei deutschen Lieferanten bestellen, die von der deutschen Regierung - in Papiermark - aus einem noch zu schaffenden Reparationsfond bezahlt werden sollten. Später wurde das System noch um die Bereitstellung von Arbeitskräften und die Verrechnung von französischen Exporten nach Deutschland erweitert, das Grundprinzip aber blieb bestehen. Das von Frankreich ins Spiel gebrachte System hatte gegenüber den bestehenden Bestimmungen einige entscheidende Vorteile: Es kurbelte die deutsche Wirtschaft an, da diese nun ein Interesse an Exporten nach Frankreich haben mußte, und deckte den französischen Bedarf bei gleichzeitiger Ausschaltung des Transferproblems, das die ohnehin trudelnde deutsche Währung weiter belastete. Durch die Deckung des französischen Importbedarfs durch Deutschland auf Reparationskosten konnten darüber hinaus Importe aus den USA und England verringert werden, was die stark negative französische Zahlungsbilanz entlastete - und so auch den Abwertungsdruck vom französischen Franc nahm. Außerdem wurde der französische Staat, der den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete in Nordostfrankreich bisher durch Vorschüsse aus den zu erwartenden deutschen Reparationszahlungen finanziert hatte, entlastet, was dem französischen Budget und dem Kurs des Franc ebenfalls nur nutzen konnte. Aber auch politisch hatte das Projekt seinen Charme: Es konnte einen ersten Schritt zur Aussöhnung bilden, indem es auch für Deutschland Vorteile versprach. Da Frankreich außerdem wenig Hoffnung hatte, Deutschland langfristig militärisch in Schach halten zu können, lag in der Zusammenarbeit auch eine Möglichkeit, die eigene Sicherheitslage zu verbessern. Darüber hinaus näherte dieses Projekt die Position Frankreichs an die seiner ehemals Alliierten an, die in der Reintegration Deutschlands in die Weltwirtschaft das beste Mittel sahen, die wirtschaftlichen Kriegsfolgen zu beseitigen. Eine deutsch-französische Wirtschaftskooperation, in der Frankreich vom Aufschwung Deutschlands profitierte, ließ die Widerstände in Paris dagegen schwinden. 277 Zum folgenden siehe KRÜGER, Auίenpolitik,. S. 117f.; TRACHTENBERG, Reparation, S. 157­160. 2.3. Die blockierte Modernisierung 79 Trotz der vielen Vorteile scheiterte der Seydoux­Plan278: Die franzφsische Industrie f٧rchtete, durch umfangreiche deutsche Reparationslieferungen aus dem lukrativen Aufbaugeschδft gedrδngt zu werden. Die deutsche Industrie, die langfristig von ihrer eigenen άberlegenheit gegen٧ber der franzφsischen ausging, war ebenfalls nicht geneigt, an dem Plan mitzuwirken, der eine dau­ erhafte Beschrδnkung des deutschen wirtschaftlichen Einflusses bedeutet hδt­ te. Auch die deutsche Regierung konnte sich, trotz der positiven Bewertung des Vorschlags durch Außenminister Simons, nicht zu einer vollen Unterstützung des Planes durchringen, und selbst Schubert nahm eine kritische Haltung gegenüber den französischen Vorschlägen ein. Vor allem aber torpedierten die Engländer seit August 1920 die französischen Vorstöße aus Sorge, daß der von Seydoux vorgeschlagene Plan zu einer Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland zum Schaden Englands führen könnte. Der Seydoux-Plan und der, wenn man so will, Paradigmenwechsel der französischen Außenpolitik zu Anfang des Jahres 1920 machen deutlich, daß bereits vor dem Ruhrkampf in Frankreich Ansätze zu einer kooperativen Außenpolitik bestanden, die im Sinne der Definition immerhin begrenzt modern war: An Stelle von Hegemonie und Niederhaltung des ehemaligen Kriegsgegners traten Elemente der Aussöhnung, basierend auf wirtschaftlicher Kooperation und gemeinsamer Interessen. Am Seydoux-Plan wurde aber auch deutlich, daß eine modernere Außenpolitik, deren Konzeption übrigens keineswegs mit dem Amtsantritt Millerands in eins fiel, wie die Instruktionen von Clemenceaus Außenminister Pichon zeigen, zum Scheitern verurteilt war, solange nicht eine Reihe von Bedingungen erfüllt wurde. Es genügte nicht, einen durchdachten und vorteilhaften Plan zu haben. Auf beiden Seiten mußte die Bereitschaft vorhanden sein, konstruktiv über einen Plan verhandeln zu wollen, was eine allzu große interne Opposition ausschloß. Angesichts des vehementen Widerstandes der deutschen und teilweise auch der französischen Industrie war es fraglich, ob die beiden Regierungen, selbst wenn sie sich untereinander einig gewesen wären, den Plan hätten umsetzen können. Außerdem wurden die Interessen Dritter unzureichend berücksichtigt. Die implizit antiangloamerikanische Spitze des Projekts mußte dessen Realisierungschancen von vornherein stark einschränken. Es ist aber fraglich, ob der Plan bei günstigeren Bedingungen Erfolg gehabt hätte, denn es gab einen grundlegenden Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Position, dem der Plan keine Rechnung trug. Während Frankreich versuchte, durch eine begrenzte wirtschaftliche Wiederaufrichtung Deutschlands die Revision des Versailler Vertrags gerade zu verhindern, wollte Deutschland durch die Mobilisierung seines wirtschaftlichen Potentials den 278 Zum Scheitern des Seydoux-Plans siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 117f.; TRACHTENBERG, Reparation, S. 161f., 179f., 184f.; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 16. 80 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte Friedensvertrag gerade zu Fall bringen. Es war deshalb mehr als zweifelhaft, ob Deutschland sich als Juniorpartner Frankreichs in wirtschaftlichen Fragen, wie es die franzφsischen Plδne letztendlich vorsahen, abgefunden hδtte. Eine solche Konstellation, die dem tatsδchlichen wirtschaftlichen Gewicht der bei­ den Lδnder nicht entsprach, war aber eben gerade keine im Sinne der Definiti­ on moderne Politik, denn das Ziel war nicht der Interessenausgleich, sondern ein st٧ckweises Entgegenkommen Frankreichs, um im großen und ganzen den durch den Versailler Vertrag geschaffenen Status quo zu zementieren. Nichtsdestotrotz zeigte dieses Projekt, daß französischerseits durchaus der Wille zu einer moderneren Außenpolitik vorhanden war. Auf den folgenden Reparationskonferenzen wirkten die Folgen des Seydoux-Plans und seines Scheiterns nach. Die wichtigsten Ergebnisse der Pariser Konferenz (24.-29. Januar 1921) waren, daß sich die Alliierten auf eine Reparationssumme von 226 Mrd. GM einigten, die in Annuitäten von zunächst 2, später bis zu 6 Mrd. GM geleistet werden sollte. Zusätzlich sollten 12 Prozent des deutschen Exporterlöses als Reparationszahlungen abgeführt werden279. Während die Höhe der Reparationszahlungen in den Augen der Engländer nicht endgültig war, lag die Bedeutung der Konferenz vor allem darin, daß Frankreich erstmals eine pauschale Reparationssumme anerkannt hatte. Zuvor hatte Paris darauf bestanden, daß sich die Höhe der deutschen Zahlungen nach den tatsächlich entstandenen Schäden richten mußte. Die Höhe der Reparationen stieß in der deutschen Öffentlichkeit aber auf energische Ablehnung und führte zunächst dazu, daß über die Sachlieferungen nicht weiter verhandelt wurde und sich die Beziehungen zwischen Deutschland und den Alliierten dramatisch verschlechterten. Erst im Sommer 1921 kam es zu einer Wiederaufnahme der deutsch-französischen Gespräche über die Sachlieferungen280. Entsprechend schlecht waren die Erfolgsaussichten für die Londoner Konferenz, die vom 1. bis 7. März 1921 tagte. Die deutsche Delegation kam weitgehend unvorbereitet und konnte den begrenzten guten Willen, der ihr von Briand, der inzwischen französischer Ministerpräsident geworden war, und Lloyd George entgegengebracht wurde, nicht nutzen281. Sie legte einen Vorschlag vor, der Reparationszahlungen in Höhe von insgesamt 30 Mrd. Goldmark, die Rückgabe ganz Oberschlesiens an Deutschland und die Aufhebung aller Wirtschaftsbeschränkungen aus dem Versailler Vertrag beinhaltete. Angesichts der zuvor von den Alliierten festgelegten 226 Mrd. GM mußte das deutsche Angebot als Provokation erscheinen282. Die Siegermächte reagierten mit der Besetzung Düsseldorfs, Ruhrorts und Duisburgs. England behielt 50 Prozent der 279 280 281 282 Siehe Siehe Siehe Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 53. TRACHTENBERG, Reparation, S. 189f. KR٢GER, Auίenpolitik, S. 123. JEANNESSON, Poincari, S. 54. 2.3. Die blockierte Modernisierung 81 Exporterlφse der rheinischen Wirtschaft ein, und es wurde eine Zollmauer zwischen Restdeutschland und dem besetzten Gebiet errichtet283. Der Druck der Besetzung verfehlte indes nicht eine gewisse Wirkung: Die deutsche Regierung legte am 24. April 1921 ein neues Reparationsangebot vor284. Es sah Zahlungen in Hφhe von 50 Mrd. GM vor, ebenso eine alliierte Anleihe zur St٧tzung der deutschen Wδhrung und zur Ankurbelung der deut­ schen Wirtschaft. Ein Expertenkomitee sollte die Zahlungsfδhigkeit Deutsch­ lands untersuchen ­ ein Element, das beim Dawes­Plan wieder auftauchen sollte bevor die Zahlungsmodalitδten festgelegt werden sollten. Ein Teil der Reparationsschuld sollte durch den Wiederaufbau der zerstφrten Gebiete in Frankreich durch deutsche Arbeitsleistung und Sachlieferungen geleistet wer­ den. Außerdem bot Deutschland an, einen Teil der alliierten Schulden bei den USA zu übernehmen, was jedoch sowohl'Von Washington als auch von Paris sofort abgelehnt wurde: Die Vereinigten Staaten verhinderten dies, da so eine direkte Verknüpfung von Reparationen und interalliierten Schulden geschaffen worden wäre, und Frankreich fürchtete, daß, wenn es selbst nicht mehr Reparationsgläubiger Deutschlands sei, es die Möglichkeit zu Sanktionen verlieren würde. Als Zeichen des guten Willens bot Deutschland schließlich die sofortige Zahlung von 1 Mrd. GM an. Allerdings stellte die Reichsregierung auch Gegenforderungen: Es sollte zu keinen weiteren Gebietsabtretungen mehr kommen (gedacht war vor allem an Oberschlesien, wo die Volksabstimmung, die über die Zugehörigkeit des Gebiets zu Polen oder Deutschland entscheiden sollte, am 20. März 1921 stattgefunden hatte und die mit 60 Prozent zugunsten Deutschlands ausgegangen war), außerdem wurde verlangt, die wirtschaftlichen Sanktionen und die Liquidation deutschen Vermögens im Ausland zu stoppen und Deutschland von den Besatzungskosten zu entlasten. Auch dieser Vorschlag fand, weil immer noch völlig unzureichend, bei den Alliierten wenig Anklang: Am 30. April 1921 legten sie ihre Reparationsforderungen in Höhe von 132 Mrd. GM vor. Die deutsche Regierung unter Reichskanzler Wirth lehnte zunächst ab, beugte sich aber einem alliierten Ultimatum vom 5. Mai 1921, indem die Alliierten eine Besetzung des Ruhrgebiets androhten, falls Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen nicht anerkennen sollte285. Das Londoner Ultimatum bestärkte die Regierung Wirth in der Verfolgung ihres außenpolitischen Ansatzes, der Erfullungspolitik286. Diese hatte zwei Ziele: Durch die Demonstration des guten Willens bei den Reparationszahlungen wollte die deutsche Regierung in technischen Verhandlungen versuchen, in kleinen Schritten die Revision des Versailler Vertrags voranzutreiben. Au283 284 285 286 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 124. Zum folgenden siehe ibid. S. 128. Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 49. Zur Erfullungspolitik siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 91f., 132f. 82 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte ßerdem beabsichtigte Wirth, durch den Versuch der Erfüllung der in deutschen Augen völlig überzogenen Reparationsforderungen den Alliierten zu zeigen, daß eine Verringerung der Zahlungen notwendig war, weil sie Deutschlands Leistungsfähigkeit weit überschritten. Bedeutung hatte die Erfüllungspolitik nicht nur für die Reparationspolitik, sondern vor allem im Hinblick auf Oberschlesien287. Nachdem, wie gesagt, die Volksabstimmung zugunsten Deutschlands ausgegangen war, hatte die deutsche Regierung in einer Note am 1. April 1921 ganz Oberschlesien für sich beansprucht. Die englische Regierung, die den deutschen Forderungen prinzipiell wohlwollend gegenüberstand, konnte mit Frankreich, das dieses wichtige Industriegebiet seinem polnischen Verbündeten zukommen lassen wollte, zu keiner Einigung kommen. Paris und London übergaben deshalb am 12. August 1921 die Oberschlesienfrage dem Völkerbund zur Entscheidung. In dieser Situation, in der die Entscheidung über Oberschlesien - aus dem immerhin ein Viertel der deutschen Kohlenproduktion stammte - offen war, erhoffte sich die deutsche Regierung durch die loyale Erfüllung ihrer Reparationsverpflichtungen eine Entscheidung zu ihren Gunsten. Als der Völkerbund am 12. Oktober 1921 seine Entscheidung zur Teilung des Gebiets bekannt gab - wobei die wirtschaftlich wichtigen Teile an Polen gingen - , bedeutete dies einen schweren Rückschlag für die deutsche Außenpolitik im allgemeinen und die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen im besonderen. Dabei hatte es seit dem Londoner Ultimatum wichtige Fortschritte gegeben. Nach einer Initiative des Reichsministers für Wiederaufbau, Walther Rathenau288, kam es am 12. Juni 1921 zu einem ersten Treffen zwischen ihm und dem französischen Minister für die befreiten Gebiete, Louis Loucheur289. Beide wollten zu einer Lösung für das Problem der Sachlieferungen gelangen, für das nach dem Scheitern des Seydoux-Projekts immer noch keine zufriedenstellende Regelung gefunden worden war. Rathenau schlug in Anlehnung an die Pläne Seydoux' vor290, daß Deutschland im Zeitraum von 1921 bis 1924 Waren im Wert von 9 Mrd. GM an Frankreich liefern sollte. Das Geld für diese Sachlieferungen sollte durch Anleihen der Reichsregierung aufgebracht werden, die zu einem Drittel auf dem deutschen und zu zwei Dritteln auf dem französischen Markt piaziert werden sollten, was das im Seydoux-Plan zunächst ausgeklammerte Problem der Einrichtung eines Reparationsfonds löste. 287 Zur Oberschlesienfrage siehe ibid. S. 134f. Zur Behandlung des Problems durch den Völkerbund siehe PFEIL, Völkerbund, S. 70-73. 288 Rathenau wurde erst am 31.1.1922 Reichsaußenminister. Zum Zeitpunkt der Gespräche zwischen Rathenau und Loucheur war Friedrich Rosen Chef des AA, siehe AdR Wirth I/II Bd. 2, S. 1173. 289 Siehe itienne WEILL-RAYNAL, Les r6parations allemands et la France, Bd. 2: L'application de l'6tat des payements, l'occupation de la Ruhr,wvutsrponlihedaSPMDA Γ institution du plan Dawes (Mai 1921­Avril 1924), Paris 1947, S. 29. 290 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 146. 2.3. Die blockierte Modernisierung 83 Die ٧brigen Modalitδten δhnelten den zuvor ins Spiel gebrachten Bestimmun­ gen: Kommerzialisierung der Lieferungen, d.h. direkte Bestellung des franzφ­ sischen Auftraggebers beim deutschen Produzenten. Loucheur stand dem Pro­ jekt positiv gegen٧ber, und so kam es am 6. Oktober 1921 zur Unterzeichnung des Wiesbadener Abkommens291, das den Vorschlδgen Rathenaus weitgehend folgte292: Deutschland sollte bis zum 1. Mai 1926 an Frankreich Waren im Volumen von 7 Mrd. GM liefern, die zu einem Teil sofort und zu einem ande­ ren Teil durch langfristige Anleihen finanziert werden sollten. Zwei von der RepKo unabhδngige Organisationen in Deutschland und Frankreich sollten daf٧r sorgen, daß französische Auftraggeber und deutsche Lieferanten ohne großen bürokratischen Aufwand zusammenfanden und die Lieferungen praktisch wie von privat zu privat funktionierten. Die Gespräche zwischen Loucheur und Rathenau und die dadurch bewirkte Verbesserung der Beziehungen trugen erste Früchte: Die Zollgrenze zwischen dem besetzten und unbesetzten Deutschland, die im Rahmen der Alliierten Besetzung Düsseldorfs und Duisburgs im April des Jahres errichtet worden war, wurde am 30. September 1921, also wenige Tage vor der Unterzeichnung des Abkommens von Wiesbaden, aufgehoben293. Auch auf anderem Gebiet konnte die deutsche Diplomatie Fortschritte erzielen: Am 25. August 1921 wurde zwischen den USA und Deutschland - die sich, nachdem Washington den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, de jure noch immer im Kriegszustand befanden - ein Friedensvertrag unterzeichnet294. Die Normalisierung der Beziehungen mit den USA wurde von Deutschland vor allem deshalb angestrebt, um ein Gegengewicht gegen die Politik Frankreichs und Großbritanniens zu schaffen295. Wie der Seydoux-Plan scheiterte aber auch das Wiesbadener Abkommen. Unmittelbarer Auslöser war die Entscheidung des Völkerbunds zur Teilung Oberschlesiens, die den deutschen Verständigungswillen schlagartig erlahmen ließ296. Außerdem hatten sich die Rahmenbedingungen seit dem Scheitern des Seydoux-Projekts nicht nachhaltig geändert: < Die deutsche und französische Wirtschaft standen dem Sachlieferungsabkommen immer noch ablehnend gegenüber, und auch der englische Widerstand bestand weiterhin, denn in Lon291 Siehe BERNARD, Decline, S. 109. Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 84f. 293 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 72. 294 Der Vertragstext ist abgedruckt in: O.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote, und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 263-267. 292 295 296 S i e h e LINK, U S A , S. 64f. Zu den Ursachen des Scheiterns des Wiesbadener Abkommens siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 87-89; BERNARD, Decline, S. 110; NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 50; DUROSELLE, Histoire, S. 15f. 84 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte don f٧rchtete man immer noch, daß es zu einem deutsch-französischen Arrangement unter Ausschluß anderer kommen könnte, eine Angst, die der englische Vertreter in der RepKo, Bradbury, auch bei seinen italienischen und belgischen Kollegen schürte. Das vorläufige Scheitern der Politik des Ausgleichs und des Pragmatismus in der Reparationsfrage führte zu einer Krise der gesamten Reparationspolitik, die letztlich erst durch den Dawes-Plan gelöst wurde. Das Ende der Politik von Wiesbaden machte aber auch den grundsätzlichen Gegensatz in den politischen Konzeptionen Englands und Frankreichs in der Reparationsfrage deutlich, der den eigentlichen Auslöser für die Krise der Reparationspolitik darstellte: Nicht der deutsche Widerwille, die Reparationen zu zahlen, war das Kernproblem, sondern das fehlende Einvernehmen zwischen Paris und London über Ziele und Modalitäten. Hier offenbarte sich eine weitere Schwäche, die die Modernisierung der Außenpolitik zunächst blockierte: Da fast alle Probleme, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben - also Reparationen, Sicherheit und viele andere Komplexe (Rheinland, französische Bündnispolitik in Osteuropa, wirtschaftlicher Wiederaufbau usw.) - , multilateral waren, mußten bilaterale Ansätze, wie sie der Seydoux-Plan oder das Wiesbadener Abkommen darstellten, und erst recht unilaterale Pläne, wie zum Beispiel die Pläne Tirards und Fochs in bezug auf das Rheinland, scheitern. Der Multilateralismus der Probleme war in letzter Konsequenz Folge der prekären und ungeklärten Machtsituation in Europa. Weder Deutschland noch Frankreich oder Großbritannien konnten ihre Politik allein gegenüber den anderen Ländern durchsetzen. Ein wichtiges Versäumnis der Politik von Wiesbaden (aber auch des Seydoux-Plans) lag darin, daß sie gegen den Willen Großbritanniens zustande gekommen war. Die vergleichsweise moderne Politik von Wiesbaden scheiterte aber nicht nur an der mangelnden Einbeziehung Dritter, sondern auch an der Komplexität der Reparationsfrage. Dieses Problem war nicht nur multilateral, sondern auch multidimensional. Der Krieg veränderte die Außenpolitik dahingehend, daß sie nun nicht mehr nur auf der Ebene der Politik, sondern - wegen der ökonomischen Implikationen der Reparationen - auch auf der wirtschaftlichen Ebene betrieben wurde. Während vor dem Krieg - vereinfacht gesagt - die Diplomatie sich überwiegend mit politischen Fragen befaßte, mußte sie jetzt politische und wirtschaftliche Probleme lösen. Da in privatwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen der Staat aber nur sehr begrenzt auf die Wirtschaft Einfluß nehmen kann, kam es zu einer überproportionalen Zunahme von Akteuren, was wiederum zu Koordinierungsproblemen führen mußte. Verschärft wurde dies dadurch, daß die Interessen und Absichten der beteiligten Gruppen selbst innerhalb eines Landes nicht gleichgerichtet waren: Landwirtschaft, verarbeitende Industrie, Handel, Schwerindustrie usw. verfolgten unterschiedliche Ziele. Die nach dem Krieg ohnehin schwierige Wirtschaftslage und die 2.3. Die blockierte Modernisierung 85 neuen Zollschranken in Europa potenzierten die Schwierigkeiten noch. Die Lφsung der Reparationsfrage im Jahr 1921 scheiterte also auch daran, daß die Komplexität des Problems nur ungenügend einbezogen worden war. Das bedeutete fur die Politik: Sie mußte entweder Artsätze entwickeln, die möglichst viele Interessen zufriedenstellend berücksichtigten (allerdings nimmt die Wahrscheinlichkeit, daß Rahmenbedingungen herrschen, in denen eine fur alle Seiten annehmbare Lösung erreicht werden kann, mit der Zunahme der Akteure rapide ab), oder die Komplexität der Probleme mußte reduziert werden. Dieser Weg wurde schließlich beim Dawes-Plan beschritten297. Dabei wurde die Lösung des Reparationsproblems dadurch erleichtert, daß die Sicherheitsvon den Reparationsfragen entkoppelt wurden. Modernisierung der Außenpolitik bedeutet deshalb auch, Lösungsansätze fur die gestiegene Komplexität außenpolitischer Probleme zu finden. An der gestiegenen Komplexität der internationalen Beziehungen scheiterte auch Lloyd George, der Ende des Jahres 1921 versuchte, neuen Schwung in die Reparationsfrage zu bringen. Dies geschah aus zwei Überlegungen heraus: Zum einen versuchte der englische Premier-, die schlechte wirtschaftliche Lage im Vereinigten Königreich zu lindern298. Durch die Verringerung der Reparationslast sollte Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine geholfen werden, was das Reich zu einem attraktiven Handelspartner für England machen und somit den britischen Export stärken sollte299. Zum anderen hatte London ein großes Interesse daran, daß auf dem europäischen Kontinent eine gewisse Stabilität einzog, damit man sich in Ruhe um die Probleme der Umstrukturierung des Empire kümmern konnte300. Als größten Störfaktor für die Normalisierung der Beziehungen sah man in London das Reparationsproblem, und deshalb wollte man genau dort ansetzen. Lloyd George beabsichtigte, zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas eine internationale Konferenz unter Einbeziehung Deutschlands und der Sowjetunion einzuberufen301. Um Paris die Verringerung der deutschen Reparationsschuld, die in den Augen Englands Ursache für die schlechte wirtschaftliche Lage Deutschlands und des Kontinents war, schmackhaft zu machen - hier wirkte der Einfluß von Keynes' »The Economic Consequences of the War« bot Lloyd George Frankreich einen bilateralen Sicherheitspakt an. Briand stand diesem Vorschlag offen gegenüber, allerdings mit Einschränkungen: Er wollte nicht nur einen bilateralen Vertrag, sondern auch Garantien für Frankreichs Verbündete in Osteuropa 297 298 299 300 301 Vgl. Kap. 3.2. Siehe BERNECKER, Europa, S. 166. Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 16. Siehe LEE, German Foreign Policy, S. 24. Siehe GlRAULT, Europe, S. 130. 86 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte sowie eine Verkn٧pfung von Kriegsschulden­ und Reparationsfrage, um Großbritannien in der Frage der Reparationen dauerhaft an sich zu binden302. Auf der Konferenz von Cannes303 (4.-13. Januar 1922) kam es zwischen Briand und Lloyd George zu Gesprächen bezüglich der Weltwirtschaftskonferenz, des französisch-britischen Sicherheitspakts und der Reparationen. Zwar konnte man sich schnell auf die Einberufung der Wirtschaftskonferenz einigen, doch lagen in der Beistandspakt- und Reparationsfrage die Positionen weit auseinander: Lloyd George weigerte sich, den Beistandspakt auf Frankreichs Verbündete auszudehnen, und auch in Reparationsfragen konnte keine Einigung erzielt werden. Die Konferenz wurde schließlich abrupt abgebrochen, als Briand seinen Rücktritt erklärte, weil Millerand, inzwischen Staatspräsident, die in seinen Augen zu konziliante Haltung Briands sowohl in der Sicherheits- wie auch der Reparationspolitik öffentlich gerügt hatte. Nachfolger Briands wurde Poincare, der allerdings keinen tiefgreifenden Kurswechsel in der Deutschlandpolitik einleitete: Zwar war er, was die von Lloyd George geplante Weltwirtschaftskonferenz und die englischen Sicherheitsgarantien anging, sehr viel skeptischer als sein Vorgänger304, ließ aber den Gesprächsfaden zu Deutschland nicht abreißen. Im Gegenteil, er bemühte sich, die von seinem Vorgänger abgesegnete und im Wiesbadener Abkommen festgeschriebene Politik umzusetzen: Im Bemelmans-Cuntze-Abkommen vom 27. Februar 1922 und dem Gillet-Ruppel-Abkommen vom 15. März 1922 wurden wichtige praktische Fragen im Zusammenhang mit dem Wiesbadener Abkommen geklärt305 und mit der Schaffung des Comite consultatif des prestations en nature am 5. Mai 1922 der institutionelle Rahmen fur die Umsetzung des Vertrags geschaffen306. In der Frage eines Sicherheitspakts kam es allerdings zu keiner Einigung zwischen England und Frankreich307, so daß die Weltwirtschaftskonferenz in Genua (10. April-19. Mai 1922) bereits unter denkbar schlechten Voraussetzungen begann308. Lloyd George präsentierte erneut seinen Plan zur wirtschaftlichen und politischen Befriedung Europas unter gleichberechtigter Einbeziehung Deutschlands und der Sowjetunion. Als Mittel dazu sollte ein 302 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 57. Hierzu siehe KR٢GER, Außenpolitik, S. 162-166; DUROSELLE, Histoire, S. 57f. 304 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 74. 305 Siehe WEILL­RAYNAL, Reparations, Bd. 2, S. 145-147. 306 Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 92. 307 Vgl. Nr. 23-43, in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations concemant les garanties de söcuritd 1924. 308 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 10. Zur Konferenz von Genua siehe auch Carole FINK, The Genoa Conference: Methods and Results of Conference Diplomacy, in: Jacques BARJETY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S. 245258. 303 2.3. Die blockierte Modernisierung 87 internationales Konsortium dienen, daß den Wiederaufbau der sowjetischen Wirtschaft finanzieren und dadurch insgesamt die Weltwirtschaft ankurbeln sollte309. Die Konferenz von Genua endete mit einem Fehlschlag: Da der Sicherheitspakt zwischen England und Frankreich nicht zustande gekommen war, war Frankreich an den englischen Vorschlägen zur Lösung der Wirtschaftsprobleme, die durch eine Reduzierung der Reparationen vor allem Frankreich zu bezahlen gehabt hätte, wenig interessiert. Auch das Fehlen der USA erwies sich als schwere Belastung310. Washington hatte seine Abwesenheit mit der Teilnahme der Sowjetunion begründet und fürchtete, aus dem geplanten Konsortium zum Aufbau der Sowjetunion ausgeschlossen zu werden. Außerdem forderte es, daß Frankreich und Großbritannien abrüsten sollten, damit sie mit den eingesparten Mitteln ihre Kriegsschulden endlich zurückzahlten, was vor allem in Paris auf Ablehnung stieß. Auch die Sowjetunion, die im Mittelpunkt von Lloyd Georges Plan stand, hatte kein Interesse an den englischen Vorschlägen: Die Anerkennung der russischen Vorkriegsschulden und die Ausbeutung der sowjetischen Erdölvorkommen durch den Westen lehnte die Sowjetregierung ab und forderte im Gegenzug Wiedergutmachung fur die von den westlichen Mächten im russischen Bürgerkrieg angerichteten Schäden311. Die Sowjetunion sah sich von den Ambitionen der »kapitalistischen« Staaten bedroht und versuchte, die Umklammerung durch die westlichen Staaten zu sprengen, indem sie die vermeintliche »Einheitsfront« des Westens durch Separatabkommen zu zerbrechen versuchte312. Dies gelang ihr effektvoll durch den am 16. April 1922 mit Deutschland abgeschlossenen Vertrag von Rapallo, der am Rande der Wirtschaftskonferenz zustande gekommen war. Der Inhalt des Vertrags war vergleichsweise unspektakulär313: Deutschland und die Sowjetunion verständigten sich darauf, gegenseitig auf Reparationen als Folge des Krieges und auf Entschädigung infolge der Verstaatlichung von ausländischen Betrieben in der Sowjetunion zu verzichten. Außerdem sollten die diplomatischen und konsularischen Beziehungen wiederhergestellt werden und man sicherte sich gegenseitig die Meistbegünstigung zu. Darüber hinaus verpflichtete sich Deutschland, dem internationalen Konsortium für Rußland nur nach vorheriger Absprache beizutreten. Anders als in Frankreich geargwöhnt, wurden in Rapallo keine geheimen militärischen Absprachen getroffen. Auch sah Rathenau, der inzwischen Außenminister geworden war, anders als die eigentlichen Initiatoren der Rapallo-Politik - der Staatssekretär im AA von Maltzan und der deutsche Bot305 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 51. Siehe Werner LINK, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921-1932, Düsseldorf 1970, S. 122. 311 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 60f. 312 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 51 f. 313 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 61f. 310 88 2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte schafter in Moskau, Brockdorff­Rantzau in dem deutsch­sowjetischen Ab­ kommen keine neue »deutsch­russische Revisionsachse«314, sondern vielmehr eine taktische Neugewichtung, in der die deutsche Enttδuschung ٧ber die Re­ gelung der Oberschlesienfrage und die Behandlung der deutschen Moratori­ umsgesuche f٧r die Reparationen zum Ausdruck kam315. Psychologisch hatte Rapallo aber verheerende Folgen: In London und noch stδrker in Paris sah man einen gemeinsamen deutsch­russischen Block entstehen, der jede auf Ausgleich mit Deutschland beruhende Politik bedrohen mußte und Frankreich und England wieder einander näherbrachte316. Für die französische Regierung rückte das Sicherheitsproblem, das durch die Reparationsfragen lange Zeit verdeckt geblieben war, schlagartig wieder in den Vordergrund außenpolitischer Betrachtungen zurück und bewirkte die Verhärtung der Deutschlandpolitik Poincares317. Das deutsch-sowjetische Abkommen machte aber auch deutlich, daß es in der deutschen Außenpolitik einflußreiche Vertreter gab, die eine nach Westen gerichtete, auf Einbeziehung Deutschlands abzielende moderne Politik ablehnten und statt dessen ein Zusammengehen mit der Sowjetunion mit dem Ziel einer möglicherweise gewaltsamen Revision des Versailler Vertrags anstrebten318. Läßt man die Ereignisse der Jahre 1919 bis 1922 Revue passieren, so ist festzustellen, daß nur wenige substantielle Ergebnisse erzielt wurden. Die Reparationsfrage blieb weitgehend ungelöst. Zwar wurde eine »endgültige« Reparationssumme festgelegt und deren Aufteilung unter den Alliieren beschlossen, zwar wurde Deutschland durch ein Ultimatum dazu gezwungen, die Reparationszahlungen zu akzeptieren; ob Deutschland aber zahlen konnte und wollte - blieb unklar. Auch die Sicherheitsfrage blieb weiter offen. Obwohl Deutschland bis Ende 1921 weitgehend entwaffnet war319, blieb das Sicherheitsproblem weiterhin bestehen. Für Frankreich bestand es vor allem darin, daß man sich einem ökonomisch und demographisch überlegenen, unversöhnlichen Nachbarn gegenübersah, dessen Hauptziel die Rückgängigmachung der Ergebnisse des Friedensvertrags war320. Dieses Sicherheitsdefizit abzugleichen, war durch die Allianzen mit den aus den Trümmern des Habsburger- und Zarenreiches entstandenen Staaten Osteuropas nicht gelungen. Die Verlängerung der Kriegsallianzen mit Großbritannien und den USA war gescheitert, und auch der anderen Alternative - eine aktive Rheinlandpolitik zur Abtrennung des linksrheinischen Gebiets von Deutschland - kam man 314 PEUKERT, Weimarer Republik, S. 68f. Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 151, 177. 316 Siehe ibid. S. 178f. 317 Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 76f. 318 Siehe LEE, German Foreign Policy, S. 59. 319 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 137. 320 In diesem Sinne z.B. Paul Reynaud vor der Chambre des D6put6s,zwutsrnmihgfedcbaRBA Τ siance du 28 ddcem­ bre 1923, Abschrift auszugsweise in: BArch R 3101,20437. 315 2.3. Die blockierte Modernisierung 89 nicht nδher. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas war ebenfalls noch nicht geschafft. Die Sieger fanden sich in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise wieder, die Wδhrungen Frankreichs und Deutschlands verfielen, und in Deutschland wurde die Krise nur durch die Scheinbl٧te der Inflation ٧ber­ deckt. Eine Teilschuld an diesen Problemen kam dem Versailler Vertrag zu, durch den es weder gelungen war, eine klare, von allen akzeptierte politische Ord­ nung zu etablieren, noch die wirtschaftlichen Nachwirkungen des Krieges zu­ friedenstellend zu lφsen. Eine Teilschuld traf jedoch auch die USA, die sich weitgehend aus Europa zur٧ckgezogen hatte, und durch deren Ausscheren das Versailler Vertragswerk von Anfang an geschwδcht wurde. Kurz gesagt, nirgendwo, sei es in politischen oder wirtschaftlichen Fragen, war eine eindeutige Entscheidung erreicht worden, Europa stolperte von einer Krise zur nδchsten, ohne daß eine dieser Krisen so stark gewesen wäre, die Situation grundlegend zu verändern. Hinsichtlich der Modernisierung der Außenpolitik bleibt in der Situation des Jahres 1922 zu konstatieren, daß es zwar wegen der Vielzahl der herrschenden Probleme einen sehr starken Modernisierungsdruck gab, daß aber durch die Verschränkung von sicherheits-, reparations- und wirtschaftspolitischen Themen und durch das Auftreten neuer Akteure, die vor dem Krieg keinen oder nur wenig Einfluß auf die Außenpolitik gehabt hatten, das Umfeld für die Außenpolitik wesentlich komplexer geworden war. Gewiß, durch administrative Reformen wurde versucht, den neuen Problemen Herr zu werden. Eine bessere Manövrierfähigkeit der Diplomatie wurde dadurch zunächst jedoch noch nicht erreicht. Im Gegenteil, der Eindruck allgemeiner Hilf- und Konzeptionslosigkeit herrschte vor, weil neben Akteuren, die versuchten, die Lösung der anstehenden Probleme durch Kooperation und Kompromiß zu erreichen, solche standen, die notfalls eine Entscheidung durch militärische Macht in Kauf nahmen. Keine Gruppierung konnte sich mit ihren Vorstellungen zunächst durchsetzen, so daß die Politik insgesamt unkoordiniert erschien: Die Entscheidung des Völkerbunds in der Oberschlesienfrage war kontraproduktiv zu den wenige Tage zuvor erreichten Ergebnissen des Wiesbadener Abkommens. Eine Konsequenz daraus war, daß die Ansätze zur Verständigung in Deutschland und Frankreich zeitlich kaum aufeinander traf, sondern meist versetzt. Im Endeffekt bedeutete dies, daß zwar einige konzeptionelle Voraussetzungen für die Modernisierung der Außenpolitik vorhanden waren, diese sich aber aus den genannten Gründen nicht durchsetzen konnten. In der Situation des Jahres 1922 gab es also drei Möglichkeiten: Ein »weiter so wie bisher«, also eine Pattsituation bezüglich moderner und traditioneller Methoden; eine Rückkehr zur klassischen Machtpolitik; das Durchsetzen moderner, kooperativer Ansätze der Außenpolitik. 3. DIE ANFΔNGE DER MODERNEN AUSSENPOLITIK 3.1. Der Ruhrkampf Der Ruhrkampf, »einer der großen, wenn nichtred der [Herv. i.O.] Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg«1, hatte in mehrerlei Hinsicht entscheidende Bedeutung für die Modernisierung der Außenpolitik. Das gilt natürlich zunächst fur den Ausgang der Ruhrkrise, die, beginnend mit dem Dawes-Plan, die kurze Ära der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich einleitete. Es wäre jedoch falsch, die Bedeutung des Ruhrkampfs fur die moderne Außenpolitik nur von seinem Ende her zu sehen, als Resultat einer vermeintlichen oder tatsächlichen französischen Niederlage und gestiegener deutscher Kooperationsbereitschaft. Wie im vorangegangenen Abschnitt zu sehen war, gab es schon seit Beginn der 1920er Jahre kooperative Ansätze zur Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen - wie den Seydoux-Plan oder das Wiesbadener Abkommen - , die jedoch nicht durchgesetzt werden konnten. Die Bedeutung des Ruhrkampfs besteht deshalb in erster Linie nicht darin, daß er zu einem radikalen Bruch in der deutschen und vor allem der französischen Außenpolitik seit dem Versailler Vertrag führte, sondern daß er half, den auf beiden Seiten vorhandenen verständigungsorientierten und im Sinne dieser Arbeit modernen außenpolitischen Konzeptionen den Weg zu ebnen. Anders gesagt: Der Ruhrkampf war nicht nur ein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, sondern auch eine Auseinandersetzung innerhalb des AA, des Quai d'Orsay, der Regierungen und der Parlamente um die zukünftige Außenpolitik beider Länder, in der die modernen Kräfte einen wichtigen Etappensieg erzielen, sich aber nicht vollständig durchsetzen konnten. In dieser Perspektive gewinnt der Ruhrkonflikt eine Bedeutung, die dessen eingehende Untersuchung unabdingbar macht. Ganz allgemein betrachtet war die Besetzung des Ruhrgebiets - oder auch nur die Drohung damit - ein gutes und bewährtes Druckmittel der Alliierten, um die Deutschen gefügig zu machen: Bereits im März 1921 hatten alliierte Truppen einschließlich englischer Soldaten Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort besetzt2. Das Londoner Ultimatum, mit dem die deutsche Regierung Anfang Mai 1921 zur Annahme der alliierten Reparationsforderungen gezwungen 1 Klaus SCHWABE, Zur Einf٧hrung, in: DERS. (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 1 ­ 9 , hier S. 1. 2 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 124. 92 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik wurde, bestand in der Androhung, das Ruhrgebiet vollständig zu okkupieren3. Das Ruhrgebiet war als Sanktionsobjekt deshalb so attraktiv, weil es das Zentrum der deutschen Schwerindustrie und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt war4. Wer das Ruhrgebiet beherrschte, hatte direkt oder indirekt die Kontrolle über große Teile der deutschen Wirtschaft, des Verkehrs und der Kommunikation. Es lag außerdem günstig an den bereits von Frankreich, Belgien und Großbritannien besetzten rheinischen Gebieten und eignete sich als »produktives Pfand«, indem ausstehende Reparationskohlen direkt von dort nach Frankreich transportiert werden konnten, um so den Kohlen- und vor allem den Koksbedarf der französischen Schwerindustrie zu decken. Auch für die weiterreichenden Ziele französischer Hardliner ließ sich das Ruhrgebiet nutzen: Eine Abtrennung des Ruhrgebiets konnte eine sinnvolle wirtschaftliche Ergänzung für ein autonomes oder separates Rheinland sein, oder dazu beitragen, daß Deutschland, seines wirtschaftlichen Herzens beraubt, zerfiel. Ein Verlust oder zumindest die Kontrolle des Ruhrgebiets würde die Deutschen, so hoffte man, auch von einer weiteren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die sich in Rapallo angekündigt hatte, abhalten. Daneben konnte das Ruhrgebiet in französischer Hand nicht nur als Druckmittel gegenüber Deutschland, sondern auch gegenüber England und den USA eingesetzt werden, damit sie Frankreich doch noch die ersehnten Sicherheitsgarantien geben oder Zugeständnisse in der Schuldenfrage machen würden5. Kurz gesagt, eine Aktion an der Ruhr könnte Frankreich zur zufriedenstellenden Lösung der drei Probleme führen, die in den Augen vieler Franzosen durch den Versailler Vertrag nicht vollständig gelöst worden waren: Deutschland endlich zur Zahlung der Reparationen zu bringen, die langfristige Koksversorgung Frankreichs sicherzustellen und die Abspaltung des Rheinlands (und damit die Umsetzung der französischen Sicherheitswünsche) einzuleiten6. Trotz der vielen Vorteile, die die Ruhrbesetzung zu bieten schien, konnte sich Poincare, der unmittelbar nach dem Krieg noch die Rheinlandpolitik Fochs unterstützt hatte, zwischenzeitlich aber eine konziliantere Politik gegenüber Deutschland verfolgte, erst allmählich dazu durchringen. Der Einmarsch ins Ruhrgebiet war nämlich auch mit Risiken behaftet: Er kostete Geld und sein Erfolg war keineswegs gewiß; würde die deutsche Bevölkerung mit Widerstand reagieren - und was machte die Reichsregierung? Gab sie nach oder sollte es zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen kommen, unter Um3 Siehe BERNARD, Decline, S. 109. 4 Zum folgenden siehe JEANNESSON, Poincare, S. 44­48; BARIETY, Ruhrkrise, S. 19. 5 Siehe Denise ARTAUD, Reparations and War Debts. The Restoration of French Financial Power, 1919­1929, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918­ 1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 89­106, hier S. 96. 6 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 49. 3.1. Der Ruhrkampf 93 stδnden zusammen mit der Sowjetunion? Wie w٧rden sich die Englδnder ver­ halten ­ war London bereit, sich zu beteiligen oder nicht? Ein weiteres Pro­ blem bestand darin, daß Poincare mit (mindestens) zwei Denkrichtungen konfrontiert war, die mit der Ruhrbesetzung grundlegend verschiedene Ziele verfolgten: Die Gruppe der »Rheinländer« um Paul Tirard und seine Mitarbeiter - wie beispielsweise Max Hermant, dem Chef der französischen Besatzungstruppen General Jean Degoutte und sein Stab, Foch und andere - wollte die Besetzung des Ruhrgebiets vor allem als Hebel benutzen, um das Rheinland entweder in Form eines autonomen Staates innerhalb des Deutschen Reiches oder als eigenen souveränen Pufferstaat abzutrennen. Sie verfolgten also vor allem (sicherheits-)politische Absichten7. Andererseits gab es aber auch die Gruppe der »Ökonomen«, die vor allem aus hohen Funktionären aus dem Quai d'Orsay (allen voran Jacques Seydoux), dem Ministerium für öffentliche Arbeiten (z.B. Emile Coste) und dem Finanzministerium (beispielsweise Jean Tannery) bestand. Sie sahen in der Ruhrbesetzung hauptsächlich ein Mittel, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen, also um Deutschland zur Zahlung der Reparationen zu zwingen und die französische Kohlenversorgung langfristig sicherzustellen8. Der Konflikt zwischen den verständigungsbereiten Kräften und den Falken sollte das Verhalten Frankreichs im Vorfeld und während des Ruhrkampfs nachhaltig prägen9. Die Position Poincares war dabei nicht immer eindeutig. Aber zunächst zu den Ereignissen, die der Besetzung des Ruhrgebiets vorausgingen. Wie gesagt, schon in der Reparationskrise vom Frühjahr 1921 war die Besetzung des Ruhrgebiets eine Option gewesen. Anfang April 1921 hatte Philippe Berthelot, Generalsekretär des Quai d'Orsay, seinen Mitarbeiter Seydoux und Louis Loucheur - zu diesem Zeitpunkt Minister für die befreiten Gebiete - beauftragt, einen Aktionsplan aufzustellen, der am 22. April 1921 vorgelegt wurde10. Dieser Plan ging allerdings nicht so weit wie ein Projekt, das Tirard bereits am 10. Februar 1921 Briand vorgeschlagen hatte11. Der Präsident der H.C.I.T.R. hatte darin gefordert, eine Zollgrenze zwischen dem besetzten Gebiet und dem Restreich einzurichten, die preußischen Beamten auszuweisen und die öffentlichen Haushalte im Rheinland durch die H.C.I.T.R. kontrollieren zu lassen. Außerdem sollte ein conseil consultatif, bestehend aus rheinischen Industriellen, Bankiers, Arbeitervertretern usw., geschaffen werden, der gewissermaßen den Embryo eines rheinischen Parlaments und damit 7 Siehe AUTIN, Foch, S. 344. Siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 65. 9 Der Ansicht Schötz', demzufolge das Ziel der französischen Politik »das ungeteilte französische Interesse an der Aufweichung der Einheit des deutschen Reiche?, wie es sich bis Anfang 1924 in der praktischen Politik niederschlug«, war, kann ich mich nicht anschließen, SCHÖTZ, Deutschlandpolitik, S. 141. 10 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 59f. 11 Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 71-73. 8 94 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik einer eigenen rheinischen Staatlichkeit bilden sollte. Die Besetzung des Ruhrgebiets als produktives Pfand sollte die ganze Aktion absichern. Seydoux und Loucheur lehnten in ihrem Bericht die weitgehenden Pläne Tirards ab. Sie definierten als Hauptziel der Ruhrbesetzung, daß Deutschland zur Zahlung der Reparationen gezwungen werden solle12. Diesen entschärften Plänen konnte auch die englische Regierung zustimmen, obwohl sie eher gegen die Ausweitung der Besetzung eingestellt war. Sie trug nur deshalb das Londoner Ultimatum mit, um Frankreich von einem Alleingang abzuhalten. Lloyd George befürchtete außerdem, daß, falls er die Vorschläge Briands ablehnen würde, Poincare wieder an die Macht käme13. Allerdings machte London wichtige Vorbehalte: Die Besetzung des Ruhrgebiets sollte zeitlich befristet werden, sie durfte nicht zu einer Aufteilung Deutschlands fuhren und sollte erst dann erfolgen, wenn Deutschland einem förmlichen Ultimatum nicht nachgekommen war14. Die Reichsregierung beugte sich jedoch am 11. Mai 1921 den alliierten Bedingungen15, und so blieben die Pläne für die Ruhrbesetzung zunächst in der Schublade. Zwischenzeitlich verbesserte sich durch den Seydoux-Plan und die Gespräche, die zum Wiesbadener Abkommen fuhren sollten, das deutschfranzösische Verhältnis, und die verständigungsbereiten Kräfte schienen die Oberhand zu gewinnen. Das Tauwetter war aber nur von kurzer Dauer. Ausgelöst durch die für Deutschland enttäuschende Entscheidung des Völkerbunds in der Oberschlesienfrage, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Paris wieder. Der Vertrag von Rapallo schließlich festigte die Meinung der Hardliner in Paris, die in den deutschen Friedensbeteuerungen reine Taktik sahen. Verstärkt wurde die allgemeine Krisenstimmung noch durch den unaufhaltbar scheinenden Wiederaufstieg der deutschen Schwerindustrie, während die französische darniederlag16. Auch für Poincare, der nach dem Rücktritt Briands im Januar 1922 die Regierung übernommen hatte, ließ Rapallo die Alarmglocken schrillen und die Sicherheitsproblematik wieder in den Vordergrund treten. Er forcierte nun den Eintritt Polens in die Kleine Entente und versuchte, allerdings erfolglos, mit England die Gespräche über ein Sicherheitsabkommen wieder aufzunehmen17. Unterstützung fanden Poincares Befürchtungen in einem Bericht Degouttes vom 2. Mai 1922, in dem dieser angesichts der Annäherung zwischen der Sowjetunion und Deutschland die Besetzung des Ruhrgebiets und die Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Gruben 12 13 14 15 16 17 Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 60. K.EIGER, Poincare, S. 275. JEANNESSON, Poincare, S. 61. WEILL-RAYNAL, Reparations, Bd. 1, S. 63 8f. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 55. JEANNESSON, Pomcarö, S. 76f. 3.1. Der Ruhrkampf 95 vorschlug18. In die gleiche Kerbe schlug der Report des Deputierten Adrien Dariac, der nach Abschluß einer Informationsreise in die besetzten Gebiete, auf der er auch mit Tirard zusammengetroffen war, eine Ruhrbesetzung vorschlug19. Gleichzeitig wütete in Deutschland eine heftige Pressekampagne gegen Poincare, in der versucht wurde, ihm die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges zuzuschieben20. Indes, festgelegt hatte sich Poincare auch im Sommer 1922 noch nicht auf eine Ruhrbesetzung. Er fuhr zweigleisig21. Er versuchte weiterhin, das Wiesbadener Abkommen umzusetzen und unterstützte die Arbeiten eines Komitees - bestehend aus alliierten, amerikanischen, niederländischen und deutschen Bankiers - , das die Aufgabe hatte, die Bedingungen einer internationalen Anleihe für Deutschland auszuarbeiten, mit deren Hilfe die Stabilisierung der Mark erreicht werden sollte. Allerdings scheiterten diese Gespräche am 10. Juni 1922, da Poincare die Verringerung der Reparationszahlungen als Vorbedingung für eine solche Anleihe nicht akzeptieren konnte22. Der Fehlschlag dieser Verhandlungen bewegte jedoch die US-Regierung zu zunehmender diplomatischer Aktivität23. Der (inoffizielle) amerikanische Vertreter bei der RepKo, Ronald Boyden, und Secretary of State Charles Hughes entwickelten einen Plan, der in vielerlei Hinsicht das Verfahren des späteren Dawes-Komitees vorwegnahm: Er beinhaltete unter anderem die Einsetzung eines Expertenkomitees zur Beurteilung der deutschen Zahlungsfähigkeit. Die diplomatische Initiative von Hughes kam jedoch nicht zustande, da Balfour am 1. August 1922 erklärte, daß die englische Regierung nur noch Kriegsschulden in Höhe der eigenen Schulden bei den USA von seinen Gläubigern einfordern wolle. Diese Verletzung des amerikanischen Prinzips der Trennung von Reparationen und Kriegsschulden, das zudem noch die französischen Wünsche nach Streichung der Schulden verstärken mußte, ließ Washington erneut eine abwartende Haltung einnehmen. Unterdessen trafen in Paris vermehrt Nachrichten ein, die die französische Führung zunehmend am guten Willen der Deutschen zweifeln ließen und die Ruhrbesetzung attraktiver erscheinen lassen mußten24: Frankreich sah in der SieheYWTSRONMLKIHFECBA BARLFITY, Relations franco-allemandes, S. 96. Siehe Alfred E. C O R N E B I S E , Gustav Stresemann und die Ruhrbesetzung. Die Entwicklung eines Staatsmannes, in: Wolfgang M L C H A L K A , Marshall M. L E E (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 177-208, hier S. 179. 18 19 20 21 Siehe KEIGER, Poincare, S. 280-283. Siehe John F.V. KEIGER, Raymond Poincarö and the Ruhr Crisis, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 49-70, hier S. 53. 22 23 Siehe JEANNESSON, P o i n c a r i , S. 87. Hierzu siehe Werner L I N K , Die Vereinigten Staaten und der Ruhrkonflikt, in: Klaus (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 40-51, hier S. 42-44. 24 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 87. SCHWABE 96 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 das Wiedererwachen des deutschen Nationalismus. Der beschleunigte Verfall der Mark - bei gleichzeitig rauchenden Schornsteinen im Ruhrgebiet - wurde in Paris in steigendem Maße als mutwilliges Manöver wahrgenommen, dessen eigentliches Ziel in der Torpedierung französischer Reparationsansprüche lag. An dem Tag schließlich, als der französische Ministerrat die sofortige Anwendung des Wiesbadener Abkommens beschloß, am 12. Juli 1922, forderte die deutsche Regierung erneut ein Moratorium für die Reparationszahlungen fur die Jahre 1922 bis 192425. »[C]'en est trop pour Poincare«26, der darin ein weiteres Zeichen für den mangelnden guten Willen der Deutschen sah und am selben Tag eine interministerielle Kommission mit dem Auftrag einsetzte, eine Lösung für das Reparationsproblem zu finden. Am 19. August 1922 legte Seydoux, der zusammen mit Coste der Hauptimpulsgeber dieser Arbeitgruppe war, einen Plan vor, der eine Besetzung des Ruhrgebiets vorsah, die möglichst unsichtbar für die Bevölkerung und mit geringem militärischem Aufwand vonstatten gehen sollte, um damit dieses wichtige wirtschaftliche Pfand zur Durchsetzung der französischen Reparationsforderungen in die Hand zu bekommen27. Außerdem sollte eine zivile Kommission zur Überwachung der Ruhrindustrie geschaffen werden - dies nahm die im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung geschaffene Mission Interalliee de Contröle des Usines et des Mines (M.I.C.U.M) vorweg. Die Anhebung der Kohlensteuer sowie die Einführung einer Exportabgabe waren ebenfalls geplant. Weitergehende Pläne, die zu einer Abtrennung des Rheinlandes hätten führen können, wie beispielsweise die Wiedererrichtung einer innerdeutschen Zollgrenze, wurden in dem Vorschlag nicht erwähnt. Dieser Plan erführ in der innerfranzösischen Diskussion Kritik von zwei Seiten28: Finanzminister Charles de Lasteyrie bezweifelte den Nutzen eines solchen Vorgehens und sah im Gegenteil unvorhersehbare Gefahren für den französischen Haushalt. Tirard auf der anderen Seite schlug Ergänzungen vor, die - ohne den Plan direkt zu kritisieren - den Charakter des seydouxschen Projekts völlig veränderten und es von einem vorwiegend wirtschaftlichen in ein hauptsächlich politisches Programm umformten: Er forderte neben den von Seydoux vorgeschlagenen Maßnahmen außerdem die Schaffung einer innerdeutschen Zollgrenze, die Ausweisung preußischer Beamter, die Schaffüng einer rheinischen Währung und die Erweiterung der Befugnisse der H.C.I.T.R. In der Zwischenzeit verhärtete sich die Haltung Poincares in der sogenannten Pfandfrage. Am 30. Juli 1922, kurz vor dem Beginn einer neuerlichen Reparationskonferenz in London, erklärte er öffentlich, daß Frankreich einem deutschen Reparationsmoratorium nur dann zustimmen könne, wenn die Alli25 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63. 26 JEANNESSON, Poincar6, S. 87. 27 28 Siehe BARRIITY, Relations franco-allemandes, S. 97; JEANNESSON, Poincari, S. 94f. Siehe ibid., S. 5. 3.1. Der Ruhrkampf 97 ierten von Deutschland bestimmte »produktive Pfδnder«, z.B. Bergwerke oder δhnliches erhielten29. Die Erklδrung Poincares stieß in London, wo man die Pfänderpolitik ablehnte, auf Widerstand. Andererseits fühlte sich Paris durch die bereits erwähnte Erklärung Balfours düpiert, in der dieser einen Zusammenhang von englischen Reparationsforderungen und englischen Kriegsschulden in den USA hergestellt hatte, denn damit waren die französischen Hoffnungen, mit London zu einem gemeinsamen Standpunkt in der Schuldenfrage gegenüber Washington zu kommen, zunichte gemacht. Außerdem wurde Frankreich dadurch unter Druck gesetzt, seine eigenen Reparationsansprüche zu verringern30. Da keine Aussicht darauf bestand, daß die USA ihre Schuldenansprüche verringern würden, hätte die Verringerung der Reparationen vor allem bedeutet, daß Frankreich weniger Geld für den Wiederaufbau zur Verfugung gehabt hätte31. Die Differenzen zwischen Frankreich und Großbritannien in der Türkeifrage32 vertieften die »mesentente cordiale« und ließen für die neuerliche Reparationskonferenz, die vom 7. bis 14. August 1922 in London stattfinden sollte, wenig Gutes erwarten. Poincare lehnte dort erneut ein Moratorium für die deutschen Reparationszahlungen ohne entsprechende Garantien ab33, während Lloyd George weiterhin die französische Pfänderpolitik kritisierte und forderte, daß Frankreich endlich anfangen solle, seine Kriegsschulden zu bezahlen. Der französische Ratspräsident wiederum konnte dies nicht akzeptieren und erklärte, daß Frankreich erst dann seine Schulden bezahlen werde, wenn es von Deutschland Reparationen erhalte. Die Konferenz scheiterte an diesen unüberbrückbaren Gegensätzen34. Der Ausgang der Londoner Konferenz bestätigte Poincare in seiner Auffassung, daß sich eine Verhandlungslösung in der Reparations frage nicht mehr erreichen lasse und nur noch die Politik der produktiven Pfänder zu einer Lösung fuhren könne35. Allerdings dachte er bei diesen Pfändern weniger an eine Besetzung des Ruhrgebiets, die er - um die Engländer nicht ganz zu vergraulen - ablehnte, sondern an Aktionen im Rheinland, wie die Wiedererrichtung einer innerdeutschen Zollmauer oder Kapitalbeteiligungen an deutschen Unternehmen36. 29 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63. Siehe HEYDE, Reparationen, S. 16. 31 Siehe FISCHER, Ruhr Crisis, S. 24. 32 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 91 f. 33 Siehe Klaus SCHWABE, Groίbritannien und die Ruhrkrise, in: DERS. (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 53-87, hier S. 55. 34 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63. 35 Siehe BARlßTY, Relations franco­allemandes, S. 104. 36 Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 56. 30 98 3. Die Anfange der modernen Außenpolitik Wie wenig Zuversicht die französische Regierung in die Londoner Konferenz gesetzt hatte, war daran deutlich geworden, daß zeitgleich von Seydoux und Coste der bereits erwähnte Plan über die im Ruhrgebiet zu ergreifenden Maßnahmen ausgearbeitet worden war37. In der Folgezeit lösten immer neue deutsche Moratoriumsgesuche, die Frankreich als unzureichend ablehnte, weil sie keine Pfander vorsahen, und immer neue Ruhrpläne, in denen die »Rheinländer« um Tirard und Degouttezunehmend ihre Vorstellungen durchsetzen konnten, einander ab. Es waren schließlich zwei Ereignisse, die Poincare in Richtung Ruhrbesetzung tendieren ließen, ohne daß an dieser Stelle im Detail auf die Frage eingegangen werden soll, wann genau sich der französische Ministerpräsident dazu entschied38. Das eine war die neue Reichsregierung unter Führung Wilhelm Cunos, den Poincare für eine Marionette von Hugo Stinnes und seinesgleichen hielt, und in dessen Amtsantritt er einen gefahrlichen Rechtsruck in Deutschland ausmachte39. Das zweite war der Sturz Lloyd Georges und der Regierungsantritt Bonar Laws. Das persönliche Verhältnis zwischen Lloyd George und Poincare war denkbar schlecht gewesen und der britische Premier hatte sich hartnäckig den französischen Bündnisavancen widersetzt40. In Lloyd George hatte die französische Regierung die stärkste Opposition für ihre Ruhrpläne gesehen. Bonar Law - keineswegs ein Befürworter einer Ruhrbesetzung, aber um eine Verbesserung des angeschlagenen französischbritischen Verhältnisses bemüht - hinterließ bei Poincare den Eindruck zumindest der wohlwollenden Neutralität gegenüber einer französischen Ruhraktion41. Dieser Eindruck wurde durch vom französischen Geheimdienst abgefangene, geheime britische Dokumente bestätigt42. Obwohl es bei einem neuerlichen französisch-britischen Gipfeltreffen in London am 9. Dezember 1922 zu keiner Übereinkunft in der Reparations- und Ruhrfrage kam, fühlte sich die französische Seite durch die veränderte Haltung Großbritanniens so ermutigt, daß von Coste ein abgeschwächter Ruhrplan ausgearbeitet wurde, der zunächst nur die Entsendung einer Ingenieursmission nach Essen (dem Sitz des Kohlensyndikats) vorsah. Nach diesem Plan sollte nur im Falle man- 37 38 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 94f. Bariöty geht davon aus, daß Poincart sich erst Ende November endgültig entschieden hat (BARltTY, Relations franco-allemandes, S. 107), während Jeannesson die Ansicht vertritt, daß Poincare bereits nach dem Scheitern der Londoner Konferenz die Ruhraktion plante und sich in der Folgezeit nur noch Zielsetzung und Vorgehensweise geändert haben (JEANNESSON, Poincari, S. 117). Auch Keiger datiert den Beginn konkreter Besetzungspläne auf April 1921 (KEIGER, Poincar6, S. 285). Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die Klärung dieser Frage jedoch unerheblich. 39 Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 106f. 40 Siehe KEIGER, Poincar6, S. 286f. 41 42 Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 56. Siehe KEIGER, Poincari, S. 296. 3.1. Der Ruhrkampf 99 gelnder deutscher Kooperationsbereitschaft eine militδrische Besetzung ­ wenn mφglich einschließlich britischer Truppen - erfolgen43. In Frankreich wurden die Signale also zunehmend auf Okkupation gestellt: Die Reparationskommission stellte am 26. Dezember 1922 formell fest, daß Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachgekommen sei44. Die Entscheidung kam gegen die Stimme des britischen Delegierten Bradbury zustande. Daß die Entscheidung der RepKo eine Alibifunktion hatte, läßt sich daran erkennen, daß der Wert der nichtgeleisteten Lieferungen (es handelt sich um die berühmt-berüchtigten Telegrafenmasten und Holzlieferungen) lediglich zwei Millionen GM ausmachte, also nur einen Bruchteil des Gesamtvolumens der Sachlieferungen für das Jahr 1922, das 274 Millionen GM umfaßt hatte45. Auf angloamerikanischer Seite setzte nun ein reges diplomatisches Treiben ein, um eine französisch-belgische Ruhrbesetzung - die belgische Regierung hatte Ende November 1922 nicht ohne Bedenken und unter nicht unerheblichem französischen Druck einer gemeinsamen Aktion zugestimmt46 - noch in letzter Minute zu verhindern. In einer Rede in New Haven am 29. Dezember 1922 schlug der amerikanische Außenminister Hughes, im Rückgriff auf die nicht zur Ausführung gekommenen amerikanischen Pläne vom Sommer, die Einsetzung einer unabhängigen Sachverständigenkommission zur Untersuchung der deutschen Zahlungsfähigkeit vor47 . Allerdings lehnte Hughes erneut die Verknüpfung von Kriegsschulden und Reparationen ab und bot auch keinerlei Unterstützung der amerikanischen Regierung an48. Für Frankreich war der Vorschlag in dieser Form deshalb wertlos. Die Engländer versuchten, durch ein weiteres Treffen und neue Vorschläge Paris von seinen Ruhrplänen abzuhalten. Auf der Konferenz von Paris (2.-4. Januar 1923) stellte Bonar Law sein Programm vor49: Großbritannien werde die Kriegsschulden Frankreichs streichen, wenn Frankreich im Gegenzug einer Verringerung seines Anteils an den deutschen Reparationszahlungen zustimme. Die Kriegsschulden, die die osteuropäischen Staaten in Frankreich hatten, sollten auf 43 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 120. Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 64. 45 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 127. Lee und Michalka kommen zu anderen, in der Tendenz aber ähnlichen Ergebnissen, siehe LEE, German Foreign Policy, S. 44. 46 Siehe Francis ROTH, La Belgique dans les rapports franco-allemands au moment de 1'affaire de la Ruhr, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München 1996, S. 127-137, hier S. 132. 47 Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 44. 48 Text von Hughes New Haven Rede in: »Hughes Discloses Policy in Speech«, New York Times (20.12.1922). Nach dem Scheitern der Konferenz in Paris bekräftigte die USRegierung ihre Ablehnung, direkt involviert zu werden: »We Stand on Hughes's Hint«, New York Times (5.1.1923). 49 Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 122f. 44 100 3. Die Anfange der modernen Auίenpolitik Großbritannien übertragen werden. Ferner sollten Frankreich und die anderen Alliierten auf die Goldreserven, die sie während des Krieges in England hinterlegt hatten, verzichten. Die deutsche Reparationsschuld sollte zunächst um 50 Mrd. GM, später eventuell um weitere 17 Mrd. GM gesenkt und das deutsche Finanzgebaren durch einen von der RepKo unabhängigen Rat ausländischer Experten überwacht werden. Der Plan sah weiterhin ein zweijähriges Moratorium für deutsche Reparationen, ausschließlich der Sachlieferungen, vor. Pfander waren in dem Programm nicht vorgesehen, nur für den Fall deutscher Nichterfüllung hielt London eine Pfandnahme für möglich. Im Gegensatz dazu sah der französische Vorschlag50 vor, daß die deutsche Reparationsbelastung nur in dem Umfang reduziert werden sollte, in dem auch die interalliierten Schulden verringert würden. Die Mark sollte stabilisiert und der Haushalt des Deutschen Reiches einer strikten Kontrolle durch den der RepKo angegliederten comite des garanties unterworfen werden. Ein zweijähriges Moratorium, das nicht für Sachlieferungen gelten sollte, sollte durch Pfänder abgesichert werden, die sich an dem von Coste Ende Dezember 1922 ausgearbeiteten Plan orientierten. Eine militärische Besetzung sollte also weitgehend vermieden werden. Nur im Falle deutschen Widerstandes sollte die Okkupation auf das ganze Ruhrgebiet ausgeweitet und eine innerdeutsche Zollgrenze errichtet werden. Obwohl die französischen Vorschläge große Zugeständnisse an die englische Position bedeuteten, blieb der grundsätzliche Widerspruch zwischen London und Paris bestehen. Die französische Kritik bestand dabei vor allem in den folgenden Punkten51: die Unabhängigkeit des von England ins Spiel gebrachten Kontrollrats für die deutschen Finanzen von der RepKo, die Nichteinbeziehung der alliierten Kriegsschulden bei den USA und die Übertragung der französischen Gläubigerrechte auf Großbritannien, weil Paris dahinter vor allem die Absicht vermutete, daß London den wirtschaftlichen Einfluß Frankreichs in Osteuropa zurückdrängen wollte. Wichtigster Konfliktpunkt blieb aber die Frage der Pfänder, für die England inakzeptabel strikte Bedingungen forderte. Allerdings hatte sich im Laufe des Jahres 1922 innerhalb der französischen Position eine gewisse Radikalisierung - im Sinne einer stärkeren Zuwendung zu politischen Zielen anstelle von rein wirtschaftlichen Pressionen eingestellt. Dieser Wandel erklärt zum Teil, weshalb die deutschen und britischen Vorschläge zur Lösung der Reparationsfrage, die sich im gleichen Zeitraum den weniger radikalen Wünschen der französischen Regierung aus der ersten Hälfte des Jahres 1922 annäherten, in Paris weitgehend ungehört verhallten52. Da die Vorschläge Bonar Laws auch die Interessen Belgiens und Ita- 50 51 52 Siehe ibid. S. 121f. Siehe ibid. S. 122­124. Siehe ibid. S. 113f. 3.1. Der Ruhrkampf 101 liens weitgehend außer acht gelassen hatten, rückten Rom und Brüssel enger an Frankreich heran. Obwohl auf der Konferenz keine inhaltliche Annäherung erzielt worden war, ging die französische Regierung mit dem durchaus richtigen Gefühl aus den Gesprächen, daß England sich zwar an einer Ruhraktion nicht beteiligen, aber auch nichts dagegen unternehmen würde53. Die Motive für dieses nachsichtige Verhalten Londons lagen darin, daß bei den anstehenden Verhandlungen in Lausanne über die Zukunft Griechenlands und der Türkei Großbritannien von Frankreich Verständnis für den Standpunkt Griechenlands erwartete. Die neue britische Regierung brachte außerdem dem französischen Sicherheitsverlangen mehr Verständnis (oder vielleicht besser: weniger Unverständnis) entgegen als ihre Vorgängerin und befürchtete, daß ein offener Bruch die Lage nur noch verschlimmern würde: Ihre Einflußmöglichkeiten würden weiter sinken und der deutsche Widerstand bei einer offenen englischen Ablehnung der Aktion nur noch angeheizt werden. Einige englische Regierungsmitglieder waren auch fest vom Scheitern der französischen Ruhraktion überzeugt; danach, so die Einschätzung, werde es einfacher sein, mit den Franzosen zu reden54. Folgerichtig beschloß das englische Kabinett am 13. Januar 1923, daß sich die britischen Vertreter in allen interalliierten Gremien, vor allem also der Botschafterkonferenz, der Reparationskommission und der Rheinlandkommission, bei Fragen, die die Besetzung weiterer Teile Deutschlands betrafen, der Stimme enthalten sollten. Diese Entscheidung erlaubte es Frankreich, in den neu zu besetzenden Gebieten fast ungehindert zu schalten und zu walten55. Poincare setzte nun die lange vorbereiteten Pläne zum Einmarsch in das Ruhrgebiet in die Tat um: Noch während der Pariser Konferenz hatte der französische Ministerrat beschlossen, einen Plan Fochs, der eine schrittweise Besetzung des Ruhrgebiets in verschiedenen Zonen vorsah, durchzuführen56. Die RepKo stellte am 9. Januar 1923 - wiederum gegen die Stimme Bradburys fest, daß Deutschland auch mit der Lieferung von Reparationskohlen in Verzug sei57, und am Tag darauf überreichten der französische Botschafter in Berlin, Pierre de Margerie, und sein belgischer Kollege, Adrien Nieuwenhuys, dem deutschen Außenminister Rosenberg eine Note ihrer Regierungen, in der die Entsendung einer alliierten Ingenieursmission zur Überwachung der Arbeit des Kohlensyndikats angekündigt wurde58. Französische und belgische Truppen sollten diese Mission beschützen. Begründet wurde die Aktion mit Para53 Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 61f. Siehe FISCHER, Ruhr Crisis, S. 30. 55 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 124. 56 Siehe ibid. S. 127. 57 Siehe ibid. 58 Siehe CORNEBISE, Ruhrbesetzung, S. 179. 54 102 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik graph 18 der Anlage II des Teils VIII des Versailler Vertrags59. Am 11. Januar 1923 rückte die alliierte Kommission, die die deutschen Kohlenlieferungen sicherstellen soll, die Mission Interalliee de Contröle des Usines et des Mines (M.I.C.U.M.), begleitet von einem belgisch-französischen Expeditionskorps, ins Ruhrgebiet ein60. Die M.I.C.U.M.61 war ein interalliiertes Organ unter französischer, belgischer und italienischer Beteiligung und bestand aus 72 Ingenieuren (64 Franzosen, 6 Belgier und 2 Italiener), die entweder von der H.C.I.T.R., von Ministerien oder der Privatwirtschaft abgestellt worden waren. Die Kommission war unabhängig von der H.C.I.T.R. und eigens für den Zweck der Ruhrbesetzung geschaffen worden. Ihre Aufgaben bestanden darin, die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Gruben und Fabriken im Ruhrgebiet festzustellen, die Programme des Kohlensyndikats, welches die Reparationslasten auf die einzelnen Gruben verteilte, zu überprüfen und gegebenenfalls neue Reparationspläne aufzustellen. Die Ruhrbesetzung begann mit einem Fehlschlag. Das Kohlensyndikat, Hauptziel der Nachforschungen der M.I.C.U.M., hatte zwei Tage vor Beginn der Ruhraktion seine gesamten Unterlagen nach Hamburg geschafft62, und der passive Widerstand, den die Reichsregierung kurz nach der Besetzung erklärt hatte, traf die belgischen und französischen Stellen weitgehend unvorbereitet. Man hatte zwar mit symbolischem Widerstand und Einzelaktionen gerechnet, eine Massenbewegung aber nicht erwartet63. Auf die Verkündung des passiven Widerstands reagierte die französische Regierung auf zweifache Weise. Zum einen mit Zwangsmaßnahmen, wie die Ausweisung von Beamten und Eisenbahnpersonal, die am 30. Januar 1923 in 59 Es ist für den Zusammenhang dieser Arbeit relativ unerheblich, ob die Ruhrbesetzung rechtmäßig war oder nicht. Ich schließe mich dennoch der Auffassung Weill-Raynals an, daß sie es nicht war. Er argumentierte wie folgt: 1. § 18 würde die Klauseln des Versailler Vertrags, die die Verlängerung eines Besatzungsregimes im Falle deutscher Nichterfüllung ermöglichen (Artikel 430 des Versailler Vertrags) überflüssig machen; 2. Bei der ersten Fassung des § 18 auf der Friedenskonferenz wurden die Sanktionsmöglichkeiten noch einzeln aufgeführt. Die Forderung Klotz', auch territoriale Sanktionen aufzunehmen, wurde bei der Diskussion des § 18 jedoch ausdrücklich abgelehnt; 3. Die Interpretation des § 18 liegt bei der RepKo, nicht bei der französischen Regierung. In Fragen, die die Interpretation des Versailler Vertrags betreffen, mußte die RepKo einstimmig entscheiden, nicht, wie bei der Ruhrbesetzung geschehen, mit einer belgisch-französischen Mehrheit; 4. Frankreich hatte sich nach einem Alleingang bei der Besetzung einiger rechtsrheinischer Gebiete 1920 Großbritannien gegenüber verpflichtet, nur noch gemeinsam mit den Alliierten weitere Gebietsbesetzungen vorzunehmen. Siehe W E I L L - R A Y N A L , Reparations, Bd. 1, S. 544 und D E R S . , Reparations, Bd. 2, S. 368-375. 60 61 Siehe GlRAULT, Europe, S. 133. Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 157f.; BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 109f. 62 Siehe Pierre JOLLY, Dossier inedit... de la guerre de la Ruhr ... de ses consequences, Paris 1974, S. 172. 63 Siehe C O R N E B I S E , Ruhrbesetzung, S. 181. 3.1. Der Ruhrkampf 103 großem Umfang begann und besonders solche Personen betraf, die nicht aus dem Rheinland stammten oder sich beim passiven Widerstand besonders exponiert hatten. Zwischen Januar und November 1923 wurden 147 000 Deutsche aus dem Rheinland ausgewiesen64. Zum anderen begannen die französischen und belgischen Besatzer mit der wirtschaftlichen Abschnürung des besetzten Gebiets vom Restreich65. Damit beabsichtigten sie, die Bevölkerung im Rheinland gefügig zu machen und Deutschland, das den passiven Widerstand finanzierte, der Mittel dazu zu berauben. Darüber hinaus diente diese Politik dem Zweck, das Ruhrpfand produktiv zu machen, indem die Steuerund Zolleinnahmen sowie die Gewinne aus den staatlichen Domänen (vor allem Forste und Bergwerke) als Reparationen gepfändet wurden. Folgerichtig wurde erneut eine innerdeutsche Zollgrenze errichtet und zahlreiche Verbote erlassen, die die Ausfuhr bestimmter Güter (besonders Kohlen) aus dem besetzten Gebiet in das unbesetzte Deutschland betrafen. Ausgenommen waren jedoch Lebensmittellieferungen, da sich die Besatzer nicht des Vorwurfs schuldig machen wollten, das Ruhrgebiet auszuhungern66. Ein weiteres Ziel der französischen Seite war, durch die wirtschaftliche Abtrennung der besetzten Gebiete vom Reich auch deren politische Abspaltung vorzubereiten. Diesem Zweck dienten die Errichtung der Eisenbahnregie, die die Strecken im Rheinland verwaltete, und die Versuche zur Schaffung einer rheinischen Währung. Die Schaffung einer rheinischen Währung war schon seit langem von Tirard geplant worden67. Der Verfall der Mark konnte dabei als guter Vorwand dienen, ökonomische Notwendigkeit mit politischen Absichten zu verknüpfen, und am 22. Januar 1923 erhielt Tirard von Poincare den Auftrag, sich um die Währungsfrage zu kümmern68. Parallel dazu gab es Vorüberlegungen einiger interessierter Privatbanken, vor allem von der Societe generale alsacienne de Banque und von Lazard freres69, die sich vor allem an den in Ägypten und Syrien geschaffenen Kolonialbanken orientierten70. Im Grunde genommen drehte sich die Diskussion um die Schaffung einer rheinischen Währung um drei Pro64 Siehe BARlfiTY, Relations franco­allemandes, S. 114. Nach anderen Quellen wurden mehr als 187 000 Personen ausgewiesen, siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (15.1.1924), B A r c h R 3101, 20436. 65 Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 194; BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 114. Durch die französischen Besatzungstruppen wurden sogar 77 neue öffentliche Suppenküchen eingerichtet, siehe JEANNESSON, Poincare, S. 207. Soziale Maßnahmen im Zusammenhang mit der französischen Rheinlandpolitik gehen bereits auf die Zeit Napoleons I. zurück, siehe TIRARD, Rhin, S. 279. 67 Siehe BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 114. 68 Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 218f. 69 Siehe Debrix an Atthalin (1.2.1923), Banque de Paris et de Pays-Bas (BPPB), 1 Cabet 66 1, 187. 70 Namentlich der Banque Nationale d'Egypte und der Banque de la Syrie, siehe Berard an Atthalin (29.1.1923), BPPB, 1 Cabet 1, 187. 104 3. Die Anfange der modernen Auίenpolitik jekte, die das Jahr 1923 hindurch mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Abwandlungen diskutiert wurden: Das erste Projekt wurde vom Generaldirek­ tor der Societe generale alsacienne de Banque, Rene Debrix, und Vertretern von Lazard freres vorgelegt. Darin wurde vorgeschlagen, eine stabile rheini­ sche Wδhrung zu schaffen, deren Banknoten durch franzφsische Schatzwech­ sel gedeckt sein sollten71. Ein weiterer Plan, der auf den Generalsekretδr der H.C.I.T.R., Hermant, zur٧ckging, bestand aus einer rheinischen Wδhrung, die durch Gold gedeckt sein sollte und erregte, wie auch der erste Vorschlag, so­ fort den Widerspruch des Finanzministeriums72. Ein anderes Projekt, vorgelegt von Edmond Giscard D'Estaing und Poisson, die beide im Stab Tirards tδtig waren, sah die Schaffung einer privaten Bank vor, in die zunδchst franzφsi­ sche, spδter aber auch Kreditinstitute aus anderen Lδndern Kapital einbringen sollten. Als weitere Variante dieses Plans schlug der Direktor der im Mδrz 1923 geschaffenen Eisenbahnregie, Henri Breaud, vor, die rheinischen Eisenbahnen als Deckung fur eine neue rheinische Wδhrung zu verwenden73. Letztendlich scheiterten die franzφsischen Versuche zur Einfuhrung einer rheinischen Wδhrung daran, daß einige Privatbanken, vor allem einige Pariser Großbanken, dem Projekt skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden74. Eine Ansicht, die von der Banque der France geteilt wurde, die Gefahren fur die Stabilität und Konvertibilität des Franc sah75. Vor allem aber wollte der französische Staat, besonders Finanzminister de Lasteyrie, angesichts der schwierigen Lage, in denen sich die öffentlichen Finanzen in Frankreich befanden, keine staatlichen Garantien übernehmen76. Es waren aber nicht nur finanzielle, sondern auch politische Probleme, die die Einfuhrung einer rheinischen Währung scheitern ließen. Belgien, das Poincare, um dem Unternehmen einen interalliierten Anstrich zu geben, unbedingt im Boot haben wollte, war zwar durch die Banque Nationale de Belgique an den Verhandlungen beteiligt, verschleppte diese aber, weil es hinter den französischen Plänen - nicht zu unrecht - politische Hintergedanken vermutete77. Aber auch auf französischer Seite machte man sich Gedanken über die politischen Vorbedingungen einer rheinischen Währung. In einem »Plan d'action monetaire en pays occupe«78 vom 24. September 1923 - zwei Tage, bevor die Reichsregierung mehr oder weniger bedingungslos den passiven Widerstand beenden mußte, zu einem Zeitpunkt also, als der französische Triumph im Ruhrkampf total zu sein 71 Siehe Debrix an Atthalin (1.2.1923), BPPB 1 Cabet 1,187. Siehe BARiiTY, Relations franco­allemandes, S. 115. 73 Siehe Breaud an Tirard und Degoutte (5./6.9.1923), Banque de France (BdF) 1370200008/76. 74 So z.B. Atthalin [?] an B6rard (31.1.1923), BPPB 1 Cabet 1, 187. 75 Vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum, BdF, 1370200008/76. 76 Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 317. 77 Siehe ibid. S.221. 78 O.V. (24.9.1923), BdF 1370200008/76. 72 3.1. Der Ruhrkampf 105 schien ­ wurde festgestellt, daß die Einfuhrung einer rheinischen Währung zwei Bedingungen genügen müsse: Erstens müsse die finanzielle und administrative Autonomie der besetzten Gebiete von Deutschland bzw. den deutschen Ländern erreicht werden und zweitens müsse der Anstoß zur Lösung der Währungsfrage von der dortigen Bevölkerung kommen. In der Tat verschärfte sich die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten bald so weit, daß von Seiten der Rheinländer Ende Oktober/Anfang November 1923 der Wunsch nach einer eigenen Währung vorgetragen wurde79. Als Gründe für die Errichtung einer »Rheinischen Goldnotenbank« führten die Befürworter, vor allem der Kölner Bankier Louis Hagen, aber auch andere Wirtschaftsführer und Politiker aus dem Rheinland, wie Robert Pferdmenges und Hugo Stinnes, an, daß die Wirtschaft in den besetzten Gebieten wegen der desolaten Lage unbedingt ausländisches Kapital brauche (welches durch die Beteiligung ausländischer Teilhaber an der Goldnotenbank eingebracht würde)80. Außerdem sei bei einer deutschen Weigerung zu befürchten, daß Franzosen und Belgier eine Notenbank ganz ohne deutsche bzw. rheinische Beteiligung gründen würden81. Die wirtschaftliche Not in den besetzten Gebieten spiele zudem den Separatisten in die Hände82. Die französische Regierung war diesen Plänen gegenüber zwar prinzipiell positiv eingestellt, es entbrannte aber mit den rheinischen Bankiers eine Auseinandersetzung darüber, wer die Kontrolle über das neu einzurichtende Institut haben sollte83. Die Reichsregierang hatte jedoch schwere Bedenken bezüglich der Bankpläne84: Das Projekt bedrohe die Währungseinheit des Reiches und damit auch die wirtschaftliche und politische Einheit Deutschlands. Allerdings bestand für die geplante gesamtdeutsche Währungssanierung die Gefahr, daß, falls das neue Geld auch in den besetzten Reichsgebieten eingeführt würde, die Besatzungsbehörden durch ihre Praxis, Gelder für den Unterhalt der Besatzungstruppen zu beschlagnahmen, die Stabilität der neuen Währung sofort wieder unterminieren würden85. Deswegen und unter dem Druck der vereinigten rheinisch-westfälischen Wirtschaftinteressen stimmte die Reichsregierung dem am 1. Dezember 1923 vorgelegten Statut für eine Rheinisch-Westfälische Goldnotenbank widerwillig und unter strengen 79 Auf einer »Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete« (25.10.1923) hatte Louis Hagen darauf hingewiesen, »daß es unbedingt notwendig sei, mit einer Währungsreform im Rheinland schnellstens vorzugehen«, AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 179. 80 »Besprechung des Kabinetts mit Interessenten der Rheinisch-Westfälischen Goldnotenbank« (17.12.1923), AdR MarxzxutsrponmlihgedcbaVSRPNMKIHGBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 29. 81 Siehe Hagen an Marx (31.12.1923), AdR Marx Ι/Π Bd. l,Nr. 44. 82 Siehe Kabinettssitzung (9.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 233. 83 SieheSONJEA JEANNESSON, Poincar6, S. 353­355. 84 Siehe Kabinettssitzung (17.12.1923), AdR Marx Ι/Π Bd. 1, Nr. 28. 85 Vgl. Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 179. 106 3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik Auflagen zu86. Letztendlich scheiterte die rheinische Wδhrung an der erfolg­ reichen Einf٧hrung der Rentenmark, die eine Sonderregelung f٧r das Rhein­ land obsolet machte. Großbritannien stützte die Rentenbank in der kritischen Anfangsphase durch einen 100 Mio. GM Kredit der Bank of England und machte damit deutlich, daß ein wirtschaftlich und währungspolitisch an Frankreich gebundenes Rheinland nicht englischen Interessen entsprach87. Das zweite Instrument, das Frankreich zur Durchsetzung seiner politischen Rheinlandpläne nutzen wollte, war die Eisenbahnregie. Sie war zunächst aus der Not geboren, denn der passive Widerstand hatte den Eisenbahnverkehr im ganzen Ruhrgebiet und Rheinland lahmgelegt. Formell wurde die Regie, also der Betrieb der Eisenbahnen in den besetzten Gebieten unter Aufsicht der Alliierten und zum Teil mit Personal aus Frankreich und Belgien, am 12. März 1923 eingerichtet. Im Sommer 1923 stellten sich Erfolge ein, die die Politik des passiven Widerstands der Berliner Regierung zunehmend schwächten88. Die Eisenbahnregie war aber auch sicherheitspolitisch wichtig, denn die dauerhafte Kontrolle über die Eisenbahnen würde einen deutschen Truppenaufmarsch im Rheinland unmöglich machen89. Getragen von diesen Überlegungen, legte der Direktor der Regieeisenbahnen, Breaud, am 15. Juni 1923 einen weitreichenden Plan zur Umgestaltung der Eisenbahn in den besetzten Gebieten vor90. Sein Projekt beinhaltete die Umwandlung der rheinischen Eisenbahnen in eine internationale Gesellschaft nach französischem Recht mit Sitz in Paris. Der Generaldirektor sollte seinen Sitz bei der H.C.I.T.R. in Koblenz haben, der harte Kern der Angestellten sollte aus 15-20 000 französischen und belgischen Arbeitern bestehen, zu denen weitere 80-100 000 aus dem Rheinland kommen sollten. Das Kapital von 50 Mio. Francs sollte zu 15 Prozent von den Rheinländern selbst gezeichnet werden, die übrigen 85 Prozent nach dem in Spa vereinbarten Schlüssel für die Reparationen auf die Alliierten verteilt werden. Wie auch bei den Plänen zur Schaffung einer rheinischen Währung scheiterte Frankreich letztendlich an der Errichtung einer selbständigen rheinischen Eisenbahngesellschaft91. Neben juristische Probleme - das Reich hätte als Eigentümer der Eisenbahnen der Besitzübertragung zustimmen müssen - traten wiederum vom französischen Finanzministerium vorgebrachte Vorbehalte: Es lehnte staatliche Zuschüsse und Garantien ab, was das Projekt für mögliche private Anleger unattraktiv machen mußte. Selbst in Frankreich setzte sich außerdem während und nach den VerVgl. Marx an Hagen (22.12.1923), AdR MarxzyvutronmlkihgedcbaXTSPNKIFDCBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 36. Siehe Curzon an Kilmarnock (3.12.1923), in: DBFP 1 XXI, Nr. 485; Tyrell an Saint­ Aulaire (12.12.1923), ibid. Nr. 491; vgl. SCHΦTZ, Deutschlandpolitik, S. 140f. 88 Siehe BARlfeTY, Relations franco­allemandes, S. 117. 89 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 231. 90 Siehe ibid. S. 308. 91 Siehe ibid. S. 365f. 86 87 3.1. Der Ruhrkampf 107 handlungen des Dawes­Komitees die Auffassung durch, daß Deutschland nur dann seine Reparationsverpflichtungen würde leisten können, wenn es über sein ganzes Eisenbahnnetz verfugte. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen, die Frankreich ergriff, um Deutschland einerseits zum Nachgeben zu zwingen und um andererseits das Ruhrpfand »produktiv« zu machen, sind auch die Versuche zu sehen, Bergwerke und Kokereien im Ruhrgebiet direkt auszubeuten. Ab September 1923 wurden sukzessive ausgewählte Bergwerke und Kokereien besetzt, um vor allem die Koksversorgung der französischen Schwerindustrie sicherzustellen. Bis Dezember 1923 konnte aus den besetzten Gruben und Kokereien Kohlen und Koks nach Frankreich geliefert werden, die etwa einem Drittel der festgelegten Sachlieferungen entsprachen92. Diese Aktionen standen im Zusammenhang mit Fühlungnahmen zwischen dem Verband der französischen Eisenindustriellen, dem Comite des forges, und den an der Ruhraktion beteiligten Ministerien, vor allem dem Quai d'Orsay und dem Ministerium für öffentliche Arbeiten93. Bereits Anfang des Jahres 1923 hatte der Comite des forges seinen Generalsekretär Robert Pinot beauftragt, einen Bericht über die Schwierigkeiten der französischen Schwerindustrie zu verfassen, der am 16. April 1923 übergeben wurde. Dieser Bericht, der den entsprechenden Ministerien vorlag, von dort aber wohl keine offizielle Antwort erfuhr, bezeichnete als das Kernproblem der französischen Industrie die Abhängigkeit der Eisenproduktion von deutschem und englischem Koks. Aufgrund der Ausfalle der deutschen Sachlieferungen nach der Ruhrbesetzung habe die Produktion der lothringischen Eisenwerke auf die Hälfte zurückgefahren werden müssen. Als Abhilfe forderte der Comite des forges, der allerdings erst am 29. Oktober 1923 den Bericht Pinots zu seiner offiziellen Linie machte94, von den politischen Stellen, Vorzugslieferungen von 1,5 Mio. t Koks bei der deutschen Industrie durchzusetzen, die alten Absatzgebiete der lothringischen Schwerindustrie, vor allem das Ruhrgebiet und den süddeutschen Raum, wiederherzustellen und die Übertragung der Eigentumsrechte deijenigen Ruhrbergwerke, die vor dem Krieg die lothringischen Eisenwerke versorgt hatten, auf deren neue französi92 Siehe ibid. S.310f. Zur Einflußnahme des Comite des forges siehe ibid. S. 366-369. 94 Als Grund für diese lange Phase der Passivität zwischen der Vorlage des Pinot-Berichts und den Vorstößen des Comite des forges bei den politischen Stellen dürften wohl Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Industrie eine Rolle gespielt haben: Der französische Kohlenproduzentenverband, der Comite central des houilleres de France (C.C.H.F.), lehnte die Pläne des Comite des forges ab, weil es eine Schwächung der französischen Bergwerksbesitzer gegenüber den Eisenindustriellen befürchtete, falls diese auch noch ihre eigene Koksversorgung, zumindest teilweise, sicherstellen konnten. Aber auch innerhalb des Comite des forges gab es Widerstände, vor allem von den de Wendeis: Sie besaßen bereits Bergwerke in Deutschland und fürchteten um ihren Vorsprüng gegenüber den Konkurrenten, sollten diese nun auch Bergwerke oder zumindest Beteiligungen in Deutschland erhalten, siehe ibid. 93 108 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik sehe Besitzer, die jetzt diese Werke betrieben. Der Quai d'Orsay, die H.C.I.T.R. und die M.I.C.U.M. machten sich nun die Vorstellungen des Comite zu eigen, und in einem gemeinsamen Bericht vom 20. Dezember 1923 forderten Guillaume und der neue Chef der M.I.C.U.M., Paul Frantzen95, eine Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Bergwerken. Eine Übertragung der vollen Eigentumsrechte wurde jedoch verworfen, weil man in diesem Fall eine Diskriminierung der Bergwerke in französischem Besitz, z.B. beim Transport, befürchtete, und weil man in Frankreich nur an Koks interessiert war; um die nicht verkokbare Kohlen aus diesen Bergwerken sollten sich dann die deutschen Anteilseigner kümmern. Im Sommer des Jahres 1923 begannen die französischen Pressionen Wirkung zu zeigen: Der passive Widerstand bröckelte, und das Ruhrpfand wurde durch die Eisenbahnregie und die Konfiszierung von Kohlen und Geld nun tatsächlich produktiv. Die Reichsregierung hatte schon recht bald nach der Ausrufung des passiven Widerstandes erkannt, daß sie diese Abwehrmaßnahme gegen Frankreich nur begrenzte Zeit würde aufrechterhalten können96. Trotz aller öffentlichen Durchhalteparolen hatte Cuno bereits frühzeitig über Mittelsmänner Kontakt mit den Alliierten aufnehmen lassen, um zu einer Lösung für das Ruhrproblem zu kommen. Zum einen bemühte man sich, direkt mit Frankreich ins Gespräch zu kommen: Stinnes versuchte Ende März 1923 über seinen Emissär in Paris, Alfred Schmidt, und den Pariser Korrespondenten der Stinnes nahestehenden »Deutschen Allgemeinen Zeitung« (DAZ), Werner Sinn, Kontakt zu verschiedenen französischen Politikern wie beispielsweise Millerand, Loucheur oder Herriot aufzunehmen, allerdings ohne Erfolg97. Erfolglos blieb auch die Fühlungnahme Maltzans Mitte April mit Oswald Hesnard98, um zu einer Übereinkunft auf Basis der Vorschläge von Hughes' New Haven-Rede und dem Angebot eines Sicherheitspakts zu kommen, der sowohl die westlichen wie auch die östlichen Grenzen einschloß. Gleichzeitig bemühte sich die Reichsregierung, über Frankreichs ehemalige Verbündete Paris zum Einlenken zu bewegen. Einer Demarche des deutschen Botschafters in London, Friedrich Sthamer, beim Foreign Office in London war aber ebenso wenig Erfolg beschieden 95 imile Coste, der als zu weich galt, wurde im März 1923 durch Frantzen an der Spitze der M.I.C.U.M. abgelöst, siehe ibid. S. 427. 96 Zum folgenden siehe ibid. S. 176-178. 97 Zu Einzelheiten vgl. Peter W U L F , Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918-1924, Stuttgart 1979 (Kieler Historische Studien, 28), S. 356-379. 98 Die Rolle, die Hesnard in der französischen Botschaft in Berlin spielte, ist etwas diffus: Er war kein Botschaftsmitglied, aber an die Botschaft angegliedert, vgl. T. D E M O R E M B E R T , art. »Hesnard (Oswald)«, in: Roman D ' A M A T , R. L L M O U Z I N - L A M O T H E (Hg.), Dictionnaire de biographie franfaise, Bd. 17, Paris 1989, Sp. 1164; Jacques B A R I 6 T Y , Finances et relations internationales: Ä propos du »plan du Thoiiy« (septembre 1926), in: Relations internationales 21 (1980), S. 51-70, hier S. 51, 55f. 3.1. Der Ruhrkampf 109 wie den Gesprδchen des deutschen Botschafters in Rom, Konstantin von Neu­ rath, mit Mussolini. Durch den R٧cktritt des amtsm٧den Cunφ und den Regierungsantritt Stre­ semanns am 13. August 1923" kam neuer Schwung in die Vermittlungsbem٧­ hungen' 00 . Das Ziel Stresemanns war zunδchst einmal die Beendigung des passiven Widerstandes. Erst wenn dieses Faß ohne Boden gestopft war, konnte die deutsche Währung saniert und eine erträgliche Reparationsregelung gefunden werden. Diesen Überlegungen lag das Kalkül zugrunde, daß vor allem die USA und England nicht mehr länger dem wirtschaftlichen Verfall Deutschlands - und somit dem Verlust eines wichtigen Exportmarktes und potentiellen Kreditnehmers - zusehen wollten. Auch für Frankreich war nach Ansicht Stresemanns die Ruhrbesetzung nur die zweitbeste Lösung: Die Kosten für Frankreich waren politisch wie wirtschaftlich hoch, und Paris mußte ein Interesse an dauerhaft gesicherten Reparationen haben. Jedoch: Stresemann wollte, solange der passive Widerstand noch leidlich funktionierte, diese letzte verbliebene Trumpfkarte nicht ohne Gegenleistungen ausspielen, zumal seine Position, sollte er den Ruhrkampf bedingungslos abbrechen, nicht nur politisch höchst gefährdet gewesen wäre: »Falls die Regierung eine bedingungslose Aufgabe des passiven Widerstandes vertreten wolle, würde, wie mir der Führer der Deutschnationalen Exzellenz Hergt gesagt habe, der Reichskanzler ein - mindestens politisch - toter Mann sein«101. Zur gleichen Zeit mehrten sich die Anzeichen dafür, daß vor allem England und die USA das Vorgehen Frankreichs nicht mehr weiter hinnehmen wollten. England stellte in einer Note vom 11. August 1923 erstmals die Rechtmäßigkeit der Ruhraktion in Frage102, und Präsident Harding schlug erneut die Einsetzung einer Expertenkommission oder einer Regierungskonferenz zur Lösung der Reparationsfrage vor103. Trotz dieser für Deutschland positiven Signale scheiterten zunächst die Versuche Stresemanns, die englische Regierung zu einer aktiveren Haltung gegenüber Frankreich zu bewegen104. Die Reichsregierung setzte nun auf Brüssel, das man für konzilianter als Paris hielt. Gegenüber dem belgischen Gesandten «in Berlin, dem Comte Deila Faille, schlug Stresemann am 1. September 1923 · als Gegenleistung für das Ende 99 Zur Entstehung des Kabinetts Stresemann siehe BAECHLER, Stresemann, S. 341 f. Zu den Zielen und Vermittlungsbemühungen Stresemanns siehe Karl Dietrich ERDMANN, Alternativen der deutschen Politik im Ruhrkampf, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 29-38, hier S. 31-33. 101 Besprechung des Reichskanzlers mit dem belgischen Gesandten (16.9.1923), AdR Stresemann I/II Bd. l , N r . 61. 102 Siehe Jonathan WRIGHT, Stresemann and Locarno, in: Contemporary European History 4 (1995), S. 109-131, hier S. 114. Text der Note: DBFP 1 XXI, Nr. 330. 103 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 67. 104 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 354. 100 110 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik der Ruhrbesetzung den Abbruch des passiven Widerstandes und einen Sicherheitspakt ähnlich des später in Locarno zustande gekommenen vor. Als Pfand für die Reparationen bot er die Belastung der deutschen Industrie und Landwirtschaft sowie der Eisenbahnen durch eine Hypothek zugunsten der Alliierten an105. Eine Beteiligung belgischer und französischer Industrieller an deutschen Unternehmen stellte er ebenfalls in Aussicht. Einen Tag später, bei einer Rede in Stuttgart, unterstrich Stresemann zwar die Forderung nach einem Moratorium und einer Anleihe für Deutschland, gleichzeitig bekundete er aber auch den Willen zur deutsch-französischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet106. Am Tag darauf übermittelte er die Vorschläge, die er bereits Deila Faille gemacht hatte, dem französischen Botschafter in Berlin, de Margerie107. Zwei Wochen später kam es zu einem neuerlichen Gespräch mit dem belgischen Gesandten, in dem Stresemann nochmals die Bedingungen für den Abbruch des passiven Widerstands nannte: die Freilassung der politischen Gefangenen und Rückkehr der Ausgewiesenen sowie Garantien für die Einheit des Reiches108, womit vor allem die Rückkehr zum Rheinlandstatut und zum Status quo ante des 11. Januar 1923 sowie die Rückgabe der Regieeisenbahnen unter deutsche Verwaltung gemeint waren109. Allerdings: Poincare lehnte die deutschen Vorschläge rundheraus ab und instruierte seinen Botschafter sogar, sich nicht einmal auf offiziöse Gespräche diesbezüglich einzulassen110: Jetzt auf Verhandlungen einzugehen, hieße, einen wichtigen Trumpf aus der Hand zu geben, wo der passive Widerstand sowieso nur noch für wenige Tage oder Wochen aufrechterhalten werden könne111. Das Treffen zwischen dem neuen englischen Premier Baldwin und Poincare am 19. September 1923 dämpfte den deutschen Optimismus weiter. Zwar kam es bezüglich der Ruhrfrage zu keiner einheitlichen Position, doch wurden die Irritationen, die durch die englische Note vom 11. August ausgelöst worden waren, beigelegt112. Die Hoffnungen Deutschlands, durch eine Intervention Englands doch noch einige Vorteile aus der Aufgabe des passiven Widerstands ziehen zu können, schwanden zusehends113. Da Poincare zwischenzeit105 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 294. Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 356. Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 294. 108 Siehe Unterredung des Reichskanzlers mit dem belgischen Gesandten (16.9.1923), AdR StresemannzutsronmlkihgfedcbaYVUTSRPONKJIHEDBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 61. 109 Siehe Kabinettssitzung (18.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 64. 110 Siehe Unterredung des Reichskanzlers mit dem französischen Botschafter (17.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 62 und Aufzeichnung Stresemann (18.9.1923), ADAP A Vin, Nr. 152. 111 Siehe BARJfiTY, Relations franco­allemandes, S. 226f. 112 Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 192f. 113 Siehe Hoesch an AA (21.9.1923), ADAP A VIII, Nr. 158. 104 107 3.1. Der Ruhrkampf 111 lieh durch Zugestδndnisse an Italien in der Korfufrage sich auch der Unter­ st٧tzung Roms in der Ruhrpolitik versichern konnte, sah sich Deutschland weiterhin isoliert114. Intern liefen bei der Reichsregierung derweil die Vorbereitungen, den passi­ ven Widerstand bedingungslos abzubrechen. Bei einer Besprechung mit Par­ teivertretern aus den besetzten Gebieten am 24. September 1923 sprachen sich bis auf den Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) alle fur einen Abbruch des passiven Widerstandes aus115. Am gleichen Tag traf Stresemann mit Wirtschaftsvertretern zusammen, die ebenfalls f٧r die Beendigung des Ruhrkampfs waren116. Auch die Ministerprδsidenten der Lδnder votierten mehrheitlich daf٧r117. Am 26. September 1923 verk٧ndete die Regierung Stresemann die Beendi­ gimg des passiven Widerstandes118. Tags darauf wurden per Dekret alle im Zusammenhang damit erlassenen Verordnungen und Gesetze aufgehoben119. Warum und woran scheiterte der passive Widerstand letztlich? Der Ruhr­ kampf wurde zunehmend unfinanzierbar, und, so stellte Maltzan fest, »[d]iese Tatsache ist von entscheidender Bedeutung«120. Der passive Widerstand ver­ schlang tδglich 40 Mio. GM121, denen keinerlei Einnahmen aus dem besetzten Gebiet gegen٧berstanden. So f٧hrte dieses immer größer werdende Ungleichgewicht der öffentlichen Finanzen auch zur immer dramatischeren Entwertung der Mark, nachdem die letzten verzweifelten Stabilisierungsversuche im April 1923 gescheitert waren122. Der Verfall der Währung und die wirtschaftlichen Repressalien führten außerdem zu sozialen Spannungen. Bereits im Juni 1923 lag die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet bei über vier Prozent, acht Mal so hoch wie noch im Voijahresmonat, und da die Währung schneller an Wert verlor als die Löhne stiegen, wurde auch die Versorgung deqenigen Arbeiter, die noch in Lohn und Brot standen, immer schwieriger123. Voraussetzung für die Sanierung der Währung war aber wiederum die Beendigung des passiven Widerstands124. Die wirtschaftliche Not und die aus ihr resultierenden Unruhen führten darüber hinaus zu einer politischen Radikalisierung besonders bei 114 Schubert an Stresemann (20.9.1923), ADAP A VIH, Nr. 157. Siehe Besprechung mit Vertretern der 5 Parteien und Vertretern des besetzten Gebiets (24.9.1923), AdR StresemannzutsrponmlihgedcbaVUTSRPONLKJGEBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 76. 116 Siehe Besprechung mit Vertretern der Wirtschaftsverbände und Beamtenorganisationen des besetzten Gebiets (24.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 77. 117 Besprechung mit den Ministerpräsidenten (25.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 79. 118 Siehe GlRAULT, Europe, S. 134. 119 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 296. 120 Runderlaß MaltzanmV (10.9.1923), ADAP A Vm, Nr. 138. 121 Siehe ibid. 115 122 123 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 274. Siehe Leipart an Walker (29.8.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 32. 124 Siehe Kabinettssitzung (7.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 47. 112 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Kommunisten und extremen Nationalisten. Der passive Widerstand wurde gewalttätiger und richtete sich zunehmend nicht nur gegen die Besatzer, sondern auch gegen die verhaßte Regierung in Berlin125. Außerdem entfremdete der kommunistische und nationalistische Terror auch die Bevölkerung des besetzten Gebiets vom Reich126. Im Zusammenhang mit diesen politischen Auflösungserscheinungen waren auch die monarchistischen Umtriebe in Bayern und die kommunistischen Unruhen in Thüringen und Sachsen zu sehen, die den Bestand des Reiches und seiner republikanischen Institutionen zunehmend bedrohten127. Besonders augenscheinlich wurde dies aber an den im Herbst 1923 wieder aufbrechenden separatistischen Unruhen im Rheinland128. Der Erfolg Frankreichs bei der Nutzbarmachung des Ruhrpfandes mußte den deutschen Durchhaltewillen weiter erschüttern129. So wurde der passive Widerstand schließlich nur noch weitergeführt, um einige Zugeständnisse zu erhalten und um nicht das Gesicht zu verlieren. Doch die Lage wurde immer verzweifelter: »Allgemeine Überzeugung: Sofort Verhandlungen mit Frankreich - passiven Widerstand aufrechterhalten, damit Zeit zu Verhandlungen«130. Aber Ende September war der deutsche Spielraum völlig erschöpft131 und fast alle politischen Kräfte waren zur Aufgabe bereit132. Auch außenpolitisch stand das Reich mit dem Rücken an der Wand, denn so sehr begrüßenswert die englische Note vom 11. August 1923 auch war, »so muß gleichwohl eine nüchterne Beurteilung der ganzen englischen Haltung während der Ruhrkrisis zu dem Schluß gelangen, daß die Haltung Englands in dem Ruhrkonflikt nicht als aktiver Faktor für die deutsche Politik betrachtet und eingesetzt werden könne. Dasselbe mußte von der Haltung der italienischen Politik gelten«133. Poincare hatte also gewonnen, auf der ganzen Linie: Deutschland lag wirtschaftlich und politisch am Boden. Langsam, aber stetig steigend, strömte Koks über Eisenbahnen, die fest in französisch-belgischer Hand waren, zu den lothringischen Hochöfen, und man hatte weder den Deut- 125 Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 262. Siehe ibid. S. 264. 127 Siehe BARIÄTY, Relations firanco-allemandes, S. 237f. 128 Vgl. Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Aufzeichnung Dinger] (15.9.1923), AdR StresemannzutsrponmihgedcbaVSRPONJGEBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 60 und Bericht über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der politischen Parteien des alt- und neubesetzten Gebiets in Elberfeld [Aufzeichnung Rausch] (19.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 70. 129 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 268. 130 Besprechung mit rheinischen Abgeordneten (6.9.1926), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 43. 131 Besprechung mit Vertretern der 5 Parteien und Vertretern des besetzten Gebiets (24.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 76. 132 Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Aufzeichnung Dinger] (15.9.1923) AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 60. 133 Runderlaß MaltzanmVPDA (10.9.1923), ADAP A Vm, Nr. 138. 126 3.1. Der Ruhrkampf 113 sehen noch den Englδndern oder Belgiern irgendwelche Zugestδndnisse ma­ chen m٧ssen. Allerdings, so eindeutig und total wie der franzφsische Sieg Ende Septem­ ber 1923 schien, war er keinesfalls. F٧nf große Entwicklungslinien, zum Teil eng miteinander verwoben, sorgten dafür, daß sich bis Ende 1923 eine grundlegende Änderung der Situation, in der sich Deutschland und Frankreich befanden, einstellen sollte. Diese fünf Faktoren waren die grundlegende Änderung des außenpolitischen Umfelds, die Privatverhandlungen zwischen den Besatzungsbehörden und der deutschen Wirtschaft, die Vorarbeiten zum Dawes-Plan sowie das Aufflammen des Separatismus im Rheinland und die Verschiebungen in den innenpolitischen Kräfteverhältnissen beider Länder. Bereits im Sommer des Jahres 1923 deutete sich an, daß weder die USA noch Großbritannien bereit waren, die französische Politik im Rheinland und im Ruhrgebiet langfristig zu dulden. In beiden Ländern mehrten sich Befürchtungen, daß die Auflösungserscheinungen Deutschlands zu einer Destabilisierung ganz Europas beitragen und der kommunistischen Bewegung neuen Auftrieb geben würden134. Der dauerhafte Ausfall Deutschlands als wichtigem Absatzmarkt und Auffangbecken für Investitionen sowie die Sorge einer sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Hegemonie Frankreichs in Europa verstärkten die Befürchtungen in London und Washington135. Die Vereinigten Staaten hatten sich nach der Rede Hughes in New Haven Ende des Jahres 1922 zunächst passiv verhalten. Erst im Sommer des Jahres 1923 kam erneut Bewegung in die amerikanische Politik. Zum einen waren die USA jetzt stärker an einer Lösung der Reparationsfrage interessiert136: Durch das Wadsworth-Abkommen137 vom 25. Mai 1923, das beinhaltete, daß die amerikanischen Besatzungskosten nicht mehr durch konfisziertes deutsches Eigentum, sondern aus den deutschen Reparationszahlungen geleistet werden sollten, und durch das Schuldenabkommen zwischen England und den Vereinigten Staaten vom 18. Juni 1923138 entstand ein noch engerer Nexus zwischen Reparations- und Schuldenfrage, obwohl das offizielle Washington stets diesen Zusammenhang leugnete. Da der Ruhrkampf aber die deutschen Leistungen so gut wie zum Erliegen gebracht hatte, mußte es auch im ameri134 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 219; GlRAULT, Europe, S. 135. Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 46; KR٢GER, Auίenpolitik, S. 219. 136 Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45. 137 Text des Abkommens: Wadsworth an Hughes (26.5.1923), Papers Relating to the Foreign Relations of the United States, hg. v. Department of State [FRUS], 1923, II, Washington D.C. 1938, S. 180­186. 138 Bereits seit Anfang Februar hatte man sich jedoch auf die Grundprinzipien eines Ab­ kommens geeinigt, siehe Combined Annual Reports of the World War Foreign Debt Com­ mission. With additional Information regarding Foreign Debts due to the United States Fiscal Years 1922, 1923, 1924, 1925 and 1926, hg. v. World War Foreign Debt Commission, Washington D.C. 1927, S. l l f . 135 114 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik kanischen Interesse sein, zu einer Lösung des Reparationsproblems zu kommen. Außerdem mehrten sich in den Sommermonaten die negativen Folgen des Ruhrkampfs für die US-Wirtschaft: Die Agrar- und Kapitalexporte gingen zurück, und die Stimmen, die vor einer wirtschaftlichen Balkanisierung Europas warnten - eine Befürchtung, die durch die völlig aus dem Ruder laufende Inflation nicht nur in Deutschland noch verstärkt wurde - mehrten sich139. Der plötzliche Tod Präsident Hardings am 2. August 1923140 und die Amtsübernahme durch Calvin Coolidge bewirkten eine Änderung der Haltung Washingtons, weil der neue Präsident vor allem in Frankreich den »stumbling block«141 für die Reparationsfrage erblickte. Die Verhandlungen zum deutschamerikanischen Handelsvertrag, die im Sommer 1923 begannen, machten dabei das wirtschaftliche Interesse der USA an Deutschland deutlich. Dieser Vertrag hatte Modellcharakter, weil er die Ziele der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik in Europa definierte: Die USA wollten den möglichst ungehinderten Zugang zu allen europäischen Märkten, was durch Handelsverträge, die auf der Meistbegünstigung basierten, erreicht werden sollte. Eine in Washington befürchtete wirtschaftliche Hegemonie Frankreichs in Europa hatte in diesem Konzept keinen Platz142. Ähnlich wie die USA hatte sich auch Großbritannien zunächst abwartend gegenüber der französischen Politik verhalten und wohlwollende Neutralität gegenüber den belgischen und französischen Aktionen gezeigt. Ein Grund für diesen Attentismus war die bereits angesprochene Befürchtung, in Paris vollends an Einfluß zu verlieren, sollte es zum endgültigen Bruch mit Frankreich kommen143. Auch innenpolitische Überlegungen ließen London zunächst von einer eindeutigen Positionsbestimmung zurückschrecken, denn neben der Ablehnung der Ruhrbesetzung durch die oppositionelle Labour Party144 gab es insbesondere am rechten Rand der regierenden konservativen Partei starke frankophile Strömungen145. Außerdem verdiente Großbritannien anfangs sehr gut am Ruhrkampf und konnte seine Kohlenexporte, da die deutsche Förderung infolge des passiven Widerstands daniederlag, kräftig ausweiten, bei gleichzeitig steigenden Kohlenpreisen. Auch andere Wirtschaftszweige profitierten zunächst vom Ausfall der deutschen Konkurrenz146. Allerdings endete diese Katastrophenkonjunktur bereits im August, und die negativen wirtschafit139 Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45f. Siehe William A. DEGREGORIO, The Complete Book of U.S. Presidents, New York 3 1991, S. 442. 141 Dieckhoff an AA (13.10.1923), ADAP A DC, Nr. 189. 142 Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45. 143 Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 62f. 144 Siehe Leipart an Walker (29.8.1923), AdR StresemannzutsronmkihgfedcaWSRPONJIHECBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 32. 145 Siehe Aufzeichnung Stresemann (17.8.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 1, Nr. 8, siehe auch SCHWABE, Ruhrkrise, S. 63. 146 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 240f. 140 3.1. Der Ruhrkampf 115 lichen Folgen des Ruhreinbruchs machten sich auch in England immer stδrker bemerkbar: Der deutsche Markt war weitgehend zusammengebrochen, und die Hausse der Kohlepreise ließ in dem Maße nach, in dem es Frankreich gelang, das Ruhrpfand in den Griff zu bekommen147. Außerdem setzte sich in der Presse wie im Parlament eine zunehmend kritischere Haltung gegenüber Frankreich durch, die ihre Grundlagen vor allem darin hatte, daß das Ruhrpfand nun tatsächlich Gewinn abzuwerfen schien und mit der französischen Herrschaft über die Ruhr ein deutsch-französischer Wirtschaftsblock entstehen könnte, der die britischen Wirtschaftsinteressen bedrohte148. Entscheidend für die Änderung der englischen Politik gegenüber Frankreich war, daß Paris, nachdem Deutschland den passiven Widerstand aufgegeben hatte, weiter an seiner unnachgiebigen Politik gegenüber Berlin festhielt149. Für London wurde damit endgültig klar, daß Frankreich eben keine Lösung für das Reparationsproblem suchte, sondern weitreichende (sicherheits-)politische Interessen an Rhein und Ruhr verfolgte. Zunehmende Verbitterung erfuhr auch, daß Frankreich weiterhin seine osteuropäischen Verbündeten mit Rüstungskrediten versorgte, sich aber gleichzeitig weigerte, seine Kriegsschulden in England zu bezahlen150. Die zweideutige Haltung Frankreichs bei den separatistischen Unruhen ab Ende Oktober 1923, der französische Widerstand bei der Einsetzung des Dawes-Komitees, die Pläne für die Eisenbahnregie und eine rheinische Notenbank verstärkten dieses Mißtrauen gegenüber der französischen Politik nur noch weiter151. Nachdem die Labour Party bei den Wahlen im November starke Zugewinne erzielen konnte, gewannen die Frankreichkritischen Kräfte weiter an Gewicht152. Auch in Belgien, das aufgrund seiner Position als Zünglein an der Waage in vielen alliierten Gremien, wie z.B. der H.C.I.T.R. oder der RepKo, eine wichtige Rolle spielte, fand eine außenpolitische Reorientierung statt. Brüssel hatte von Anfang an in der Ruhraktion ein Mittel zum Zweck - in diesem Falle: zur Lösung des leidigen Reparationsproblems - gesehen153. Zur Teilnahme der Ruhraktion hatte sich die belgische Regierung auch erst dann entschlossen, als London den Wünschen der Belgier nicht entgegengekommen war154. Die sich zunehmend manifestierenden politischen Ambitionen Frankreichs im Rheinland beunruhigten dagegen Brüssel. Stand nicht zu befürchten, daß, wenn im 147 Siehe ibid. S. 241. 148 S i e h e SCHWABE, R u h r k r i s e , S. 67f. 149 Zum folgenden siehe ibid. S. 76-78. 150 Siehe Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP A DC, Nr. 10. Ausführlich hierzu vgl. WURM, Sicherheitspolitik, S. 30-54. 151 Siehe JulesROLHECA LAROCHE, Au Quai d'Orsay avec Briand et Poincare, 1913­1926, Paris 1957, S. 182. 152 Siehe KRÜGER, Versailles, S. 122. 153 Siehe ROTH, Belgique, S. 132. 154 Siehe ibid. S. 131. 116 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Rheinland ein profranzösischer Satellitenstaat entstünde, Belgien gewissermaßen von Frankreich umzingelt sei? Und könnte die französische Unterstützung für den rheinischen Separatismus nicht auch den flämischen Separatisten als Vorwand zu neuerlicher Aktivität dienen155? Als man sich in London nun gemüßigt sah, eine aktivere Politik gegenüber Frankreich zu betreiben, war dies nur im belgischen Interesse156. Auch das ebenfalls in verschiedenen alliierten Gremien vertretene Italien157 war, was die französischen Ziele in der Ruhr anging, skeptisch. Mussolini fürchtete ebenfalls einen deutsch-französischen Wirtschaftsblock. Italiens Teilnahme am Ruhrkampf war in erster Linie dadurch motiviert, dies zu verhindern. Als sich der Wind gegen Frankreich zu drehen begann, nahm auch die italienische Regierung zunehmend Abstand zu Frankreich. Betrachtet man diese außenpolitischen Veränderungen, so hatte Frankreich, im Vergleich zum Sommer, im Herbst 1923 mit wesentlich stärkerem Widerstand zu rechnen, während die deutsche Lage sich etwas rosiger darstellte, auch wenn eine substantielle Unterstützung nach wie vor kaum erfolgte. Eng im Zusammenhang mit den Verschiebungen auf außenpolitischem Gebiet sind die Entwicklungen zu sehen, die zur Einberufung eines Expertenkomitees zur Feststellung der deutschen Zahlungsfähigkeit, dem späteren Dawes-Komitee, führten. In vielerlei Hinsicht verlief die Entwicklung parallel zu den außenpolitischen Ereignissen. Die Initiative zu einer Kommission, die die deutsche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit - und somit die Fähigkeit Deutschlands, Reparationen zu zahlen - feststellen sollte, ging, wie gesagt, von den USA aus: Hughes hatte bereits im Sommer 1922 und erneut in seiner New Haven-Rede ein solches Gremium ins Spiel gebracht. Am 20. Juli 1923 sandte die britische Regierung eine Note an Frankreich158, in der der HughesPlan zur Lösung der Reparationsfrage erneut aufgegriffen wurde und die »im Kontext intensiver diplomatischer Beratungen zwischen der britischen und amerikanischen Führung zu sehen ist«159. Durch den Tod Präsident Hardings wurden die Bemühungen zunächst unterbrochen160. Am 12. Oktober 1923 unternahm London einen erneuten Versuch, die USA zur Teilnahme an der Lösung der Reparationsfrage zu bewegen, da die britischen Versuche bei den eu155 Die Haltung Belgiens bei den separatistischen Unruhen im Rheinland ist ebenfalls nicht ganz eindeutig; zu Einzelheiten s.u. Zur Frage des flämischen Separatismus im Zusammenhang mit den Unruhen im Rheinland siehe Bericht des Reichspostministers über Lage und Aussichten der separatistischen Bewegung in Düsseldorf (28.9.1923), AdR Stresemannzyvutsrqponm Ι/Π Bd. 1, Nr. 89. 156 Siehe ROTH, Belgique, S. 134. 157 Zur Haltung Italiens siehe JEANNESSON, Poincard, S. 246f. 158 Siehe Curzon an Saint­Aulaire (20.7.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 306. 159 LINK, Ruhrkonflikt, S. 47. Zum folgenden siehe ibid. S. 47f. 160 Siehe Melvyn P. LEFFLER, The Elusive Quest. America's Pursuit of European Stability and French Security, 1919­1933, Chapel Hill 1979, S. 87. 3.1. Der Ruhrkampf 117 ropδischen Alliierten nichts bewirkt hδtten, aber »without such action, not me­ rely Germany, but Europe appears to be drifting into economic disaster«161. Am 15. Oktober 1923 stimmten die USA dem endlich zu162, und am 19. Oktober 1923 beauftragte die britische Regierung ihren Botschafter in Pa­ ris, Crewe, der franzφsischen Regierung mitzuteilen, daß die USA bereit seien, sich an einer Regierungskonferenz oder einem Expertengremium zur Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands zu beteiligen163. Auslöser für diesen Stimmungswandel in Washington waren die Verhandlungen zwischen der M.I.C.U.M. und den Ruhrindustriellen, die in den USA und in Großbritannien die Furcht vor einem deutsch-französischen Wirtschaftsblock nährten. Hughes' Andeutung gegenüber dem französischen Geschäftsträger in Washington am 22. Oktober 1923, die eine mögliche Verbindung des Reparations- mit dem Kriegsschuldenproblem erkennen ließ164, bewegte wohl Poincare dazu, am 25. Oktober 1923 den angloamerikanischen Vorschlägen zur Einsetzung eines Expertenkomitees (eine Regierungskonferenz lehnte er ab) zuzustimmen165, allerdings unter Auflagen166: Die Experten sollten im Auftrag der RepKo arbeiten, und ihre Expertise sollte sich lediglich auf die Feststellung der Leistungsfähigkeit Deutschlands zur Zahlung der Reparationen (einschließlich des deutschen Kapitals, das ins Ausland verschoben worden war) beschränken. Über die Höhe der von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen - die in Spa festgelegten 132 Mrd. GM - sollten nicht verhandelt werden. Auch die Ruhrbesetzung und die M.I.C.U.M.-Verträge sollten ausdrücklich ausgeklammert bleiben und die Räumung des Ruhrgebiets nur nach Maßgabe der deutschen Zahlungen erfolgen. Die deutsche Reparationsnote vom 24. Oktober 1923167 hatte die Entscheidung der französischen Regierung sicherlich erleichtert, denn Deutschland hatte sich mit der Berufung auf Art. 234 des Versailler Vertrags, der die 161 Curzon an Chilton (12.10.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 392. Siehe Hughes an Chilton (15.10.1923), FRUS 1923,zyxwvutsrponmlkjihgfedcbaYXWVUTSRPN Π, S. 70­73. 163 Siehe Curzon an Crewe (19.10.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 403. 164 Die Aussage war jedoch sehr vage gehalten: »If, instead of attempting the futile task of obtaining the cancellation of debts, the European Governments were to proceed to settle their financial matters and to adjust the reparation problem and to give reason to believe that there would be European cooperation in the interest of peace and the reduction of expenses which were unnecessary, a different feeling would be likely to exist in this country; although it was unlikely that there would be any willingness to cancel the debts, yet terms, conditions and time of payment could be considered in such a way that consideration would be taken of the actual conditions of the European debtors in the light of what settlements were made. For the reasons he stated, the secretary said, he could give no definite assurance in the matter«, Hughes an Whitehouse (24.10.1923), FRUS 1923, Π, S. 79­83. 165 Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 33; BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 263­ 265. Die entsprechende Verbalnote an die britische Regierung ist abgedruckt in: DBFP 1 XXI, Nr. 415, Anm. 1. 166 Hierzu siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 272f. 167 Text der Note: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1249. 162 118 3. Die Anfange der modernen Außenpolitik Überprüfung der Reparationszahlungen durch die RepKo vorsah, auch für Poincare eindeutig wieder auf die Grundlage des Friedensvertrags gestellt. Zwar dauerte es noch bis zum 13. November 1923, bis Frankreich endgültig dem Verfahren der Expertenkommission zustimmte, die Würfel waren jedoch schon seit dem 25. Oktober 1923 gefallen. Am 30. November schließlich setzte die RepKo offiziell die Experten-Kommissionen ein168. Ebenso wie die vergrößerte Bereitschaft vor allem der angelsächsischen Mächte, an der Lösung des Ruhrproblems mitzuwirken, trug auch die Einsetzung des DawesKomitees - eine direkte Folge dieser Bemühungen - dazu bei, die Positionen Frankreichs und Deutschlands zu modifizieren. Durch das Eingehen auf die internationale Lösung verringerte sich Frankreichs Spielraum in der Ruhr- und Reparationspolitik, während Deutschland weniger stark vom Wohlwollen der Pariser Regierung abhängig wurde. Wie gesagt, die veränderte außenpolitische Lage war nur ein Aspekt der Entwicklung. Wie wirkten sich die Verhandlungen zwischen den Besatzungsbehörden und der deutschen Wirtschaft auf die Situation beider Staaten aus169? Im Mittelpunkt der französischen Aktivitäten, das Ruhrpfand produktiv zu machen, standen die Verhandlungen zwischen der M.I.C.U.M. und den deutschen Schwerindustriellen, die zu den sogenannten M.I.C.U.M.-Verträgen führten. Bereits im Juni 1923 war der Kölner Stahlgroßhändler Otto Wolf? 70 , der Cunos Politik des passiven Widerstandes ablehnte, in Kontakt zu den französischen Besatzungsbehörden getreten. In einem Gespräch zwischen ihm und dem Direktor des Phoenix-Konzerns (der ebenfalls Wolff gehörte), Werner Carp, mit General Denvignes von der französischen Besatzungsarmee schlug Wolff eine weitgehende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich vor. Poincare blieb jedoch zunächst skeptisch. Er sah in dem Vorhaben Wolffs einen Versuch, ihn um die Früchte des bevorstehenden Sieges im Ruhrkampf zu bringen. Erst Ende August, als sich die Anzeichen mehrten, daß der passive Widerstand mehr und mehr zerfaserte und die Reichsregierung bald würde aufgeben müssen, stimmte der französische Ratspräsident schließlich Gesprächen mit deutschen Industriellen zu. Bereits Anfang Oktober kam es zu einem Abkommen171 zwischen Wolffund den französischen Besatzungsbehörden, in dem sich Wolff verpflichtete, rückwirkend die seit dem Einmarsch der französischen und belgischen Truppen nicht mehr abgeführte Kohlensteuer nachzuzahlen und auch künftig die Zahlungen Der Text der Entscheidung der RepKo ist abgedruckt in: Rufus C. DWSONJEA AWES, The Dawes Plan in the Making, Indianapolis 1925, S. 297f. 169 In diesem Zusammenhang stehen natürlich auch die Verhandlungen über eine rheinische Goldnotenbank, die bereits oben dargestellt wurden, und auf die im folgenden nur kursorisch eingegangen werden soll. 170 Zu den Gesprächen Otto Wolffs siehe JEANNESSON, Poincari, S. 312f. 171 Siehe Besprechungen über Verhandlungen der Phoenix- und Rheinstahlgruppe mit den zivilen Besatzungsbehörden (10.10.1923), AdR StresemannrdNB Ι/Π Bd. 2, Nr. 123. 168 3.1. Der Ruhrkampf 119 wieder vorzunehmen, kostenlos Reparationskohlen zu liefern, den Besatzungs­ truppen unentgeltlich Kohlen zur Verfugung zu stellen, und der Eisenbahnre­ gie zu festgelegten Preisen Kohlen zu verkaufen. Im Gegenzug wurden die von den Besatzungsbehφrden blockierten Stahlwaren freigegeben und Export­ lizenzen ausgestellt. Das Abkommen zwischen Wolff und der M.I.C.U.M. hatte eine zweifache Bedeutung: Erstens stellte es den Prδzedenzfall fur die spδteren M.I.C.U.M.­ Abkommen dar und setzte die anderen Schwerindustriellen unter Zugzwang. Wolff hatte auf eigene Faust mit den Franzosen verhandelt und nun als erster die Freigabe seiner Produktion erreicht. Derart unter Druck gesetzt, mußte nun auch der Bergbauliche Verein, dessen Interessen durch die sogenannte »Sechserkommission«172 vertreten wurden, mit den Besatzungsbehörden zu einer Einigung kommen. Die Industrievertreter versuchten, durch die Verhandlungen mit der M.I.C.U.M. aber nicht nur gegenüber dem Konkurrenten Wolff gleichzuziehen, sie bemühten sich auch darum, die Gespräche zu nutzen, wichtige sozialpolitische Errungenschaften der Weimarer Republik, allen voran den 8-Stunden-Tag, wieder rückgängig zu machen173. Weitere Forderungen umfaßten das Ende der von den Besatzungsbehörden verhängten Zwangsmaßnahmen, vor allem die Freigabe der Lagerbestände an Roh- und Fertigprodukten, die Freigabe des Eisenbahnverkehrs, ein Ende der Beschlagnahme von Geld, die Einstellung von Ausweisungen usw. sowie den Zugang zu Auslandskrediten und die Verringerung der Kohlensteuer174. Zweitens wurde durch die Gespräche Wolffs mit den Besatzungsbehörden die Position der Reichsregierung erheblich geschwächt, die ja stets die Unrechtmäßigkeit der französischen Ruhrbesetzung betont hatte, welche jedoch nun durch die privaten Abkommen mit den Besatzungsbehörden quasi legitimiert wurde175. Die Autorität Berlins, die nach der Aufgabe des Ruhrkampfs, den Querelen in Sachsen, Thüringen und Bayern und der separatistischen Bedrohung im Rheinland schon stark gelitten hatte, wurde dadurch weiter untergraben. Allerdings war die wirtschaftliche Lage so desolat176, daß die Produktion im 172 Die Sechserkommission bestand aus Albert Vogler (deutsch-luxemburgische Bergwerksund Hütten A.G.), Albert Janus (Vorsitzender des rheinisch-westfälischen Kohlensyndikats), Georg Liibsen (Direktor der Gutehoffhungshütte), Otto von Velsen (Generaldirektor der Hibernia), Peter Klöckner (Klöckner Werke A.G.) uhd Hugo Stinnes (u.a. Dortmunder Union, deutsch-luxemburgische Bergwerks- und Hütten A.G., Stinnes Zechen, Essen), siehe Besprechung der Sechserkommission mit General Degoutte in Düsseldorf (5.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 1, Nr. 111. 173 Siehe ibid. 174 Siehe ibid. 175 Siehe Besprechungen über Verhandlungen der Phoenix- und Rheinstahlgruppe mit den zivilen Besatzungsbehörden (10.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 123. 176 Allein im besetzten Gebiet war etwa die Hälfte der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen und die Währungslage blieb prekär, vgl. StS Fischer vor der RepKo (23.11.1923), 120 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Ruhrgebiet unbedingt wieder aufgenommen werden mußte. Auch die geplante Währungsstabilisierung konnte nur dann glücken wenn die Wirtschaft wieder in Gang kam und die Sozialleistungen, die infolge der hohen Arbeitslosigkeit explodiert waren, reduziert werden konnten. Besonders an dem Punkt der Sozialleistungen offenbarte sich das Dilemma der Reichsregierung. Um die neue Währung erfolgreich einzuführen, mußten die Zahlungen an das besetzte Gebiet aufhören. Hörten aber die Zahlungen auf, verringerte sich der ohnehin geringe Einfluß der Reichsregierung dort weiter. Die Ingangsetzung der Wirtschaft, die nach Lage der Dinge ganz von den Franzosen abhing, würde zwar die Finanzlage des Reiches verbessern, aber ebenfalls zu einem weiteren Einflußverlust führen. In dieser Situation traten die Industriellen von Rhein und Ruhr an die Reichsregierung heran. Sie forderten177, daß Berlin die von Frankreich rückwirkend verlangte Kohlensteuer übernehmen und die Kohlensteuer ganz abschaffen solle. Außerdem sollte sich die Regierung bereit erklären, die von der Industrie an Frankreich zu leistenden Reparationszahlungen zu erstatten, Anlaufkredite zur Verfügung zu stellen und die Arbeitszeit zu verlängern. Die Reichsregierung lehnte die Forderungen der Industrie zunächst ab, mußte aber, nachdem die Industriellen erklärt hatten, andernfalls könne die Produktion nicht wieder aufgenommen werden, zustimmen, zumindest die Kosten für die Reparationskohlen und die rückwirkend erhobene Kohlensteuer zu tragen178. Trotz dieser Zugeständnisse der Reichsregierung gestalteten sich die Verhandlungen zwischen Wirtschaftsvertretern und Besatzungsbehörden schwierig179. Bis zum 25. Oktober 1923 hatten zwar 24 Firmen, die etwa 20 Prozent der Produktion des besetzten Gebiets ausmachten, Verträge mit der M.I.C.U.M. abgeschlossen180. Erst am 23. November 1923 kam es jedoch zur Unterzeichnung eines allgemeinen Rahmenvertrags, der alle davor geschlos- ADAP A IX, Nr. 16 und Bezirkssekretär Heinrich Meyer an den Vorstand des ADGB AdR StresemannvutsrponmlkihgfedcbaZVSRPONMKIHFCBA Ι/Π Bd.SRONMJEDA 2, Nr. 177. 177 Zu den Forderungen der Industrie siehe Besprechung mit Ruhrindustriellen im Reichstagsgebäude ( 9 . 1 0 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 121. 178 Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 32 und Stresemann an die Sechserkommission des Bergbaulichen Vereins ( 1 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 2 1 3 . 179 Zum Verhandlungsverlauf s. Besprechung mit Hugo Stinnes und anschließende Ministerbesprechung ( 3 1 . 1 0 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 2 0 8 ; Vermerk Ministerialrats Kiep über den Stand der Verhandlungen zwischen Sechserkommission und Micum ( 8 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 2 2 9 ; Besprechung betreffend Verhandlungen der Sechserkommission ( 1 3 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 2 4 6 ; Sechserkommis­ sion des Bergbaulichen Vereins an die Micum ( 1 4 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 2 5 8 , Chefbesprechung ( 1 6 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann VO. Bd. 2, Nr. 2 6 2 . 180 Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 3 1 5 . (25.10.1923), 3.1. Der Ruhrkampf 121 senen Vertrδge ersetzte bzw. ergδnzte und bis zum 15. April 1924 g٧ltig sein sollte181. Durch die M.I.C.U.M.­Vertrδge konnte Frankreich also das Ruhrpfand end­ lich voll funktionsfδhig machen und erreichen, daß die Schornsteine an Rhein und Ruhr wieder rauchten. »Im Endergebnis erlangten die Franzosen durch die M.I.C.U.M.-Verträge eine vollkommene Kontrolle der Ruhrwirtschaft«182. War es tatsächlich so? Die M.I.C.U.M.-Verträge hatten einige Schönheitsfehler. Einer davon war, daß sie zeitlich begrenzt waren, und eine Verlängerung mit den gleichen für Frankreich vorteilhaften Bedingungen nur dann gelingen konnte, wenn Paris eine ähnlich starke wirtschaftliche und politische Pression auf die Ruhrindustrie bzw. auf die deutsche Politik würde ausüben können. Der zweite Schönheitsfehler bestand paradoxerweise darin, daß es gerade die M.I.C.U.M.-Verträge waren, die die französische Position im Ruhrgebiet schwächten. Gewiß, die M.I.C.U.M.-Verträge waren sehr vorteilhaft im französischen Sinne und sehr restriktiv für die deutsche Industrie. Aber dennoch stellten sie für Deutschland eine erhebliche Verbesserung der Lage dar und erlaubten es dem Reich, sich langsam aus den französischen Fesseln zu befreien: Sie ermöglichten es, daß die deutsche Produktion wieder anlief und trugen so dazu bei, daß die Währungsreform erfolgreich durchgeführt werden konnte. Indem die Wirtschaft sich erholte und der Wohlstand zumindest nicht mehr weiter schrumpfte, wurde die Grundlage auch für die Stabilisierung der politischen Lage in Deutschland geschaffen. Insofern konnten die M.I.C.U.M.-Verträge also auch durchaus zum Eigentor für die französische Politik werden, zumal es Frankreich nicht gelang, die Wirtschaftsabkommen in einen politischen (etwa durch die Schaffung eines wie auch immer gestalteten Rheinstaats) oder wirtschaftlichen Kontext (etwa durch die Gründung einer rheinischen Notenbank) zu stellen. Auch der weitere Ausbau des französischen Einflusses auf die deutsche Privatwirtschaft - durch die Beteiligung französischer Unternehmen an der deutschen Industrie - gelang nicht, obwohl es Ansätze dazu gegeben hatte. Von einem gewissen Interesse und bezeichnend für den Fehlschlag dieses Ansatzes sind die Aktivitäten des Industriellen, Publizisten und Bildhauers 181 SiehetsronmlifedcaSRD ΒΑΚίέΤΥ, Relations franco­allemandes, S. 276. Die Vertrδge der M.I.C.U.M. betra­ fen jedoch nicht nur die Schwerindustrie und die chemische Industrie, sondern so gut wie jeden Industriezweig, wie die Zuckerindustrie, den Holzhandel, die Lederwaren­ und Textil­ industrie usw. Siehe Aufzeichnung des Reichsministers f٧r Wiederaufbau ٧ber die Reparati­ onsvertrδge der Besatzungsbehörden mit den Wirtschaftsverbänden (ohne Unterschrift) (18.1.1924), BArch R 3101, 14769. Zusammenfassend zu den M.I.C.U.M.-Verträgen: Was bedeuten die Micum-Verträge? (Richtlinie Nr. 85), hg. v. Reichszentrale für Heimatdienst, Berlin 1924. 182 ERDMANN, Alternativen, S. 33. 122 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Arnold Rechberg183, die dieser Ende des Jahres 1923 entfaltete184. Rechberg hatte vorgeschlagen, daß die französische Wirtschaft zu 30 Prozent an der deutschen Industrie beteiligt werden sollte. Dafür sollten im Gegenzug das Ruhrgebiet und das Rheinland geräumt werden. Ziel seines Plans war, sowohl das Reparationsproblem als auch das Sicherheitsproblem zu lösen. In Frankreich war die Resonanz - zumindest in politischen Kreisen185 - auf die Vorschläge Rechbergs groß186. Deutscherseits stießen die rechbergschen Pläne dagegen auf erheblichen Widerstand. Viele Industrielle lehnten die Pläne ab und die Politik Schloß sich dieser Haltung an187. Auch in Großbritannien sah man die Vorschläge »mit Besorgnis«188, schien sich doch hier der befürchtete deutsch-französische Wirtschaftsblock anzudeuten. Interessanter ist aber, daß die französische Regierung trotz der guten Ausgangslage nicht versuchte, diese sich bietende Chance als Ergänzung, ja als Perpetuierung der durch die M.I.C.U.M.-Verträge geschaffenen wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen: »Herr Poincare hat mir bekanntlich mitgeteilt, daß eine große Anzahl von deutschen Industriellen aus den besetzten Gebieten dauernd in Frankreich Gespräche mit der französischen Industrie anzuknüpfen suchte und daß er bisher die französischen Industriellen gebremst habe, damit einer Gesamtverständigung nicht vorgegriffen werde«189. Dadurch verschlechterte sich die französische Position nicht nur auf internationalem Parkett, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet - und das paradoxerweise gerade durch die M.I.C.U.M.-Verträge. Ein weiterer Faktor, der die Lage Deutschlands und Frankreichs in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 verändern sollte, waren die separatistischen Umtriebe im Rheinland. Bereits im Sommer und Frühherbst hatte es in den besetzten Gebieten verschiedentlich separatistische Manifestationen gegeben190. 183 Zur Person siehe Werner BÜHRER, art. »Rechberg, Arnold«, in: Wolfgang BENZ, Hermann GRAML (Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 265f. 184 Zum folgenden vgl. Kabinettssitzung (31.12.1923), AdR MarxzutsrponmlkihgfedcbaWSR Ι/Π Bd. 1, Nr. 43, Anm. 12, Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP Α Di, Nr. 77, und Auszug aus dem Journal Officiel Chambre des Deputes ­ 2e s6ance du 28 decembre 1923 aus BArch R 3101, 20437 und Karl Dietrich ERDMANN, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1966, S. 161f. 185 Die französische Wirtschaft war dagegen skeptischer, sie fürchtete von der deutschen Seite übervorteilt zu werden, siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.1.1924), BArch R 3101, 14767. 186 Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP AIX, Nr. 77. 187 Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 161f. 188 Sthamer an AA (10.1.1924), ADAP Α Di, Nr. 90. 189 Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP Α Di, Nr. 77. 190 Siehe Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Dinger] (15.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 60; Bericht über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der politischen Parteien des alt- und neubesetzten Gebiets [Rausch] (19.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 70; Bericht des Reichspostministers [Höfle] über Lage und Aussichten der separatistischen Bewegung in Düsseldorf (28.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 89. 3.1. Der Ruhrkampf 123 Zu einer Bedrohung wurde der rheinische Separatismus jedoch erst mit den Unruhen, die am 21. Oktober 1921 in Aachen ausbrachen und die sich dann auf weitere Stδdte im besetzten Gebiet ausweiteten191. Aachen lag in der belgi­ schen Besatzungszone, und die Beteiligung der verschiedenen belgischen Stel­ len am Putsch war etwas dubios: Involviert in die Putschvorbereitungen war vor allem der Comite de politique nationale beige192, der die Schaffung eines »Großbelgiens« unter Einschluß niederländisch-Flanderns, Luxemburgs und Limburgs forderte. Abgesichert werden sollte dieses Großbelgien nach Osten durch einen von Belgien abhängigen Pufferstaat im nördlichen Teil des besetzten Rheinlands, während im südlichen Teil ein französisch dominiertes Gebilde entstehen sollte. Dieser Comite de politique nationale erfuhr zwar eine gewisse Unterstützung durch einige Offiziere der belgischen Besatzungsarmee, nicht jedoch durch die von Henri Jaspar geführte Regierung, die in der Ruhraktion lediglich ein Mittel dazu sah, Deutschland zum Zahlen der Reparationen zu zwingen, und die sich im Laufe des Herbstes mehr und mehr von der intransigenten Politik Frankreichs abzuwenden begann. Paris indes war von den Vorgängen in Aachen - obwohl es natürlich Kontakt zu diversen separatistischen Grüppchen unterhielt - völlig überrascht, und es herrschte eine gewisse Konfusion, wie mit der neuen Lage umzugehen sei: Zunächst wies die Regierung die Truppen an, sich den Separatisten gegenüber neutral zu verhalten193, am 24. Oktober jedoch beauftragte Poincare Tirard, die Separatisten zu unterstützen194. Diese Anweisung war für viele in Paris unverständlich: Seydoux und Laroche, zu diesem Zeitpunkt directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales im Quai d'Orsay, bemerkten, daß die Separatisten nur dann Erfolg haben könnten, wenn sie die Unterstützung des Zentrums, der weitaus stärksten politischen Kraft im Rheinland, erhielten, dies aber höchst unwahrscheinlich sei - eine Einschätzung, der sich selbst Tirard anschloß195. Das Verhalten Poincares in der Separatistenfrage hat zu vielerlei Spekulationen Anlaß gegeben196. War es Folge eines Kommunikationsproblems, das den französischen Ratspräsidenten dazu veranlaßte, die Stärke der Bewegung zu überschätzen? Tirard hatte in diesem Zusammenhang auf den Übereifer von General Mangin hingewiesen, der den Einfluß der Separatisten zu hoch eingeschätzt und so eine richtige Beurteilung der Ereignisse in Paris behindert habe197. War die ganze Aktion gar eine belgische Finte, durch die Poincare ge191 Siehe JOLLY, Ruhr, S. 242f. Siehe hierzu B A R I Δ T Y , Relations franco­allemandes, S. 251. ,93 Siehe ibid. S. 253. 194 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 333. 195 Siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 254f. 196 Zusammenfassend siehe J E A N N E S S O N , Poincare, S. 336; R O T H , Poincare, S. 443­445. 197 Siehe T I R A R D , Rhin, S. 287f. Die Ausf٧hrungen Tirards waren wahrscheinlich aber auch dazu gedacht, seine eigene Rolle in den separatistischen Unruhen zu relativieren. Allerdings 192 124 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik zwungen werden sollte, die wahren Motive seiner Rheinlandpolitik offenzule­ gen 198 ? Wollte Peretti de la Rocca, Directeur des Affaires Politiques et Com­ merciales, der ein Anhδnger eines separaten Rheinstaates war, versuchen, Poincare in seinem Sinne zu beeinflussen? Oder hatte der französische Ratspräsident nicht vielmehr die Absicht, die Separatistenunruhen als Hebel zu einer Lösung der Reparationsfrage, sowohl gegenüber London als auch gegenüber Berlin zu nutzen? In Berlin, w o die Lage im Angesicht der Hyperinflation, die das Wirtschaftsleben mehr und mehr lähmte, und der politischen Probleme schon schwierig genug war, brach die Nachricht von den Aufständen im Rheinland als weitere Katastrophe über die Regierung herein. Zwischen Berlin und Köln wurden verschiedene Lösungsmöglichkeiten diskutiert, die, überspitzt gesagt, alle nur die Wahl zwischen Pest und Cholera waren. Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer sah die einzige Lösung in der Schaffung eines eigenen rheinischen Bundesstaates, »äußersten Falles auch eine Loslösung vom Reiche im Wege der Verständigung« 199 : Die Lage in Deutschland sei so trostlos, daß mit dem Auseinanderfallen des Reichs gerechnet werden müsse. Ein Eingreifen Englands sei in den nächsten Jahren nicht zu erwarten, es sei vorläufig ohnmächtig und dränge auf eine Einigung mit Frankreich. Die Schaffung eines Bundesstaates wäre für Frankreich günstig. Die Besorgnis, Kriegsschauplatz zu sein, würde diesen Bundesstaat, der eine maßgebende Stelle im Reiche einnehme, veranlassen, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Die Verbindung mit der französischen Industrie, die früher nach Lothringen bestanden hätte, würde wieder aufleben. Ein Pufferstaat dagegen wäre für Frankreich durchaus ungünstig, er würde so bestehen und einen Revanchekrieg nur beschleunigen. Trotz vielfacher Kritik erblicke er in der Zersetzung Preußens und in der Schwächung der Präsidialmacht eine schwere Gefahr. Immerhin bedeute die Loslösung von Preußen nach seiner Meinung das kleinere Übel, wenn dann der dauernde Friede zwischen Deutschland und Frankreich erreicht werden könne. Das Opfer, das mit der Schaffung eines Bundesstaates gebracht würde, hätte aber nur einen Zweck, wenn erreicht würde: 1) die Lösung der Reparationsfrage, 2) die Errichtung eines wirklichen Bundesstaates, nicht einer französischen Kolonie. Dies setze voraus die Beseitigung der Interalliierten Rheinlandkommission und der Besetzung. Daß man in dieser Voraussetzung weiterkomme, sei zwar wenig aussichtsvoll, er schätze die Aussicht auf vielleicht 1%200. Nach Auffassung von Finanzminister Luther 201 , der vor allem die gerade begonnene Währungsstabilisierung im Auge hatte (am 15. Oktober 1924 war die stand Mangin bereits seit Beginn der französischen Besetzung im Rheinland mit den Separatisten in Kontakt, vgl. Charles MANGIN, Lettres de Rhinanie, in: Revue de Paris, 43/7 (1936), S. 4 8 1 - 5 2 6 . 198 Jeannesson selbst stellt dazu fest: »Rien [...] dans les archives beiges, ne permet de conclure au double jeu de Bruxelles«, JEANNESSON, Poincari, S. 340. 199 Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemannvutsrnmlihed Ι/Π Bd. 2, Nr. 179. 200 MinR. Adelmann an RMbesGeb. [Fuchs] (26.11.1923), ADAP A IX, Nr. 20. Andere Zahlen bei JOLLY, Ruhr, S. 263. 201 Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 34. 3.1. Der Ruhrkampf 125 Rentenmarkverordnung in Kraft getreten, und einen Monat spδter sollte mit der Ausgabe der Rentenbanknoten begonnen werden), sollte das besetzte Ge­ biet sich selbst ٧berlassen werden. Das Reich sollte seine Zahlungen an die besetzten Gebiete einstellen und die dortige Bevφlkerung selbst zu einem mo­ dus vivendi mit Frankreich kommen. Nur so konnte seiner Ansicht nach die Wδhrungsstabilisierung gelingen, denn eine weitere Finanzierung der besetz­ ten Gebiete war ­ vor dem Hintergrund, daß dort aufgrund der französischen Beschlagnahme von Geldern und der daniederliegenden Wirtschaft keine Steuern eingenommen wurden bei weiter laufenden Kosten - völlig unkalkulierbar. In eine ähnliche Richtung gingen auch die Überlegungen des Reichstagsabgeordneten der Deutschen Volkspartei (DVP) Moldenhauer, der keine de jure, sondern nur eine faktische Übertragung von einigen Befugnissen auf das besetzte Gebiet wollte, »um die wichtigsten wirtschaftlichen Bedürfnisse des besetzten Gebiets zu erfüllen, namentlich auch eine eigene Währung und ein eigenes Budget, ein eigenes Steuerrecht einzuführen«202, ohne jedoch die französisch-belgischen Maßnahmen dadurch explizit zu sanktionieren. Auch die Überlegungen des Duisburger Oberbürgermeisters Karl Jarres gingen in Richtung einer »Versackungspolitik« ä la Luther und Moldenhauer, jedoch wollte Jarres die faktische Ablösung des Rheinlands mit einer »große[n] außenpolitischefn] Handlung«203 verbinden, wobei er an eine Aussetzung des Versailler Vertrags dachte, bis die Franzosen den Status quo ante vom 11. Januar 1923 wiederhergestellt hatten. Stresemann unterdessen war sowohl gegen die Rheinlandpläne Adenauers wie auch die Versackungspolitik. Besonders die »große außenpolitische Handlung« seines Parteifreundes Jarres - die Kündigung oder Aussetzung des Versailler Vertrags - lehnte er ab, »[d]enn wie die Dinge heute liegen, gibt uns der [Versailler, R.B.] Vertrag auch Rechte. Der Vertrag gibt uns zum mindesten das Recht, daß das Ruhrgebiet rechtswidrig besetzt ist, daß für das Rheinland nur das Rheinlandabkommen gilt, aber nicht die Vergewaltigungen, die heute dort bestehen«204. Allerdings mußte er - in Ermangelung anderer Machtmittel und angesichts der bevorstehenden Währungsreform - den Rheinländern zugestehen, zunächst selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Stresemann verfolgte dabei eine doppelte Strategie. Innenpolitisch blieb ihm wenig übrig, als abzuwarten und es den Rheinländern selbst zu überlassen, zu einer Regelung mit Frankreich zu kommen, bzw. die Lage so lange offenzuhalten, bis sich für die Berliner Regierung neue Eingriffsmöglichkeiten ergaben. Die Aussichten dafür waren nicht schlecht. Die separatistische Bewegung war in 202 Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR StresemannridbNIB Ι/Π Bd. 2, Nr. 179. 203 Ibid. 204 Ibid. 126 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik sich gespalten, hatte kein geeignetes Führungspersonal205 und der Rückhalt in der Bevölkerung war gering206 - keine der etablierten Parteien oder andere gesellschaftliche Gruppen, seien es Gewerkschaften oder Kirchen, unterstützten die Separatisten, die durch die vermeintliche oder tatsächliche Kollaboration mit den französischen Besatzern diskreditiert wurden207. Außenpolitisch setzte Stresemann vor allem auf die englische Karte. Über Oswald Spengler hatte er sich mit Jan Smuts, dem südafrikanischen Premierminister, in Verbindung gesetzt. Smuts hatte während der Imperial Conference, die vom 1. Oktober bis zum 9. November 1923 in London stattfand, die Pfänderpolitik und die Unterstützung des Separatismus durch Frankreich scharf kritisiert, eine Reparationskonferenz gefordert und seiner Sorge über den Zerfall Deutschlands Ausdruck gegeben208. Die übrigen Teilnehmer machten sich diese Haltung zu eigen und so wurde »Deutschland gegenüber [...] als fundamentaler Grundsatz festgestellt, daß der Zerfall des Deutschen Reiches auf keinen Fall zugelassen werden dürfe«209. Diese härtere Haltung gegenüber Frankreich machte die englische Regierung auch in einer Note vom 31. Oktober 1923 an die französische Regierung deutlich, in der sie ankündigte, daß sie den Versailler Vertrag als gegenstandslos betrachten würde, zerfiele das Reich in einzelne Gliedstaaten, denn der Vertrag sei ja mit dem Deutschen Reich als ganzem abgeschlossen worden210. Auch für Paris wurden die Separatisten immer mehr zum Klotz am Bein. Das angeschlagene Renommee Frankreichs wurde durch die Unterstützung für die Separatisten nur noch weiter geschädigt und nährte bei Amerikanern, Belgiern und Briten nur die Furcht vor einer französischen Vorherrschaft auf dem Kontinent211, wie Hoesch feststellte: »Gerade augenblicklich, wo Frankreich Vorteile aus Aufgabe passiven Widerstands sicherstellen will, kann es weitere Belastung französischen Rufs schwer ertragen«212. Tirard machte aus seiner Skepsis keinen Hehl, was die Erfolgsausichten anging213. 205 Siehe JEANNESSON, Pomcard, S. 285f. 206 Siehe Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR StresemannzywutsronmlkihgfedcbaYWVTSRQPONMKJIHEDCBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 179 und Kabinettssitzung (9.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 233. 207 208 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 287f. Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 104. Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP A DC, Nr. 10. 210 Siehe BARI£TY, Relations franco­allemandes, S. 268. 209 211 212 Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 74. Hoesch an AA (5.11.1923), ADAP Α V E , Nr. 229. 213 Siehe Tirard an Quai d'Orsay (4.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 199, Anm. 4. Es gilt allerdings zu unterscheiden zwischen den pfälzischen Separatisten, die im Gegensatz zu den Gruppierungen andernorts anfänglich durchaus die Sympathie der Bevölkerung auf ihrer Seite hatten. Sie waren weniger radikal, und die Situation in der Pfalz, die ja zu Bayern gehörte, das gerade im Strudel rechter Putsche zu versinken drohte, eine besondere. Von die- 3.1. Der Ruhrkampf 127 Anfang November mehrten sich zudem die beunruhigenden Nachrichten aus Berlin, Nationalisten und Schwerindustrielle wollten die Regierung Strese­ mann st٧rzen und durch eine Rechtsdiktatur ersetzen214, was keinesfalls im Sinne der franzφsischen Regierung sein konnte. Peu a peu zog sich die franzφ­ sische Regierung deshalb aus dem separatistischen Abenteuer zur٧ck und machte dies im Februar 1924 auch offiziell deutlich215. Allerdings gelang es ihr auch nicht, den Gesprδchsfaden mit den Anhδngern einer begrenzten Au­ tonomie des Rheinlandes innerhalb des Deutschen Reiches ­ also der Politik, die von Adenauer vertreten wurde ­ wieder aufzunehmen. Am 26. Okto­ ber 1923 versuchte ein Komitee, bestehend aus rheinischen W٧rdentrδgern aus Wirtschaft und Politik, mit Adenauer an der Spitze, zu einer Lφsung der Pro­ bleme im Rheinland zu kommen. Tirard lehnte es ab, dieses Komitee, das Plδ­ nen f٧r einen rheinischen Bundesstaat durchaus wohlgesonnen war, ٧berhaupt zu empfangen216. Er hatte strikte Anweisungen von seiner Regierung erhalten, die sich, wenige Tage nach Ausbruch der separatistischen Unruhen, auf die Unterst٧tzung der Putschisten festgelegt hatte. Auch wenn nicht anzunehmen ist, daß die Ablehnung Tirards, am 26. Oktober 1923 mit Adenauer zu verhandeln, der zentrale Fehler war, den die französische Politik begangen hatte217, so mußte sich doch die französische Position um so mehr verschlechtern, je länger es ihr nicht gelang, die momentane Schwäche Deutschlands auszunutzen. Als die deutsche Wirtschaft wieder Tritt faßte und im November endlich die Währung stabilisiert wurde, schmolz die deutsche Bereitschaft, zu einer autonomistischen Lösung der Rheinlandfrage in Form eines von Preußen abgetrennten Bundesstaates zu kommen, dahin. Am 23. Januar 1924 mußte auch Adenauer seine Pläne bezüglich des Rheinlandes auf zunehmenden Druck der Reichsregierung und vor allem Stresemanns aufgeben218. Im Januar 1924 war im Vergleich zum Spätsommer des Voijahres eine deutliche Verschlechterang der Position Frankreichs eingetreten. Durch die wirtschaftliche und politische Stabilisierung, die nicht zuletzt durch die M.I.C.U.M.-Verträge eingeleitet wurde, verloren die Autonomie- oder gar Abtrennungspläne für das Rheinland rasant an Boden219. Frankreich befand sich in einem Zustand der fast vollständigen diplomatischen Isolation220. Auch in- sen Gruppierungen sagte sich die französische Regierung erst im Januar 1924 los, vgl. JEANNESSON, Pomcard, S. 385-387. 214 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (4.11.1923), MAE 1918­1929mV ΖzutsrponmlihgfedcaYTSRPONM (Europe) Allemagne, 482; Aufzeichnung Stresemann (9.11.1923), ADAP A Vm, Nr. 240. 215 Siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 295. 216 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 341. 217 In diesem Sinne BARlfiTY, Relations franco­allemandes, S. 261. 218 Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 180. 219 Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 358. 220 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 447. 128 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik nenpolitisch schwand der R٧ckhalt f٧r Poincares Ruhrpolitik221. Ursachen hierf٧r waren jedoch nicht nur die zunehmende internationale Isolierung und die aufkeimenden Zweifel an Sinn und Nutzen des Ruhrunternehmens, son­ dern auch der Verfall des französischen Franc, der im Dezember und vor allem im Januar verstärkt einsetzte, die außenpolitische Handlungsfreiheit Frankreichs wesentlich einschränkte und die französischen Bürger beunruhigte222, zumal offensichtlich gezielt gegen den Franc spekuliert wurde223. Nach den politischen Veränderungen im Herbst 1923, die den Abbruch des Ruhrkampfs und eine Intensivierung der internationalen Vermittlungsbemühungen gebracht hatte, erscheint es sinnvoll, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Was hat der Ruhrkampf gekostet? Was hat er gebracht? Der Schaden für die deutsche Wirtschaft betrug etwa 3,6 Mrd. GM224. Seit Beginn der Ruhraktion bis Ende des Monats September wurden 132 Personen getötet, II " zum Tode verurteilt, 5 " z u lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, 1 454 Jahre Freiheitsstrafen (Zuchthaus, Gefängnis, Zwangsarbeit) 1 659 Milliarden Papiermark) 22 070 Goldmark ) (Geldstrafen verhängt I I I 874 Frs ) 187 617 Personen von Haus und Hof vertrieben, davon 172 006 " aus ihrer Heimat ausgewiesen, ferner allein im preußischen [sie] Einbruchs- und Sanktionsgebiet: 165 Zeitungsverbote erlassen 209 Schulen mit 2 313 Klassen für 127 900 Schüler und Schülerinnen beschlagnahmt. Die Drangsalierung der Bevölkerung, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt, ist ohne Zweifel eine Quelle wirtschaftlicher Schädigung. Alles in allem werden die materiellen und ideellen Folgen der Ruhrbesetzung noch lange Zeit wie eine Krankheit nachwirken, von der sich der Körper erst allmählich erholen kann225. Frankreich226 kostete die Ruhrbesetzung 153,7 Mio. GM. Durch Beschlagnahme und die »Produktivmachung« des Ruhrpfandes ab ungefähr April 1923 wurden Einnahmen von ca. 1 050 Mio. GM erzielt, also ein »Gewinn« von 895,7 Mio. GM, der auf die beteiligten Alliierten verteilt wurde. Darin sind al- 221 Dazu siehe Hoesch an AA (16.11.1923),sronihecaSRPNHDCA ΡAAA R, 23233. Siehe Hoesch an AA (25.12.1923), ADAP A DC, Nr. 73. 223 Hauptsächlich jedoch nicht als Teil einer ausländischen Verschwörung gegen Frankreich, sondern von den französischen Industriellen. Zu den Hintergründen vgl. JEANNENEY, L'argent cach6, S. 169-199. 224 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (15.1.1924), BArch R 3101,20436. 225 Ibid. 226 Zu den französischen Kosten siehe JEANNESSON, Poincare, S. 405f. 222 3.1. Der Ruhrkampf 129 lerdings nicht die Produktionsausfδlle eingerechnet, die der franzφsischen In­ dustrie dadurch entstanden waren, daß die Kohlenlieferungen aus dem Ruhrgebiet nach dem Einmarsch ins Ruhrgebiet zunächst ausgefallen waren und teurere Kohlen aus England gekauft werden mußten. Die Bedeutung des Ruhrkampfs ging aber weit über diese unmittelbaren Folgen hinaus und hatte tiefgreifende Konsequenzen für die deutschfranzösischen Beziehungen ebenso wie für das gesamte europäische Staatensystem. Inwiefern aber wurde der Ruhrkampf zu einem Wendepunkt in den deutsch-französischen Beziehungen der 1920er Jahre und welchen Einfluß hatten diese Ereignisse auf die Modernisierung der Außenpolitik? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muß man sich darüber klar werden, was Frankreich mit dem Ruhrkampf beabsichtigte und welche Position Deutschland während des Ruhrkampfs vertrat. Die deutschen Ziele sind schnell zusammengefaßt: Erhaltung der Reichseinheit, Wiederherstellung des Status quo ante vom 11. Januar 1923 bzw. soweit als möglich die Vermeidung eines Verzichts auf deutsche Rechte. Voraussetzung dafür war die Stabilisierung der Währung und der wirtschaftlichen Lage. Außenpolitisch versuchte Deutschland, nachdem Frankreich bilaterale Verhandlungen mit Berlin abgelehnt hatte, vor allem Großbritannien und die USA zu mobilisieren. Zwischenzeitlich versuchte die Reichsregierung, so wenige Zugeständnisse wie möglich an Frankreich zu machen, um die französische Position nicht noch weiter zu stärken oder zu sanktionieren. Die deutsche Taktik bestand also aus der Sicherung internationaler Unterstützung, nationaler Wiederaufrichtung durch Ingangsetzung der Wirtschaft und Sanierung der Währung (als Voraussetzung dafür mußte wiederum der passive Widerstand aufgegeben werden) und der Vermeidung langfristig bindender Abmachungen mit Frankreich, die den Status der besetzten Gebiete kompromittiert hätten. Allerdings war der Spielraum der Reichsregierung sehr eng, so daß sie oft nur reagieren konnte. Insgesamt gesehen war die deutsche Politik erfolgreich, oder - was vielleicht der Wahrheit näher kommt - Deutschland hatte Glück gehabt: Die Reichseinheit blieb erhalten, die Währung konnte saniert werden, in der Reparationsfrage deutete sich nach Einberufung der Sachverständigenkonferenz eine erträgliche Lösung an. Was aber wollte Frankreich? Es ist eine nach wie vor umstrittene - und wohl auch nie völlig lösbare227 - Frage, welchen Zweck die französische Regierung und allen voran Poincare mit dem Ruhrkampf erreichen wollten. Eine These ist, daß Frankreich den im August sicher geglaubten Sieg im Ruhrkampf leichtfertig verspielt habe und letztendlich aus dem Ruhrabenteuer sicherheitspolitisch genauso wenig abgesichert wie zuvor hervorgegangen sei, dabei aber seine Währung ruiniert, die Welt gegen sich aufgebracht und auch 227 Dies ergibt sich teilweise aus dem Mangel an Quellen: »il n'y a pas de documentation sur la pens6e profonde de Poincar6 ä cette date«,tsronmlifedcaSR ΒΛΉέΤΥ, Relations franco­allemandes, S. 249. 130 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik in der Reparationsfrage keinen wirklichen Durchbruch erreicht hatte228. Es gibt zwei Komplexe, die die Interpretationsfreude der historischen Zunft besonders angefacht haben. Warum hat Poincare, nachdem Deutschland am 26. September 1923 den passiven Widerstand aufgeben hatte, über einen Monat nicht auf deutsche Gesprächsangebote reagiert und die Situation zur Durchsetzung weitreichender Ziele, z.B. zur Schaffung eines autonomen Rheinlandstaates genutzt? Und wieso hatte er die angelsächsischen Vorschläge für eine Expertenkonferenz zur Lösung der Reparationsfrage zuerst abgelehnt (am 20. Oktober 1923) und dann, nur fünf Tage später, doch zugestimmt? Die abwartende Haltung Poincares hatte meines Erachtens eine Ursache darin, daß er Deutschland im besonderen, jedem anderen im allgemeinen mit tiefem Mißtrauen begegnete, wie Schubert feststellte: »Poincare ist von grenzenlosem Mißtrauen erfüllt: Sein Mißtrauen allein würde genügen, ihn zu seiner jetzigen Haltung zu bringen, ganz abgesehen davon, welche finsteren Pläne er sonst noch verfolgt«229. Poincare mußte also erst davon überzeugt sein, daß der passive Widerstand tatsächlich beendet war230. Die deutsche Weigerung, französische Offiziere an den Kontrollen durch die IMKK teilnehmen zu lassen231 und die Sachlieferungen wiederaufzunehmen232, ließen ihn vermuten, daß die deutschen Erklärungen vom 26. September 1926 nur ein Bluff gewesen waren233. In Poincares Augen war die Ruhrbesetzung außerdem nicht nur gegen Deutschland gerichtet, sondern in vielleicht genauso großem Maße gegen die ehemaligen Alliierten, also vor allem England und die USA. Bereits die ganze Vorgeschichte der Ruhrbesetzung hatte gezeigt, daß Frankreich darin den letzten Ausweg sah, mit den Verbündeten doch noch zu einer funktionierenden und zu einer für Frankreich befriedigenden Reparationsregelung zu gelangen. Der Einwand Jeannessons, daß Poincare an der Einbeziehung der Alliierten gar nicht mehr interessiert gewesen sei, weil ja diese seit Monaten Vorschläge gemacht hätten, die Frankreich stets abgelehnt hätte, und er durch die M.I.C.U.M.Verhandlungen deutlich gemacht habe, daß er statt dessen direkt mit Deutschland zu einer Einigung kommen wolle234, halte ich in diesem Zusammenhang für nicht plausibel. Poincare wollte die Amerikaner und Briten sehr wohl im Boot haben, aber zu seinen Bedingungen. Zu Recht ist deshalb auf die Bedeu228 229 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 16. Aufzeichnung Schubert (5.10.1923), ADAP A VID, Nr. 177. 230 Siehe JOLLY, Ruhr, S. 237. 231 Siehe Aufzeichnung KöpkemV (6.10.1923), ADAP A Vm, Nr. 180. 232 Siehe Kabinettssitzung (20.10.1923), AdR StresemannutsrqponmlihgfedcbaSRPONMKJIGED Ι/Π Bd. 2, Nr. 156. 233 In diesem Sinne sah Poincare das deutsche Angebot, über die Wiederaufnahme der Arbeit der Eisenbahn in den besetzten Gebieten zu verhandeln, siehe Poincare an Brüssel (16.10.1923), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 482. 234 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 302. Andere Auffassung sind u.a. KEIGER, Pomcard, S. 305 und Daniel AMSON, Poincare, l'acharne de la politique, Paris 1997, S. 332. 3.1. Der Ruhrkampf 131 tung der Gesprδche zwischen dem franzφsischen Botschafter in Washington und Hughes im Oktober 1923 hingewiesen worden, in denen der amerikani­ sche Außenminister erstmals die Bereitschaft angedeutet hatte, das Schuldenund Reparationsproblem - eine der zentralen französischen Forderungen - im Zusammenhang zu betrachten235. Die französische Regierung mußte deshalb den Druck auf Deutschland aufrechterhalten, nicht nur bis Deutschland selbst nachgab, sondern bis endlich auch die USA und England den französischen Bedingungen zustimmten. Denn nur eine internationale und dauerhafte Lösung des Reparations- und Schuldenproblems kam für Frankreich in Frage. Es war ja gerade das Grundaxiom der französischen Politik, daß Frankreich langfristig Deutschland wirtschaftlich wie demographisch unterlegen sein würde und es deshalb auf Dauer abgesicherte internationale Regelungen brauchte. Es ist deshalb nicht ganz glaubhaft, daß Frankreich, im Augenblick eines nur bitter errungenen Sieges im Ruhrkampf, diese Urangst einfach abstreifte und nun meinte, die zweitgrößte Industrienation der damaligen Zeit, deren Bevölkerung ein Drittel größer war als die eigene und die unaufhörlich weiterzuwachsen schien, auf einmal beherrschen zu können; Grundlage für diese französische Politik war der Versailler Vertrag und seine Interpretation durch Poincare. Poincare war zwar während • der Friedensvertragsverhandlungen 1919 ein Gegner des Versailler Vertrags gewesen. Er war aber auch Jurist, und als Jurist wußte er, daß auch ein schlechter Vertrag die Unterzeichnenden band 236 und besser war als gar nichts. Darüber hinaus war er sich natürlich klar, daß jeder Gesetzestext Interpretationen zuließ. Für Poincare könnte sich die Lage folgendermaßen dargestellt haben: Sowohl Deutschland, weil es seinen Reparations- und anderen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag nicht nachgekommen war, als auch Großbritannien und die USA, weil sie beide schon vor dem Ruhrkampf eine Revision der Reparationsbestimmungen angedeutet hatten und den Beistandsverpflichtungen gegenüber Frankreich nicht nachgekommen waren, waren Frankreich gegenüber vertragsbrüchig. Es mußte also Ziel des französischen Ratspräsidenten sein, das Deutsche Reich wie auch die angelsächsischen Mächte wieder auf die Grundlage des Versailler Vertrags zu zwingen. Deutschland kam dieser Forderung erst mit der Note vom 24. Oktober 1923 nach - und nicht schon mit dem Abbruch des passiven Widerstandes in der es die Überprüfung der Zahlungsfähigkeit gemäß Artikel 234 des Versailler Vertrags durch die RepKo beantragte. Die USA und England ließen ihre Bereitschaft zur Rückkehr zum Versailler Vertrag erkennen, als sie erklärten, die Reparations- und Kriegsschuldenfrage zusammen zu diskutieren. Dies erklärt auch, daß Poincare sich beständig weigerte, in Verhandlungen mit der Reichsregierung einzutreten, selbst als der passive Wider235 236 Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 33; BARIETY, Ruhrkrise, S. 23. Zur Bedeutung der LegalitätrlfUQMLE f٧r Poincare siehe Pierre MlQUEL, Poincare, Paris 1 9 8 4 , S. 4 7 2 . 132 3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik stand abgebrochen wurde237. F٧r Poincare war er es nδmlich mindestens bis zum 24. Oktober 1923 nicht. Es erklδrt auch, weshalb er sich penibel an die Trennung zwischen den M.I.C.U.M.­Verhandlungen und den offiziellen Ge­ sprδchen hielt. F٧r ihn galt der Versailler Vertrag. Der Friedensvertrag war zwischen Staaten ­ und zwar zwischen allen ehemals alliierten und assoziier­ ten Lδndern und Deutschland ­ geschlossen worden, nicht zwischen Privatleu­ ten. Wenn also die M.I.C.U.M. mit den Industriellen auf privater Basis ver­ handelte, so war das durchaus legitim und stand nicht im Widerspruch zum Versailler Vertrag. Deutsche Zugestδndnisse, die auf diesem Wege zustande kamen, konnten so bedenkenlos genutzt werden, um die eigene Interpretation des Versailler Vertrags durchzusetzen oder auch um des eigenen Vorteils wil­ len. Das franzφsische Verhalten ist nur dann zu verstehen, wenn von diesen zwei Ebenen ausgegangen wird: Auf der Ebene der Regierungen f٧hlte sich Frankreich voll dem Versailler Vertrag verpflichtet. Auf dem Niveau von Pri­ vatverhandlungen galten diese Restriktionen zwar nicht, im Falle von Konflik­ ten zwischen privaten Abmachungen und Regelungen, die auf Regierungsebe­ ne getroffen werden mußten, entschied sich die französische Führung jedoch stets zugunsten der geltenden internationalen Abmachungen. Die M.I.C.U.M.Verträge waren nicht deshalb zeitlich beschränkt, weil Frankreich seine Interessen gegenüber Deutschland nicht hätte durchsetzen können, sondern, um eine international abgesicherte Reparationsregelung nicht zu präjudizieren238, ohne allerdings den Druck, der durch die M.I.C.U.M.-Verträge zur Unterstützung der französischen Position ausgeübt werden konnte, aufzugeben. Schwierig ist in diesem Zusammenhang allerdings die Interpretation der Unterstützung der rheinischen Separatisten durch die französische Regierung, zumindest in der Zeit unmittelbar nach dem Ausbruch der Unruhen. Hoffte Poincare tatsächlich, in Unklarheit über den Rückhalt der Separatisten in der Bevölkerung, daß Deutschland dadurch in Gliedstaaten zerfallen würde und damit die deutsche Gefahr ausgeschaltet wäre239? War diese Option, die sich im Oktober 1923 zu eröffnen schien, so verlockend, daß sich die französische Regierung davon hinreißen ließ, ihre bis dahin verfolgte Politik derart zu kompromittieren? Vielleicht ist es tatsächlich der Fall, daß diese unerwartete Chance der Geschichte kurzzeitig zu einer Abweichung des bis dahin verfolgten Kurses führte. Die Uneinheitlichkeit der französischen Reaktion spricht dafür, daß die Regierung in Paris nicht planvoll handelte240. Vielleicht haben erst die scharfen englischen Forderungen nach Erhaltung der Reichseinheit und die Gefahr drohender nationalistischer Putschversuche in Deutschland Pa237 Siehe ARTAUD, Reparations, S. 99. Siehe BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 304. 239 So sehen Bariety und Jeannesson die Motivation Poincares, siehe franco-allemandes, S. 249; J E A N N E S S O N , Poincare, S. 303. 240 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 253, 332. 238 BARIETY, Relations 3.1. Der Ruhrkampf 133 ris dazu bewegt, auf die alte Linie der Politik zur٧ckzukehren. Politik folgt eben nicht nur einem festgesetzten Plan, sondern ist eine Mischung aus bewußt verfolgten Zielen und der Reaktion auf mehr oder weniger unvorhersehbare externe Ereignisse. Vielleicht hat die französische Regierung in den separatistischen Unruhen nur ein weiteres Pfund gesehen, mit dem man gegenüber Deutschland und den vormals Alliierten wuchern konnte: Die M.I.C.U.M.-Verträge und das vermeintliche amerikanische Zugeständnis, Schulden und Reparationen gleich zu behandeln, kamen erst nach dem Aufstand im Rheinland zustande, der am 21. Oktober in Aachen losbrach. Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dem Ruhrkampfund aus diesen Überlegungen für die Frage nach der Modernisierung der Außenpolitik? Ich denke, man kann zu zwei Interpretationen kommen, einer »schwachen« und einer »starken« Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs. Die »schwache« Modernisierungswirkung bestünde darin, daß der Ruhrkampf per se zunächst einen Rückschritt für die Modernisierung der Außenpolitik darstellte. Statt multilateraler Diplomatie kehrte Frankreich zum Bilateralismus zurück (in diesem Sinne wäre die Beteiligung Belgiens und Italiens am Ruhreinmarsch nichts weiter als ein diplomatisches Feigenblatt). Die friedliche Konfliktlösung wurde aufgegeben, statt dessen erfolgte die Rückkehr zur Machtpolitik. Folglich strebte Frankreich keine Politik des Interessenausgleichs, sondern die Durchsetzung von Maximalzielen an, wobei militärischpolitische Ziele, also vor allem die Rheingrenze, im Mittelpunkt standen. Dabei waren sowohl der Versailler Vertrag als auch das Rheinlandstatut verletzt worden. Folgt man dieser Interpretation, war die französische Politik des Ruhrkampfs also ein klarer Rückfall in die Machtpolitik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Modernisierungswirkung für die Außenpolitik ergab sich nun daraus, daß Frankreich sich nicht hatte durchsetzten können und deshalb gezwungen war, auf das von Briten und Amerikanern angebotene Modell der modernen Außenpolitik einzuschwenken. Somit wäre der Ausgang des Ruhrkampfs das Ereignis gewesen, welches die Pattsituation, die zwischen modernen und klassischen Konzeptionen der französischen Deutschlandpolitik vor dem Ruhrkampf bestanden hatte, zugunsten der modernen Ansätze aufgelöst hätte, weil die Machtpolitik scheiterte und diskreditiert wurde. Auch in Deutschland führte die Existenzkrise des Ruhrkampfs zur bereits zitierten Erkenntnis Stresemanns, daß der Versailler Vertrag zwar schlecht sei, besser jedoch als ein vollkommen rechtloser Zustand, weil die Rechte aus dem Friedensvertrag wenigstens einklagbar seien241. Dies bedeutete, daß Deutschland den Versailler Vertrag nun als Grundlage seiner Beziehungen mit dem Westen anerkannte und zu einer Außenpolitik fand, die auf Einhaltung international festgesetzter Normen beruhte - im Sinne dieser Arbeit also eine mo241 Siehe Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 179. 134 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik derne, weil an Recht gebundene Außenpolitik - und auf Obstruktionsversuche verzichtete. Im Rahmen dieser Interpretation war es also die Schwäche auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet, die sowohl Deutschland als auch Frankreich zur »Vernunft« brachten, sich dem liberalen Modell der Friedenssicherung, wie es von den USA und Großbritannien propagiert wurde, anzuschließen. Im Hinblick auf Frankreich läßt diese Interpretation aber außer acht, daß Paris während des gesamten Verlaufs der Ruhrkrise nie eine eindeutige Politik der Stärke betrieb und vielen, auch den vergleichsweise modernen, außenpolitischen Prinzipien der Zeit vor der Ruhrbesetzung treu blieb. Die »starke« Interpretation der Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs geht von der These aus, daß Frankreich - und vor allem Poincare - mit der Ruhraktion gar nichts anderes bezweckte als den Versailler Vertrag endlich zur umfassenden Anwendung bzw. Durchsetzung zu bringen. Die Rückkehr zum Versailler Vertrag wäre also kein Nebenprodukt, weil sich Frankreich mit der Ruhraktion schlicht übernommen hatte, sondern von Anfang an Ziel des Unterfangens gewesen. Insofern wäre also der Ruhrkampf selbst ein überaus modernes Instrument der Außenpolitik gewesen, nämlich ein Mittel, um zu der völkerrechtlich legitimierten Grundlage von Außenpolitik, wie sie durch den Versailler Vertrag bestand, zurückzukehren. Für diese Interpretation spricht einiges. Aus französischer Sicht bestand Ende des Jahres 1922 durchaus eine Notwehrsituation. Sowohl Deutschland wie auch England waren bereit, vom Versailler Vertrag, der die einzige dauerhafte Grundlage für Frankreichs Reparationsansprüche war, abzugehen. Poincare konnte sich, wenn auch vielleicht nicht juristisch einwandfrei, doch immerhin moralisch zu einer Aktion legitimiert sehen. Auch war der Einmarsch durchaus keine blanke, unilaterale Aktion der Machtpolitik: Frankreich war stets um die zumindest stillschweigende Zustimmung Großbritanniens bemüht. Vielleicht wäre Frankreich nie ins Ruhrgebiet einmarschiert, hätte es nicht mit dieser wohlwollenden Neutralität Englands rechnen können242. Von französischem Unilateralismus konnte also keine Rede sein. Auch war es so, daß die Ruhraktion unter den Auspizien einer zivilen Behörde stattfand, der M.I.C.U.M. nämlich. Sie war also keine militärische Aktion im eigentlichen Sinne. Frankreich hätte, um den Vorwand zu entkräften, die M.I.C.U.M. sei nur legitimistisches Blendwerk gewesen, durchaus eine möglichst »unsichtbare« Form der Besetzung bevorzugt. Es war erst die Ausrufung des passiven Widerstands durch die Reichsregierung, mit dem am wenigstens die französischen Stellen gerechnet hatten, der die entsprechenden französischen Gegenreaktionen hervorrief. Auch im Moment des totalen Sieges über Deutschland 242 In diesem Sinne Sally Marks, die Großbritannien für hauptverantwortlich für den Ruhrkampf hält, weil London nicht eindeutig gegen Paris Position bezogen habe, siehe Sally SRMK MARKS, The Myths of Reparations, in: Central European History 11 (1978), S. 231-255, hier S. 241-245. 3.1. Der Ruhrkampf 135 hatte Frankreich dar٧ber hinaus keine Maßnahmen unternommen, um ambitioniertere politische Ziele zu verfolgen, z.B. weitere Gebiete zu besetzen, oder zu versuchen, Deutschland entlang der Mainlinie zu spalten. Weitergehende Sicherheits- und Wirtschaftsprogramme ä la Tirard, Degoutte, Foch oder anderer standen bei der politischen Führung nicht auf der Agenda. Frankreich hatte Deutschland und die Alliierten zurück zum Versailler Vertrag gezwungen, und damit war das Ziel erreicht. In zwei Aufzeichnungen, vom August und Oktober 1923243, also in dem Zeitraum, als der französische Sieg im Ruhrkampf absehbar war, bzw. kurz nachdem er manifest geworden war, nahmen sich die französischen Forderungen moderat aus und bewegten sich durchaus im Rahmen des Versailler Vertrags, obwohl es sich sicherlich um französische Maximalforderungen handelte. Im einzelnen bestanden die französischen Forderungen darin, daß Deutschland den passiven Widerstand aufgeben müsse, der im Widerspruch zum Versailler Vertrag stehe und Deutschland selbst am meisten schade. Die Aufgabe des passiven Widerstands werde zu einer Entspannung fuhren und es der M.I.C.U.M. ermöglichen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen und die Kohlensteuer und die Exportabgabe wieder zu erheben. Die Sachlieferungen sollten gemäß der Abkommen von Spa und Wiesbaden geleistet werden. Frankreich erkenne an, daß Deutschland momentan keine Reparationszahlungen tätigen könne. Die Währung, die von Deutschland bewußt in den letzten Jahren zerstört worden sei, müsse schnell wiederhergestellt werden. Die Währungsstabilisierung könne zügig geschehen, da die Substanz der deutschen Wirtschaft nicht angegriffen sei. Um sie zu erleichtern, solle ein Moratorium zugestanden werden. Auf Finanzkontrollen könne weitgehend verzichtet werden, es seien aber Pfänder dazu notwendig. Gedacht wurde vor allem an die Eisenbahnen in den besetzten Gebieten, die in eine Gesellschaft unter französischer, belgischer, englischer und rheinischer Beteiligung umgewandelt werden sollte. Auch die Saarbergwerke, Zölle und Deviseneinnahmen aus Exporten könnten als Sicherheit für ein Moratorium dienen. Als weiteres Pfand könne die Beteiligung alliierten Kapitals an deutschen Bergwerken dienen, um die französische Kohlenversorgung sicherzustellen. Im Gegenzug sollte Deutschland Erz und Halbwaren aus Lothringen zu Vorkriegskonditionen beziehen können. Zur Sicherheit solle das Ruhrgebiet nur in dem Umfang freigegeben werden, in dem Deutschland seine Reparationsleistungen zahlte. Allerdings stand fur Frankreich die Höhe der Reparationen - die 132 Mrd. GM von Spa - außer Frage, nur im Falle einer Reduktion der französischen Kriegsschulden sei auch eine Verringerung der Reparationszahlungen möglich. 243 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.8.1923), MAE PAAP 261, 3; Aufzeichnung ohne Unterschrift (22.10.1923), MAE PAAP 261, 3. 136 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik In diesen beiden Aufzeichnungen, die auf einem französischen Gelbbuch244 basierten, in dem verschiedene Dokumente zur Reparationsfrage zusammengetragen worden waren und die den Dreh- und Angelpunkt der französischen Haltung bildeten, war nichts zu finden, was als langfristiges politisches Ziel französischer Politik im Rheinland hätte aufgefaßt werden können: keine Rede von einer militärischen Rheingrenze oder einem - in welcher konkreten Form auch immer - von Preußen oder gar vom Reich abgetrennten rheinischen Staat. Poincare selbst machte dies auch gegenüber MacDonald, der seit dem 22. Januar 1924 neuer britischer Premier war, deutlich. Vielmehr sollte die Lösung des Sicherheitsproblems im Rahmen des Völkerbunds gefunden werden245. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich die französische Regierung im Sommer 1923 verstärkt für den Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen im Rahmen des Völkerbunds einsetzte246. Ganz in diesem Sinne stellte auch Seydoux im April 1924 fest, die Ruhrbesetzung sei ein Erfolg gewesen, weil dadurch die Reparationsfrage gelöst worden und durch den Zusammenbrach der deutschen Währung der währungspolitische Neuanfang geschaffen worden sei, durch den auf Dauer die deutschen Zahlungen an Frankreich sichergestellt würden247. Im Lichte dieser Interpretation wäre der Ruhrkampf also eine legitime Sanktion gewesen, die sowohl gegen Deutschland als auch gegen Großbritannien gerichtet war, um diejenigen Parteien, die sich immer mehr vom Versailler Vertrag zu entfernen drohten, wieder zu einer den im Friedensvertrag festgelegten Prinzipien entsprechenden Politik zu zwingen. Somit würde der Ausgang des Ruhrkampfs ziemlich genau dem entsprechen, was Frankreich davon erwartet hatte. Er würde auch nicht das Ende der französischen >.Λ Α 1Λ Vorherrschaft in Europa und den Sieg der »Dollardiplomatie« bedeuten, die, nachdem Deutschland von Frankreich zu Boden gedrückt worden war und Frankreich sich an der Ruhr zu Tode gesiegt hatte, erfolgreich ihre eigenen reparations- und finanzpolitischen Vorstellungen durchgesetzt hätte250. Der Ruhrkampf würde in dieser Interpretation auch nicht das Scheitern kollektiver 244 Die offiziell vom Quai d'Orsay herausgegebenen Dokumentensammlungen waren aufgrund ihres Einbandes allgemein als livre jaune (analog zu den Weißbüchern der deutschen und den Blaubüchern der englischen Regierung) bekannt. In den beiden Aufzeichnungen wird das Gelbbuch nicht weiter spezifiziert, es könnte sich jedoch um den Band: Documents relatifs aux röparations, hg. v. Ministere des affaires 6trangeres, Paris 1922, handeln. 245 Siehe BARJ6TY, Relations franco-allemandes, S. 297. 246 Siehe Antwort der französischen Regierung an den Völkerbund zum gegenseitigen Beistandspakt (15.6.1923), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nögociations concemant les garanties de s6curit6 1924, Nr. 44, Anhang 12. Zu Einzelheiten siehe Kap. 4.1.3. 247 Aufzeichnung Seydoux (22.4.1924), MAE PAAP 261, 31. Siehe SCHUKER, French Predominance, S. 385. 249 GIRAULT, Europe, S. 137. 250 In diesem Sinne LINK, Ruhrkonflikt, S. 40f.; SCHULZE, Weimar, S. 25; KEIGER, Poincar6, 248 S. 3 1 0 - 3 1 2 ; GIRAULT, E u r o p e , S. 137. 3.1. Der Ruhrkampf 137 und friedlicher Konfliktlφsungsmechanismen im Rahmen des Vφlkerbunds darstellen251, sondern gerade den Versuch, die Mechanismen des Versailler Vertrags vor ihrer Aushφhlung zu bewahren. Insofern wurde Poincare tatsδch­ lich derjenige, der mit seiner Politik die deutsch­franzφsische Verstδndigung ermφglichte und den Weg nach Locarno ebnete252, dies allerdings nicht un­ absichtlich, indem er letztlich scheiterte, sondern in einer aktiven Art und Weise. Wie gesagt, es spricht einiges fur die letzte Interpretation, die Indizien daf٧r wurden benannt. Es wδre aber, so meine ich, falsch, dem Poincare, der viel wagte und letztlich verlor, den Poincare entgegenzusetzen, der mit quasi sehe­ rischen Fδhigkeiten nicht nur den Dawes­Plan, sondern auch die Mφglich­ keiten einer deutsch­franzφsischen Verstδndigungspolitik der spδteren 1920er Jahre vorhergesehen und zielstrebig darauf zugearbeitet hδtte. Eine Ansicht, die im ٧brigen so gar nicht dem vielfach auch in der Forschung wieder­ gegebenen, eher negativen Bild Poincares entsprδche253. Auch wenn Poincares Einfluß in dieser Phase der französischen Politikgestaltung sicherlich groß war, war er eben nicht der einzige, der auf die Rheinland- und Ruhrpolitik Einfluß nahm. Viele Widersprüche im französischen Handeln lassen sich daraus erklären, daß es in der französischen Politik die zwei genannten, grundsätzlich verschiedenen Ansätze der »Ökonomen«, zu denen Seydoux, Loucheur und vielleicht auch Poincare gehörten, und der »Rheinländer« um Foch, Tirard und Degoutte gab. Allein auf die zweite Interpretation zu setzen hieße, in unzulässiger Weise die Dinge zu vereinfachen und zu verfälschen. Die Wahrheit - ohne sie genauer spezifizieren zu können oder auch nur zu wollen - dürfte irgendwo zwischen der »starken« und der »schwachen« Interpretation der Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs liegen. Die beiden Optionen gegenüberzustellen und voneinander abzugrenzen, diente vor allem der analytischen Klarheit. Bedeutend erscheint mir im Zusammenhang mit dem Ruhrkampfund dessen Einfluß auf die Modernisierung der Außenpolitik aber vor allem eines: Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland bewirkte der Konflikt, sich eindeutiger auf die Spielregeln der modernen Außenpolitik, als dies in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war, einzulassen, als verschiedene, moderne und klassische Politikkonzepte nebeneinanderstanden. Nach dem Ruhrkampf war für die Regierungen in Deutschland und Frankreich klar, daß SieheWTRNMLKIHGEDA LEE, German Foreign Policy, S. 47. Siehe K E I G E R , Poincar6, S. 3 1 1 . 253 »Poincar6 had three defects: a cold, shy withdrawn manner; an inability to delegate and to listen to advice; thirdly a lack of judgement«, Anthony A D A M T H W A I T E , France, Germany and the Treaty of Versailles: France's bid for Power in Europe, in: Karl Otmar Freiherr v. A R E T I N u.a. (Hg.), Das deutsche Problem in der neueren Geschichte, München 1 9 9 7 , S. 7 5 ­ 88, hier S. 82. 251 252 138 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik im Rahmen multilateraler diplomatischer Anstrengungen innerhalb eines festgelegten Rechtssystems (dem Versailler Vertrag) eine für alle erträgliche Lösung für das Reparationsproblem (und die anderen offenen Fragen) gefunden werden sollte. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz War der Ruhrkampf das reinigende Gewitter, das die deutsch-französischen Beziehungen, im weitesten Sinne aber auch das internationale System erfaßt hatte, so erfolgte mit dem Dawes-Plan das Aufräumen nach dem großen Sturm. Im folgenden wird es weniger darum gehen, die einzelnen Verhandlungsetappen des Dawes-Plans und der Londoner Konferenz nachzuzeichnen254, sondern vor allem darum, welche Auswirkungen die Arbeit der Expertenkommission auf die Modernisierung der Außenpolitik hatte. Hauptproblem Anfang des Jahres 1924 waren sicherlich die Reparationen255, zu dessen Lösung die beiden von der RepKo eingesetzten Expertenkommissionen beitragen sollten. Eng mit dieser Frage verknüpft war ein Komplex, der sich für Frankreich unter dem Stichwort der Sicherheit, fur Deutschland unter dem Schlagwort Rheinlandfrage zusammenfassen läßt: Für Paris war das Rheinland ein wichtiges strategisches Glacis, das seine Verteidigungsfähigkeit gegenüber Deutschland erhöhen sollte, indem es das Reich militärisch und wirtschaftlich in seiner Bewegungsfreiheit einengte. Das Ziel der deutschen Politik war es, diese strategische Überlegenheit Frankreichs auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet im Rheinland zurückzudrängen und wieder »Herr im Haus« zu werden256. Andererseits war Frankreich an zuverlässigen, geregelten Reparationszahlungen von Deutschland interessiert, um so mehr, als es mit dem Franc immer bedrohlicher bergab ging257. In dieser Situation eröffnete sich für die deutsche Politik die Möglichkeit, die wirtschaftliche Befreiung der besetzten Gebiete durch eine erträgliche Regelung der Reparationsfrage zu erreichen258. Die Reichsregierung bemühte 254 Dazu liegen bereits umfangreiche Studien vor. An erster Stelle ist dabei natürlich die Darstellung Barietys zu nennen (BARIGTY, Relations franco-allemandes), aber auch andere Publikationen, siehe D A W E S , Dawes-Plan; Die Londoner Konferenz Juli-August 1924. Amtliches deutsches Weißbuch über die gesamten Verhandlungen der Londoner Konferenz, Sitzungsprotokolle, Aktenstücke, Briefwechsel, hg. v. Auswärtiges Amt, Berlin 1925; Tagebuch der Reichskanzlei über die Londoner Konferenz (4.-18.8.1924), AdR MarxnihgedaSBA Ι/Π Bd. 2, An­ hang 1. 255 Siehe K R Ü G E R , Versailles, S. 1 2 2 . 256 Siehe D E R S . , Außenpolitik, S. 232f. 257 Siehe GlRAULT, Europe, S. 136. 258 Zur Ausrichtung der deutschen Politik siehe K R Ü G E R , Außenpolitik, S. 233-236. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 139 sich deshalb, guten Willen zu zeigen, und suchte besonders die Nδhe zu Großbritannien und den USA, bei denen man in Berlin richtigerweise vermutete, daß sie den deutschen Forderungen nach Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit des Reiches - aus Furcht vor einer französischen Wirtschaftshegemonie auf dem Kontinent - wohlgesonnen waren. In Paris stellte man sich unterdessen die Frage, wie man in der Deutschlandpolitik fortfahren sollte. Die Reparationsfrage lag wegen der Überweisung an die Experten zunächst auf Eis. Hier blieb wenig übrig, als den begrenzten Einfluß auf die Sachverständigen zu nutzen und ansonsten der Dinge zu harren, die da kommen mochten. Gewiß, Frankreich hatte seine Armee fest im Ruhrgebiet etabliert, die Eisenbahnregie arbeitete und die M.I.C.U.M.-Verträge lieferten Ergebnisse. Wie sollte es aber weitergehen? Eine Regelung fur die Bezahlung der Kriegsschulden bei den USA und England war nicht in Sicht, und langfristig würde es ohne die Unterstützung der USA und Großbritanniens weder bei den wirtschaftlichen Problemen noch bei der Sicherheitsfrage zu Fortschritten kommen. Außerdem bereitete der Wertverfall des Franc der französischen Führung zunehmend Kopfzerbrechen. Die Pariser Presse argwöhnte, eine konzertierte Aktion deutscher und englischer Banken stände hinter dem rasanten Verfall der französischen Währung, um Druck auf die französische Regierung auszuüben259. Allerdings wurde bald klar, daß die Spekulation gegen den Franc vor allem von französischen Industriellen ausgelöst wurde260. Allerdings gelang es der französischen Regierung, einen 100 Mio. Dollar Kredit des amerikanischen Bankhauses Morgan zu erhalten und so einerseits die Spekulationswelle zu stoppen und andererseits den eigenen politischen Spielraum wieder zu vergrößern261. Poincare mußte aber im Gegenzug für die Anleihe zustimmen, »daß die Französische Regierung im Falle der Durchführung der Stützungsaktion die [Dawes-, R.B.] Gutachten anzunehmen und auszuführen sich verpflichte«262. Angesichts der vor allem wirtschaftlichen Probleme einerseits und der immer noch intakten politischen Druckmittel andererseits galt es also, die Karten, die man in der Hand hielt, im Sinne einer langfristigen, für Frankreich vorteilhaften Politik auszuspielen. Als erster erkannte wieder einmal Seydoux die Notwendigkeiten der Neuorientierung der französischen Außenpolitik und legte seine Gedanken Anfang Februar 1924 in einer Aufzeichnung nieder, die Siehe Hoesch an AA (5.1.1924),xvutsrponmlihgfedcaYUSRNLJIEDCBA Ρ AAA R, 28234. Siehe Bendix an AA (14.1.1924), BArch R 3101, 14553, vgl. auch JEANNENEY, L'argent cach6, S. 169­199; Jean­Claude DEBEIR, La crise du franc de 1924. Un exemple de specula­ tion »internationale«, in: Relations internationales 13 (1978), S. 29­49. Anders Roth, der holländische und österreichische Bankhäuser fur die Spekulation verantwortlich macht, siehe 259 260 ROTH, Poincare, S. 453. 261 262 Siehe LEFFLER, Quest, S. 100. Sthamer an AA (3.5.1925), BArch R 3101, 14554. 140 3. Die Anfδge der modernen Auίenpolitik im großen und ganzen auch auf die Zustimmung Poincares stieß263. Zunächst betonte Seydoux den Wert der Ruhrbesetzung, deren eigentlicher Nutzen vor allem darin bestehe, daß sie Großbritannien zur Zusammenarbeit mit Frankreich gedrängt habe. Allerdings sei die direkte wirtschaftliche Ausbeutung des Ruhrpfandes weniger ertragreich als eine gütliche Lösung mit Deutschland, was die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit mit einschließe. Um die französischen Forderungen bezüglich der Reparationen und der Sicherheit durchzusetzen, müsse versucht werden, zu einer Annäherung an Großbritannien zu kommen und den Völkerbund auszubauen, denn letztlich sei es nur durch England und die USA möglich, Europa zu befrieden, indem die Wirtschaft wiederaufgebaut werde. Was die französische Regierung also hier versuchte, war, das Ruhrpfand für langfristige wirtschafts- und sicherheitspolitische Zwecke einzusetzen. Die Verbesserung der Beziehungen gegenüber Großbritannien stand dabei im Mittelpunkt der Bemühungen, und es kam Anfang des Jahres 1924 zu einer deutlichen Annäherung zwischen London und Paris: Die Abkehr Frankreichs von der Unterstützung der pfälzischen Separatisten und insgesamt die Aufgabe einer prononcierten Rheinlandpolitik, eine nachgiebigere Haltung Frankreichs in der Frage der Wiederaufnahme der Militärkontrolle durch die IMKK und der anglo-französische Kompromiß über die gemeinsame Ausbeutung der Erdölvorkommen im Irak trugen Früchte264. Auch in der Ruhrfrage ging man aufeinander zu. Frankreich stellte zwar nicht die militärische Räumung in Aussicht, kündigte aber an, auf wirtschaftliche Pressionen zu verzichten und die Besetzung für die Deutschen so »unsichtbar« wie möglich zu gestalten265. Neben der Verbesserung der Beziehungen zu Großbritannien mußte Frankreich aber auch versuchen, die politisch-militärischen und wirtschaftlichen Druckmittel gegenüber Deutschland aufrechtzuerhalten. Die Annäherung an England konnte also in dieser Phase, wo weder über die Zukunft der Reparationen und Kriegsschulden noch die der Sicherheit und der anderen schwebenden Probleme entschieden worden war, nicht soweit gehen, daß französischerseits die militärische Ruhrräumung oder die M.I.C.U.M.-Verträge zur Disposition gestellt werden durften. Die Frage der militärischen Besetzung war zunächst nicht akut. Sie war ausdrücklich aus dem Programm der Expertenkommission ausgeklammert worden. Drängender war hingegen das Problem der M.I.C.U.M.-Absprachen. Sie waren zunächst bis zum 15. April 1924 befristet, einem Zeitpunkt also, zu dem eine endgültige Regelung der Reparationsfrage noch nicht zu erwarten war. In bezug auf die Frage nach der Verzahnung von wirtschaftlichen und politischen Zu dieser Aufzeichnung siehetsronmlihfedcaYTSRPONJIEBA ΒΑΚίέτγ, Relations franco­allemandes, S. 293­295; JEANNESSON, Poincare, S. 391­393. 264 Siehe BARISTY, Relations franco­allemandes, S. 298f., 307. 265 Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 393f. 263 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 141 Problemen lohnt es sich, auf die Frage der Verlδngerung der M.I.C.U.M.­ Vertrδge etwas genauer einzugehen, denn hier trafen die unterschiedlichen Interessen von deutscher und franzφsischer Außenpolitik sowie die der Wirtschaft beider Länder zusammen. Was also verbanden diese verschiedenen Akteure mit den M.I.C.U.M.-Verträgen? Die deutsche Wirtschaft wollte eine Änderung des gegenwärtigen Wirtschaftsregimes in den besetzten Gebieten. Die Belastungen, die der Industrie durch die Abkommen mit der M.I.C.U.M. auferlegt wurden, seien auf Dauer nicht zu verkraften, außerdem strömten durch die offene Zollgrenze im Westen ungebremst und durch den Francverfall verbilligte französische Waren in das Rheinland266. Für eine Verringerung der Lasten aus den M.I.C.U.M.Verträgen war man deshalb bereit, langfristige Verträge mit der französischen Industrie z.B. in bezug auf die Koksversorgung abzuschließen267. Mit diesem Ziel verhandelten Vertreter Stinnes' im Januar und Februar 1924 mit Pinot, dem Chef des Comite des forges, und mit Seydoux. Die Haltung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie korrespondierte, gelinde gesagt, kaum mit der Stresemanns: Der Minister Ritter und der Botschaftsrat von Hoesch hätten darauf in seinem, des Ministers Auftrage Herrn Stinnes um die Mitteilung seines Reparationsplanes gebeten. Hierbei habe sich wenig Positives ergeben; der Gedanke der Stinnesgruppe laufe im wesentlichen auf eine Fortsetzung der Micum-Verträge unter Zuhilfenahme einer internationalen Anleihe hinaus. Dieser Gedanke sei unbedingt zu verurteilen, denn er nehme den gegenwärtigen Zustand an Rhein und Ruhr zum Ausgangspunkt und bedeute hierdurch gewissermaßen eine Anerkennung des französisch-belgischen Regimes in seiner heutigen Gestalt. Er stehe somit im unmittelbaren Widerspruch zu der Generalpfandidee der Reichsregierung und bedeute eine Sabotierung dieser Idee und somit auch der Arbeiten des Sachverständigenkomitees, das nach den vorliegenden Orientierungen ebenfalls eine Lösung im Sinne des Generalpfandes anstrebe. Er halte es daher für erforderlich, die Gedankengänge der Stinnes-Gruppe seitens der Reichsregierung zurückzuweisen268. Es war also im Interesse der Reichsregierung, die M.I.C.U.M.-Frage offenzuhalten bzw. diese von der Ebene der quasi privaten Absprachen zwischen deutscher Wirtschaft einerseits und M.I.C.U.M. andererseits auf die Regierungsebene zu heben. Kämen Deutsche und Franzosen zu langfristigen wirtschaftlichen Verträgen bezüglich der wirtschaftlichen Kooperation, würde es unendlich viel schwieriger fur die deutsche Regierung werden, den Abzug der französischen Besatzungstruppen aus dem Ruhrgebiet zu erreichen. Deshalb forderte Stresemann Hoesch auf, statt über eine Verlängerung der M.I.C.U.M.Verträge über ein provisorisches Abkommen zwischen den Regierungen zu 266 Siehe Vögler an Ritter (24.1.1924), BArch R 3101, 14767. Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 302. 268 Kabinettssitzung (29.1.1924), AdR MarxrdNB Ι/Π Bd. 1, Nr. 79 267 142 3. Die Anfφge der modernen Außenpolitik verhandeln, um die Zeit bis zum Inkrafttreten der neuen Reparationsregelungen zu überbrücken269. Die Franzosen hingegen lehnten dies ab. Als sich abzeichnete, daß sie im Falle einer NichtVerlängerung der M.I.C.U.M.-Absprachen zu den Repressalien der Vor-M.I.C.U.M.-Zeit zurückkehren würden270, gab die Reichsregierung schließlich doch nach, weil sonst das wirtschaftliche Chaos gedroht hätte271. Außerdem war für Deutschland die befristete Verlängerung der M.I.C.U.M.Verträge immer noch erträglicher als dauerhafte Abkommen zwischen den Industriellen, die den deutschen Spielraum in der Frage der militärischen Räumung langfristig eingeengt hätten. Die dringende Bitte Englands, durch die drohende NichtVerlängerung der Verträge mit der M.I.C.U.M. die Lösung des Reparationsproblems nicht zu gefährden, tat ihr übriges, um die Reichsregierung zum Nachgeben zu bewegen. Am 14. April 1924, also einen Tag vor ihrem Ablauf, einigten sich die Sechserkommission und die M.I.C.U.M. auf die Verlängerung der Absprachen bis zum 15. Juni 1924. Frankreich hatte so zwar noch alle Druckmittel in der Hand, als über den Dawes-Plan verhandelt wurde, allerdings hatte Deutschland auch vermeiden können, daß die Verträge unbefristet verlängert worden waren272. Frankreich wollte also die Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge. Zu welchem Zweck? Wäre es für Frankreich nicht besser gewesen, jetzt, im Moment der Stärke, mit den deutschen Industriellen zu langfristigen Absprachen zu kommen, um dauerhaft den französischen Einfluß auf die rheinischwestfälische Schwerindustrie zu sichern? Ein Problem in diesem Zusammenhang waren die Konflikte innerhalb der französischen Schwerindustrie. Der Comite des forges war zwar an einer teilweisen oder vollständigen Besitzübertragung von Bergwerken im Ruhrrevier auf die französische Eisenindustrie interessiert, stieß damit aber auf den Widerstand des Kohlenverbandes, dem Comite central des houilleres de France (C.C.H.F.)273. In dieser innerwirtschaftlichen Auseinandersetzung boten die M.I.C.U.M.-Verträge eine sowohl für den Comit£ des forges wie auch für den C.C.H.F. erträgliche Übergangslösung, wähnte man doch die deutsche Konkurrenz wirksam ausgeschaltet274. Allerdings entspann sich innerhalb der französischen Regierung bald ein Konflikt über die Vorgehensweise. Seydoux war zwar auch der Meinung, daß eine endgültige Regelung für die langfristige Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Schwerindustrie erst dann zustande kommen könne, 269 Siehe Stresemann an Paris und Brüssel (2.4.1924), ADAP A DC, Nr. 243. Siehe Vögler an Ritter (3.4.1924), BArch R 3101, 14769. 271 Zu den Motiven der deutschen Regierung, der Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge zuzustimmen, siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 306. 272 Siehe Runderlaß Ritter (30.4.1924), ADAP A X, Nr. 52. 273 Siehe Aufzeichnung Seydoux [?] (8.1.1924), MAE PAAP 261, 30. 274 Siehe Hoesch an Schubert (1.3.1924), ADAPriND Α Di, Nr. 177. 270 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 143 den Deutschen, um in dem Moment, in dem die Experten ihr Ergebnis vorleg­ ten, z٧gig zu einem Abschluß mit den deutschen Industriellen kommen zu können. Er wollte außerdem den Deutschen eine Perspektive aufzeigen, damit sie ihren Widerstand gegen die Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge aufgäben275. Gleichzeitig sollte das Thema mit London erörtert werden, um die englische Zustimmung für diese Pläne zu sichern276. Staatspräsident Millerand und der Minister für öffentliche Arbeiten, Le Trocquer unterstützten den Vorstoß Seydoux', nicht aber Poincare, der Pinot lediglich erlaubte, dilatorisch mit den deutschen Industriellen zu verhandeln, und Gespräche mit Hoesch über dieses Thema ablehnte277. Über die Haltung Poincares in dieser Frage läßt sich nur spekulieren. Wollte er vermeiden, daß das gerade wieder mühsam verbesserte Verhältnis zu England durch deutsch-französische Sonderverhandlungen Schaden nahm? Vielleicht steht seine Weigerung im Zusammenhang mit der Sicherheitsfrage, die Anfang März 1924 wieder stärker die französische Politik bestimmte278. Käme man jetzt auf wirtschaftlicher Ebene mit Deutschland zu einer Regelung, würde das Ruhrpfand für die Sicherheitsfrage wertlos. Vielleicht stand seine Haltung aber auch im Zusammenhang mit den Verhandlungen für den 100 Mio. Dollar Kredit von Morgan, der bereits erwähnt wurde. Dabei hatte sich die französische Regierung verpflichtet, den neuen Reparationsplan zu unterstützen, und Poincare wollte vielleicht verhindern, daß das von den Experten erarbeitete Reparationsschema durch deutschfranzösische Sonderabsprachen kompromittiert wurde. Bezüglich der M.I.C.ILM.-Verhandlungen und des Einflusses der Wirtschaftskräfte auf deren Ausgang läßt sich feststellen, daß die deutsche Industrie ihre Vorstellungen nicht hatte durchsetzen können. Sie war auf nur mäßiges Interesse bei ihren französischen Partnern gestoßen und sah sich der Opposition der deutschen wie der französischen Politik ausgesetzt. Obwohl zwar beide Regierungen bezüglich der M.I.C.U.M. »diametral entgegengesetzte«279 Zielsetzungen verfolgten, war keine der beiden Seiten zu diesem Zeitpunkt an einer langfristigen Bindung der französischen und deutschen Industrie interessiert: Die Reichsregierung wollte die Lage offenhalten, um auch die militärische Besetzung in einem günstigen Augenblick abzuschütteln, Frankreich war an einer Regelung der Frage im Gesamtzusammenhang mit den Reparationen und der Sicherheitsfrage interessiert. So entsprach die befristete Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge den Zielen der französischen Politik. Verglichen mit 275 Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.3.1924), MAE PAAP 261,40. Seydoux zog hier offensichtlich die Konsequenz aus dem Miίerfolg seines Reparations­ plans von 1920, der vor allem am englischen Widerstand gescheitert war. 277 Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.3.1924), MAE PAAP 261,40. 278 Hoesch an AA (4.3.1924),tsronmlifedcaSRA ΡAAA R, 70096. 279 ΒΑΜέτγ, Relations franco­allemandes, S. 305. 276 144 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik der Alternative langfristiger deutsch-französischer Wirtschaftsabkommen war sie für Deutschland das kleinere Übel. In diesem Umfeld begannen die Dawes-Plan Verhandlungen, nachdem die RepKo am 30. November 1923 beschlossen hatte, zwei Expertenkommissionen zur Lösung der Reparationsfrage einzusetzen. Die erste Kommission sollte Maßnahmen erarbeiten, wie das deutsche Budget ins Gleichgewicht gebracht und die neue deutsche Währung langfristig stabil gehalten werden konnte. Die zweite sollte Ausmaß und Bedeutung der Kapitalflucht aus Deutschland während der Inflationszeit untersuchen280. Die erste Kommission - betreffend das deutsche Budget und die Währungsstabilisierung - unter Vorsitz des Amerikaners Charles G. Dawes bestand aus zehn Mitgliedern (je zwei aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Belgien und Italien). Sie war die bei weitem wichtigere der beiden Arbeitsgruppen: Ihr oblag es letztendlich zu bestimmen, welche Reparationsbelastung sowohl mit dem budgetären Gleichgewicht als auch der Stabilität der deutschen Währung zu vereinbaren war. Die zweite Kommission, unter Vorsitz des britischen Bankiers McKenna, bestand aus fünf Mitgliedern (je einem aus den genannten Ländern) und war vor allem »ein sachlich belangloses Lockmittel für die französische Seite, das der britische Reparationsbeaufitragte Bradbury erdacht hatte, um Frankreich die Zustimmung zum ersten Mandat zu erleichtern«281. Wie bereits im vorherigen Kapitel zu sehen war, hatte sich Frankreich bemüht, die Rolle der Expertenkommissionen möglichst stark auf die technischen Aspekte des Reparationsproblems zu beschränken und konnte immerhin durchsetzen, daß weder die Ruhrbesetzung noch die M.I.C.U.M.-Verträge Bestandteil der Erörterungen der Experten sein durfiten. Auch das 1921 in Spa festgelegte Gesamtvolumen der deutschen Reparationsschuld von 132 Mrd. GM stand nicht zur Disposition282. Allerdings konnte Frankreich sich nicht mit seinen Forderungen durchsetzen, die Fragen der Eisenbahnregie und der innerdeutschen Zollgrenze aus den Expertendiskussionen herauszuhalten283. Die Ergebnisse, zu denen die Experten in ihrem Abschlußbericht vom 9. April 1924 kamen, sind schnell zusammengefaßt284. Voraussetzung für das Funktionieren des Planes, so die Fachleute, sei die Wiederherstellung der wirt- 280 Zur Organisation der Arbeit der Sachverständigenkommissionen vgl. SCHWABE, Ruhrkrise, S. 70; JEANNESSON, Poincar6, S. 389f.; BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 275, 301. 281 SCHWABE, Ruhrkrise, S. 70. 282 Siehe JEANNESSON, Poincarö, S. 389. 283 Siehe ibid. Zur Entwicklung des Auftrages des Expertenkomitees, der sogenanntentsronmfec terms of reference, siehe auch DAWES, Dawes Plan, S. 285-296. 284 Der Text des Expertenberichts ist u.a. abgedruckt in: DAWES, Dawes Plan, S. 299-509. Die folgende Zusammenfassung der Ergebnisse des Dawes-Plans beruht auf WEILLRAYNAL, R6parations, Bd. 2, S. 562f. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 145 schaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands285 und die Unteilbarkeit des gesamten Gutachtens. Der Plan sah vor, daß die deutschen Reparationszahlungen stufenweise von 1 Mrd. GM pro Jahr im ersten auf 2,5 Mrd. GM im fünften Jahr steigen sollten, um dann auf diesem Niveau zu bleiben. Die Laufzeit der deutschen Zahlungen wurde nicht festgelegt. Die weitere Erhöhung der Annuitäten war aufgrund eines Wohlstandsindex' möglich, eine Revision der Zahlungen in dem Fall, daß sich der Goldwert dramatisch verändern würde. Als Pfänder fiir die deutschen Reparationszahlungen wurden Hypotheken auf die Reichsbahn und die deutsche Industrie vorgesehen, außerdem wurden bestimmte Staatseinnahmen verpfändet. Das betraf vor allem Zölle sowie die Monopolgewinne und Steuereinnahmen auf Alkohol, Bier, Tabak und Zucker. Die Pfänder wurden durch je einen Kommissar für die Reichsbahn und die verpfändeten Staatseinnahmen überwacht, außerdem durch den Generalagenten. Der Generalagent hatte auch dafür zu sorgen, daß der Wechselkurs der neuen deutschen Währung durch die Transferierung großer Geldwerte ins Ausland nicht zu stark belastet wurde und konnte unter Umständen Überweisungen in das Ausland verzögern. Durch die Anrechnung von Sachlieferungen und die Einführung des Recovery Act286 sollte darüber hinaus der Transfer von Devisen verringert werden. Um neben dem Transferschutz die Stabilität der neuen deutschen Währung zu gewährleisten, wurde die Golddeckung wieder eingeführt287. Der Reichsbank wurde verboten, dem Reich Kredite zu gewähren, und sie wurde einer internationalen Kontrolle unterworfen. Um der deutschen Wirtschaft nach dem Ruhrkampf und der völligen Entwertung der Mark unter die Arme zu greifen, erhielt das Deutsche Reich darüber hinaus einen Kredit von 800 Mio. GM. Eine wesentliche Frage ist, warum die Experten mit ihrem Gutachten den Erfolg hatten, der den verschiedenen Reparationskonferenzen zuvor versagt geblieben war, obwohl vieles, was die Experten zu Papier gebracht hatten - 285 Nach deutscher Auffassung bedeutete das: Aufhebung der Binnenzollinie und der Derogationsämter, die den Austausch zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet regelten, Wiederherstellung der deutschen Zollhoheit auch an der Westgrenze, Abschaffimg des Lizenzsystems fiir die deutsche Ausfuhr an der Westgrenze, Aufhebung der Eisenbahnregie, freier Personenverkehr zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet, Freiheit der Schiffahrt und des Kfz-Verkehrs, Zulassung von Rundfunk und Luftverkehr, Reduzierung der Besatzungstruppen, Rückgabe aller enteigneten Pfänder, Ende der Beschlagnahmungen, Ende der Unterstützung der Separatisten, Ende der Eingriffe in das Steuerwesen, Aufhebung der M.I.C.U.M.-Verträge und Wiederherstellung der deutschen Verwaltungshoheit. Außerdem mußte gewährleistet sein, daß im besetzten Gebiet Gesetze gleichzeitig wie im Rest Deutschlands in Kraft treten konnten, siehe Miller an AA (6.5.1924), ADAP A X, Nr. 69. 286 Der Recovery Act war eine 26prozentige Abgabe, die auf den deutschen Export in die Reparationsgläubigerländer erhoben wurde. Die so abgeführten Devisen wurden den deutschen Exporteuren in Markbeständen erstattet. 287 Die Deckungsquote betrug 40%, von denen % durch Gold aufgebracht werden mußten. 146 3. Die Anfage der modernen Außenpolitik wie beispielsweise die Idee einer internationalen Anleihe zur Stabilisierung der deutschen Währung - , bereits zuvor erörtert worden war. Was das Dawes-Komitee von seinen Vorgängern, seien es nun Expertenoder Regierungsgremien, unterschied, war, daß sein Auftrag einerseits nicht zu eng gefaßt - die Verhandlungen der Bankiers über die Anleihe zur Währungssanierung in Deutschland waren bekanntlich an der Pfandfrage gescheitert, die jedoch nicht Inhalt der Bankiersverhandlungen gewesen war - , andererseits aber auch nicht zu weit gefaßt war, weil andere Problembereiche, wie die der Sicherheit Frankreichs, ausgeklammert blieben. Die Reduzierung der Agenda auf den rein wirtschaftlichen Aspekt machte es möglich, daß ein gemeinsamer Standpunkt leichter gefunden werden konnte. Alle Staaten, einschließlich der USA, hatten letztlich ein Interesse daran, die Reparationsfrage zu lösen, während in der Beurteilung der Sicherheitslage doch erhebliche Differenzen bestanden. Die vorangegangenen Versuche zur Lösung des Reparationsproblems waren dagegen vor allem an der unseligen Verkopplung von Reparations- und Sicherheitsfrage gescheitert, wie besonders der Mißerfolg der Weltwirtschaftskonferenz von Genua gezeigt hatte. Stresemanns Einschätzung, die Einsetzung des Dawes-Komitees sei ein Sieg der französischen Regierung gewesen, durch den es Paris gelungen sei, »den englischen Versuch der Einberufung einer Weltkonferenz zum Zwecke der Gesamtlösung der Reparationsfrage und der Rhein- und Ruhrfrage wenigstens vorläufig zu paralysieren«288, erwies sich insofern im Nachhinein als falsch, als durch den Versuch, eine »Gesamtlösung« anzustreben, sich das ganze Spiel der Vorruhrkampfzeit mit seinen erfolglosen Regierungskonferenzen vermutlich wiederholt hätte. Die Nichtbeteiligung Deutschlands an den Expertengesprächen erwies sich als weiterer außerordentlicher Glücksfall. In der Konstellation, in der verhandelt wurde, bestanden ausreichend Gemeinsamkeiten zwischen den Experten, um zu einem konstruktiven Ergebnis zu gelangen. Trotzdem waren aber auch die deutschen Interessen indirekt vertreten, weil diese sich vielfach mit denen der USA und Großbritanniens deckten, und es gab informelle Kontakte zwischen deutschen Wirtschaftsvertretern und den britischen und amerikanischen Sachverständigen289. Im Grunde genommen waren die angelsächsischen Mächte bessere Anwälte der deutschen Sache als es die Deutschen selbst je hätten sein können. Wie schwierig die Regelung des Problems der Reparationen unter deutscher Einbeziehung hätte sein können, läßt sich an den Verhandlungen zum Young-Plan erahnen, die vor allem an der Haltung Schachts fast gescheitert wären. Die Beteiligung der Vereinigten Staaten an der Expertenkommission war ein weiterer zusätzlicher Faktor, der letztlich zum Erfolg des Dawes-Gutachtens 288 289 Stresemann an Sthamer (21.1.1924), ADAP AIX, Nr. 106. Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 501f. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 147 f٧hrte, denn nur sie verfugten ٧ber die finanzielle Manφvriermasse und saßen an der entscheidenden Stelle im Gesamtkomplex aus Reparationen und interalliierten Kriegsschulden, um den Plan zum Erfolg zu fuhren. Auch die Auswahl der Experten sollte sich als außerordentlich günstig erweisen. Betrachtet man deren Biographien, so fällt auf, daß sie vielfach eben keine unabhängigen Wirtschaftsfachleute waren, sondern oftmals einer »Grauzone« zwischen Wirtschaft und Politik entstammten und mit beiden Sphären vertraut waren. Der Vorsitzende und Namensgeber der Expertenkommission, Charles Gates Dawes, war nicht nur Bankier, sondern auch Jurist und »one of the nation's most able statesmen«290. Er organisierte teilweise den Präsidentschaftswahlkampf McKinleys, in dessen Administration er tätig war, und war als General im Ersten Weltkrieg für die gesamte Materialversorgung der Alliierten zuständig gewesen. Er war später außerdem Vizepräsident unter Coolidge und Botschafter seines Landes in Großbritannien. Auch Owen D. Young als weiterer amerikanischer Fachmann und einflußreiches Mitglied der Expertenkommission war keinesfalls nur in der Welt der Wirtschaft zu Hause: Neben seiner Tätigkeit als Chairman of the Board fur General Electric war er unter anderem Direktor der Federal Reserve Bank of New York, Mitglied diverser Delegationen auf vielen internationalen Wirtschaftskonferenzen und Experte in verschiedenen Gremien, die den US-Präsidenten in Wirtschaftsund Sozialfragen berieten291. Die französischen Experten waren ebenfalls keineswegs reine Wirtschaftsfachleute: Der französische Hauptdelegierte, Jean Parmentier, war als Directeur du mouvement general des fonds einer der höchsten Beamten im französischen Finanzministerium292. Ähnliches galt für den zweiten französischen Delegierten, Edgar Allix. Als Professor für Finanzwissenschaft an der Sorbonne galt er »als Größe auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts und der Nationalökonomie«293 und sammelte politische Erfahrungen als chef du cabinet von Paul Doumer, dem Finanzminister im vierten Kabinett Briand294. Für die Experten aus den übrigen Ländern läßt sich Analoges sagen: Emile Francqui, einer der belgischen Delegierten, machte in der Societe generale Karriere, war aber auch Minister unter Jaspar und einer der Hauptverantwortlichen für die Währungssanierung in Belgien im Jahre 1926295. Sein 290 Steven G. O'BRIEN, American Political Leaders. From Colonial Times to Present, Santa Barbara, Denver, Oxford 1991, S. 102. 291 Siehe O.V., Who was Who in America, Bd. 4, Chicago 1968, S. 1043. Zur Rolle Youngs bei den Dawes-Plan-Verhandlungen siehe COSHGLIOLA, Awkward Dominion, S. 116-118. 292 Siehe Robert BURNAUD, Qui etes-vous? Annuaire des contemporains, notices biographiques, Paris 1924, S. 587. 293 Siehe Aufzeichnung ohne Datum und Unterschrift, BArchR 3101, 20436. 294 Das vierte Kabinett Briand war vom 16.1.1921 bis 15.1.1922 im Amt. 295 Siehe Fernand BAUDHUIN, art. »Francqui«, in: Biographie Nationale, hg. v. Acad6mie royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique, Bd. 31, Brüssel 1962, Sp. 3 6 2 - 3 7 0 . 148 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Mitdelegierter Albert Janssen war Präsident der belgischen Nationalbank296. Der britische Vertreter Robert Kindersley war neben seinen Aufgaben bei der Bank Lazard Brothers auch Präsident des War Savings Committee und des National Savings Committee297. Sein Kollege im Dawes-Komitee, Josiah Stamp, begann seine Karriere in der britischen Finanzverwaltung und wechselte später in die Privatwirtschaft298. Die Liste ließe sich fortsetzen, auch wenn bei einigen Delegierten das privatwirtschaftliche Element stärker ausgeprägt zu sein schien, so z.B. bei dem dritten französischen Delegierten, Andre Laurent· Atthalin, Generaldirektor der Banque de Paris et des Pays-Bas, deren Präsident er später werden sollte299, oder bei den italienischen Delegierten Alberto Pirelli und Mario Alberti300, die in der Industrie bzw. dem Bankwesen tätig waren. Der Erfolg der Experten dürfte also einerseits darin begründet liegen, daß sie ausgewiesene Wirtschaftsexperten waren und somit den nötigen Sachverstand für ihre Aufgabe mitbrachten und trotzdem weitgehend unabhängig vom politischen Prozeß waren. Andererseits Wären sie aber auch soweit in das politische System ihrer Länder integriert, daß sie dort den notwendigen Einfluß hatten, um dem Expertengutachten das notwendige Gewicht zu verleihen. Ein weiterer, schwer zu bestimmender, nichtsdestotrotz aber nicht zu unterschätzender Faktor dürfte gewesen sein, daß sich gewisse Gemeinsamkeiten in den Biographien ergaben, die dem Erfolg der Arbeit dienlich gewesen sein dürften: Es handelte sich eben in der Tat um Männer, die in der Politik ebenso beheimatet waren wie in der Wirtschaft, mit zum Teil sehr ähnlichen Karrieren, so daß folglich Wert- und Zielvorstellungen und die Art des Denkens einen hohen Grad an Übereinstimmung gezeigt haben dürften. Das letztlich entscheidende Kriterium dafür, daß für das Reparationsproblem - nach den Irrungen und Wirrungen der Jahre unmittelbar nach dem Krieg vielleicht überraschend - eine für alle erträgliche Lösung gefunden wurde, war die Bereitschaft aller Beteiligten aus Regierungen oder der Wirtschaft, überhaupt zu einer Lösung kommen zu wollen. Diese Bereitschaft war vor dem Ruhrkampf nicht vorhanden gewesen, sei es, weil die Reparationen als solche abgelehnt wurden oder die Reparationsfrage lediglich als Mittel zur Lösung anderer Probleme gesehen wurde. Der Ruhrkampf hatte jedoch bei 296 Siehe Aufzeichnung ohne Datum und Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1,187. Siehe Robert H. BRAND, art. »Kindersley, Robert Molesworth«, in: L. G. WlCKHAM LEGG,yxvutsrponmlihgfedcbaWVUTSRQONMLJIHGEDCBA Ε . T. WILLIAMS (Hg.), The Dictionary of National Biography, 1941­1950, Oxford u.a. 1959, S. 585. 298 Siehe William H. BEVERIDGE, art. »Stamp, Josiah Charles«, in: ibid. S. 817­820. 299 Siehe BURNAUD, Qui etes­vous 1924, S. 21; Eric BüSSlfeRE, Paribas 1872-1992, l'Europe et le monde, Antwerpen 1992, S. 310. 300 Alberti war stellvertretender Generaldirektor bei Credito Italiano, siehe Aufzeichnung ohne Datum und Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1, 187, Pirelli Direktor eines Industriekonzerns, in dem nicht nur die besagten Pirelli-Reifen produziert wurden, Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum, BArch R 3101,20436. 2,7 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 149 jedermann die Erkenntnis zutage gefφrdert, daß eine schnelle, erträgliche Lösung für das Reparationsproblem gefunden werden mußte, um aus der Sackgasse, in der sich die Politik seit dem Ende des Ersten Weltkriegs befunden hatte, herauszukommen, oder, wie Seydoux gegenüber Hoesch erklärt hatte: »Sachverständigengutachten gefalle ihm zwar in vielen Punkten nicht. Er halte es aber für einzig möglichen Ausweg. [...] Gutachten vorkomme ihm wie vorbeifahrendes Schiff, in das alle einsteigen müßten, wenn nicht jede Hoffnung auf Weiterkommen verloren sein solle«301. Der Ruhrkampf hatte außerdem zu einer inhaltlichen Annäherung zwischen den Konfliktparteien geführt. Vergleicht man die Positionen der deutschen302 und französischen303 Regierung Anfang des Jahres 1924 mit den Ergebnissen des Dawes-Plans, so ergibt sich eine erstaunliche Nähe der Vorstellungen. Gegensätze bestanden zwischen Deutschland und Frankreich allerdings noch in der Währungs- und Eisenbahnfrage. Frankreich forderte die Schaffung nicht einer, sondern mehrerer Länder-Notenbanken und die Errichtung mehrerer Landeseisenbahngesellschaften, die nur locker koordiniert werden sollten, während Deutschland auf eine zentrale Lenkung sowohl des Geld- wie des Eisenbahnwesens bestand. Frankreich wich jedoch nach und nach von seinen Forderungen in diesen beiden Bereichen zurück304. Aus deutschlandpolitischer Sicht ist an diesen Überlegungen bemerkenswert, daß zumindest Teile der französischen Führung Anfang des Jahres zwar eine weitreichende Föderalisierung des Reiches anstrebten, aber von den Plänen zur Zerstückelung des Reiches Abschied genommen hatten. Auch bezüglich der Beteiligung französischer Unternehmen an der deutschen Industrie herrschte weiterhin Dissens. Während die Reichsregierung dies noch immer ablehnte305, hielt Frankreich daran fest. Allerdings sah man in Paris diese Frage weniger als ein Reparationsproblem, sondern vielmehr als einen Teil der notwendigen Neuordnung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen, die durch langfristige Verträge zwischen der deutschen und französischen Montan- und chemischen Industrie und durch einen Handelsvertrag abgesichert werden sollten306. Nach dem bereits Gesagten ist es wenig verwunderlich, daß die Reichsregierung am 16. April 1924 trotz der hohen finanziellen Belastungen und des erheblichen innenpolitischen Widerstandes von rechts dem Dawes-Plan ihre Zu^ΛΤ inn S t i m m u n g gab . Für die Annahme sprachen vor allem folgende Gründe 301 Hoesch an AA (6.5.1924), ADAP A X, Nr. 68. Siehe »Richtlinien für die Verhandlungen mit dem Sachverständigen-Komitee [25.1. 1924]« (ohne Unterschrift), AdR Marx HI Bd. 1, Nr. 72. 303 Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.1.1924), MAE PAAP 261, 30. 302 304 305 Siehe BARlßTV, Relations franco-allemandes, S. 308. Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 237. 306 Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.1.1924), MAE PAAP 261, 30. 307 308 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 68. Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 238; Hoesch an AA (25.4.1924), ADAP A X, Nr. 42. 150 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Der Expertenplan machte die Reparationszahlungen kalkulierbar und ermöglichte dadurch den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands. Durch die Eröffnung einer wirtschaftlichen Perspektive für Deutschland und den Transferschutz würde zukünftig eine Überlastung der deutschen Wirtschaft vermieden und damit endlich die Stabilität geschaffen, die die Voraussetzung für die dringend benötigten Kredite aus den USA bildete. Es ist deshalb wenig erstaunlich, daß vor allem die Wirtschaft nachdrücklich auf die Annahme des Expertenplans drängte309. Doch nicht nur wirtschaftlich, auch politisch hatte der Plan Vorteile für Deutschland. Die Experten forderten nämlich ausdrücklich die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands, was langfristig auch die Grundlage für die militärische Besetzung des Ruhrgebiets unterminieren mußte. Da die Sachverständigen außerdem vorgeschlagen hatten, daß die Kosten für die Besetzung des Ruhrgebiets aus dem französisch-belgischen Reparationsanteil bezahlt werden sollte, ergab sich hier ein weiteres Druckmittel, Paris zur militärischen Räumung des Ruhrgebiets zu bewegen. Frankreich tat sich etwas schwerer mit der Zustimmung, erklärte als letzter der beteiligten Staaten am 25. April 1924 seine grundsätzliche Zustimmung zum Dawes-Gutachten310 und machte die endgültige Inkraftsetzung des Expertenplans von diversen Bedingungen abhängig3". Sie sollte erst erfolgen, wenn Deutschland alle notwendigen Vorbedingungen erfüllt haben würde, also beispielsweise die Gesetze verabschiedet sein würden, die notwendig waren, um die Reichsbahn und die Reichsbank im Sinne der Dawes-Plans umzugestalten. Auch forderte Poincarö die Aufrechterhaltung der militärischen Ruhrbesetzung bis zu dem Zeitpunkt, an dem Deutschland seine Reparationsschulden vollständig bezahlt haben würde. Für den Fall, daß Berlin seinen Verpflichtungen nicht nachkäme, sollten wieder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen in Kraft treten, und diesmal sollte sich Großbritannien daran beteiligen. Zwar wollte Frankreich auf die wirtschaftlichen Pfander und Druckmittel, die es seit der Ruhrbesetzung hatte, verzichten, jedoch sollte französisches und belgisches Personal die Ausführung der Bestimmungen des Dawes-Plans kontrollieren. Abgerundet wurde das Programm Poincares durch Forderungen, die die Kohlenversorgung Frankreichs und die Kontrolle der Eisenbahnen im Rheinland, oder zumindest einiger wichtiger Linien, sicher stellen sollten. Es ist viel darüber spekuliert worden, ob Poincare unter dem Druck der immensen Besatzungskosten, der Franc-Krise, der wachsenden Kritik der Öffent309 Zur Zustimmung der Wirtschaft siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.4.1924), PAAAR, 28939, Resolution des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete (1.5.1924), BArch R 3101, 14913, Resolution der Industrie- und Handelskammer Berlin (2.5.1924) BArch R 3101,14913. 3,0 Siehe Poincare an Barthou(25.4.1924), BArch R 3101, 14913. 311 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 398. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 151 lichkeit oder des franzφsischen Delegierten in der RepKo, Barthou, dem Sach­ verstδndigengutachten seine Zustimmung hat geben m٧ssen312. άbereinstim­ mend mit Bariety313 bin ich nicht der Ansicht, daß Poincare nachgegeben hat. Wie bereits oben zu sehen war, lag die französische Linie in der Reparationspolitik nicht allzu weit von dem entfernt, was die Experten letztendlich vorgeschlagen hatten. Dies deckt sich auch mit den Beobachtungen zu den Absichten, die Poincare vor und während des Ruhrkampfs verfolgt hat. Klar ist allerdings auch, daß er versuchte, den Atout, den er mit der Ruhr gegenüber Deutschland und den westlichen Mächten in der Hand hielt, möglichst lange zu behalten und für seine Politik, die ja nicht nur die Reparationen, sondern auch die Sicherheit Frankreichs betraf, zu nutzen314. Für Poincard kam es nun darauf an, seine Bedingungen, die er mit der Inkraftsetzung des Dawes-Plans verknüpfte, durchzusetzen. Hauptadressat dafür war aber nicht Berlin, sondern vor allem London. Nachdem sich alle beteiligten Regierungen zur prinzipiellen Annahme des Dawes-Gutachtens bereit erklärt hatten, traten in Deutschland wie in Frankreich die außenpolitischen Fragen wegen der stattfindenden Wahlen zunächst ein wenig in den Hintergrund. Die Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 führten zu einer Schwächung der bürgerlichen Regierungsparteien und der Sozialdemokraten, also der Parteien der sogenannten Weimarer Koalition und der DVP, während die Rechte - die DNVP und die erstmals im Reichstag vertretene Nationalsozialistische Freiheitsbewegung - deutliche Zugewinne erzielen konnten315. Angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse wuchs also der Einfluß der DNVP, die hinter der SPD knapp zweitstärkste Partei geworden war316. Marx bildete erneut ein Minderheitskabinett, da weder eine große Koalition (unter Einschluß der SPD) noch eine bürgerliche Rechtskoalition (mit Beteiligung der DNVP) zustande kam. Allerdings scheiterten die Koalitionsverhandlungen mit der DNVP nicht, wie man annehmen könnte317, an außenpolitischen Differenzen, sondern an der Forderung der Deutschnationalen, daß die bürgerlichen Parteien die große Koalition in Preußen verlassen sollten318. Die DNVP, so war sich Stresemann 312 Siehe GIRAULT, Europe, S. 137; WEILL-RAYNAL, R6parations, Bd. 2 , S. 5 9 8 - 6 0 3 . Siehe BARIÄTY, Relations franco-allemandes, S. 313. Siehe Hoesch an AA (18.4.1924), ADAP A X, Nr. 18. 315 Zu Einzelheiten siehe Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/25, hg. v. Statistisches Reichsamt, Berlin 1926, S. 389; BAECHLER, Stresemann, S. 514. 316 Zu Anfang der Legislaturperiode hatte die SPD 100, die DNVP 95 Sitze, aufgrund von Fraktionsaus- und Übertritten erhöhte sich die Zahl der DNVP-Abgeordneten bis zum Ende der Legislaturperiode auf 106, die der SPD-Abgeordneten blieb bei 100, siehe Statistisches Jahrbuch 1924/25, S. 389. 3 7 ' Siehe z.B. BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 319. 3 " Siehe Runderlaß Maltzan (4.6.1924), ADAP A X, Nr. 123. 313 314 152 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik sicher, werde seine Außenpolitik und den Dawes-Plan dennoch stützen müssen: Die finanziellen und wirtschaftlichen Bestimmungen des Sachverständigengutachtens würden nach meiner Auffassung im Reichstage eine Mehrheit finden, da die Deutschnationalen es kaum wagen könnten, den Bericht abzulehnen, ohne die weitesten Kreise der Industrie und der Landwirtschaft, von denen sie doch wesentlich unterstützt würden, vor den Kopf zu stoßen319. Trotz der Schwächung der bestehenden Regierung drohte also fur die Außenpolitik von rechts, zumindest für den Augenblick, wenig Gefahr, so daß die unmittelbaren Auswirkungen der Reichstagswahlen für die deutsche Außenpolitik relativ gering waren. Die Wahlen zur französischen Kammer führten zur Abwahl des Nationalen Blocks und der Regierung Poincare und zum Sieg des Linkskartells unter Führung von Edouard Herriot. Der Wahlsieg des Linkskartells hatte jedoch einige Schönheitsfehler. Es gewann zwar - aufgrund des Wahlrechts, das Wahlbündnisse bevorzugte320 - die Mehrheit der Sitze im Parlament, nicht jedoch die Mehrheit der Stimmen321. Für die parlamentarische Arbeit mochte das unmittelbar kaum von Bedeutung sein, es machte aber deutlich, daß der Rückhalt des Kartells in der Öffentlichkeit weniger groß war als die Sitzverteilung vermuten ließ: »The election result was more a protest vote about taxes and the financial situation than an expression of confidence in the cartel«322. Zudem hatten die Linksparteien zwar die Mehrheit in der Kammer, nicht jedoch im Senat. Nachdem die Linke zwar erfolgreich Millerand aus dem Präsidentenamt hatte vertreiben können, gelang es ihr nicht, ihren Wunschkandidaten, Paul Painleve, durch den Senat zu bringen, so daß als Kompromißkandidat Gaston Doumergue zum französischen Staatsoberhaupt gewählt wurde323. Als eigentliche Achillesferse für die neue Regierung sollte sich jedoch erweisen, daß das Wahlbündnis zwischen den Sozialisten, der Section fran9aise de l'intemationale ouvriere (S.F.I.O.), und Herriots Radicaux nicht in eine Regierungskoalition umgewandelt werden konnte: Die S.F.I.O. erklärte zwar, sie wolle Herriot tolerieren, verweigerte aber die Mitarbeit in der Regierung324. Dies zeigt, daß das Linkskartell weniger homogen war, als es sein Name vermuten ließ: Zwischen dem rechten Rand des Kartells, den die republicains socialistes bil319 Aufzeichnung Stresemann (4.6.1924), ADAP A X, Nr. 122. Nach dem Wahlgesetz von 1919 gewann die Partei bzw. das Wahlbündnis alle Sitze eines Departments, welches die absolute Mehrheit in einem Departement erhielt. Konnte kein Bündnis die absolute Mehrheit erzielen, wurden die Sitze proportional zum Wahlergebnis vergeben, siehe RÜMOND, Röpublique souveraine, S. 72f. 321 Siehe KEIGER, Pomcard, S. 309. 322 Ibid. 323 Siehe RiMOND, Frankreich, S. 103. 324 Siehe Jean Denis BREDIN, Joseph Caillaux, Paris 1980, S. 315. 320 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 153 deten, und dem äußersten linken Rand der Sozialisten lagen - ideologisch gesehen - Welten, vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik325. Selbst innerhalb der wichtigsten Gruppierung des Kartells, den Radicaux, war die Spannbreite der politischen Ansichten enorm. In der Außenpolitik beispielsweise stand der verständigungsbereiten Haltung Caillaux'326, der den Ausgleich mit Deutschland suchte, der Chauvinismus Franklin-Bouillons gegenüber327. Bleiben wir zunächst bei der Frage nach der außenpolitischen Position des Linkskartells. Während des Wahlkampfs hatten sich die Radikalen und die Sozialisten lediglich zu Allgemeinplätzen wie Frieden, Entspannung, Gerechtigkeit und Kooperation bekannt, ein gemeinsames außenpolitisches Programm war aber nicht zustande gekommen328. Das Bekenntnis zu den gemeinsamen Idealen verdeckte nur mühsam den tiefen Widerspruch zwischen den Positionen der beiden Parteien. Während die S.F.I.O. den Versailler Vertrag und die Ruhrpolitik Poincares grundsätzlich ablehnte, fand beides in den Reihen der Radikalen Zustimmung329. Der Dissens zwischen den beiden Parteien in außenpolitischen Fragen wird an einer kleinen Episode deutlich, die sich Ende Juni 1924 in der Kammer abspielte. Anläßlich einer Debatte zur Verlängerung der Kredite zur Finanzierung der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet geriet Herriot in eine »peinliche Lage«330, weil die S.F.I.O. ihm nicht folgte. Letztlich konnte er nur mit Hilfe der Opposition eine Verlängerung der Kredite erreichen. Herriots Lage war also selbst für die Verhältnisse der Dritten Republik recht schwierig. Was waren nun aber die außenpolitischen Ziele der neuen französischen Regierung? In einem Schreiben an Leon Blum erläuterte Herriot die Ziele seiner Außenpolitik331: Langfristig sei der Frieden nur durch die Kooperation der Völker zu erreichen. Gewährleistet werden könne dies durch den Ausbau und die Verstärkung der internationalen Institutionen, wie den Völkerbund, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag oder das Internationale Arbeitsamt. Er bekannte sich weiterhin zur Aufnahme von Beziehungen zur Sowjetunion und zur Annahme des Expertengutachtens »sans aucune arriöre pensee«332. Bezüglich Deutschlands stellte er jedoch fest, daß als Schutz vor dem »pan325 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 134­136. Caillaux war sogar unter Clemenceau am 15.10.1918 wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen wδhrend des Kriegs angeklagt und am 23.4.1920 wegen Hochverrats zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Erst Anfang 1925 wurde Caillaux rehabilitiert, siehe BREDIN, Caillaux, S. 270, 304f., 315­319. 327 Siehe BARlίTY, Relations franco­allemandes, S. 330. 328 Siehe ibid. S. 324. 329 Siehe Michel SOULIΔ, La vie politique d'Edouard Herriot, Paris 1962, S. 126­128. 330 Hoesch an AA (29.6.1924),zwtsrnlifeRDBA Ρ AAA R, 28235. 331 Der Brief ist teilweise zitiert in: Köpke an RWiM (7.6.1924), BArch R 3101,14913. 332 Ibid. 326 154 3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik germanisme nationaliste«333 die Ruhr erst dann evakuiert werden kφnne, wenn entsprechende Pfδnder und die Institutionen zu deren Umsetzung geschaffen worden seien. Die Sicherheitsfrage kφnne nur durch Sicherheitsabkommen im Rahmen des Vφlkerbunds gelφst werden. Es wird also deutlich, daß Herriot die außenpolitischen Alleingänge Poincares zwar ablehnte und eine internationale Lösung anstrebte, die Berechtigung des französischen Sicherheitsinteresses sah er aber fur voll und ganz gegeben. Diese Überlegung stand in engem Zusammenhang mit seinem Deutschlandbild, in dem sich das in Frankreich weit verbreitete Bild der »deux Allemagnes« widerspiegelte: das eine, geprägt durch den »nationalistischen Pangermanismus« der Militärs, der Junker und der Schwerindustrie und das »gute« Deutschland der Republikaner und Demokraten334. Erst wenn das nationalistische Deutschland endgültig der Vergangenheit angehören würde, sei Frankreich sicher, und so lange seien die französischen Sicherheitsmaßnahmen gegenüber Deutschland durchaus gerechtfertigt. In seiner Regierungserklärung vor der Kammer am 17. Juni 1924 wiederholte Herriot nochmals seine Position335: Internationale Zusammenarbeit, Ausbau des Völkerbunds, Garantien und Überwachung Deutschlands. Gegenüber Margerie machte er deutlich: »Je constate avec satisfaction l'impression cause wvutsrpo έ Berlin par la constitution du nouveau Gouvernement [...] Mais on ne doit en effet pas se meprendre sur notre resolution de maintenir les droits de la France«336. Verglichen mit der Politik Poincares, besonders, wenn man von der Inter­ pretation ausgeht, daß er mit der Ruhraktion vor allem bezweckte, sowohl Deutschland als auch die ehemals Verbündeten wieder in das Versailler System zurück zu zwingen, ist der Unterschied zu Herriots Politik relativ gering. Ein größerer Unterschied scheint mir jedoch zu sein, daß der Völkerbund in Herriots Konzept einen größeren Raum einnahm als bei Poincare und Deutschland dabei gleichberechtigt mit einbezogen werden sollte. Hoesch gegenüber machte der neue französische Ratspräsident deutlich, »ganze Tendenz seiner Politik in Reparations- undutsrigecaF securite-Frage hinausgehe auf schließliche Einschaltung Völkerbunds. Bis dahin schienen ihm die französischen Interessen nicht recht gesichert«337. Außerdem forderte er die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, da der »Völkerbund erst nach Aufnahme Deutschlands wahren Bund darstelle«338. In Deutschland wurde, wie wir gesehen haben, die Wahl Herriots über333 334 335 336 337 338 Ibid. Siehe BARIΔTY, Relations franco­allemandes, S. 332. Wiedergegeben in: Hoesch an AA (17.6.1927),utsrponmlihgecaXRPNMHEDA Ρ AAA R, 97144. Herriot an Margerie (17.6.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 388. Hoesch an AA (20.6.1924), AD AP A X, Nr. 147. Hoesch an AA (17.6.1924), AD AP A X, Nr. 137. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 155 wiegend positiv, ja vielleicht zu positiv aufgenommen, wenngleich Hoesch vor zuviel Optimismus warnte339. Der Wahlsieg der Linken ließe die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands wahrscheinlicher werden und die Chancen für die Räumung des Ruhrgebiets und des Rheinlands steigen. Auch ergäben sich »Möglichkeiten, Sicherheitsfrage unter Heranziehung Völkerbunds vielleicht in für uns tragbarer Weise zu lösen«340, wobei deutscherseits durchaus erkannt wurde, daß dies ein für Frankreich wesentliches Problem war341. Wie Poincare auch mußte Herriot, um seine Politik durchzusetzen, den Schulterschluß mit England suchen. In Whitehall, nicht in der Wilhelmstraße, lag der Schlüssel zur Erfüllung der französischen Forderungen nach Sicherheit, nach Reparationen und nach einer Regelung der interalliierten Schuldenfrage342. Die Bedeutung Londons für die französische Politik wurde dadurch deutlich, daß Herriot gleich nach seinem Regierungsantritt den Kontakt mit der englischen Regierung suchte. Das Ergebnis dieser Bemühungen waren die französisch-britischen Gespräche, die am 21. und 22. Juni 1924 auf dem Landsitz des britischen Premierministers in Chequers stattfanden. Chequers, das ist in der Geschichtsschreibung zum Synonym für den Sündenfall des Linkskartells in der Außenpolitik geworden. Herriot erscheint dabei als außenpolitischer Amateur ohne genaue Kenntnis der Akten und von schwacher Durchsetzungskraft, der sich von einem gewieften MacDonald in allen wesentlichen Punkten hat über den Tisch ziehen lassen343. War Herriots Außenpolitik tatsächlich so unrealistisch und dumm? Zunächst: Herriot war kein Greenhorn. Seit 1905 Bürgermeister von Lyon, der drittgrößten Stadt Frankreichs, war er Senator, Deputierter und Minister, bevor er 1924 Ratspräsident wurde344. In einer geschickten Wahlkampagne345 hatte er es nicht nur geschafft, die widerwilligen Sozialisten hinter sich zu vereinen, sondern auch Poincare - den man schwerlich als politisches Leichtgewicht bezeichnen kann - zu besiegen. Unterschätzt wird vor allem seine schwierige parlamentarische Situation. Er mußte stets taktieren, um die eigene Partei aber auch die Sozialisten und andere Gruppen, deren Unterstützung er für seine Politik benötigte - hinter sich zu vereinigen. Selbst in seiner Regierung war der Kurs der Deutschlandpolitik nicht unumstritten, standen doch die Positio- 339 Zum folgenden siehe Hoesch an AA (14.5.1924), ADAP A X, Nr. 81. Ibid. 341 Siehe Hoesch an AA (17.6.1924), ADAP A X, Nr. 137. 342 SieheUTSRNLIEDBA ARTAUD, Dettes interalliies, S. 638. 343 Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 379; ARTAUD, Dettes interalliees, S. 646; 340 MONIER, Ann6es 20, S. 123; ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 104. 344 Siehe L. TRENARD, art. »Herriot, Marie-Edouard«, in: biographie fran9aise, Bd. 17, Sp. 1 1 2 5 ­ 1 1 2 7 . 345 Vgl. Serge BERSTEIN, ßdouard Heniot ou la Ripublique en personne, Paris 1985, S. 96­102. 156 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik nen von Kriegsminister Nollet, der unbedingt die militärische Besetzung der Ruhr aufrechterhalten wollte, und die von Herriots Kabinettschef Bergery, der die Abkehr von der militärischen Besetzung forderte, einander unversöhnlich gegenüber346. Auch hatte Herriot durchaus ein außenpolitisches Konzept, wie selbst Bariety einräumt: »le plan est structure, logique, et il pose tous les problemes qui se posent ä la politique etrangere de la France d'alors«347. Dieser Plan sah im einzelnen vor348: die Gewährung gewisser Garantien fur die Ausführung des Dawes-Plans, namentlich die Kontrolle der deutschen Eisenbahnen, die militärische Räumung nur in dem Maße, in dem die deutsche Reparationsschuld kommerzialisiert wurde, und eine Schlichtung durch die USA, falls es zu Streitigkeiten darüber kommen sollte, ob Deutschland seinen Verpflichtungen willentlich nicht nachkommt. Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik sah der Plan Herriots die Aufrechterhaltung der militärischen Besetzung des Ruhrgebiets vor, ebenso die Fortsetzung der Besetzung der sogenannten »Kölner Zone« und der rechtsrheinischen Brückenköpfe sowie die Fortführung der Militärkontrollen durch die IMKK, bis durch den Völkerbund ein geeignetes Gremium zur Überwachung der deutschen Entwaffnung geschaffen würde. Außerdem forderte er einen Sicherheitspakt im Rahmen des Völkerbunds, der später auch auf Deutschland ausgeweitet werden sollte. Untergeordnete Probleme bildeten für Herriot dagegen die interalliierten Schulden, die Verteilung der Einnahmen, die durch die Ruhrbesetzung erzielt worden waren und die Frage der Kohlenversorgung. Die Grundideen dieses Plans tauchten bereits in dem angesprochenen Schreiben Herriots an Blum auf. Auch in fünf Aufzeichnungen Seydoux' vom 19. Juni 1924 wurden Grundgedanken des »HerriotPlans« niedergelegt349, die wiederum die seit Anfang des Jahres festgelegte französische Politik widerspiegelten. Im Verlauf des Sommers und des Herbstes 1924 blieb Herriot diesem Programm durchaus treu, und die Ursachen für sein Scheitern lagen, wie weiter unten zu sehen sein wird, nicht ausschließlich bei ihm. Vergleichen wir die Position Herriots nun mit der MacDonalds: Für MacDonald stand der Völkerbund im Zentrum der neuen internationalen Ordnung350. Die Außenpolitik des britischen Premiers ließ sich zusammenfassen mit »Völkerbund, Abrüstung, internationale Konferenz«351, während er von bilateralen Abkommen, also auch von einem englisch-französischen Bündnis, 346 Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 374. Ibid. S. 378. 348 Das Dokument ist abgedruckt ibid. S. 377. 349 Die Aufzeichnungen Seydoux' - alle datiert vom 19.6.1924 - finden sich in MAE PAAP 261,31. 350 Siehe Sthamer an AA (24.1.1924), ADAPzusronmihfedcaPNHDA Α D(, Nr. 110. 351 Hoesch an AA (14.2.1924), ADAP Α Di, Nr. 154; zusammenfassend zur Außenpolitik MacDonalds siehe COHRS, Peace Settlements, S. 12-14. 347 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 157 wenig hielt, da er gerade solche B٧ndnisse f٧r den Ausbruch des Krieges ver­ antwortlich machte352. Ein echter Unterschied zwischen den Positionen Herriots und MacDonalds, was das Fernziel der angestrebten internationalen Ordnung angeht, war dabei nicht auszumachen. F٧r beide stand der Vφlkerbund, und zwar in einer erwei­ terten und verstδrkten Form, im Zentrum des zuk٧nftigen Systems der euro­ pδischen Sicherheit. Der große Unterschied bestand aber darin, wie dieses Ziel zu erreichen sei: Frankreich versuchte, den Weg dorthin durch ein System wirtschaftlicher und militärischer Garantien abzusichern, wie sie im HerriotPlan festgelegt wurden. Eine Abschwächung der bilateralen Sicherheitsgarantien für Frankreich konnte also nur in dem Maße erfolgen, in dem die multilateralen Garantien im Rahmen des Völkerbunds ausgebaut wurden. England hingegen versuchte, durch einen Vertrauensvorschuß an Deutschland - durch eine zügige Umsetzung des Dawes-Plans und das Dringen auch auf die militärische Räumung des Ruhrgebiets - die Stärkung des Völkerbunds zu erreichen. Nach diesen allgemeineren Überlegungen und Positionsbestimmungen wollen wir uns nun konkret dem zuwenden, was in Chequers besprochen und beschlossen wurde und welche Bedeutung diese Gespräche hatten353. Am ersten Tag der Unterredungen (am 21. Juni 1924) standen vor allem die Umsetzung des Dawes-Plans und die notwendigen Garantien hierfür auf dem Programm. MacDonald forderte, daß ein verbindlicher Zeitplan für die wirtschaftliche und die militärische Räumung des Ruhrgebiets festgelegt werden müsse, während Herriot darauf beharrte, die Implementierung des Plans davon abhängig zu machen, welche konkreten Maßnahmen Deutschland einleite. Dissens bestand auch in der Frage der militärischen Räumung: Herriot verlangte, sie zumindest von der teilweisen Kommerzialisierung der Reparationsschuld abhängig zu machen. MacDonald dagegen argumentierte, daß die wirtschaftliche und militärische Räumung des Ruhrgebiets schon deshalb zeitgleich erfolgen müßte, weil die amerikanischen und englischen Bankiers andernfalls die Sicherheit ihrer Anleihe an Deutschland gefährdet sähen. Auch den französischen Vorschlag, konkrete Maßnahmen für den Fall festzuschreiben, daß Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Dawes-Plan nicht nachkäme, lehnte die englische Seite ab. Am zweiten Tag der Konsultationen ging es wiederum um Reparationsfragen, aber auch um die Sicherheitsproblematik. Die Engländer forderten die 352 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 61. Die zwei offiziellen Gespräche zwischen der französischen und der englischen Delegation am 21. und 22.6.1924 sind abgedruckt bei: Georges SUAREZ, Une nuit chez Cromwell.yutsrqponmihedca Ρτέ­ ced6 d'un important recit historique de Raymond Poincare, Paris 1930, S. 34­84, 99­174. Ein Gesprächsprotokoll (ohne Unterschrift) vom 22.6.1924 findet sich u.a. in: MAEtsronmlihfebaPMHA Ρ AAP 217, 105. Herriot hat in seinen Memoiren ebenfalls wörtlich die Gespräche wiedergegeben: idouard HERRIOT, Jadis, Bd. 2: D'une guerre ä l'autre 1914-1939, Paris 1952, S. 139-145. 353 158 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik Aufgabe der Eisenbahnregie, die im Widerspruch zu den Schlußfolgerungen der Experten stehe, während die Franzosen diese, vor allem aus Sicherheitsgründen, weiterhin für notwendig erachteten. Bezüglich des Modus, wie der Dawes-Plan umgesetzt werden könnte, schlug MacDonald eine Regierungskonferenz vor, wobei sich die Frage stellte, ob und wie Deutschland an der Konferenz beteiligt werden sollte. Großbritannien wünschte die gleichberechtigte Teilnahme Deutschlands, Herriot dagegen schlug eine Zweiteilung der Konferenz vor: Im ersten Abschnitt sollten die Alliierten unter AussChluß Deutschlands über die grundsätzlichen Rahmenbedingungen für die Inkraftsetzung des Plans entscheiden, also beispielsweise festlegen, welche Vorleistungen Deutschland zu erbringen hätte, die Modalitäten der Räumung und eventuelle Sanktionsmaßnahmen. Im zweiten Teil der Konferenz sollte mit Deutschland nur noch die Umsetzung der Maßnahmen besprochen werden. Der französischen Delegation ging es also hauptsächlich um die Festlegung von Sicherheiten für den Fall der deutschen Nichterfüllung, was Großbritannien jedoch ablehnte. Ein weiteres Gesprächsthema war die Verknüpfung von interalliierten Schulden und Reparationen. MacDonald konnte sich mit seiner Auffassung durchsetzen, die Schuldenfrage erst nach der Inkraftsetzung des Dawes-Plans zu besprechen. In der Sicherheitsfrage drängte Herriot erneut auf einen europäischen Sicherheitspakt, dem MacDonald - unter Hinweis auf die kritische Haltung der Dominions, innenpolitische Widerstände und die ablehnende Haltung der neutralen Länder - allerdings wenig Chancen einräumte. Der englische Premier befürwortete statt dessen eine Regelung der Sicherheitsfrage im Rahmen des Völkerbunds durch allgemeine Abrüstung und Entspannung und schlug eine Reihenfolge der zu lösenden Probleme vor: Dawes-Plan, Schulden, Sicherheit. Es bestanden also große Differenzen zwischen der britischen und der französischen Position. Die einzig greifbare Entscheidung der beiden Regierungschefs war eine an Deutschland gerichtete Note mit der Forderung, die Militärkontrolle wieder zuzulassen354. Das gemeinsame Kommunique355 enthielt darüber hinaus wenig Konkretes: Den Verweis auf die Entwaffnungsnote an die deutsche Regierung, die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Inkraftsetzung des Dawes-Plans und die Zweiteilung dieser Konferenz, wobei der erste Teil der Diskussion der Siegermächte untereinander dienen und die deutsche Seite erst im zweiten Teil hinzugezogen werden sollte. Außerdem enthielt die Erklärung der beiden Regierungschefs ein Bekenntnis zu einem »pacte moral de cooperation continue«356. 354 Text der Note in: DBFP 1 XXVI, Nr. 670f. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (22.6.1924), MAE PAAP 217, 105. 356 Ibid. 355 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 159 Wie sind die Gesprδche von Chequers und deren Ergebnisse zu deuten? Ba­ riety hδlt sie fur eine wichtige Vorentscheidung bez٧glich der Londoner Kon­ ferenz357, wobei sich die englische Auffassung hinsichtlich der anzustrebenden internationalen Ordnung weitgehend durchgesetzt habe. MacDonald habe sich mit seinen Forderungen nach einer internationalen Konferenz unter Beteili­ gung Deutschlands, der Trennung von Schulden­ und Reparationsfrage sowie einer Ausklammerung der Sicherheitsfrage behaupten kφnnen, wδhrend Herri­ ot mit seinen Vorschlδgen zu einem Sicherheits­ und Garantiepakt gescheitert sei. Die prinzipielle Zustimmung Herriots zur φkonomischen Rδumung enthal­ te implizit den Verzicht auf die M.I.C.U.M.­Vertrδge und die wirtschaftlichen Pfδnder. Mit der Ausklammerung der Sicherheitsfrage »Herriot a accepte une negociation o٧ Ton ne traitera que d'un domaine o٧ la France a δ donner et o٧ l'on ne traitera pas de domaines o٧ la France a δ demander«358, weshalb die Londoner Konferenz von vornherein richtige Verhandlungen im Sinne eines Interessensausgleichs ausgeschlossen habe. Dies wiederum habe die Aufgabe einer unabhδngigen franzφsischen Außenpolitik zur Folge gehabt, wobei Großbritannien nun die Maßstäbe setzte. Chequers war demnach die Konfrontation »entre la conception de la paix par l'apaisement general et international et celle de la paix par la construction d'un systeme de securite dont une etroite entente franco-anglaise aurait ete la premiere pierre«359, wobei sich die englische Auffassung durchgesetzt habe. Die deutsche Seite hingegen stufte die Ergebnisse des französisch-britischen Gipfels weniger spektakulär ein. Der deutsche Botschafter in London, Stimmer, berichtete, daß die Unterhaltungen zwischen den Herren MacDonald und Herriot nicht so befriedigend verlaufen seien, wie der englische Staatsmann erhofft zu haben scheint. [...] Tatsächlich glaube ich, daß etwas bindendes in Chequers nicht vereinbart ist, daß man sich hauptsächlich höchstens auf eine breite Linie verständigt haben wird [...] Es geht aber aus diesen Erklärungen vor - und ich habe keinen Grund, an der Zuverlässigkeit des als ehrlich bekannten Norman Angell3®0 zu zweifeln - , daß Herr Herriot wie Herr MacDonald die Absicht haben, sich des Völkerbunds zu bedienen, um ihn als Instrument zur Regelung der Sicherheits- und allgemeinen Abrüstungspläne zu benutzen361. Die Bewertung Sthamers ist wohl die plausiblere. Das Kommunique und auch die vorliegenden Gesprächsprotokolle liefern keine Hinweise, daß Herriot sich unvorsichtigerweise und voreilig auf Positionen festgelegt hätte, die die Position Frankreichs kompromittiert hätten (ebenso wenig übrigens wie MacDo357 Zum folgenden siehe BARliTY, Relations franco-allemandes, S. 409-413. Ibid. S. 411. 359 Ibid. S. 41 lf. 360 Angell hatte zu diesem Thema ein Interview mit Herriot für den »New Leader« gefuhrt, siehe Sthamer an AA (20.6.1924), ADAP A X, Nr. 157. 361 Ibid. 358 160 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik nald). Das hieße auch, den Charakter der Gespräche zu überschätzen, die wohl doch eher dem gegenseitigen Kennenlernen und der Positionsbestimmung dienten als der tatsächlichen Formulierung von gemeinsamen Zielen. Für Herriot ging es in erster Linie darum, das Einvernehmen mit der englischen Seite wiederherzustellen, denn das französisch-britische Verhältnis hatte unter Poincare den ein oder anderen Schlag hinnehmen müssen. Insofern ist der symbolische Wert des Treffens nicht zu unterschätzen. Sicherlich bedeutete die Zurückstellung der Kriegsschulden- und Sicherheitsfrage hinter die Reparationsfrage eine Schwächung der französischen Position fur die Londoner Konferenz. Es bleibt aber die Frage zu stellen, ob solch eine Einbeziehung realistisch gewesen wäre: Der Dawes-Plan war nun mal ein Reparationsplan und kein Schulden- und Sicherheitsplan. Mit der prinzipiellen Annahme des Expertengutachtens - durch Poincare, wohlgemerkt - hatte Frankreich implizit die Gesamtlösung der schwebenden Probleme aufgegeben. Es sprachen insbesondere praktische Erwägungen dafür, sich zunächst ganz auf die Reparationsfrage zu konzentrieren: Waren nicht alle vorangegangenen Konferenzen an der Verquickung von Reparationen, Schulden und Sicherheit gescheitert und machte es nicht Sinn, erst ein Problem zu lösen, um dann die übrigen anzugehen? Konnte die Lösung der Reparationsfrage nicht die Lösung der anderen Fragen erleichtern? Trotz des von angelsächsischer Seite geleugneten Zusammenhangs von Kriegsschulden und Reparationen war es doch so: War erst einmal eine verbindliche Lösung für das Reparationsproblem gefunden, konnte ausgehend von dieser Regelung ein Ausgleich über die Schulden erzielt werden. Für Herriot, wir haben es in seinem Plan gesehen, war das Schuldenproblem außerdem nur ein sekundäres, es war also ein Zugeständnis, was ihm vergleichsweise leichtgefallen sein dürfte. Wichtiger, vielleicht am wichtigsten, war fur ihn die Sicherheitsfrage362. Hier konnte er von MacDonald die zugegebenermaßen vage - Zusage erhalten, den Völkerbund zu einem funktionierenden Instrument der Friedenssicherung auszubauen. Der Weg dorthin war zwischen London und Paris zwar umstritten, aber das Ziel war ein gemeinsames. Auch den Engländern dürfte das Treffen vor allem zur Positionsbestimmung gedient haben. Dabei galt es für London, nicht nur die eigene Haltung festzulegen, sondern auch die Positionen von Deutschland und Frankreich abzugleichen: In einem Treffen zwischen Ruppel und Bradbury kam es im Vorfeld des Treffens von Chequers zu Gesprächen über einen Zeitplan für die Ruhrräumung363. Einen Tag vor dem französisch-britischen Gipfel legte Sthamer Crowe, der an den Gesprächen in Chequers teilnahm, die deutschen Forderungen in bezug auf den Reparationsplan vor, nämlich die Räumung von Düsseldorf, 362 363 Siehe HERRIOT, Jadis, S. 143. Siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 385f. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 161 Duisburg und Ruhrort, die bereits 1921 als Sanktion besetzt und zwischenzeit­ lich nicht gerδumt worden waren, eine verbindliche Erklδrung Frankreichs zur Ruhrrδumung, die Wiederherstellung der administrativen, wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands sowie eine generelle Amnestie f٧r alle Aus­ gewiesenen364. F٧r die englische Regierung, die sich viele der deutschen For­ derungen zu eigen machte, waren die Gesprδche in Chequers also auch eine Mφglichkeit, die deutsche und die franzφsische Position zu eruieren. Wie wenig sich Frankreich in Chequers festgelegt hatte, zeigte auch der Be­ such Herriots in Br٧ssel, wo er auf seiner R٧ckkehr aus England Halt machte, um den belgischen Verb٧ndeten ٧ber die Gesprδche mit MacDonald zu infor­ mieren365. Dort erklδrte der franzφsische Ratsprδsident, er habe vom engli­ schen Premierminister die Zusicherung f٧r ein Defensivb٧ndnis erhalten ­ eine Aussage, die sich mit den Gesprδchen in Chequers, soweit sie uns be­ kannt sind, kaum in Einklang zu bringen sind. War es das, was Herriot unter dem »moralischen Pakt« verstand? MacDonald jedenfalls war anderer Ansicht und erklδrte am 26. Juni 1924 vor dem Unterhaus, daß es keinerlei Absprachen bezüglich eines militärischen Bündnisses zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich gebe366. Für die These, daß die Gespräche von Chequers, bis auf die im Kommunique festgelegten Punkte, wenig bindenden Charakter hatten, spricht der »Wirrwarr«367 in den französisch-britischen Beziehungen, der nach den englisch-französischen Konsultationen herrschte. Neben der stark unterschiedlichen Interpretation der Ergebnisse von Chequers trug dazu auch das einseitige Vorgehen Londons bei der Vorbereitung der Londoner Konferenz bei: Die englische Regierung hatte - ohne Paris davon zu informieren - Einladungen an die Siegermächte des Krieges verschickt und dieser Einladung ein Memorandum bezüglich der Deutschlandpolitik beigefugt, das in keiner Weise dem französischen Standpunkt entsprach368. Herriot mußte davon aus dem »Echo de Paris« erfahren - ein dem Linkskartell nicht gerade wohlgesonnenes Blatt und war außer sich über das englische Vorgehen. Die Verworrenheit der Lage machte - der Beginn der Londoner Konferenz rückte immer näher - eine Klärung der zwischen England und Frankreich umstrittenen Punkte notwendig. Am 8. Juli 1924 reiste MacDonald deswegen nach Paris, um mit der französischen Regierung zumindest den Rahmen einer gemeinsamen Haltung gegenüber Deutschland zu finden. Die französische Haltung war diesmal weniger unverbindlich als in Chequers369. Frankreich 364 Siehe Stresemann an Botschaft London (18.6.1924), AD AP A X, Nr. 140 und Sthamer an AA (20.6.1924), AD AP A X, Nr. 146. 365 Zu Herriots Belgien­Reise siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 416­422. 366 Siehe SoULlί, Herriot, S. 163. 367 Stresemann an Hoesch (13.7.1924), AD AP A X, Nr. 202. 368 Siehe SOULlfi, Herriot, S. 163. 369 Hierzu BARLFITY, Relations franco­allemandes, S. 475­477; HERRIOT, Jadis, S. 147. 162 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik forderte, die militärische Ruhrbesetzung nicht zum Gegenstand der Londoner Konferenz zu machen, da für das Funktionieren des Expertenplans nur die wirtschaftliche Räumung notwendig sei. Außerdem müßten die Entscheidungen der Konferenz im Rahmen des Versailler Vertrags bleiben, dürften also nicht den Status der RepKo antasten oder die Möglichkeiten zu Sanktionen einschränken. Statt dessen sollten genaue Maßnahmen festgelegt werden, die in Kraft treten würden, falls Deutschland sich weigern sollte, den Bedingungen des Dawes-Plans nachzukommen, und diese Maßnahmen müßten formell vor dem französischen Parlament verkündet werden. Weiterhin stellte die französische Seite fest, daß sowohl die Kriegsschulden- wie auch die Sicherheitsfrage Teile des Reparationsproblems seien und mahnte eine baldige Lösung dieser beiden Komplexe an. In den Gesprächen zwischen der französischen und der britischen Regierung mußte Paris jedoch einige Abstriche an seiner Position hinnehmen. In dem gemeinsamen Memorandum vom 9. Juli 1924370 wurde zwar die militärische Räumung nicht erwähnt und der Versailler Vertrag nicht in Frage gestellt, allerdings sollte die RepKo um ein amerikanisches Mitglied erweitert werden, was zwar den Status der RepKo selbst nicht beeinträchtigte, aber das Gewicht Frankreichs darin verringerte. Der Zusammenhang zwischen interalliierten Schulden, dem Sicherheitsproblem und den Reparationen wurde abgeschwächt und die Frage an die Experten übergeben371. Wie wirkte sich die französischbritische Erklärung auf die Verhandlungsposition Frankreichs aus? Eine Schwächung der französischen Position trat sicherlich dadurch ein, daß die Schulden- und Sicherheitsproblematik durch ihre Überweisung an die Experten explizit aus den Londoner Gesprächen ausgeklammert wurde, aber das war ja auch vorher schon faktisch der Fall gewesen372. Auch ist festzustellen, daß die eigentlich kritischen Fragen im Kommunique keine Erwähnung fanden, weil eine Einigung darüber wohl kaum zu erreichen gewesen wäre: Die Fragen der militärischen Räumung, der Zukunft der Eisenbahnregie, der deutschen Beteiligung an der Londoner Konferenz oder die Frage der Kommerzialisierung der Reparationsschuld wurden nicht thematisiert373. Eine gemeinsame englisch-französische Haltung war also nur oberflächlich gegeben. In Deutschland traf die französisch-britischen Erklärung auf Ablehnung: Sie stelle einen »starken Rückschritt gegenüber dem nach der Konferenz in Chequers aufgestellten englischen Memorandum«374 dar, denn die Befugnisse der RepKo seien weiterhin zu groß, und sie habe nach wie vor darüber zu entscheiden, ob Deutschland seinen Reparationsveipflichtungen nachkomme oder 370 Abgedruckt als Dokument Nr. 9 in: Weißbuch Londoner Konferenz. Siehe ibid. 372 Siehe BARlfeTY, Relations franco-allemandes, S. 484. 373 Siehe ibid. 374 Siehe Runderlaß Maltzan (10.7.1924), ADAP A X, Nr. 194, siehe auch zum folgenden. 371 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 163 nicht. Außerdem sei aus der Erklärung nicht erkennbar, nach welchen deutschen Vorleistungen der Dawes-Plan in Kraft treten solle. Einzig die Erklärung, daß Sanktionen nur einstimmig verhängt werden könnten, sei in diesem Zusammenhang positiv zu bewerten, auch wenn die vorgesehenen Schlichtungsgremien unzureichend seien. Allerdings stellte Maltzan fest, daß viele offene Punkte durch das Kommunique nicht geregelt seien, so daß es deshalb noch gelingen könne, »die vitalen deutschen Interessen mehr als bisher zu berücksichtigen«375. Auch Hoesch kam zu dem Schluß: »Sachlich scheint mir durch franko-englische Presseverständigung nicht viel für uns verdorben«376. Sicherlich, die Verständigung mit Großbritannien hatte für Frankreich im Vorfeld der Londoner Konferenz Priorität. Dennoch hatte natürlich auch die deutsch-französische Perspektive Auswirkungen darauf, welches Land in welchem Umfang seine Interessen auf der Londoner Konferenz würde durchsetzen können. Die Reichsregierung forderte die wirtschaftliche Räumung der Ruhr und die Rücknahme aller Maßnahmen der Franzosen und Belgier zur Ausbeutung des Ruhrpfandes, also vor allem die Aufhebung der M.I.C.U.M.Verträge und das Ende der Eisenbahnregie, während besonders letztere für Frankreich einen besonderen sicherheitspolitischen Wert hatte377. Ein zweiter großer Streitpunkt zwischen Deutschland und Frankreich betraf die militärische Räumung des Ruhrgebiets und die damit zusammenhängende Frage der Kommerzialisierung der Reparationsschuld. Frankreich wünschte, die militärische Räumung des Ruhrgebiets davon abhängig zu machen, in welchem Umfang die Reparationsschuld kommerzialisiert würde, was Stresemann jedoch ablehnte378. Er forderte statt dessen einen festgelegten Zeitplan, der nicht an die Kommerzialisierung gebunden sein sollte, denn er befürchtete, daß andernfalls der Dawes-Plan nicht durch den Reichstag zu bringen sei379. Die Kommerzialisierung der Reparationsschuld war aus mehreren Gründen ein heikles Thema. Dahinter verbarg sich die Ausgabe staatlicher Schuldverschreibungen für einen Teil oder die Gesamtheit der Reparationsschuld auf den privaten Kapitalmärkten, ähnlich anderen staatlichen Anleihen, Rentenbriefen etc., und die Bedienung der privaten Gläubiger durch den Staat. Was trivial klingt, hatte erhebliche Konsequenzen auf den ganzen Charakter der Reparationen: Sie waren bislang in ihrer Höhe und den Zahlungsmodalitäten, trotz der in Spa festgelegten Zahlen, in höchstem Maße fiktiv. Ihre Streichung hätte theoretisch nur des Federstrichs der beteiligten Regierungen bedurft. Waren die Schuldtitel aber in den Händen privater Anleger, hätte die deutsche Regierung, die diese ja hätte bedienen müssen, so gut wie keinen Spielraum 375 Ibid. Hoesch an AA (10.7.1924), ADAP A X, Nr. 195. 377 Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 438. 378 Siehe Saint-Quentin an Quai d'Orsay (9.7.1924), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 23. 379 Siehe Stresemann an Botschaft London (30.6.1924), ADAP A X, Nr. 167. 376 164 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik gehabt, die Reparationsschuld zu verringern380: Denn dies hätte ja bedeutet, daß ein Teil der Schuldtitel wertlos geworden wäre. Das Vertrauen in Deutschland auf den internationalen Kapitalmärkten wäre ruiniert, ausländische Kredite würden abgezogen und an neue wäre nicht mehr zu denken. Frankreich hatte also deshalb ein Interesse daran, die Reparationen so schnell wie möglich in größtmöglichem Umfang zu kommerzialisieren, weil dadurch langfristig die Reparationszahlungen abgesichert und kurzfristig große Zahlungen, die dringend zum Wiederaufbau und zur Sanierung der französischen Währung notwendig waren, in den leeren französischen Staatssäckel gespült worden wären. Deutschland hingegen wollte aus genau diesen Gründen die Kommerzialisierung verhindern, zumindest aber hinausschieben, um sich nicht längerfristig der Möglichkeiten einer Reduzierung der Reparationen zu berauben. Kalkül Stresemanns war es vielmehr, privates englisches und amerikanisches Kapital nach Deutschland zu holen. Sollte Deutschland in Zahlungsschwierigkeiten geraten, würden die amerikanischen und englischen Anleger darauf drängen, daß ihre Kredite Priorität vor den (nicht kommerzialisierten) Reparationen hätten und eine Senkung der Reparationen fordern381. Wären die Reparationen aber kommerzialisiert, hätten sie die gleiche Qualität wie die anderen Kredite auch, und Deutschland müßte wohl oder übel beide zahlen. Ganz abgesehen von dem Wunsch Frankreichs nach schneller Kommerzialisierung und dem deutschen Widerwillen dagegen, bestand aber in diesem Zusammenhang noch ein anderes Problem: Es mußte erst einmal das Kapital vorhanden sein, eine derart große Anleihe auf den internationalen Finanzmärkten unterzubringen. Als Anleger kamen nach Lage der Dinge vorwiegend Amerikaner und Engländer in Betracht, so daß die Frage der Kommerzialisierung eben nicht nur ein deutsch-französisches Problem war, sondern in erster Linie vom Wohlwollen der amerikanischen und englischen Bankiers abhängig war. Der französische Wunsch, die Räumung des Ruhrgebiets vom Fortschritt der Kommerzialisierung abhängig zu machen, hätte deshalb bedeutet, daß über den Abzug der Besatzungstruppen letztlich in der Wall Street und der City entschieden worden wäre, auf deren Haltung Berlin keinen Einfluß hatte. Dissens bestand zwischen Berlin und Paris auch in der Frage der deutschen Beteiligung an der Londoner Konferenz: Die Reichsregierung war daran interessiert, möglichst von Anfang an mit am Verhandlungstisch zu sitzen, da andernfalls ein erneutes alliiertes »Ultimatum«382 zu befürchten sei. Außerdem stieß in Deutschland die französische Forderung auf Widerstand, die zur Umsetzung des Dawes-Plans notwendigen Änderungen in den deutschen Gesetzen 380 381 382 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 402. Siehe BARJETY, Relations franco-allemandes, S. 452. Aufzeichnung Schubert (30.6.1924), AD AP A X, Nr. 165. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 165 bereits vor Beginn der Londoner Konferenz zu verabschieden383. Stresemann lehnte dies ab, weil dies bedeutet hδtte, daί wir uns unsererseits endg٧ltig binden, bevor sich Frankreich zu den von ihm zu treffen­ den Maίnahmen verpflichtet hat, daί wir uns hinsichtlich der Wiederherstellung unserer wirtschaftlichen und finanziellen Souverδnitδt in den besetzten Gebieten auf den guten Wil­ len der französischen Regierung verlassen, daß wir also ohne jede Gewähr der Gegenleistung schlichtweg vorleisten384. Um die franzφsische Seite dennoch zu einer weicheren Haltung zu bewegen und wegen der »augenscheinlich außerordentlich schwachefn] Stellung Herriots«385, demonstrierte die Reichsregierung ihren guten Willen in der Frage der Militärkontrolle386 und antwortete auf die gemeinsame Note MacDonalds und Herriots zur Entwaffnungsfrage vom 22. Juni 1924 bereits am 30. Juni positiv387. Trotz der Bedingungen, die die Reichsregierung in ihrer Note stellte nämlich daß die IMKK so schnell wie möglich nach Ende der Entwaffnungskontrolle aufgelöst werden sollte, die Bedingungen der Inspektion mit Deutschland abgestimmt werden sollten und die Inspektion bis spätestens Ende September 1924 abgeschlossen sein sollte - , war »die Note als ein uneingeschränktes und ehrliches Ja zu werten«388. Die erwähnten Einschränkungen dienten vor allem der Beruhigung der Opposition im Reichstag, aber auch seitens von Seeckts und Reichswehrminister Geßlers389. Außerdem versuchte die deutsche Regierung, die zum 15. Juni 1924 anstehende Verlängerung der M.I.C.U.M.-Abkommen zu benutzen, von Frankreich wenn schon nicht die Aufgabe, so doch die Modifikation der Verträge im deutschen Sinne zu erreichen, damit Paris dieses Druckmittel vor den Verhandlungen in London aus der Hand geschlagen wurde. Aufgrund des hartnäckigen französischen Widerstands mußte die Reichsregierung jedoch der Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge bis zunächst Ende Juli zustimmen. Vor dem Zusammentritt der Londoner Konferenz waren also noch folgende Fragen zwischen London, Berlin und Paris umstritten: Frankreich lehnte die Diskussion der militärischen Räumung ab, Berlin dagegen sah einen verbindlichen Zeitplan für den Truppenabzug als Voraussetzung fur das Inkraftsetzen des Dawes-Plans als notwendig an. London neigte in dieser Frage tendenziell der Haltung Berlins zu. Frankreich forderte die Kommerzialisierung der Reparationen als Bedingung für die militärische Räumung, was wiederum von 383 Siehe Saint-Quentin an Quai d'Orsay (9.7.1924), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 23. Stresemann an Botschaft London (30.6.1924), ADAP A X, Nr. 167. 385 Aufzeichnung Schubert (7.7.1924), ADAP A X, Nr. 184. 386 Siehe Hoesch an AA (4.6.1924), AD AP A X, Nr. 118. 387 Siehe Schubert an Hoesch (28.6.1924), ADAP A X, Nr. 163. 388 Ibid. 389 Siehe ibid. und Aufzeichnung Schubert (25.6.1925), ADAP A X, Nr. 154 sowie Ministerbesprechung (25.6.1924), AdR MarxrdNB Ι/Π Bd. 2, Nr. 234. 384 166 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik Deutschland und England abgelehnt wurde. Paris wünschte, daß die RepKo ihre Befugnisse in Reparationsangelegenheiten behielt, besonders hinsichtlich der Verhängung der Sanktionen, während Berlin und London die Sanktionsmöglichkeiten und die Rolle der RepKo beschränken, vor allem aber französische Alleingänge verhindern wollten. Strittig war außerdem die Frage, ob Deutschland die für den Dawes-Plan notwendigen Gesetzesänderungen bereits vor der Londoner Konferenz verabschieden sollte - was sowohl die deutsche wie auch die englische Regierung ablehnten. Auch die Teilnahme Deutschlands an der Reparationskonferenz war umstritten, wobei Berlin stärker noch als London auf eine möglichst frühe Einbeziehung Deutschlands drängte, was Paris jedoch zurückwies. Frankreich hatte sich nicht mit seinem Wunsch durchsetzen können, die Schulden- und Sicherheitsproblematik mit dem Reparationsproblem zu verknüpfen. An der Aufzählung der strittigen Punkte wird deutlich, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Berlin und London größer waren als die zwischen London und Paris, so daß die französische Verhandlungsposition deshalb schon im Vorfeld eingeschränkt war. Bei allen offenen Problemen war jedoch unstrittig, daß alle drei Regierungen am Erfolg des Dawes-Plans interessiert waren und Einigkeit darin bestand, daß das Ruhrgebiet wirtschaftlich geräumt und die wirtschaftliche, fiskalische und administrative Einheit Deutschlands wiederhergestellt werden sollte, auch wenn es in Einzelfragen - wie der Eisenbahnregie - unterschiedliche Auffassungen gab. In London mußte sich erweisen, welche Bedeutung die strittig gebliebenen Fragen für die einzelnen Akteure hatten, und ob sie bereit waren, deswegen die Konferenz scheitern zu lassen: Das schwierigste Problem war die militärische Ruhrräumung. Sie war der »Kardinalpunkt«390. Stresemann mußte »dem deutschen Volk sagen können, daß in absehbarer Zeit diese Gebiete frei werden, sonst wirft man mir den ganzen Sachverständigenplan vor die Füße«391. Frankreich dagegen beharrte auf seiner Truppenpräsenz392. Die Londoner Konferenz begann wie geplant zunächst unter Ausschluß Deutschlands am 16. Juli 1924. Drei Problemkreise standen im Mittelpunkt der Verhandlungen: Erstens die Implementierung des Dawes-Plans, das war der offizielle Grund des Zusammentreffens. Zweitens, eng mit dem ExpertenPlan im Zusammenhang stehend, die Frage der militärischen Ruhrräumung und drittens ein deutsch-französischer Handelsvertrag, der als Kompensationsobjekt fur die militärische Räumung des Ruhrgebiets ins Spiel gebracht worden war. Dabei verliefen die Konfliktlinien nicht nur zwischen den ehemals Alliierten und Deutschland, sondern auch zwischen Frankreich und Großbritannien, während zwischen den Deutschen und Engländern in vielen Fragen Übereinstimmung herrschte. Es gab aber noch eine weitere Frontlinie, 390 391 392 Stresemann an Hoesch (13.7.1924), ADAP A X, Nr. 202. Ibid. Maltzan an Sthamer und Dufour (15.7.1924), ADAP A X, Nr. 107. 3.2. Der Dawes­PIan und die Londoner Konferenz 167 nδmlich zwischen der franzφsischen Delegation und den Interessen der ameri­ kanischen und englischen Bankiers. Diese hatten der englischen Regierung wenige Tage vor Beginn der Londoner Konferenz ihre Bedingungen fur die Gewδhrung der 800 Mio. GM Anleihe fur Deutschland ­ einem Kernst٧ck des Dawes­Plans ­ ٧bermittelt, die sich weitgehend mit der deutschen und engli­ schen Position deckten und im Gegensatz zur franzφsischen Position stan­ den393. In ihrem Schreiben hatten die Bankiers gefordert, daß das Ruhrgebiet unverzüglich, auch militärisch, geräumt und alle Institutionen, die das Wirtschaftsleben in den besetzten Gebieten einschränkten (also vor allem die Eisenbahnregie und die M.I.C.U.M.), abgeschafft werden müßten. Außerdem sollten sich die europäischen Bankiers an der 800 Mio. GM-Anleihe beteiligen und deren Bedienung Priorität vor den Reparationsleistungen haben. Sie verlangten zudem, daß Sanktionen nur einstimmig von allen Alliierten verhängt werden sollten und die Kompetenz zur Feststellung der deutschen Nichterfüllung nicht in die Hände der RepKo, sondern des Transferkomitees gelegt würde. Für die französische Delegation waren die Forderungen der Bankiers deshalb nicht leicht zu ignorieren, weil man wegen der französischen Währungsprobleme ebenfalls auf ausländisches Kapital hoffte. Die Arbeit der Konferenz, deren Vorsitzender auf Vorschlag Herriots MacDonald wurde, war auf drei Kommissionen verteilt394. Die erste Kommission unter Vorsitz des englischen Schatzkanzlers Snowden hatte die Aufgabe, die Garantien für die 800 Mio. GM Anleihe auszuarbeiten. Die zweite sollte die Bedingungen für die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands ausarbeiten und wurde von James Henry Thomas geleitet. Kindersley, der auch schon Mitglied des Dawes-Komitees gewesen war, saß der dritten Kommission vor, die beauftragt wurde, die Bedingungen für die Transferzahlungen und die Sachlieferungen auszuarbeiten. Am schnellsten kamen die Verhandlungen der zweiten Kommission über die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Räumung voran, und bereits am 24. Juli 1924 konnten sich die Delegationen prinzipiell einigen395. Am schwierigsten stellten sich die Verhandlungen in der ersten Kommission dar396. Hier verhärteten sich bald die Positionen von Franzosen und Engländern: Während die französische Delegation auf den Kompetenzen der RepKo und den Sanktionsmöglichkeiten beharrte, versuchte Snowden - zusammen mit den amerikanischen und englischen Bankiers — genau dies zu verhindern. Die französische Verhandlungsposition verschlechterte sich dadurch, daß Bel393 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 401. Zur Organisation der Londoner Konferenz siehe Protokoll der ersten (interalliierten) Voll­ sitzung (16.7.1924), Weiίbuch Londoner Konferenz, Nr. 1; BARIETY, Relations franco­ allemandes, S. 522f. 395 Siehe Weiίbuch Londoner Konferenz, Nr. 16. 396 Vgl. BARliTY, Relations franco­allemandes, S. 557f. 354 168 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik gien während des Konferenzverlaufs ankündigte, seine Truppen aus dem Ruhrgebiet zurückzuziehen. Herriot sah sich nun der gemeinsamen Front von Engländern, Belgiern und Bankiers gegenüber. Außerdem hatte die englische Delegation die Arbeit der ersten Kommission in der Frage der Sachlieferungen blockiert, ein Problem, daß für Frankreich außerordentlich wichtig war, weil es durch diese langfristig die Sicherung der Rohstoffversorgung der französischen Industrie, besonders in bezug auf Koks und chemische Grundstoffe, sichern wollte397. In dieser Situation brachte MacDonald die militärische Räumung des Ruhrgebiets ins Spiel, über die zu sprechen Herriot sich nicht weigern konnte: Herriots Ablehnung hätte das Ende der Konferenz bedeutet, den Bruch mit England, die Schwächung seiner politischen Basis daheim und das Ende der dringend erhofften finanziellen Unterstützung der Amerikaner und Engländer bei der Stabilisierung des Franc. Derart in die Ecke gedrängt, stimmte die französische Regierung am 28. Juli 1924 auch der militärischen Räumung des Ruhrgebiets, zumindest im Prinzip, zu398. Seydoux schlug allerdings vor, die Ruhrräumung als Hebel fur die Mobilisierung der Reparationsanleihen zu nutzen, indem sie nur in dem Maße erfolgen sollte, in dem die Anleihen mobilisiert würden. Außerdem sollte direkt mit den Deutschen verhandelt werden, um zu einer Lösung in der Kohlenfrage (durch die französische Beteiligung an deutschen Bergwerken) zu kommen399. Als am 2. August 1924 die Einladung an die deutsche Delegation zur Teilnahme an der Londoner Konferenz erfolgte400, waren drei Problembereiche noch nicht gelöst: Die zukünftige Rolle der RepKo und die alliierten Sanktionsmöglichkeiten, die Bedingungen für die militärische Räumung des Ruhrgebiets sowie die Zukunft der Eisenbahnregie401. Am gleichen Tag legte die Reichsregierung die Marschrichtung für die Londoner Verhandlungen fest402. Die wichtigste deutsche Forderung bestand in einem festen Datum für die Räumung des Ruhrgebiets, da andernfalls der DawesPlan nicht durch den Reichstag zu bringen sei. Außerdem müsse der Begriff des »manquement flagrant« bei der Reparationserfüllung präzisiert werden und die Rechte und Pflichten des Transferkomitees und des Generalagenten gegenüber der RepKo, wie im Expertenplan vorgesehen, erhalten bleiben. Auch die dauerhafte Präsenz französischer und belgischer Eisenbahner im Rheinland sei unbedingt zu verhindern. Als eventuelle Kompensations- 397 Siehe ibid. S. 529. Siehe ibid. S. 568. 399 Siehe ibid. S. 568-570. 400 Siehe Weißbuch Londoner Konferenz, Nr. 26. 401 Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 591. 402 Siehe Ministerrat (2.8.1924), AdR Marx VU. Bd. 2, Nr. 269. 398 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 169 objekte fur die deutschen Forderungen kδmen Zugestδndnisse bei den Sachlie­ ferungen und bei den Handelsvertragsverhandlungen in Betracht. Wδhrend die Verhandlungen zu den offiziellen Punkten der Londoner Kon­ ferenz ­ also Fragen im Zusammenhang mit der Implementierung des Dawes­ Plans ­ bis zum 13. Juli 1924 im großen und ganzen abgeschlossen waren, blieb die militärische Ruhrräumung weiterhin problematisch403. Die französische Seite versuchte, durch Ausweitung der Themen ihren Verhandlungsspielraum zu vergrößern. So brachte sie erneut die Sicherheitsfrage ins Gespräch und konnte von MacDonald das Zugeständnis erhalten, daß die Kölner Zone erst dann geräumt würde, wenn die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei festgestellt worden sei. Außerdem einigte man sich darauf, daß die deutsche Entwaffnung nach dem Ende der IMKK durch ein noch näher zu bestimmendes Völkerbundsgremium überwacht werden sollte404. Allerdings stieß die französische Note vom 11. August 1924, in der Herriot ein französisch-britisches Defensivbündnis - eventuell unter Einschluß Belgiens - im Rahmen des Völkerbunds vorschlug, das gegebenenfalls durch einen Nichtangriffspakt mit Deutschland ergänzt werden sollte, in London auf keine Zustimmung405. Auch in der Schuldenfrage konnte sich Frankreich eine gewisse Entlastung schaffen, nachdem Clementel erreicht hatte, daß im November 1924 eine Konferenz zur Regelung der interalliierten Schulden stattfinden sollte406. Außerdem versuchte die französische Regierung, die Verhandlungen zur Ruhrräumung zu nutzen, um Gespräche über einen deutsch-französischen Handelsvertrag in Gang zu bringen407. Im Vorfeld der Londoner Konferenz hatte es die Reichsregierung, besonders das AA, durchaus erwogen, die Handelsvertragsverhandlungen als Kompensationsobjekt für die militärische Ruhrräumung zu nutzen. Allerdings stieß dies bei der deutschen Industrie auf Widerstand. Besonders die Verlängerung der zollfreien Einfuhrkontingente für Elsaß-Lothringen als Gegenleistung für eine militärische Räumung des Ruhrgebiets wurden abgelehnt: »Unter keinen Umständen dürfe die Frage des Ruhrgebiets zu einem Kuhhandel gemacht werden«408, lediglich für das Saargebiet sollte eine Sonderregelung gelten. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) forderte, erst nach dem Abschluß der Reparationsgespräche mit Handelsvertragsverhandlungen zu beginnen, um eine Vermengung von Reparations- und Handelsfragen zu vermeiden, damit die Interessen der deut- 403 Siehe BARlfiTY, Relations franco­allemandes, S. 662. Siehe ibid. S. 638. 405 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 197. 406 Siehe B a r i 6 t y , Relations franco­allemandes, S. 638f. 407 Siehe Aufzeichnung Seydoux f٧r Cldmentel (8.8.1924), MAE PAAP 261,1. 408 Protokoll der 3. Sitzung der Handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924), BArch R 3101, 20458. 404 170 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik sehen Industrie besser geschützt würden. Dieser Ansicht Schloß sich die Landwirtschaft grosso modo an409. Nachdem aber ein Zeitplan für die Ruhrräumung festgelegt worden war, sank von deutscher Seite - wohl auch wegen des Drucks der Wirtschaftsverbände - das Interesse an Handelsvertragsverhandlungen rapide. Einziges greifbares Ergebnis diesbezüglich war, daß offizielle Handelsgespräche zwischen Deutschland und Frankreich am 1. Oktober 1924 beginnen sollten410. Nachdem schließlich eine Einigung darüber erzielt werden konnte, daß die belgischen und französischen Truppen binnen Jahresfrist das Ruhrgebiet verlassen sollten, konnte am 16. August 1924 die Londoner Konferenz beendet werden. Gemäß den Verhandlungsschwerpunkten - Umsetzung des Dawes-Plans, Ruhrräumung und deutsch-französischer Handelsvertrag - lassen sich auch die Ergebnisse der Londoner Konferenz wie folgt zusammenfassen. Wichtigstes Ergebnis bezüglich des Dawes-Plans und der Reparationsfrage war sicherlich die wirtschaftliche Räumung des Ruhrgebiets und der besetzten Gebiete und die Widerherstellung der wirtschaftlichen, fiskalischen und administrativen Einheit des Deutschen Reiches411: Bereits bevor der Dawes-Plan offiziell am 20. Oktober 1924 in Kraft trat, erließ die französische Regierung am 6. September 1924 eine Amnestie für alle Deutschen, die im Zusammenhang mit dem Ruhrkampf aus den besetzten Gebieten ausgewiesen worden waren. Ab dem 13. September konnten sie wieder auf ihren ursprünglichen Posten ihrer Arbeit nachgehen. Gleichzeitig begann die französische Regierung, dasjenige Personal bei den Streitkräften und der H.C.I.T.R. zu ersetzen, welches sich im Ruhrkampf und der Unterstützung der Separatisten besonders exponiert hatte. Am 20. September 1924 wurde die Erhebung der Kohlensteuer durch die französischen Besatzungsbehörden eingestellt, und tags darauf fiel die innerdeutsche Zollgrenze. Kurz nach dem Inkrafittreten des Dawes-Plans stellte die M.I.C.U.M. am 21. Oktober 1924 ihre Arbeit ein, ab dem 28. Oktober wurden die beschlagnahmten Bergwerke zurückgegeben, die Zollverwaltung und die staatlichen Forste auf das Reich zurückübertragen. Die Eisenbahnregie wurde offiziell am 16. November 1924 aufgelöst. Zweites wichtiges Ergebnis hinsichtlich der Reparationen war, daß der Einfluß der RepKo ebenso wie die Sanktionsmöglichkeiten im Falle der deutschen Nichterfüllung stark eingeschränkt wurden412. Besonders der französische Einfluß in Reparationsangelegenheiten wurde merklich begrenzt: Die USA erhielten, durch die Person des Transferagenten, ein faktisches Veto gegenüber der RepKo in der Frage der vorsätzlichen Nichterfüllung des Dawes409 Siehe REM Kanitz an deutsche Delegation London (11.8.1924),zyxurponihgfedcaSRPONMKJE ΡAAA R, 105604. Siehe Aufzeichnung Seydoux (20.8.1924), MAE PAAP 261, 1. Siehe auch Kap. 4.2.2. 411 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 404f. 4,2 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 245. 410 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 171 Plans und sicherten sich so die Schl٧sselrolle im neuen Reparationssystem, ohne sich selbst allzusehr politisch zu binden413. Ansonsten orientierte sich die in London verabschiedete Reparationsregelung an den bereits dargelegten Empfehlungen des Dawes­Gutachtens. Aus franzφsischer Perspektive stellten sich die Reparationsregelungen wie folgt dar: Man hatte zwar auf die in ihrer Legalitδt zweifelhaften wirtschaft­ lichen Druckmittel, wie die M.I.C.U.M., die Eisenbahnregie oder die direkte Ausbeutung von staatlichen Domδnen usw. verzichten m٧ssen, hatte diese Instrumente aber durch ein rechtlich einwandfreies System von Kontrollen und Pfδndern, die sich nicht nur auf das besetzte Gebiet, sondern auf ganz Deutschland bezogen, ersetzen kφnnen. Obwohl die Kommerzialisierung der Obligationen vorerst ausblieb, waren die Reparationszahlungen an Frankreich verläßlicher geworden. Auch hinsichtlich der Sachlieferungen hatte Frankreich einige sehr vorteilhafte Regelungen erzielen können - dies galt vor allem für Kohlen und die Lieferung chemischer Grundstoffe - , die teilweise sogar über die Bestimmungen des Versailler Vertrags hinausgingen414. Zwar hatte Paris in bezug auf die RepKo und die Sanktionsmöglichkeiten einen deutlichen Einflußverlust hinnehmen müssen, doch war jetzt ein System etabliert worden, in das auch die USA, zumindest mittelbar, einbezogen worden waren415. In der Frage der interalliierten Schulden waren zumindest Gespräche vereinbart worden. Wichtigstes Ergebnis bezüglich der Ruhrräumung war, daß ein verbindlicher Zeitplan vereinbart wurde416. Am 22. Oktober 1924 begann der Abzug der Besatzungstruppen, der am 25. August 1925 abgeschlossen war417. Neben den bereits angesprochenen reparationspolitischen Vorteilen hatte das Ende der Besetzung für Frankreich auch weitere Vorzüge: Es konnte seine Ausgaben für die Besatzungstruppen reduzieren und hatte von Großbritannien die Zusicherung erhalten, die Kölner Zone erst dann zu räumen, wenn die Entwaffnung Deutschlands durch die IMKK bestätigt würde. Daneben standen allgemeine Zusagen über die Fortfuhrung der Entwaffnungskontrolle durch den Völkerbund und ein Ausbau desselben im Sinne der Gewährleistung von kollektiver Sicherheit. Die Bewertung des Dawes-Plans soll aus vier Blickwinkeln vorgenommen werden: Aus der Sicht Frankreichs, aus deutscher Perspektive - wobei die Frage nach den Begrenzungen, die der Dawes-Plan für die Revisionspolitik mit sich brachte, besonders erörtert werden wird - und hinsichtlich der Ein413 Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 48f. Siehe BARlfiTY, Relations franco­allemandes, S. 708. 415 Siehe HERRIOT, Jadis, S. 162. 416 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen der deutschen, französischen und belgischen Regierung, Weißbuch Londoner Konferenz, Nr. 54-58. 417 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 405. 414 172 3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik flußmöglichkeiten der englischen und amerikanischen Bankiers auf die Verhandlungsmöglichkeiten, also die sogenannte »Dollardiplomatie«. Last but not least soll gefragt werden, welche Bedeutung der Dawes-Plan für den Prozeß der Modernisierung der Außenpolitik hatte. Beginnen wir mit Frankreich. Herriot und seiner Politik wurde von Bariety418, Artaud419 und anderen ein ziemlich schlechtes Zeugnis ausgestellt. »[Iis] ont souligne Tamateurisme d'Herriot, son manque de connaissance des dossiers et sa faible pugnacite«420. Andere, wie Girault421 und Jeannesson422, haben darauf hingewiesen, daß Herriot zumindest hinsichtlich der Kohlenversorgung gute und wichtige Ergebnisse fur Frankreich erzielt habe423. Berstein424 betont zudem, daß Herriots Politik zu oft lediglich aus der Perspektive Poincares beurteilt wurde, zumal, wie wir im vorherigen Kapitel festgestellt haben, Poincare vielleicht weniger poincareistisch war als allgemein angenommen. Die Aufgabe der französischen Pressionsmittel sei eben auch deshalb erfolgt, weil Herriot diese teilweise fur moralisch bedenklich hielt, und er der Überzeugung war, daß sich Frankreich auf Dauer eine unilaterale Politik der Pression nicht würde leisten können, ohne die existentiell wichtigen französischbritischen Beziehungen zu gefährden425. Zur etwas positiveren Beurteilung der Politik Herriots trug auch bei, daß die schwierigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und die relativ kurze Einarbeitungszeit seiner Regierung hervorgehoben wurden426. Auf die beiden wichtigsten Aspekte, die parlamentarische Schwäche der Regierung Herriot und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die vor allem durch die Franc-Krise hervorgerufen wurden, wurde bereits mehrfach hingewiesen. Sicherlich sind handwerkliche Fehler gemacht worden: Die Zusammensetzung der französischen Delegation war sehr heterogen427. Neben Militärs wie Desticker und Kriegsminister Nollet, die die militärische Besetzung unbedingt aufrechterhalten wollten, traten halboffizielle Mitglieder der S.F.I.O., die die Delegation nach London begleitet hatten und die den Abzug der französischen Truppen forderten. Es bleibt allerdings zu fragen, ob aufgrund der schwierigen parlamentarischen Lage die Heterogenität der Delegation überhaupt vermeidbar war. Allerdings war die Schwäche von Herriots Position in London nicht 4 8 ' Siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 378f. " Siehe ARTAUD, Dettes interalliies, S. 666­668. MONIER, Annees 20, S. 123. 421 GIRAULT, Europe, S. 139f. 422 Siehe JEANNESSON, Poincart, S. 403f. Selbst Bariety zollt Herriot in dieser Frage Zu­ stimmung: BARLFITY, Relations franco­allemandes, S. 708. 423 Siehe MONIER, A n n i e s 20, S. 123. 424 Siehe BERSTEIN, Herriot, S. 118. 425 Siehe GIRAULT, Europe, S. 139. 426 Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 405. 427 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 194. 4 420 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 173 nur von Nachteil f٧r seine Politik, wie sich bereits im Vorfeld des Dawes­ Plans gezeigt hatte: Die deutsche Regierung ­ sich durchaus der prekδren La­ ge Herriots zu Hause bewußt - machte beispielsweise in ihrer Note vom 30. Juni 1924 in der Frage der Militärkontrolle Zugeständnisse, weil sie ein Interesse daran hatte, Herriot zumindest bis zur Annahme des Dawes-Plans im Amt zu halten. Stresemann führte vor dem Kabinett aus: »Wichtig sei die Frage, ob MacDonald und Herriot sich halten werden. Herriot sei nach den Mitteilungen von Herrn Hoesch ein ideologisch denkender Radikaler428. Mit seinem Sturz im Oktober sei zu rechnen, darum müßten wir bis dahin alles, was wir könnten, herausholen«429. Die Bewertung der Ergebnisse der Londoner Konferenz für Frankreich läßt es meines Erachtens nicht angezeigt erscheinen, von einem Mißerfolg für Frankreich zu sprechen430. Dies gilt nicht nur für die bereits erwähnten Sachlieferungen. Erstmals seit dem Krieg konnte Frankreich auf regelmäßig eintreffende Reparationszahlungen in erheblichem Umfang nicht nur hoffen, sondern zählen. Die in ihrer Legalität doch recht zweifelhaften Pfänder und Garantien Frankreichs aus dem Ruhrkampf - also die M.I.C.U.M., die Eisenbahnregie, die Zolleinnahmen im besetzten Gebiet, die direkte Ausbeutung von Bergwerken, Forsten usw. - wurden durch ein rechtlich einwandfreies, von allen Beteiligten einschließlich der USA und Deutschlands akzeptiertes Generalpfand ersetzt, das aus der Verpfandung von Staatseinnahmen, vor allem aber aus den Eisenbahn- und Industrieobligationen bestand. Es wurden Kontrollorgane etabliert, in denen Frankreich zwar nicht mehr ein so drückendes Übergewicht hatte wie beispielsweise in der RepKo, und auch die Möglichkeit der Sanktionen wurde stark eingeschränkt, aber auch hier galt, daß ein System geschaffen wurde, das die USA und Deutschland einbezog, dessen Legalität zweifelsfrei war, das allgemein akzeptiert wurde und sich nicht nur auf die besetzten Gebiete, sondern die gesamte deutsche Volkswirtschaft bezog. Angesichts dieser Vorteile ist die Abgabe von individuellem Handlungsspielraum durch die französische Regierung, der sich selbst im Ruhrkampf als relativ begrenzt erwies, wohl zu verschmerzen. Dabei soll jedoch nicht unterschlagen werden, daß die ganze Reparationsregelung so lange unvollständig blieb, bis die Obligationen nicht mobilisiert würden. In der damaligen Situation, im August 1924, stellte das Dawes- 428 Hier natürlich gemeint im Sinne des Programms der radikalen Partei. Ministerbesprechung (25.6.1924), AdR Marx I/H Bd. 2, Nr. 234. 430 Anders wiederum Bariety: »Die historische Bedeutung des Dawes-Plans ist nach unserer Auffassung dies: er schafft eine faktische wirtschaftliche Solidarität zwischen Deutschland, England und Amerika, um die politischen Ambitionen Frankreichs zurückzudrängen«, Jacques BARIETY, Der Platz Frankreichs in der Westorientierung der Weimarer Republik während ihrer Stabilisationsphase (1924-1929), in: Wolfgang MlCHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 304-323, hier S. 315. 429 174 3. D i e An fδ n g e der m o dernen Auί e n po litik Abkommen also f٧r Frankreich einen großen wirtschaftlichen, aber auch politischen Fortschritt dar431. Für die Bewertung der Ruhrräumung gilt ebenfalls, daß ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Instrument in ein legales umgewandelt wurde, das den Vorteil hatte, auch von den Engländern getragen zu werden. Die Fortsetzung der Besetzung hätte Frankreich weiterhin von den angelsächsischen Mächten isoliert. Herriot stellt dazu fest: »Toute mon action exterieure, de quelque fa90η zvutsrqponmljihgfedcbaMFEB on la juge, a ete domine par le souvenir de concours dont la France avait eu besoin, entre 1914 et 1918, et par cette idee que, si eile etait attaquee de nouveau, eile ne pourrait pas triompher seule d'un ennemi superieur en nom­ bre et feroce«432. Meiner Meinung nach ist das Ergebnis, die Besetzung der Kölner Zone so lange aufrechtzuerhalten, bis die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei festgestellt wurde, wesentlich wertvoller als die stillschweigende Hinnahme der in ihrer Rechtmäßigkeit nicht nur von England angezweifelten Ruhrbesetzung433. Zum Zeitpunkt, als der Dawes-Plan in Kraft trat, paßte die Ruhrbesetzung einfach nicht mehr in die Zeit, ihre Aufgabe durch Herriot war kein Zeichen der Schwäche, sondern nur logisch434, zumal Poincare selbst mit der prinzipiellen Annahme des Dawes-Plans im April 1924 »die Rechtsgrundlage fur seine Politik der produktiven Pfänder an der Ruhr aufgegeben [hatte] - auch wenn Poincare dies vielleicht auch nicht wahrhaben wollte«435. Vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb er selbst die Außenpolitik Herriots nicht kritisierte436. Auch ist fraglich, ob der Verzicht Herriots auf die Verknüpfung von Reparations-, Schulden- und Sicherheitsfrage eine entscheidende Schwächung der französischen Position in London bedeutet hat und falls ja, ob diese Schwächung nicht unausweichlich war. Die Ausklammerung der Schulden- und Sicherheitsproblematik lag in der Logik des Dawes-Plans. Poincare selbst hatte bei der Formulierung des Arbeitsauftrages fur die Dawes-Kommission dafür gesorgt, daß diese nicht Thema wurden. Zwar war seine Intention dabei, die anderen Pfänder in der Hinterhand zu behalten, er konnte aber nicht verhindern, daß der Dawes-Plan - inklusive der Beschränkung auf die Reparationsfrage - eine Eigendynamik entwickelte, die eine Einbeziehung der Sicher4 31 Wa s im R W i M ٧brige ns ge n auso ge se he n wurde , sie he Au fz e i ch n u n g Lau te n bach ( 1 9 . 7 . 1 9 2 4 ) , BArc h R 3 1 0 1 , 2 0 4 3 7 . Sie h e auch BERSTEIN, He rrio t, S. 119. 432 HERRIOT, Jadis, Bd. 2, S. 164. 4 33 N o c h am 1 6 . 8 . 1 9 2 4 hatte die britische Re gie ru n g de r be lgisch e n und französischen Re g i e ru n g m itge te ilt, daß »[d]ie britische Re gie ru n g [...] die Re ch tm äß igke it der Ruh rbe se tzun g o de r die Au s l e gu n g de s Ve rs aille r Ve rtrags , auf die ihre Alliie rte n ihr Vo rge h e n ge stützt h abe n , n ie m als anerkannt [hat]«, MacD o n al d an Marx, We iß bu ch Lo n do n e r Ko n fe re n z , Nr. 59. 4 34 435 4 36 So auch MONIER, An n e e s 20, S. 123 und JEANNESSON, Po in care , S. 4 0 3 . SCH W A BE , Ruh rkrise , S. 7 6 . Sie h e BARlfiTY, Re latio n s fran co -alle m an de s, S. 4 9 0 . slifdaY 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 175 heitsprobleme und der Kriegsschulden schwierig machte. Der Dawes­Plan war eben nicht nur ein unteilbares Ganzes ­ man konnte auch nicht ohne weiteres draufsatteln, ohne ihn zu gefδhrden. Ich bin durchaus der Ansicht, daß - neben anderen Gründen - eine wesentliche Ursache dafür, daß die Reparationsfrage bis zum Dawes-Plan nicht geregelt werden konnte, darin lag, daß die Frage der Reparationen im Zusammenhang mit zu vielen anderen Fragen, vor allem denen der Sicherheit, betrachtet wurde. Es waren einfach zu viele Bälle in der Luft, die die Beteiligten unmöglich alle gleichzeitig jonglieren konnten. Es mag sein, daß durch den Verzicht auf die Verknüpfung von Dawes-Plan, Sicherheit und Schulden die französische Verhandlungsposition geschwächt worden ist. Ein Scheitern der Londoner Konferenz infolge der Überfrachtung durch alle diese Probleme wäre jedoch noch weniger im französischen Interesse gewesen, zumal Paris in der Frage der Entwaffnung und Räumung der Kölner Zone wichtige Zugeständnisse erreichen konnte und für andere Probleme, wie die Schuldenfrage und die Sicherheit, zumindest Zusagen erhalten hatte. Daß beispielsweise das Genfer Protokoll, das die Sicherheitslage Frankreichs erheblich verbessert hätte und im September 1924 im Völkerbund diskutiert wurde, scheitern würde, war am 16. August 1924, dem letzten Tag der Londoner Konferenz, beim besten Willen nicht vorhersehbar. Die Vorteile, die die Londoner Konferenz Deutschland bescherte, waren evident437: Im Ruhrgebiet und den übrigen besetzten Gebieten wurde die deutsche Wirtschafts-, Finanz- und Verwaltungshoheit wiederhergestellt und die Ausgewiesenen konnten zurückkehren. Für die Räumung des Ruhrgebiets lag ein verbindlicher Plan vor - sie sollte innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden - , und die Sanktionsmöglichkeiten Frankreichs wurden erheblich eingeschränkt. Durch die 800 Mio. GM Anleihe wurde die wirtschaftliche Konsolidierung und die Währungsstabilisierung abgesichert und Deutschland als Anlageplatz für ausländische Investitionen geöffnet. Allerdings ging mit dieser Anleihe auch ein verstärkter Einfluß der USA und Großbritannien auf die deutsche Wirtschaft und Politik einher438. Dies war zwar - als Gegengewicht zu Frankreich - durchaus erwünscht, stellte aber nichtsdestotrotz einen Verlust an eigener Manövrierfähigkeit dar, der durch die internationale Kontrolle von Reichsbahn und Reichsbank verstärkt wurde. Die schwebende Kommerzialisierung der Eisenbahn- und Industrieobligationen konnte darüber hinaus zu einer weiteren, wenn auch zunächst nur potentiell schweren Belastung für die deutsche Reparationspolitik werden. Auch durch den Dawes-Plan blieb die Reparationsbelastung hoch. Der schwerwiegendste Fehler des Reparationssystems bestand darin, daß es sich nicht an der Handelsbilanz, sondern an der Zahlungsbilanz orientierte439, die aufgrund der nach Deutschland strömenden 437 438 43 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 60. Siehe JEANNESSON, P o i n c a r e , S. 78. ' S i e h e J o h a n n e s HOUWINK TEN CATE, H j a l m a r Schacht als Reparationspolitiker ( 1 9 2 6 - 176 3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik Auslandskredite künstlich geschönt war. Geflissentlich übersehen wurde dabei, daß für Deutschland langfristig der einzige Weg, die Reparationen zahlen zu können, nur darin bestehen konnte, Außenhandelsüberschüsse zu erzielen. Hier rächte sich, daß die Sachverständigen des Dawes-Plans weitaus stärker Finanz-, nicht aber unbedingt Wirtschaftsexperten waren und deshalb sehr viel stärker auf monetäre Größen achteten als auf realwirtschaftliche. Außerdem bezogen sie deshalb natürlich auch stärker die Interessen der Bankiers - und nicht die der Gesamtwirtschaft - in ihre Betrachtungen ein. Die volkswirtschaftlichen Folgen dieser Perspektive sind bekannt: Hohe Zinsen und beständiger Devisenabfluß verlangsamten die Investitionstätigkeit in Deutschland und verzögerten den Abbau der durch Kriegswirtschaft und Inflation geschaffenen Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft - mit auch sozial und gesellschaftlich ernsten Konsequenzen, da die Verteilungsspielräume klein waren und die Verteilungskämpfe entsprechend größer wurden. Auch die Rolle des Reparationsagenten war fur die deutsche Politik und Wirtschaft nicht unproblematisch. Qua Amt sollte er dafür sorgen, daß der Wert der deutschen Währung stabil blieb und konnte, falls er das nicht gewährleistet sah, ein Moratorium bewirken. Dies bedeutete aber auch den permanenten Appell an eine sparsame Haushaltspolitik (und somit tendenziell eine Verringerung der öffentlichen Investitionen) und eine restriktive Geldpolitik (also wiederum hohe Zinsen). Außerdem war die Möglichkeit eines Moratoriums für Reparationszahlungen in der Realität stark eingeschränkt und - paradoxerweise - nicht in deutschem Interesse. Das Signal eines solchen Schrittes hätte auf ausländische Anleger verheerend gewirkt und vermutlich zu einem Abzug ausländischen Kapitals aus Deutschland gefuhrt - wo Geld sowieso knapp war. Für eine Außenpolitik, die sich vor allem auf wirtschaftliche Macht stützte, hatte diese Reparationsregelung also mehrere wichtige Konsequenzen. Wegen der Beschränkungen in der Geldpolitik - Geld ist und bleibt nun mal das Schmiermittel der Wirtschaft - konnte das deutsche wirtschaftliche Potential nicht voll genutzt werden. Die dadurch erzeugten strukturellen Probleme (relativ hohe Arbeitslosigkeit, geringe Verteilungsspielräume in der Sozialpolitik) förderten tendenziell die bereits vorhandene Instabilität des politischen Systems und schadeten damit wiederum auch der Außenpolitik. Die Reparationen zementierten zumindest die Ungleichgewichte im Welthandelssystem und erschwerten dadurch die von Deutschland verfolgte Politik des wirtschaftlichen Interessenausgleichs, die durch eine liberale Handelspolitik befördert werden sollte. So sehr viel besser das vom Dawes-Plan etablierte System der Reparationszahlungen auch sein mochte als alles vorherige: Das Problem bestand eben nicht darin, einen austarierten Mechanismus für die Aufbringung und Transferierung der Reparationen zu erdenken, das Problem waren und 1930), in: VSWG 74/2 (1987), S. 186-228, hier S. 191. 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 177 blieben die Reparationen selbst, ganz abgesehen einmal von dem politisch­ moralischen Komplex, der an dieser Frage hing. Auch in einer anderen Hinsicht bedeutete der Dawes­Plan eine Ein­ schrδnkung der Wirkungsmφglichkeiten deutscher Außenpolitik. Mit der Anerkennung des Dawes-Plans und dem erklärten Willen zu seiner Durchsetzung hatte Deutschland auch die Regeln des Versailler Vertrags akzeptiert. Natürlich stand es Deutschland immer noch frei, den Versailler Vertrag zu umgehen, nach den Erfahrungen des Ruhrkampfs, des wirtschaftlichen Ruins und des drohenden Zerfalls der Reichseinheit war das allerdings eine wenig verlockende Aussicht. Dadurch beschränkte sich der deutsche Spielraum in der Frage der Revision des Versailler Vertrags nur noch auf Mittel, die im Vertrag selbst vorgesehen waren oder mit den Vertragspartnern verhandelt werden konnten. Verglichen mit der geradezu verzweifelten Lage Deutschlands im Ruhrkampf bedeutete der Dawes-Plan natürlich eine entscheidende Verbesserung lind Konsolidierung der deutschen Situation und der Verhandlungserfolg der deutschen Delegation war unbestreitbar. Die politischen Vorteile der Wiederherstellung der wirtschaftlichen, fiskalischen und administrativen Souveränität und der Abzug der Besatzungstruppen aus der Ruhr lagen auf der Hand, und auch wirtschaftlich bedeutete das Ende der Zwangsmaßnahmen eine wesentliche Verbesserung der Lage, so daß selbst Teile der DNVP den Ergebnissen der Londoner Konferenz nicht ihre Zustimmung verweigern konnten440. Andererseits war diese Konsolidierung durch die genannten Faktoren stark beschränkt und bedeutete keinesfalls den Anfang vom Ende des Versailler Vertrags. Im Grunde genommen stand das durch den Versailler Vertrag entworfene System niemals so nahe an seiner Vollendung wie nach der Londoner Konferenz: Die Reparationen flössen, der Wirtschaftsriese Deutschland lag gefesselt, der territoriale Status quo war fur den Moment wenigstens anerkannt, die ehemals mächtige deutsche Armee war weitgehend entwaffnet und in der Sicherheitsfrage schien sich eine Lösung im Rahmen des Völkerbunds 440 Otto Hoetzsch, selbst MdR für die DNVP, begründete seine Zustimmung wie folgt: Die Beteiligung der USA bedeute die »Drehungen in der Weltkonstellation zu Deutschlands Gunsten«, die erst die Revision des Versailler Vertrags ermögliche. Erst durch den Druck der DNVP sei die militärische Räumung des Ruhrgebiets erreicht worden, eine Ablehnung des Dawes-Plans hätte dagegen schwere Schäden für die deutsche Wirtschaft und die besetzten Gebiete bedeutet; außerdem hätte eine Ablehnung des Dawes-Plans die Auflösung des Reichstags zur Folge gehabt mit der wahrscheinlichen Konsequenz einer großen Koalition, die es zu verhindern gelte. Das Wiederaufflammen des Separatismus im Rheinland, die Möglichkeit der Regierungsbeteiligung der DNVP und das Entgegenkommen der Reichsregierung bzgl. der Forderungen der DNVP, besonders in der Kriegsschuldfrage, seien weitere Gründe fur die Annahme der Ergebnisse der Londoner Konferenz gewesen. »Die äußere Politik der Woche (das deutschnationale Ja zum Londoner Pakt)«, Kreuz-Zeitung (3.9.1924). Ausführlich zur Kampagne zur Annahme der Dawes-Gesetze: BAECHLER, Stresemann, S. 551-556. 178 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik anzudeuten, die eine wirksame und dauerhafte Integration Deutschlands bewirken konnte. Außerdem waren die USA, nachdem sie den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, durch die Reparationsfrage zumindest teilweise wieder in Europa engagiert. Einige Worte noch zum Einfluß der Bankiers und generell zum Einfluß von wirtschaftlichen Interessen auf die Gestaltung des Dawes-Plans und den Verlauf der Londoner Konferenz. Es ergibt sich in der Tat der Eindruck, daß »[l]a diplomatic du dollar et des banquiers veut reussir lä ou celle des gouvernements et des conferences internationales a echoue« 44 '. Ganz so einfach war es jedoch nicht. Die Entscheidung, eine Kommission von Wirtschaftsexperten einzusetzen und deren Empfehlungen anzunehmen, war eine überaus politische. Auch die Auswahl der Experten erfolgte nach politischen Kriterien. Es handelte sich deshalb zwar nicht um die Unterordnung der Wirtschaft und speziell der Bankiers unter die Politik, denn nachdem sich die Regierungen darauf verständigt hatten, den Wirtschaftsexperten die Lösung der Reparationsfrage zu übertragen, erlangten letztere natürlich eine gewisse Autorität in dieser Frage, die ihnen in letzter Konsequenz allerdings wiederum von der Politik zuvor zugewiesen worden war. Bariety stellt treffend fest, daß le recours aux experts juridiques, comme aux experts economistes ou banquiers d'ailleurs, apparait comme un moyen, pour les politiques, de sortir d'une difficulte et d'un dilemme, en leur permettant de se retrancher derriere un avis qui, puisqu'il est emis par des experts, ne saurait etre fonde, et doit done correspondre ä une necessite ineluctable devant laquelle les politiques, quoi qu'ils aient, ne peuvent que s'incliner. C'est le recours ä la technique pour empörter, ou couvrir, une decision politique; [...] L'mtermede jundique prend place dans Γ operation politique d'ensemble442. Die Einbeziehung von Experten ist also ein politisches Mittel, durch das die Notwendigkeit bestimmter (besonders: unliebsamer) Maßnahmen der Öffentlichkeit dadurch schmackhaft gemacht werden soll, daß die scheinbare objektive Richtigkeit einer Politik demonstriert wird. Bei allem Sachverstand der Experten ist dies natürlich zum Gutteil Fiktion. Auch für Fachleute stellen sich Bewertungs- und Interpretationsprobleme, so daß auch ihre Entscheidungen letztendlich nicht völlig objektiv sind und sein können. Allerdings kann auch die nur scheinbare Objektivierung eines Problems zu dessen Lösung beitragen. Von daher ist der Rückgriff auf Experten eben nur zum Teil ein Manöver, aber eben auch eine Problemlösungsstrategie. Im Falle des Dawes-Plans haben wir außerdem gesehen, daß die Einbeziehung der Experten die Lösung des Reparationsproblems nicht nur deshalb leichter gemacht hat, weil es scheinbar oder tatsächlich objektiver betrachtet 441 442 JEANNESSON, Poincare, S. 396. BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 593. zxwvuts 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 179 wurde. Die Einsetzung der Fachleute bewirkte auch eine deutliche Eingren­ zung des Themas, indem die Schulden­ und die Sicherheitsfrage explizit von den Reparationen getrennt wurde. Durch diese Beschrδnkung wurde es erst­ mals mφglich, einheitliche Maßstäbe an die Beurteilung des Reparationsproblems anzulegen. Die Übertragung des Themas Reparationen an Wirtschaftsexperten bedeutete: Der Maßstab zur Bewertung des Problems war nun ein ökonomischer, und die Methode zur Lösung des Problems war eine ökonomische. Da die Experten alle einen recht vergleichbaren professionellen und intellektuellen Hintergrund hatten, fiel es ihnen außerdem natürlich leichter, zu einer Lösung zu kommen. Wie gesagt, die internationalen Konferenzen zwischen 1919 und 1922 krankten eben auch daran, daß sie sich stets mit zu vielen Themen befaßten, und es zu viele unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe gab. Natürlich hatten die Reparationen auch einen sicherheitspolitischen Aspekt. Wenn aber die eine Seite die Reparationen aus sicherheitspolitischer Sicht beurteilt und die andere aus ökonomischer, ist eine Einigung nur schwer möglich, denn unter Umständen besteht zwischen Sicherheit einerseits und Wohlstandsmaximierung andererseits ein nicht unerheblicher Zielkonflikt. Die Einbeziehung von Experten trug also deshalb zum Erfolg des DawesPlans und der Londoner Konferenz bei, weil alle Beteiligten die Fiktion der Objektivität der Experten anerkannten, und das Problem auf eine einheitliche - das heißt in diesem Fall wirtschaftliche - Betrachtungsweise eingeschränkt wurde. Die Einbeziehung von Experten ist selbstverständlich nicht unproblematisch. Neben dem philosophischen Aspekt der Objektivierbarkeit von Problemen und der Frage, ob Fachleute nicht bloß ein Teil des politischen Spiels sind, stellt sich natürlich auch das Problem der Legitimität. Sie sind nicht gewählt, sie werden ernannt, und zwar in der Regel von Regierungen, die nur einen Teil der politischen Öffentlichkeit, nämlich in der Regel deren Mehrheit, repräsentieren. Indem Aufgaben an Experten übertragen werden, entziehen sie sich außerdem der politischen Kontrolle, die Politik gibt Einflußmöglichkeiten zumindest teilweise auf und begibt sich in ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis zu den Fachleuten. Die Politik wiederum kann unter dem Verweis auf die Expertenmeinung Verantwortung und Schuldzuweisungen abwälzen. Zu einem Gutteil sind diese Probleme - bei komplexer werdenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragestellungen - sicherlich unvermeidbar. Die Frage, ob die Einsetzung einer Expertenkommission gerechtfertigt und legitim war, oder inwieweit sie ein politisches Verschleierungsmanöver darstellte, muß also stets für den Einzelfall beantwortet werden. Dies gilt auch für das Problem, ob und inwieweit die Beschränkung des Arbeitsauftrages für die Experten zulässig ist oder nicht. Wie dargestellt, lag eine Ursache des Erfolges des Dawes-Plans darin begründet, daß die Experten einen genau definierten Arbeitsauftrag hatten und andere schwebende Probleme 180 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik ausgeklammert worden waren. Diese Einschränkung hatte aber auch zur Folge, daß das Kardinalproblem der Reparationen - ihr wirtschaftlicher Sinn oder Unsinn - nicht behandelt wurde. Ihr Auftrag lautete lediglich, die geeigneten Mittel für die Reparationsleistung und -Übertragung zu finden, nicht zu untersuchen, welchen Einfluß die Reparationen auf das Welthandels- und Währungssystem hatten - wie Keynes das getan hatte. Der schädliche Einfluß der Reparationen generell war es jedoch, der die wirtschaftliche Erholung vor allem in Deutschland - mit seinen negativen sozialen und politischen Konsequenzen - beschränkte. Da half es wenig, daß die Methoden zur Aufbringung und Übertragung der Reparationen verbessert wurden. Andererseits - das zeigte die unterschiedliche Diskussion um Keynes' »The Economic Consequences of the Peace« in Frankreich und in Deutschland - war die Zeit noch nicht gekommen, um die Reparationen als solche in Frage zu stellen. Dies hatte Deutschland im Ruhrkampf bitter erfahren müssen. Insofern stellte der DawesPlan unter den gegebenen Umständen eine tragbare Zwischenlösung fur das Problem der Reparationen und den Wiederaufbau der weltwirtschaftlichen Strukturen dar, vor allem im Hinblick auf die schwierige Nachkriegszeit, mehr aber auch nicht. Welche Folgen hatten Ruhrkampf, Dawes-Plan und Londoner Konferenz für die Modernisierung der Außenpolitik? Orientieren wir uns an den drei Hauptlinien des liberalen Modells der Friedenssicherung - kollektive Sicherheit, wirtschaftliche Liberalisierung und Demokratisierung - , so ist die Bilanz relativ ernüchternd. Bezüglich der Gewährleistung von Sicherheit hatte der Dawes-Plan zu kaum greifbaren Ergebnissen gefuhrt: Es gab eine vage Zusicherung der englischen Regierung, die Sicherheitsfrage im Rahmen des Völkerbunds unter Einbeziehung Deutschlands zu erörtern. Außerdem war die Sicherheitslage in Europa durch die konstruktive Atmosphäre, in der die Londoner Konferenz stattgefunden hatte, und infolge der Erkenntnis, daß die Machtpolitik des Ruhrkampfs nichts eingebracht hatte und die Lösung durch Verhandlungen erreicht werden mußte, verbessert worden. Auch das stärkere Engagement der USA und Großbritanniens, das aber weitgehend ökonomisch blieb, dürfte die Sicherheitslage in Europa konsolidiert haben. Diesem Mehr an Sicherheit in Westeuropa stand ein Weniger an Sicherheit fur Frankreich gegenüber: Paris hatte auf wichtige Druckmittel ökonomischer und militärischer Art freiwillig verzichtet oder verzichten müssen, dies galt vor allem für die im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung ergriffenen Maßnahmen. Auch führte der DawesPlan zu einem Wiedererstarken Deutschlands - was die Position Frankreichs relativ schwächte. Der Dawes-Plan führte jedoch auch dazu, daß die Bündnisse Frankreichs mit den Staaten Osteuropas und das deutsche Verhältnis zur Sowjetunion abgeschwächt wurden: Sowohl für Frankreich als auch für Deutschland bedeutete der Dawes-Plan eine stärkere Orientierung nach We- 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 181 sten, ohne daß dadurch jedoch die Beziehungen zur Kleinen Entente bzw. zur Sowjetunion nachhaltig belastet wurden. Im Sinne unseres Modells der Friedenssicherung ist diese Entwicklung der Relativierung der jeweiligen Partner im Osten insofern als positiv zu werten, als zwei potentiell gegeneinander gerichtete Staatenverbände (Frankreich und Polen und in geringerem Maße auch die Kleine Entente gegen Deutschland und die Sowjetunion, die wiederum ihren Hauptgegner in Polen sahen) geschwächt wurden. Ein kollektives Sicherheitssystem, das dauerhaften Frieden in Europa in Aussicht hätte stellen können, war mit dem Dawes-Plan aber noch nicht in Sicht, auch wenn sich die Grundlagen dafür verbessert hatten. Bezüglich der Sicherheit kann man also zusammenfassend sagen, daß es durch den Dawes-Plan zwar gesamteuropäisch eine gewisse Konsolidierung gegeben hatte, daß die Sicherheitslage Frankreichs sich aber - verglichen mit dem Jahr 1923 - eher verschlechtert hatte. Bezüglich des Aufbaus von kollektiven Sicherheitsstrukturen bedeutete der Dawes-Plan keinen Fortschritt, weil dadurch die Sicherheitsfrage weitgehend ausgeklammert wurde, und diese erst im Anschluß daran erörtert werden sollte. Auch bezüglich der zweiten Säule des liberalen Friedensmodells blieben die Ergebnisse der Londoner Konferenz bruchstückhaft: Die wirtschaftliche Erholung Europas und die Wiederherstellung eines relativ freien Welthandels erfolgte nur zögerlich. Zwar hatte der Expertenplan die Aufbringung der Reparationen leichter gemacht und zu Entlastungen geführt. Mit dem Amt des Generalagenten wurde zudem versucht, die negativen Aspekte der Transfers einzudämmen. Dies änderte jedoch nur wenig an der Tatsache, daß die Reparationen (und auch die Kriegsschulden) selbst ein zentrales Hindernis für die wirtschaftliche Gesundung Deutschlands und Europas bildeten. Ein gewisser Hoffnungsschimmer ließ sich immerhin erkennen, und zwar in Form der Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und den westlichen Mächten: Zwischen Deutschland und den USA war es bereits Ende 1923 zu einem Handelsvertrag gekommen, zwischen Deutschland und Großbritannien wurde bis zum Ende des Jahres 1924 ein Abschluß erreicht. Auch zwischen Deutschland und Frankreich sollten, wie in London vereinbart, im Oktober 1924 Handelsgespräche beginnen443. Auch in diesem Bereich der Modernisierung der Außenpolitik blieben die Ergebnisse der Londoner Konferenz also spärlich. Der Einfluß der Ereignisse der Jahre 1923 und 1924 auf die Demokratie in Deutschland, die man zu Recht als einen wesentlichen Faktor der Friedenssicherung für ganz Europa sehen muß, waren gemischt: Zwar hatte die Demokratie in Deutschland den Ruhrkampf gerade noch überlebt, und durch die ausländischen Finanzspritzen im Zuge des Dawes-Plans wurde zweifelsohne eine gewisse Erholung der deutschen Wirtschaft erreicht, die wiederum stabilisie443 Einzelheiten hierzu siehe Kap. 4.2.2. 182 3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik rend auf die deutsche Gesellschaft gewirkt haben dürfte. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, daß der Ruhrkampf und seine Folgen das demokratische System in Deutschland nachhaltig geschädigt haben dürften. Die Folgen der Hyperinflation des Jahres 1923 für die deutsche Gesellschaft und das republikanische System waren verheerend. Die Praxis der Regierung Stresemann, mittels Notverordnung zu regieren, deutete darüber hinaus an, wie wenig krisenfest die demokratischen Institutionen in Deutschland waren. In den Reichstagswahlen vom Mai 1924 profitierten dann auch nicht die Regierungsparteien, sondern vor allem die rechte DNVP. Der Dawes-Plan selbst wiederum trug dazu bei, daß sich, wegen der hohen budgetären Belastungen durch die Reparationen und ihre Auswirkungen auf die Geldpolitik des Deutschen Reiches, die wirtschaftliche Erholung des Reiches und damit auch die gesellschaftliche Konsolidierung verzögerte. Für die Modernisierung der Außenpolitik waren die Ergebnisse des DawesPlans also sehr begrenzt, teilweise widersprüchlich und bedeuteten lediglich einen Anfang für einen weitergehenden Modernisierungsprozeß. Der eigentliche Wert des Dawes-Plans bestand denn auch nicht so sehr im konkret Erreichten, sondern vielmehr im Methodischen. Nach dem Ruhrkampf und den einseitigen Maßnahmen vor allem Frankreichs und Belgiens gegenüber Deutschland bedeutete der Dawes-Plan den eigentlichen Beginn der multilateralen Konferenzdiplomatie nach dem Ersten Weltkrieg. Warum nur den Beginn? Natürlich war Deutschland zu den Verhandlungen eingeladen, aber die Zweiteilung der Konferenz machte deutlich, daß Deutschland eben noch keine gleichrangige Macht war. Die Londoner Konferenz verfestigte zudem eine Tendenz, die bereits mit der Einberufung des Expertenkomitees begonnen hatte: die Rückkehr zur Legalität und zur Rechtsgebundenheit der zwischenstaatlichen Beziehungen. Durch die Rücknahme der in ihrer Legalität zumindest zweifelhaften französischen und belgischen Maßnahmen - so legitim diese auch Anfang 1923 ihren Führern erschienen waren - kehrte das Recht in die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den Westmächten zurück, so wie es im Versailler Vertrag festgeschrieben worden war. Eine wesentliche Neuerung dabei war, daß Deutschland nun erstmals seit dem Krieg den Versailler Vertrag auch faktisch anerkannte. In Berlin liebte man den Versailler Vertrag deswegen nicht mehr als vor dem Ruhrkampf, es hatte sich aber die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Pflichten (aber auch die Rechte), die sich für Deutschland aus dem Friedensvertrag von Versailles ergaben, besser waren, als quasi rechtlos dem Recht des Stärkeren, wie es sich durch die französischen Besatzungstruppen im Januar 1923 manifestiert hatte, ausgeliefert zu sein. Der deutschen Außenpolitik wurde zudem klar, daß die Revision des Versailler Vertrags nur in dem rechtlichen Rahmen möglich sein würde, den der Vertrag selbst lieferte. Auch Frankreich hatte sich wieder auf den rechtli- 3.2. Der Dawes­Plan und die Londoner Konferenz 183 chen Rahmen des Friedensvertrags zur٧ckgezogen. Dies war einerseits notwen­ dig geworden, weil das einseitige Vorgehen Frankreichs seine bereits vom Krieg geschwδchten Ressourcen ٧berdehnt hatte. Ohne aber den zumindest teilweise bei der franzφsischen F٧hrung vorhandenen Willen, zum Zustand ei­ nes rechtlich geregelten zwischenstaatlichen Lebens zur٧ckzukehren, ist die auf der Londoner Konferenz gefundene Lφsung meines Erachtens jedoch nicht zu erklδren. Dieser Wille, der Herrschaft des Rechts den Vorzug gegen٧ber dem Unilateralismus zu geben, ist, bei allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, nicht nur in der Außenpolitik Herriots, sondern auch bei Poincare erkennbar. Der vorsichtige Neuanfang in der Außenpolitik, wie er durch die Londoner Konferenz eingeleitet wurde, fand ihren Niederschlag übrigens auch bei wichtigen personellen Umbesetzungen in den auswärtigen Diensten Deutschlands und Frankreichs. In Deutschland räumte Ende 1924 der für den Rapallo-Vertrag verantwortlich zeichnende Staatssekretär Maltzan seinen Platz für den stärker nach Westen orientierten Schubert, um als Botschafter nach Washington zu gehen444. Auch in Frankreich deutete sich ab Oktober 1924 ein »mouvement diplomatique«445 an, indem viele wichtige Posten in der Zentrale und in einigen Auslandsvertretungen umbesetzt wurden: »Im allgemeinen kann man als Richtlinie, die die Regierung bei dem Revirement leitet, feststellen, daß sie bestrebt war, insbesondere die hochtrabenden Auslandsvertreter der Poincare'schen Gewaltpolitik bezw. [sie] solche Persönlichkeiten zu beseitigen, von denen es ihr schien, daß sie den neuen Männern der Linken nicht genügend Achtung entgegenbrachten«446. So wurden Saint-Aulaire in London und Jusserand in Washington durch die verständigungsbereiteren Fleuriau und Berenger ersetzt, und auch die Beförderung Seydoux' zum directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales wurde deutscherseits begrüßt447. Die Beschlüsse der Londoner Konferenz wurden so zu einer wichtigen methodischen Grundlage für die moderne Entwicklung der Außenpolitik. Sie transformierten die im Ruhrkampf erwachsene Erkenntnis in Politik, daß Konfliktlösung durch Verhandlungen und nicht durch Gewalt erfolgen muß und bewirkten, daß der Versailler Vertrag die nun auch allgemein anerkannte Grundlage dieser Konfliktlösung war. Die Londoner Konferenz war aber nur ein erster Schritt hin zu einem modernen europäischen System. Das Sicherheitsproblem und die Frage der Reetablierung einer liberalen Wirtschaftsordnung, in der die Reparationen einen zentralen Störfaktor bildeten, waren nach wie vor ungelöst, und die im Versailler Vertrag festgeschriebene Asymmetrie zwischen Siegern und Besiegten bestand fort. Aber immerhin, ein Anfang war gemacht. 444 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 270f. Hoesch an AA (18.10.1924),ihedbSRIA ΡAAA R, 28235. 446 Ibid. 447 Siehe ibid. 445 4. KOLLEKTIVE SICHERHEIT UND HANDELS­ LIBERALISIERUNG IN DEN DEUTSCH­ FRANZΦSISCHEN BEZIEHUNGEN, 1924­1929 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen Kollektive Sicherheitsstrukturen bilden ­ neben der Etablierung eines freien Welthandels und der Demokratie ­ eines der drei zentralen Elemente des libe­ ralen Modells der Friedenssicherung. In diesem Abschnitt wird untersucht, ob zwischen Deutschland und Frankreich in den Jahren 1924 bis 1929 kollektive Sicherheitsstrukturen geschaffen wurden und wenn ja, wie umfassend und funktionsfδhig diese Strukturen waren. Es geht im Kern also um die Vertrδge von Locarno, den deutschen Beitritt zum Vφlkerbund und den Kriegs­ δchtungspakt, der auch unter dem Namen Briand­Kellogg­Pakt Eingang in die Geschichtsschreibung gefunden hat. Im nδchsten Abschnitt werden einige Aspekte der Handelsliberalisierung betrachtet. Zuvor erscheinen aber noch zwei Punkte klδrenswert: Was genau ist erstens unter »kollektiver Sicherheit« zu verstehen und was sind die Stδrken und Schwδchen dieses Konzepts? Und zweitens, welche Ansδtze zur kollektiven Sicherheit bestanden bereits vor dem Locarno­Pakt und inwieweit konnte auf diese Grundlagen aufgebaut werden? 4.1.1. Sicherheit und kollektive Sicherheit Sicherheit und Unsicherheit sind eine Folge von Macht und deren mφglichem Mißbrauch. Macht soll dabei verstanden werden als »>la capacite d'imposer sa volonte aux autres<. Une [Herv. i.O.] puissance est un Etat qui est capable, en certaines circonstances, >de modifier la volonte d'individus, groupes, ou Etats etrangers<«'. Eine Großmacht ist »tout Etat qui, ä lui seul, >assure sa securite contre tout autre puissance prise isolement<«2. Die Macht eines Staates wird nicht nur von demographischen Faktoren - Größe, Altersaufbau, Bildung usw. der Bevölkerung - und einem »große[n] und verwickelte[n] Komplex von Sachfaktoren«3 - zu denen u.a. die Größe und der Naturraum des Landes, sei- 1 GlRAULT, Europe, S. 94. 2 Ibid. 3 Wilhelm FUCKS, Formeln zur Macht. Prognosen über Völker, Wirtschaft, Potentiale, Stuttgart "1965, S.7. 186 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung ne Wirtschaftskraft und sein militδrisches Potential gehφren4 ­ bestimmt, son­ dern auch durch »weiche« Faktoren wie die kulturelle Ausstrahlung, die sozia­ le Kohδsion, den nationalen Konsens, den Willen der Regierenden, eine Rolle in den internationalen Beziehungen zu spielen, oder die Wahrnehmung der Kapazitδten eines Staates durch die anderen5. Das Sicherheitsproblem entsteht nun daraus, daß die Macht eines Staates objektiv oder subjektiv zur Bedrohung eines anderen Staates fuhren kann. Sicherheit wird so zur »ability of a nation to protect its internal values from external threats«6. Zur Gewährleistung der Sicherheit eines Landes gibt es verschiedene Möglichkeiten: Einmal durch die eigene militärische Macht und durch Militärbündnisse, die aber, wenn sie von dem potentiellen Gegner wiederum als Bedrohung der eigenen Sicherheit aufgefaßt werden, zu einem gefährlichen Wettrüsten führen können und so die Sicherheitslage eher verschlechtern denn verbessern7. Neutralität ist eine andere Möglichkeit, Sicherheit zu gewährleisten8, eine Möglichkeit jedoch, die - wie das Schicksal Belgiens im Ersten Weltkrieg zeigte - ebenfalls nicht ohne Risiken ist. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, kollektive Sicherheitssysteme aufzubauen. Dabei soll kollektive Sicherheit im Rahmen dieser Arbeit verstanden werden als ein System mit universeller oder regionaler Reichweite, das jedem seiner Mitgliedsstaaten Schutz vor jeder zwischenstaatl. Aggression verspricht. Bei k. S. in diesem Sinne handelt es sich um eine durch multilaterale Prinzipien gekennzeichnete Institution mit gleichen Rechten und Pflichten für die Mitgliedsstaaten. K.S. beruht auf der Annahme, daß Frieden unteilbar ist und jedes Mitglied jedem anderen zu Hilfe kommen muß - mit diplomatischen Mitteln, durch Wirtschaftssanktionen und im Extremfall durch militärische Mittel. Ein potentieller Aggressor soll somit durch die Aussicht auf eine überlegene Gegenmacht abgeschreckt werden9. »Regional« in der oben gebrauchten Form soll dabei so verstanden werden, daß ein System der kollektiven Sicherheit zwar nicht alle Staaten der Erde umfassen muß, daß aber zumindest die potentiellen Gegner Mitglieder der jeweiligen Sicherheitsstruktur sein müssen10. Ansonsten wäre kollektive Sicherheit nichts weiter als eine spezielle Form eines Bündnisses. In der Tat wurde bei4 Siehe ibid. S. 7-9. 5 Siehe GlRAULT, Europe, S. 94. 6 WURM, Sicherheitspolitik, S. 2. 7 Siehe ibid. S. 3f. 8 Siehe ibid. 9 Peter RUDOLF, art. »Kollektive Sicherheit«, in: Dieter NOHLEN, Rainer-Olaf SCHULTZE (Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. I, München 2002, S. 412f. 10 Siehe Sabine JABERG, Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch, Baden-Baden 1998 (Demokratie, Sicherheit, Frieden, 112), S. 16. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 187 spielsweise im Ost­West­Konflikt die NATO als ein System der kollektiven Sicherheit bezeichnet. Im Sinne der hier gebrauchten Definition war sie es aber nicht, sondern eben nur eine spezielle Art von B٧ndnis, weshalb es rich­ tiger ist, bei der NATO von »kollektiver Verteidigung« anstelle von »kollekti­ ver Sicherheit« zu sprechen11. »Kollektive Sicherheit« ist eine Weiterentwicklung des δlteren Konzeptes der »Balance of Power«, und in der Tat sind sich beide Modelle in vielen As­ pekten nicht unδhnlich. Um zu verstehen, was die wesentlichen Merkmale der kollektiven Sicherheit sind, ist es deshalb sinnvoll, zunδchst die Gemeinsam­ keiten zwischen diesen beiden verwandten Sicherheitsdoktrinen zu betrach­ ten12. Beide Modelle beruhen auf dem Prinzip der Abschreckung, wobei die Grundannahme der kollektiven Sicherheit sogar noch pessimistischer ist als die der Balance of Power: Wδhrend im letztgenannten Konzept das Gleichge­ wicht der Krδfte als ausreichend erachtet wird, um einen potentiellen Gegner abzuschrecken, soll dies im System der kollektiven Sicherheit durch eine in jedem Fall ٧berlegene Macht aller gegen den potentiellen Aggressor erfolgen. In beiden Konzepten schließt dies allerdings aus, daß es einen Staat gibt, dessen Macht allein das ganze System zu Fall bringen kann: Eine »Supermacht« kann weder das System der kollektiven Sicherheit noch das der Balance of Power verkraften. Auch Bündnisse, die das Gleichgewicht oder die Übermacht der Verteidiger gefährden, müssen in beiden Systemen verhindert werden. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, daß in beiden Modellen sich die Führer eines potentiell aggressiven Staates in dem Sinne rational verhalten müssen, daß sie sich von der Gegenmacht abschrecken lassen. Voraussetzung hierfür ist wiederum, daß der defensive Part bereit ist, zur Not den Status quo auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Außerdem muß ein klares, vorhersagbares Eskalationsschema vorhanden sein, das die negativen Folgen eines Angriffs für den potentiellen Aggressor absehbar macht. Eine Funktionsbedingung beider Systeme besteht außerdem darin, daß bei allen Staaten der Wille vorhanden sein muß, auch dann gegen einen Aggressor zu Felde zu ziehen, wenn eigene Interessen nicht direkt bedroht sind oder diese Aktion sogar im Gegensatz zu den eigenen Zielsetzungen steht. Was sind - bei so vielen Gemeinsamkeiten - dann eigentlich die Unterschiede zwischen Balance of Power und kollektiver Sicherheit? Der wesentliche Gegensatz besteht darin, daß kollektive Sicherheit ein allgemeines Bündnis und keine Allianz konkurrierender Blöcke ist13. Im System der kollektiven Sicherheit gibt es kein Außen mehr, keinen Gegner im eigentlichen Sinne: »Balance of power postulates two or more worlds in jealous 11 Siehe CLAUDE, Power, S. 122. Zum folgenden siehe ibid. S. 123-129. 13 Zu den Unterschieden zwischen kollektiver Sicherheit und Balance of Power siehe ibid. S. 144-149. 12 188 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung confrontation, while collective security postulates one world, organized for the cooperative maintenance of order within its bounds«14. Frieden ist also das absolute Oberziel des Systems kollektiver Sicherheit ­ im Gegensatz zur Ba­ lance of Power. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Kooperation, nicht auf Kon­ frontation. Dies wiederum setzt die Schaffung von Institutionen voraus, eine gewisse Systematisierung der internationalen Beziehungen, die eine prinzipiel­ le Lφsung des Sicherheitsproblems ermφglichen, anstatt ­ wie beim System der Balance of Power ­ zu ad hoc Lφsungen f٧r auftretende Bedrohungen des Gleichgewichts zu kommen15. F٧r die Untersuchung der Versuche zur Umsetzung des Systems der kollek­ tiven Sicherheit ­ als einem zentralen Bestandteil der Modernisierung der Au­ ßenpolitik - ist es aber nicht nur wichtig zu wissen, wie und unter welchen Voraussetzungen kollektive Sicherheit funktioniert. Für eine adäquate Bewertung müssen auch die prinzipiellen Schwächen eines Systems bekannt sein, um die Ursachen seines Scheiterns festzustellen. Denn das Versagen einer sicherheitspolitischen Strategie kann zwei grundsätzliche Ursachen haben: Erstens, die unvollständige Implementierung oder zweitens, Fehler in den Grundannahmen des Systems. Die Schwächen des Systems der kollektiven Sicherheit ergeben sich zum Gutteil aus seinen Prämissen. Wie dargestellt, ist eine der Grundvoraussetzungen der kollektiven Sicherheit, daß es keine Macht gibt, die stark genug ist, das gesamte System in Frage zu stellen. Dieser Aspekt ist für diese Untersuchung deshalb relevant, weil Deutschland vielleicht potentiell so stark war, daß es beispielsweise das System der Locarno-Verträge von sich aus hätte zu Fall bringen können. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hatte (und der Zweite mit freilich veränderten Bündniskonstellationen - wieder zeigen sollte), waren Frankreich, England, Belgien und Italien - allesamt Mitglieder bzw. Garantiemächte von Locarno - allein nicht in der Lage gewesen, Deutschland zu besiegen. Anders gesagt, das System der kollektiven Sicherheit setzt voraus, daß der potentielle Aggressor so schwach ist, daß das Prinzip der Abschrekkung durch eine überwältigende Übermacht funktioniert16. Andere Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Sicherheit sind bereits von den Zeitgenossen erörtert worden17: Auf eine Bedrohung könne nicht schnell und effizient genug reagiert werden, weil die Symptome, die einer Ag14 Ibid. S. 145. Siehe ibid. S. 132f. 16 Siehe ibid. S. 195f. 17 Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds (22.4.1923), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux n6gociations concernant les garanties de söcuritd 1924, 44, Anhang 11. Es handelte sich dabei um die Stellungnahme der Delegationen Belgiens, Brasiliens, Frankreichs und Schwedens; die englische Delegation hatte sich nicht an der Stellungnahme beteiligt, siehe ibid.; Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vm, Nr. 121. 15 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 189 gression vorausgingen, nicht eindeutig bestimmbar seien. Daraus folge, daß auch die Verpflichtungen, die die Staaten eingehen mtlßten, um im Bedarfsfall eine schnelle Reaktion zu gewährleisten, nicht klar genug definiert werden könnten. Erschwert werde dies durch die unterschiedlichen Interessen der Staaten, die unter Umständen nur bedingt zur Unterstützung des angegriffenen Staates bereit seien. Es waren also vor allem Fragen der Militärdoktrin, die erörtert wurden, und die einige wichtige Schwachpunkte im System der kollektiven Sicherheit aufzeigten18: Die Verteidiger sind in einer strukturell schwächeren Position als der Angreifer, weil dieser mehr Zeit hat sich vorzubereiten und über integrierte Kommandostrukturen verfügt, während die Verteidiger mit den Problemen eines Koalitionskrieges zu kämpfen haben: die Koordination der Streitkräfte, die schwierige Heranführung von Truppen - unter Umständen aus Übersee - , die Möglichkeit einer Regierung, sich der gemeinsamen Verteidigungsanstrengung trotz Zusage zu entziehen usw. Unter Umständen - das ist bei der sich ständig wandelnden Militärtechnologie noch schwerer zu prognostizieren - wäre der Krieg schon zu Ende, bevor überhaupt die Mechanismen der kollektiven Sicherheit greifen könnten. Da sich das kollektive Sicherheitssystem außerdem gegen jeden potentiellen Angreifer richtet, müßten für jeden denkbaren Fall Pläne erarbeitet werden - was allein schon an der Geheimhaltung scheitern würde. Am Beispiel von Locarno bedeutete dies: Großbritannien garantierte den Bestand der deutsch-französischen Grenze. Folglich hätte der englische Generalstab zusammen mit Frankreich Pläne gegen eine deutsche, mit Deutschland Pläne gegen eine französische Invasion ausarbeiten müssen. Ein Verfahren, das schlechterdings praktikabel ist, einmal ganz abgesehen von der Frage, ob Großbritannien tatsächlich bereit gewesen wäre, gegen Frankreich zu kämpfen und so die englische Garantie tatsächlich eine Garantie im Sinne der kollektiven Sicherheit darstellte. Eng mit diesen Problemen hängen - wie bereits der Völkerbund feststellen mußte - die Fragen zusammen, was eigentlich »Aggression«, wer »Täter« und wer »Opfer« ist. Die Commission permanente consultative des Völkerbunds stellte fest, daß die Definition, eine Aggression sei die Verletzung einer Grenze durch Truppen, keinesfalls ausreiche19: Der Begriff der Grenze habe an Klarheit verloren, weil durch den Versailler Vertrag - durch die Schaffung demilitarisierter und neutraler Zonen - die militärischen Grenzen nicht mehr unbedingt den politischen Grenzen eines Landes entsprächen. Zudem sei es immer schwieriger zu definieren, was unter Truppen zu verstehen sei, weil die Unterscheidung zwischen regulärer Armee, bewaffneten Polizeiverbänden und " SieheULEDCA CLAUDE, Power, S. 1 9 2 ­ 1 9 4 . 19 Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds ( 2 2 . 4 . 1 9 2 3 ) , Documents diplomatiques. Documents relatifs aux ndgociations concernant les garanties de s6curit6 1924, Nr. 44, Anhang 11. 190 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Freikorps immer schwieriger werde. Zudem lasse diese Definition diejenigen Fδlle außer acht, die sich in internationalen Gewässern oder im internationalen Luftraum ereigneten. Darüber hinaus läßt sich fragen, ob wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen eines Landes gegen ein anderes nicht ebenso eine Aggression darstellen wie die Unterstützung von Unabhängigkeitsbewegungen oder terroristischen Gruppierungen durch das Ausland. Ergreift ein Land dann Gegenmaßnahmen gegen eine vermeintliche oder tatsächliche Aggression, wird es in der Tat fast unmöglich zu entscheiden, wer »Aggressor« und wer »Verteidiger« ist. Diese Ambivalenz stört aber eine weitere Voraussetzung des Systems der kollektiven Sicherheit, nämlich die Vorhersagbarkeit von Eskalation und Gegenmaßnahmen: Selbst wenn es ein klar festgelegtes Muster von zu ergreifenden Maßnahmen gäbe, gegen wen soll die Staatengemeinschaft vorgehen, wenn gar nicht genau auszumachen ist, wer der Übeltäter ist? Kollektive Sicherheit ist dann tatsächlich nur »a generalized notion of all nations banding together in undertaking a vague obligation to perform unspecified actions in response to hypothetical events brought on by some unidentifiable state«20. Allerdings muß festgehalten werden, daß der Einsatz militärischer Gewalt und der dadurch entstehenden Probleme durch ein System der kollektiven Sicherheit gerade verhindert werden soll. Der Rückgriff auf Gewalt bedeutet das Versagen der kollektiven Sicherheit, deren Kernpunkt die friedliche Streitschlichtung ist. Im liberalen Friedenskonzept bildet kollektive Sicherheit außerdem nur eines von drei wesentlichen Elementen zur Friedenssicherung. Nicht zuletzt wegen dieser Schwachpunkte sahen Wilson und andere die Sicherung des Friedens nicht ausschließlich abhängig von der Etablierung kollektiver Sicherheitsstrukturen, sondern auch von den beiden anderen zentralen Elementen, der Demokratie und dem Wirtschaftsliberalismus. Demokratische Strukturen sollten Konflikte im Innern der Staaten minimieren, so daß den Außenbeziehungen die Funktion des »Blitzableiters« für innere Probleme genommen würde. Sie sollen außerdem die Bereitschaft fördern, sich auf friedliche Streitschlichtungsmechanismen auch im internationalen Rahmen einzulassen. Gleiches gilt für den Wirtschaftsliberalismus, der im Sinne des liberalen Modells einerseits Wohlstand für alle schaffen soll - und so soziale Konflikte verringert - , andererseits wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen den Staaten erzeugt, die konfliktverhindemd wirken sollen. Insofern darf die Kritik an der kollektiven Sicherheit nicht an den ihr inhärenten Problemen in der Anwendung militärischer Gewalt als letztem Mittel enden. Es muß vielmehr auch untersucht werden, inwieweit sich durch politische oder wirtschaftliche Maßnahmen das Verhältnis zwischen den Staaten verbessert - und somit die Gefahr eines Konfliktes verringert wird. Kollektive 20 CLAUDE, Power, S. 200. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 191 Sicherheitsstrukturen allein, das soll hier nochmals ausdr٧cklich festgehalten werden, sind nach Maßgabe des liberalen Modells der Friedenssicherung nur eines von drei wesentlichen Elementen zur Friedenssicherung. 4.1.2. Französische Sicherheits- und deutsche Revisionspolitik als Problem der deutsch-französischen Beziehungen Das europäische Sicherheitsproblem in den 1920er Jahren hatte - abstrahiert man von den Störungen, die von kleineren Staaten ausgingen (z.B. Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, zwischen der Türkei und Griechenland usw.) - zwei wesentliche Ursachen: Den deutschen Revisionismus einerseits und den weltweiten Anspruch des Bolschewismus andererseits. Viele Ursachen für die Spannungen im europäischen Staatensystem lagen in dieser Konstellation begründet: der deutsch-französische Gegensatz ebenso wie der deutsch-polnische oder der polnisch-russische. Inwiefern kamen Ideen der kollektiven Sicherheit zum Tragen, um das deutsch-französische Sicherheitsproblem - als wesentlichen Teil des europäischen Sicherheitsproblems - zu lösen? Interessanterweise hatte gerade das Land ein Sicherheitsproblem, das siegreich aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, nämlich Frankreich. Dies ist um so erstaunlicher, weil Frankreich den Krieg (wenngleich mit fremder Hilfe) nicht nur gewonnen hatte, sondern sich durch den Versailler Vertrag auch als überragende europäische Militärmacht etablieren konnte. Dem deutschen 100 000-Mann-Heer standen 1922 355 000 französische Soldaten im Mutterland und weitere 92 000 als Besatzungstruppen im Rheinland gegenüber21, dazu kamen die Truppen der Verbündeten. Überraschenderweise schien Deutschland trotz dieses Mißverhältnisses kein nennenswertes Sicherheitsproblem zu haben. Trotz der militärischen Impotenz des Reiches, trotz der Tatsache, daß alliierte Truppen wesentliche Teile des deutschen Staatsgebiets militärisch besetzt hielten und die Alliierten - wie der Ruhrkampf gezeigt hatte - bereit waren, ihre militärische Macht auch einzusetzen: Sicherheit war kein deutsches Problem. Sie wurde für Deutschland nur deshalb zum Thema, weil ihr Frankreich überragende Bedeutung zumaß: »Die Frage der deutschen Sicherheit [Herv. i.O.] ergibt sich aus der allzu einseiti- 21 Nicht eingerechnet sind die Truppen in den Kolonien und Mandatsgebieten sowie in anderen Gebieten (Saargebiet, Schutztruppe im Memelgebiet und Oberschlesien), die weitere 298 000 Mann ausmachten, siehe »Exposi des consid6rations relatives aux exigences de la söcuritö nationale de la France, ä ses obligations internationales, ä sa situation gdographique et ä ses conditions speciales« (30.6.1922), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nögociations concemant les garanties de s6curit£ 1924, Nr. 44, Anhang 5. 192 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gen Behandlung des Sicherheitsproblems als einer franzφsischen Frage«22. Trotz der eigenen militδrischen Machtlosigkeit war f٧r Deutschland die Si­ cherheitsfrage ­ und zwar die franzφsische Sicherheit ­ also lediglich ein tak­ tischer Stolperstein auf dem Weg zur Revision. F٧r Frankreich dagegen war dieutsriec securite ein großes, im wahrsten Sinne des Wortes existentielles Problem: One inescapable fact dominated the French vision of international politics: forty million Frenchmen faced sixty million Germans, and the demographic gap was clearly widening. The disparity of population, taken together with Germany's unquestioned military genius and capacity for organization, meant that in the natural course of things Germany would overwhelm France - of the German will to domination most Frenchmen had little doubt23. Erschwerend kam für Frankreich hinzu, daß die strukturelle Übermacht Deutschlands von seinen ehemaligen Verbündeten nicht wahrgenommen wurde24. Frankreich sah sich nicht nur einem wirtschaftlich wie demographisch überlegenen und dazu auch noch revanchistischen Nachbarn gegenüber, sondern war darüber hinaus auch noch allein, ohne substantielle Bündnispartner, die man potentiell vor allem in den USA und in Großbritannien sah. Die osteuropäischen Verbündeten waren dagegen nur ein schwacher Ersatz für die nach dem Ende des Krieges geplatzten Bündnisse mit den angelsächsischen Mächten25. Die grundlegend unterschiedliche Bedeutung, welche die Sicherheitsfrage für Deutschland und Frankreich hatte - für Berlin eine Klippe, die es taktisch geschickt zu umschiffen galt, für Paris ein Problem von essentieller, ja existentieller Bedeutung - , mußte die Lösung der Aufgabe natürlich ungemein erschweren. Dies begann schon bei der Wahrnehmung des Problems: Da in Berlin die securite vor allem als französisches Instrument zur Niederhaltung Deutschlands gesehen wurde (was sie zum Teil auch war), dauerte es nämlich bis Anfang 1925, bis die wahre Dimension der Pariser Befindlichkeiten in der Sicherheitsfrage richtig erkannt wurde und ein tragfähiges Konzept zur Lösung des Problems entwickelt werden konnte. Da Sicherheit für beide Seiten aber eine unterschiedliche Bedeutung hatte, konnte eine Lösung nicht durch ein gemeinsames Interesse erreicht, sondern nur in dem relativ schmalen Be22 Materialien zur Sicherheitsfrage [Manuskript o. Verf., 1924?],nedSRIA ΡAAA R, 70103, S. 107. In den Beständen des AA befinden sich mehrere Versionen der »Materialien zur Sicherheitsfrage«. Aus der hier zitierten Fassung geht hervor, daß sie im Vorfeld der Londoner Konferenz erarbeitet wurde. Eine im Jahr 1925 im Zusammenhang mit der Konferenz von Locamo vom AA herausgegebene, veröffentlichte Fassung enthält lediglich offizielle Dokumente der beteiligten Regierungen. 23 TRACHTENBERG, Reparation, S. 99. Im gleichen Sinne auch: David CHUTER, Humanity's Soldier. France and International Security, 1919-2001, Providence, Oxford 1996, S. 54-57. 24 25 Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 30. Siehe o. Kap. 2.1. und CHUTER, Humanity's Soldier, S. 77. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 193 reich erzielt werden, in dem deutschem Revisionsstreben nicht das franzφsi­ sche Sicherheitsempfinden entgegenstand. Die Lφsung des deutsch­franzφsischen Sicherheitsproblems wurde aber auch dadurch erschwert, daß es in Frankreich verschiedene Konzepte zur Erlangung derutsriec securite gab. Das internationale System der Nachkriegszeit hatte Frankreich durch den Versailler Vertrag und das aus dem Krieg hervorgegangene Beziehungsgeflecht zwischen den Staaten verschiedene Instrumente zur Lösung des Sicherheitsproblems an die Hand gegeben, die sich teilweise ergänzten, zum Teil aber auch im Widerspruch zueinander standen26. Neben den rudimentär angelegten Möglichkeiten der Völkerbundssatzung zur friedlichen Streitschlichtung (also vor allem die Artikel 10-17) standen die Deutschland auferlegten Zwangsmaßnahmen des Versailler Vertrags: Die weitgehende Entwaffnung des Reiches, die Besetzung und Demilitarisierung des Rheinlandes und wirtschaftliche Bestimmungen, die ergänzend das ökonomische Potential Deutschlands schwächen und das der ehemaligen Kriegsgegner stärken sollten. Daneben hatte der Versailler Vertrag auch eine französisch-amerikanischbritische Militärallianz vorgesehen, die jedoch am amerikanischen Widerstand gescheitert war. Ferner hatten der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Zarenreichs und die Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten im mittelund osteuropäischen Raum eine Reihe potentieller Bundesgenossen für Frankreich geschaffen. Aus den teils widersprüchlichen, teils mehrdeutigen außenpolitischen Instrumenten, die Frankreich zur Verfugung standen, konnten drei grundsätzlich mögliche außenpolitische Strategien entwickelt werden27: erstens eine mehr oder weniger unilaterale Politik der Stärke, zweitens eine Bündnispolitik im klassischen Sinne und drittens eine Politik der kollektiven Sicherheit. Die Strategien eins (Politik der Stärke) und zwei (Bündnispolitik) schließen einander natürlich nicht aus, doch ist anzunehmen, daß beim Rückgriff auf die Politik der Stärke im Falle des Scheiterns der Bündnispolitik die Instrumente verschieden gewichtet werden: Clemenceau hatte sich 1919 erst dann zur Aufgabe des Rheins als militärischer Grenze Frankreichs bereit erklärt, als er entsprechende Bündniszusagen aus Washington und London erhalten hatte. Umgekehrt mußte die Rheingrenze für Frankreich natürlich wieder an Bedeutung gewinnen, als sich diese Bündniszusagen nicht materialisierten. Eine unilaterale Politik der Stärke entsprach allerdings nur bedingt der französischen Bedrohungslage: Gegen die langfristig drohende deutsche Übermacht konnte 26 Siehe o. Kap. 2.1. und BAECHLER, Stresemann, S. 583. Knipping dagegen spricht lediglich von »im Prinzip zwei Möglichkeiten« (KNIPPING, Locamo-Ära, S. 14), durch die Frankreich seine nationale Sicherheit durchsetzen konnte: die nationale und die internationale Option (s. ibid. S. 15). Da in dieser Studie die internationale Option Knippings in die »klassische« Bündnispolitik und die Politik der kollektiven Sicherheit aufgespalten wurde, komme ich zu drei verschiedenen Konzeptionen. 27 194 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung letztendlich nur ein B٧ndnis helfen. Wδre Frankreich ­ in der Wahrnehmung der politischen und militδrischen F٧hrung ­ fδhig gewesen, seine Sicherheit allein, mit eigenen Ressourcen, durchzusetzen, hδtte es kein Sicherheitspro­ blem gehabt. In Paris jedoch war man sich dar٧ber klar, daß die militärischen Sicherheitsgarantien und die territorialen Änderungen, die der Versailler Vertrag geschaffen hatte, allesamt »inefficace«28 waren. In den Jahren 1919 bis 1924 oszillierte die französische Sicherheitspolitik, wie in den vorausgehenden Kapiteln zu sehen war, vor allem zwischen der Politik der Stärke einerseits und der Anlehnung an die Alliierten andererseits, wobei, wie gesagt, die eine Politik nicht im Gegensatz zur anderen stand, sondern vielmehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bedeuteten. Allerdings, das wird im folgenden noch ausfuhrlicher zu zeigen sein, spielte auch die Politik der kollektiven Sicherheit schon eine, wenn auch bescheidene, Rolle. Das Schwanken zwischen den verschiedenen politischen Konzepten vermittelte oft den Endruck, die französische Politik sei inkonsistent gewesen. Diese Wahrnehmung wurde verstärkt durch die Interferenzen zwischen den verschiedenen, sich teilweise ergänzenden, teilweise widersprechenden Instrumenten, die der französischen Sicherheitspolitik durch den Versailler Vertrag an die Hand gegeben wurden. Ursächlich für die Schwankungen dürfte jedoch gewesen sein, daß die französische Politik - gerade wegen ihrer starken Ausrichtung auf Bündnisgarantien - sehr stark von der Politik der USA und Großbritannien abhängig war. Auch das Verhalten Deutschlands spielte natürlich eine Rolle dabei, wie Frankreich seine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im Osten definierte. Andere Einflüsse, die nicht genuin außenpolitischer Art waren, aber dennoch den Handlungsspielraum der französischen Regierung beeinflußten, taten ihr übriges, daß der französischen Politik oft etwas Unstetes anhaftete. Ein wichtiges Beispiel für einen solchen exogenen Faktor bildete die FrancKrise29, die bis 1926 die französische Politik beschränkte: Sie erschwerte die Unterstützung der Bündnispartner in Osteuropa ebenso, wie sie die finanzielle Abhängigkeit Frankreichs von den angelsächsischen Ländern verstärkte. Die andauernden innenpolitischen Querelen um die Währungssanierung und die immer häufigeren Regierungswechsel in Paris führten schließlich auch zu einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Exekutive. Unbeeinflußt von den innen- und außenpolitischen Wechsellagen blieb jedoch das Ziel der französischen Außenpolitik, die Sicherheit Frankreichs langfristig zu gewähren. Die Politik Briands unterschied sich hinsichtlich dieses Ziels nicht von der seiner Amtsvorgänger, sondern vor allem in bezug auf die Methoden30. Aus dem Scheitern der Ruhrpolitik und der Analyse der langfri28 Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum [Seydoux?], MAE PAAP 261, 1. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 170. 30 Zur Außenpolitik Briands siehe KR٢GER, Außenpolitik, S. 33 8f.; WURM, Sicherheitspolitik, S. 393-395. 29 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 195 stigen deutschen άberlegenheit heraus kam er zu dem Schluß, daß die Sicherheit Frankreichs nur durch den Ausgleich mit Deutschland und durch ein Bündnis mit Großbritannien dauerhaft würde erreicht werden können. Die Priorität Briands lag dabei, wie im AA völlig zu Recht erkannt wurde, auf einem Bündnis mit Großbritannien, in dem der Ausgleich mit Deutschland lediglich instrumentalen Charakter hatte: Im »System Briand« wird nie ein deutsch-französisches unmittelbares Zusammengehen die Grundlage der französischen Politik sein [...], sondern vielmehr das englisch-französische Zusammengehen mit einem ruhigen Deutschland an der Peripherie. Der Gedanke, daß irgendeines der bisherigen französischen Bündnisse in Mittel- oder Osteuropa den deutsch-französischen Beziehungen geopfert werden könnte, liegt dem französischen System völlig fern. Es basiert auf Achtung des Vertrages, Sicherung Frankreichs, äußere Besserung der Beziehungen zu Deutschland, Erhaltung des Friedens durch Konsolidierung der gegenwärtigen Verhältnisse, aber nicht durch Revision31. Auch im »System Briand« sollten Frieden und Sicherheit also vor allem durch die Anerkennung der Rechte Frankreichs aus dem Versailler Vertrag und der französischen Rolle in Europa gesichert werden. Der Ausgleich mit Deutschland hatte dabei zwei Funktionen: Einerseits wollte Briand den deutschen Revanchismus dämpfen. Sein Kalkül war, daß die außenpolitischen Erfolge des republikanischen Deutschlands das demokratische System dort stärken würden, während die Sanktionspolitik ä la Poincarö nur den revanchistischen Kräften zugute käme. Das deutsch-französische Verhältnis sollte zu diesem Zweck auf allen Ebenen verbessert werden. Besonders wichtig war Briand die wirtschaftliche Verflechtung beider Länder, da er hoffte, daß sich durch gemeinsame ökonomische Anstrengungen auch die politischen Probleme leichter würden lösen lassen. Politische Konzessionen gegenüber Deutschland blieben allerdings auch bei Briand den französischen Interessen untergeordnet. Auch dieses Konzept war nicht frei von Widersprüchen und Problemen32: Die Wirtschaftsbeziehungen ließen sich nur bedingt für den politischen Klimawechsel instrumentalisieren. Außerdem war diese Politik hochgradig von der Zustimmung anderer, in diesem Falle von Großbritannien und den USA, abhängig. Innenpolitisch stieß der Verständigungskurs Briands ebenfalls auf nicht unerheblichen Widerstand. Andererseits hatte Briand festgestellt, daß eine Politik der Härte gegenüber Deutschland Frankreich von seinem potentiell wichtigsten Bündnispartner, Großbritannien, isolierte. Ausgleich mit Deutschland bedeutete deshalb auch Annäherung an Großbritannien. Briand strebte deshalb die »Internationalisierung«33 des Sicherheitsproblems an - in Analogie zur Internationalisierung des Schuldenproblems durch den Dawes-Plan. 31 Bülow an Hoesch (4.5.1925), ADAP A XUI, Nr. 21. Vgl.WURM WURM, Sicherheitspolitik, S. 396-398. 33 Ibid. S. 394. 32 196 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung War »Sicherheit« das Mantra der franzφsischen Außenpolitik, so war »Revision« das der deutschen34, wobei den einzelnen Revisionszielen verschiedene Bedeutung zukam. Für Stresemann hatten kurzfristig die Räumung der Kölner Zone, die Regelung der Entwaffnungsfrage und die Auflösung der IMKK, die Vermeidung der Investigation (also die Ersetzung der IMKK durch ein Kontrollorgan des Völkerbunds) sowie die Verkürzung der Besatzungsfristen für die übrigen Besatzungszonen im Rheinland Priorität35. Es folgten die Rückgabe des Saargebiets und die endgültige Regelung der Reparationsfrage36. Die wichtigsten langfristigen Revisionsziele waren die militärische Gleichberechtigung Deutschlands und die territoriale Revision im Osten, vor allem die Rückgabe des Korridors, der Ostpreußen vom Reich trennte37. Die Rückgabe der Kolonien und der »Anschluß« Österreichs scheinen Stresemann dagegen weniger wichtig gewesen zu sein. Elsaß-Lothringen und Eupen-Malmedy spielten für ihn keine wesentliche Rolle mehr38. Ebenso wie in Frankreich war in Deutschland nicht das außenpolitische Ziel, sondern der Weg dorthin umstritten39: Die Anhänger einer Ost-Politik, also beispielsweise Seeckt, Brockdorff-Rantzau und anfänglich auch Maltzan, wollten durch das enge Zusammengehen mit der Sowjetunion versuchen, den Westen zur Revision des Versailler Vertrags zu zwingen, und der Vertrag von Rapallo bildete den Auftakt zu dieser Politik. Die Erfullungspolitiker um Wirth wollten dagegen die Revision dadurch erreichen, daß sie den Alliierten durch die versuchte Erfüllung der Lasten gleichzeitig deren Undurchfuhrbarkeit demonstrierten. Und schließlich bildete das von Stresemann und seinen Mitarbeitern entwickelte Konzept der Verständigung eine weitere Methode deutscher Revisionspolitik. Verständigungspolitik bedeutete den Verzicht auf kriegerische Mittel und den Versuch, die deutschen Revisionsansprüche nicht gegen, sondern zusammen mit den anderen Staaten in vertrauensvoller Zusammenarbeit durchzusetzen40. Wichtigstes Instrument hierzu war der Einsatz der deutschen Wirtschaftsmacht - das einzige Machtmittel, das Deutschland nach der Kriegsniederlage erhalten geblieben war41. Besonders wichtig war dabei die Einbindung der USA, die, wie Stresemann richtig vermutete, viel- 34 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 26f. 35 S i e h e SCHULZE, W e i m a r , S. 2 7 2 ; KRÜGER, A u ß e n p o l i t i k , S. 2 1 4 ; W U R M , S i c h e r h e i t s p o l i - tik, S. 397; POST, Diplomatie, S. 250. 36 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 214. 37 Siehe POST, Diplomatie, S. 250; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 29f. 38 Siehe BARLßTY, Relations franco-allemandes, S. 22f. Zu Elsaß-Lothringen speziell siehe Christian BAECHLER, Stresemann, Locamo et l'Alsace-Lorraine, in: Revue d'Alsace 122 (1996), S. 329-342. 39 Vgl. Kap. 2.3. 40 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 217. 41 Siehe NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, S. 418. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 197 fach δhnliche φkonomische Zielsetzungen wie Deutschland verfolgten, und deshalb einen wichtigen Platz in seinem Kalk٧l einnahmen. Stresemanns Politik ist sehr unterschiedlich bewertet worden. Ist er fur die einen der Verstδndigungspolitiker, der auch langfristig bereit gewesen wδre, die Revision hinter die Friedenssicherung zu stellen42, so erscheint er anderen als »Bismarck redivivus, konservativ bis in die Fingerspitzen, der eine an den Grenzen des politisch Mφglichen orientierte aufgeklδrte Machtpolitik be­ trieb«43. Von einigen Autoren wird zudem betont, daß das stresemannsche Konzept der Revision durch wirtschaftliche Macht vor allem im Falle der territorialen Revision an seine Grenzen gestoßen wäre und er das wirtschaftliche Potential Deutschlands überschätzt habe44. Außerdem habe er verkannt, daß die deutschen Revisionsforderungen in letzter Konsequenz für Frankreich nicht tragbar gewesen wären45. Zudem standen die verschiedenen Revisionsziele zueinander im Widerspruch: Damit Deutschland wieder den ihm gebührenden Platz in der Weltwirtschaft - Voraussetzung fur jeden weiteren Revisionsschritt - einnehmen und letztlich auch seine territorialen Ziele erreichen konnte, mußte es ihm wirtschaftlich gut gehen. Ging es dem Reich jedoch wirtschaftlich zu gut, würde das die Neigung der anderen Staaten verringern, Deutschland in Revisionsfragen entgegenzukommen. Andererseits mußte es Deutschland, wollte es das Revisionsziel »Verringerung der Reparationen« verwirklichen, ökonomisch schlecht gehen. Allerdings durfte es Deutschland wiederum nicht zu schlecht gehen, denn das hätte die innenpolitische Lage destabilisiert und den mühsam wiederhergestellten deutschen Auslandskredit der wiederum Voraussetzung für die Revisionspolitik war - gefährdet. Diese ökonomische Brinkmanship war allein technisch schon kaum zu meistern. Deutsches Revisions- und französisches Sicherheitsstreben schlossen sich zwar per se nicht aus, allerdings war die Vereinbarkeit beider Politikkonzepte sehr begrenzt. Revision war nämlich nur dann mit der französischen Sicherheit vereinbar, wenn sie diese nicht gefährdete. Dies bedeutete, daß die Revision entweder auf der Ebene des Symbolischen bleiben mußte, es also zu keiner realen Machtverschiebung zugunsten Deutschlands kommen durfte. Käme es aber durch die Revision zu einem (tatsächlichen oder vermeintlichen) Machtzuwachs für Deutschland, dann mußte Frankreich dafür durch zusätzliche Sicherheitsgarantien kompensiert werden. Umgekehrt war Deutschland nur dann bereit, französischen Sicherheitsforderungen entgegenzukommen, wenn dadurch die Durchsetzung von Revisionsansprüchen nicht erschwert wurde. Der 42 Siehe K R Ü G E R , Außenpolitik, S. 2 1 7 ; B E R G , Vereinigte Staaten, S. 4 2 6 . S C H U L Z E , Weimar, S . 273. Im gleichen Sinne auch Karl Heinrich P O H L , Die »Stresemannsche Außenpolitik« und das westeuropäische Eisenkartell 1926. »Europäische Politik« oder nationales Interesse?, in: VSWG 65 (1978), S. 511-534, hier S. 514 u. 526. 44 Siehe B E R G , Vereinigte Staaten, S. 427; N I E D H A R T , Stresemanns Außenpolitik, S. 419. 45 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 539. 43 198 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Ruhrkampf hatte jedoch gezeigt, daß weder Deutschland noch Frankreich ihre jeweilige Politik gegen das andere Land durchsetzen konnten. Dies schränkte die Möglichkeiten beider Seiten zur Verfolgung ihrer eigenen Politik nicht unerheblich ein. Beide Länder waren in der Erlangung ihrer außenpolitischen Ziele nicht autonom, sondern mußten sich mit Dritten, vor allem den USA und Großbritannien, arrangieren. Da Frankreich aus eigener Sicht machtpolitisch an den Grenzen des Möglichen angekommen war, war ein Mehr an Sicherheit nur durch Dritte möglich. Konnten keine zusätzlichen Sicherheitsgarantien erreicht werden, war der französische Handlungsspielraum, Deutschland Zugeständnisse bei der Revision zu machen, stark eingeschränkt. Der Erste Weltkrieg hatte außerdem gezeigt, daß Sicherheit nicht ausschließlich machtpolitisch gewährleistet werden konnte. Es kam nicht nur darauf an, den Machtzuwachs des einen durch die Stärkung des anderen zu kompensieren, sondern Macht generell zu kontrollieren. An dieser Stelle konnte das liberale Modell der Friedenssicherung ansetzen: Es paßte zu den Bedingungen, denen das Verhältnis zwischen Revisionspolitik und Sicherheitspolitik unterworfen war, und es bot die Möglichkeit, das Problem der Macht an sich zu lösen. Allerdings herrschte nur sehr bedingt Klarheit darüber, wie und unter welchen Bedingungen dieses Modell - und besonders die kollektive Sicherheit - konkret aussehen und funktionieren sollte. Schon vor Locarno unternahm Frankreich allerdings vorsichtige Versuche, kollektive Sicherheitsstrukturen - oder vielleicht besser gesagt: die dazu vorhandenen Ansätze - auszubauen. 4.1.3. Ansätze zur kollektiven Sicherheit: Von den ersten Versuchen im Völkerbund zur deutschen Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 Die Bemühungen Frankreichs, die embryonalen kollektiven Sicherheitsstrukturen - wie sie in der Völkerbundssatzung angelegt waren - weiterzuentwikkeln, können mit gewissem Recht als Versuche gewertet werden, den Völkerbund in ein verkapptes Bündnis gegen Deutschland umzuwandeln. In Paris war man bemüht, sich einerseits durch den Völkerbund die Sicherheitsgarantien zu holen, die von den USA und Großbritannien verweigert worden waren, und andererseits vor allem England - unter dem Dach des Völkerbunds - doch noch fur die Sicherheit Frankreichs zu engagieren. Solange Deutschland als der eigentliche Adressat der französischen Sicherheitspolitik nicht Mitglied des Bunds sein würde, wäre der Völkerbund in der Tat keine kollektive Sicherheitsstruktur im Sinne der Definition, sondern - wäre es zur Durchsetzung der französischen Vorschläge gekommen - ein System der kollektiven Verteidigung geworden. Allerdings war der Ausschluß Deutschlands aus dem Bund 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 199 nicht endg٧ltig46. Das System der kollektiven Verteidigung im Rahmen des Vφlkerbunds, das Frankreich Anfang der 1920er Jahre vorschlug, mußten sich also nach einem möglichen deutschen Beitritt relativ problemlos in ein kollektives Sicherheitssystem umwandeln lassen können. Insofern sind die Bemühungen Frankreichs für den Ausbau der Völkerbundsorgane auch vor dem deutschen Beitritt für das Thema von Interesse. Die Bemühungen der französischen Regierung zum Ausbau der kollektiven Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen im Rahmen des Völkerbunds, die im ersten Teil dieses Abschnitts dargestellt werden, bildeten den »französischen Weg« zur kollektiven Sicherheit. Die Politik der kollektiven Sicherheit in den 1920er Jahren hatte allerdings noch eine weitere Quelle, die hier kurz als der »deutsche Weg« zur kollektiven Sicherheit bezeichnet werden soll. Dieser »deutsche Weg« bestand vor allem aus einem System von Schieds- und gegenseitigen Garantieverträgen und begann mit dem Vorschlag Cunos zur Schaffung eines Rheinpakts Ende des Jahres 1922. Diese Vorschläge werden anschließend genauer untersucht. Die französischen Bemühungen zum Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen des Völkerbunds hatten ihren Ausgangspunkt in den Artikeln 10 bis 17 der Völkerbundssatzung47. Artikel 10 verpflichtete die Mitglieder des Bundes, die territoriale Unversehrtheit der anderen Staaten zu wahren. Artikel 11 besagte, »daß jeder Krieg oder jede Kriegsdrohung, möge dadurch eines der Bundesmitglieder unmittelbar bedroht werden oder nicht, den ganzen Bund angeht und daß dieser alle Maßregeln zur wirksamen Erhaltung des Völkerfriedens treffen muß«48. Artikel 11 bildete somit den Eckstein der kollektiven Sicherheit. In den Artikeln 12 bis 15 wurde ein Schiedsmechanismus für zwischenstaatliche Konflikte etabliert, der den Krieg zwar nicht generell verbot, bewaffnete Auseinandersetzungen aber nur noch dann erlaubte, wenn ein vorangegangenes Schlichtungsverfahren gescheitert war. Hielt sich ein Bundesmitglied nicht an diese Bestimmungen, so wurden gegen dieses die Sanktionen des Artikels 16 verhängt. Sämtliche Bundesmitglieder verpflichteten sich darin, gegenüber dem Vertragsbrüchigen Staat unverzüglich [...] alle Handels- und finanziellen Beziehungen abzubrechen, ihren Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Angehörigen des Vertragsbrüchigen Staates zu verbieten und alle finanziellen, handels- oder persönlichen Verbindungen zwischen den Angehörigen 46 Bereits in Versailles hatte die deutsche Delegation die Aufnahme in den Völkerbund gefordert, was von den Alliierten jedoch abgelehnt wurde mit der Begründung, daß die Haltung Deutschlands zum Frieden und zum Gewaltverzicht noch nicht klar sei, siehe Mantelnote. 47 Siehe NicoSRKIHC KRISCH, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, Berlin u.a. 2001 (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 151), S. 31. 48 Art. 11 der Völkerbundssatzung. 200 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung des Staates und denjenigen jedes anderen Staates abzubrechen, gleichviel ob er dem Bunde angehφrt oder nicht49. Bez٧glich der militδrischen Sanktionen war die Satzung jedoch weniger kate­ gorisch. Der Vφlkerbundsrat war lediglich in der Pflicht, »den verschiedenen beteiligten Staaten vorzuschlagen, mit welchen Land­, See­ oder Luftstreit­ krδften die Mitglieder des Bunds f٧r ihr Teil zu der bewaffneten Macht beizu­ tragen haben, die zur Wahrung der Bundespflichten bestimmt ist«50. Artikel 17 regelte die άbertragung der Mechanismen aus den Artikeln 10­16 auf diejeni­ gen Konflikte, die zwischen Mitgliedern und Nicht­Mitgliedern des Bunds auftreten konnten. In der Satzung des Vφlkerbunds waren also lediglich die Prinzipien der kollektiven Sicherheit festgelegt, kaum jedoch die Mechanis­ men (eine Ausnahme bildeten die relativ ausfuhrlichen Bestimmungen des Schiedsverfahrens der Artikel 12­15). Es wurden keinerlei Institutionen ge­ schaffen, die die Sanktionen des Artikels 16 in die Tat hδtten umsetzen kφn­ nen, zumal die Teilnahme der Mitgliedsstaaten an den militδrischen Sanktio­ nen nicht automatisch, sondern nur nach dem Willen der jeweiligen Staaten erfolgen sollte. Außerdem ließ die Satzung des Völkerbunds offen, wann der Bündnisfall eintrat. Auch die Definition des Aggressors blieb weitgehend unverbindlich: Letztlich war deijenige Staat der Aggressor, der sich nicht dem Schlichtungsverfahren des Völkerbunds beugte. Die Völkerbundssatzung hatte also, was die kollektive Sicherheit betraf, nur einen weiten Rahmen geschaffen. Ein wirksames System zur Sicherung des Friedens auf Grundlage der kollektiven Sicherheit war dadurch nicht entstanden51. Die Frage der kollektiven Sicherheit erfuhr im Völkerbund erst durch das Problem der Abrüstung wieder verstärkte Aufmerksamkeit52. Artikel 8 der Satzung forderte zwar, »daß die Aufrechterhaltung des Friedens es nötig macht, die nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß herabzusetzen«53, doch wurde die Abrüstung durch zwei wesentliche Bestimmungen im gleichen Artikel wieder relativiert. Die Abrüstung war der »nationalen Sicherheit« und »den mit der Durchführung der durch ein gemeinsames Handeln auferlegten internationalen Verpflichtungen«54 untergeordnet. Die Resolution XTV der Vollversammlung etablierte eine noch engere Verbindung zwischen Abrüstung und Sicherheit. Hier wurde festgestellt, daß »[d]ans l'6tat actuel du monde, un grand nombre de Gouvernements ne pourraient assumer la respon49 Art. 16 der Völkerbundssatzung. Ibid. 51 Siehe JABERG, Systeme, S. 446. 52 Zur Frühphase der Abrüstungsverhandlungen im Völkerbund siehe den Artikel von Chr. L. LANGE, La Soci6t6 des Nations et le probteme des armements, in: P. MUNCH (Hg.), Les origines et l'ceuvre de la Soci6t6 des Nations, Bd. 2, Kopenhagen u.a. 1924, S. 416-452. 53 Art. 8 der Völkerbundssatzung. 54 Ibid. 50 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 201 sabilite d'une serieuse reduction des armements, δ moins de recevoir en echange une garantie satisfaisante pour la securite de leur pays«55. Gemδß dieser Resolution sollten diese Sicherheitsgarantien vor allem durch ein System der kollektiven Sicherheit erreicht werden, bestehend aus »un accord defensif, accessible a tous le pays, qui engagerait les parties a porter assistance effective et imm6diate, et suivant un plan preetabli«56. Die Resolution forderte zudem die Mitgliedsstaaten und die Commission temporaire mixte57 des Völkerbunds auf, Vorschläge zur Lösung des Sicherheitsproblems zu unterbreiten58. Auch die Commission permanente consultative59 kommentierte die Resolution XTV60, woran sich allerdings die englische Regierung nicht und die italienische nur teilweise beteiligt hatten. Hauptaussage der Stellungnahme, die vor allem von den Delegierten Belgiens, Brasiliens, Frankreichs und Schwedens formuliert worden war, war, daß ein »traite general d'assistance mutuelle«61 die zeitgenössische Formulierung fur ein System der kollektiven Sicherheit nur bedingt wirksam sei und deshalb durch ein System regionaler Beistandspakte ergänzt werden solle. Die Funktion eines kollektiven Sicherheitssystems bestand laut Commission permanente darin, dem potentiellen Angreifer zur Abschreckung klar überlegene Kräfte entgegenzustellen, »d'empecher la guerre, et non pas de mettre progressivement en ceuvre des forces destinees ä la gagner«62. Es müsse ferner durch schnelle Hilfe der Paktmitglieder erreicht werden, daß das angegriffene Land nicht Opfer einer Invasion werde, und der Beistand habe militärische Unterstützung ebenso zu umfassen wie finanzielle und wirtschaftliche Hilfe. Um dies zu gewährleisten, müsse im Vorfeld ein 55 Resolution XIV der 3. Vollversammlung des Völkerbunds (27.9.1922), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux n6gociations concemant les gafanties de s6curit6 1924, Nr. 44, Anhang 8. "Ibid. 57 Die Commission temporaire mixte war eine Enquete-Kommission des Völkerbunds, deren Mitglieder nicht an Weisungen ihrer Regierungen gebunden waren. Ihre Aufgabe war es, Studien und Vorschläge in Sachen Abrüstung für den Völkerbundsrat auszuarbeiten, vgl. Resolution der 1. Vollversammlung des Völkerbunds (14.12.1920), teilw. abgedruckt in: ibid. Nr. 44, Anhang 1. 58 Siehe Resolution XIV der 3. Vollversammlung des Völkerbunds (27.9.1922), ibid. Nr. 44, Anhang 8, und Rundschreiben des Präsidenten des Völkerbundsrates (da Gama) an die Regierungen der Mitgliedsländer des Völkerbunds (o.D.), ibid. Nr. 44, Anhang 9. 59 Im Gegensatz zur Commission temporaire mixte war die Commission permanente consultative eine ständige Kommission der Bundesversammlung des Völkerbunds, in der die Mitgliedsstaaten durch weisungsgebundene Mitglieder vertreten waren. Die Aufgabe der Commission permanente war ebenfalls die Untersuchung der Abrüstungsfrage, vgl. Duroselle, Histoire, S. 52f. 60 Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds (22.4.1923), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux ndgociations concemant les garanties de s£curit6 1924, Nr. 44, Anhang 11. 61 Ibid. 62 Ibid. 202 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung genauer Plan ausgearbeitet werden, damit die Sicherheitsgarantien umgehend und effektiv griffen, und die R٧stungen aller Staaten müßten präventiv durch Kontrollen überwacht werden, wobei diese Rüstungsbestimmungen periodisch auf ihre Wirksamkeit überprüft werden müßten. Ein allgemeines, gegenseitiges Bündnis könne diese Bedingungen aber nicht erfüllen. Die Hauptschwächen dieser Lösung, so die Commission permanente, bestünden vor allem darin, daß nicht schnell und effizient auf eine Bedrohung reagiert werden könne, weil keine Einigkeit über die Definition von Aggression bestehe, und auch die »Symptome« einer Aggression nicht eindeutig interpretierbar seien. Deshalb sei es auch nicht möglich, die Verpflichtungen der einzelnen Staaten im vornherein genau festzulegen, was wiederum die Grundlage für eine schnelle Hilfeleistung im Konfliktfall wäre. Außerdem sei davon auszugehen, daß einzelnen Staaten gemäß ihrer unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten nur bedingt zur Unterstützung bereit und fähig seien. Weiteres Hindernis für ein effektives System der kollektiven Sicherheit sei, daß die Mechanismen des Völkerbunds zu langsam arbeiteten, insbesondere, weil die ersten Monate eines Konflikts entscheidend sein würden. Die Vorteile eines allgemeinen Bündnissystems lägen lediglich auf langfristigen, vor allem wirtschaftlichen und finanziellen Hilfeleistungen für den angegriffenen Staat. Zur Behebung der Schwächen eines allgemeinen Bündnissystems schlug die Commission permanente Einzel- bzw. Regionalverträge vor, die für andere Staaten offenstehen und in Ergänzung und unter dem Dach eines allgemeinen Vertrags abgeschlossen werden sollten. Durch solche regionale Bündnisse würden konkrete Planungen möglich und die Verpflichtungen der einzelnen Vertragspartner könnten genau bestimmt werden. Außerdem könne für spezifische Situationen die Aggression und die drohende Aggression genauer definiert und entsprechende Gegenmaßnahmen festgelegt werden. Konkret sollte durch diese Regionalverträge ein gemeinsamer Generalstab gegründet und der Umfang und die Zusammensetzung der von jedem Land zu entsendenden Truppen, die Pläne zu deren Transport, Versorgung und Einsatz sowie wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen festgelegt werden. Nach dem Abschluß solcherlei Verträge könnten dann auch konkrete Abrüstungsschritte festgelegt werden. Der Vorschlag der Commission permanente war sicherlich sehr stark von französischen Interessen inspiriert. Ziel der französischen Regierung war dabei ein europäisches Bündnissystem mit englischer Beteiligung im Rahmen des Völkerbunds. Im Antwortschreiben der französischen Regierung zur Resolution XIV des Völkerbunds63 wiederholte Poincare die Vorbehalte gegen einen allgemeinen Vertrag und forderte ebenfalls die Ergänzung durch regionale Abkommen, denn erst diese würden eine substantielle Sicherheitsgarantie dar- 63 Siehe Poincare an den Völkerbund (15.6.1923), ibid. Nr. 44, Anhang 12. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 203 stellen, die letztlich auch konkrete Abr٧stungsschritte erlaubten. Als weitere Bedingung stellte der franzφsische Ratsprδsident auf, daß die neu abzuschließenden Sicherheitspakte bestehende Verpflichtungen - also vor allem den Versailler Vertrag - nicht antasten dürften. Er präzisierte, daß der Aggressor derjenige Staat sei, der sich nicht an die Friedensverträge hielte und die militärische oder wirtschaftliche Mobilmachung auf eigenem Territorium oder eine heimliche Aufrüstung betreibe, wozu Poincare namentlich die »corps francs«64 zählte. Der Völkerbund untersuchte daraufhin zwei konkrete Paktvorschläge, von Lord Robert Cecil65 und einen weiteren, der vom französischen Oberstleutnant Edouard Requin ausgearbeitet worden war66. In den Entwürfen wurden die grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen der britischen und der französischen Regierung in der Sicherheitspolitik deutlich. Cecil schlug vor, erst mit der Abrüstung zu beginnen und danach konkrete Sicherheitsgarantien zu erarbeiten. Er forderte zudem den Beitritt Deutschlands zu einem allgemeinen Sicherheitsvertrag. Er lag damit ganz auf der Linie der britischen Regierung, die ein allzu großes und direktes Engagement vermeiden wollte, nichtsdestotrotz jedoch an Ruhe auf dem europäischen Kontinent interessiert war. Requin dagegen bewegte sich ganz auf der Linie der Vorschläge der Commission permanente und Poincares. Sein Entwurf befaßte sich hauptsächlich mit der Ausgestaltung der Einzelverträge im Sinne der beiden vorgenannten Stellungnahmen und spiegelte auch die Auffassung des französischen Militärs wider67. Die französische Position faßte sicherlich die Schwächen des Systems der kollektiven Sicherheit zutreffend zusammen, vor allem, was seine Effizienz und Reaktionsfähigkeit anging. Allerdings ist zu fragen, ob die Änderungen, die Frankreich vorschlug, nicht die Grundannahmen der kollektiven Sicherheit auf den Kopf stellten. Die von Frankreich geforderten regionalen Bündnisse wären nur dann mit den Prinzipien der kollektiven Sicherheit vereinbar gewesen, wenn alle Staaten, zwischen denen ein gewisses Konfliktpotential bestand, Mitglied eines solchen Regionalpakts geworden wären. Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Regionalpakt, den Frankreich im Sinne hatte, den eigentlichen Unruheherd - Deutschland - nicht miteinbeziehen sollte. Dies wird zwar an keiner Stelle explizit gesagt, doch gibt es deutliche Anhaltspunkte: Der Verweis Poincares auf die »Freikorps« als Methode der heimlichen Aufrüstung und sein Beharren auf die Einhaltung des 64 Ibid. Text des Paktvorschlags in: ibid. Nr. 44, Anhang 13. 66 Text dieses Entwurfs in: MAE 1918-1940 Y (Internationale), 506. 67 »Note au sujet de l'examen technique du projet de Convention gfe6rale d'assistance mutuelle present6 par le Lt. Colonel Requin« (ohne Unterschrift) (28.6.1923), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 506. 65 204 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Versailler Friedensvertrags machen deutlich, daß sich die Vorschläge vor allem gegen Deutschland richteten, zumal die Aufnahme Deutschlands in das zu schaffende System der Regionalverträge von Frankreich nicht einmal erwähnt wurde. Die Maßnahmen, die innerhalb der Regionalbündnisse ergriffen werden sollten, wie z.B. die Schaffung eines gemeinsamen Generalstabes und eine enge militärische Zusammenarbeit sowie die Überwachung der Abrüstungsund Entwaffnungsbedingungen, waren außerdem bereits Bestandteile eines britisch-französischen Bündnisprojekts gewesen, das Briand am 8. Januar 1922 Lloyd George auf der Konferenz von Cannes unterbreitet hatte68. Nach dem Regierungswechsel hatte Poincare diese Linie weiter vertreten69, während Lloyd George weiterhin nicht bereit gewesen war, mehr als ein Defensivbündnis mit Frankreich einzugehen70. Auf deutscher Seite wurde das Projekt Requins ebenfalls mit äußerster Skepsis bewertet. Generalmajor Otto Hasse, Chef des Truppenamtes im Reichswehrministerium, analysierte, das Ziel Frankreichs sei es, »Deutschland von dem allgemeinen Garantievertrag auszuschließen, um unter Vortäuschung einer dauernden bestehenden deutschen Gefahr die französischen Rüstungen aufrechterhalten zu können«71 und um Deutschland weiterhin zu isolieren. Außerdem sei die Forderung, erst Garantien zu schaffen und dann abzurüsten, ein Manöver, um die Abrüstungsvorschläge Englands faktisch zu unterlaufen. Deutschland, so Hasse weiter, könne nur dann einem Garantiepakt beitreten, wenn es eine Kompensation erhielte, die »die schweren Nachteile des Beitrittes zum Garantiepakt wert wäre: Revision des Versailler Vertrags. Minimum unserer Bedingungen« seien Garantien gegen die »französische Gewalt- und Sanktionspolitik«72, Sicherheiten für Deutschland bezüglich des Durchmarschrechts im Falle der Anwendung von Sanktionen des Völkerbunds (Artikel 16) und keine einseitigen, nur Deutschland betreffenden demilitarisierten Zonen. Hasse lehnte jede Form von regionalen Garantieabkommen ab, nur ein allgemeiner Pakt sei - unter den genannten Bedingungen - akzeptabel. Es müsse aber vermieden werden, daß Deutschland fur das Scheitern des Pakts verantwortlich gemacht würde, weil Frankreich dies als Beweis für den deutschen schlechten Willen sehen und so die Abrüstung weiter verhindern würde: »Sache gewandter Diplomatie würde sein, unsere Bedingungen so mit der Bereit68 Siehe »Expos6 des vues du Gouvernement fran^ais sur les relations franco­britanniques. Remis δ M. Lloyd George parxutsrqponmlifedcaDB Μ. Briand« (8.1.1922), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nögociations concemant les garanties de sicurite 1924, Nr. 21. 69 Siehe Poincari an Saint-Aulaire (23.1.1922), ibid. Nr. 23. 70 Vgl. ibid. und Aide-Mimoire Lloyd Georges an Briand (4.1.1922), ibid. Nr. 20, Britischer Bündnisentwurf, abgedruckt als Anhang zu: Briand an die französischen Botschafter in London, Rom, Washington, Brüssel, Berlin und die Gesandtschaft in Warschau (13.1.1922), ibid. Nr. 22. 71 Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A VIE, Nr. 121, siehe auch zum folgenden. 72 Ibid. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 205 Willigkeit zu einem idealen Garantievertrag und zu einem idealen Vφlkerbund zu verbinden, daß wenigstens in den Augen aller Neutralen den Westmächten Stoff zu zugkräftiger Propaganda gegen uns genommen ist«73. Ausgehend von den Paktvorschlägen Cecils und Riquins legte die Commission temporaire mixte einen Entwurf vor, der vor allem auf dem Entwurf Requins fußte, aber auch Elemente des Cecil-Plans inkorporierte74. Die dritte Kommission der Bundesversammlung - unter Vorsitz des polnischen Außenministers Skirmunt mit seinem tschechoslowakischen Kollegen Beneä als Berichterstatter, die beide aufgrund der engen Verbindungen ihrer Länder zu Frankreich den französischen Vorstellungen sicherlich recht nahe gestanden haben dürften - überarbeitete diesen Entwurf75 leicht. Er wurde schließlich einstimmig am 19. September 1923 von der Bundesversammlung angenommen76. Allerdings fand der Entwurf Beneä und Skirmunts nicht die Unterstützung der einzelnen Mitgliedsstaaten und wurde nicht weiter verfolgt77. Vor allem die englische Regierung verweigerte ihre Zustimmung78. Damit war aber die Idee, den Völkerbund zu einem Organ kollektiver Sicherheit auszubauen, nicht tot. Im Gegenteil, durch den Regierungsantritt MacDonalds Anfang 1924 kam Bewegung in die bis dahin skeptische und vorsichtige Haltung der britischen Regierung. MacDonald sah in sich antagonistisch gegenüberstehenden Bündnissen die größte Gefahr für den Frieden, und nur eine kollektive Sicherheitsstruktur im Rahmen des Völkerbunds konnte seiner Ansicht nach zu einer wirklichen und dauerhaften Befriedung Europas führen79. In einem auch veröffentlichten Briefwechsel zwischen ihm selbst und Poincarö legte er die Ziele seiner Politik dar: Ausgehend von der Überzeugung, daß »das Problem der Sicherheit nicht allein ein französisches Problem ist«, sondern ein »europäisches«80, müsse als Fernziel die allgemeine Abrüstung und Schiedsgerichtsbarkeit angestrebt werden. Bis dies erreicht sei, solle versucht werden, die Lage in Europa durch Entwaffnung und die Schaffung neutraler Zonen zu stabilisieren. Dem Völkerbund maß er bei allen Maß73 Ibid. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift für den Minister (1.10.1923), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nigociations concernant les garanties de söcuritö 1924, Nr. 44. 75 Siehe »Extrait du rapport de la troisifeme Commission ä la quatri&ne Assemblöe« [o.D.], ibid. Nr. 44, Anhang 17. 76 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift fiir den Minister (1.10.1923), ibid. Nr. 44; Auszug aus dem Protokoll der 19. Sitzung der Bundesversammlung (29.9.1923), ibid. Nr. 44, Anhang 18. 77 Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.195), ADAPrN Α ΧΠ, Nr. 137; Marie-Renöe MOUTON, La Soci6t6 des Nations et les intörets de la France, Bern u.a. 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 628), S. 309-312. 78 Siehe TOWLE, British Security Policy, S. 137f. 79 Siehe Sthamer an AA (24.1.1924), ADAP A I X , Nr. 110; WURM, Sicherheitspolitik, S. 61. 80 MacDonald an PoincarS (21.2.1924), MAE PAAP 261, 3. 74 206 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung nahmen eine zentrale Rolle zu81. Poincare stand diesen Vorschlδgen positiv gegen٧ber, wobei er jedoch besonders betonte, daß durch diese Vorschläge eine substantielle Verbesserung der Sicherheitslage erreicht werden müsse82. Am 22. Februar 1924 unternahm der französische Botschafter in London, Saint-Aulaire, eine entsprechende Demarche bei der britischen Regierung83. Zu weitergehenden Schritten kam es jedoch zunächst nicht. Der Dawes-Plan bestimmte die Diplomatie und ein geplantes Treffen zwischen MacDonald und Poincare am 19. Mai 1924 kam nicht mehr zustande, nachdem Poincare zuvor in den Kammerwahlen dem Linkskartell unterlegen war84. Der neue französische Ministerpräsident Herriot versuchte, stärker noch als sein Vorgänger, durch eine internationale Lösung im Rahmen des Völkerbunds zu einer Verbesserung der französischen Sicherheitslage zu kommen, wobei er sich zunächst vor allem auf das Requin-Projekt stützte, dem die englische Seite jedoch mit Vorbehalten begegnete85. In den Gesprächen in Chequers am 21. und 22. Juni 1924 zwischen Herriot und MacDonald spielte die Sicherheit ebenfalls eine wichtige Rolle86. Allerdings kamen die beiden Regierungschefs zu keinen konkreten Absprachen in dieser Frage: Man beschloß lediglich, die anstehenden Probleme nacheinander zu lösen, wobei zuerst eine Lösung für die Reparationen, anschließend fur die Kriegsschulden und erst danach für die Sicherheitsfrage gefunden werden sollte87. Auch beim englischfranzösischen Gipfel vom 9. Juli 1924, der der Vorbereitung der Londoner Konferenz dienen sollte, kam es zu keinen wesentlichen Fortschritten88. Neuerliche Versuche der französischen Regierung, auf der Londoner Konferenz im August 1924 die Sicherheitsfrage ins Gespräch zu bringen, waren ebenfalls ohne durchschlagenden Erfolg geblieben: Am 11. August 1924 legte die französische Delegation in London der englischen Regierung ein Memorandum zur Sicherheitsfrage vor89. Darin stellte die französische Regierung fest, daß der Versailler Vertrag nicht ausreiche, um die Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten und Frankreich zudem einen Anspruch auf zusätzliche Sicherheitsgarantien habe, da die amerikanischen und englischen Bestandspakte im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag nicht zustande gekommen seien. Frankreich forderte außerdem die strikte Durchführung des Versailler Vertrags, also vor allem die Beibehaltung der Besetzung des Rheinlands und die 81 Siehe ibid. SiehezvutsrponmlkihgfedcbaZYWVUTSRPONMKJECBA ΒΑΚίέΤΥ, Relations franco­allemandes, S. 296. 83 Vgl. Saint­Aulaire an Poincare (22.2.1924), BPPB 1 Cabet 1,187. 82 84 85 Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 400. Siehe BARlfiTY, Relations franco­allemandes, S. 596f. 86 Zu Einzelheiten vgl. Kap. 3.2. 87 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 200. 88 Siehe gemeinsames französisch-britisches Memorandum (9.7.1924), Weißbuch Londoner Konferenz, Nr. 9. 89 Zum folgenden siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 200-202. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 207 άberwachung der entmilitarisierten Zonen in Deutschland durch den Vφlker­ bund. Außerdem wünschte Frankreich den Abschluß eines Defensivbündnisses zwischen Frankreich und England, eventuell erweitert durch Belgien und andere Nachbarstaaten Deutschlands. Komplettiert werden sollte dieses Sicherheitsprogramm durch einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und den Alliierten, wobei alle diese Verträge unter das Dach des Völkerbunds gestellt werden sollten. Die Absicht, die Frankreich mit dem Sicherheitsmemorandum verfolgte, war jedoch nicht in erster Linie, einen neuen Plan zur Lösimg des Sicherheitsproblems vorzulegen90. Paris wollte vor allem erreichen, daß London, nach vagen Zusagen und der Überweisung des Problems an Experten, endlich konkret seine Position zur Sicherheitsfrage darlegte. Außerdem versuchte die französische Regierung zu verhindern, daß England sich einseitig aus der Kölner Zone zurückzog, deren Räumung am 10. Januar 1925 anstand. In dieser Hinsicht war der Vorstoß der französischen Delegation durchaus erfolgreich: England stimmte zu, die Kölner Zone erst dann zu räumen, wenn die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei feststand, und daß diese nach der Auflösung der IMKK durch ein Völkerbundsorgan überwacht werden sollte91. Auf der Bundesversammlung des Völkerbunds kam wieder Bewegung in die Sicherheitsfrage. In seiner Rede vor der Vollversammlung forderte MacDonald am 4. September 1924 den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, was jedoch bei Frankreich und seinen Verbündeten nur auf mäßige Resonanz stieß92. Am folgenden Tag legte Herriot die französischen Forderungen dar: Er verlangte, daß Deutschland erst dann dem Völkerbund beitreten könne, wenn es die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags erfüllt habe und lehnte eine Änderung der Völkerbundssatzung besonders im Hinblick auf einen deutschen Ratssitz ab93. Am Ende der Bundesversammlung kam es mit dem Genfer Protokoll vom 26. September 192494 in der Sicherheitsfrage jedoch zu einer wichtigen Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien. Das Protokoll stellte eine bedeutende Konkretisierung und Erweiterung der in der Völkerbundssatzung nur rudimentär angelegten Organe und Maßnahmen der kollektiven Sicherheit dar. Es sah die obligatorische und lückenlose Schlichtung durch den Völkerbundsrat vor95. Die Mobilisierung von Truppen 90 Hierzu siehe ibid. S. 202. " Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 638; Hoesch an AA (24.8.1924), ADAP A XI, Nr. 51. 92 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 561. 93 Siehe ibid. 94 Der endgültige Text des Protokolls wurde am 26.9.1924 vorgelegt. Eine Resolution, in der die Mitgliedsstaaten zur Annahme des Protokolls aufgefordert wurden, wurde am 2.10.1924 einstimmig verabschiedet, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 462f. Der Text des Protokolls ist abgedruckt in: ibid. S. 464-470. 95 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPzutsronihgfecXUPNIDA Α ΧΠ, Nr. 137; Aufzeich­ nung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228. 208 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung sollte f٧r den Zeitraum der Schlichtungsverhandlungen untersagt und dies durch den Vφlkerbund ٧berwacht werden. Die Einrichtung demilitarisierter Zonen sollte der Krisenprδvention dienen. Auch die Definition des Aggressors wurde verbessert: Der Aggressor war nun diejenige Partei, die den Schieds­ spruch des Vφlkerbunds nicht akzeptierte, wobei die Aggression bereits dann eintrat, wenn eine bestehende demilitarisierte Zonen verletzt wurde. Außerdem wurden die Sanktionen und die Hilfeleistungen, die der angegriffenen Nation im Konfliktfall zukommen sollten, konkretisiert. Die Sanktionen gegen den Aggressor und die Hilfeleistung für das Opfer sollten außerdem nicht mehr nur einstimmig, sondern mit Zweidrittel-Mehrheit vom Völkerbundsrat beschlossen werden können. Allerdings sollte das Protokoll erst nach erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen in Kraft treten. Das Genfer Protokoll bedeutete einen Kompromiß zwischen der französischen und der englischen Position96: Während die Engländer der Abrüstung Priorität einräumten, bestanden die Franzosen weiterhin darauf, daß zuerst die Sicherheitslage verbessert werden müsse, der dann die Abrüstung folgen könne. Die im Genfer Protokoll gefundene Formel lautete: Schlichtung schafft Sicherheit und ermöglicht so Abrüstung. Deutschland, das als Nichtmitglied des Völkerbunds natürlich nicht an der Ausarbeitung des Genfer Protokolls beteiligt, aber zu dessen Unterzeichnung eingeladen worden war, lehnte das Projekt weitgehend ab. In einer Aufzeichnung aus dem Reichswehrministerium hieß es: Als Gesamturteil ٧ber die Bestimmungen des >Protokolls< ergibt sich sonach, daί aus einer Annahme sich f٧r Deutschland keinerlei Vorteile ergeben w٧rden. [...] Was Frankreich sucht und durch den Völkerbund erreichen will, sind nicht Schiedsgerichte, die der Starke nicht braucht, sondern Sicherung gegen Deutschland. Der Beistand, den ihm seine Vasallenstaaten leisten können, genügt ihm nicht; es will ein Bündnis mit England [...] [S]ein97 eigentliches Ziel ist die Niederhaltung Deutschlands im französischen und englischen Interesse98. Im einzelnen wurde kritisiert, daß der Völkerbundsrat, dem eine Schlüsselposition in dem neuen Sicherheitssystem zukam, keineswegs unparteiisch, sondern einseitig zugunsten der Sieger eingenommen sei. Außerdem müsse Deutschland unerträgliche Zugeständnisse bezüglich des Durchmarschrechts machen, und die für das Reich inakzeptable dauerhafte Überwachung der demilitarisierten Zonen durch den Völkerbund würde endgültig anerkannt. In die gleiche Kerbe schlug Gaus in seiner Stellungnahme zum Genfer Protokoll": Er hob hervor, Deutschland könne dem Protokoll erst dann beitreten, wenn es 96 Siehe GlRAULT, Europe, S. 141. Gemeint ist das Genfer Protokoll, R.B. 98 Aufzeichnung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228. Zum folgenden siehe ibid. 99 Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPrN Α ΧΠ, Nr. 137. 97 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 209 selbst einen Ratssitz erhalte, weil die Stellung des Rates durch das Protokoll enorm aufgewertet w٧rde. Selbst in diesem Falle aber sei das Protokoll f٧r Deutschland von Nachteil, weil es keine territoriale Revision mehr zuließe und die bereits bestehenden demilitarisierten Zonen, vor allem auf deutschem Boden, sanktioniere. Nach der Bundesversammlung des Völkerbunds im September 1924 hatte Frankreich in der Sicherheitspolitik also wichtige Erfolge errungen: Es hatte erreicht, daß das Junktim zwischen deutscher Entwaffnung und Überwachung der Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags einerseits und Räumung der Kölner Zone andererseits von Großbritannien anerkannt wurde. Mit dem Genfer Protokoll schien außerdem ein langgehegter französischer Wunsch in Erfüllung zu gehen: die weitgehende Garantie seiner Sicherheit durch den Völkerbund unter Beteiligung Englands. So konnte Hoesch der Aussage der »Neuen Zürcher Zeitung«, die Bundesversammlung in Genf habe »dem außenpolitischen PrestigetsroieH Herriots [Herv. i.O.] neuen Zuwachs gebracht«100, nur beipflichten: Die Verhandlungen in Genf haben zu einem unbestreitbaren Triumph der französischen Thesen gefuhrt. Die außerordentlich glänzend und geschickt zusammengesetzte französische Delegation hat die geistige und moralische Leitung der Versammlung bald an sich gerissen und es damit verstanden, Frankreich nach einer langen Periode moralischer Isolierung wieder an die Spitze der europäischen Nationen zu führen101. Allerdings: Noch war das Genfer Protokoll nicht verabschiedet. Vor allem in England war das Unbehagen über die weitreichenden Verpflichtungen des Protokolls groß102, so daß selbst unter einer von Labour geführten Regierung die Annahme fragwürdig schien103. Nach dem Regierungswechsel in Großbritannien im November 1924104, der die Konservativen mit Baldwin als Premierminister an die Macht brachte, wurde die Annahme des Protokolls durch London immer unwahrscheinlicher. Bereits Anfang Dezember 1924 befürchtete die französische Regierung, daß der neue britische Außenminister Austen Chamberlain die Vereinbarung ablehnen würde und versuchte nun verstärkt, auf dessen Durchsetzung zu drängen105. Am 4. Dezember 1924 beschloß das Committee of Imperial Defense, das Protokoll zu verwerfen, machte diese Ablehnung aber noch nicht publik, weil englischerseits vermieden werden sollte, als Bremser in der Sicherheitsfrage dazustehen, zumal kein schlüssiges Alter100 »Frankreich und Genf«, Neue Zürcher Zeitung (9./10.10.1924). Hoesch an AA (6.11.1924), ADAP A XI, Nr. 146. 102 Siehe ibid. 103 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 208. 104 Zu den Hintergründen siehe Kurt KLUXEN, Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 41991, S. 767f. 105 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.12.1924), MAE PAAP 89, 19. 101 210 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung nativkonzept vorgelegt werden konnte106. Damit war das Protokoll »>dead as mutton or dead as nuts<«107, schon lange bevor Chamberlain φffentlich die Ab­ lehnung der englischen Regierung am 12. Mδrz 1925 bekannt gab108. Gr٧nde hierf٧r waren, wie bereits erwδhnt, die zu weitgehenden Verpflichtungen, die das Protokoll f٧r England bedeutet hδtte, denn letztendlich hδtte England da­ mit auch die Grenzen in Osteuropa sanktioniert. Außerdem sprachen sich die Dominions gegen das Protokoll aus und man befürchtete in London, die USA im Falle einer Annahme zu verstimmen109. In der Forschung wurde das Genfer Protokoll weitgehend positiv gewürdigt110. Der Biograph Herriots, Berstein, sieht darin »le sommet d'action d'Edouard Herriot«111, dem es gelungen sei, pazifistische Ideale mit den Bedürfnissen der Sicherheitspolitik zu vereinen: »l'idee du Protocole represente l'avancee la plus concrete des principes wilsoniens de securite collective et la seule tentative s6rieuse pour les faire sortir du domaine de la phraseologie officielle«112. Das weitere Schicksal des Genfer Protokolls war aber auch kennzeichnend für das Dilemma der französischen Sicherheitspolitik in den 1920er Jahren: Sicherheit ließ sich nur zusammen mit England erreichen, England jedoch widersetzte sich den französischen Bündnisavancen hartnäckig. An der britischen Verweigerung scheiterten letztendlich alle Versuche, den Völkerbund als Organ der kollektiven Sicherheit auszubauen. Bezüglich der Sicherheitspolitik versuchte Frankreich, zum Teil parallel, zum Teil in Ergänzung und zum Teil im Widerspruch zu den anderen beiden möglichen Strategien - die Politik der Stärke und der Bündnispolitik - , am Ausbau der kollektiven Sicherheit im Rahmen des Völkerbunds mitzuwirken. Dies geschah nicht aus Uneigennutz: Da sich Frankreich langfristig nicht in der Lage sah, Deutschland im Zaum zu halten - und eine Politik der Stärke somit dauerhaft scheitern mußte - und vor allem Großbritannien sich nicht bereit fand, Bündnisverpflichtungen einzugehen, versuchte es, durch den Ausbau der kollektiven Sicherheit die als notwendig empfundenen Garantien für seine utsriec securite zu schaffen. Auch hierbei ging es Frankreich weniger um das Prinzip der kollektiven Sicherheit selbst als um die Verwirklichung nationaler Ziele: Die Vorschläge Frankreichs, ob es sich nun um das Projekt Requins oder das Genfer Protokoll handelte, hatten zumindest implizit eine antideutsche Spitze. 106 Siehe Jon JACOBSON, Locarno Diplomacy. Germany and the West, 1925­1929, Princeton 1972, S. 14f. 107 Dufour an Schubert (22.1.1925),zyutsrqponmlkihgfedcbaWUTSRPNMLIHGEDBA ΡAAA R, 19304. 108 Siehe Hoesch an AA (13.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 164. 109 Siehe Gaiffier an Hymans (10.3.1925), Documents diplomatiques beiges 1920­1940. La politique de s6curit6 extöieure, Bd. Π: 1925­1931. 110 Siehe z.B. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 62; BERSTEIN, Herriot, S. 121; GIRAULT, Europe, S. 124f.; WURM, Sicherheitspolitik, S. 204f. 111 BERSTEIN, Herriot, S. 120. 1,2 Ibid. S. 121. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 211 Die franzφsische Politik konnte sich also nicht ganz dem Vorwurf entziehen, sie habe die kollektive Sicherheit benutzt, um letztendlich doch herkφmmliche B٧ndnispolitik ­ die Politik der kollektiven Verteidigung ­ zu betreiben. Diese Kritik ist meines Erachtens nicht vφllig haltlos, greift aber zu kurz: Deutsch­ land war aus den Plδnen Frankreichs nie explizit ausgeschlossen, so daß das Genfer Protokoll, wäre es verabschiedet worden, nach dem möglichen Beitritt Deutschlands zum Völkerbund durchaus zu einem System kollektiver Sicherheit hätte werden können. Natürlich hatte Frankreich versucht, dieses System nach seinen Gunsten und Vorstellungen zu gestalten: Die demilitarisierten Zonen hätten vor allem Deutschland betroffen, und die territoriale Revisionspolitik wäre ein für alle Mal vom Tisch gewesen. Letztendlich jedoch scheiterte der Ausbau des Völkerbunds zu einem Organ der kollektiven Sicherheit - der französische Weg zur kollektiven Sicherheit nicht an Deutschland, sondern vor allem an Großbritannien, das sich zu weitgehenden Verpflichtungen nicht in der Lage sah. Da Frankreich aber außerstande war, seine Sicherheit allein zu gewährleisten und Großbritannien neue Sicherheitsgarantien verweigerte, war die französische Sicherheitspolitik Ende des Jahres 1924 in eine Sackgasse geraten. Alle drei möglichen Sicherheitspolitiken waren blockiert: Kollektive Sicherheit und Bündnispolitik scheiterten an der mangelnden Bereitschaft des potentiell wichtigsten Verbündeten, England. Die Politik der Stärke, die langfristig wegen des gewaltigen wirtschaftlichen Potentials Deutschlands keinen Erfolg haben konnte, war ebensowenig erfolgversprechend - zumal sich Paris nach dem Ruhrkampf auch international verpflichtet hatte, diese Politik nicht mehr weiter zu verfolgen. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom 9. Februar 1925, die zu den Verträgen von Locarno führte und im nächsten Kapitel dargestellt wird, war vor allem auch deshalb erfolgreich, weil alle anderen französischen Sicherheitsstrategien blockiert waren. Anders als die französische Strategie zur kollektiven Sicherheit, die vor allem auf den Völkerbund setzte, bestand die deutsche Sicherheitspolitik nach dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich darin, ein Netz bilateraler Schiedsverträge - im Westen später ergänzt um einen »Rheinpakt« - aufzubauen. Die Konzentration der deutschen Politik auf die Schiedsgerichtsbarkeit war deshalb erstaunlich - und dies ist als eine große methodische Neuerung der Diplomatie des AA zu sehen —, weil sich das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg auf den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 »konsequent abweisend gegenüber jeder Einschränkung der selbstherrlichen Souveränität bei der Entscheidung über Krieg und Frieden und über die Anwendung schiedsgerichtlichen Verfahrens«113 gezeigt hatte. 113 Peter KRÜGER, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt, in: VfZG 22 (1974), S. 227-257, hier S. 233. Zu den Haager Friedenskonferenzen siehe auch: Jost DÜLFFER, Frieden als Herausfor- 212 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Die deutsche Politik schlug nach dem Weltkrieg den Weg zum Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit vor allem deshalb ein, weil sie generell dem Vφlker­ bund wenig Vertrauen entgegenbrachte und ihn vor allem als Organ der Sieger betrachtete, durch das diese Deutschland ihre Politik aufzwingen wollten114. Durch die Schiedsvertragspolitik konnte man dagegen Friedenswillen demon­ strieren und trotzdem Abstand zum Vφlkerbund wahren. Da Sicherheitspolitik an sich kein Imperativ deutscher Außenpolitik, sondern nur eine Funktion der Revisionspolitik war, durfte sie das Hauptziel deutscher Politik, die Revision, so wenig wie möglich behindern bzw. sollte die Erreichung dieses Zieles erst ermöglichen115. Anders als das französische Sicherheitskonzept ermöglichte die Schiedsgerichtsbarkeit eine Politik des friedlichen Wandels, aus deutscher Perspektive also Revision. Aus Sicht des AA mußte sie deshalb notwendigerweise auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen, was vor allem die Aufhebung einseitiger Bestimmungen des Versailler Vertrags zu Deutschlands Ungunsten, wie z.B. die Demilitarisierung des Rheinlandes und einiger Grenzgebiete - wiederum ein Revisionsziel! - beinhaltete116. Die zweite Komponente deutscher Sicherheitspolitik, der Rheinpakt, wurde Ende des Jahres 1922 erstmals ernsthaft von der Reichsregierung ins Auge gefaßt. Dadurch sollte die Politik des friedlichen Wandels, die in der Schiedsvertragspolitik zum Ausdruck kam, abgesichert werden, indem auf das französische Sicherheitsbedürfnis stärker Rücksicht genommen wurde. Das AA forderte in einem Telegramm vom 13. Dezember 1922 den deutschen Botschafter in Washington, Wiedfeldt, auf, bei der amerikanischen Regierung eine Demarche folgenden Inhalts zu unternehmen117: Die USA sollten den am Rhein interessierten Mächten Deutschland, Frankreich, England und Italien (Belgien wurde nicht genannt) vorschlagen, daß diese sich »gegenseitig zu treuen Händen der Regierung der Vereinigten Staaten« für »ein Menschenalter ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung keinen Krieg gegeneinander [zu] führen«118 verpflichteten. Um die Akzeptanz des Vorschlags vor allem bei Frankreich zu erhöhen, versuchte die Reichsregierung, die amerikanische Regierung dazu zu bewegen, die Initiative zu übernehmen. Der amerikanische Außenminister Hughes unterbreitete dem französischen Botschafter derung. Die Instrumentalisierung der Haager Friedenskonferenzen in der Großmächtepolitik, in: Jacques BARliTY, Antoine F l e ur y (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern u.a. 1987, S. 201-221. Zur deutschen Position siehe insbes. ibid. S. 208-212. 114 So zmVBA .B. Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vm, Nr. 121; Aufzeichnung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228. 115 Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPzutsronmlihgfedcbaSRNMCA Α ΧΠ, Nr. 137. 116 Siehe Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, ΡAAA R, 70103, S. 108. 117 Siehe ibid. S. 67f.; AdR Cuno, Nr. 42, Anm. 9. 118 Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, ΡAAA R, 70103, S. 67f. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 213 in Washington Jusserand das Projekt jedoch als deutschen Vorschlag119. Poin­ care reagierte skeptisch auf die Initiative120: Er lehnte es ab, das Volk ٧ber Krieg und Frieden abstimmen zu lassen, was im Gegensatz zur franzφsischen Verfassung st٧nde. Außerdem könne man den Deutschen nicht trauen - wenn sie Krieg wollten, würden sie ihn führen, mit oder ohne Volksabstimmung. Allerdings erkundigte sich Jusserand, wie sich die USA konkret an einem solchen Vertrag beteiligen würden, also ob die Vereinigten Staaten bereit wären, als Garantiemacht aufzutreten. Hughes stellte jedoch umgehend klar, daß die USA nicht an eine Garantie dächten, sondern nur als moralische Instanz einbezogen werden wollten. Dadurch hatte der deutsche Vorschlag für Frankreich jeden Charme verloren:zwvutsrponmlkihgfedcbaWVSRLFD »Der deutsche Versuch, Frankreich von einer aggressiven Wendung seiner Reparationspolitik durch eine sensationelle Lösung der Sicherheitsfrage abzulenken [!], war misslungen [Herv. i.O.]«121. In der Analyse der Sicherheitsinitiative und ihres Scheitems122 kam die deutsche Seite außerdem zu dem Schluß, daß es ein Fehler gewesen sei, die Dauer des Vertrags auf ein »Menschenalter« festzulegen. Diese Formulierung war deutscherseits zwar als dehn- und verhandelbarer Begriff gedacht, wurde jedoch von Poincard sofort als zeitlich zu eng begrenzt interpretiert. Auch die Volksabstimmung, die von der Reichsregierung als Verstärkung der Sicherheitsgarantie ins Spiel gebracht worden war, wurde in Paris im Gegenteil als Aufweichung des Vorschlags gesehen. Die Geheimhaltung des Vorschlags vor England und Italien, die zwar beide Vertragspartner werden sollten, aber nicht von der deutschen Initiative informiert worden waren, wurde deutscherseits ebenfalls selbstkritisch für das Scheitern verantwortlich gemacht, denn so sei es Frankreich leichter gefallen, den Plan abzulehnen. Die fehlende amerikanische Garantie (und wohl auch das fehlende amerikanische Interesse an dem Vorschlag) wurden auf deutscher Seite jedoch nicht ausdrücklich als Ursache für den mißglückten Versuch genannt. Obwohl der Sicherheitspakt also faktisch schon Ende 1922 gestorben war, versuchte Cuno am 31. Dezember 1922 in einer Rede in Hamburg, dem Projekt neues Leben einzuhauchen, indem er seinen zuvor geheim gehaltenen Paktvorschlag nun öffentlich wiederholte123. Dies scheiterte jedoch, weil die Lage sich nicht grundsätzlich geändert hatte. Der englische Botschafter 119 Siehe ibid. S. 68. Aus der Aufzeichnung Hughes über das Gespräch mit Wiedfeldt am 15.12.1922 geht jedoch nicht hervor, daß Wiedfeldt Hughes davon überzeugen wollte, es solle so aussehen, daß der Sicherheitspaktvorschlag amerikanischen Ursprungs sei, siehe Aufzeichnung Hughes (15.12.1922), FRUS 1922,zutsronmlihgfedcbaZUSRPNMHFCA Π, S. 203f. 120 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Hughes (21.12.1922), FRUS 1922, Π, S. 206f. 121 Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, PAAAR, 70103, S. 70. 122 Zum folgenden siehe ibid. 123 Siehe Rede Cunos in Hamburg (31.12.1922), AdR Cuno, Nr. 32. 214 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung D'Abernon hatte die Rede Cunos »abfδllig kritisiert«124, wobei er sich beson­ ders an dem Teil ٧ber die Volksabstimmung stieß. Trotz des gescheiterten Versuchs, durch einen Rheinpakt die Lage an der deutschen Westgrenze und besonders im Rheinland zu konsolidieren, gingen im AA die Überlegungen in diese Richtung weiter. Die Reichsregierung hatte durch ihren Vorschlag zwar nicht die Besetzung des Ruhrgebiets verhindern können, jetzt wollte sie aber vermeiden, daß Frankreich in den besetzten Gebieten Maßnahmen ergriff, »die unsere Hoheitsrechte über die Rheinlande weiter beeinträchtigen und deren Befreiung von der Besetzung hinausschieben«125. Außerdem befürchtete der deutsche Außenminister Rosenberg, London könnte gegenüber der französischen Machtpolitik einknicken, so daß es den Franzosen gelänge, »die Engländer, besonders in der Frage der politischen Sicherheiten, auf Lösungen festzulegen, die für uns unannehmbar sind«126. In internen Überlegungen machte die deutsche Seite bedeutende Modifikationen an ihrem ursprünglichen Vorschlag127. Sie war jetzt bereit, die Vertragsdauer zu verlängern und den Passus über die Volksabstimmungen fallen zu lassen. Ein gänzlich neues Element war ein zusätzlicher deutschfranzösischer Schiedsvertrag, so daß man zu diesem Zeitpunkt - im März 1923 - davon sprechen kann, daß Pakt- und Schiedsvertragspolitik, die bis dahin nebeneinander existiert hatten, zu einem Sicherheitskonzept verschmolzen wurden. Damit waren zwei wesentliche Elemente der deutschen Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 konstituiert: Rheinpakt und Schiedsvertrag. Am 2. Mai 1923 unternahm Cuno einen erneuten Vorstoß in der Sicherheitsfrage128, in der sich wesentliche Elemente eines Vorschlags für einen Sicherheitspakt aus der Feder Schuberts129 wiederfanden: Darin sollten sich Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz »und vielleicht auch Luxemburg«130 (Belgien fehlte wiederum) verpflichten, den gegenwärtigen Besitzstand zu garantieren, wobei die Verletzung der Grenzen »als eine Angelegenheit gemeinsamen Interesses«131 gelten sollte. Das Projekt sah außerdem die Garantie der Entmilitarisierungsbestimmungen (Art. 42 und 43 des Versailler Vertrags) sowie einen deutsch-französischen Schiedsvertrag vor. Der Pakt sollte auf 99 Jahre geschlossen werden. Damit waren die Volksabstimmung und die Begrenzung des Abkommens auf 30 Jahre endgültig vom 124 Rosenberg an Botschaft London (2.1.1923), ADAP A VII, Nr. 3. Rosenberg an Botschaft London (20.3.1923), ADAP A VII, Nr. 153. 126 Ibid. 127 Siehe ibid. 128 Siehe Materialien zur Sicherheitsfrage 1924,zutrnmihgfecbVSRPNIDA ΡAAA R, 70103, S. 70; ADAP A VII, Nr. 213, Anm. 1. 129 Siehe Aufzeichnung Schubert (25.4.1923), ADAP Α Vü, Nr. 203. 130 Ibid. 131 Ibid. 125 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 215 Tisch. Auch schien man erkannt zu haben, daß die Vereinigten Staaten nicht bereit waren, sich politisch oder sogar militärisch zu engagieren, weshalb auch dieses Element fortfiel. Allerdings, in der damaligen politischen Lage hatte der Paktvorschlag wenig Chancen auf Verwirklichung: Frankreich fing gerade an, das Ruhrpfand in den Griff zu bekommen, und in Deutschland zeichnete sich zunehmend die Aussichtslosigkeit des passiven Widerstandes ab. In einer Phase, in der Poincare im Ruhrkampf dem totalen Sieg immer näher zu kommen schien, war es recht unwahrscheinlich, daß Frankreich Deutschland entgegenkommen würde. Der deutsche Vorstoß war ein verzweifelter Versuch, vielleicht doch noch die USA und Großbritannien zu einer stärkeren Frontstellung gegenüber Paris zu bewegen, was jedoch weitgehend erfolglos blieb. Wie sehr die deutsche Politik im Spätsommer des Jahres 1923 angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit zu einer Politik der bloßen Gesten verurteilt war, zeigte auch die Rede Stresemanns - inzwischen Reichskanzler und Außenminister - , die er am 2. September 1923 in Stuttgart hielt132. Er erneuerte zwar das Paktangebot Cunos, allerdings kam es erst gar nicht zu einem »diplomatisch formulierte[n] Angebot [...] des Rheinpakts«133. Vergleicht man die französische Strategie zur kollektiven Sicherheit (Ausbau des Völkerbunds als kollektives Sicherheitsinstrument) mit der deutschen (kollektive Sicherheit durch Schiedsgerichtsbarkeit und [Rhein-]Pakt), so fallen zunächst folgende wichtige Unterschiede auf: In den deutschen Überlegungen spielte der Völkerbund, vor allem wahrgenommen als Bund der »Feindstaaten«134, keine Rolle. Außerdem bezogen sich die deutschen Vorschläge lediglich auf die deutsche Westgrenze, während die französischen Projekte auf eine universellere Anwendung, einschließlich der Grenzen in Osteuropa, abzielten. Dies hatte damit zu tun, daß Deutschland vor allem im Osten langfristig eine Revision der Grenzen beabsichtigte - was Frankreich gerade vermeiden wollte - , während es sich mit dem Status quo im Westen abgefunden hatte. Dennoch gab es in den deutschen und französischen Konzepten zur kollektiven Sicherheit auch Gemeinsamkeiten, die es trotz dieser Unterschiede erlaubten, 1925 in Locarno zu einer Einigung zu kommen. Beide Strategien enthielten den Ausbau und die Institutionalisierung der Schiedsgerichtsbarkeit als wesentliches Element. Dadurch sollten von vornherein Konflikte vermieden werden. Beide Ansätze enthielten außerdem wesentliche Merkmale der kollektiven Sicherheit, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Auf die unterschiedliche Reichweite wurde bereits hingewiesen: Frankreich wollte 132 Der entsprechende Passus ist abgedruckt in: Henry BERNHARD (Hg.), Gustav Stresemann: Vermδchtnis. Der Nachlaί in drei Bδnden, Bd. 1, Berlin 1932, S. lOOf. 133 Materialien zur Sicherheitsfrage 1924,srnlfeaVSRPNHDA ΡAAA R, 70103, S. 72. 134 Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vffl, Nr. 121. 216 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung ein universelles, zumindest ganz Europa umfassendes Sicherheitssystem schaffen, wδhrend Deutschland nur an der Garantie seiner Westgrenze interes­ siert war. Wδhrend in den franzφsischen Vorschlδgen die genaue Festlegung von Maßnahmen und Verpflichtungen für den »Ernstfall« eine Rolle spielten, blieben diese Aspekte in den deutschen Vorschlägen weitgehend ausgeklammert. Beide Strategien zielten aber letztendlich darauf ab, ein Sicherheitssystem zu installieren, das den potentiellen Aggressor miteinbezog und ihn im Falle einer Aggression der Sanktion aller übrigen Mächte unterwarf, wenn auch Frankreich erst dieses System nach seinen Vorstellungen zu installieren wünschte, bevor der potentielle Aggressor - Deutschland - zum Beitritt eingeladen werden sollte. Wenn also die wichtigsten Elemente der Locaino-Politik schon im Jahre 1923 feststanden, wieso ist es nicht schon zu diesem Zeitpunkt, sondern erst zwei Jahre später zu entsprechenden Verträgen gekommen? Ein Grund hierfür wurde bereits genannt: Kollektive Sicherheit war für Frankreich nur eine von (mindestens) zwei weiteren Strategien135, seine Sicherheit zu gewährleisten. Dabei war sie, hinter einer soliden Bündniszusage Englands, nur die zweitbeste Lösung. In der konkreten Lage des Jahres 1923 - mit französischen Truppen an Rhein und Ruhr und Deutschland am Boden - bestand immer noch die Option zwischen Bündnis und kollektiver Sicherheit, und die französische Präferenz lag sicherlich auf einer Allianz. Als zweiter wesentlicher Grund dafür, daß die Politik der kollektiven Sicherheit 1923 nicht umgesetzt wurde, muß sicherlich die fehlende angelsächsische, vor allem englische Unterstützung genannt werden. London und Washington verweigerten sich dabei nicht nur den Sicherheitsvorschlägen aus Paris, sondern ließen auch die Initiative aus Berlin - den Cuno-Plan - ins Leere laufen. Selbstverständlich wirkte sich auch die noch fehlende Regelung für die schwierige Frage der Reparationen negativ auf die Lösung des Sicherheitsproblems aus. Ein weiterer wichtiger Grund für das Scheitern der Sicherheitspolitik im Jahre 1923 dürfte sicherlich psychologischer Natur gewesen sein. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich war durch den Krieg und den Ruhrkampf derart gespannt, daß eine Einigung schlechterdings möglich erschien. Waren die deutschen Vorschläge in der Sicherheitsfrage ernstgemeint oder nur ein Versuch, Schlimmeres zu vermeiden und sich Verpflichtungen zu entziehen (was zum Teil ja tatsächlich auch die deutsche Absicht war)? Zeigte der passive Widerstand nicht gerade erst den schlechten Willen und den Revanchismus der Deutschen? Und warum sollte Frankreich für derart vage Zusicherungen die sicher geglaubten Pfander an Rhein und Ruhr überhaupt aufgeben? Außerdem war ein Poincare an der 135 Gemäß meinen Überlegungen in den vorangegangenen Ausführungen war eine völlig autonome Politik der eigenen Stärke keine wirkliche Option der französischen Politik, selbst im Ruhrkampf nicht. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 217 Spitze der franzφsischen Außenpolitik wahrscheinlich sehr viel vorsichtiger, als es ein Herriot und ein Briand später sein sollten. 4.1.4. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 und Locarno Trotz der bis 1922/1923 sowohl in Deutschland als auch in Frankreich angestellten Überlegungen zur Sicherheitsfrage kam es zunächst kaum zu konkreten Fortschritten. Auch das Jahr 1924 brachte zunächst wenig Bewegung hinsichtlich der sicuriti: Bis zur Londoner Konferenz standen die internationalen Beziehungen unter dem Eindruck der Reparationsverhandlungen und des Dawes-Plans, trotz der bereits erwähnten Versuche der französischen Regierung, die Sicherheitsproblematik anzusprechen. MacDonald und die englische Regierung konnten sich mit ihrer Position durchsetzen, das Sicherheitsproblem bis auf die Zeit nach der Londoner Konferenz zu verschieben. Das französische Sicherheitsmemorandum vom 11. August 1924 und das Genfer Protokoll vom September desselben Jahres machten jedoch deutlich, daß die Sicherheitsfrage weiterhin akut, vielleicht sogar akuter denn je war: Der Dawes-Plan hatte zur wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung Deutschlands geführt und gleichzeitig die Interventionsmöglichkeiten Frankreichs geschwächt136. Die nachlassende wirtschaftliche Dynamik in Frankreich und der Wegfall der einseitig Deutschland diskriminierenden Wirtschaftsbestimmungen des Versailler Vertrags zum 10. Januar 1925 nährten in Frankreich die Befürchtungen vor dem deutschen Wirtschaftskoloß, den Frankreich auf Dauer nicht würde niederhalten können137. Gleichzeitig befand sich die französische Sicherheitspolitik Ende 1924 in einer Sackgasse: Die Machtpolitik - sowieso nie wirklich eine realistische Option - verbot sich nach dem Dawes-Plan; die BUndnisvorschläge an Großbritannien waren gescheitert; der Ausbau der kollektiven Sicherheit durch das Genfer Protokoll war, besonders nach dem Regierungswechsel in Großbritannien im November 1924, mehr als fraglich. Wie sehr die französische Regierung in der Sicherheitsfrage mit ihrem Latein am Ende war, zeigte sich daran, daß sie zwar seit Anfang Dezember 1924 damit rechnete, daß das Genfer Protokoll scheitern würde, ihr jedoch keine bessere Strategie einfiel, als in England weiterhin auf dessen Umsetzung zu drängen138. Weil der französischen Politik aber neue Ideen fehlten, beharrte sie um so verbissener auf den verbliebenen Sicherheitsgarantien - also vor allem dem besetzten Rheinland. Es war Konzeptionslosigkeit - oder vielleicht besser: die Nichtdurchführbarkeit der bestehenden Sicherheitskonzepte - , die Paris zäh an der genauen Durch136 137 Siehe LEFFLER, Quest, S. 113. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 228f., 248. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.12.1924), MAE PAAP 89, 19. 218 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung fuhrung der deutschen Entwaffnung und an der Verzφgerung der Rδumung der Kφlner Zone festhalten ließ139. Neue Ideen in der Sicherheitsfrage waren allerdings auch nicht von Großbritannien zu erwarten. Einigkeit bestand in der englischen Regierung vor allem darüber, was man nicht wollte, nämlich allzusehr auf Seiten Frankreichs in Europa involviert zu werden, zumal Paris keine attraktiven Gegenleistungen bieten konnte140. Ein Teil der neuen konservativen britischen Führung um Winston Churchill, Curzon, Birkenhead und Balfour war grundsätzlich gegen neue Zugeständnisse in der Sicherheitsfrage an Frankreich: Almost no one outside the General Staff took the French concern for their immediate security seriously. The French, contended Lord Balfour, now the Tory elder statesman, were >impossible people<, psychologically upset<, and indeed >rather insane<. They were >so dreadfully afraid of being swallowed up by the tigen, he complained to the Committee of Imperial Defence, >but yet they spend all their time poking it<141. Andererseits erkannte der britische Außenminister Austen Chamberlain den Nutzen, den die Stillung des französischen Sicherheitsbedürfnisses auch für Großbritannien haben konnte, durchaus an: Solange sich Frankreich bedroht fühle, bestehe die Gefahr, daß es durch unilaterale Aktionen den Frieden in Europa und somit die britischen Wirtschaftsinteressen gefährde142. Im englischen Kabinett war er deshalb einer der wenigen Befürworter einer Dreierallianz zwischen Frankreich, Großbritannien und Belgien143. Auch andere britische Vorschläge waren wenig erfolgversprechend und gangbar: Der englische General Spears hatte vorgeschlagen, das Rheinland und das Ruhrgebiet zu demilitarisieren und die Eisenbahnen dort dem Völkerbund zu unterstellen144, was in Deutschland, aber auch beim britischen Botschafter in Berlin, D'Abernon, auf vehemente Ablehnung stieß145. D'Abernon selbst hatte dagegen die Neutralisierung des Rheinlandes vorgeschlagen146, die jedoch für Deutschland nur unter ganz bestimmten Bedingungen akzeptabel gewesen wäre147: Die Grenze des Erträglichen sei für Deutschland dann erreicht, wenn seine Souveränität über das Rheinland oder andere deutsche Gebiete eingeschränkt worden wäre: »Werde diese Grenzlinie anerkannt, so lasse 139 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 219. Siehe Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAPzywutsrponmlkihgfedcbaYWVUTSRPONL Α Di, Nr. 135. 141 SCHUKER, French Predominance, S. 388. 142 Siehe COHRS, Peace Settlements, S. 24. 143 Siehe WRIGHT, Stresemann and Locamo, S. 120. 144 Siehe Sthamer an AA (17.3.1923), ADAP A Vn, Nr. 149. 145 Siehe Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAP A DC, Nr. 135. 146 Siehe F. G. STAMBROOK, »Das Kind« ­ Lord D'Abernon and the Origins of the Locarno Pact, in: Central European History 1/3 (1968), S. 233­263, hier S. 240­243; Gaynor JOHN­ SON, The Berlin Embassy of Lord D'Abernon, 1920­1926, New York 2002, S. 110. 147 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.2.1924), ADAP A DC, Nr. 146. 140 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 219 sich unschwer die Form f٧r eine Regelung finden, die eine durchaus reale Friedensgarantie in sich schließe«148. Ein Sicherheitspakt, wie ihn Cuno 1922 und 1923 vorgeschlagen hatte, stand auf englischer Seite dagegen nicht zur Debatte. Gerade D'Abernon, der zusammen mit Schubert Ende 1924/Anfang 1925 einer der Motoren des Loearno-Prozesses werden sollte149, sprach sich Anfang des Jahres 1924 noch gegen die Idee eines Garantiepakts aus: Von Garantiepakten aller möglichen Art hält er [D'Abernon, R.B.] recht wenig. Er meint vielmehr, daß ein Abkommen, abgeschlossen allein zwischen Frankreich und Deutschland, der von ihm oben skizzierten Art150 viel substantieller sei. Auch von einer Garantie dieses Abkommens durch England wollte er nichts wissen, England dürfe sich an einem solchen Abkommen nicht beteiligen. Wohl aber müsse dieses Abkommen beim Völkerbund registriert werden. Den Schlußstein würde der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als vollberechtigter Partner bilden. Wenn überhaupt eine politische Garantie f&r Frankreich denkbar sei, so erhalte sie Frankreich auf diesem Wege1". Die Blockade der französischen und britischen Sicherheitspolitik drohte nun aber zunehmend zu einem Problem für die deutsche Außenpolitik zu werden, denn die Verzögerung der Räumung der Kölner Zone mußte die Verständigungspolitik der Reichsregierung in den Augen der rechten Opposition und der Bevölkerung weiter diskreditieren. Wie bereits oben dargestellt wurde, war sicherheitspolitisch als einzig greifbares Ergebnis auf der Londoner Konferenz von MacDonald und Herriot eine Erklärung abgegeben worden, wonach die Kölner Zone erst nach einer erfolgreichen Generalinspektion durch die Interalliierte Militärkontrollkommission geräumt werden sollte152. Am 8. September 1924 begann denn auch die Inspektion der IMKK zur Überprüfung der deutschen Entwaffnung153. Allerdings verlief sie schleppend. Hoesch beurteilte die Aussichten für die fristgerechte Räumung der Kölner Zone »nicht optimistisch«154, weil die französische Regierung zuerst die englische Entscheidimg über das Genfer Protokoll abwarten wollte, denn das Junktim zwischen Entwaffnung und Rheinlandräumung war der letzte Trumpf in der Sicherheitsfrage, den Paris hatte. Der Interimsbericht der IMKK von Mitte Dezember 1924 stellte Deutschland dann auch, was die Entwaffnungsbemühungen anging, erwartungs- oder befürchtungsgemäß ein schlechtes Zeugnis aus. Die Botschafter148 Stresemann an Sthamer (10.3.1924), ADAP AIX, Nr. 194. Zusammenfassend: STAMBROOK, D'Abernon. 150 R.B.: Damit sind D'Abernons eigene Vorschläge zur Neutralisierung des Rheinlands gemeint. 151 Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAP A DC, Nr. 135. 149 152 153 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 8. Siehe ibid. S. 7. Ausführlich zur Generalinspektion vgl. Michael SALEWSKI, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland 1919-1927, München 1966 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft fllr Auswärtige Politik, 24), S. 271-299. 154 Hoesch an AA (6.11.1924), ADAP A XI, Nr. 146. 220 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung konferenz lehnte am 27. Dezember 1924 folgerichtig die Rδumung der Kφlner Zone zum 10. Januar 1925 ab und unterrichtete in einer Note vom 5. Janu­ ar 1925 die deutsche Regierung davon155. Auf diesen sicherlich nicht ٧berraschenden Schritt antwortete die Reichsre­ gierung am 6. Januar 1925 mit einer Note, worin sie feststellte, daß Deutschland bereits so weit abgerüstet sei, daß es keine militärische Gefahr mehr darstelle, und das Vorgehen der Alliierten das während der Londoner Konferenz geschaffene Klima der Kooperation schwer belaste. Zunächst versuchte Stresemann auf diese Weise, die Räumung doch noch zu erreichen und war bereit, eine Verzögerung bis Mai 1925 hinzunehmen, wenn nur eine offizielle Erklärung über den Beginn der Räumung erfolgte156. Im AA wurde man sich allerdings schnell klar, daß die Räumung nicht dadurch würde erreicht werden können, daß man in der Entwaffnungsfrage Entgegenkommen zeigte und man auf die Belastung der Beziehungen verwies. Das Problem der Sicherheit war für Frankreich zu ernst und zu tiefgreifend, als daß dadurch eine Lösung hätte erreicht werden können: »Es liegt auf der Hand, daß Räumungs- und Entwaffnungsfrage integrierenden Bestandteil des Sicherheitsproblems bilden und deshalb ihre endgültige Lösung wohl nur im Rahmen dieses allgemeinen Problems finden werden«157. Die unbefristete Verschiebung der Rheinlandräumung war jedoch für die Reichsregierung nur der unmittelbare Anlaß, in der Sicherheitsfrage aktiv zu werden. Für die deutsche Führung spielten auch andere Motive eine wichtige Rolle. Stresemann sah in der Herstellung der vollständigen Souveränität Deutschlands über sein Staatsgebiet ein wesentliches Revisionsziel und die Räumung der Kölner Zone als den ersten Schritt hierzu158. Würde eine prinzipielle Lösung der Sicherheitsfrage erreicht werden können, könnte sich vielleicht auch ein schnelleres Ende für die Besetzung der übrigen Zonen ergeben159. Weiteres wichtiges Moment war, daß man sich von einem deutschfranzösischen Ausgleich weitere amerikanische Kredite erhoffte: Würde die Gefahr eines deutsch-französischen Konflikts verringert, so würden sich die amerikanischen Kapitalgeber bereit finden, mehr und zu besseren Konditionen in Deutschland zu investieren160. Außerdem wäre das Ruhrgebiet dann besser vor einer neuerlichen (nach dem Dawes-Plan allerdings relativ unwahrscheinlichen) französischen Militäraktion geschützt161. Aus deutscher Sicht mehrten sich im Januar 1925 außerdem die Anzeichen dafür, daß es zu einer franzöSieheTSRPONJIHEDCBA J A C O B S O N , Locarno Diplomacy, S. Ii. Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 585. 157 Stresemann an Hoesch (15.1.1925), ADAP A XII, Nr. 24. 158 Siehe BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2, S. 445. 159 Siehe Gaines P O S T jr., The Civil-Military Fabric of Weimar Foreign Policy, Princeton 1973, S. 59. 160 Siehe N I E D H A R T , Stresemanns Außenpolitik, S. 4 1 7 . 161 Siehe J A C O B S O N , Locamo Diplomacy, S. 5 . 155 156 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen 221 sisch­britischen Militδrallianz kommen kφnnte162. Um eine Sicherheitslφsung auf Kosten Deutschlands zu vermeiden, mußte deshalb Deutschland die Initiative in der Sicherheitsfrage übernehmen163. Die Verzögerung der Räumung bedeutete außerdem einen schweren Schlag für Stresemanns Westpolitik und den drohenden Bankrott für seine seit 1923 verfolgte Politik, so daß eine Initiative in dieser Sache auch zur Frage seines politischen Überlebens und das des ganzen Kabinetts wurde164. Zudem waren zum Jahreswechsel 1924/25 die Rahmenbedingungen für einen Vorstoß in der Sicherheitsfrage - anders etwa als bei Cunos Paktvorschlag Ende 1922 - wesentlich besser. In Frankreich gab es deutliche Anzeichen für eine verständigungsbereitere Politik165, und Paris befand sich in einer schwierigen Lage: In den Schuldenverhandlungen mit England und den USA stand es unter Druck, der Franc fiel weiter und ein Aufstand in Marokko band die französische Armee166. Allerdings bedeutete die Sicherheitsinitiative für Deutschland nicht nur Vorteile, sondern auch viele Probleme und Unwägbarkeiten: Die beiden Vorstöße Cunos und der Versuch Stresemanns vom September 1923 waren erfolglos geblieben. Würde eine neue Initiative, die ja inhaltlich kaum anders aussehen würde als die zuvor gescheiterten, überhaupt erfolgreich sein? Die Sicherheitsinitiative würde sich außerdem - das sollte sich im Laufe des Jahres 1925 bestätigen - innenpolitisch nur schwer durchsetzen lassen und beinhaltete mancherlei Risiko167: Würde sich z.B. das deutsche Vorhaben realisieren lassen, die Revision der Ostgrenzen offenzuhalten? Welche zusätzlichen Forderungen würde Frankreich stellen und inwieweit würde es dabei die Unterstützung Großbritanniens finden? Diese Überlegungen spielten eine Rolle dabei, daß die Sicherheitsinitiative erst dann eingeleitet wurde, als für die Reichsregierung definitiv feststand, daß die Kölner Zone nicht geräumt wurde. Wie gesagt, konnte das AA bei seinem Vorstoß in der Sicherheitsfrage auf die Überlegungen anläßlich der beiden Initiativen Cunos und auch auf die Erfahrungen, die man dabei gemacht hatte, zurückgreifen. Deshalb wurden die USA nicht mehr direkt involviert168, was jedoch die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die deutsche Initiative paradoxerweise eher verstärkte. Wa- Siehe Gaiffier an Hymans (4.2.1925), DDBzywvutsrponmlkihgfedcbaXVUTSRPNLIHEDC Π, Nr. 9; BERNHARD, Stresemann: Ver­ mδchtnis, Bd. 2, S. 112. 163 Siehe Stresemann an Hoesch (5.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 67. 164 SiehefSONJICBA JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 1 If. 165 Siehe Dufour an Schubert (22.1.1925), Ρ AAA R, 29304. 166 Siehe Aufzeichnung Schubert (9.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 55. 167 Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 62. 168 Schubert hatte sich beim amerikanischen Botschafter in Berlin, Houghton, erkundigt, ob die USA bereit seien, eine Rolle, wie sie im Cuno­Pakt vorgesehen war, zu ٧bernehmen (Aufzeichnung Schubert [28.1.1925], ADAP Α ΧΠ, Nr. 56). »Herr Houghton erwiderte diesmal sehr bestimmt, das glaube er sicher nicht«, ibid. Anm. 9. 162 222 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung shington war zwar an mehr Sicherheit in Europa interessiert, f٧r ein direktes Engagement aber nicht zu haben169. Statt dessen wurde zunδchst vor allem der Kontakt zu Großbritannien gesucht, nachdem D'Abernon gegenüber Schubert am 29. Dezember 1924 die Neuauflage des Cuno-Plans ins Gespräch gebracht hatte170. Außer bei D'Abernon fand die Initiative auch bei Crowe, dem Permanent Under Secretary of State im Foreign Office, Unterstützung und die vertrauliche Behandlung, die der Cuno-Initiative in den Vereinigten Staaten verweigert geblieben war: Bereits am 20. Januar 1925 übergab Schubert D'Abernon das deutsche Sicherheitsmemorandum171. Darin wurden die friedlichen Absichten Deutschlands beteuert und - in Anlehnung an die Vorschläge Cunos - ein Rheinpakt vorgeschlagen, in dem sich die am Rhein interessierten Staaten gegenseitig verpflichten, die Unversehrtheit des gegenwärtigen Gebietsstandes am Rhein als unverbrüchlich zu achten, daß sie ferner, und zwar sowohl gemeinsam als auch jeder Staat für sich [...], die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren und daß sie endlich jede Handlung, die der Verpflichtung zuwiderläuft, als eine gemeinsame und eigene Angelegenheit ansehen werden172. Eine ähnliche Garantie wurde auch für die Entwaffnungsbestimmungen, also die Artikel 42 und 43 des Versailler Vertrags, vorgeschlagen. Zusammen mit dem Rheinpakt - so das deutsche Projekt weiter - könne ein Schiedsvertrag abgeschlossen werden. Die Ostgrenzen wurden nur indirekt erwähnt. Hier stellte das Memorandum, ohne explizit irgendwelche Staaten zu nennen, in Aussicht, mit anderen Regierungen Schiedsverträge abzuschließen. Das AA erhielt hinsichtlich seiner Initiative vorsichtig positive Signale aus England173 und auch ein vertrauliches Gespräch zwischen Hoesch mit Painleve in dieser Angelegenheit verlief ermutigend174. Als jedoch Pressemeldungen die vertrauliche Behandlung der Sicherheitsinitiative bedrohten und Hinweise, daß vor allem Chamberlain die Franzosen über die deutsche Initiative unterrichtet hatte, bekannt wurden, geriet das AA unter Zugzwang, seinen Vorschlag auch Frankreich offiziell bekanntzumachen175. Wegen eines Autounfalls Hoeschs verzögerte sich die Ubergabe des Siehe ManfredUTRNMKJIHGEDCBA BERG, Die deutsche Locamopolitik und das amerikanische Interesse an einer europäischen Friedensordnung. Implikationen für den historischen Konstellationsvergleich, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 259-270, hier S. 260. 170 Siehe Christoph M. KIMMICH, Germany and the League of Nations, Chicago 1976, S. 63. 171 Der Text des Memorandums ist abgedruckt in: Aufzeichnung Schubert (20.1.1925), ADAPzutsronmlihgfedcbaSPNIHDCA Α ΧΠ, Nr. 37. 172 Ibid. 173 Siehe Aufzeichnung Schubert (23.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 44. Chamberlain äußerte sich jedoch zurückhaltend, siehe Schubert an Hoesch (31.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 60. 174 Siehe Hoesch an Schubert (24.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 48. 175 Siehe Schubert an Hoesch (31.1.1925), ADAP ΑΧΠ, Nr. 60. 169 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 223 Memorandums aber weiter177, weshalb sich das AA entschloß, die Denkschrift am 9. Februar 1925 durch Gesandtschaftsrat Forster, anstelle des immer noch angeschlagenen deutschen Botschafters, an Herriot zu übermitteln178. Im Gegensatz zu der ursprünglich an D'Abemon übergebenen Fassung fällt bei der Herriot überreichten Version auf179, daß der Hinweis auf die Verknüpfung von Entwaffhungs- und Räumungsfrage mit der Sicherheitsfrage weggelassen wurde, während der Schlußabsatz eine wichtige Ergänzung enthielt. Dort hieß es: Im übrigen wird zu erwägen sein, ob es nicht ratsam ist, den Sicherheitspakt so zu gestalten, daß er eine alle Staaten umfassende Weltkonvention nach der Art des vom Völkerbund aufgestellten >Protocole pour le riglement pacifique des diff6rends international«/180 vorbereitet und daß er im Falle des Zustandekommens einer solchen Weltkonvention von ihr absorbiert oder in sie hineingearbeitet wird181. Der Fortfall des Hinweises auf den Zusammenhang zwischen Sicherheits- und Räumungsfrage sollte natürlich bewirken, daß Frankreich den Paktvorschlag als eine Art Kuhhandel auffassen und sofort ablehnen würde. Der Hinweis auf die mögliche Verknüpfung mit dem Genfer Protokoll bzw. dem Völkerbund sollte den Vorschlag für die französische Seite - die ja in den Ausbau des Völkerbunds große Hoffnungen für mehr Sicherheit setzte - noch attraktiver machen. Er war außerdem ein Novum in der deutschen Sicherheitspolitik: Der Völkerbund oder das Genfer Protokoll hatten in den vorherigen Paktvorschlägen keine Rolle gespielt. Insofern stellte die deutsche Sicherheitsinitiative nicht nur eine Wiederauflage der cunoschen Pläne von 1922/23 dar, sondern eine bedeutende Erweiterung und Neuerung der deutschen Sicherheitspolitik182. Welche Aufnahme fand nun die deutsche Sicherheitsinitiative in Paris? Die französische Regierung hielt zunächst weiterhin am Genfer Protokoll fest183. Die Idealvorstellung Herriots war eine Kombination aus dem Protokoll und einem Beistandspakt mit Großbritannien. Für Frankreich hätte dies zwei Probleme gelöst: Auf der einen Seite hätte der Beistandspakt mit England die unmittelbare Hilfeleistung Londons im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich bedeutet. Durch das Genfer Protokoll wäre es Frankreich aber immer noch möglich gewesen, den östlichen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Da176 Siehe ADAPzxutsronmlkihgfedcbaZXUTSRPNMKHGFEDCBA Α XU, Nr. 73, Anm. 8. Bereits am 4.2.1925 hatte Schubert das Memorandum an die Botschaft in Paris gesandt, siehe ADAP Α ΧΠ, Nr. 64, Arnn. 1. 178 Siehe Forster an Schubert (9.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 81. 179 Text dieser Fassung: Aufzeichnung Schubert (20.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 37. 180 Dies ist das Genfer Protokoll, R.B. 181 Aufzeichnung Stresemann [4.2.1925], AD AP Α ΧΠ, Nr. 64. 182 Anders SCHUKER, French Predominance, S. 388. 183 Zum folgenden siehe Herriot an Fleuriau (25.1.1925), MAE PAAP 89, 15. 177 224 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung mit wδre vermieden worden, daß Großbritannien gegen seinen Willen unmittelbar in einen Konflikt in Osteuropa hineingezogen würde. Herriot wußte allerdings auch, wie unwahrscheinlich es war, daß England das Genfer Protokoll verabschieden würde, und forderte seinen Botschafter in London, Fleuriau auf, die englische Seite in dieser Frage nicht allzusehr zu bedrängen184. Aus diesem Grund wirkte der letzte Satz des deutschen Memorandums, in dem die Verbindung zwischen Sicherheitspakt und Völkerbund bzw. Genfer Protokoll angedeutet wurde, sicherlich sehr positiv auf Frankreich. Eine erste Aussprache zwischen Herriot und Hoesch über den Sicherheitspakt am 17. Februar 1925 war denn auch »über Erwarten günstig«185. Selbst bezüglich des deutschen Vorschlags, mit Polen nur einen Schiedsvertrag abzuschließen, erhob Herriot »ohne ausdrücklich einer derartigen Lösung zuzustimmen, keine Einwendungen«186. In einer internen »Note sur les propositions allemandes« vom 26. Februar 1926187 kam man im Quai d'Orsay zu dem Schluß, daß der deutsche Vorschlag eine gewissenhafte Prüfung verdiene: Wie der Fall Belgiens im Ersten Weltkrieg gezeigt hätte, habe die internationale Garantie für die belgische Neutralität zwar nicht den deutschen Überfall auf Belgien verhindert, jedoch den Kriegseintritt Englands aufgrund der übernommenen Verpflichtungen bewirkt. »[C]'est une le9on que l'Allemagne n'a pas oublie«188. Der von Deutschland vorgeschlagene Garantiepakt bedeute also eine ernsthafte Sicherheitsgarantie. Außerdem erleichtere der Pakt ein weitergehendes Bündnis zwischen Frankreich und Großbritannien: Erscheine es der englische Regierung weniger riskant, in einen deutsch-französischen Konflikt hineingezogen zu werden, stiege dort sicherlich auch die Bereitschaft, ein entsprechendes Bündnis mit Frankreich abzuschließen. Lehne Paris aber die deutschen Vorschläge ab, so würde dies zu einer dramatischen Verschlechterung der französisch-britischen Beziehungen führen und ein Bündnis unmöglich machen. Allerdings müßten, so die französischen Überlegungen weiter, flankierend zu dem deutschen Vorschlag, bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um die französischen Interessen zu wahren: Bevor der Schiedsvertrag und der Rheinpakt unterzeichnet werden könnten, müsse zunächst ein französischbelgisch-britisches Abkommen geschlossen werden. Erst dadurch würde die Sicherheitslage Frankreichs substantiell verbessert. Die Rechte der Alliierten aus dem Versailler Vertrag - beispielsweise das Rheinland wieder zu besetzen, falls Deutschland nicht seinen Reparations- bzw. Entwaffnungsverpflichtungen nachkäme - müßten gewahrt bleiben. Außerdem müsse Deutschland 184 Ibid. Hoesch an Schubert (17.2.1925), ADAPutsrponmlihgfedcbaZUPNMIEA Α ΧΠ, Nr. 99. 186 Ibid. 187 Zum folgenden siehe »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift (26.2.1926), MAE PAAP 217, 7. 188 Ibid. 185 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen 225 vor dem Abschluß des Garantievertrags dem Völkerbund beitreten, damit Deutschland in das ganze System der Sanktionsmechanismen, besonders des Artikels 16 eingebunden werde. Dadurch könnten auch die Bündnisverpflichtungen Frankreichs gegenüber Polen und der Tschechoslowakei in das Völkerbundssystem integriert werden. Ebenfalls müsse verhindert werden, daß Deutschland die Anschlußfrage neu aufrolle. Auffällig an der Aufzeichnung ist dreierlei: Erstens, außer der genannten Vorbehalte entwickelte die französische Regierung keine grundsätzlich anderen Ideen in der Sicherheitsfrage. Zweitens, das Problem der Ostgrenzen nahm in den französischen Regierungen nur eine untergeordnete Rolle ein und sollte im Rahmen des Völkerbunds gelöst werden. Drittens, das englischfranzösische Bündnis im Quai d'Orsay stand nach wie vor im Mittelpunkt der Überlegungen. Das deutsche Sicherheitsmemorandum wurde in erster Linie als ein Weg gesehen, doch noch einen Beistandspakt mit Großbritannien abzuschließen, und hatte diesbezüglich also einen instrumentalen Charakter. Wie kam es zu der vergleichsweise positiven Aufnahme der deutschen Vorschläge, obwohl der Quai d'Orsay die Intentionen, die Deutschland mit der Sicherheitsinitiative hinsichtlich der Revisionspolitik verfolgte, weitgehend richtig analysiert hatte189? Eine Ursache hierfür wurde bereits dargestellt: Die französische Diplomatie war mit ihrem Latein, was die Sicherheitsfrage betraf, am Ende. Sie klammerte sich an die vage Hoffnung, Großbritannien werde das Genfer Protokoll- obwohl alle Anzeichen dagegen sprachen - doch noch akzeptieren. Auch die zweite Strategie der französischen Politik, das Bündnis mit Großbritannien, schien, wie aus oben genannter Aufzeichnung deutlich wurde, durch die Sicherheitsinitiative eher erleichtert denn erschwert zu werden. Insofern war der deutsche Vorschlag für Frankreich durchaus attraktiv. Es gab jedoch auch noch weitere Gründe, die die Initiative der Reichsregierung für Frankreich jetzt, Anfang 1925, interessanter machten als noch zwei Jahre zuvor: Zeitgleich zur Sicherheitsfrage befand sich Frankreich in Verhandlungen mit den USA und Großbritannien zur Regelung der interalliierten Kriegsschulden190. Um dort zu günstigen Ergebnissen zu kommen, mußte die französische Regierung auch in ihrer Deutschlandpolitik stärker auf die nachgiebigere Haltung der Amerikaner und Engländer schwenken. Da aufgrund des Verfalls des Franc Frankreich zudem dringend auf angelsächsisches Kapital angewiesen war, verstärkte sich der Druck auf Frankreich, sich konstruktiv mit der deutschen Sicherheitsinitiative zu befassen. Eng mit der Finanzkrise hing auch ein anderes Problem zusammen, das Frankreich zu einer kompromißbereiteren Politik gegenüber dem Deutschen Reich veranlaßte: 189 190 Vgl. ibid. Hierzu vgl. WURM, Sicherheitspolitik, S. 237­248. 226 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Frankreich plante eine umfassende Militδrreform191, um die Militδrausgaben zu senken, seine Wirtschaft zu entlasten und den Vorw٧rfen des Auslands ge­ gen einen ٧berbordenden franzφsischen Militarismus entgegenzutreten. Da »[d]as Spannungsverhδltnis von finanziellen Mφglichkeiten und Erfordernis­ sen der nationalen Verteidigung [...] somit zugunsten der Staatsfinanzen ent­ schieden«192 wurde, was vor allem zu einer Verk٧rzung des Wehrdienste f٧hr­ te, wurden die franzφsischen Mφglichkeiten, aus eigener Kraft eine Politik der Stδrke gegen٧ber Deutschland durchzusetzen, weiter verringert. Diese Schwδ­ chung der franzφsischen Position bedeutete aber auch, daß das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs auf andere Weise gestillt werden mußte. Die Annäherung an Deutschland und die Verringerung potentieller Konflikte mit dem großen Nachbarn im Osten mußten für die französische Politik deshalb zunehmend an Bedeutung gewinnen. Entscheidend für die französische Haltung blieb jedoch die Stellungnahme Englands zum Sicherheitspakt. Die deutsche Sicherheitsinitiative war zunächst für Frankreich eine nützliche Ergänzung, keinesfalls aber die erste Wahl in der Sicherheitspolitik. Die Präferenz lag, wie gesagt, auf dem Genfer Protokoll in Verbindung mit einem französisch-britischen Bündnis. Beidem jedoch mußte London erst noch zustimmen. Die Signale, die der Quai d'Orsay aus England erhielt, waren bis März 1925 vieldeutig und spiegelten die verschiedenen Auffassungen innerhalb der englischen Regierung wider: Chamberlain befürwortete zunächst ein Bündnis mit Frankreich, gerade weil das Genfer Protokoll abgelehnt werden sollte193. In der deutschen Sicherheitsinitiative sah er vor allem den Versuch Berlins, einen Keil in das französisch-britische Verhältnis zu treiben194. Andere Regierungsmitglieder bzw. Parteigrößen wie Balfour, Birkenhead oder Churchill195 und hohe Diplomaten wie D'Abernon196 und Crowe197 wiederum lehnten ein Bündnis mit Frankreich ab und befürworteten den deutschen Vorstoß. Die Labour-Opposition hingegen lehnte die deutsche Sicherheitsinitiative ab und befürwortete nach wie vor das Genfer Protokoll198. Erst die offizielle Ankündigung der britischen Regierung am 12. März 1925, das Genfer Protokoll nicht umzusetzen, brachte Klarheit in die englische und damit auch in die französische Politik. Die deutsche Sicherheitsinitiative wur191 Zur Militärreform siehe Henri DUTAILLY, Les illusions de la victoire, 1918-1930, in: Andr6 CORVISIER (Hg.), Histoire militaire de la France, Bd. 3: De 1871 ä 1940, 1. Taschenbuchaufl., Paris 1997 [Erstauflage Paris 1992], S. 327-345, hier S. 339-345; WURM, Sicherheitspolitik, S. 298-342. 192 WURM, Sicherheitspolitik, S. 317. 193 Siehe Fleuriau an Herriot (16.3.1925), MAE PAAP 89, 19. 194 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 13f. 195 Siehe ibid. S. 15f. 196 Siehe STAMBROOK, D'Abernon, S. 237, 245f. 197 Siehe Dufour an Schubert (22.1.1925),utsrnlihecbaSRPNKDA ΡAAA R, 29304. 198 Siehe Kessler an Schubert (19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 181. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 227 de f٧r die englische Regierung zu einem passablen Weg, die internen Konflik­ te bez٧glich der gegen٧ber Frankreich einzuschlagenden Politik zu lφsen199. Mittels des Sicherheitsangebotes konnte London sowohl das Genfer Protokoll zur٧ckweisen als auch sich des Drucks aus Paris, ein B٧ndnis mit Frankreich einzugehen, entziehen200. Die deutsche Sicherheitsinitiative hatte f٧r die engli­ sche Regierung aber auch noch andere Vorteile: In London hatte man stets befurchtet, daß ein französisch-britisches Bündnis zu einer Annäherung zwischen Berlin und Moskau fuhren könnte und so die Spaltung des Kontinents vertiefen würde. Durch die Sicherheitsinitiative jedoch würde die Kriegsgefahr auf dem Kontinent nicht nur dadurch verringert, daß das deutschfranzösische Verhältnis verbessert, sondern auch, indem die weitere Annäherung Deutschlands an die Sowjetunion verhindert würde. Gleichzeitig konnte die Rolle, die England im deutschen Sicherheitsvorschlag zugedacht war, englischerseits so genutzt werden, daß man als ehrlicher Makler zwischen Deutschland und Frankreich sich das Vertrauen Frankreichs erhielt, ohne sich zu sehr an Paris zu binden und ohne die Feindschaft Deutschlands auf sich zu ziehen201. Die Ablehnung des Genfer Protokolls am 12. März 1925 - und damit zusammenhängend des von Paris gewünschten trilateralen Pakts zwischen Frankreich, Großbritannien und Belgien - löste in französischen Regierungskreisen tiefe Bestürzung aus202. Das deutsche Sicherheitsmemorandum, mit dem man sich bis dahin in Paris eher unter dem Gesichtspunkt einer passenden Ergänzung zum Genfer Protokoll und dem erwünschten Bündnis mit England befaßt hatte, gewann nun eine wesentlich größere Bedeutung. Im diplomatischen Verkehr mit England hatte es bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt, vielmehr ging es - auch, weil England sich noch nicht klar zu seiner Politik geäußert hatte und Frankreich nicht zu sehr drängen wollte - vor allem um die Behandlung der Entwaffnungsfrage203. War in der oben erwähnten Aufzeichnung die Rede davon, daß die deutschen Vorschläge zwar beachtenswert seien, aber einer eingehenden, nicht übereilten Prüfung bedürften, wurde in einem »projet d'instructions« vom 12. März 1925, in dem im übrigen die französischen Vorsichtsmaßnahmen aus der Aufzeichnung vom 26. Febru199 Ein offizieller Kabinettsbeschluß zur Unterstützung der deutschen Sicherheitsinitiative ytsrpomljih erfolgte jedoch erst am 20.3.1925, siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 21. 200 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 276. Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 26. 202 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 262. 203 Vgl. die Aufzeichnungen aus der Hand Herriots [?] vom 4.2. und 11.2.1925 über Gespräche mit dem britischen Botschafter in Paris, Crewe, in: MAE PAAP 89, 15. Auch in den Telegrammen von Fleuriau an Herriot vom 14.2.1925, von Herriot an Fleuriau vom selben Tag und von Herriot an die französischen Auslandsvertretungen in London Brüssel, Rom und Berlin (20.2.1925) fand die deutsche Sicherheitsinitiative keine Erwähnung (alle Telegramme in: MAE PAAP 89, 15). 201 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung 228 ar 1925 wiederholt wurden, festgestellt, daß man sich nun ausfuhrlich mit dem deutschen Projekt befassen müsse, weil es sonst endgültig keine Chancen mehr für das Bündnis mit England gebe204. In der Tat war das Sicherheitsmemorandum fur sich allein genommen für Frankreich nur von geringem Wert. Seydoux analysierte ganz richtig, daß Frankreich, ginge es den Garantiepakt ein, unweigerlich gefragt würde, warum es die Besetzung des Rheinlands trotz Deutschlands freiwilliger Verpflichtungen fortsetze, warum es weiterhin auf der Überwachung der deutschen Entwaffnung bestehe und warum es sich weiterhin den Luxus einer großen Armee erlaube, die das Budget und die Beziehungen mit dem Ausland belaste205. Gehe Frankreich allerdings nicht auf das deutsche Paktangebot ein, bemerkte Seydoux, sei eine angloamerikanisch-deutsche Kampagne gegen Frankreich zu befurchten, die dazu fuhren könnte, daß Frankreich seine letzten Trümpfe er dachte wohl vor allem an das besetzte Rheinland - ohne Gegenleistung werde aufgeben müssen. Würde zudem versäumt werden, die deutschen Ostgrenzen in den Pakt einzubeziehen, werde man sich bald deutschen Revisionsansprüchen bezüglich des Korridors, Danzigs, Posens und Oberschlesiens gegenüber sehen, und auch der Anschluß werde dann bald auf der Tagesordnung stehen206. Ähnlich wie Seydoux argumentierten Foch und Loucheur. Sie kritisierten den deutschen Vorschlag, »car il donne liberie aux Allemands de se jeter ä l'Est. S'ils triomphent, ils retourneront contre nous et nous seront ecra, 207 ses« . Nachdem am 12. März 1925 mit der englischen Erklärung also ein wesentliches Element der französischen Sicherheitspolitik, das Genfer Protokoll, weggebrochen war, kam es nun darauf an, die deutsche Sicherheitsinitiative so zu modifizieren, daß sie den französischen Vorbehalten und Interessen entsprach. Hoesch stellte hierzu fest: Frankreich hält grundsätzlich am Genfer Protokoll fest, wäre aber bereit, inzwischen auf den Gedanken des Abschlusses eines begrenzten Garantiepaktes einzugehen, vorausgesetzt daß einerseits französisch-englisch-belgische Sonderabmachungen, insbesondere militärischer Art, gleichzeitig getroffen werden, andererseits daß bezüglich deutscher Ostgrenzen eine für Polen annehmbare Garantie gefunden wird208. Auch der bedingungslose Beitritt Deutschlands zum Völkerbund gehörte zu den Forderungen Frankreichs209. Um diesen Forderungen Gehör zu verschaf204 Siehe »projet d'instructions« (ohne Unterschrift) (12.3.1925), MAE PAAP 217, 7. Der projet ist weitgehend identisch mit einem Telegramm Herriots an Fleuriau (16.3.1925), MAE PAAP 89, 19. 205 Siehe Aufzeichnung Seydoux (28.2.1925), MAE PAAP 261, 32. 206 Siehe ibid. 207 Aufzeichnung Hymans (11.3.1925), DDBsronihecaSPNHDA Π, Nr. 33. 208 Hoesch an AA (13.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 164. 209 Siehe Hoesch an AA (19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 180. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 229 fen, hatte Frankreich, wie gesagt, noch einen Trumpf in der Hand: die besetz­ ten Rheinlande210. Was die Position Frankreichs jedoch erschwerte, war, daß England auf den deutschen Sicherheitspakt weit weniger angewiesen war als Frankreich. Der Trumpf der besetzten deutschen Gebiete stach - besonders in bezug auf ein von Frankreich gewünschtes flankierendes französischbritisches Bündnis - also nur sehr bedingt211. Im März 1925 befand sich Frankreich also hinsichtlich seiner Sicherheitspolitik in einer sehr schwierigen Situation: Außenpolitisch war der Spielraum wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und des Drucks, den die USA und Großbritanniens bei den Kriegsschuldenverhandlungen ausübten, gering. Dazu kam die Angst vor internationaler Isolierung und vor dem »Verpassen« einer letzten Chance zur Etablierung eines Sicherheitssystems, solange Deutschland noch relativ schwach war und Frankreich noch über die - schwächer werdenden - Druckmittel aus dem Versailler Vertrag verfugte212. In der Tat ließ sich Frankreich vor allem deshalb auf die Sicherheitsinitiative ein, weil »etwas besser war als nichts«213. In den folgenden Gesprächen ging es nun der französischen Seite darum, die Vorbehalte, die bezüglich der deutschen Sicherheitsinitiative gemacht worden waren, in die Paktverhandlungen einzubeziehen. In einem Treffen zwischen Herriot und Chamberlain am 16. März 1925 in Paris214 standen dabei vier Punkte im Mittelpunkt, die alle unmittelbar oder mittelbar mit der deutschen Sicherheitsinitiative zu tun hatten215. Beide Politiker konnten sich schnell darauf verständigen, daß der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund eine Bedingung für die Unterzeichnung des Sicherheitspakts sein müsse. Einigkeit bestand auch darin, daß die Abrüstungs- und Entwaffnungsfrage nicht in den Sicherheitspakt miteinbezogen werden dürfe. Auf den erneuten Vorschlag Herriots, ein Bündnis zwischen Frankreich, Großbritannien und Belgien zu schließen, antwortete Chamberlain dagegen ausweichend. Keine Einigung konnte außerdem bezüglich der Abrüstungskonferenz erzielt werden, die der neue amerikanische Außenminister Kellogg vorgeschlagen hatte. Hier beharrte Frankreich weiterhin auf dem Standpunkt, daß zuerst die Sicherheitsfrage gelöst werden müsse. Nach den französisch-britischen Konsultationen drehten sich die französischen Überlegungen vor allem um zwei Problemkreise: Die Verknüpfung von Sicherheitspakt und Völkerbund sowie die von Deutschland angebotenen 210 Siehe Hoesch an AA (13.3.1925), ADAPutsrponmlkihedcbaWUSRPNMKHFEDCA Α ΧΠ, Nr. 164. " Siehe ibid. 212 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 271. 213 SCHUKER, French Predominance, S. 390; in diesem Sinne auch Hoesch an AA (19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 180. 214 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 274. 215 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Herriot (16.3.1925), MAE PAAP 89, 19. 2 230 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Schiedsvertrδge mit den osteuropδischen Lδndern. Nachdem das Genfer Pro­ tokoll gescheitert war, gewannen letztere vor allem deshalb an Bedeutung, weil sie einen Ersatz f٧r die verlorengegangenen Sicherheitsgarantien des Pro­ tokolls bieten sollten und nahmen deshalb in den Planungen des Quai d'Orsay ab Mδrz größeren Raum ein. So forderte Margerie von Stresemann vor allem zweierlei von Deutschland: Erstens, die Ausweitung des Schiedsvertrags mit Polen über den bis dahin gemachten deutschen Vorschlag hinaus und zweitens die Ergänzung der Schiedsverträge mit den osteuropäischen Staaten durch einen Nichtangriffspakt216. Für Schubert aber waren »[b]eide Erweiterungen aus allgemeinen politischen Gründen unmöglich«217. Auch in einem französischen Memorandumsentwurf vom 17. April 1925 spielten diese beiden Aspekte, Völkerbund und Ostschiedsverträge, die Hauptrolle218. Interessant an dieser Aufzeichnung war jedoch, daß die Einbeziehung der USA, wie sie z.B. in den Cuno-Vorschlägen und auch im Sicherheitsmemorandum angedeutet worden war, dort von Frankreich explizit abgelehnt wurde. Die Begründung hierfür lautete, daß eine Einbeziehung der USA den Völkerbund schwächen könnte. Dieser Aspekt tauchte jedoch in einem späteren Entwurf nicht wieder auf219. Eine offizielle französische Antwort auf das deutsche Sicherheitsmemorandum verzögerte sich jedoch weiter. Ein Grund hierfür war der Regierungswechsel in Frankreich. Nachdem Herriot über die Franc-Krise gestürzt war220, wurde Aristide Briand Außenminister in der Regierung Painleve, die am 17. April 1925 ihr Amt antrat. Im AA wurde die Politik Briands skeptisch bewertet. Es sei zwar nicht anzunehmen, daß Briand versuchen werde, seine 1922 verfolgte Politik eines engen englisch-französischen Bündnisses wiederaufzunehmen, doch werde er versuchen, dem Garantiepakt »einen ausgesprochen gegen Deutschland gerichteten Charakter zu geben«221, was die Verhandlungen verlangsamen würde. Der neue französische Außenminister werde versuchen, die Forderung nach dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zur Vorbedingung für den Garantiepakt zu machen222. In der Tat hatte Briand in einem Gespräch gegenüber Hoesch am 18. April 1925 mehrfach seinen Wunsch nach einem deutschen Beitritt zum Völkerbund wiederholt223. 216 Siehe Schubert an Botschaft Paris (21.3.1925), AD AP A XII, Nr. 191. Ibid. 218 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (17.4.1925), MAE PAAP 217, 7. 219 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [Laroche?] (12.5.1925), MAE PAAP 261, 1. Eine deutsche ٢bersetzung dieses Memorandums findet sich in: Materialien zur Sicherheitsfrage. Vorlδufiger Abdruck, hg. v. Auswδrtiges Amt, Berlin 1925, Nr. 3,zutsrqponlihgfedcbaVUSRPNH ΡAAA R, 70097. 220 Vgl. Delporte, ΠΓ Republique, S. 125f. 221 Aufzeichnung ohne Unterschrift (29.4.1924), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 6. 222 Siehe ibid. 223 Siehe Hoesch an AA (18.4.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 263. 2,7 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 231 Erst Ende Mai sah sich Hoesch in der Lage, ein »ungefδhres Bild«224 ٧ber die zu erwartenden Antworten Frankreichs und Großbritanniens auf das deutsche Sicherheitsmemorandum zu geben. Der deutsche Botschafter in Paris glaubte, daß Frankreich zwar dem Rheinpakt prinzipiell zustimmen, es aber weitere Zusicherungen für den Schutz der polnischen Westgrenzen fordern werde. Außerdem wolle die französische Regierung erreichen, daß es im Falle eines deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen Konflikts zugunsten der Verbündeten würde eingreifen können225. Das verstärkte Beharren Frankreichs vor allem auf Garantien im Osten hatte dabei nicht nur seine Ursache darin, daß das Genfer Protokoll als Eckpfeiler der französischen Sicherheitspolitik im Osten weggefallen war, sondern auch darin, daß die französischen Verbündeten in Osteuropa verstärkt auf Sicherheitsgarantien drängten: Am 24. April 1925 wurden zwischen Polen und der Tschechoslowakei verschiedene Abkommen (u.a. ein Handels- und Schiedsvertrag sowie Rechts- und Finanzabkommen) unterzeichnet226, daneben soll es jedoch auch Geheimabsprachen gegeben haben, in denen beide Regierungen die Änderung des territorialen Status quo und den Anschluß Österreichs an Deutschland ablehnten und die Tschechoslowakei zusagte, die polnischen Bemühungen um einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat zu unterstützen227. Auch die Regierungen der Kleinen Entente formulierten auf einem Gipfeltreffen vom 9. bis 11. Mai 1925 ihre Befürchtung, daß Deutschland mit dem Sicherheitspakt die Revision seiner Ostgrenzen beabsichtige und forderten deshalb, daß die Entwaffnung Deutschlands vollständig durchgesetzt, der territoriale Status quo in Europa unbedingt erhalten und der Anschluß Österreichs verhindert werden müsse228. Die englische Position zum Sicherheitspakt faßte Hoesch wie folgt zusammen: London sei zwar bereit, den Rheinpakt zu garantieren, lehne aber eine solche Zusage auch für die deutsche Ostgrenze ab. Allerdings, so der deutsche Botschafter weiter, solle es Zugeständnisse dahingehend gegeben haben, daß die englische Regierung Frankreich nicht an »einer durch die Rechtslage gedeckten Intervention«229 zugunsten der osteuropäischen Bundesgenossen hindern werde. Die französische Antwortnote vom 16. Juni 1925230 bestätigte die Befürchtungen des AA. Zwar akzeptierte Paris grundsätzlich den deutschen Sicherheitspakt, doch wurden hinsichtlich der Ostschiedsverträge Nachbesserungen Hoesch an AA (31.5.1925), ADAPzxutsronmlihgfedcbaXUTSRPNMIHDA Α ΧΙΠ, Nr. 75. Siehe ibid. 226 Siehe ADAP A XIII, Nr. 27, Anm. 1. 227 Siehe ibid. Anm. 2. 228 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [30.5.1925], ADAP A XIII, Nr. 73. 229 Hoesch an AA (31.5.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 75. 230 Text in: Materialien zur Sicherheitsfrage. Vorläufiger Abdruck, hg. v. Auswärtiges Amt, Berlin 1925, Nr. IV, ΡAAA R, 70097. 224 225 232 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gefordert, die das AA besonders beunruhigten231, schienen sie doch die Grund­ gedanken des Genfer Protokolls wiederaufzunehmen232. Neben den substanti­ ellen Sicherheitsinteressen spielte dieser Aspekt auch in der φffentlichen Dis­ kussion des Sicherheitspakts in Frankreich und Belgien eine wichtige Rolle. Dort waren die Ostschiedsvertrδge das zentrale Kriterium, ob Deutschland der Rapallo­Politik abschwφren w٧rde oder nicht: gehe Deutschland nicht auf die franzφsischen Forderungen ein, so zeige dies, »daß sich Deutschland jenen dem Westen feindlichen Hintergedanken hingebe«233. Neben der Frage der Ostschiedsverträge war der bedingungslose Beitritt Deutschlands in den Völkerbund - also der Verzicht Deutschlands auf die Vorbehalte hinsichtlich des Artikels 16 der Völkerbundssatzung - die wichtigste Forderung der französischen Note234. Dies stieß in Deutschland im Hinblick auf die Beziehungen zur Sowjetunion auf die bekannten Befürchtungen: Die Sowjetunion sah im Sicherheitspakt und Völkerbundsbeitritt einen Versuch der englischen Regierung, einen antibolschewistischen Pakt unter Einschluß Deutschlands zu schmieden. Um dies zu verhindern, drohte Moskau im Falle eines deutschen Nachgebens in der Frage des Artikels 16 mit einer Annäherung an Frankreich und Polen235. Durch eine Mischung aus Drohung und Entgegenkommen versuchte die sowjetische Führung, den Aufbau einer vermeintlichen antisowjetischen Einheitsfront zu verhindern236. In ihrer Note lehnte die französische Regierung außerdem eine Änderung des Versailler Vertrags (besonders im Hinblick auf eine vorzeitige Rheinlandräumung) ab237. Für die deutsche Regierung war durch die französische Note eine schwierige Lage entstanden: Die Vorbehalte Frankreichs betrafen vitale Punkte der deutschen Außenpolitik. Die Nachbesserung der Ostschiedsverträge im französischen Sinne würde eine Verringerung der Revisionsmöglichkeiten im Osten bedeuten. Die Forderung, vorbehaltlos dem Völkerbund beizutreten, belaste das deutsch-sowjetische Verhältnis - wiederum ein wichtiges Element der deutschen Revisionspolitik238. Außerdem sah sich das AA zunehmender innenpolitischer Kritik an seiner Sicherheitspolitik ausgesetzt. Sogar Teile des Kabinetts, so die Reichsminister Frenken (Z), Brauns (Z), Neuhaus (DNVP), Schiele (DNVP) und von Kanitz (DNVP), lehnten die Politik Stresemanns Siehe Runderlaß Stresemann (20.6.1925), ADAPzywutsrponmlihgfedcbaSRPONLKJIHEDCB Α ΧΠΙ, Nr. 136. Siehe Aufzeichnung Rintelen (25.6.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 159. 233 Keller an AA (4.7.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 192. 234 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 600. 235 Siehe Aufzeichnung Schubert (27.6.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 168. Inwieweit dies tatsächlich eine Option der sowjetischen Außenpolitik war, muß, da die Interessen Polens und der Sowjetunion diametral entgegengesetzt waren, jedoch fraglich bleiben. 236 Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 110. 237 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 52. 238 Siehe ibid. 231 232 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 233 ab239. Nur Reichskanzler Luther und Verkehrsminister Rudolf Krohne unter­ st٧tzten zunδchst die Politik des Auίenministers240. Kritik δuίerte auch die Reichswehrfuhrung, namentlich von Seeckt241. Besonders die Rechte, unter Einschluί der an der Regierung beteiligten Deutschnationalen242, entfesselte eine Kampagne gegen die Politik Stresemanns243. Trotz der französischen Vorbehalte und des Gegenwinds von rechts ließ die französische Note nach Stresemanns Auffassung die »Weiterfuhrung [der] Verhandlungen nicht völlig aussichtslos erscheinen«244. Er betonte, daß der Wert der Sicherheitsinitiative nicht so sehr darin liege, was durch den deutschen Vorstoß an außenpolitischen Zugeständnissen erreicht werden könne, sondern vielmehr darin, welche Gefahren dadurch von Deutschland abgewendet worden seien: Es sei schwer, in der Φffentlichkeit zu sagen, warum unsere Aktion [die Sicherheitsinitiative, R.B.] gut war. Die Lage war die, daß der Völkerbund im Begriff stand, die Rheinlandkontrolle zu verewigen. England mußte vom Genfer Protokoll loskommen und Chamberlain hätte wohl nötigenfalls, um dies zu erreichen, den Franzosen zugebilligt, sich die nötigen Garantien im Rheinland zu beschaffen. In dieser Situation hatte unser Angebot die Bedeutung, daß England von dieser Lage loskam, unsere Anregung gern ergriff und von einer drohenden starken Entente mit Frankreich losgesprengt wurde. Auf diese Weise würden wir wahrscheinlich von den 61ements stables245 frei kommen. All dies könne man aber Frankreichs wegen in der Öffentlichkeit nicht aussprechen246. An dieser Äußerung wird deutlich, daß die deutsche Diplomatie - und dies gilt sicherlich nicht nur für die Sicherheitsinitiative, sondern auch für andere Teile der Außenpolitik - ein Problem mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit hatte. Aus Rücksichtnahme auf die schwebenden Verhandlungen zum Sicherheitspakt konnte das AA nur bedingt auf die Angriffe vor allem aus dem rechten Spektrum reagieren. Zudem waren die Ziele der deutschen Politik vor allem defensiv - im Sinne der Verhinderung von Schlimmeren - , was die Verteidigung der Politik noch erschwerte. 239 Siehe Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR LutherzwvutsrponmlkihgfedcbaZUSRPONMLIHGE Ι/Π Bd. 1, Nr. 110. Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 60 lf. 241 Siehe Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 110. 242 Siehe Aufzeichnung Stresemann (28.6.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 171; Aufzeichnung Schubert (8.7.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 197. 243 In den Aktenbänden ΡAAA R, 70097 bis ΡAAA R, 70100 sind meist kritische Zuschrif­ ten an das AA zum Sicherheitspakt gesammelt. Diese kommen von Einzelpersonen ebenso wie von Gruppierungen, wie zum Beispiel dem Stahlhelm oder verschiedenen Vaterländischen Verbänden. 244 Runderlaß Stresemann (20.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 136. 245 Untertsnmleba elements stables wurden dauerhafte Organe zur Überwachung der Demilitarisierung des Rheinlandes - voraussichtlich unter Aufsicht des Völkerbunds - auch nach Abzug der Besatzungstruppen verstanden, R.B. 246 Besprechung zwischen Luther, Stresemann und Schiele (17.3.1925), AdR Luther I/II Bd. 1, Nr. 50. 240 234 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Bei der Beantwortung der franzφsischen Note mußte die Reichsregierung also auf verschiedenste, zum Teil gegensätzliche Faktoren Rücksicht nehmen: Den französischen Vorbehalten mußte entgegengekommen werden, ohne bei den eigenen Ziele zurückzustecken. Dies galt vor allem in Hinblick auf die Ostschiedsverträge und den Artikel 16 der Völkerbundssatzung, die beide im Kontext der Revisionspolitik gesehen werden müssen. Andererseits mußte der deutschen Öffentlichkeit und vor allem der Rechten vermittelt werden, daß der Sicherheitspakt sehr wohl deutschen Interessen entsprach. Die deutsche Regierung mußte auf die Interessen und Befindlichkeiten der Sowjetunion ebenso Rücksicht nehmen wie auf die Großbritanniens und der USA, und zwar nicht nur auf die politischen, sondern auch auf die wirtschaftlichen. In der Diskussion um die Beantwortung der französischen Note legte Stresemann dar, daß Montagu Norman, Governor der Bank of England, und Benjamin Strong, Governor der Federal Reserve Bank of New York, erklärt hätten, daß Deutschland keine US-Kredite mehr erhalten würde, falls die Sicherheitsinitiative an den Deutschen scheitern würde247. Strong und Norman machten dies auch gegenüber Reichskanzler Luther in einer »extrem energischen Sprache«248 deutlich. Die deutsche Antwortnote vom 20. Juli 1925249 war vor allem ein Versuch, die verschiedenen Interessen, die an das AA herangetragen wurden und die man selbst verfolgte, abzugleichen. In der deutschen Note wurde zwar vor allem der Wille zur Einigung betont die DNVP hatte sich im Kabinett also mit der Forderung nach einer strikten Ablehnung der für Deutschland inakzeptablen Punkte nicht durchsetzen können250 - , im Grunde genommen aber an der deutschen Position festgehalten: Dem Beitritt zum Völkerbund wurde zwar prinzipiell zugestimmt, allerdings wurde wieder auf das Problem des Artikels 16 verwiesen251. Auch in der Frage der Ostschiedsverträge blieb die Kluft zwischen der französischen und der deutschen Position bestehen, wenngleich sie sich verringerte. Zwar lehnte die deutsche Seite nach wie vor das französische System der Schiedsverträge ab, das eine obligatorische Schlichtung aller Streitfragen einschloß252, war aber zu Zugeständnissen in dieser Frage bereit, die den französischen Forderungen recht nahe kamen253. Außerdem wurden in der Note unverzügliche militärsche Sanktionen abgelehnt, falls Deutschland nicht den Demilitarisie- 247 248 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 608. Aufzeichnung Seydoux (4.8.1925), MAE PAAP 261, 34. Text der Note in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, hg.v. Ministerium f. Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1962, Nr. 16. 250 Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1925), ADAPtsrnmihfedbaSRNLHECBA Α ΧΠΙ, Nr. 203. 251 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 609f. 252 Siehe ibid. 253 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 294. 249 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 235 rungsbestimmungen hinsichtlich des Rheinlands nachkam254. Auch wurde ­ und dies war sicherlich ein Zugestδndnis gegen٧ber der an der Regierung be­ teiligten DNVP ­ der Wunsch nach einer baldigen Rδumung des Rheinlands geäußert. Es war vor allem dieses letzte Anliegen, das auf englische und französische Ablehnung stieß255. Insgesamt war in England allerdings bezüglich der deutschen Note eine »zufriedenstellende Wirkung zu konstatieren«256, wenngleich Chamberlain jedoch Sthamer gegenüber äußerte, er habe »über die deutsche Antwort Enttäuschung empfunden«257. Auch aus Paris berichtete Hoesch zunächst Positives: »Mein Gesamteindruck aus Unterhaltung [mit Briand, R.B.] war der denkbar beste. Wie ich schon mehrfach betont habe, besteht kein Zweifel, daß Briand Abschluß Pakt aufrichtig wünscht«258. Allerdings, so der deutsche Botschafter weiter, sei zu erwarten, daß bei näherer Prüfung weitere Vorbehalte französischerseits vorgebracht würden259. Zwar zeigte sich Berthelot grundsätzlich überzeugt, daß man zu einem Ergebnis kommen werde, er kritisierte jedoch an der deutschen Note die Stellungnahme zum Artikel 16, die Forderung nach Modifizierung des Rheinlandregimes und das deutsche Schiedsvertragssystem260. Auch die französische Presse reagierte skeptisch und wies auf die großen Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Position hin261. Ziel der deutschen Note war es jedoch weniger, konkrete neue Vorschläge zur Sicherheitsinitiative zu unterbreiten, sondern endlich eine Konferenz einzuberufen, um den im AA zunehmend als unbefriedigend empfundenen Notenwechsel zu beenden262. In der Frage der Ostschiedsverträge und des Artikels 16 drehten sich die Verhandlungen im Kreis und die anhaltende öffentliche Kritik in Deutschland wurde immer lauter. Außerdem befürchtete das AA, daß England und Frankreich sich ohne deutsche Beteiligung auf einen Vertragsentwurf einigen könnten, der den Interessen des Reiches schaden würde263. In der Folgezeit ging es deshalb vor allem darum, das Datum und die Rahmenbedingungen für eine sich abzeichnende Konferenz festzulegen. Die etwas früher als vereinbarte Räumung des Ruhrgebiets zum 31. Juli 1925264 und die 254 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 609. Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 56. Sthamer an AA (23.7.1925), AD APzutsronmihgfedcbaXSRPNLIHEDCBA Α ΧΠΙ, Nr. 225. 257 Ibid. Anm. 7. 251 Hoesch an AA (20.7.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 219. 259 Siehe ibid. 260 Siehe Hoesch an AA (23.7.1925), ΡAAA R, 28238. 261 Siehe Hoesch an AA (22.7.1925), PAAA R, 28238. 262 Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1925), ADAP A XIII, Nr. 203. 263 Siehe Aufzeichnung Schubert (28.7.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 234. 264 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 611. 255 256 236 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Ank٧ndigung Frankreichs, auch die 1921 von den Alliierten besetzten Stδdte D٧sseldorf, Duisburg und Ruhrort zu rδumen265, stellten dabei ein Zeichen des guten Willens der Westmδchte, vor allem aber der Franzosen, dar, um das Klima zu verbessern. Die Erklδrung Briands gegen٧ber von Hoesch, daß Frankreich zwar gegenwärtig eine friedliche Änderung der polnischen Westgrenze für ausgeschlossen halte, in der Zukunft dafür aber durchaus Chancen sehe266, dürfte in Berlin ebenfalls positiv bewertet worden sein. Der finanzielle Druck der USA und Großbritanniens auf Deutschland und Frankreich erhöhte zudem den Handlungszwang auf die Regierungen in Berlin und Paris: In einem Gespräch zwischen Hoesch und Briand am 6. August 1925 hatte letzterer darauf hingewiesen, daß weder Frankreich noch Deutschland weitere Kredite aus dem Ausland erhalten würden, wenn sie zu keiner Einigung in der Sicherheitsfrage kämen267. Als der französische Außenminister anläßlich der Vorbereitung der Regierungskonferenz vom 8. bis 10. August 1925 in London weilte, bedeutete ihm der amerikanische Botschafter in England, Houghton, daß nur ein allgemein akzeptierter Sicherheitspakt dazu führen würde, daß die amerikanischen Finanzleute das nötige Vertrauen haben würden, weiterhin in Europa zu investieren268. Der Reparationsagent Parker Gilbert machte dies auch gegenüber Seydoux deutlich269. Da eine Konferenz immer wahrscheinlicher wurde, enthielt die neue französische Note vom 24. August 1925 zwar »keinerlei konkrete Zugeständnisse, bringt alliierten Standpunkt aber doch in viel weniger starrer Form«270. Wichtigster Punkt war sicherlich das offizielle Angebot, in direkte Verhandlungen über den Sicherheitspakt einzutreten271. Um die Regierungskonferenz vorzubereiten, schlug die englische Regierung ein Treffen zwischen Juristen aus den Außenministerien Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Belgiens vor272, was die deutsche Seite zunächst jedoch ablehnte, da die Probleme im Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt nicht juristischer, sondern »hochpolitischer«273 Natur seien. Nachdem sich Briand und Chamberlain auf ihrem bereits erwähnten Treffen jedoch auf eine gemeinsame Position verständigt hatten, blieb der Reichsregie265 Siehe Schubert an Hoesch (19.7.1925), ADAPzyxwutsrponmlkihgfedcbaZXSQPNMLIEDA Α ΧΠΙ, Nr. 214. Ein offizieller Beschluß der Botschafterkonferenz zur Räumung der Sanktionsstädte erfolgte am 5.8.1925, siehe Stresemann an Hoesch (7.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 261; zum 25.8.1925 war die Räumung abgeschlossen, sieheRLHECBA BAECHLER, Stresemann, S. 611. 266 Siehe Hoesch an Stresemann (6.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 258. 267 Siehe ibid. 268 Dufour an AA (11.8.1925), ADAP A Xffl, Nr. 275. Zu den amerikanischen Interessen an Locarno sieheRLGFEB BERG, deutsche Locarnopolitik, S. 260f.; LEFFLER, Quest, S. 115f. 269 Siehe Aufzeichnung Seydoux (12.8.1925), MAE PAAP 261, 34. 270 Runderlaß Schubert (28.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 36. 271 Siehe ibid. 272 Siehe Stresemann an Botschaft Paris (4.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 249. 273 Ibid. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 237 rung nichts anderes ٧brig, als der Juristenkonferenz zuzustimmen. Vom 31. August bis 4. September 1925 trafen sich die leitenden Juristen des AA (Friedrich Gaus), des Quai d'Orsay (Henri Fromageot), des englischen (Cecil Hurst), belgischen (Henri Rolin) und italienischen Außenministeriums (Massimo Pilotti) in London zu Gesprächen274. Zwar lediglich als Treffen von »rein informatorischefm] Charakter«275 eingestuft, kam es doch hinsichtlich der Ostschiedsverträge zu einer wichtigen Einigung: Hier konnte man sich auf den erweiterten deutschen Vorschlag verständigen276. Keine Einigung jedoch konnte hinsichtlich des Artikels 16 der Völkerbundssatzung gefunden werden. Hier beharrten die Deutschen weiterhin auf ihren Vorbehalten, um nicht im Falle eines polnisch-sowjetischen Konfliktes vom Völkerbund zu einer gegen die Sowjetunion gerichteten Intervention gezwungen werden zu können277. Gleichzeitig erklärte die Reichsregierung gegenüber Moskau, daß es auf keinen Fall die polnischen Grenzen anerkennen werde und seine Vorbehalte gegen den besagten Artikel 16 aufrechterhalten werde, um das deutschsowjetische Verhältnis nicht zu belasten278. Ungemach drohte der deutschen Politik aber nicht nur von den sowjetischen Interventionen und Störmanövern, sondern wiederum vor allem aus dem rechten Spektrum. Seit Juli 1925 startete die Rechte eine regelrechte Kampagne gegen Stresemann und seine Politik279. Dieser versuchte u.a. mit dem berühmten »Kronprinzenbrief«280 die Kritik von rechts zu entschärfen, was ihm aber nur mit mäßigem Erfolg gelang: In einer Kabinettssitzung am 22. September 1925281, in der über die Antwort auf die französische Note und den Vorschlag Briands, die Konferenz zur Sicherheitsfrage am 5. Oktober 1925 beginnen zu lassen, beraten wurde, kam es wiederum zu einem Zusammenstoß zwischen den DNVP-Ministern und Stresemann. Während der Außenminister durch eine Verbalnote vor allem die Teilnahme an der Konferenz bestätigen wollte, forderte Schiele (DNVP) die Übergabe einer Note, in der die deutschen Forderungen - namentlich eine Erklärung zur Ablehnung der deutschen Kriegsschuld, zur Entwaffnungsfrage und sofortigen Räumung der Kölner Zone - dargelegt werden sollten. Außerdem stellten die DNVP-Minister vier Bedingungen im Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt: Erstens sollte ein Ergebnis über die Räumung der Kölner Zone vor der Unterzeichnung des Sicherheitspakts erreicht werden. Zweitens sollten alle 274 Siehe undatierte Aufzeichnung Gaus [2.9.1925], ADAP A XIV, Nr. 47. Runderlaß Schubert (28.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 36. 276 SieheSRMLIHECBA B A E C H L E R , Stresemann, S. 5 7 . 277 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 294. 278 Siehe ibid. S. 295. 279 Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S. 613f. 280 Text: Stresemann an den ehemaligen Kronprinzen Wilhelm (7.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 52. Der »Kronprinzenbrief« ist eine Antwort auf ein Schreiben Wilhelms an Stresemann vom 28.8.1925 (Text in: M I C H A E L I S u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1375a). 281 Zum folgenden siehe Ministerbesprechung (22.9.1925), AdR Luther VII Bd. 1, Nr. 158. 275 238 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Formulierungen, die implizit als eine Anerkennung des territorialen Status quo ausgelegt werden konnten, entfallen und erreicht werden, daß der Sicherheitspakt einseitig gekündigt werden könne. Drittens sollten die Ostschiedsverträge auf rein juristische Fragen beschränkt werden, und viertens sollte an den Vorbehalten des deutschen Völkerbundsmemorandums vom September 1924, besonders bezüglich des Artikels 16, festgehalten werden. Außerdem bemühte sich die DNVP nachdrücklich, eine Teilnahme Reichskanzler Luthers an der Sicherheitskonferenz zu verhindern, um Stresemann anschließend allein für die Ergebnisse verantwortlich machen zu können282. Ganz konnte sich das AA den Forderungen der DNVP nicht entziehen, und so warf die deutsche Note vom 26. September 1926, in der die Teilnahme an der Locamo-Konferenz bestätigt wurde, in einer Erklärung die Kriegsschuldfrage und die Räumung der Kölner Zone auf283. Diese Erklärung stieß sowohl bei Berthelot als auch beim englischen Außenminister Chamberlain und dessen belgischen Kollegen Emile Vandervelde286 auf wenig Verständnis. Briand drohte sogar damit, die Konferenz platzen zu lassen, würde die deutsche Erklärung veröffentlicht287. Letztlich konnte das Problem mit Frankreich aber doch noch geregelt werden. Die Deutschen sollten ihre Erklärung abgeben, auf die eine französische Erwiderung folgte288. Nachdem diese letzten diplomatischen Hürden aus dem Weg geräumt worden waren, konnten die Regierungsdelegationen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Italien am 5. Oktober 1925 im Schweizer Kurort Locarno mit den Verhandlungen zum Sicherheitspakt beginnen. Für die Ostschiedsverträge wurden auch Delegationen aus der Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen289. Wie nach den vorangegangenen Notenwechseln zu erwarten war, waren besonders der Artikel 16290 und die Ostschiedsverträge - und hierbei besonders der Wunsch Frankreichs, als Garantiemacht dieser Verträge einbezogen zu werden291 - umstritten. Zunehmend rückten jedoch auch die sogenannten Nebenpunkte in die Diskussion292. Diese Nebenpunkte bzw. von Deutschland erwartete »Rückwirkungen« des Sicherheitspakts umfaßten zum einen die mög282 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 618. Siehe Hoesch an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 90. 284 Siehe ibid. 285 Siehe Sthamer an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 88. 286 Siehe Keller an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 89. 287 Siehe Hoesch an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 90. 288 Vgl. Hoesch an AA (29.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 100; Hoesch an Schubert (29.9. 1925), ADAP A XIV, Nr. 104. 289 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 295. 290 Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (8.10.1925), MAE PAAP 217, 105. 291 Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (11.10.1925), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 27. 292 Zu den Nebenpunkten siehe Aufzeichnung Schubert (9.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 132; Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. 283 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 239 liehst baldige Rδumung der Kφlner Zone, die vorzeitige Rδumung der beiden ٧brigen Besatzungszonen und die R٧ckgabe des Saargebiets. Yum anderen verlangte Deutschland, daß die Westmächte sich bei den Entwaffhungsbestimmungen hinsichtlich der verbliebenen Restpunkte großzügig zeigen und bei der Investigationsfrage Deutschland entgegenkommen sollten. Dabei dachte die deutsche Seite insbesondere an die Aufgabe der französischen Forderung nachtsnmleba elements stables, also einer internationalen Organisation, die die Demilitarisierung des Rheinlandes nach dem Ende der Besetzung Uberwachen sollte. Auch bei der Durchführung der Rheinlandbesetzung erwartete die Reichsregierung Erleichterungen: Die Alliierten sollten ihre Truppen reduzieren und die Besatzungsbehörden ihre Eingriffe in die Tätigkeit der deutschen Verwaltung auf ein Minimum beschränken. Ein weiterer Nebenpunkt waren Zugeständnisse fur Deutschland im Bereich der Zivilluftfahrt. Erwartungsgemäß trafen diese Forderungen bei der französischen Delegation auf wenig Begeisterung: »Hierauf ergriff Herr Briand das Wort und sagte, Herr Stresemann habe ja eine recht große Liste vorgetragen, und zwar mit dem Mut, der an Tollkühnheit grenze«293, und betonte, daß die Regelung dieser Fragen Zeit beanspruchen würde. Es sei unmöglich, diese Probleme auf der Konferenz zu regeln. Chamberlain schloß sich dieser Auffassimg weitgehend an. Stresemann, der sich um die innenpolitische Durchsetzung des Sicherheitspakts sorgte, machte gegenüber dem Westen deutlich, daß besonders hinsichtlich der Räumung der Kölner Zone und des Besatzungsregimes etwas geschehen müsse, konnte von Briand aber zunächst nur eine Zusage über Gespräche zur Ausgestaltung des Besatzungsregimes erhalten294. Trotz der Gegensätze zwischen den Positionen der Deutschen und der Westmächte standen Berlin, Paris und London, wie Hoesch analysierte, unter erheblichem Erfolgsdruck295. Zwar würde ein Scheitern der Konferenz Frankreichs Position in der Sicherheitsfrage gegenüber Großbritannien stärken, weil es den moralischen Druck auf London, sich um die Sicherheit des ehemaligen Verbündeten zu kümmern, erhöhen würde, doch war es mehr als fraglich, so Hoesch, ob sich England wieder auf das Genfer Protokoll einlassen würde. Frankreichs Kredit würde überdies, wie auch der Deutschlands, durch einen Abbruch der Konferenz Schaden nehmen, und die französische Währungskrise weiter verschärfen. England hingegen würde durch ein Scheitern von Locarno »in sehr peinliche Lage nach innen und außen kommen«296, weil es sich als Pate des guten deutschen Willens exponiert hatte. Auch würde sich London neuen französischen Sicherheitswünschen dann kaum widersetzen können. Die deutsche Regierung könne zwar, so der Botschafter weiter, innenpolitisch 293 Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. Siehe ibid. 295 Siehe Hoesch an AA (13.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 144. 296 Ibid. 254 240 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Kapital aus dem Scheitern der Sicherheitsverhandlungen ziehen, dem st٧nde jedoch die neuerliche außenpolitische Isolierung entgegen, die auch eine Lösung der schwebenden Fragen (Rheinlandräumung, Entwaffnung usw.) erschweren würde. Im Westen würde zudem wieder die Furcht vor einem deutsch-russischem Bündnis akut, was dessen Haltung gegenüber Deutschland verhärten würde. Nicht zuletzt wegen dieses Erfolgszwanges kamen die beteiligten Regierungen doch noch zu einer Übereinkunft in den strittigen Fragen, die am 16. Oktober 1925 paraphiert wurde. Bei dem Vertragswerk von Locarno297 handelte es sich um den Garantiepakt (Anhang A) und die Schiedsverträge zwischen Deutschland einerseits und Belgien, Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei andererseits (Anlagenzwvutsrpnl Β bis E). Anlage F umfaßte eine Auslegung des Artikels 16 der Völkerbundssatzung, auf die sich Deutschland und die übrigen Mächte geeinigt hatten. Inhaltlich brachte Locarno folgende Ergebnisse: Im Rheinpakt, der Anlage Α des Vertragswerkes, verpflichteten sich Deutschland, Frankreich und Belgien ge­ genseitig, die Unversehrtheit ihrer Grenzen zu wahren. Italien und Großbritannien waren die Garantiemächte dieses Abkommens, das faktisch die Anerkennung der deutschen Westgrenze und die endgültige Abtretung ElsaßLothringens und Eupen-Malmedys durch das Reich bedeutete298. Auch die Einhaltung der Demilitarisierungsbestimmungen bezüglich des Rheinlandes (Artikel 42 und 43 des Versailler Vertrags) wurden ausdrücklich bestätigt299. Gemäß dem Rheinpakt trat der Fall der Aggression dann ein, wenn ein Land das andere angriff, einmarschierte oder den Krieg erklärte300. Auch eine »contravention flagrante«301 der Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags302, dessen uneingeschränkte Gültigkeit nochmals ausdrücklich festgestellt wurde303, und des Schiedsobligatoriums304 stellten eine Verletzung des Pakts dar. Ausnahmen bildeten nur das Recht auf Selbstverteidigung und die Teilnahme an Aktionen im Rahmen der Artikel 15 und 16 der Völkerbundssatzung305. Die Schiedsverträge zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits bildeten einen integralen Bestandteil des Rheinpakts306. 297 Text des Abkommens in: G. Fr. MARTENS, Nouveau recueil geniral de traites et autres actes relatifs aux rapports de droit international. Continuation du grand recueil de G. Fr. Martens par Heinrich Treipel. Troisieme sdrie, Bd. XVI, Leipzig 1927, S. 7-32. 298 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 64. 299 Siehe Locarno-Verträge, Anhang A, Art. 1. 300 Siehe ibid. Art. 2. 301 Ibid. 302 Siehe ibid. 303 Siehe ibid. Art. 6. 304 Siehe ibid. Art. 3 und 5. 305 Siehe ibid. Art. 2. 306 Siehe ibid. Art. 3. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 241 Dies galt jedoch nicht f٧r das deutsch­polnische und das deutsch­ tschechoslowakische Schiedsabkommen, die im Rheinpakt keine Erwδhnung fanden. Der entscheidende Unterschied zwischen den Schiedsvertrδgen, die Deutschland mit seinen westlichen und seinen φstlichen Nachbarn abschloß, bestand denn auch darin, daß erstere mit den Garantien des Rheinpakts verknüpft wurden und letztere keine entsprechenden Garantien besaßen307. Allerdings wurde im Artikel 21 des polnisch-deutschen und des tschechoslowakisch-deutschen Schiedsvertrags festgestellt: »Le present Traite [...] ne portera aucune atteinte aux droits et obligations des Hautes Parties Contractantes en tant que membres de la Societe des Nations«308. Insofern bestand also eine Verknüpfung mit den Sanktions- und Schlichtungsmechanismen des Völkerbunds. Dieser Artikel fehlte in den ansonsten - bis auf die Präambel - so gut wie identischen Schiedsverträgen zwischen Deutschland und Frankreich bzw. Belgien. Allerdings bestand bereits durch den Rheinpakt eine Verknüpfung mit den entsprechenden Völkerbundsmechanismen309. Eine ausdrückliche Aufforderung an Deutschland, dem Völkerbund beizutreten, erfolgte zwar nicht, doch legte die Interpretation des Artikels 16, die weitgehend den deutschen Vorstellungen entsprach und als Anlage F dem Vertragswerk beilag, in der Tat den Eintritt Deutschlands nahe. Da außerdem sowohl der Rheinpakt als auch die Schiedsverträge vielfach mit Völkerbundsmechanismen verknüpft waren, bestand auch darin eine implizite Forderung nach einer deutschen Mitgliedschaft im Genfer Bund. Welche Konsequenzen ergaben sich aber aus den Locarno-Verträgen für die deutsche und die französische Außenpolitik? Eine Bewertung des Sicherheitspakts muß auf drei Ebenen erfolgen: Zunächst muß gefragt werden, welche der Vertragsparteien ihre Interessen durchsetzen konnte oder auf zentrale Wünsche verzichten mußte. Gemäß der Fragestellung dieser Studie soll sich dies jedoch hauptsächlich auf Deutschland und Frankreich beschränken. Zweitens muß untersucht werden, welche Folgen die Verträge für die deutsche und französische Außenpolitik hatten. Anschließend wird drittens die Frage zu klären sein, ob und inwieweit Locarno ein Betrag zur kollektiven Sicherheit und somit zur modernen Außenpolitik war. Bezüglich des ersten Punkts ist zunächst zu fragen, ob die deutsche Regierung die Ziele, die sie sich gesetzt hatte, mit Locarno erreichte. Ein wichtiges Motiv für die Sicherheitsinitiative war die Verhinderung eines gegen Deutschland gerichteten Bündnisses zwischen Paris und London gewesen. Dieses Ziel konnte Deutschland partiell durchsetzen, indem es den Rheinpakt zu einem gegenseitigen Garantiepakt gemacht hatte. Allerdings dürfte die Verhinderung eines englisch-französischen Bündnisses weniger Erfolg dieses Sicherheits307 Vgl. die Präambeln in den Locarno-Verträgen, Anhang B-E. Locamo-Verträge, Anhang D und E, jeweils Art. 21. 309 Siehe v.a. Art. 7 des Rheinpakts, Locamo-Verträge, Anhang A. 308 242 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung pakts gewesen sein, sondern vielmehr eine Erklδrung darin finden, daß Großbritannien dem Bündnis sowieso skeptisch bis ablehnend gegenüberstand und so den Rheinpakt als eine gute Möglichkeit sah, sich aus der Affäre zu ziehen. Sicherlich trugen die Abkommen von Locarno auch dazu bei, die deutsche Sicherheitslage allgemein zu verbessern, also einen neuerlichen Ruhreinbruch der Franzosen etwa noch unwahrscheinlicher zu machen. Auch der Fluß amerikanischen Kapitals nach Deutschland wurde durch den Rheinpakt gefördert. Allerdings waren die einseitigen Sanktionsmöglichkeiten Frankreichs ohnehin schon durch den Dawes-Plan erheblich eingeschränkt, so daß Sicherheitsbedenken wohl kaum Einfluß auf amerikanische Investitionen hatten. Außerdem war für die Kapitalzufuhr aus den USA die Sicherheitslage zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor: entscheidend war letztlich, wie lukrativ eine Investition war. Auf den unmittelbaren Anlaß für die deutsche Sicherheitsinitiative - die Räumung der Kölner Zone und das Ende der Militärkontrolle - hatte Locarno keinen direkten, wohl aber indirekten Einfluß. Zwar wurde in Locamo keine Vereinbarung über die Räumung der Kölner Zone getroffen, doch war der Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. November 1925, die Kölner Zone auch ohne vorherige vollständige Lösung der Entwaffnungsfrage ab dem 1. Dezember 1925 zu räumen310, nicht ohne die Ergebnisse von Locarno denkbar. Bis zur Auflösung der Interalliierten Militärkontrollkommissionen sollte allerdings noch mehr als ein Jahr vergehen, sie verließen Deutschland erst am 31. Januar 1927311. Ein weiteres Ziel deutscher Außenpolitik, gleichberechtigt im Konzert der europäischen Mächte mitzuspielen, wurde ebenfalls nur teilweise erreicht. Zwar konnte Deutschland in der Tat nicht mehr ohne weiteres ein Opfer von Diktaten werden312, allerdings wurde durch die neuerliche indirekte Anerkennung des Versailler Vertrags und speziell der Demilitarisierungsbestimmungen der Artikel 42 und 43 eine wirkliche Emanzipation gerade verhindert und die Sonderrechte der Sieger bestätigt. An der militärischen Machtlosigkeit Deutschlands änderte Locarno zunächst wenig. Das Mehr an Mitsprache wurde außerdem durch die Verpflichtungen aus den Schiedsverträgen in Ost und West eingeschränkt. Obwohl die Reichsregierung durch ihre Vorbehalte hinsichtlich des Artikels 16 und der Betonung der Offenhaltung der Revision der Ostgrenzen des Reiches versuchte, ihre guten Beziehungen zur Sowjetunion 310 Die Räumung der Kölner Zone wurde im Januar 1926 abgeschlossen, siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 64. 311 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 363. 312 Siehe ibid. S. 296f. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 243 zu erhalten, mußte der »Westruck«, den der Locamovertrag eingeleitet hatte, letztendlich auch die deutsch-sowjetische Kooperation schwächen313. Wenn aber Stresemanns Fem- und Hauptziel die Revision der deutschen Ostgrenze, besonders hinsichtlich des Korridors und Oberschlesiens war314, welche Auswirkungen hatten die Verträge von Locarno darauf? Durch die Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei hatte Deutschland gegenüber diesen beiden Ländern auf eine gewaltsame Revision der Grenzen verzichtet. Gleichzeitig wurden diese Verträge - über den Artikel 21 - mit den Sanktionsmechanismen des Völkerbunds gekoppelt, die ein Eingreifen Frankreichs zugunsten dieser Staaten gemäß den in der Völkerbundssatzung festgelegten Bestimmungen erlaubten. Der deutsche Botschafter in Warschau, Ulrich Rauscher, hatte, ganz zu Beginn der Sicherheitsverhandlungen, rein machtpolitisch argumentiert: Um kurzfristig im Westen - in der Räumungs-, Entwaffhungs- und Sicherheitsfrage - Erleichterung zu erzielen, könnte formal auch die polnische Westgrenze garantiert werden315. Wenn allerdings die Frage von Oberschlesien und dem Korridor einmal wirklich akut wird, so wird sie es auf Grund der tatsächlich vorhandenen Machtverhältnisse, denen gegenüber jeder Garantiepakt zu dem wird, was alle internationalen Verträge in solchen Augenblicken sind, zu einem Stück Papier. Bestände die Aussicht, auf friedlichem, schiedlichem Weg sich mit Polen zu verständigen, so wäre ein Garantiepakt ein wesentliches Hindernis. Da aber nach meiner festen Überzeugung die Polen eher über irgendwelche östlichen Gebiete mit sich reden ließen, ganz sicher aber nicht über den Korridor, ein geordnetes Verfahren also niemals zu erhoffen sein wird, könnte uns der Garantiepakt im entscheidenden Moment niemals schaden und insbesondere nicht an der Entfaltung von Machtmitteln verhindern, wenn die Weltkonstellation dies im übrigen zuläßt 316 . In diesem Falle würden die Verträge von Locarno in der Tat »zu einem Stück Papier«. Wie aber sah das deutsche Revisionskonzept gegenüber Polen tatsächlich aus? Stand es im Einklang mit den Verträgen von Locarno, oder waren der Rheinpakt und die Schiedsverträge tatsächlich nur ein taktisches Manöver der Deutschen, um die militärischen Voraussetzungen für eine gewaltsame Revision der Ostgrenzen zu schaffen? 313 Zu den Belastungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach Locarno vgl. Martin WALSDORFF, Der Berliner Vertrag und Stresemanns Ostpolitik in der Locarno-Ära, in: Wolfgang MLCHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 118-133. 314 Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 59; WANDYCZ, Twilight, S. 20. Zu den deutschen Revisionszielen im Osten im einzelnen siehe Aufzeichnung Dirksen (21.3.1925), ADAP A ΧΠ,ΝΓ. 189. 315 Siehe Rauscher an AA (12.2.1925), ADAP A XII, Nr. 92. 3,6 Ibid. usrnihedcba 244 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Zunδchst einmal war die Frage nach der Revision der Ostgrenze nicht akut317. Auch sollte die Revision ­ ging es nach Stresemann­ nur einen Teil der 1918 abgetretenen Gebiete umfassen, vor allem Danzig, den Korridor und Oberschlesien, um keine allzu große polnische Minderheit im Reich zu haben: »Eine neue Aufteilung Polens wie 1793 oder 95 wird nie ein Ziel deutscher Politik sein können. Die territorialen Ansprüche Deutschlands an Polen werden sich, abgesehen von dem hier behandelten Gebiet318 und abgesehen von Oberschlesien, im übrigen auf Grenzkorrekturen beschränken«319. Posen hingegen sei unzweifelhaft polnisch und müsse deswegen auch bei Polen bleiben. Die Schaffung eines neutralen Staates, bestehend aus dem Korridorgebiet und Danzig sei ebenfalls abzulehnen, da durch die seit Kriegsende eingeleiteten Maßnahmen zur Polonifizierung dieses Gebilde zweifelsohne nach Polen gravitieren würde. Da aber Warschau nie freiwillig auf die Gebiete verzichten würde, war nach deutscher Auffassung eine Revision nur »unter starkem Druck«320 auf Polen möglich: »Er wird in erster Linie von Rußland kommen können«321. In zweiter Linie sollte er durch wirtschaftlichen und finanziellen Zwang von Seiten der USA und Großbritanniens aufgebaut werden: »Deutschland hat an einem wirtschaftlichen Niedergang Polens nur insoweit ein Interesse, als Polen dadurch zu territorialen Opfern geneigter gemacht werden kann; darüber hinaus geht das deutsche Interesse an einer ungünstigen Entwicklung Polens nicht«322. Selbst dann aber müsse sich Polen in einem »Verwesungszustande«323 befinden, um dem Druck nachzugeben, und es müßten Kompensationen an Warschau erfolgen, vor allem weitreichende Zugeständnisse für den Verkehr nach Danzig und auf Kosten Litauens und des Memelgebiets324. Nach diesen Grenzkorrekturen stünde guten deutsch-polnischen Beziehungen und dem Frieden in Europa nichts mehr entgegen325. Formal stand dieses zweite, in Stresemanns Runderlaß entwickelte Revisionskonzept nicht im Widerspruch zu den Verträgen zu Locarno, wiewohl man sich jedoch fragen kann, ob der deutsch-polnische Wirtschaftskrieg326 mit dem 317 Siehe Aufzeichnung Schubert (16.3.1925), ADAPzutsrponmlkihgfedcbaYWTSRPONKIHG Α ΧΠ, Nr. 168; Schubert an Dufour (23.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 195. 318 Gemeint ist der Korridor, R.B. 319 Runderlaß Stresemann mit Anlage (30.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 177, siehe auch zum folgenden. 320 Ibid. 321 Ibid. 322 Ibid. 323 Aufzeichnung Dirksen (21.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 189. 324 Siehe Runderlaß Stresemann mit Anlage (30.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 177. 325 Siehe ibid. 326 Siehe Ralph SCHATTKOWSKY, Die Verträge von Locamo und die polnische Perzeption Deutschlands, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 119-130, hierS. 128; SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 136-140. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 245 Geist des gerade abgeschlossenen Schiedsvertrags vereinbar war327. Auch ist fraglich, inwieweit dieses Konzept realistisch und in sich stimmig war. Wie sollte beispielsweise die finanzielle und wirtschaftliche Einheitsfront mit den USA und Großbritannien gegen Polen hergestellt werden, zumal die Einflußmöglichkeiten der Diplomatie auf die Privatwirtschaft ja durchaus beschränkt waren? Wäre es nicht vielmehr so, daß die anderen Mächte von einem deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg328, wie er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre tatsächlich entstand, profitierten und deshalb gar kein Interesse an einem gemeinsamen, gegen Polen gerichteten wirtschaftlichen Vorgehen haben würden? Auch aus Gründen der politischen Stabilisierung Osteuropas hatte Großbritannien nach Locarno in der Tat ein zunehmendes Interesse an einer wirtschaftlichen Sanierung Polens »[o]hne große Sympathien für Polen zu hegen«329. Der Kredit, den Warschau 1927 zur Stabilisierung seiner Wirtschaft von den USA und Großbritannien erhielt330, bestätigt diese Überlegungen. Zwar wurde in den deutschen Überlegungen konzediert, daß wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen allein wohl zu keinem Ergebnis in der Frage der territorialen Revision geführt hätten, sondern es wohl vor allem des »Drucks« (höchstwahrscheinlich militärischer Art) von Seiten der Sowjetunion bedurft hätte, um zu einer für Deutschland zufriedenstellenden Lösung zu kommen. Das Verhältnis Berlins zu Moskau blieb dabei jedoch unklar: Wie hätte sich Deutschland im Falle eines sowjetisch-polnischen Konflikts verhalten? Wäre das Deutsche Reich - im Stile des Hitler-Stalin-Pakts - über Polen hergefallen, um sich zu holen, was es beanspruchte, wäre es wohl zur Intervention Frankreichs und Großbritanniens gekommen. Wie 1939 wäre Polen für den Westen vermutlich der Casus belli gewesen. Die Folgen für ein weitgehend entwaffnetes Deutschland wären dramatisch gewesen. Konnte das demokratische, republikanische Deutschland außerdem ein Interesse an einer direkten Nachbarschaft zur Sowjetunion haben? Wäre es nach Polen nicht das nächste Opfer der bolschewistischen Expansion geworden? Eine andere Möglichkeit hätte für Deutschland darin bestanden, von Polen territoriale Zugeständnisse im Gegenzug für eine militärische Unterstützung gegen die Sowjetunion zu erhalten. Nun aber hatte Deutschland mit seinem 100 000-Mann-Heer kein Pfund, mit dem es wuchern konnte. Auch dies war keine wirkliche Option, zumindest solange Deutschland militärisch schwach 327 In der Präambel des deutsch-polnischen Schiedsvertrags hieß es, der Vertrag werde abgeschlossen, »ä maintenir la paix entre l'AUemagne et la Pologne en assurant le riglement pacifique des difförends qui viendraienti i surgir entre les deux pays«, Locarno-Verträge, AnhangWTRIHGD D. Ähnlich argumentiert WRIGHT, Stresemann and Locarno, S. 127. 328 Siehe Roman DEBICKI, The Foreign Policy of Poland, 1919-1939. From the Rebirth of the Polish Republic to World WarzwutsronmkihgfecaYXVSPNIDA Π, New York 1962, S. 61­63. 329 AufzeichnungDirksen(16.11.1925), ADAP AXIV.Nr. 241. 330 SieheWTRIHG WRIGHT, Stresemann, S. 361. 246 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung war. Außerdem schien die Zeit für Polen zu spielen: In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verbesserte sich die wirtschaftliche Lage Polens, und innenpolitisch kam es nach dem Putsch Pilsudskis zu einer Konsolidierung331. Während die polnische Bevölkerung stark zunahm, nahm die deutsche in Ostpreußen und dem Korridorgebiet deutlich ab, weshalb der französische General Le Rond nach seiner Rückkehr von einer Rundreise durch die baltischen Staaten glaubte, daß die Frage des Korridors »n'existe qu'au point de vue sentimental et qu'au point de vue economique, eile a completement disparu«332. Immerhin sind die deutschen Überlegungen insofern erhellend, als daß sie den Charakter des deutsch-sowjetischen Verhältnisses offenbaren: Es handelte sich hierbei vor allem um eine strategische Allianz, die nur dann eine Berechtigung hatte, wenn dadurch nicht das deutsche Hauptziel, die Revision besonders im Osten, gefährdet wurde. Ließe sich die Revision auch ohne oder gegen Moskau durchführen, so hätten in Berlin vermutlich nur wenige Bedenken bestanden, das Bündnis mit der Sowjetunion aufzugeben. Interessanterweise wurde Frankreich - immerhin Polens wichtigster Verbündeter und Retter im polnisch-sowjetischen Konflikt von 1920 - kaum als Faktor in den deutschen Revisionsplänen berücksichtigt. Es ist jedoch davon auszugehen, daß man im AA von Frankreich keinen ernsthaften Widerstand in der Frage einer begrenzten Revision der Ostgrenze erwartete: Margerie hatte im März 1925 gegenüber Schubert erklärt, daß Herriot ihm gegenüber mehrmals gesagt habe: »>Wegen der polnischen Grenze werden wir ganz gewiß niemals Krieg fuhren<«333. Später stellte auch Briand gegenüber Hoesch die Revision der deutschen Ostgrenze in Aussicht334. Man muß allerdings den deutschen Plänen zugestehen, daß sie sich auf eine fernere Zukunft bezogen335, was so manche Unstimmigkeit verständlich macht, die vielleicht später gelöst worden wäre. Dies verdeutlicht jedoch, das die Priorität zunächst einmal auf der Lösung der Probleme mit den Westmächten (Rheinland, Reparationen usw.) lag, erst anschließend sollten die Probleme im Osten in Angriff genommen werden336. Dennoch sind die langfristigen Strategien, die Deutschland in Osteuropa verfolgte, ein wichtiger Hinweis darauf, »that the Locarno policy was more than mere tactic«337. Hinsichtlich der deutschen Revisionspolitik gegenüber Polen bleibt festzuhalten, daß es eine - freilich unausgereifte - Strategie zur friedlichen Revision 331 Siehe Aufzeichnung Seydoux [?] (27.1.1928), MAE PAAP 261, 37. Ibid. siehe auch zum folgenden. 333 Aufzeichnung Schubert (16.3.1925), ADAP A XII, Nr. 168. 334 Siehe Hoesch an Stresemann (6.8.1925), ADAPzutsronmlkihgfedcaWTSRPNLIHGDA Α ΧΠΙ, Nr. 258. 335 Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 346. 336 Siehe Aufzeichnung Planck [2.12.1926], ADAP Β I, 2, Nr. 225. 337 WRIGHT, Stresemann and Locarno, S. 129. 332 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 247 gab, die im Einklang mit den Vertrδgen von Locarno stand338. Allerdings exi­ stierte neben diesem Konzept auch ein weiteres, machtpolitisches, das, folgt man den oben skizzierten άberlegungen Rauschers, in Locarno lediglich ein taktisches Mittel sah, um die Revisionsziele letztlich militδrisch durchzuset­ zen. Inwiefern war nun aber die franzφsische Locarno­Politik erfolgreich gewe­ sen? Gemessen an dem franzφsischen Idealziel der Sicherheitspolitik, ein B٧ndnis mit Großbritannien und die Umsetzung des Genfer Protokolls, waren die Verträge von Locarno sicherlich nur ein kleiner Schritt, aber immerhin einer in die richtige Richtung. Die größte Schwäche von Locarno war aus französischer Sicht, daß Locarno keine substantiellen Sicherheitsgarantien von Seiten Großbritanniens vorsah339. Allerdings bedeutete Locarno auch die Anerkennung der französischen Sicherheitsinteressen durch Großbritannien. Weil Frankreich sich zudem stets gegenüber Deutschland in der Defensive sah und das Reich ja der potentielle Aggressor war, konnte die französische Führung faktisch den Garantiepakt als Bündniszusage bewerten340. Außerdem war Locarno für Frankreich nur der erste Schritt zur Etablierung eines Bündnisses mit Großbritannien: Vom Rheinpakt erwartete man in Paris vor allem, daß die englischen Widerstände gegen eine Allianz verringert würden341. Ein wichtiger Erfolg aus französischer Sicht waren sicherlich auch die Schiedsverträge Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn, vor allem mit Polen. Zwar hatte Frankreich sich nicht mit seiner Maximalforderung durchsetzen können, in die Ostschiedsverträge eine Garantie wie für die deutsche Westgrenze einzubauen. Durch den bereits erwähnten Artikel 21 der Ostschiedsverträge und die daraus resultierende Verknüpfung dieser Abkommen mit dem Völkerbund war für Frankreich aber aufgrund des Artikels 16 der Völkerbundssatzung weiterhin die Unterstützung seiner östlichen Verbündeten möglich. Die durch Locarno erreichte Verbindung des französischen Bündnissystems in Osteuropa mit den Mechanismen des Völkerbunds ist bislang vor allem als eine Aushöhlung und Schwächung dieses Systems (sofern es denn überhaupt bestand)342 interpretiert worden343. Dies ist insofern richtig, als jetzt die französisch-polnische Militär- 338 Anders Post, der in Locarno keine Abkehr Stresemanns von der Gewaltpolitik sieht und sie vor allem als taktisches Manöver interpretiert, siehe POST, Diplomatie, S. 264-266. 339 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 351. 340 Vgl. »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift (26.2.1926), MAE PAAP 217, 7; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 38f. 341 Siehe »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift (26.2.1926), MAE PAAP 217,7. 342 Meines Erachtens zu Recht kommt Wurm zu dem Schluß, daß es in Osteuropa, v.a. auch infolge der fehlenden französischen Mittel, kein ausgebildetes französisches Sicherheitssystem gab, siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 56, 356f. 343 Siehe Rauscher an AA (31.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 44; WANDYCZ, Twilight, S. 14; WURM, Sicherheitspolitik, S. 353; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 30. 248 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung konvention von 1921344 faktisch durch die Schiedsvertrδge außer Kraft gesetzt wurde und französische Hilfe nur dann möglich war, wenn durch den mitunter langwierigen und schwerfälligen Entscheidungsprozeß im Völkerbund ein entsprechendes Mandat bestand345. Andererseits wurde die Verletzung der polnischen Westgrenze durch den Artikel 21 des deutsch-polnischen Schiedsvertrags jetzt ausdrücklich auch zur Angelegenheit des Völkerbunds und erhöhte so deren Bestandsgarantie. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß das französisch-polnische Bündnis ja kein Selbstzweck war, sondern dem Ziel der französischen Sicherheit untergeordnet war. Ließ sich die französische Sicherheit auch ohne dieses Bündnis erhöhen oder stand dieses Bündnis sogar einer Erhöhung der französischen Sicherheit im Weg, so war der Quai d'Orsay im Rahmen bestimmter Grenzen bereit, dieses Bündnis auch zu relativieren346. Ein Ausgleich mit Deutschland, wie er in Locarno erreicht worden war, rechtfertigte eine Auflockerung des französisch-polnischen Bündnisses zumindest in dem Maße, in dem die französische Sicherheit an seiner Westgrenze gewahrt blieb oder erhöht wurde. Nur so ist auch die sicherlich überspitzte Äußerung des englischen Botschafters in Berlin, D'Abemon, zu verstehen, der gegenüber Schubert erklärt hatte, »das Verhältnis zwischen Frankreich und Polen sei doch schließlich dasjenige eines Mannes, der sich in eleganter Weise von seiner Maitresse trennen wolle«347. Es ist weiter argumentiert worden, daß die neue Interpretation des Artikels 16 - gemäß Anlage F des Abkommens von Locarno - zu einer weiteren Aufweichung dieses Artikels gefuhrt, und damit die ohnehin nur rudimentär in der Völkerbundssatzung angelegten Ansätze zur kollektiven Sicherheit weiter geschwächt habe348. Diese Interpretation muß meines Erachtens jedoch ergänzt werden: Richtig ist, daß die in Anlage F dargelegte Formulierung, die Hilfeleistung eines Bundesmitglieds aufgrund des Artikels 16 könne nur »in dem Maße, das mit seiner militärischen Situation kompatibel ist und das seiner geographischen Lage Rechnung trägt« erfolgen, es der Reichsregierung beispielsweise im Falle eines polnisch-sowjetischen Konflikts erlaubt hätte, faktisch neutral zu bleiben. Allerdings erlaubte auch diese neue Interpretation des Artikels 16 der französischen Regierung, im Falle eines deutsch-polnischen Konflikts mit Zustimmung des Völkerbunds Polen zu Hilfe zu kommen. Auf Grund der Bestimmungen des Artikels 15 der Völkerbundssatzung war für eine französische Hilfeleistung - wie Wright richtig feststellt - sogar nicht einmal ein einstimmiger Beschluß des Völkerbundsrates notwendig, so daß der Spielraum Frankreichs, dem Verbündeten zu Hilfe zu kommen, durch die 344 Vgl. BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 159. So JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 30. 346 Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 14. 347 Aufzeichnung Schubert (8.7.1925), ADAPzutronlihgeaTSRNIHEDBA Α ΧΙΠ, Nr. 197. 348 So NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76; KRÜGER, Außenpolitik, S. 300. 345 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 249 Vφlkerbundssatzung nicht allzusehr eingeschrδnkt wurde349. Bestδtigung fin­ det diese Interpretation des Artikels 16 durch Frankreich durch die Unter­ zeichnung der Beistandsabkommen zwischen Frankreich und Polen bzw. Frankreich und der Tschechoslowakei, ebenfalls am 16. Oktober 1925. Mit diesen Vertrδgen erneuerte Frankreich seine Beistandsverpflichtungen gegen­ ٧ber diesen Staaten350. Schubert stellte klar, daß auch schon vor der Begriffsbestimmung der Anlage F »jeder Staat bei der Durchführung seiner Verpflichtungen aus Art. 16 völlig souverän darüber entscheidet, was er zu tun hat und was er tun will. [...] Nach diesem unbestrittenen Grundsatze wäre rein sachlich und juristisch genommen irgendeine Zusicherung an Deutschland wegen dieser Verpflichtungen aus Artikel 16 überhaupt nicht nötig gewesen«351. Es handelte sich also lediglich um eine Klarstellung. Im übrigen ist der Wortlaut der Anlage F fast identisch mit dem des Artikels 11 des Genfer Protokolls, weshalb die Anlage F per se keinerlei Zugeständnis von Seiten der Westmächte an die Reichsregierung bedeutete352. Außerdem waren der Schweiz und Irland im Zusammenhang mit deren Beitrittverhandlungen zum Völkerbund schon lange vor Locarno ähnliche Zusagen gemacht worden353. Aus der Anlage F generell eine Schwächung des Völkerbunds zu folgern, wie dies beispielsweise Niedhart getan hat354, greift deshalb zu kurz. Aus französischer Sicht stellte Locarno in der Tat eine Ergänzung zum bisherigen französischen Sicherheitssystem dar355. Da im Rheinpakt auch endlich eine international anerkannte Definition von Aggression gefunden wurde356, was den verschiedenen Studienkommissionen des Völkerbunds bislang nicht geglückt war, ist zu fragen, ob Locarno die kollektiven Sicherheitsstrukturen nicht sogar verbesserte. Aus französi- 349 SieheWUTSRONMLKIHGEC WRIGHT, Stresemann, S. 344. Die entsprechende Formulierung in Artikel 15 der Völkerbundssatzung lautet: »Wird der Bericht des Rates [zur Lösung eines Konfliktes, R.B.] nicht von allen Mitgliedern angenommen, die nicht Partei sind, so behalten sich die Bundesmitglieder das Recht vor, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihnen für die Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit erforderlich erscheinen«. Im gleichen Sinne auch: Georges-Henri SOUTOU, La France et la problematique de la securite collective ä partir de Locarno. Dialectique juridique et impasse göostrategique, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift Peter Krüger), Stuttgart 2001, S. 131-152, hier S. 136. 350 Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 90f. 351 Schubert an Kempner (14.10.1925), AdR LutherzyutsrqponmlkihgfedcbaVUSRPNKJIHFEDCBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 188. 352 Anders Bariity: JacquesYTRNLIHEDBA BARLITY, Aristide Briand et la sicuriti de la France en Europe, 1919­1932, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit 1914-1963, München 2000 (Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien, 46), S. 117-134, hier S. 129. 353 Siehe Aufzeichnung Stresemann (9.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 145; Aufzeichnung Schu­ bert (10.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 149. 354 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76. Eine ähnliche Argumentation findet sich bei KR٢GER, Außenpolitik, S. 300. 355 Siehe SOUTOU, Securit6 collective, S. 136f. 356 Vgl. o.; Locamo-Verträge, Anhang A, Art. 2, 3, 5, 6; KRISCH, Selbstverteidigung, S. 35. 250 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiening scher Sicht war dies sicherlich der Fall. Paris hδtte andernfalls wohl kaum der neuen Interpretation des Artikels 16 seine Zustimmung gegeben. Aus franzφsischer Sicht der Dinge waren mit den Vertrδgen von Locarno al­ so drei wichtige Ergebnisse erreicht worden: Man hatte erstens eine per se schon wichtige Sicherheitsgarantie von Großbritannien im Falle einer deutschen Aggression gewonnen. Zweitens würde - so sah man dies zumindest zu diesem Zeitpunkt in Paris - der Abschluß des Rheinpakts ein Bündnis mit Großbritannien eher erleichtern denn erschweren. Drittens wurden in Locarno die Ostschiedsverträge mit den Völkerbundsmechanismen gekoppelt, wodurch Frankreich ein wichtiges Ziel, das es schon mit dem Genfer Protokoll verfolgt hatte, erreichte. Dies bedeutete, daß das französische Sicherheitsprogramm, mit seinen Kernpunkten französisch-britisches Bündnis und Ausbau des Völkerbunds zu einem Organ der kollektiven Sicherheit (Genfer Protokoll), durch Locarno nicht nur nicht beschädigt worden war, sondern im Gegenteil wichtige Grundlagen davon erst umgesetzt werden konnten. Eine französische Aufzeichnung vom November des Jahres 1925 kommt denn auch zu dem Schluß: »La Societe des Nations est renforcee non seulement par ce que l'Allemagne va y entrer, mais aussi parce que tous les accords sont domines par l'esprit du Pacte [gemeint: der Völkerbundspakt, R.B.] et celui du Protocole [von Genf, R.B.]«357. Während aber das 1919 geplante (und gescheiterte) Sicherheitssystem mit den Allianzen zwischen Frankreich einerseits und den USA und England andererseits lediglich die Fortsetzung einer Kriegsallianz gewesen sei, so bedeutete Locarno einen beträchtlichen Fortschritt: En 1925, la s6cunte apparait resider dans une organisation du continent europ6en pour le reglement pacifique des dift£rends, dans le cadre de la Socidte des Nations et dans une garantie donnee äzwvutsrponmlkihgfedcbaZRKIGDA Γ observation d'accords librement consentis. D'un cot£ des rapports de force, de l'autre la notion de l'harmonie, au sein de l'organisme europ6en, de nations solidaires et non plus de puissances opposees358. Allerdings, und das soll hier mit aller Deutlichkeit gesagt werden, handelte es sich eben nur um Grundlagen, die einer umfassenden Konkretisierung bedurf­ ten. In diesem Zusammenhang nahm das besetzte Rheinland eine Schlüsselstellung ein: Bis zum Ausbau des Völkerbunds zu einem wirklich funktionierenden Sicherheitssystem bilde es die »garanties immediates de securite«359. Ob diese Konkretisierungen aber überhaupt Erfolg haben würden, war zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise absehbar. In Locarno konnte Frankreich sein sicherheitspolitisches Maximalziel - ein Bündnis mit England und die Etablierung kollektiver Sicherheitsstrukturen vor allem in Osteuropa - zwar nur sehr begrenzt verwirklichen, allerdings war die 357 Aufzeichnung ohne Unterschrift [Massigli?] (9.11.1925), MAE PAAP 217, 7. Ibid. 359 Ibid. 358 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 251 Erlangung dieses Ziels, so wurde es zumindest in Paris wahrgenommen, durch Locarno eher erleichtert worden. Insofern hat Frankreich vielleicht von Locar­ no stδrker profitiert als Deutschland, das ­ zumindest, wenn es ernsthaft an den friedlichen Konfliktregelungsmechanismen interessiert war, denen es in Locarno zugestimmt hatte ­ in vielen Bereichen an Spielraum in der Revisi­ onspolitik eingebüßt hatte. Dies betraf vor allem die Sanktionierung der Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland und die Unterwerfung des Prozesses der territorialen Revision letzten Endes unter die Mechanismen des Völkerbunds. Größter Gewinner von Locarno war wahrscheinlich Großbritannien. Es hatte keine neuen Verpflichtungen in Europa übernommen, die es erfordert hätten, seine heimischen und imperialen Interessen zu vernachlässigen360. Durch die stärkere Einbindung Deutschlands in den Westen hatte London außerdem erreichen können, den sowjetischen Einfluß in Europa einzudämmen, ja sogar etwas zurückzudrängen361. Folglich stand die Sowjetunion - trotz des behutsamen Vorgehens der Reichsregierung besonders in der Frage des Artikels 16 - eher auf der Seite der Verlierer der Locarno-Verträge. Welche Konsequenzen aber hatten die Abkommen von Locarno für die zukünftige Politik Deutschlands und Frankreichs? Frankreich hatte sein Ziel, die dauerhafte Gewährung von Sicherheit gegenüber Deutschland, durch Locarno nicht erreicht. Locarno bedeutete zwar einen Fortschritt, beileibe aber noch nicht das angestrebte Ende der französischen Sicherheitspolitik. Frankreich mußte also daran gelegen sein, die Grundlagen, die in Locarno gelegt worden waren, durch wirksame Mechanismen zu ergänzen. Konkret bedeutete dies: Ausbau der Sicherheitsgarantie des Rheinpakts vorzugsweise durch ein französisch-britisches Bündnis (oder eine trilaterale Allianz unter Einschluß Belgiens) und den Ausbau des Schiedssystems in Osteuropa unter Völkerbundsägide, quasi also doch noch die Umsetzung des Genfer Protokolls. Für Deutschland waren die Erfolge von Locarno revisionspolitisch bescheiden. Die Reichsregierung war danach verstärkt an der Durchsetzung der sogenannten Rückwirkungen interessiert. Das grundsätzliche Dilemma der deutsch-französischen Beziehungen, daß nämlich Revision nur dann erfolgen konnte, wenn damit eine Erhöhung der Sicherheit einherging, blieb aber auch nach Locarno bestehen. So war Frankreich zwar nicht grundsätzlich gegen die Rückkehr Danzigs und des Korridors an Deutschland, aber nur bei weitreichenden deutschen Konzessionen in der Sicherheitsfrage362. Zusätzliche Sicherheitsgarantien, die die Erfüllung der deutschen Revisionsforderungen abfedern könnten, mußten zwangsläufig 360 361 362 Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 19. Siehe NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, S. 420. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 349. 252 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung durch Dritte, also vor allem durch Großbritannien und die USA erfolgen. Locarno hatte jedoch die englische Bereitschaft, sich weiter zugunsten der französischen Sicherheit zu engagieren - entgegen der französischen Wahrnehmung - stark gedämpft. Nach dem Abschluß des Rheinpakts war es deshalb eher schwieriger geworden, einen Ausgleich zwischen den Zielen der französischen und der deutschen Außenpolitik zu erreichen. Dem System von Locarno fehlte der Moderator, eine Kraft, die durch sanften Druck oder durch Konzessionen an die eine oder andere Seite hätte helfen können, die Widersprüche zwischen Sicherheitsstreben und Revisionsverlangen abzugleichen363. Aber selbst wenn England zu einem stärkeren Engagement bereit gewesen wäre, stellt sich die Frage, ob es dazu noch die Kraft gehabt hätte364. Die USA, aufgrund ihrer im Weltkrieg gewonnenen Stellung und ihrer überlegenen Wirtschaftskraft die geeignetste Macht, vermittelnd in das deutschfranzösische Verhältnis einzugreifen, um das zarte Pflänzchen der Kooperation zu hegen, blieb, vor allem was den politischen Bereich anging, passiv und glänzte vielmehr durch wohlwollendes Desinteresse365: Washington war der Meinung, daß mit dem Vertrag von Locarno das französische Sicherheitsproblem weitgehend gelöst wurde366. Locarno bedeutete deshalb fur die deutsch-französischen Beziehungen also zweierlei: Zentrale außenpolitische Ziele hatten weder Paris noch Berlin durchsetzen können. Das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs war nach wie vor nicht gestillt, die deutschen Revisionsforderungen ebensowenig, wobei der grundsätzliche Widerspruch zwischen beiden Politiken bestehenblieb. Hinsichtlich der Sicherheitspolitik wurde dies dadurch deutlich, daß Frankreich Locamo erst als Anfang einer umfassenden europäischen Sicherheitsordnung sah, während Deutschland darin bereits den Endpunkt seiner Zugeständnisse in dieser Frage erblickte367. Da für Großbritannien und die USA die wichtigsten Ziele erreicht worden waren - also vor allem die Stabilisierung des europäischen Kontinents, um sich dort gefahrlos wirtschaftlich betätigen zu können - war von diesen beiden Mächten in Zukunft keine aktive Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen zu erwarten, was dazu führte, daß sich die außenpolitischen Handlungsspielräume Frankreichs und Deutschlands, trotz der Verbesserung der Beziehungen durch Locarno, paradoxerweise eher verengten. Es kann also nicht davon die Rede sein, daß Locarno »Wege für eine friedliche Revision des Versailler Vertrags eröffnet«368 hat. Die zähen Verhandlungen um die sogenannten »Rückwirkungen« von Locarno - also die 363 Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 74. Siehe BERG, deutsche Locarnopolitik, S. 266. 365 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 73. 366 Siehe LEFFLER, Quest, S. 119. 367 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 352, 539. 368 POST, Diplomatie, S. 258. Siehe auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 297. 364 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 253 von Deutschland erwarteten Zugestδndnisse in der Entwaffhungsfrage, der Vφlkerbundskontrolle oder der vorzeitigen Rδumung des Rheinlandes ­ bele­ gen dies. Insofern trug Locarno tendenziell auch dazu bei, die Versailler Ord­ nung zu zementieren: Explizit dadurch, daß Deutschland seine Westgrenze akzeptierte und die Demilitarisierung des Rheinlandes anerkannte, implizit dadurch, daß es sich friedliche Konfliktregelungsmechanismen - wie sie in der Völkerbundssatzung (die ja wiederum integraler Bestandteil des Versailler Vertrags war) festgelegt waren - zu eigen machte. Welche Auswirkungen hatten die Verträge von Locarno nun aber auf die Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen, inwiefern trugen sie also zu einer Modernisierung der Außenpolitik bei? Zunächst bleibt festzustellen, daß der Rheinpakt ein System kollektiver Sicherheit konstituierte: Die gegenseitige Garantie des territorialen Besitzstandes Frankreichs, Belgiens und Deutschlands durch alle Unterzeichnerstaaten unter Einschluß des potentiellen Aggressors, aus französischer Sicht also Deutschland. Allerdings wurden durch Locarno keine Sicherheitsstrukturen gebildet369, die den potentiellen Aggressor im Ernstfall hätten abschrecken können und schnelle Hilfe für das Opfer der Aggression bedeutet hätten. Dies lag einerseits darin begründet, daß Großbritannien als wichtigste Garantiemacht nicht zu weiteren Bündnisverpflichtungen bereit war, andererseits aber auch in der Logik des Systems, in dem jeder Staat potentiell sowohl Aggressor als auch Opfer sein konnte. Frankreich erkannte durchaus dieses Problem und sah Locarno deshalb eben nur als eine flankierende Sicherheitsgarantie, neben einem immer noch erhofften und erstrebten Bündnis mit Großbritannien, um die aus Pariser Sicht bestehenden Defizite des Systems der kollektiven Sicherheit zu beheben. Außerdem war Locarno für Frankreich eine willkommene Atempause, um seine eigenen finanziellen Probleme zu lösen und damit auch seine militärische Handlungsfähigkeit zu erhöhen370. Deutschland und Großbritannien dagegen hielten die Verpflichtungen und Sicherungen der Locarno-Verträge - aus unterschiedlichen Gründen - fur ausreichend, was die Ergänzung von Locarno durch konkrete Sicherheitsstrukturen behindern, wenn nicht gar unmöglich machen sollte. Sicherheitspolitisch blieb Locarno also eine Dame ohne Unterleib: Ein Bündnis der kollektiven Sicherheit war vereinbart und Regeln zur Definition eines Aggressors festgelegt worden, aber das Instrumentarium zu dessen Durchsetzung wurde nicht geschaffen. Gerade die fehlenden Sicherheitsstrukturen entwerteten die Garantie371. 369 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 352. Siehe ibid. S. 346f. 371 Siehe George A. GRÜN, Locarno. Idea and Reality, in: International Affairs 31 (1955), S. 477-485, hier S. 485. 370 254 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Allerdings, und dies wurde weiter oben bereits dargelegt, darf der rein mili­ tδrische Aspekt nicht ٧berbewertet werden. Mit dem Ausbau kollektiver Si­ cherheitsstrukturen sollte letztlich erreicht werden, daß es gar nicht mehr zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt. Insofern ist bedeutsam, daß die Sicherheitslage durch Schiedsverfahren und die allgemeine Entspannung insgesamt verbessert wurde. Eine weitere Kritik an den Verträgen von Locarno war, daß sie zu einer sicherheitspolitischen Zweiteilung Europas gefuhrt hätten: Während im Westen Europas mit dem Rheinpakt das liberale Modell der Friedenssicherung zumindest teilweise etabliert worden sei, sei im Osten Europas die instabile Lage erhalten geblieben372. Dies ist sicherlich zum Teil richtig. Allerdings bestanden im Westen Europas wesentliche Konfliktpunkte nicht, die die Lage in Osteuropa komplizierten. So war im Westen die Grenzziehung weitgehend unumstritten. Deutschland und der Westen hatten darüber hinaus ein gemeinsames Interesse, den Zustrom amerikanischen Geldes zu sichern, während auf den osteuropäischen Märkten alle Staaten als Konkurrenten um wirtschaftlichen und politischen Einfluß kämpften. Außerdem ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, daß in Regionen, in denen es einfacher ist, zu Sicherheitsabsprachen zu kommen, schneller mit dem Aufbau von Sicherheitsstrukturen vorangegangen wird und Problemfälle, wie die deutsch-polnischen Beziehungen, zunächst ausgeklammert bleiben. Selbst in Osteuropa wurde durch die Schiedsverträge zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn die Sicherheitslage verbessert. Die Verknüpfung dieser Schiedsverträge mit dem Völkerbund konsolidierte die Situation weiter. Durch den immer wahrscheinlicher werdenden Beitritt Deutschlands zum Völkerbund nahm die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konfliktes in dieser Region weiter ab. Trotz der unleugbaren Ungleichbehandlung von Ost- und Westeuropa und des noch lückenhaften und stark verbesserungsfähigen Systems der kollektiven Sicherheit nahm die Sicherheit in ganz Europa durch Locarno zu. Eng im Zusammenhang mit dem Vorwurf der sicherheitspolitischen Zweiteilung Europas steht die Kritik, Locarno hätte den Völkerbund geschwächt, indem die ohnehin wenig bindende Aussage des Artikels 16 weiter verwässert worden sei373. Wie oben dargelegt, war dies nicht der Fall. Durch die Kopplung der Schiedsverträge in Ost und West an die Völkerbundmechanismen und die Verknüpfung des Rheinpakts mit dem Völkerbund dürfte umgekehrt eher eine Stärkung des Völkerbunds als friedensbewahrendes Element und seiner Prinzipien eingetreten sein. Die im Rheinpakt erfolgte Definition der Aggression dürfte darüber hinaus, obwohl sie natürlich nicht Bestandteil der Völkerbundssatzung wurde, die Diskussion um kollektive Sicherheit im Bund positiv beeinflußt haben. Es kann durchaus davon ausgegangen werden, 372 373 Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 64. Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 300. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen 255 daß von Locarno, vom Rheinpakt ebenso wie von den Schiedsverträgen, positive Impulse für die Schaffung kollektiver Sicherheit ausgegangen sind. Aus dem Blickwinkel der kollektiven Sicherheit ist auch die Schwächung der Bündnisse Frankreichs mit seinen östlichen Verbündeten positiv zu bewerten. Wie in der Definition von kollektiver Sicherheit festgestellt wurde, sind Bündnisse, die sich gegen einen oder mehrere andere Staaten richten, potentiell für die kollektive Sicherheit gefährlich, weil sie die Gefahr von Konflikten erhöhen374. Insofern war die Abschwächung des Bündnisses Frankreichs vor allem mit Polen, aber auch mit seinen anderen Verbündeten in Osteuropa, die durch Locarno zweifelsohne eintrat375, gut für die kollektive Sicherheit. Man mag einwenden, daß die Auflösung der Bündnisstrukturen in Osteuropa zu einer größeren Instabilität und damit zu einer allgemeinen Verringerung der Sicherheit geführt habe; dies ist meines Erachtens aber nur bedingt der Fall: Der Rückgang der Bedeutung der Bündnisse Frankreichs mit seinen östlichen Alliierten wurde deshalb zu keinem wachsenden Sicherheitsdefizit, weil durch die Schiedsverträge und die gestiegene Relevanz von kollektiver Sicherheit neue Sicherheiten geschaffen wurden. Außerdem korrelierte der Rückgang der Bedeutung der französischen Bündnisse mit dem Bedeutungsverlust der deutsch-sowjetischen Allianz durch den »Westruck« Deutschlands376. Der stabilisierende Einfluß von Locarno auf Osteuropa zeigte sich schon bald darin, daß Stresemann und die deutsche Diplomatie in der Doppelkrise um den Abbruch der britisch-sowjetischen Beziehungen im Mai 1927 und den litauischpolnischen Konflikt, der ganz Osteuropa zu destabilisieren drohte, den Versuchungen widerstanden, zusammen mit der Sowjetunion zu kurzfristigen politischen Erfolgen zu gelangen377. Locamo legte somit den Grundstein dafür, daß traditionelle Bündnisse in Europa langsam an Gewicht verloren und kollektive Sicherheitsstrukturen an Bedeutung gewannen, wenngleich dies natürlich nur die bescheidenen Anfänge und nicht den Endpunkt einer Entwicklung darstellte. Allerdings wurde die kollektive Sicherheit nicht um ihrer selbst Willen implementiert, sondern blieb, besonders was die deutsche Seite anging, taktischen Überlegungen (Erleichterung der Revision und die sogenannten »Rückwirkungen«) untergeordnet. Um aber tatsächlich zu dauerhaften und tragfähigen Fortschritten in der Sicherheitsfrage mit Hilfe des Systems der kollektiven Sicherheit zu kommen, war es nötig, Locarno und den Völkerbund durch funktionierende Strukturen zu ergänzen. Voraussetzung dafür war wiederum, daß kollektive Sicherheit allgemein akzeptiert wurde und nicht nur ein vor allem taktisches Moment zur Durchsetzung anderer politischer Konzepte blieb. Vgl.RNG GR٢N, Locamo, S. 479. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 346. 376 Vgl. hierzu Aufzeichnung Wallroth (16.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 240. 377 Vgl. WRIGHT, Stresemann, S. 396-400,404. 374 375 256 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Nichtsdestotrotz bildete Locamo einen entscheidenden Einschnitt und mφg­ lichen Ausgangspunkt f٧r eine neue Politik. Ob sich dadurch die nach wie vor großen Gegensätze zwischen deutschen und französischen außenpolitischen Zielen würden überbrücken lassen, mußte die Zukunft entscheiden. Begreift man Locarno als den Anfang und nicht als das Ende der kollektiven Sicherheit, so kann man der positiven Einschätzung des Generalsekretariats des Völkerbunds von 1930 durchaus zustimmen: »Les accords de Locarno presentent un caractere eminemment nouveau, celui de combiner les 61ements les plus interessante des traites de divers genres anterieurement conclus: d'arbitrage, de conciliation, de non-agression et de garantie, elements qui se trouvaient dejä reunis dans le pacte«378. Wie gesagt, Locarno war ein Anfang. Wie entwickelte sich die Sicherheitsfrage danach weiter? Für Deutschland gewann die Frage der oben bereits kurz angedeuteten »Rückwirkungen« an Gewicht. Bereits im Sommer des Jahres 1925 hatte die Reichsregierung angedeutet, daß sie im Falle eines Abschlusses des Sicherheitspakts Gegenleistungen von den Alliierten erwarten würde. In der bereits erwähnten deutschen Note vom 20. Juli 1925 wurde vor allem die Räumung des Rheinlandes gefordert379. Das AA mußte dabei einen schwierigen Kurs steuern: Um an der Heimatfront vor allem den Vorwürfen von Rechts entgegenzuwirken, mußten die Rückwirkungen ins Spiel gebracht werden. Andererseits war es verhandlungstaktisch unklug, die Westmächte noch vor Beginn der Locamo-Konferenz mit neuen Forderungen zu konfrontieren380. Im Vorfeld der Konferenz von Locarno wurde deshalb versucht, die Frage der Rückwirkungen möglichst behutsam zu behandeln. Erst in Locarno, und auch erst in der Endphase der Konferenz ab dem 12. Oktober 1925 brachten Stresemann und Luther die Rückwirkungen oder auch »Nebenpunkte« gegenüber den Westmächten zur Sprache381. Diese umfaßten eine Amnestie für die Gefangenen des Ruhrkampfs382 ebenso wie die Aufhebung der Beschränkungen für die deutsche Zivilluftfahrt, wobei diese Frage zunächst wegen anderer, wichtigerer Probleme zurückgestellt wurde383. Zudem erwartete die Reichsregierung eine entgegenkommende Behandlung der noch offenen Punkte in der Entwaffnungsfrage und lehnte die Etablierung dauerhafter Überwachungsorgane 378 Dix ans de cooperation internationale, hg. v. Secritariat de la S.D.N., Genf 1930, zitiert nach: BAILLOU, Affaires itrang£res, S. 512. 379 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 56 380 Siehe Stresemann an die Botschaften in London, Paris, Rom und die Gesandtschaft in Br٧ssel (24.9.1925), AD AP A XIV, Nr. 80. 381 Vgl. hierzu Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138; Aufzeichnung Schubert (15.10.1925), AdR LutherzyutsrponmlihgfedcbaXVSRPONLJIHDCBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 195a; Aufzeichnung Luther (15.10.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 2, Nr. 195b. 382 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 60. 383 Schubert an Hoesch (26.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 183. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 257 im Rheinland zur Kontrolle der Demilitarisierungsbestimmungen, die soge­ nanntentsnmleba elements stables, ab384. Die wichtigsten Forderungen bezogen sich aber auf das besetzte Rheinland. Hier erwartete Deutschland die Rδumung der Kφlner Zone und die Erleichterung des Besatzungsregimes, unter anderem den Abzug der farbigen Besatzungstruppen385. Auch die vorzeitige Rδumung der beiden ٧brigen Besatzungszonen, deren Rδumung im Versailler Vertrag f٧r 1930 bzw. 1935 vorgesehen war, wurde von deutscher Seite zur Sprache ge­ bracht. Die R٧ckgabe des unter Vφlkerbundsverwaltung stehenden Saargebiets war eine weitere von Deutschland erhobene R٧ckwirkung, schien jedoch eine geringere Prioritδt als die Rheinlandrδumung gehabt zu haben. Wie erwδhnt, trafen die deutschen Forderungen auf starken Widerstand bei den Westmδch­ ten386. Chamberlain und Briand lehnten es ab, sich in Locarno in irgendeiner Weise zu binden387. Sie sicherten allerdings zu, im Anschluß an die Konferenz ein festes Datum für die Räumung der Kölner Zone zu setzen, auch wenn die Entwaffnungsbestimmungen noch nicht vollständig erfüllt sein sollten388. Die Reichsregierung beabsichtigte, die Zeit unmittelbar nach der Konferenz von Locarno zu nutzen, um Fortschritte bei der Erfüllung der Rückwirkungen zu erzielen. Sie hatte dabei einen wichtigen Trumpf im Ärmel. Da der Rheinpakt und die Schiedsverträge in Locarno am 16. Oktober 1925 lediglich paraphiert worden waren, und die Unterzeichnung nach erfolgter Ratifikation durch die nationalen Parlamente erst für den 1. Dezember 1925 in London vorgesehen war, hatte die deutsche Regierung innerhalb dieses Zeitraums unter Hinweis auf die schwierige innenpolitische Lage und den Widerstand gegen Locarno - die Möglichkeit, Zugeständnisse in der Rückwirkungsfrage zu erzielen389. Zwar war, wie Schubert gegenüber Margerie bereits im Januar 1925 festgestellt hatte, die Entwaffnungsfrage und die eng damit verknüpfte Rheinlandbesetzung »immerhin doch nur ein technisches Detail«390, während die Sicherheitsfrage das zentrale Problem war, doch gab die Behandlung dieser (und der anderen) Rückwirkungen Auskunft darüber, inwieweit durch Locarno das Sicherheitsproblem tatsächlich gelöst worden war. Obwohl »[i]m Frühjahr 1921 [...] die Entwaffnung Deutschlands zum größten Teil durchgeführt«391 war, blieb das Thema weiterhin akut: Für Frankreich bestand darin ein zentraler 384 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 61; Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. 385 Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. Siehe auch zum folgenden. 386 Siehe Schubert an Köpke (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 140. 387 Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. 388 Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 338. 389 Siehe Runderlaß Stresemann (20.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 160. 390 Siehe Aufzeichnung Schubert (23.1.1925), AD APrN Α ΧΠ, Nr. 45. 391 KRÜGER, Außenpolitik, S. 137. 258 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Punkt seines Sicherheitsprogramms, bei dem es nicht nur darauf ankam, Deutschland zu entwaffnen, sondern auch langfristig die Wiederaufr٧stung Deutschlands zu unterbinden. Nachdem durch den Ruhrkampf die Arbeit der Interalliierten Militδrkontrollkommissionen (IMKK) zum Erliegen gekommen war, hatte die Botschafterkonferenz am 3. Oktober 1923, also kurz nachdem die Reichsregierung das Ende des passiven Widerstandes verk٧ndet hatte, eine Note an Berlin gerichtet, in der die Wiederaufnahme der Kontrollen durch die IMKK angek٧ndigt wurde392. Allerdings verzφgerten Divergenzen zwischen Frankreich und Großbritannien über die Modalitäten der Kontrolle den Beginn der Inspektionen. Erst am 5. März 1924 kam es zu einer Einigung. In der alliierten Note, die am folgenden Tag der Reichsregierung übergeben wurde, wurde eine Generalinspektion gefordert, um sicherzustellen, daß Deutschland seit dem Ende der Kontrollen im Januar 1923 keine heimliche Aufrüstung betrieben habe. Dabei ging es vor allem um die Klärung von fünf Punkten393: Erstens, die Reorganisation der Polizei und vor allem das Ende der Kasernierung einiger Polizeieinheiten, zweitens, die Umwandlung von Rüstungsfabriken und das Ende unerlaubter Rüstungslieferungen, drittens, Informationen über den Zustand und die Produktion von Kriegsmaterial, viertens, die Annahme der von den Westmächten geforderten Gesetze über das Verbot des Imund Exports von Kriegsmaterial durch Deutschland und, fünftens, die Anpassimg der Heeresorganisation und der Rekrutierung an die Bestimmungen des Versailler Vertrags. Nach erfolgter und zufriedenstellender Generalinspektion stellte die Botschafterkonferenz in Aussicht, die von Deutschland abgelehnte und auch von Frankreich zunehmend kritisch beurteilte394 IMKK aufzulösen. Allerdings sollte sie durch ein an den Völkerbund gebundenes »Comite de garantie« ersetzt werde. Die Reichsregierung akzeptierte in ihrer Note vom 31. März 1924395 prinzipiell die Generalinspektion und die Berechtigung der fünf Punkte. Allerdings forderte Deutschland, daß die Generalinspektion nicht durch die IMKK, sondern durch den Völkerbund vorgenommen werden solle, und wies darauf hin, daß die deutsche Abrüstung gemäß dem Versailler Vertrag den Auftakt für eine allgemeine Abrüstung bilden müsse. Außerdem verlangte die deutsche Regierung, daß es sich um die letzte Kontrolle dieser Art handeln, eine Einigung über die Modalitäten der Inspektion erzielt und die Inspektion vor dem 30. September 1924 abgeschlossen sein müsse. Die Generalinspektion begann schließlich am 8. September 1924, und ihr negativer Zwischenbericht vom Dezember 1924 lieferte, wie bereits darge- 392 Zum folgenden siehe BARI6TY, Relations franco­allemandes, S. 298f. Dazu siehe BAECHLER, Stresemann, S. 497. 394 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 198. 395 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 497. 393 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 259 stellt, den Westmδchten die Begr٧ndung, die Rδumung der Kφlner Zone zum 10. Januar 1925 abzulehnen. Aus deutscher Sicht bedenklich war außerdem das sogenannte »Investigationsprotokoll«, das der Völkerbundsrat am 27. September 1924 verabschiedet hatte396. In diesem Protokoll wurden die Befugnisse und die Organisation jener Völkerbundsorgane festgelegt, die nach dem Abzug der IMKK die Entwaffnungsbestimmungen, die den Verlierern des Ersten Weltkriegs in den Friedensverträgen auferlegt worden waren397, überwachen sollten. Gemäß des Investigationsprotokolls sollte die Commission permanente consultative des Völkerbundsrates, ausgehend von Anzeigen der Mitgliedsstaaten, Untersuchungskommissionen einsetzen, die einen möglichen Verstoß gegen die Entwaffnungsbestimmungen untersuchen sollten, wobei das Untersuchungsfeld recht weit gespannt war: Neben der Überwachung der zulässigen Bewaffnung und der Einhaltung der Personalstärken gehörte zum Aufgabengebiet der Kommissionen auch die Kontrolle der Ausbildung, der Militärgesetze und des Wehretats. Nicht zu verwechseln mit diesen ad hoc einzuberufenden Überwachungskommissionen sind jedoch die ebenfalls von Frankreich geforderten tsnmleba elements stables, die als dauerhafte Kontrollorgane zur Überwachung der Demilitarisierungsbestimmungen (Artikel 42f.) des Versailler Vertrags dienen sollten. Das Investigationsprotokoll, ebenso wie die elements stables, waren für Deutschland »unannehmbar«398. Für die Reichsregierung gehörte zu ihrem Kampf für die militärische Gleichberechtigung deshalb nicht nur die Abschaffung der IMKK, sondern auch die Verhinderung des Investigationsprotokolls und der elements stables. Vordringlichstes Problem blieb aber zunächst die Arbeit der IMKK, deren Zwischenbericht der Anlaß für die verzögerte Räumimg der Kölner Zone war. Nachdem die Generalinspektion am 15. Februar 1925 abgeschlossen war399, wurde ihr Bericht an die Botschafterkonferenz übergeben, die die politischen Konsequenzen aus der Arbeit der IMKK ziehen mußte. Gemäß den Absprachen zwischen Herriot und MacDonald auf der Londoner Konferenz, die sich auch die neue konservative englische Regierung zu eigen machte, war die Räumung der Kölner Zone zwar an die Erfüllung der Entwaffnungsbestimmungen, nicht jedoch an eine Lösung der Sicherheitsfrage gebunden400. Die französische Regierung versuchte jetzt aber, als die englische Ablehnung des Genfer Protokolls immer klarer wurde, die Räumung der Kölner Zone mit der zufriedenstellenden Lösung der Sicherheitsfrage zu verknüpfen. Chamberlain 396 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Seeckt (31.10.1924), ADAP A XI, Nr. 135. Für Deutschland waren dies die Bestimmungen des Teils V des Versailler Vertrags, speziell Art. 213. 398 Aufzeichnung Seeckt (31.10.1924), ADAP A XI, Nr. 135. 399 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 51. Auszüge des Berichts wurden veröffentlicht, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 404-408. 400 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 48. 397 260 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung wehrte sich zwar zunδchst gegen diese Auffassung, faktisch konnte Herriot jedoch seinen Standpunkt durchsetzen401. Wegen dieser Differenzen ver­ zφgerte sich auch die Note der Botschafterkonferenz402 an die Reichs­ regierung, in der diese die Ergebnisse der Generalinspektion und die daraus gezogenen Konsequenzen mitteilte, bis 4. Juni 1925. Die Note w٧rdigte zwar die loyale Erf٧llung der Reparationsverpflichtungen durch die Deutschen, gleichzeitig stellte sie aber auch einige Verstöße gegen die Entwaffhungsbestimmungen fest, die die kasernierte Polizei, die Zerstörung von Waffen und militärischen Einrichtungen, die Führungsstruktur der Armee und die paramilitärischen Organisationen betrafen, so daß die Räumung der Kölner Zone in den Augen der Westmächte weiterhin nicht gerechtfertigt erschien403. Wegen des engen Zusammenhangs von Sicherheits- und Entwaffnungsfrage lag letztere, während um den Sicherheitspakt und die Schiedsverträge gerungen wurde, zunächst auf Eis404. Erst in Locarno kam wieder Bewegung in die Entwaffnungsfrage, nachdem sich die Westmächte bereit erklärt hatten, die Räumung der Kölner Zone zu prüfen, auch wenn die beanstandeten Punkte der Generalinspektion noch nicht vollständig gelöst waren. Allerdings sollte ein entsprechender Vorstoß erst nach der Konferenz und von deutscher Seite stattfinden405. Diese Initiative erfolgte schließlich in Form der deutschen Note vom 23. Oktober 1925406. Die Reichsregierung legte darin dar, daß sie die überwiegende Anzahl der Forderungen der alliierten Note vom 4. Juni 1925 - es handelte sich dabei um die oben erwähnten »Fünf Punkte« - erfüllt habe und »die weit überwiegende Mehrzahl der übrigen Forderungen so weit gefördert worden ist, daß ihre restlose Erledigung bis zum 15. Nov. d.J. in sichere Aussicht gestellt werden kann«407. Zwar gebe es noch einige wenige Punkte, die nicht bis zu diesem Termin erledigt werden könnten, doch seien die Fortschritte auf dem Gebiet der Entwaffnung insgesamt so weit gediehen, daß eine Räumung nach deutscher Auffassung veranlaßt werden könne. Die Westmächte bewerteten die Fortschritte bezüglich der deutschen Entwaffnungsanstrengungen zwar weniger optimistisch, konzedierten in ihrer Antwort vom 6. November 1925408 jedoch große Fortschritte und lobten die konstruktive Mitarbeit der deutschen Behörden. Bevor sie allerdings die Räu401 Siehe ibid. S. 50. Text der Note siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 402-404. 403 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 5 9 8 . 404 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 5 1 . 405 Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138; Stresemann an Botschaft London (22.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 166. 406 Text der Note siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 409f. 407 Ibid. 408 Text der Note siehe ibid. S. 410f. 402 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen 261 mung des Rheinlandes zusagen wollten, forderten sie von der Reichsregierung konkrete Plδne besonders zu Punkt eins der F٧nf Punkte, die Reorganisation der Polizei, die »zum Ziele haben müßte, die Polizei des Charakters einer militärischen Organisation zu entkleiden«409, sowie Vorschläge zum Verbot paramilitärischer Organisationen und zur Reorganisation der deutschen Armee. In den folgenden Tagen fanden in Paris Verhandlungen zu den alliierten Forderungen statt, und bereits am 11. November 1925 konnte Hoesch den Westmächten eine Note übergeben, in der die Lösung der strittigen Punkte in Aussicht gestellt wurde410. Am 13. November 1925 verkündete die Reichsregierung einen Erlaß, in dem die Gründung paramilitärischer Einheiten untersagt wurde411. Am 14. November 1925 schließlich erklärte der Generalsekretär der Botschafterkonferenz, Rene Massigli gegenüber Hoesch, daß die Räumung der Kölner Zone am 1. Dezember 1925 beginnen werde412. Eine entsprechende Note wurde Hoesch von der Botschafterkonferenz am 16. November 1926 überreicht: Der Termin für den Beginn der Räumung wurde bestätigt, der Abzug der Truppen aus der Kölner Zone sollte spätestens bis zum 20. Februar 1926 abgeschlossen sein413. Bezüglich der Entwaffhungsfrage und der Räumung der Kölner Zone traten nach Locarno also in der Tat die erhofften Rückwirkungen ein: Viele Punkte der Entwaffhungsfrage wurden gelöst, die Räumung der Kölner Zone begann. Allerdings konnte Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreichen, daß die Interalliierten Militärkontrollkommissionen aus Deutschland abgezogen wurden. Erst am 12. Dezember 1926 konnten die Westmächte und Deutschland eine Einigung erzielen, daß die IMKK zum 31. Januar 1927 Deutschland verließen und die Kontrollen zur Überprüfung der Entwaffnungsbestimmungen aufhörten414. Der letzte strittige Punkt - die Zerstörung von Befestigungsanlagen, die die Deutschen in Ostpreußen errichtet hatten - war zuvor dahingehend gelöst worden, daß die Reichsregierung der Schleifung einiger dieser Anlagen zugestimmt hatte415. Allerdings ist festzustellen, daß Deutschland in der Frage der Entwaffnung dem Westen sehr weit entgegengekommen war, so daß die Bereitschaft der Alliierten, die Kölner Zone zu räumen, vielleicht weniger als Rückwirkung von Locarno, sondern vielmehr als Ergebnis konkreter Fortschritte in der Entwaffhungsfrage gesehen werden muß, wenngleich natür409 Ibid. Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 63. 411 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 638. 412 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 412. 413 Siehe POULAIN, Vorgeschichte, S. 90. Text der Note siehe MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1350. Nachdem die Locarno-Gesetze vom Reichstag am 27.11.1925 angenommen worden waren, begann die Räumung schon am 30.11.1925 und war bereits zum 31.1.1926 abgeschlossen, siehe BAECHLER, Stresemann, S. 647. 414 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 362. 415 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 96. 410 262 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung lieh durch Locarno g٧nstige politische Rahmenbedingungen hierf٧r geschaf­ fen werden konnten416. Auch in einem weiteren Bereich f٧hrte Locarno zu R٧ckwirkungen, nδmlich hinsichtlich der Umgestaltung des Besatzungsregimes. Bereits am 3. Novem­ ber 1925 ­ also noch bevor in Paris eine endg٧ltige Einigung hinsichtlich der Entwaffnungsfrage erzielt worden war ­ hatte Briand an Margerie telegrafiert, daß die Besatzungstruppen in den übrigen Besatzungszonen verringert werden würden und das Besatzungsregime in wesentlichen Punkten geändert würde417. Diese Änderungen bezogen sich in erster Linie auf die Abschaffung der Delegierten der Westmächte bei den deutschen Behörden, die Aufhebung von Ordonnanzen - also alliierten Sondergesetzen im Rheinland - , eine Amnestie und die Wiedereinsetzung eines Reichskommissars als Verbindungsglied zwischen den Besatzungsbehörden und der Reichsregierung. Ferner kündigte Briand an, daß sich die Besatzungsmächte von nun an nicht mehr in Verwaltungs-, Schul- und Sportfragen einmischen und requiriertes Eigentum - es ging dabei vor allem um Wohnungen für die alliierten Truppen - zurückgegeben würde. Die Westmächte kamen damit vielen Forderungen eines deutschen Memorandums nach, das Schubert am 14. Oktober 1925 in Locarno inoffiziell Lampson, Berthelot und Vandervelde übergeben hatte418. Allerdings liefen auch diese Verhandlungen nicht reibungslos. Zum einen sperrte sich der Chef der Rheinlandkommission (H.C.I.T.R.), Tirard, gegen die Beschneidung seiner Befugnisse, so daß es zwischen ihm und Hoesch zu einer »teilweise sehr bewegten Auseinandersetzung«419 in dieser Frage kam. Erst auf Druck von Briand und Berthelot420 und sogar von Chamberlain421 gab Tirard schließlich nach. Ein weiteres Problem stellte der Umfang der alliierten Truppenreduzierung im Rheinland dar. Briand, der sich vor allem von seiten der französischen Militärs unter Druck gesetzt sah, wollte wenn überhaupt nur in geringem Maße Soldaten abziehen422. Die Reichsregierung dagegen forderte eine Reduzierung auf 46 000 Mann, was dem Bestand an deutschen Truppen im besetzten Gebiet vor dem Ersten Weltkrieg entsprach423. Frankreich hingegen bestand auf 75 000 Mann (davon 60 000 Franzosen, der Rest Engländer und Belgier). Der Konflikt über die Höhe der Besatzungstruppen schwelte bis zum August 1926, als die französische Armee schließlich eine Verringerung der 416 Siehe ibid. S. 136. Zum folgenden siehe Briand an Margerie (3.11.1925), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcba Ζ (Europe) Al­ lemagne, 388. 418 Text des Memorandums siehe Aufzeichnung Schubert (14.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 146, Anlage I. 419 Hoesch an AA (24.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 179. 420 Siehe ibid. 421 Siehe Aufzeichnung Schubert (29.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 195. 422 Siehe Hoesch an AA (23.10.1925), AD AP A XIV, Nr. 172. 423 Hierzu uund zum folgenden siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 76f., 134­136. 417 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 263 Besatzungstruppen um 6 000 Mann bekanntgab. Die Frage nach der Reduzie­ rung der Besatzungstruppen war damit aber noch nicht erledigt. Nachdem die deutschen Vorstöße zur Räumung des gesamten Rheinlands von französischer und britischer Seite Anfang 1927 abgeschmettert worden waren, forderte Stresemann eine weitere Truppenreduzierung. Erst im September 1927 kam es zu einer Einigung, die Besatzungstruppen auf 60 000 Mann zu reduzieren. Keinen Erfolg hatte die Reichsregierung bei einer weiteren Rückwirkung, die ebenfalls das Rheinland betraf, nämlich die vorzeitige Räumung der übrigen beiden Besatzungszonen um Koblenz und Mainz. Bereits im Juni 1925 hatte Stresemann entsprechende Wünsche gegenüber D'Abernon geäußert, allerdings hatte letzterer stets daraufhingewiesen, daß es in London, vor allem aber in Paris, keine Bereitschaft gebe, diese Frage zu diskutieren424. Nach Locarno blieben die Westmächte bei ihrer Position: Eine vorzeitige Räumung der übrigen Besatzungszonen im Rheinland stand nicht zu Diskussion, was Briand Anfang November 1925 nochmals deutlich machte425. Für diese Haltung gab es vor allem zwei Gründe. Der erste waren Sicherheitserwägungen. Da Locarno nach französischer Auffassung nur der Anfang, keinesfalls aber das Ende einer umfassenden europäischen Sicherheitsarchitektur mit dem Völkerbund im Zentrum sein konnte, mußten Sicherheitsgarantien wie die des besetzten Rheinlands so lange aufrechterhalten werden, bis effektive Völkerbundsmechanismen geschaffen werden konnten426. Der zweite Grund waren die Reparationen. Da der Dawes-Plan nur eine vorläufige Lösung des Reparationsproblems darstellte, mußte aus französischer Sicht die Räumung des Rheinlandes so lange herausgezögert werden, bis ein endgültiger Zahlungsplan aufgestellt würde427. Erfolgte die Räumung jedoch vor einer endgültigen Lösung, hätte Frankreich in den anstehenden Reparationsverhandlungen keinerlei Druckmittel mehr. Für Frankreich konnte die Devise deshalb nur lauten: Die Räumung kann erst dann erfolgen, wenn die Reparationen vollständig bezahlt oder kommerzialisiert sind428. Die Behandlung der Rückwirkungen, auf der Konferenz von Locarno selbst und unmittelbar danach, bestätigen die Interpretation der Bedeutung des Vertragswerkes von Locarno, nämlich daß dieses lediglich einen Anfang zur dauerhaften Stabilisierung Europas und zur Umsetzung kollektiver Sicherheitsstrukturen bilden konnte. Die Rückwirkungen verdeutlichten aber auch, daß der Grundwiderspruch zwischen der französischen Außenpolitik, mit ihrem Hauptziel, der Gewährleistung vonutsriec securite für Frankreich selbst, aber auch 424 Siehe ibid. S. 55-57. Siehe Briand an Margerie (3.11.1925), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcaUSPMEA Ζ (Europe) Allemagne, 388. 426 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.11.1925), MAE PAAP 217, 7. 427 Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.11.1925), MAE PAAP 261, 3. 428 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.11.1925), MAE PAAP 217, 7. 425 264 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung f٧r Europa, und der deutschen Außenpolitik, der (friedlichen) Revision des Versailler Vertrags, fortbestand. Eine Ursache dafür, daß Locamo zu keiner umfassenden Änderung der außenpolitischen Koordinaten sowohl in Frankreich als auch in Deutschland führen konnte, lag darin begründet, daß der Rheinpakt und die Schiedsverträge in Deutschland stärker noch als in Frankreich - innenpolitisch umstritten waren. In Deutschland führte die Ratifizierung der Verträge von Locarno zu einer veritablen Regierungskrise. Nachdem das Kabinett am 22. Oktober 1925 einstimmig - also mit Zustimmung der DNVP-Minister Schiele, Neuhaus und von Schlieben - den Rheinpakt und die Schiedsverträge verabschiedet hatte, wobei das Kabinett allerdings von der »festen Erwartung [ausgeht], daß die logischen Auswirkungen des Werks von Locarno besonders in den Rheinlandfragen sich alsbald verwirkliche«429, mußten die Kabinettsmitglieder der DNVP auf Druck der eigenen Reichstagsfraktion und der Landesdelegierten am 26. Oktober 1925 zurücktreten430. Allerdings traten auch andere Gruppen mit besonderen Erwartungen an die Reichsregierung heran: So forderte eine Delegation von Rheinländern jeder politischer Couleur Erleichterungen besonders hinsichtlich des Rheinlandregimes431. Nachdem die von Luther und Stresemann öffentlich eingeforderten Rückwirkungen von Locarno nur unvollständig erreicht werden konnten, waren auch die übrigen Parteien - einschließlich der oppositionellen SPD432, mit deren Zustimmung der Rheinpakt und die Schiedsverträge schließlich ratifiziert werden konnten - nur wenig enthusiastisch433. Die in den Augen der Westmächten überzogenen Forderungen der Reichsregierung und die wenig begeisterte Aufnahme der Locarnoverträge in Deutschland ließen wiederum bei den Alliierten das Gefühl entstehen, die Deutschen seien maßlos und undankbar434. In Frankreich wurde Locarno zwar weitestgehend positiv aufgenommen435, doch gab es auch hier Kritik vor allem Siehe Kabinettsrat (22.10.1925), AdR LutherzutsrpnmkihgfedcbaZXVSRPNMLKIDBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 203. Siehe Aufzeichnung Schubert (24.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 176, Vermerk Kempner (23.10.1925), AdR LutherYVL VYL Bd. 2, Nr. 205 und Ministerrat (26.10.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 2, Nr. 208. Zur Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Locarno-Verträge und die Regierungskrise siehe auch: Hans LUTHER, Politiker ohne Partei. Erinnerungen, Stuttgart 1960, S. 386-389. 429 430 431 Siehe Meissner an AA (21.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 161. Zur Haltung der SPD siehe Rede Wels (24.11.1925), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1353a. 433 S. WRIGHT, Stresemann, S. 340f. Zu den oppositionellen Stimmen zu Locarno siehe MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1346a-1346f, 1353b, 1353e. Bei prinzipieller Zustimmung verwies Fehienbach (Z) auf die erwartete Räumung des gesamten Rheinlandes (MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1353c) und Scholz (DVP) stellt zusammenfassend fest: »Das in den Verträge von Locarno Erreichte stimmt uns nicht zu lautem Jubel«, MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1353d. 434 Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 240. 435 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 345. 432 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 265 von rechts. Der Comite de la rive gauche du Rhin bemδngelte die »R٧ck­ wirkungen« insgesamt und die seiner Ansicht nach ٧bereilte Rδumung der Kφlner Zone436. Pertinax437 f٧hrte im rechtsgerichteten und nicht gerade deutsch­freundlichen Echo de Paris einen Generalangriff auf die Locarno­ Politik Briands438. Die gegensδtzlichen außenpolitischen Zielsetzungen Frankreichs und Deutschlands und die mangelnde innenpolitischen Bereitschaft, positiv am Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen mitzuwirken, hatten zur Folge, daß Fortschritte bei der Modernisierung der Außenpolitik nur langsam erfolgten. Nichtsdestotrotz wurde die kollektive Sicherheitspolitik Schritt für Schritt weiterentwickelt. Die nächste Etappe auf dem Weg der Modernisierung der Außenpolitik war der deutsche Beitritt zum Völkerbund im Herbst 1926. 4.1.5. Die Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheit im Völkerbund In gewisser Weise war der deutsche Beitritt zum Völkerbund ebenfalls eine Rückwirkung von Locarno. Die Bedeutung dieses Ereignisses lag dabei auf verschiedenen Ebenen: Mit dem Deutschen Reich trat der größte der im Ersten Weltkrieg unterlegenen Staaten dem Genfer Bund bei. Dieser verlor dadurch einerseits seinen Charakter als Instrument der Siegerstaaten, andererseits wurde ein großer Schritt hin zur Universalität des neuen Bunds getan, wenngleich die USA und die Sowjetunion weiterhin abseits standen. Darüber hinaus bedeutete der deutsche Eintritt auch die Anerkennung der Prinzipien des neuen, durch den Völkerbund geschaffenen Völkerrechts durch Deutschland. Die Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheitsstrukturen im Völkerbund war nach Locarno von zwei Faktoren abhängig: erstens natürlich von den bereits vorhandenen Ansätzen der kollektiven Sicherheit, also vor allem von der durch die Haager Friedenskonferenzen begonnenen Schiedspolitik und der Völkerbundssatzung, wobei die Satzung selbst das Ergebnis eines langen historischen Prozesses war. Zweitens wurde die Sicherheitsdiskussion in Genf aber auch durch den deutschen Beitritt in den Völkerbund beeinflußt, weil wie im vorangegangenen zu sehen war - die Reichsregierung keineswegs glühende Anhängerin des vom Völkerbund vertretenen Modells der kollektiven Sicherheit war. 436 437 Siehe Comiti de la rive gauche du Rhin an Pamlevd (19.11.1925), AN 313 AP, 224. Pertinax war das Pseudonym des französischen Journalisten Andre G£raud, siehe CHAL- LENER, E r a , S. 6 6 f . 438 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift für Briand (3.2.1926), MAE PAAP 261,2. 266 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Der durch die Pariser Vorortvertrδge geschaffene Vφlkerbund439 konnte auf lange diskutierte theoretische Grundlagen aufbauen. Bereits im Mittelalter hatte es erste Vor٧berlegungen zu einem allgemeinen Staatenbund gegeben440, die jedoch kaum praktische Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen zwi­ schen den Staaten gehabt hatten. Insofern stellten sie also nur eine Phase der Innovation dar, der eine modernisierende Wirkung, im Sinne der Umsetzung von Innovation, zunδchst nicht folgte. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu ei­ nem zaghaften Aufbau internationaler Organisationen, die aber anfangs ledig­ lich den Charakter von Zweckverbδnden hatten, wie z.B. der 1874 gegr٧ndete Weltpostverein441. Eine wichtige Neuerung stellte die Schaffung des interna­ tionalen Schiedsgerichtshofes durch die erste Haager Friedenskonferenz von 1899 dar442. Dies war der erste Versuch, friedliche Streitschlichtungsmecha­ nismen f٧r internationale Konflikte zu etablieren443. Zwar blieb die Schiedsge­ richtsbarkeit durch »unbefriedigende Halbheit«444 noch sehr beschrδnkt, doch d٧rfte ihr Einfluß auf die weitere Entwicklung der friedlichen Konfliktregelung nicht zu unterschätzen sein. Wie oben zu sehen war, war ja die deutsche Politik der kollektiven Sicherheit nach dem Ersten Weltkrieg sehr stark vom Schiedsgerichtsgedanken durchdrungen445. In der Präambel zur Konvention der zweiten Haager Friedenskonferenz (1907) tauchte zwar erstmals der Begriff des Völkerbunds (»Societe des Nations«) auf446, doch waren die praktischen Erfolge der Konferenz - zu einer Zeit, in der sich die Konflikte zwischen den europäischen Großmächten zuspitzten - minimal447. Leon Bourgeois, der nicht nur Leiter der französischen Delegation bei den Haager Friedenskonferenzen, sondern auch als Delegierter bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919 an den Verhandlungen über die Völkerbundssatzung beteiligt 439 Literatur zum Thema Völkerbund: Das Heft 75 (1993) der Relations internationales ist ganz dem Völkerbund gewidmet. Antoine FLEURY, The League of Nations: Toward a New Appreciation of Its History, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a 1998, S. 507-522; Felix MORLEY, The Society of Nations. Its Organization and Constitutional Development, London 1932; Francis Paul WALTERS, A History of the League of Nations, 2 Bde., Oxford u.a. 1952; PFEIL, Völkerbund; Albert KRUSE, Der Völkerbund. Ziele, Organisation und Tätigkeit, Frankfurt a. M. 1928; KIMMICH, League of Nations; MOUTON, intdrets de la France, wobei die letztgenannte Untersuchung nur die Jahre von 1919-1924 umfaßt. Ebenfalls nur einen Teilbereich umfaßt die Studie von Haas: Christa HAAS, Die französische Völkerbundspolitik 1917-1926, Dortmund 1996. 440 Zur Vorgeschichte des Völkerbunds siehe PFEIL, Völkerbund, S. 32- 45. 441 Siehe ibid. S. 33. 442 Ein ausfuhrlicher Oberblick zu den beiden Haager Friedenskonferenzen findet sich bei: Leon BOURGEOIS, Pour la Sociöte des Nations, Paris 1910, Teil I undurpoiheUTSRPLIGFEA Π. 443 Siehe GIRAULT, Europe, S. 107. 444 PFEIL, Völkerbund, S. 34. 445 Siehe Kap. 4.1.3. 446 Siehe GlRAULT, Europe, S. 107. 447 Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 35. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 267 und bei der franzφsischen Vertretung beim Vφlkerbund in den 1920er Jahren tδtig war448, legte in seinem 1910 erschienen Werk »Pour la Societe des Nati­ ons«449, wichtige Prinzipien des neuen Vφlkerrechts dar: »II n'y a de paix veri­ table que sous le r£gne du droit«450, weshalb die Diplomatie der Gewalt durch die des Rechts ersetzt werden m٧sse451. Die katastrophalen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs stδrkten vor allem im Westen die Vφlkerbundsidee452, wδhrend sie in Deutschland erst nach der Niederlage größere Verbreitung fand453. Wilson, der bald der prominenteste Fürsprecher des Völkerbundsgedanken werden sollte, reihte sich erst 1916 in die Reihe der Völkerbundsbefürworter ein454, während Lloyd George zögerte und Clemenceau kaum daran interessiert war455. Vielleicht auch wegen des geringen Interesses der europäischen Staatsmänner gelang es Wilson, in der Vollversammlung der Friedenskonferenz am 25. Januar 1919 durchzusetzen, daß die Völkerbundssatzung integraler Bestandteil der Friedensverträge werden sollte. Gleichzeitig wurde eine Kommission eingesetzt, die sich unter Vorsitz des amerikanischen Präsidenten mit der Ausarbeitung der Völkerbundssatzung befassen sollte456. Am 28. April 1919 nahm die Vollversammlung einstimmig die Satzung an, nachdem Frankreich und Italien sich zuvor nicht mir ihrer Forderung hatten durchsetzen können, daß gegen einen Angreifer automatisch Sanktionen verhängt würden. Auch der Vorschlag Bourgeois' zur Schaffung einer »internationalen Armee« wurde abgelehnt, wohl weil die angelsächsischen Mächte eine Vormacht Fochs in dieser Institution befürchteten457. Bereits hier erfuhr die Idee der kollektiven Sicherheit mit ihrem zentralen Organ, dem Völkerbund, also eine deutliche Schwächung. Nach der Ratifikation des Versailler Vertrags durch Deutschland und die wichtigsten Alliierten wurde der Völkerbund am 10. Januar 1920 offiziell gegründet. 448 Ein kurzer Überblick über die Arbeit Bourgeois' findet sich in: Adolf WILD, Leon Bourgeois - der Vater des Völkerbunds, in: Michael NEUMANN (Hg.), Der Friedens-Nobelpreis von 1917-1925, Zug 1988, S. 70-77. 449 BOURGEOIS, Societd des Nations. 450 Ibid. S. 7 451 Siehe ibid. S. 13. 452 Siehe GlRAULT, Europe, S. 107. 453 Siehe Hans WEHBERG, Das deutsche Volk und der Völkerbund, in: P. MUNCH (Hg.), Les Origines et l'oeuvre de la Socidti des Nations, Bd. 1, Kopenhagen u.a. 1923, S. 440-500, hier S. 440. 454 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 50. 455 Siehe Scott G. BLAIR, Les origines en France de la S.D.N. La Commission interministerielle d'Etudes pour la Societe des Nations, in: Relations internationales 75 (1993), S. 301313, hier S. 291. 456 Siehe DUROSELLE, Histoire. S. 51. 457 Siehe WILD, Leon Bourgeois, S. 76. Zum französischen Völkerbundsprojekt siehe BLAIR, Origines, S. 290f., zur Ablehnung ibid. S. 291f. 268 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung In der Vφlkerbundssatzung waren die Ziele des Bunds, sein institutioneller Aufbau und die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele aufgef٧hrt. Die Hauptaufgabe der neuen Organisation war die »Fφrderung der Zusammen­ arbeit der Nationen [...] zur Gewδhrleistung von Frieden und Sicherheit zwi­ schen ihnen«458. Zu deren Durchf٧hrung standen dem Bund drei Haupt­ organe459 zur Verf٧gung, die Vollversammlung, der Rat und das Sekretariat. Die Vollversammlung460 bestand aus je drei Delegierten pro Mitgliedsland, wobei jedes Land eine Stimme hatte. Ihre ordentlichen Sitzungen fanden jedes Jahr im September in Genf statt. Zu den Aufgaben der Vollversammlung ge­ hφrte es, ٧ber Resolutionen und Empfehlungen abzustimmen, sowie die nicht­ stδndigen Mitglieder des Vφlkerbundsrates und die Mitglieder des Inter­ nationalen Gerichtshofes in Den Haag zu wδhlen. Außer in prozeduralen Fragen war in der Regel Einstimmigkeit für die Entscheidungen der Vollversammlung erforderlich. Dem Völkerbundsrat461 gehörten zunächst fünf permanente Mitglieder (nach der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch die USA nur noch vier462) und nichtständige Mitglieder (seit 1922 sechs und seit 1926 neun) an, die zunächst nach dem Rotationsprinzip gewählt wurden. Der Präsident des Rates wurde ebenfalls nach dem Rotationsprinzip bestimmt. Zunächst war nur eine Sitzung pro Jahr vorgesehen, bald jedoch fanden vier Sitzungen im Jahr statt. Auch hier herrschte das Prinzip der Einstimmigkeit. Die Aufgaben des Rates umfaßten alle Fragen, die mit der Friedenssicherung zu tun hatten, einschließlich der Abrüstung und der Vermittlung im Fall drohender Konflikte. Daneben hatte er auch technische Aufgaben, wie die Bestimmung der hohen Beamten des Völkerbundssekretariats oder die Nominierung von Kandidaten für die verschiedenen Völkerbundsgremien, wie die Regierungskommission für das Saargebiet, den hohen Kommissar für Danzig oder die Mandatskommission. Das Sekretariat463 des Völkerbunds hatte vor allem technische und administrative Aufgaben. Dort wurden die Dokumente und Berichte für den Völkerbundsrat und die Vollversammlung verfaßt und deren Veröffentlichung organisiert464. Das Sekretariat bestand aus bis zu 600 Mitarbeitern aus 50 Län458 Präambel zur Völkeibundssatzung. Art. 2-6 der Völkerbundssatzung. Ein kurzer Überblick zum Aufbau des Völkerbunds findet sich in: PFEIL, Völkerbund, S. 45-62; DUROSELLE, Histoire, S. 52f.; Zara STEINER, The League of Nations and the Quest for Security, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of West European Security 1918— 1957, Oxford u.a. 1993, S. 35-70, hier S. 38-41. 460 Zu Einzelheiten vgl. MORLEY, Society of Nations, Kap.wutsrpnmlihgedcbaXVKIDB ΧΠΙ und XV. 461 Vgl. ibid. Kap. Χ, XI. 462 Deutschland wurde nach seinem Beitritt 1926 ständiges Mitglied, die Sowjetunion nach ihrem Beitritt 1934 ebenfalls, siehe GLRAULT, Europe, S. 108f. 463 Vgl. MORLEY, Society of Nations, Kap. Vffl, IX. 459 464 Vgl. PFEIL, Völkerbund, S. 7 - 3 1 . 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 269 dem465. Der Generalsekretδr berief den Vφlkerbundsrat ein, falls dies von einem Mitgliedsland gew٧nscht wurde, und bereitete die Tagesordnung der Vollversammlung vor. Neben diesen drei Hauptorganen gab es zahlreiche weitere Gremien und Kommissionen466 und dem Vφlkerbund angegliederte, autonome Organisatio­ nen, wie z.B. das Internationale Arbeitsamt und den Internationalen Gerichts­ hof in Den Haag467. F٧r den hier besonders interessierenden Aspekt der kol­ lektiven Sicherheit waren vor allem die bereits erwδhnten Commission permanente consultative und die Commission temporaire mixte von Be­ deutung. Weitere wichtige Gremien, die weiter unten ausfuhrlicher dargestellt werden, waren außerdem die Vorbereitende Abrüstungskommission und der Ausschuß für Schiedsgerichtsbarkeit und Sicherheit (Comite d'arbitrage et de securite) - als ein Ausschuß der Vorbereitenden Abrüstungskommission. Mitglieder des Völkerbunds waren anfangs die Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges und 13 neutrale Staaten, die dem Völkerbund kurz nach Kriegsende beigetreten waren. Insgesamt waren bei Ende des Ersten Weltkrieges 42 Staaten Mitglied, die etwa Dreiviertel der Weltbevölkerung umfaßten, wobei natürlich ein Großteil auf die Kolonialreiche der europäischen Mitgliedsstaaten entfiel468. Die höchste Mitgliederzahl erreichte der Bund 1934, kurz vor dem Austritt Deutschlands und nach dem Beitritt der Sowjetunion, als 60 Staaten in Genf vertreten waren. Zunächst waren die Verliererstaaten des Weltkrieges ausgeschlossen, jedoch konnte der Beitritt zum Bund auf Antrag erfolgen, wenn zwei Drittel der Bundesmitglieder zustimmten. Staaten konnten aber auch auf Beschluß des Rates ausgeschlossen werden oder - mit einer Kündigungsfrist von zwei Jahren - aus dem Bund ausscheiden. In der Historiographie wurde der Völkerbund bis vor kurzem vor allem negativ bewertet. Dabei wurde insbesondere auf sein Versagen bei der Friedenssicherung - wie im sino-japanischen Krieg und dem italienischen Einfall in Äthiopien - verwiesen469. In letzter Zeit dagegen wird in einer differenzierteren Betrachtung hervorgehoben, welche große Bedeutung der Bund dabei hatte, die internationale Zusammenarbeit nicht nur auf politischem Gebiet, sondern auch im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich zu etablieren470. Dadurch wurde der Völkerbund zum Vorgänger für viele der heutigen internationalen Organisationen wie die UNO und die daran angeschlossenen Institutionen, aber auch für das GATT und die Welthandelsorganisation (WTO). 465 466 Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 52f. Eine Übersicht über die Komitees auf dem Stand von 1931 bietet MORLEY, Society of Nations, S. 651-657. 447 Ein Organigramm mit den wichtigsten Institutionen findet sich bei PFEIL, Völkerbund, S. 152f. 468 469 Siehe GlRAULT, Europe, S. 108. Siehe FLEURY, League of Nations, S. 517. 470 Siehe ibid. S. 509. 270 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Dar٧ber hinaus trug die Arbeit der Genfer Organisation zu einer bedeutenden Verbesserung des Klimas bei (besonders in der Zeit zwischen 1925 und 1929) und schuf einen neuen Typ Diplomat, der aufgeschlossener gegen٧ber interna­ tionalen Organisationen und multilateralen Problemlφsungen war47'. Auch werden zunehmend die kleineren Erfolge der Unterorganisationen und techni­ schen Kommissionen, z.B. des Hochkommissariats f٧r Fl٧chtlinge und beson­ ders der »Organisation economique et financiere«, die die Stabilisierung eini­ ger mittel­ und osteuropδischer Wδhrungen erreichte, gew٧rdigt472. In der Tat wurde der Vφlkerbund so zu »[l]'un des aspects les plus originaux et les plus nouveaux des traites de paix«473 und war nach dem Ersten Weltkrieg ein »ma­ jor step forward in international affairs«474, vor allem auch wegen der neuen Idee der kollektiven Sicherheit. Dennoch darf dabei nat٧rlich nicht ٧bersehen werden, daß die Erfolge des Völkerbunds, vor allem bei seiner Hauptaufgabe, der Friedenssicherung, bescheiden blieben. Dies lag zum einen daran, daß wichtige Länder zumindest zeitweise (wie z.B. Deutschland, Japan und die Sowjetunion) oder dauerhaft (wie die Vereinigten Staaten) außerhalb des Bunds blieben475. Sie konnten so weder in internationalen Konflikten ihr Gewicht in die Waagschale werfen, noch verhalfen sie den Prinzipien der friedlichen Konfliktregelung und der kollektiven Sicherheit zu universeller Gültigkeit. Auch auf ein anderes Problem wurde bereits mehrfach hingewiesen: Das Einstimmigkeitsprinzip in Rat und Vollversammlung verhinderte die Beschlußfassung und erlaubte oft nur Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Schicksal des Genfer Protokolls und anderer Maßnahmen zum Ausbau der Sanktionsmechanismen geben beredt Auskunft über diese Mängel. Verstärkt wurden diese Defizite dadurch, daß die Mechanismen der kollektiven Sicherheit (im Kern also die Bestimmungen der Artikel 10-16) unzureichend waren und vor allem die Sanktionen des Artikels 16 fakultativ blieben476. In der Regel stellten die Mitgliedsländer ihre eigenen Interessen letztendlich über die des Bunds: Auch die von Frankreich verfolgte Politik der kollektiven Sicherheit war keineswegs uneigennützig, sondern diente hauptsächlich der Verwirklichung des eigenen, vor allem gegen Deutschland gerichteten Sicherheitsprogramms, während England den Bund vor allem dazu nutzte, seine Gleichgewichtspolitik zu verfolgen und sich vor konkreten Verpflichtungen scheute477. Diese unterschied471 Siehe GIRAULT, Europe, S. 110. Siehe ibid. 473 DUROSELLE, Histoire, S. 50. 474 FLEURY, League of Nations, S. 509. 475 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 26. 476 Siehe STEINER, League of Nations, S. 43; CLAUDE, Power, S. 174. 477 S. KOLB, Weimarer Republik, S. 26; Jürgen SPENZ, Die diplomatische Vorgeschichte des Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924-1926. Ein Beitrag zur Außenpolitik der Weimarer Republik, Göttingen u.a. 1966, S. 15. 472 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 271 liehen Zielsetzungen ­ zu denen sich nach dem deutschen Beitritt noch eine dritte Vφlkerbundspolitik gesellte, nδmlich der Versuch Deutschlands, den Vφlkerbund f٧r seine Revisionspolitik zu nutzen ­ behinderten die Arbeit des Bunds und wirkten verstδrkend auf seine strukturellen Defizite. Zu Recht stellt Claude deshalb fest: »Collective security was defeated more by the nature of national policy than by the nature of international organization«478. Was aber genau erwarteten Deutschland und Frankreich von ihrer Mitglied­ schaft im Vφlkerbund, und wie versuchten sie, den Bund f٧r ihre jeweiligen politischen Ziele zu nutzen? Die Pariser Vφlkerbundspolitik war vor allem eine Funktion der Sicher­ heitspolitik, was die zum Teil »ausgeprδgte antideutsche Spitze«479 der franzφ­ sischen Politik in Genf erklδrte. Obwohl sich Paris gerne als Vorreiter der Vφlkerbundsidee stilisierte, war es nur dann bereit, Befugnisse an den Bund abzugeben, wenn dies im Interesse der eigenen Sicherheit lag und wenn si­ chergestellt war, daß die französische Auffassung sich würde durchsetzen können480. Dies wurde beispielsweise an der oben dargestellten Diskussion um die SicherheitsVorschläge von Lord Cecil und Oberst Requin deutlich481: An den cecilschen Vorschlägen hatte Frankreich kein Interesse, weil sie das Sicherheitsproblem nicht im französischen Sinne zu lösen vermochten. Mit Hilfe seiner Verbündeten Polen und Tschechoslowakei versuchte Paris deshalb letztlich erfolglos - die essentiellen Punkte des Requin-Plans durchzusetzen. Dabei dachte die französische Regierung keineswegs daran, Deutschland dauerhaft aus dem Völkerbund fernzuhalten. Die französische Strategie war vielmehr folgende: Zuerst sollte der Bund im französischen Sinne umgebaut werden - durch die Stärkung der kollektiven Sicherheitsstrukturen, wie dies im Genfer Protokoll vorgesehen war, und den Aufbau einer Völkerbundskontrolle zur Überwachung der deutschen Entwaffnung und des demilitarisierten Rheinlandes. Anschließend sollte »der deutsche Beitritt in den Bund den krönenden Abschluß der französischen Sicherheitspolitik [bilden], durch den Deutschland das ganze gegen sich selbst gerichtete System freiwillig sanktionierte«482. Die französische Völkerbundspolitik stand damit ganz auf der Linie der allgemeinen Deutschlandpolitik: Einbindung Deutschlands in bilaterale und multilaterale Strukturen, um dadurch den deutschen Revisionismus zu bremsen und Deutschland dazu zu bringen, die Versailler Ordnung endgültig zu akzeptieren - der Völkerbund selbst war ja ein bedeutender Teil dieser neuen Ordnung483. Gleichzeitig war Briand »parfaitement conscient des insuffisances de Locarno 478 CLAUDE, Power, S. 153. 479 SPENZ, Vorgeschichte, S. 14. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 384. Siehe Kap. 4.1.3. SPENZ, Vorgeschichte, S. 14. Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 153. 480 481 482 483 272 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung pour assurer la securite a l'ensemble de l'Europe«484. Nach Locarno sollte der Beitritt Deutschlands in den Vφlkerbund ­ eine Bedingung Frankreichs im Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt ­ deshalb dazu dienen, dieses Si­ cherheitsdefizit weiter zu verringern, wobei Frankreich weiterhin versuchte, den Bund in seinem Sinne zu gestalten. Die Bem٧hungen Frankreichs, f٧r sei­ nen polnischen Verb٧ndeten einen stδndigen Sitz im Vφlkerbundsrat zu si­ chern, waren Ausfluß dieser Überlegungen485. Allerdings blieb die französische Völkerbundspolitik - als Politik der Einbindung Deutschlands in internationale Strukturen und des Ausbaus der kollektiven Sicherheitsstrukturen - weiterhin nur eine von grundsätzlich drei Optionen: Zwar hatten der Dawes-Plan und Locarno dazu geführt, daß die beiden anderen Sicherheitspolitiken - Bündnispolitik und Politik der Stärke - etwas in den Hintergrund traten, erledigt waren diese Optionen damit jedoch nicht. Gerade nach Locarno und nach der Stabilisierung des Franc verstärkte Frankreich sein wirtschaftliches und finanzielles Engagement in Mittel- und Osteuropa: Es half tatkräftig bei der Sanierung der Währungen Polens (1926), Rumäniens (1929) und Jugoslawiens (1931) - allesamt Verbündete Frankreichs - und etwa ein Viertel aller französischen Auslandsinvestitionen flössen in diesen Raum486. Berthelot und das französische Kriegsministerium arbeiteten parallel dazu an der Reorganisation der Armeen der Kleinen Entente und boten dazu logistische und finanzielle Hilfe an, um diese besser gegen den potentiellen Gegner Deutschland zu rüsten487. Gleichzeitig kam es auch zu einer Annäherung zwischen Großbritannien und Frankreich. Bei einem Treffen zwischen dem französischen Staatspräsident Gaston Doumergue und dem englischen König George V. am 16. Mai 1927 und einer Zusammenkunft zwischen den Außenministern Chamberlain und Briand zwei Tage später wurde die Entente cordiale von 1904 beschworen488. Zwar bestritten beide Regierungen, daß es eine Vereinbarung gab, durch die Frankreich die Politik Londons gegenüber der Sowjetunion unterstützte - nach einem Spionageskandal hatte Großbritannien am 27. Mai 1927 die diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen, nachdem sich das bilaterale Verhältnis zuvor schon dramatisch verschlechtert hatte - und England im Gegenzug die französische Rheinlandpolitik, das heißt vor allem die Weigerung Frankreichs, das Rheinland vorzeitig zu räumen, guthieß489. Faktisch stießen jedoch alle deutschen Vorstöße in der Frage der besetzten Gebiete auf den Widerstand sowohl Paris' als auch Londons. Auch der 484 BARlfiTY, Briand, S. 129. Sieheu. 486 Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 167. 487 Siehe ibid. 488 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 119f. Einen Überblick über die »Entstehung und Tragweite der jüngsten französisch-englischen entente cordiale« findet sich in: Rieth an AA (19.10.1928),ypomlihfecaSRONLJDCBA ΡAAA R, 70500. 489 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 120f., 125. 485 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 273 franzφsisch­britische Abr٧stungskompromiß vom 30. Juli 1928490, in dem London die französische Position in der Landrüstung anerkannte und Paris im Gegenzug die englische Position in der Marineabrüstung, führte zur Verstärkung dieser Quasientente. Es gab aber noch weitere Gründe, welche die ehemals Verbündeten näher zusammenrücken ließen. Chamberlain selbst galt als frankophil und gewann nach Locarno zunehmend den Eindruck, die Deutschen gäben sich mit nichts zufrieden und seien undankbar491. Der Austausch von Teilen des Personals im Foreign Office stärkte dort eher die Fraktion derjenigen, die zu einer engeren Kooperation mit Frankreich tendierten, zumal Deutschland - nachdem man in London meinte, mit Locarno die Lage in Europa weitgehend stabilisiert zu haben - nicht mehr allzu hoch auf der britischen Agenda stand492: Für England waren ab 1927 die Sowjetunion, China und die USA (wegen der Frage der Seerüstung) das Problem, nicht aber Berlin, und bei keinem dieser Probleme konnte Deutschland Großbritannien etwas bieten493. Allerdings schlug sich die französisch-britische Annäherung nicht in konkreten Bündnisabsprachen nieder, und nach dem Wahlsieg von Labour Ende Mai 1929 war es mit der Harmonie zwischen Paris und London auch schon wieder vorbei494. Jedoch schien sich der Charakter der französischen Bündnispolitik nach Locarno verändert zu haben. Gegenüber England wurde das Werben um eine militärische Allianz weniger aufdringlich, sei es, weil man die Sinnlosigkeit des Unterfangens eingesehen hatte, sei es, daß Locarno als Bündnisgarantie zumal bei den allgemein verbesserten französisch-britischen Beziehungen und der geringeren »deutschen Gefahr« - als ausreichend erkannt wurde. Auch gegenüber den mittel- und osteuropäischen Verbündeten änderte Paris seine Methoden495. Die direkte militärische Unterstützung verlor an Bedeutung, nachdem sich in der französischen Militärdoktrin in der Mitte der 1920er Jahre zunehmend die Befürworter einer defensiven Strategie durchsetzten496. Vielleicht inspiriert durch das amerikanische Beispiel und aufgrund der neugewonnenen finanzpolitischen Freiheit nach der Stabilisierung des Franc setzte Paris nun verstärkt auf die Finanzdiplomatie497. Für Frankreich waren die Vorteile498 offensichtlich: Vermeintlich genauso effektiv, waren die Investitionen 490 Zu Einzelheiten siehe u. Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 126; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 188; WURM, Rolle Deutschlands, S. 157. 491 492 493 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 126-128. Siehe ibid. S. 131. Siehe HEYDE, Reparationen, S. 50. 495 Siehe Hovi, Security, S. 121-123. 496 Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 148f. 497 Siehe Seydoux [?] an Laroche (27.5.1927), MAE PAAP 261,42. 498 Zu den Grenzen der französischen Finanzdiplomatie siehe Robert BOYCE, Business as Usual. The Limits of French Economic Diplomacy, 1926-1933, in: DERS. (Hg.), French 494 274 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung in Osteuropa gewinnbringender, als zu Hause eine große, offensiv ausgerichtete Armee unterhalten zu müssen. Zudem war die französische Finanzdiplomatie kompatibel mit der gleichzeitig praktizierten Verständigungspolitik: Anstatt durch militärische Zusagen an Polen die sich verbessernden Beziehungen zu Deutschland (aber auch zu Großbritannien!) zu gefährden, konnte man durch Geldspritzen in Osteuropa die Wirtschaft dort stabilisieren und gleichzeitig die innenpolitische Situation dieser Staaten verbessern. Beides, mehr Wohlstand und größere innenpolitische Stabilität, erhöhten aber auch den militärischen Wert dieser Länder gegenüber Deutschland. Allerdings blieben die Möglichkeiten der französischen Finanzdiplomatie auch nach der Währungsstabilisierung begrenzt, und ihr fehlte eine einheitliche Linie499: Die einzelnen Politikbereiche blieben unkoordiniert, die französischen Kriegsschulden in den USA und Großbritannien behinderten den finanziellen Spielraum der französischen Regierung und in Osteuropa traf Frankreich auch auf die Konkurrenz der anderen Westmächte, Italiens und Deutschlands, wobei letzteres vor allem im Osteuropahandel seine starke Stellung behaupten konnte. Aber auch die dritte Strategie französischer Sicherheitspolitik, die Politik der eigenen Stärke, wurde nach dem Ruhrkampf und Locarno keineswegs aufgegeben, erfuhr jedoch ebenfalls eine wesentlich Änderung. Der Rückzug Frankreichs aus dem Ruhrgebiet nach der Londoner Konferenz und der Abzug aus der Kölner Zone nach Locarno hatten mehr als deutlich werden lassen, daß Frankreich sich des besetzten deutschen Gebiets als strategischen Glacis nicht auf Dauer würde bedienen können500. Anstatt zu versuchen, eine befürchtete deutsche Invasion bereits auf deutschem Boden abzuwehren, trat nun die Sicherung der französische Grenze - vor allem auch im Hinblick auf die großen Industriestandorte Nord- und Nordostfrankreichs - in den Vordergrund. Zwar hatte es schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges Überlegungen zum Aufbau von Grenzbefestigungen im Nordosten gegeben, doch kam es erst ab November 1925 - der zeitliche Zusammenhang mit Locarno ist frappant zu konkreteren Planungen501. Im Dezember 1927 und im Januar des Folgejahres beschloß der Conseil superieure de la döfense nationale schließlich ein Projekt von Grenzfestungen, das in den folgenden Jahren als »Maginot-Linie« bekannt werden sollte502. Die konkrete Beschlußfassung wiederum stand im Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 107-131, insbes. S. 108-110. 499 SieheYXWUSRONMLJHGEDCBA WURM, Rolle Deutschlands, S. 109,167f. 500 Siehe Judith M. HUGHES, To the Maginot Line. The Politics of French Military Preparation in the 1920's, Cambridge 1971 (Harvard Historical Monographs, 64), S. 189. 501 Siehe ibid. S. 198f. Zusammenfassend: Martin S. ALEXANDER, In Defence of the Maginot Line. Security Policy, Domestic Politics and the Economic Depression in France, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 164-194, hier S. 170-172. 502 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 105f. siehe auch zum folgenden. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 275 Zusammenhang mit einigen anderen Maßnahmen der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Um die strukturellen Schwächen der französischen Armee abzugleichen und gleichzeitig die Kosten für die Verteidigung zu senken, wurden zwischen Januar 1927 und März 1928 verschiedene Gesetze diskutiert und verabschiedet, die unter anderem die Verkürzung des Wehrdienstes auf ein Jahr und die Reorganisation der Armee zum Inhalt hatten. Da aber gleichzeitig für die Jahre 1935 bis 1942 - aufgrund des Geburtenausfalls infolge des Ersten Weltkrieg - ein Rückgang der Männer im wehrfähigen Alter zu erwarten war und das Rheinland nicht über die im Versailler Vertrag festgelegten Fristen hinaus würde besetzt gehalten werden können, forderte vor allem die französische Armee den Bau von Grenzsicherungen und die volle Ausnutzung der Besatzungsfristen des Versailler Vertrags, um die »couverture« Frankreichs zu erhalten. Nachdem erste Bauarbeiten bereits 1928 begonnen hatten, stimmte die Regierung Poincare am 17. Januar 1929 dem Bau der Maginot-Linie zu, und am 28. Dezember 1929 wurde schließlich das entsprechende Finanzierungsgesetz verabschiedet503. Die Existenz zweier weiterer außen- und sicherheitspolitischer Strategien, nämlich der Bündnis- und der »Sicherheit-durch-eigene-Stärke«-Politik, machte deutlich, daß die Politik der kollektiven Sicherheit nach Locarno zwar an Boden gewonnen hatte, ja sogar dazu führte, daß sich der Charakter der beiden anderen Strategien erheblich veränderte (stärkeres Gewicht der Finanzdiplomatie, Aufgabe der Rheinlandpolitik), aber immer noch nicht unumstritten war. Das Vorhandensein mehrerer paralleler Strategien behinderte jedoch den Ausbau der kollektiven Sicherheit, weil es immer noch Alternativen gab. Andererseits verhinderte die kollektive Sicherheit auch die konsequente Umsetzung anderer Sicherheitskonzepte: Zwischen Briand, der im Ausgleich mit Deutschland, in der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes und der Etablierung von Völkerbundgremien zur Überwachung der deutschen Entwaffnung die bessere Sicherheitsgarantie sah, und den Militärs um Foch, Joffre, Petain und Debeney, die die Maginot-Linie befürworteten und nach deren Willen das Rheinland erst dann freigegeben werden sollte, wenn die neuen Grenzbefestigungen einsatzbereit waren, schwelte ein ständiger Konflikt. War die französische Völkerbundspolitik dem Ziel der Sicherheit untergeordnet, so war die deutsche ein Element der Revisionspolitik. Von einer deutschen Mitgliedschaft erhoffte man, daß sie sich bezüglich der Revision der Ostgrenze vorteilhaft auswirken würde, weil man vor allem die Probleme der deutschen Minderheiten in Genf wirkungsvoll würde vertreten und auf die 503 Siehe Marc SORLOT, Andrd Maginot (1877­1932). L'homme politique et sa tegende, Metz 1995, S. 210f. 276 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Sinnlosigkeit der Nachkriegsgrenzziehung w٧rde hinweisen kφnnen504. Insge­ samt sollte der Vφlkerbund als Podium genutzt werden, um auf die Be­ nachteiligung Deutschlands durch den Versailler Vertrag hinzuweisen und um auf Gleichberechtigung, z.B. in der Abr٧stungsfrage, zu drδngen505. Genauso wie Frankreich versuchte, den Vφlkerbund im Sinne seiner eignen Sicher­ heitspolitik auszubauen, versuchte Deutschland, die »Neugr٧ndung des Vφlkerbundes«506 voranzutreiben, um dadurch den Vφlkerbund endg٧ltig seines Charakters als »Bund der Sieger« zu entkleiden und die starke Stellung Frankreichs darin zu brechen. Dabei bef٧rwortete man im AA durchaus auch den Ausbau der Zusammenarbeit der europδischen Staaten innerhalb des Bunds ­ vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, denn »[i]n vielen Fδllen wird auch Deutschlands Gewicht in einem europδischen Gremium mehr ausmachen als in einer Weltvereinigung, zumal wenn es gelingt, uns den russischen Schatten zu erhalten«507. Allerdings war die deutsche Vφlkerbundspolitik nicht ohne Alternative. Wie die franzφsische Politik blieb sie zweigleisig: Auch wenn Stresemann selbst kein doppeltes Spiel betrieb, so machte die geheime deutsche Aufr٧stung und die Kooperation mit der Sowjetunion in R٧stungsfragen doch deutlich, daß es neben der friedlichen Revisionspolitik noch andere politische Szenarien gab508. So betrieb beispielsweise das Truppenamt unter Leitung Blombergs weiterhin Pläne, gemeinsam mit der Sowjetunion gegen Polen zu kämpfen509. Allerdings kam es nach dem Ausscheiden von Seeckts als Chef der Heeresleitung im Reichswehrministerium (RWM) - der ein Exponent der deutschsowjetischen Militärkooperation war und nötigenfalls bereit gewesen wäre, einen »Befreiungskrieg« zur Umkehrung der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zu führen - unter dessen Nachfolger Wilhelm Heye zu einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen Militär und Zivilbehörden510. Heye und der zunehmend an Einfluß gewinnende Leiter der Wehrmachtsabteilung im RWM, Oberst Kurt von Schleicher, akzeptierten mit ihrem »neuen Kurs« nicht nur prinzipiell die Republik, sondern waren auch weniger kritisch gegenüber der Verständigungspolitik eingestellt511. Insgesamt zog sich die Reichswehrfuh504 Siehe Marshall M. LEE, Gustav Stresemann und die deutsche Völkerbundspolitik 19251930, in: Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 350-374, hier S. 350f.; KIMMICH, League of Nations, S. 135. 505 Siehe Aufzeichnung Poensgen (12.12.1925), ADAPzyvutsrponmlkihgfedcbaWTSRPNKIHFE Β 1,1, Nr. 22. 506 Ibid. 507 Ibid. 508 509 SiehefWTSRPOIHG WRIGHT, Stresemann, S. 385f., 438. Siehe ibid. S. 438f. Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 92. 511 Die Revisionsziele Heyes decken sich in der Tat sehr stark mit denen Stresemanns: Kor­ ridor, Reparationen und Rheinlandräumung, siehe Toumis an 2feme Bureau (30.11.1928), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. 510 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 277 rung aus der Außenpolitik stärker zurück, was der geänderten Einstellung gegenüber der Republik und der Verständigungspolitik ebenso geschuldet war wie der Reform der Reichswehrfuhrung, die nicht zuletzt auch auf alliierte Forderungen im Zusammenhang mit der deutschen Entwaffnung zurückging512· Dennoch blieb in Deutschland die Verständigungs- und Völkerbundspolitik eine Politik unter Vorbehalt: Trotz der verbesserten Beziehungen mit dem Westen, trotz der Gefährdung des Verhältnisses zwischen Deutschland und dem Westen - falls die Rüstungskooperation mit der Sowjetunion publik würde - und der Erpreßbarkeit, die sich daraus für die deutsche Politik ergab, wurde diese Zusammenarbeit nicht aufgegeben513. Die Sowjetunion wurde weiterhin als wichtiger Trumpf in der Revisionspolitik gesehen - zumal das AA befürchtete, daß es im Falle einer allzu starken deutschen Umorientierung nach Westen zu einer Annäherung zwischen der Sowjetunion und Frankreich bzw. Polen kommen würde. Auch der militärische Wert der Kooperation - die Entwicklung und Erprobung neuer (und aufgrund des Versailler Vertrags verbotener) Waffen - wurde so hoch eingeschätzt, daß sie nicht der Verständigung mit dem Westen geopfert werden sollte514. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß sowohl die deutsche als auch die französische Völkerbundspolitik den allgemeinen außenpolitischen Zielen beider Länder - also der Sicherheits- bzw. Revisionspolitik - untergeordnet war und es in beiden Ländern neben der kollektiven Sicherheit alternative Strategien zur Umsetzung der außenpolitischen Ziele gab. Die Existenz dieser politischen Alternativen schränkte die Umsetzung moderner, auf Kooperation und kollektiver Sicherheit beruhender politischer Strategien ein, wodurch die strukturellen Mängel der bestehenden kollektiven Sicherheitsstrukturen - als Beispiele seien hier nur die Abstimmungsmodalitäten im Völkerbund und die unvollkommenen Sanktionsmechanismen des Artikels 16 genannt - noch verstärkt wurden. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zur deutschen und französischen Völkerbundspolitik soll nun das konkrete Zusammenspiel beider Länder im Völkerbund genauer untersucht werden. Am Anfang dieser Betrachtungen soll dabei der deutsche Beitritt zum Völkerbund stehen, denn daran werden die Prioritäten und Interessen der deutschen und französischen Völkerbundspolitik in besonders plastischer Weise deutlich. Nachdem der deutsche Beitritt in den Völkerbund 1919 am alliierten - und vor allem französischen - Widerstand gescheitert war515, trat der Völkerbund in der deutschen Politik zunächst in den Hintergrund. Erst im Februar 1923 512 Vgl. POST, Weimar Foreign Policy, S. 93­97. Siehe ibid. S. 116. 514 Siehe ibid. S. 120f. 515 Siehe Aufzeichnung Poensgen (12.12.1925), AD APrN Β 1,1, Nr. 22. 513 278 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung kam es zur Gr٧ndung des Vφlkerbundsreferats im AA516, wobei der deutsche Beitritt selbst noch nicht akut war517. Das deutsche Interesse am Vφlkerbund wurde vielmehr dadurch geweckt, daß die konservative britische Regierung versuchte, durch den Ausbau des Bunds Paris von seiner unilateralen Politik im Rheinland und im Ruhrgebiet abzubringen. Mit dem Regierungsantritt MacDonalds wurden auch die englischen Forderungen nach einem deutschen Beitritt lauter: Der neue englische Premier sah den Völkerbund vor allem als »clearing house« fur internationale Dispute, weshalb er die Einbeziehimg Deutschlands, aber auch der Sowjetunion, befürwortete518. Die Reichsregierung war deswegen, nachdem vor allem Frankreich bisher die deutsche Mitgliedschaft stets abgelehnt hatte, gezwungen, sich mit dem Eintritt in den Genfer Bund zu befassen519. Zwar stand »[d]ie deutsche Regierung [...] durchaus auf dem Boden der dem Völkerbund zu Grunde liegenden [sie] Idee der internationalen Solidarität«520, doch stellte sie fur den Beitritt eine Reihe von Bedingungen521, die die Beitrittverhandlungen mit den Westmächten und dem Völkerbund weiterhin bestimmen sollten: Deutschland wollte als gleichberechtigtes Mitglied in den Bund aufgenommen werden und verlangte deshalb einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat. Außerdem forderte die Reichsregierung, daß die Sowjetunion ebenfalls Mitglied des Völkerbunds werden oder zumindest gewährleistet sein müsse, daß Deutschland nicht eine gegen Rußland gerichtete Völkerbundspolitik würde unterstützen müssen. Auch mußte gewährleistet sein, daß dem Völkerbund keine Souveränitätsrechte in bezug auf die besetzten deutschen Gebiete übertragen wurden. MacDonald übernahm erneut die Initiative ftir einen deutschen Beitritt, den er in einer Rede vor der Vollversammlung des Völkerbunds am 4. September 1924 forderte522. Herriot hingegen äußerte sich in seiner Ansprache an gleicher Stelle am folgenden Tag wesentlich vorsichtiger: Ein deutscher Beitritt könne nur dann erfolgen, wenn Deutschland zuvor die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags erfülle und die Satzung des Völkerbunds ohne Abstriche akzeptiere523. Nachdem auf der kurz zuvor zu Ende gegangenen Londoner Konferenz das Reparationsproblem durch den DawesPlan vorläufig geregelt worden war, machte Herriot deutlich, daß für Paris die Sicherheitsfrage nach wie vor das größte Problem der deutsch-französischen Beziehungen war. Seine Forderung nach vollständiger Entwaffnung Deutsch516 Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S . 5 6 0 . Siehe Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP AIX, Nr. 10. 518 Siehe K I M M I C H , League of Nations, S. 52. 519 Siehe Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [11.2.1924], ADAPzutsrnmihedbaSRNLIHED Α Di, Nr. 146. 520 Ibid. 521 Hierzu siehe ibid. 522 Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S. 561. Auszüge von MacDonalds Rede in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 455f. 523 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 456f. 5,7 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 279 lands unterstrich die von England auf der Londoner Konferenz abgerungene Zusage, die Kφlner Zone erst dann zu rδumen, wenn die Arbeit der IMKK zu einem erfolgreichen Abschluß gekommen sein würde. Die Bedeutung der Sicherheitsfrage wurde auf der Vollversammlung aber auch daran deutlich, daß sich die Mitgliedsstaaten am 2. Oktober 1924 in einer Resolution verpflichteten, das während der Tagung ausgearbeitete Genfer Protokoll anzunehmen. Durch den neuerlichen Vorstoß MacDonalds veranlaßt, fand innerhalb des AA und der Reichsregierung im September 1924 erneut eine Diskussion über die Vor- und Nachteile eines deutschen Beitritts in den Völkerbund statt524. Als Nutzen einer deutschen Mitgliedschaft wurde vor allem betrachtet, daß Deutschland dann aktiv Einfluß auf alle Fragen nehmen könnte, die innerhalb des Völkerbunds behandelt wurden und Deutschland direkt betrafen. Dabei dachte man vor allem an die kollektive Sicherheit, die Abrüstung, die Minderheitenfrage und die Verwaltung des Saargebiets, Danzigs und der ehemals deutschen Kolonien, die jetzt als Mandate des Völkerbunds von den Siegermächten verwaltet wurden525. Auch hinsichtlich der Räumung des Rheinlands erhoffte man sich Vorteile: Da durch die deutsche Mitarbeit in Genf ganz allgemein die Sicherheit Frankreichs erhöht würde, würde dadurch auch die Räumung der Kölner Zone erleichtert526. Allerdings erblickte man in einem deutschen Beitritt zum Völkerbund durchaus auch Nachteile: So könnte der deutsche Eintritt in den Genfer Bund den Eindruck erwecken, Deutschland würde nun doch noch den Versailler Vertrag - und vor allem die deutsche Kriegsschuld - anerkennen, und auch die mögliche Beeinträchtigung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses wurde als problematisch angesehen527. Das deutsche Völkerbundsmemorandum vom 24. September 1924 machte deshalb, trotz der prinzipiellen Bereitschaft, dem Bund beizutreten, folgende Vorbehalte528: Deutschland forderte nach wie vor einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat und machte die bekannten Einschränkungen zum Artikel 16 der Völkerbundssatzung, vor allem, um nicht an Völkerbundsaktionen gegen die Sowjetunion teilnehmen zu müssen. Außerdem bestand die Reichsregierung nochmals darauf, bei einem Beitritt zum Völkerbund nicht öffentlich die Bestimmungen des Versailler Vertrags sanktionieren zu müssen und forderte eine Beteiligung an der Verwaltung der Kolonialman- 524 Vgl. v.a. Ministerrat (23.9.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 304a. Eine besonders pointierte Zusammenfassung findet sich auch in einer undatierten Aufzeichnung von Gaus [Ende September 1925], ADAP A XIV, Nr. 108. 525 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563. 526 Siehe Ministerrat (23.9.1924), AdR MarxxutsronmlihgedcbaUTSRNMLIHFECBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 304a. 527 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563. 528 Text des Memorandums in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1371b. Siehe auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 264f.; KIMMICH, League of Nations, S. 57-59. 280 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung date. Allerdings waren nur die Punkte hinsichtlich des Ratssitzes und des Artikels 16 von substantieller Bedeutung529. Die Antworten, die Deutschland auf sein Memorandum erhielt, waren zwar grundsδtzlich positiv, blieben aber weitgehend unverbindlich530. Ende des Jah­ res 1924 war die internationale Lage so kompliziert geworden, daß sich die Westmächte und vor allem Frankreich nicht festlegen wollten. Die Zustimmung Großbritanniens zum Genfer Protokoll stand noch aus, und davon würde abhängen, wie sich Frankreich in der Frage der deutschen Entwaffnung und der Militärkontrolle verhalten würde. Letztere war schließlich die Voraussetzung dafür, welche Haltung Paris bezüglich der anstehenden Räumung der Kölner Zone einnehmen würde. Da die Antworten der im Völkerbundsrat vertretenen Länder besonders hinsichtlich des Artikels 16 »noch keinerlei Klärung brachten«531, richtete die Reichsregierung am 12. Dezember 1924 erneut ein Memorandum an den Völkerbund, um Auskunft in dieser Frage zu erhalten532. Die Antwort des Völkerbundsrates erfolgte am 13. März 1925533, war aus deutscher Sicht aber wenig erfreulich. Zwar wurden die militärischen Verpflichtungen des Artikels 16 etwas relativiert, doch hinsichtlich der Teilnahme an den im selben Artikel vorgesehenen Wirtschafitssanktionen wurde jede Sonderstellung eines Mitgliedsstaates abgelehnt. Nachdem aber bereits im Februar die deutsche Sicherheitsinitiative eingeleitet worden war, verlor die Frage des deutschen Beitritts zum Völkerbund zunächst an Bedeutung, weil jetzt die Verhandlungen um das deutsche Sicherheitsmemorandum im Vordergrund standen, wenngleich die prinzipiellen Vorbehalte beibehalten wurden534. In Locarno schließlich kam es zu dem bereits dargestellten Kompromiß in der Frage des Artikels 16: Die Westmächte erklärten, daß jedes Mitgliedsland nur insofern den Bestimmungen dieses Artikels Rechnung tragen müsse, wie es mit seiner politischen und geographischen Lage in Einklang zu bringen sei. Dadurch war ein wichtiges Hindernis ausgeräumt, und fiir Deutschland bestand nun die Verpflichtung zum Beitritt in den Völkerbund als Teil des »Locarno bargain«535. Allerdings, leicht tat sich Deutschland mit diesem Schritt noch immer nicht: Die DNVP, die in diesem Punkt auf die Unterstützung von Reichspräsident Hindenburg setzen konnte, versuchte, das De-facto-Junktim zwischen Locarno und dem Völkerbundsbeitritt aufzubrechen536, konnte diese Forderung aber nur teilweise durchsetzen. Die Reichsregierung beschloß am 8. Februar 1926, 529 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 265. Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563f. 531 Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 115. 532 Zur Note vgl. ibid. 533 Text der Note in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1372b. 534 Siehe Aufzeichnung Schubert (21.3.1925), AdR Luther I/II Bd. 1, Nr. 54. 535 JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68. 536 Siehe MinisterTat [8.2.1926], ADAPsrnmebNA Β 1,1, Nr. 87, bes. Anm. 9. 530 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 281 einen formellen Antrag zur Aufnahme in den Vφlkerbund zu stellen537, aller­ dings sollte das Beitrittsgesuch zur٧ckgezogen werden, falls eine der Locarno­ Mδchte die Locarno­Vertrδge nicht ratifizieren, Deutschland keinen stδndigen Ratssitz erhalten oder erneut zur Anerkennung der Kriegsschuld gezwungen werden sollte538. Der Antrag sollte auch dann zur٧ckgezogen werden, wenn bei den Pariser Luftfahrtverhandlungen, in denen es um die Rechte der deut­ schen Zivilluftfahrt ging, keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielt w٧r­ den539. Als schwierigstes Problem sollte sich in der Folgezeit die Frage des deut­ schen Ratssitzes erweisen. Zwar stand außer Frage, daß Deutschland als ständiges Mitglied in den Völkerbundsrat einziehen sollte, doch lehnte Deutschland die Aufnahme anderer ständiger Mitglieder in den Rat - Polen, Spanien und Brasilien hatten entsprechende Ansprüche gestellt - ab540. Dies war zum einen eine Frage des Prestiges. Eine Mitgliedschaft im Rat wurde von Deutschland als wichtiger Teil der wiedergewonnenen Großmachtstellung begriffen, die durch den Beitritt »sekundärer« Staaten entwertet würde. Besonders richtete sich die Ablehnung aber gegen Polen541, dessen Eintritt in den Rat »einen außerordentlich schweren Schlag für die deutsche Politik bedeuten«542 würde. Dadurch werde die Revision der deutschen Ostgrenze erschwert, denn »[i]ndem Polen in dieser Weise als Großmacht anerkannt wird, liegt darin auch eine gewisse Verpflichtung, es in seinen jetzigen Grenzen aufrechtzuerhalten«543, und die Fundamente der deutschen Locarno-Politik an sich würden erschüttert: Anstatt, wie beabsichtigt, das französisch-polnische Verhältnis durch Locarno aufzuweichen, würde dieses durch einen polnischen Ratssitz gestärkt. Da es außerdem Anzeichen fur eine Annäherung zwischen Polen und der Sowjetunion gab, stand zu befürchten, daß »Polen - wenigstens für einige Zeit - die umworbene Macht Mitteleuropas werden«544 würde, eine Rolle, die man im AA eigentlich Deutschland zugedacht hatte. In deutschen Regierungskreisen herrschte deshalb Einigkeit: »Ein polnischer Ratssitz sei für Deutschland unerträglich«545. Andererseits hatte Frankreich ein großes Interesse an einem ständigen polnischen Ratssitz. In Locarno hatte Briand seinem polnischen Kollegen Alexander Skrzynski eine entsprechende Zusage gegeben, um Warschau dafür zu ent537 Text des Beitrittsgesuchs: AdR LutherzywutsrponmlkihgfedcbaSRPONMLJIEDCBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 284, Anm. 6. Siehe Ministerrat (8.2.1926) AdR Luther Ι/Π, Nr. 284. 539 Siehe ibid. 540 S. JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68. 541 Einen spanischen Ratssitz wollte die Reichsregierung nötigenfalls hinnehmen, siehe Ministerbesprechung (11.2.1926), AdR Luther Ι/Π, Nr. 288. 542 Aufzeichnung Dirksen (9.2.1925), ADAP Β 1,1, Nr. 90. 543 Ibid. siehe auch zum folgenden. 544 Ibid. 545 Ministerbesprechung (11.2.1926), AdR Luther Ι/Π, Nr. 288. 538 282 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung schδdigen, daß in den Locarno-Verträgen keine substantiellen Garantien für die polnische Westgrenze verankert worden waren546. Außerdem hätte der Eintritt Polens in den Rat Frankreichs Position in diesem Gremium, gerade angesichts des deutschen Beitritts, gestärkt547. Da der Völkerbund außerdem die Klammer war, die in den Augen der französischen Politik den Garantiepakt für die deutsche Westgrenze mit den Ostschiedsverträgen zu einem europäischen Sicherheitssystem verknüpfte, mußte es Paris natürlich daran gelegen sein, seine Position im Völkerbund auszubauen. Bei Gesprächen in Paris am 27. und 28. Januar 1926 konnte Briand auch Chamberlain für einen polnischen Ratssitz gewinnen, falls Frankreich die spanische Kandidatur stützte548. Um noch im Vorfeld der Ratstagung, die im März 1926 stattfinden sollte, eine Lösung für das Problem der Ratssitze zu finden, reiste der Generalsekretär des Völkerbunds, Drummond, am 16. und 17. Februar 1926 zu Gesprächen nach Berlin. Die Reichsregierung wiederholte gegenüber dem Generalsekretär ihre Vorbehalte hinsichtlich des polnischen Ratssitzes: Ein Sitz für Polen entspräche nicht den Absprachen von Locarno, außerdem sei Polen keine Großmacht, die einen ständigen Sitz beanspruchen könne549. Die deutschen Vertreter betonten außerdem, daß der deutsche Beitritt nicht durch den Reichstag zu bringen sei, falls Polen ständiges Ratsmitglied werde. Drummond jedoch äußerte sich, wie dessen französischer Stellvertreter Avenol550 erleichtert nach Paris melden konnte, ausweichend zu dieser Frage. Nachdem dieser Vermittlungsversuch gescheitert war, mußte also auf der Ratstagung in Genf, die für den 7. bis 17. März 1926 angesetzt war, eine Lösung gefunden werden. Nachdem zwischen den Großmächten nach zähen Verhandlungen doch noch ein Kompromiß gefunden werden konnte, der darin bestand, daß Polen und Spanien zwar keinen ständigen Ratssitz erhalten sollten, sondern einen nichtständigen, für den sie jedoch wiedergewählt werden konnten551, und Deutschland in der Kommission zur Reform des Völkerbundsrates mitarbeiten sollte552, scheiterte die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund letztlich am Widerstand Brasiliens. Das südamerikanische Land ließ sich nicht von seiner Forderung nach einem ständigen Ratssitz abbringen, woraufhin die Großmächte die Frage vertagten553. Erst zur Septembertagung des Völkerbunds wurden die Probleme 546 547 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 312. Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 79. Siehe ibid. 549 Siehe Avenol an Berthelot (19.2.1926), MAE PAAP 261,2. Siehe auch zum folgenden. 550 Zur Person Avenols vgl. MichelsrnifaUSRONMJECBA MARBEAU, Reflexions sur un haut fonctionnaire fran5ais devenu secrdtaire gindral de la Societe des Nations: le cas de Joseph Avenol, in: Relations internationales 75 (1993), S. 345-361. 551 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68. 548 552 553 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 314. Siehe Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [16.3.1926] ADAPrN Β 1,1, Nr. 166. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 283 bez٧glich des deutschen Beitritts endg٧ltig beigelegt, und am 10. Septem­ ber 1926 trat Deutschland in »feierlicher Sitzung«554 in den Vφlkerbund ein. Allerdings wurde der deutsche Beitritt in den Vφlkerbund durch den am 24. April 1926 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion geschlos­ senen Berliner Vertrag teilweise wieder entwertet. Welche άberlegungen lie­ ßen die Reichsregierung, trotz der vorhersehbaren Auswirkungen auf das Verhältnis zu den westlichen Staaten, diesen Vertrag abschließen? Das AA verfolgte mit seiner Politik gegenüber der Sowjetunion verschiedene Ziele: Die Sowjetunion wurde vor allem als Druckmittel gesehen, Revisionsforderungen gegenüber Polen durchzusetzen555. Daneben spielte auch die verdeckte militärische Zusammenarbeit eine wichtige Rolle, allerdings sah das AA diese »more as a means of maintaining the relationship with the Soviet Union than as of value in themselves«556. Auch wirtschaftlich versprach man sich Vorteile von einer Kooperation, allerdings wurden die hochgesteckten Erwartungen diesbezüglich weitgehend enttäuscht557. Mit Sorge betrachtete man in Berlin auch die Anzeichen einer Annäherung zwischen Paris und Moskau, die wiederum die Revision der Ostgrenze erschwert hätte, so daß man dem sowjetisch-französischen Ausgleich von Vornherein einen Riegel vorschieben wollte558. Umgekehrt betrachtete die Sowjetunion die Annäherung zwischen Deutschland und dem Westen seit dem Dawes-Plan - und erst recht natürlich seit Locarno - mit Sorge, drohte doch nun auch Deutschland aus Moskauer Sicht in eine westliche, antisowjetische Allianz abzudriften559. Um Moskau diesbezüglich zu beruhigen, schien also eine Geste notwendig. Aber auch aus innenpolitischen Überlegungen heraus - weil viele Gegner der LocarnoPolitik, besonders die DNVP, aber auch Seeckt und Brockdorff-Rantzau starke Befürworter einer Kooperation mit der Sowjetunion waren - schien die Erhaltung guter Beziehungen zur Sowjetunion angebracht560. Materiell war der Inhalt des Berliner Vertrags wenig bedeutsam und blieb weit hinter den Erwartungen der Sowjetunion zurück, die ein Bündnis zwischen beiden Ländern gefordert hatte561. Der Vertrag562 bestätigte den Inhalt des Rapallo-Abkommens von 1922 (Art. 1) und sicherte dem jeweils anderen Land die Neutralität für den Fall zu, in dem das jeweils andere Land Opfer eines Angriffs würde 554 Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 474. Dort auch Ausz٧ge aus den Reden Stresemanns und Briands anlδίlich des deutschen Beitritts. 555 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 621. 556 WRIGHT, Stresemann, S. 359. 557 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 269. 558 Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 621. 559 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 266­268. 560 Siehe Ministerbesprechung (24.2.1926), AdR LutherrihedSNB Ι/Π Bd. 2, Nr. 299. 561 Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 283f. 562 Der Vertragstext und der Notenwechsel sind abgedruckt in: Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 87­89. 284 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung (Art. 2). F٧r diesen Fall verpflichteten sich beide Regierungen auch dazu, nicht an gegen das andere Land gerichtete Wirtschaftssanktionen teilzu­ nehmen (Art. 3). In Paris und London war man ٧ber den Berliner Vertrag naturgemδß nur wenig erbaut563. Da aber sowohl Chamberlain als auch Briand ihr politisches Schicksal an den Ausgleich mit Deutschland gebunden hatten, wagten sie nicht, allzu hart gegen die deutsch-russischen Verhandlungen vorzugehen und als Konsequenz daraus z.B. die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu verhindern564. Die Uneindeutigkeit der deutschen Haltung mußte aber wiederum auch den Spielraum Chamberlains und vor allem Briands in ihrer Deutschlandpolitik einengen565. Deshalb lehnten Paris und London - infolge auch des Berliner Vertrags - zunächst weitere Truppenreduzierungen im Rheinland ab. Insgesamt machte der Berliner Vertrag deutlich, daß die deutsche Politik gegenüber dem Westen nach wie vor ambivalent war, und so die Wirkung des Locamo-Pakts begrenzte566. An den Auseinandersetzungen um den deutschen Beitritt zum Völkerbund, die sich an den Problemen des Artikels 16 der Satzung und der Frage des deutschen bzw. polnischen Ratssitzes entzündeten, läßt sich besonders klar zeigen, daß die Politik, die Berlin und Paris im Völkerbund verfolgten, den großen außenpolitischen Leitlinien beider Länder untergeordnet blieb. Deutschland konnte in der Frage des Artikels 16 nicht nachgeben, weil dies das Verhältnis zur Sowjetunion beeinträchtigt und somit die Revisionschancen in Osteuropa verringert hätte. Auch in der Frage des Ratssitzes spielten revisionspolitische Gesichtspunkte eine herausragende Rolle: Der polnische Ratssitz wurde abgelehnt, weil er die neuerrungene Gleichberechtigung Deutschlands als Großmacht - ein wesentliches Revisionsziel - eingeschränkt hätte. Durch die zu erwartende Aufwertung Polens für den Fall, daß es einen ständigen Ratssitz erhalten hätte, wäre außerdem die Revision der deutschen Ostgrenze erschwert worden. Die französische Politik in der Frage des deutschen Völkerbundsbeitritts folgte ebenfalls den Leitlinien der allgemeinen Politik, also vor allem sicherheitspolitischen Überlegungen. Da für Frankreich Locarno mit seinem Schieds- und Garantiepakt nur der erste Schritt zur Erhöhung der Sicherheit war, sollten durch den Völkerbund weitere Garantien geschaffen werden. Der ständige polnische Ratssitz hätte die Position Frankreichs im Völkerbundsrat gestärkt und die Deutschlands relativiert. Darüber hinaus wäre die Verklam- 563 Zu einigen Reaktionen siehe Hoesch an AA (9.4.1926),zyutsrponmlihgfedcbaZWTSRPONM ΡAAA R, 28239; Hoesch an AA (3.4.1926), ADAP Β Π,Ι, Nr. 104; Aufzeichnung Schubert (6.4.1926), ADAP Β Π,2, Nr. 108. 564 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 81. Siehe auch zum folgenden. 565 566 Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 359. Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 243. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 285 merung, die zwischen den Ostschiedsvertrδgen des Locarnopakts mit dem Vφlkerbund bestand, verstδrkt worden. Daß sich Frankreich schließlich doch darauf einließ, Polen nicht in den Rat aufzunehmen, dürfte vor allem zwei Gründe gehabt haben: Hätte Deutschland den Beitritt in den Völkerbund wegen der Ratsfrage abgelehnt, wäre das ganze mit Locarno verbundene Sicherheitskonzept ins Wanken geraten. Insofern war es besser, den deutschen Forderungen bezüglich des Ratssitzes nachzugeben. Außerdem war mit dem deutschen Beitritt zum Völkerbund in den Augen Frankreichs schon viel erreicht: Indem Deutschland den Artikel 10 der Satzung anerkannte, verzichtete es implizit erneut auf eine gewaltsame Revision seiner Ostgrenze und war jetzt außerdem in die Sanktionsmechanismen des Völkerbunds eingebunden. Dafür war es für Frankreich, wie oben festgestellt wurde, weniger wichtig, daß Deutschland selbst aktiv an Sanktionen, z.B. gegen die Sowjetunion, teilnahm, sondern daß Deutschland damit anerkannte, daß es, im Falle einer Aggression gegen Polen, den Sanktionen des Völkerbunds unterworfen werden konnte. Damit hatte Frankreich eine rechtlich einwandfreie, von Deutschland anerkannte Handhabe zur Verhängung von Sanktionen. Die deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund war also weder von Frankreich noch von Deutschland in erster Linie angestrebt worden, um den Prinzipien des Völkerbunds nach Friedenssicherung durch kollektive Sicherheit zum Durchbruch zu verhelfen. Er war vielmehr taktisch-strategischer Natur und stand unter dem Vorbehalt der Sicherheits- bzw. Revisionspolitik. Wie bereits vor Locarno und dem deutschen Beitritt zum Völkerbund blieb die Sicherheitsfrage auch danach eng mit der Abrüstung verbunden. Für Frankreich galt noch immer der von Herriot geprägte Dreisatz, daß der Schiedsgerichtsbarkeit die Sicherheit folge, die erst dann die Abrüstung ermöglichen würde567, mit anderen Worten: Für Frankreich war Abrüstung nur in dem Maße möglich, in dem die französische Sicherheit erhöht wurde568. Im Grunde genommen blieben die für die Abrüstungsverhandlungen bestehenden Probleme der ersten Hälfte der 1920er Jahre auch die der zweiten: das Verhältnis von Abrüstung und Sicherheit. Bereits die erste Vollversammlung des Völkerbunds hatte in ihrer Resolution vom 14. Dezember 1920 festgestellt, daß die allgemeine und endgültige Abrüstung von verschiedenen Bedingungen abhinge569: Vor allem müsse sichergestellt werden, daß die Abrüstungs- und Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags vollständig durchgeführt 567 Siehe BERSTEIN, Herriot, S. 120f. Siehe Marshall M. LEE, Disarmament and Security: The German Security Proposals in the League of Nations, 1926-1930. A Study in Revisionist Aims in an International Organizsation, in: MGM 25 (1979), S. 35-45, hier S. 35f. 569 Der Text der Resolution der 1. Vollversammlung des Völkerbunds vom 14.12.1920 ist teilweise abgedruckt in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nigociations concemant les garanties de sicurite 1924, Nr. 44, Anhang 1. 568 286 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung und Kontrollorgane zu deren dauerhaften άberwachung errichtet w٧rden. Eine weitere Bedingung war »la collaboration des autres grands Etats militaires qui, jusqu'ici, sont restes en dehors de la Societe«570, wobei vor allem an die USA gedacht gewesen sein d٧rfte. Um dennoch den guten Willen in der Ab­ r٧stungsfrage zu unterstreichen, beschloß die Vollversammlung, daß die Commission permanente consultative ihre technischen Studien zum aktuellen Stand der Bewaffnung schnell zum Abschluß bringen sollte und setzte die Commission temporaire mixte als Enquete-Kommission ein, deren Aufgaben es sein sollte, Studien und Vorschläge zur Abrüstung für den Völkerbundsrat auszuarbeiten. Dieser Resolution fügte die Vollversammlung den »voeu«571 an die Regierungen der Mitgliedsstaaten bei, die Militärausgaben in den folgenden zwei Jahren einzufrieren. Im folgenden Jahr erneuerte die Vollversammlung diesen Wunsch und beauftragte die Commission temporaire mixte, einen Vorschlag - in Form eines Vertrags - zur Abrüstung vorzulegen572. Eine weitere Resolution der Vollversammlung zur Abrüstung forderte die Mitgliedsstaaten auf, so schnell wie möglich der Commission temporaire Auskunft über ihre Verteidigungsausgaben, ihre internationalen Verpflichtungen und die spezifischen Schwierigkeiten der nationalen Verteidigung, wie beispielsweise die geographische Lage eines Landes, zu geben573. Im September 1922 legte die Commission temporaire einen Bericht vor, der die Antworten der Regierungen zusammenfaßte574, und veröffentlichte eine Zusammenstellung über die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsländer575. Ebenfalls 1922 kam die Vollversammlung in ihrer bereits erwähnten Resolution XTV zu dem Schluß, daß für besonders exponierte Staaten eine Abrüstung nur dann erfolgen könne, wenn gleichzeitig durch zusätzliche internationale Sicherheitsgarantien die Gefährdung dieser Länder reduziert würde576. Damit hatte die französische Abrüstungsdoktrin (erst Sicherheit - dann Abrüstung) auch ihren Niederschlag in der Abrüstungspolitik des Völkerbunds gefunden. Nach der Vorstellung Berthelots sollte die Sicherheit vor allem dadurch erhöht werden, daß ein umfassendes Schiedssystem (»systeme de reglements pacifi570 Ibid. »Vceu adopte par la 1" Assemble de la soci6t6 des Nations« (14.12.1920), ibid. Nr. 44, Anhang 2. 572 Siehe »Extrait de la rösolutionleda Π de la 2e Assemblöe de la Societd des Nations, relative aux Armements« (1.10.1921), ibid. Nr. 44, Anhang 3. 573 Siehe Rundschreiben des Generalsekretärs des Völkerbunds [Anzilotti], (29.11.1921), ibid. Nr. 44, Anhang 4. 574 Siehe »Extrait du rapport de la Commission temporaire mixte pour la räduction des armements« (6.9.1922), ibid. Nr. 44, Anhang 6. 575 Siehe »Extrait du document concemant les dipenses budgitaires pour la difense nationale (1913 et 1920-1922) «, [o.D.], ibid. Nr. 44, Anhang 7. 576 Die Resolution XIV vom 27.9.1922 ist abgedruckt in: ibid. Nr. 44, Anhang 8. 571 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 287 ques des differends«) etabliert w٧rde, und der Artikel 16 der Vφlkerbundssat­ zung durch verbindliche Zusagen f٧r den Fall ausgebaut werden sollte, in dem ein Mitglied Opfer einer Aggression w٧rde577. Die Erweiterung des Arti­ kels 16 sollte entweder in Form eines allgemeinen Abkommens, wie z.B. dem Genfer Protokoll, oder in Form von regionalen Vertrδgen, wie sie der Vor­ schlag Requins beinhaltete, erfolgen578. Ausfluß dieser Überlegungen waren die Sicherheitsprojekte von Oberst Requin und Lord Robert Cecil sowie das Genfer Protokoll, die bereits oben näher beleuchtet wurden579. Ein neuer Impuls in der Abrüstungsfrage - nach dem Scheitern des Genfer Protokolls standen zunächst die deutsche Sicherheitsinitiative und die Locarno-Verträge im Mittelpunkt der diplomatischen Bemühungen - kam erst Ende 1925 zustande: Der Völkerbundsrat beschloß am 12. Dezember580, eine vorbereitende Kommission fur eine zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt einzuberufende Abrüstungskonferenz einzusetzen. Die Kommission, zu der neben den Völkerbundsmächten auch Deutschland, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion eingeladen wurden, sollte bereits zum 15. Februar 1926 zusammentreten, doch fand die erste Sitzung nach der Klärung verschiedener inhaltlicher und organisatorischer Fragen erst am 18. Mai 1926 statt581. Die Aufgaben582 dieser Vorbereitenden Kommission waren die Definition der Rüstung (in Krieg und Frieden, Rekrutierung und Ausbildung usw.) und der Umfang der anzustrebenden Abrüstung. Außerdem sollte sie Standards zum Vergleich des Rüstungsstandes verschiedener Länder und eine Bestimmung der Begriffe der »Offensiv- und der Defensivrüstung«583 erarbeiten. Auch sollte die Kommission feststellen, ob eine allgemeine oder regionale Abrüstung anzustreben sei. Des weiteren sollte sie die Zusammenhänge zwischen militärischer und ziviler Luftfahrt erhellen und den militärischen Wert der Handelsflotten untersuchen. In diesen beiden letzten Fragen spiegelte sich die französische Ansicht wider, daß für die Bewertung der Stärke eines Landes in einem möglichen Konflikt nicht nur die militärischen Machtmittel an sich also vor allem Truppenstärke und Bewaffnung - entscheidend waren, sondern auch andere Faktoren, die als das »Kriegspotential«utrponliged {potentiel de guerre) eines Landes zusammengefaßt wurden. Der potentiel de guerre umfaßte dabei l'ensemble des forces militaires, 6conomiques et industrielles qu'elle [gemeint: une nation] est susceptible de mettre en jeu en cas de conflit. Ainsi un grand pays industriel, bien que ne poss6dant pas beaucoup d'hommes sous les drapeaux, peut fort bien etre considdri comme 577 Siehe Berthelot an Seirigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7. Siehe ibid. 579 Siehe Kap. 4.1.3. 580 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 454. 581 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 463. 582 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925),idbRIA ΡAAA R, 29194. 583 Ibid. 578 288 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung plus arme qu'un pays agricole, puisque ses usines sont capables de lui procurer tres rapide­ ment une sup6rioriti matörielle 6crasante584. Um denutrponliged potentiel de guerre sollte sich eine der zentralen Auseinandersetzun­ gen der Abr٧stungsverhandlungen entwickeln, weil sowohl Deutschland als auch Großbritannien dieses Konzept ablehnten. Deutschland kritisierte die Einbeziehung des Kriegspotentials deshalb, weil es die Definition des großen Industrielandes, das zwar nicht über eine große Armee verfüge, aber aufgrund seiner Industrie schnell eine materielle Übermacht erzielen könne, auf sich gemünzt und als französischen Versuch sah, die deutsche Entwaffnung und Abrüstung zu perpetuieren und weitere französische Sicherheitsforderungen zu rechtfertigen585. England widersetzte sich dem Begriff des potentiel de guerre, weil es eine Verschleppung der Abrüstungsverhandlungen befürchtete - ähnlich wie bei der umstrittenen Definition der »Aggression« war bei der Diskussion um das Kriegspotential eine nicht enden wollende Auseinandersetzung zu erwarten, die auch den kleinsten Abrüstungserfolg unwahrscheinlich machen würde. Außerdem dürfte auch in Großbritannien das Kriegspotential als Instrument angesehen worden sein, die militärische Vormachtstellung Frankreichs in Europa abzusichern. Folglich war dieser Aspekt schon bei der Festlegung des Arbeitsauftrages für die Vorbereitende Abrüstungskommission zwischen Paris und London umstritten586. Ein weiterer Konfliktpunkt zwischen den beiden Ländern war - schon bevor die Vorbereitende Abrüstungskommission überhaupt zusammentrat - das Problem, ob im Vorfeld einer möglichen Aggression Pläne aufgestellt werden sollten, die dem angegriffenen Staat eine wirtschaftliche und finanzielle Übermacht gegenüber dem angreifenden Staat garantieren sollten. Hier schien der französische Wunsch nach einem Ausbau der Sanktionsmechanismen des Artikels 16 durch, was die englische Regierung aber weiterhin ablehnte587. Uneinigkeit herrschte zudem in der Frage, ob die Rüstung eines Landes so beschränkt werden sollte, daß sie geringer war als die eines anderen Landes einschließlich der zu erwartenden Völkerbundshilfe, falls letzteres Opfer einer Aggression werden sollte. Dieser Punkt, der die kollektive Sicherheit - bei allen Schwierigkeiten der Umsetzung - eindeutig gestärkt hätte, weil jeder potentielle Angreifer dann sicher von seiner eigenen Unterlegenheit hätte ausgehen müssen, konnte aber nur dann umgesetzt werden, wenn wiederum die Sanktionen des Artikels 16 nicht fakultativ blieben, sondern verpflichtend wurden. Selbst zwischen den Westmächten bestanden also in der Abrüstungsfrage fundamentale Unterschiede. 584 Hoesch zitiert hier aus den Instruktionen für die französische Delegation bei der Vorbereitenden Abrüstungskommission, wie sie im »Petit Parisien« abgedruckt worden waren, Hoesch an AA (30.4.1926),zusronmlihgfedcaSRPNIHDA ΡAAA R, 29194. 585 Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAP Β I, 1, Nr. 23. 586 Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925), ΡAAA R, 29194. Siehe auch zum folgenden. 587 Siehe Bülow und Aschmann an AA (8.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 242. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 289 Die deutsche Position in der Abr٧stungsfrage ist kurz zusammengefaίt: Ber­ lin wollte die »Nivellierung allgemeinen R٧stungsstandes«588, mit anderen Worten, die militδrische Gleichberechtigung mit seinen Nachbarlδndern589. Deutschland wollte sich deshalb positiv an den Abr٧stungsverhandlungen be­ teiligen, um eine Abr٧stung seiner Nachbarn zu erreichen, und um dadurch das Machtgefδlle zwischen Deutschland und den Siegermδchten zu verrin­ gern590. Folgerichtig hatte die Reichsregierung am 25. Januar 1926 in einer Note an das Völkerbundssekretariat die Teilnahme an der Abrüstungskommission erklärt591. Allerdings gab es in der Abrüstungsfrage unterschiedliche Auffassungen zwischen der Reichswehr einerseits und dem AA andererseits: Während die Reichswehr davon ausging, daß ein Scheitern der Abrüstungsverhandlungen eine zumindest begrenzte Wiederaufrüstung Deutschlands rechtfertigen würde592, ging das AA davon aus, daß eine auch nur minimale Aufrüstung zumindest mittelfristig unmöglich und inopportun war593. Nach Ansicht des AA ergab sich aus der militärischen Machtlosigkeit für die deutsche Außenpolitik, daß diese eine Politik der militärischen Ohnmacht, d.h. des grundsätzlichen Verzichtes auf die Anwendung kriegerischer Mittel sein muß. Damit ist keineswegs gesagt, daß die deutsche Politik eine der Großmachtstellung Deutschlands unwürdige und schwächliche Politik sein müsse. Die militärische Ohnmacht kann vielmehr bei richtiger Führung der Außenpolitik zu einem Moment der Stärke und der wertvollen Trümpfe gegenüber den sich auf starke Waffenmacht stützenden Staaten werden594. Dem französischen Programm von Schiedsgerichtsbarkeit, Sicherheit und Abrüstung sollte deshalb in den ersten beiden Punkten entgegengekommen werden, um den dritten Punkt zu erreichen. Darin hatte auch schon eine wichtige Motivation für die Locarno-Politik gelegen: In diesem Rahmen gesehen, erscheint die deutsche Politik in der Frage des Garantiepaktes nicht nur als vollauf gerechtfertigt, sondern als geradezu zwangsläufig vorgeschrieben. Sie ist dazu angetan der deutschen Außenpolitik einen Weg zu eröffnen, der Deutschland machtpolitisch wieder auf gleichen Nenner mit seinen Nachbarstaaten bringt oder vielmehr die Nachbarstaaten Deutschlands nötigt, ihren Kriegsapparat auf den Nenner herabzuschrauben, den sie im Versailler Vertrage Deutschland aufgezwungen haben. Erst wenn dieses Ziel er- 588 Aufzeichnung ohne Unterschrift [19.1.1926], ADAPutsrponlkihedcbaZWSRNMLKIEA Β 1,1, Nr. 45. Siehe Michael SALEWSKI, Zur deutschen Sicherheitspolitik in der Spätzeit der Weimarer Republik, in: VfZG 22 (1974), S. 121-147, hier S. 123. 590 Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925), ΡAAA R, 29194. 591 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 452. 592 Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 163; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 134. 593 Siehe Aufzeichnung Rintelen (4.7.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 190. 594 Ibid. 589 290 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung reicht ist, steht Deutschland wieder als völlig ebenbürtiger Partner inmitten der europäischen Völkergemeinschaft5'5. Nach den Locarno­Vertrδgen sah sich Deutschland durchaus in der Position, konkrete Abr٧stungsschritte zu fordern, da die Reichsregierung der Ansicht war, das Sicherheitsproblem sei gelφst. Diese Auffassung wurde gestδrkt durch Teil V des Versailler Vertrags. Aus dem Text der Prδambel dieses Ab­ schnittes, in dem die Entwaffhungsbestimmungen und militδrischen Auflagen, denen sich Deutschland zu unterwerfen hatte, festgelegt waren, folgerte die deutsche Regierang, daß nach Erfüllung der Entwaffhungsbestimmungen durch Deutschland nun ebenfalls eine Verpflichtung der Siegermächte zur Abrüstung bestand596. Ganz abgesehen davon, daß Paris - wie die noch immer andauernden Auseinandersetzungen um die Abberufung der IMKK und die Erledigung der »Restpunkte« zeigten - keineswegs davon überzeugt war, daß Deutschland tatsächlich entwaffnet war, ergab sich aus Sicht der französischen Regierung aus der Präambel des Teils V keineswegs eine solche Verpflichtung. Zwar mußte man französischerseits eingestehen, daß die englische und die französische Fassung des Textes des Versailler Vertrags in diesem Punkt uneinheitlich waren (die französische Fassung sprach davon, daß die deutsche Entwaffnung die »preparation«597 für eine allgemeine Abrüstung sei, während die englische von einer »initiation«598 sprach), allerdings sei der deutschen Delegation bereits in Versailles unmißverständlich klar gemacht worden, daß die Entwaffnung Deutschlands bedingungslos zu erfolgen habe, und auch aus Locamo ergebe sich keinerlei Verpflichtung für Frankreich, abzurüsten. Dennoch befand sich die französische Regierang in der Abrüstungsfrage dabei in einem Dilemma: Auf der einen Seite stilisierte und verstand sie sich durchaus als »Friedensmacht«599, andererseits glaubte man sich immer noch ungenügend gesichert, weshalb man in der Abrüstungsfrage vorsichtig blieb. Das Gefühl der Unsicherheit bestand dabei nicht nur gegenüber Deutschland, sondern auch - und nach Locarno in verstärktem Maße - gegenüber dem italienischen Expansionismus im Mittelmeerraum600. Allerdings blieb ein »Mittelmeer-Locarno« aufgrund der englischen Weigerung, als Garantiemacht eines italienisch-französischen Abkommens einzutreten, unwahrscheinlich. Die 595 Ibid. Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925),zyutsronmlihgfedcbaZUSRPNMIHEDBA ΡAAA R, 29194; Aufzeichnung ohne Unter­ schrift [19.1.1926], ADAP Β 1,1, Nr. 45. 597 Berthelot an Serrigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7. 598 Ibid. siehe auch zum folgenden. 599 Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAP Β 1,1, Nr. 23. 600 Siehe Berthelot an Serrigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7. Zu den französischitalienischen Beziehungen zusammenfassend: Pierre GUILLEN, Franco-Italian Relations in Flux, 1918-1940, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 149-163, insbes. S. 149-155. 596 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 291 franzφsische Regierung hatte wegen der ihrer Auffassung auch nach Locarno noch ungeklδrten Sicherheitsfrage deshalb drei Sicherheitsnetze in ihre Positi­ on eingewoben, die die Bedingungen festlegten, unter denen Frankreich bereit war, abzur٧sten601: Die erste Sicherung stellte der bereits erwδhnteutrponligedca potentiel de guerre dar; nur wenn dieser bei der Bestimmung der zu leistenden Abr٧­ stung herangezogen w٧rde, war Frankreich bereit, selbst abzur٧sten. Die zwei­ te Bedingung stellte die Verbesserung der franzφsischen Sicherheit dar, z.B. in Form der Erweiterung des Artikels 16: Frankreich »[strebt] letzten Endes, kurz gesagt, einen Ersatz f٧r die bisher von ihm nicht durchgesetzte franzφsisch­ englische Militδrkonvention [an]«602. Dies lehnte Großbritannien aber nach wie vor ab, weil es noch immer nicht stärker in kontinentale Fragen einbezogen werden wollte603. Die dritte Vorsichtsmaßnahme der französischen Regierung, mit der sie in die Abrüstungsverhandlungen ging, war das Beharren auf die gleichzeitige Behandlung der See- und Landabrüstung, die »interdependance«. Dadurch wollte die französische Regierung vermeiden, von den Seemächten USA und Großbritannien - die an der Landrüstung kein besonderes Interesse hatten - einseitig unter Druck gesetzt zu werden, seine Armee zu verkleinern604. Ebenso wie die Marinemächte lehnte auch Deutschland die interdependance ab, weil es - wie diese Länder auch - besonders an der Verkleinerung der französischen Armee interessiert war, die sich vor allem dann würde erreichen lassen, wenn Frankreich nicht die Marine gegen die Landstreitkräfte würde ausspielen können605. Im Quai d'Orsay war man sich sehr darüber im klaren, wie schwer die eigene Position gegenüber Deutschland und den angelsächsischen Mächten durchzusetzen sein würde. Frankreich entwickelte deshalb im Vorfeld der Vorbereitenden Abrüstungskommission ein Maximal- und ein Minimalprogramm in Sachen Abrüstung: Paris war - gemäß des Maximalprogramms - dazu bereit, sich auf eine vertragliche Regelung der Abrüstung einzulassen, falls eine funktionierende Sicherheitsstruktur im Rahmen des Artikels 16 der Völkerbundssatzung geschaffen würde606. Da dies aufgrund der englischen Renitenz in dieser Frage im Quai d'Orsay aber für unwahrscheinlich gehalten wurde, bestand das Minimalprogramm darin, konkrete Abrüstungsverpflichtungen tunlichst zu vermeiden607. Den drei Sicherheiten - potentiel de guerre, Artikel 16 und interdependance - kam dabei in beiden Programmen eine zentrale Bedeutung zu: Im Maximalprogramm stellten sie die Bedingungen zur Gewährleistung 601 Zum folgenden siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAPzyutsronmlihgfedcbaSRPNMIHEBA Β 1,1, Nr. 23. Ibid. Siehe Bülow und Aschmann an AA (8.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 242. 604 Siehe Hoesch an AA (18.10.1929), ΡAAA R, 29199. 405 Siehe Aufzeichnung Stülpnagel (6.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 144. 606 Siehe Berthelot an Semgny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7. 607 Siehe ibid. 602 603 292 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung der franzφsischen Sicherheit dar, unter denen Paris bereit war, abzur٧sten, wδhrend sie im Minimalprogramm als Instrumente dienen sollten, eine Festle­ gung in der Abr٧stungsfrage zu vermeiden. An diesen Ausf٧hrungen wird deutlich, daß der Schlüssel für den Erfolg oder Mißerfolg der Abrüstungsverhandlungen letztendlich in London lag. Die Abrüstung, die sowohl London als auch Paris und Berlin im Prinzip guthießen, konnte nur dann erfolgreich eingeleitet werden, wenn Frankreich zusätzliche Sicherheitsgarantien erhielt, und diese konnte es nur von England erhalten. Die englische Position war aber widersprüchlich, weil sie zwar einerseits die Abrüstung begrüßte, aber andererseits nicht bereit war, entsprechende Sicherheitsgarantien für Frankreich zu übernehmen, die wiederum die Voraussetzung für eine französische Abrüstung gewesen wären. Deshalb war weniger der deutsch-französische Gegensatz, sondern die britische (und im weitesten Sinne auch die amerikanische608) Politik des non-commitment der Hemmschuh für die Abrüstungsverhandlungen und verursachte letztendlich deren Scheitern609. Die tiefere Ursache für den schwierigen Verlauf der Abrüstungsverhandlungen lag jedoch in dem grundsätzlichen Widerspruch begründet, daß die englische (aber auch die deutsche) Abrüstungsphilosophie auf »Sicherheit durch Abrüstung<«610 beruhte (was ein Stück weit auch die englische Politik des non-commitment erklärte), während Frankreich auf »Sicherheit vor Abrüstung«^11 bestand. Dies waren also die Ausgangspositionen für die erste Sitzungsperiode der Vorbereitenden Abrüstungskommission, die vom 18. bis 26. Mai 1926 in Genf stattfand612. Wie aufgrund der Positionen der Teilnehmer nicht anders zu erwarten war, stand der französisch-englische Gegensatz in der Abrüstungsfrage im Mittelpunkt der Tagung613. Der französische Chefdelegierte, der Sozialist Joseph Paul-Boncour, wiederholte den bekannten französischen Standpunkt, daß die Lösung der Sicherheitsfrage der Abrüstung vorangehen müsse. Außerdem müßten bei den festzulegenden Rüstungsbeschränkungen nicht nur die Stärke des Heeres, sondern auch derutrponliged potentiel de guerre der einzelnen Staaten berücksichtigt werden und die Sanktionsbestimmungen des Artikels 16 im Sinne des Genfer Protokolls erweitert werden. Cecil lehnte hingegen als Dele608 Siehe Maurice VAISSE, Security and Disarmament. Problems in the Development of the Disarmament Debates 1919-1934, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 173-200, hierS. 176f. 609 Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAPutsronmlkihgedcbaVUTSPNKIHEDCBA Β 1,1, Nr. 23. 610 611 BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 134. Ibid. Siehe auch VAISSE, Disarmament, S. 177. Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 463. Über den Verlauf der ersten Sitzungsperiode gibt eine ausführliche Aufzeichnung Köpkes Auskunft, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt: Aufzeichnung Köpke (3.6.1926), PAAA R, 29195. Zusammenfassend siehe auch VALSSE, Disarmament, S. 179. 612 613 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 293 gierter Großbritanniens einen Ausbau des Artikels 16 ebenso ab wie die Anwendung des Prinzips des Kriegspotentials.· Er betonte, daß sich die Abrüstung auf die Effektivstärken der Heere und die Möglichkeiten der Mobilisierung beschränken müsse. Der deutsche Delegierte, Graf Bemstorff, verhielt sich, da Deutschland in Sachen Abrüstung keinerlei Druckmittel besaß, zurückhaltend: Er lehnte zwar für Deutschland den Begriff desutrponliged potentiel de guerre ab, weil letztendlich nicht die Stärke der Industrie ausschlaggebend für die Macht eines Landes sei, sondern seine Fähigkeit zur Kriegsproduktion, die in Deutschland vor allem deshalb eingeschränkt sei, weil es eine unzureichende eigene Rohstoff- und Ernährungsbasis habe und von Feindbündnissen umgeben sei. Deutschland forderte deshalb, daß für die Abrüstung nur die militärische Stärke, also die Zahl der aktiven und der mobilisierbaren Soldaten, die Menge des genutzten und bevorrateten Kriegsgerätes, die Organisation des Heeres sowie dessen Ausbildung, die Befestigungen und die momentane Kriegsgüterproduktion zu berücksichtigen sei614. In der Frage des Artikels 16 vertrat Bernstorff die Auffassung, daß eine Erweiterung der Sanktionsbestimmungen erst dann erfolgen könne, wenn die Abrüstungsfrage geklärt sei615. In der Sache stand die deutsche Delegation also der englischen Auffassung näher. Bernstorff erwähnte allerdings nicht die weitergehenden deutschen Forderungen, wie zum Beispiel die Abrüstung aller auf das deutsche Niveau oder eine deutsche Wiederaufrüstung, um die Verhandlungen nicht noch weiter zu erschweren616. Die Abrüstungsfrage wurde auch am Rande der Völkerbundsvollversammlung in Genf am 23. und 24. September 1926 behandelt, ohne daß es jedoch zu substantiellen Fortschritten gekommen wäre617, zumal organisatorische Aspekte im Mittelpunkt standen618. Auch die Berichte der Unterkommissionen A undzutsronlihgfedcbVSRA Β der Vorbereitenden Abrüstungskommission ließen erkennen, daß eine Einigung noch in weiter Ferne lag. Die beiden Unterkommissionen waren nach der ersten Sitzungsperiode - sicherlich auch als Reaktion auf die geringen materiellen Fortschritte - eingesetzt worden619. Die Unterkommission A hatte zur Aufgabe, militärische Aspekte des Abrüstungsproblems zu untersuchen und war wiederum in drei weitere Unterkommissionen zergliedert, die für Fragen der Marine, der Armee und der Luftwaffe zuständig waren. Nachdem die Unterkommission A am 5. November 1926 ihren Abschlußbericht vorgelegt hatte, äußerte sich der Vizepräsident der Kommission, der belgische Sozialist de Brouckere, enttäuscht über deren Arbeit und stellte fest, daß in 614 Siehe Runderlaß Bülow (21.7.1926), ΡAAA R, 29195. Siehe Aufzeichnung Köpke (3.6.1926), ΡAAA R, 29195. 616 Siehe ibid. 617 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 490f. 618 Aufgrund der Wahl neuer nichtständiger Mitglieder in den Völkerbundsrat änderte sich auch die Zusammensetzung der Vorbereitenden Abrüstungskommission, siehe ibid. S. 492. 619 Zur Organisation der Vorbereitenden Abrüstungskonferenz und ihrer Organe vgl. Runderlaß Bülow (3.8.1926), ΡAAA R, 29195. 615 294 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung vielen Fragen keine άbereinstimmung herrschte; erst der Vorschlag des ame­ rikanischen Delegierten Gibson, kurzerhand auf Abstimmungen ganz zu ver­ zichten, hatte dazu gefuhrt, daß überhaupt ein Bericht zustande gekommen war620. Die Unterkommission B, die für nicht-militärische Aspekte des Abrüstungsproblems zuständig war - also etwa die Frage des Militärbudgets u.ä. tagte am 29. November 1926. Sie kam ebenfalls zu keinem abschließenden Urteil und setzte statt dessen wiederum zwei Unterkommissionen ein, die sich mit Fragen der Verteidigungshaushalte und der Luftfahrt befassen sollten621. Auch die dritte Sitzung der Vorbereitenden Abrüstungskommission vom 21. März bis 26. April 1927 blieb weitgehend erfolglos622. Der Quai d'Orsay bilanzierte unzufrieden, daß weiterhin nur taktisch motivierte Vorschläge dominierten, die zudem nur unzureichend mit den anderen Konferenzteilnehmern im Vorfeld abgesprochen worden seien623: »La Conference se trouvait en consequence dans une situation fausse et difficile«624. In so gut wie allen Fragen bestehe »un desaccord profond«625. Aus französischer Sicht wurde vor allem kritisiert, daß das Abrüstungsproblem die Frage der Sicherheit fälschlicherweise in den Hintergrund gerückt habe. Es wurde aber betont, daß es weiterhin notwendig sei, erst zu einer Lösung fur das Sicherheitsproblem zu gelangen und sich erst dann mit der Abrüstungsfrage zu befassen, weil sich auch nach Locarno an der Sicherheitslage nichts entscheidend geändert habe. Deshalb müsse auch an den Sicherheitspfändern (vor allem dem besetzten Rheinland) weiter festgehalten werden. Der Unmut besonders der kleineren Völkerbundsländer über den schleppenden Fortgang der Genfer Abrüstungsverhandlung entlud sich auf der Vollversammlung vom September 1927, die durch den spektakulären Rücktritt Henri de Jouvenels und Lord Cecils von ihren Ämtern beim Völkerbund - aus Unzufriedenheit über die Haltung der eigenen Regierungen in ebendieser Frage noch unterstrichen wurde626. Bei den kleinen Ländern fiel deshalb der polnische Vorschlag fur einen allgemeinen Nichtangriffspakt auf fruchtbaren Boden627, womit Warschau jedoch vor allem auf ureigene Sicherheitsbedenken reagierte: Locarno und das Gespräch von Thoiry hatten dort die Befürchtung genährt, daß Frankreich nicht mehr so stark an der Sicherheit Polens interessiert war. Obwohl es in Frankreich viele Stimmen gab, die den polnischen Vorstoß begrüßten - zu ihnen gehörten auch Paul-Boncour und de Jouvenel - , lehnte Briand die Vorschläge ab. Er befürchtete die Schädigung der gerade 620 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 492f. Siehe ibid. S. 493. 622 Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 537-540. 623 Siehe Aufzeichnung Seydoux [?], (11.5.1927), MAE PAAP 261, 7. 624 Ibid. 625 Ibid. siehe auch zum folgenden. 626 Siehe Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAPutsronihgfeaVSNMLKIHC Β VII, Nr. 9. 627 Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 98f. 421 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 295 initiierten Verstδndigungspolitik mit Deutschland. Auch die zu erwartende mangelnde Unterst٧tzung f٧r den polnischen Vorschlag durch England ließ ihn davor zurückweichen, die Initiative Warschaus zu unterstützen628. London befürchtete, durch einen solchen allgemeinen Nichtangriffspakt zu tief in potentielle kontinentaleuropäische Händel hineingezogen zu werden629. Für Berlin war der polnische Vorschlag inakzeptabel, weil dadurch faktisch die polnische Westgrenze anerkannt worden wäre630. Auf Druck der drei LocarnoMächte wurde der Vorschlag aus Warschau letztlich so verwässert, daß die Staaten lediglich nochmals ihren Friedenswillen bekundeten631. Allerdings war es für die Reichsregierung auch nicht möglich, den polnischen Vorstoß einfach zu ignorieren632. Besonders die kleineren Mächte, auf deren Unterstützung das Reich in der Abrüstungsfrage Wert legte, befürworteten den polnischen Vorschlag, wie sie sich generell auch gegen die Praxis der »großen Drei« Briand, Chamberlain und Stresemann aussprachen, in einer Art »>Oberste[n] Rat< [...] eine neue oder vielmehr ganz die alte Geheimdiplomatie«633 zu betreiben, die die Völkerbundsgremien aushebele. Der Ausweg aus dem Dilemma bestand für Deutschland darin, die sogenannte »Fakultativklausel« zum Internationalen Gerichtshof zu unterzeichnen634. Mit dieser Klausel verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten, alle ihre internationalen Streitigkeiten dem Schiedsgerichtshof in Den Haag vorzulegen635. Die praktische Relevanz der Klausel war gering, da Deutschland sowieso schon in ein komplexes System aus Schiedsverträgen eingebunden war636, sorgte aber dafür, das Prestige Deutschlands bei den kleinen und neutralen Staaten erheblich zu erhöhen637, 628 Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 64, Hoesch an AA (1.9.1927), ADAPzywutsrponmlihgfe Β VI, Nr. 165. 629 Siehe Chamberlain an Tyrell (4.9.1927), DBFP 1Α ΠΙ, Nr. 328. 630 Siehe Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAP Β VII, Nr. 9. 631 Siehe ibid. 632 Siehe Aufzeichnung Hagenow (1.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 161. 633 Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAP Β VII, Nr. 9. 634 Zum Wortlaut der Klausel und deren rechtlichen Bedeutung für Deutschland siehe Aufzeichnung Gaus [15.7.1927], ADAP Β VI, Nr. 35. 635 Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 99. 636 Deutschland war bis zum 1.12.1932 vertragsmäßige Bindungen in Sachen Schlichtung mit 83 Staaten eingegangen, vgl. Francis Colt DE WOLF, General Synopsis of Treaties of Arbitration, Conciliation, Judical Settlement, Security and Disarmament, Actually in Force between Countries Invited to the Disaramament Conference, Washington D.C. 1933 (Carnegie Endowment for International Peace, Division of International Law, Pamphlet No. 53), S. 5 9 - 6 2 . 637 Siehe Stresemann an Marx (21.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 221; Ministerbesprechung (9.9.1927), ADAP Β VII, Nr. 184. 296 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung zumal Deutschland die einzige Großmacht war, die die Fakultativklausel am 27. September 1927 unterzeichnet hatte638. Briand hingegen mußte daran gelegen sein, den polnischen Sicherheitsbedürfnissen entgegenzukommen, ohne dabei aber die Beziehungen zu Deutschland zu belasten. Er hatte deshalb angeregt, daß anstelle des polnischen Vorschlags eines allgemeinen Nichtangriffspakts Deutschland, die Sowjetunion, Polen, Rumänien und die baltischen Staaten einen Nichtangriffspakt unterzeichnen sollten, der außerdem territoriale Zugeständnisse für Deutschland vorsah. Dieser Vorschlag war aber für keinen der beteiligten Staaten besonders attraktiv und hatte keine weitere Relevanz639. Allerdings zeigte die Kritik der kleinen und neutralen Staaten an den schleppenden Fortschritten in der Abrüstungsfrage auch anderweitig Wirkung. Um aus der Sackgasse zu kommen, in die die Abrüstungsverhandlungen wegen des französisch-britischen Gegensatzes geraten waren, wurde am 26. September 1927 vom Völkerbund eine Resolution verabschiedet, durch die der Comite d'arbitrage et de securite - als Unterkomitee der Vorbereitenden Abrüstungskommission - geschaffen wurde640. Aufgabe dieses Komitees war es zu untersuchen, welche Sicherheitsbedingungen erfüllt sein müßten, damit konkrete Abrüstungsschritte erfolgen könnten. Das war die französische Position in Reinkultur: Sicherheit als Voraussetzung für Abrüstung. Deutschland stimmte - mit Bedenken - der Schaffung des Komitee zu: Es sollte unbedingt vermieden werden, daß die Abrüstungsverhandlungen scheiterten, denn dies hätte die Gleichberechtigung (bzw. die weniger starke Diskriminierung) Deutschlands in Militärfragen noch weiter verzögert641. Allerdings wurde die Reichsregierung nicht müde zu betonen, daß ihrer Auffassung nach die Sicherheitsfrage gelöst sei und das Komitee die Abrüstungsverhandlungen unnötig verzögerte642. Sie wollte das Komitee außerdem als Forum nutzen, ihre Meinung zu vertreten, daß Sicherheit eine Folge von Abrüstung sei und nicht umgekehrt643. Dem Komitee lagen drei Vorschläge vor644, wie die Sicherheitslage verbessert werden könnte: Der niederländische Vorschlag, der die Wiederbelebung des Genfer Protokolls vorsah, hatte aufgrund der Ablehnung Großbritanniens und Deutschlands kaum eine Chance. Norwegen hatte vorgeschlagen, Musterverträge für obligatorische Schiedsverfahren zu erarbeiten, die die Mitglieder 638 Frankreich hatte die Fakultativklausel zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, weil es ihr erst dann zustimmen wollte, wenn auch das Genfer Protokoll in Kraft trat, vgl. Aufzeichnung Gaus [15.7.1927], ADAPwutsrlihgfecZYWVTSONLIHEDCA Β VI, Nr. 35. 639 Siehe WANDYCZ, Twilight, S. lOlf. 640 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 531. Siehe Pünder an AA (19.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 214. 642 Siehe Runderlaß Bülow (13.10.1927), ADAP Β VH, Nr. 29. 643 Siehe LEE, Völkerbundspolitik, S. 355. 644 Siehe Runderlaß Bülow (13.10.1927), ADAP Β ΥΠ, Nr. 29. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 297 des Vφlkerbunds dann untereinander sanktionieren sollten. Der dritte Vor­ schlag bestand darin, regionale Sicherheitsb٧ndnisse nach dem Vorbild der Locamo­Vertrδge zu schaffen645, eine Idee, die vor allem in England Zustim­ mungfand 646 . Die erste Tagung des Sicherheitskomitees, die am 1. und 2. Dezember 1927 stattfand, hatte vor allem technischen Charakter647. Das Arbeitsprogramm, das man sich gab, umfaßte die Untersuchung der Schiedsverträge und die in der Völkerbundssatzung vorgesehenen Sanktionsmechanismen sowie die Definition des Aggressors. Während Frankreich vor allem am Ausbau der Sanktionsmechanismen interessiert war, im Grunde also genommen die Wiederbelebung des Genfer Protokolls wünschte, versuchte Deutschland, den Schwerpunkt der Arbeit des Komitees auf die Krisenprävention, also den Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, zu lenken648. Die Reichsregierung forderte die obligatorische Regelung aller Streitfragen durch geregelte Schiedsverfahren mit dem Ziel die von Frankreich gewünschten Sonderbündnisse und Sanktionsverpflichtungen, sowie die von Großbritannien favorisierten regionalen Sicherheitsbündnisse nach dem Vorbild von Locarno zu verhindern. Beide - die englischen wie die französischen Überlegungen - , sollten sie sich durchsetzen, hätten nämlich bewirkt, daß die Revision der Ostgrenzen und der Anschluß Österreichs unmöglich gemacht worden wären, was aus deutscher Sicht natürlich unbedingt vermieden werden mußte649. Das deutsche Sicherheitsmemorandum, das am 26. Januar 1928 dem Vorsitzenden des Comite d'arbitrage et de securite, dem tschechoslowakischen Außenminister Beneä, übergeben wurde, vertrat folgerichtig vor allem den Gedanken des Ausbaus der Schiedsgerichtsbarkeit650. An der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit zeigte sich nun eine bemerkenswerte Konvergenz der deutschen und französischen Positionen in der Sicherheitspolitik. Die deutschen Ausführungen dazu wurden von Frankreich positiv bewertet651. In der Tat bildete die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit ein wichtiges Element des Genfer Protokolls, welches ja nach wie vor die Grundlage der französischen Position bildete. Schubert stellte fest, daß das Protokoll - wie der deutsche Vorschlag auch - »ein geschlossenes logisches System«652 645 Siehe ibid. Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAPzxwutsronmlkihgfedcbaZVUTSPNIHEDA Β VII, Nr. 246. 647 Zum folgenden siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 543f. 648 Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246. Siehe auch zum fol­ genden. 649 Siehe Runderlaß Bülow (31.1.1928), ADAPmV Β Vm, Nr. 56. 650 Text der Note in: Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [26.1.1928], ADAP Β Vffl, Nr. 45. Ein in den wesentlichen Punkten übereinstimmender Entwurf ist abgedruckt als Anlage I zu: Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246. Siehe Hoesch an AA (30.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 53. 652 Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β νΠ, Nr. 246. 646 298 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung der friedlichen Konfliktregelung bilde. Deutschland kritisierte denn auch nicht diesen grundsδtzlichen Ansatz des Genfer Protokolls, sondern vor allem, daß Konflikte, die aus dem Versailler Vertrag resultierten (also alle Fragen der Revision) oder Streitigkeiten, die vom Völkerbund schon entschieden worden waren - gedacht war wohl in erster Linie an die von Deutschland abgelehnte Teilung Oberschlesiens durch den Völkerbund 1921 - , im Protokoll aus der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit ausgeklammert worden waren. Aus deutscher Perspektive erhielt das Protokoll dadurch einen »willkürlichen und lediglich aus den politischen Machtinteressen zu erklärenden Charakter«653. Weiterer Dissens bestand zwischen Paris und Berlin allerdings auch in der zweiten wichtigen Säule des Genfer Protokolls, der Errichtung von Sanktionsmechanismen für den Fall, daß die Schlichtung scheitern sollte. Dies lehnte Deutschland noch immer ab, während Frankreich natürlich weiterhin auf Sanktionen bestand654. Ganz logisch erscheint die deutsche Position in diesem Punkt allerdings nicht. Wenn man obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit forderte, warum sollten dann Sanktionsmechanismen abgelehnt werden, die den imperativen Charakter der friedlichen Konfliktregelung doch nur unterstrichen hätten? Schubert hatte Stresemann gegenüber erklärt, daß auch schon das Schiedsobligatorium eine Einschränkung der deutschen Handlungsfreiheit und mithin der Revisionsmöglichkeiten bedeute, die er allerdings geneigt war, hinzunehmen655. Warum dann nicht auch Sanktionen? Es gibt vier verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, diesen logischen Bruch in der deutschen Position zu erklären. Erstens, und dies ist die trivialste Erklärung, der Widerspruch in der deutschen Position ist niemandem aufgefallen. Dies ist insofern unwahrscheinlich, als ja Schubert selbst auf die Handlungsbeschränkungen hingewiesen hatte. Zweitens, wenn der Zeitpunkt käme, zu dem Deutschland sich wieder im Vollbesitz seiner militärischen Kräfte befunden hätte, hätte es Schiedsvertrag Schiedsvertrag sein lassen und die Lösung seiner wichtigsten Revisionsziele nötigenfalls auch mit Gewalt durchsetzen können. Eine solche Position fand sich ansatzweise im Reichswehrministerium wieder, das in den Abrüstungsverhandlungen vor allem ein taktisches Moment erblickte, um Deutschland die »Wiedererkämpfung seiner Weltstellung«656 zu ermöglichen. Im AA selbst gab es aber kaum Stellungnahmen, die diese zynische Interpretation von Abrüstungs- und Schiedsvertragspolitik untermauern. Vielmehr wird die Ansicht Wrights unterstützt, der deutsche Sicherheitsvorschlag »is, however, a 653 Ibid. Siehe Hoesch an AA (30.1.1928), ADAPzutsrnmihgfecbaVSPNIEDA Β VIE, Nr. 53. 655 Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246. 656 Aufzeichnung Stülpnagel (6.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 144. 654 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 299 striking demonstration of where thinking seriously about peaceful revision could lead«657. Drittens, Deutschland wollte die Sanktionsmechanismen als Verhandlungs­ pfand nutzen. Wδre das franzφsische Sicherheitsbed٧rfnis durch einen Ausbau der Sanktionsmechanismen im Sinne des Genfer Protokolls ein fur allemal gelφst worden, hδtte Deutschland es in der Revisionsfrage nicht mehr unter Druck setzen kφnnen. Bei Offenhaltung der Sanktionsfrage hδtte Deutschland Frankreich immer noch ein Tauschgeschδft »Revision gegen Sicherheit« vor­ schlagen kφnnen, wenn Deutschland den Zeitpunkt f٧r gekommen erachtet hδtte. Vor allem B٧low war der Ansicht, daß ein Mehr an kollektiver Sicherheit nur durch entsprechende Zugeständnisse in der Revisionsfrage erfolgen könne658. Im Umkehrschluß bedeutete dies aber auch, daß Deutschland, falls es keine Zugeständnisse bezüglich seiner Revisionsziele erhielt, auch sicherheitspolitisch nicht gebunden war. In diesem Fall machte es allerdings wenig Sinn, wenn Deutschland durch den Vorschlag eines Schiedsobligatoriums sowieso schon seine Revisionsmöglichkeiten einschränkte. Eine vierte mögliche Interpretation für das deutsche Vorgehen, zwar die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit zu fordern, aber Sanktionsmechanismen in diesem Zusammenhang abzulehnen, bestand in dem Revisionskonzept gegenüber Polen, wie es vom AA entwickelt worden war659. Wie gesehen, ging Deutschland davon aus, daß Polen nur unter enormem Druck von außen bereit sein würde, territoriale Zugeständnisse zu machen. Dieser Druck würde aller Voraussicht nach vor allem von der Sowjetunion, die als Nichtmitglied des Völkerbunds außerhalb des geplanten obligatorischen Schiedssystems stand, kommen. Bestünde eine Sanktionspflicht, müßte Deutschland ohne Wenn und Aber Polen zu Hilfe kommen. Fehlte aber eine solche Sanktionspflicht, so könnte Deutschland im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Polen mit Warschau Gegenleistungen für eine deutsche Unterstützung, z.B. in Form von territorialen Zugeständnissen, aushandeln. Wie (un-)realistisch dieses Revisionskonzept war, wurde bereits an anderer Stelle erörtert. Für die deutsche Position dürften - in verschiedenen Nuancierungen - die Überlegungen der Punkte zwei bis vier eine Rolle gespielt haben. Letztlich, und das ist die Gemeinsamkeit dieser drei Interpretationen, lag die Zurückhaltung bei der Anerkennung der Sanktionsmechanismen des Genfer Protokolls also im deutschen Revisionsvorbehalt begründet. Allerdings schien in Deutschland die Unvereinbarkeit von Schiedsgerichtsbarkeit, die den Status quo auch ohne entsprechendes Sanktionsinstrumentarium eher stabilisierte, und Revisionsanspruch nur bedingt wahrgenommen worden zu sein. Dies lag wiederum, wie Buchheit richtig bemerkt, darin begründet, daß in Deutschland 657 WRIGHT, Stresemann, S. 401. Siehe Aufzeichnung B٧low [16.12.1929], ADAPrpoiheaSNK Β ΧΙΠ, Nr. 201. 659 Siehe o. Kap. 4.1.4. 658 300 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung und Frankreich verschiedene Rechtsvorstellungen herrschten. F٧r Frankreich bedeutete obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, Konflikte auf Grundlage des geltenden positiven Rechtes (also vor allem auf Grundlage der Friedensvertrδ­ ge im Sinne des Status quo) zu regeln, wδhrend nach deutscher Ansicht ein Schiedsspruch ­ vor allem in politischen Streitfδllen ­ nach den Gesichtpunk­ ten von »Billigkeit und Gerechtigkeit«660 erfolgen sollte. Deshalb standen nach deutscher Auffassung nat٧rlich auch die »ungerechten« Bestimmungen des Versailler Vertrags zur Disposition, weshalb nach dem Verstδndnis der deutschen Seite die Schiedsvertragspolitik durchaus auch im Sinne der Revisi­ onspolitik genutzt werden konnte661. Da allerdings »Gerechtigkeit« bekann­ termaßen ein ebenso subjektiver wie interpretationsbedürftiger Begriff ist, befand sich die deutsche Position auch hier in einer Sackgasse: Die Schlichtung der deutsch-polnischen Grenzfrage auf Grundlage der »Gerechtigkeit« hätte wohl zu keiner fur Deutschland befriedigenden Lösung geführt. Insofern stand auch die Einigkeit Deutschlands und Frankreichs in der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit unter Vorbehalt, weil beide Länder auf Grundlage eines unterschiedlichen Rechtsverständnisses argumentierten. Allerdings wurde dieser inhärente Widerspruch nicht akut, weil England sich gegen jede Form der obligatorischen Schlichtung aussprach662. Bei der zweiten Tagung des Sicherheitskomitees, die vom 20. Februar bis zum 7. März 1928 stattfand, erneuerte Deutschland seine Forderungen nach obligatorischen Schiedsverfahren, die sogar noch eine inhaltliche Erweiterung erfuhren663: Demnach sollte in einem Konflikt keiner der involvierten Staaten nach Einleitung eines Vergleichsverfahrens mehr Maßnahmen ergreifen, die eine Entscheidung in der Streitfrage präjudizieren könnten. Auf Weisung des Völkerbundsrates sollte außerdem keine Veränderung des militärischen Status quo mehr erfolgen und die Staaten sollten sich verpflichten, im Konfliktfall Waffenstillstandsbestimmungen und die Schaffung von neutralen Zonen durch den Völkerbundrat anzunehmen, wobei die Beschlüsse des Völkerbundsrates in diesem Fall nicht einstimmig, sondern durch Mehrheitsentscheid zustande kommen sollten. Paul-Boncour trat - wenig überraschend - »in vollem Umfange für den Grundgedanken unserer Anregungen«664 ein, während sie beim englischen Delegierten Lord Cushendun auf Ablehnung stießen665. Großbritannien befürwortete zur Lösung der Sicherheitsfrage weiterhin ein System von regionalen Sicherheitspakten nach dem Vorbild von Locamo - allerdings ohne englische Garantien - und befürchtete, durch die deutschen (und erst 660 BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 395. Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 393f. 662 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 395f. 663 Zum folgenden s. Anlage zu Aufzeichnung Schubert (15.3.1928), ADAPsronmihedbaVSPNIDA Β Vm, Nr. 164. 664 Simson an AA (1.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 127. 665 Siehe ibid. 661 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 301 recht durch die franzφsischen) Vorschlδge, zu stark sicherheitspolitisch ge­ bunden zu werden. Insgesamt verlief die zweite Tagung des Sicherheitskomi­ tees f٧r Deutschland »nicht ung٧nstig«666, weil außerdem ein von Frankreich geforderter Ausbau des Artikels 16 verhindert werden konnte. Aus deutscher Sicht war der einzige Wermutstropfen, daß das von England vertretene Prinzip der regionalen Sicherheitsverträge eine Aufwertung erfahren hatte, allerdings war nicht zu befürchten, daß dieses Konzept unmittelbar auf das deutschpolnische Grenzproblem angewandt werden würde. Der Vorschlag bezog sich vielmehr auf einen Plan BeneS' zur Einbindung Ungarns667, so daß die Gefahr eines von Berlin gefürchteten »Ostiocarnos« weiterhin gering war668. Bei der folgenden Tagung des Sicherheitskomitees vom 27. Juni bis zum 4. Juli 1928669 wurden die Musterverträge für die Regelung aller internationaler Streitfälle und das Schieds- und Vergleichsverfahren angenommen, die auf der zweiten Tagung ausgearbeitet worden waren, sowie Modellverträge zur Lösung bilateraler Streitfälle erarbeitet. Außerdem wurde ausgehend von den deutschen Vorschlägen ein Konventionsentwurf zur Konfliktprävention formuliert, der vorsah, daß die Konfliktparteien die Vorschläge des Völkerbundsrates zur Lösung des Konfliktes beachten mußten. Im September 1928 legte das Komitee der Vollversammlung einen Bericht mit den erarbeiteten Modellverträgen vor. Deutschland selbst unterzeichnete aber nicht diese »Generalakte zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten«, weil der vorliegende Entwurf besonders die territorialen Revisionsmöglichkeiten eingeschränkt hätte670. Mit der Verabschiedung der Generalakte kam auch die Arbeit des Comite d'arbitrage et de securite zu einem vorläufigen Ende. Eine weitere Tagung des Sicherheitskomitees im Jahre 1930 (28. April bis 9. Mai) ließ bereits die Desintegrationstendenzen der Verständigungspolitik erkennen: Das Komitee mußte sich eingestehen, daß keine Einigkeit über die Maßnahmen zur Konfliktprävention gefunden werden konnten. Wiederum war es vor allem England gewesen, das eine Festlegung konkreter Maßnahmen, die jedes einzelne Land im Konfliktfall hätte ergreifen müssen, ablehnte, weil dies die Befugnisse des Rates eingeschränkt hätte, während Frankreich auf dieser Forderung bestand671. Insgesamt war es Deutschland im Sicherheitskomitee weitgehend gelungen, die Diskussion vom Ausbau der Sanktionsmechanismen (der Position Frank666 Aufzeichnung Schubert (15.3.1928), ADAPzutsronmlihgfedcbaXVSPNLKIGEDA Β Vm, Nr. 164. Siehe Gaus an Koch (22.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 183. 668 Siehe Aufzeichnung SchubertmV (15.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 164. 669 Vgl. zusammenfassend Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), 5. 473-475; Runderlaß Köpke (14.7.1928), ADAP ΒIX, Nr. 148. 670 Siehe LEE, Völkerbundspolitik, S. 356; DERS., Disarmament, S. 41f. 671 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 450f. 667 302 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiemng reichs) weg hin zur Kriegsprδvention zu verlagern672. Allerdings, der deutsche Erfolg im Comite d'arbitrage et de securite mußte unbefriedigend bleiben, weil er die Abrüstungsfrage nicht wirklich voranbrachte. Zwar hatte die deutsche Verhandlungsfuhrung in der Tat erreicht, daß die Sanktionsmechanismen außen vor geblieben waren, doch blieb gerade deswegen das französische Sicherheitsproblem weiterhin ungelöst - und die Abrüstung blockiert. Dies wurde in der Vorbereitenden Abrüstungskommission deutlich, die zeitgleich mit dem Sicherheitskomitee vom 30. November bis zum 3. Dezember 1927 tagte673. Paul-Boncour versuchte, die Arbeit der Vorbereitenden Kommission so lange in der Schwebe zu halten, bis das Comite d'arbitrage eine Lösung für die Sicherheitsfrage gefunden hatte674. Die deutsche Delegation beabsichtigte dagegen, durch die Trennung des Sicherheits- vom Abrüstungsproblem gerade zu erreichen, daß letzteres nun zügig behandelt würde und bestand auf einer strikten Trennung der beiden Fragen675. Das AA erklärte sich zwar zu einer konstruktiven Mitarbeit an der Sicherheitsfrage bereit, die Einschränkungen, die Schubert diesbezüglich gegenüber Bernstorff machte, verdeutlichten aber erneut den fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Zielsetzung. Deutschland bestand auf der Forderung, daß der Ausbau der Sanktionsmöglichkeiten des Artikels 16 erst nach konkreten Abrüstungsschritten erfolgen könne, weshalb sich die Arbeit des Comite d'arbitrage auch nur auf den Ausbau der Schiedsmechanismen und Kriegsverhütungsmaßnahmen beschränken sollte. Die Möglichkeit des »Anschlusses« Österreichs und die Revision der Ostgrenzen dürfe durch die Regelung der Sicherheitsfrage nicht eingeschränkt werden. Ein »Ostiocarno« müsse deshalb unbedingt vermieden werden: »Wir würden daher lieber den Weg einer zentralen Lösung der vorliegenden Probleme gehen, wie sie seinerzeit mit dem Genfer Protokoll, wenn auch in einer mit unseren Interessen nicht vereinbarenden Weise, versucht worden ist«676. Allerdings dürfte Schubert, wenn er auf das Genfer Protokoll rekurrierte, vor allem an dessen Bestimmungen zur Schlichtung und nicht an die Sanktionen gedacht haben. Überhaupt läßt sich feststellen, daß, wenn man in Paris Genfer Protokoll sagte, man vor allem an die Sanktionen dachte677, während in Berlin vor allem der Schiedsaspekt im Vordergrund stand. 672 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 150. Zusammenfassend siehe Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 540­542. 674 Siehe Hoesch an AA (22.11.1927), ADAPzutsronmlihgfedcbaVSPNIHEDBA Β VE, Nr. 125. 675 Siehe Schubert an Bernstorff (26.11.1927), AD AP Β VH, Nr. 148. Siehe auch zum fol­ genden. 676 Ibid. 677 Vgl. Hoesch an AA (13.1.1928), ADAP Β ΥΙΠ, Nr. 21. 673 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 303 Die f٧nfte Tagung der Vorbereitenden Abr٧stungskommission, die vom 15. bis 24. Mδrz 1928 stattfand678, machte dann vollends deutlich, daß der deutsche Erfolg im Schiedskomitee ein Pyhrrussieg gewesen war. Während die Diskussionen von dem Vorschlag des sowjetischen Delegierten und stellvertretenden Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten, Litwinow beherrscht wurde, der - unrealistischer Weise - eine allgemeine und vollständige Abrüstung gefordert hatte679, schwelte der Hauptkonflikt zwischen französischem Sicherheitsverlangen und der deutschen (und auch englischen) Forderung nach sofortiger Abrüstung, noch vor Lösung der Sicherheitsfrage, weiter. Um Frankreich unter Druck zu setzen, hatte Bernstorff sogar die Forderungen Litwinows offen unterstützt, was wiederum Briand verärgerte680. Hoesch versuchte den französischen Außenminister zu beruhigen, indem er darlegte, daß Bernstoff die sowjetische Haltung habe unterstützen müssen, weil der Verlauf der Abrüstungsverhandlungen für Deutschland inakzeptabel sei, woraufhin Briand wiederum auf das fundamentale Sicherheitsbedürfnis Frankreichs hinwies, in dem er erklärte, daß die Vorsicht Frankreichs beim Weiterschreiten auf diesem Gebiet681 nicht auf Mißtrauen gegenüber Deutschland beruhe. Dieses sei vielmehr in weitem Maße beseitigt. Worauf Frankreich jetzt in erster Linie sein Augenmerk richte, sei Rußland und Italien. Ergebe sich eine enge Verbindung zwischen Rußland und Deutschland, so würde allerdings auch Deutschland wieder erneut in den Kreis dieses Mißtrauens hineingezogen werden682. Insgesamt bedeutete die fünfte Tagung der Vorbereitenden Abrüstungskonferenz den »vorläufigen Fehlschlag der Abriistungsvorarbeiten. [...] Bis auf weiteres dürften bestenfalls bescheidene Teilaufgaben aus dem Gesamtabrüstungsgebiet herausgegriffen und einer Lösung zugeführt werden können (Publizität der Rüstungen, Verbot des Gaskrieges und dergl.) Hiermit wären unsere Ansprüche auf allgemeine Abrüstung natürlich nicht erfüllt«683. Der Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich in der Abrüstungsfrage bestand also weiterhin fort, vor allem, weil man einer Lösung für das Sicherheitsproblem im Comite d'arbitrage kaum nähergekommen war. Allerdings muß man auch festhalten, daß bezüglich des Ausbaus der Schiedsgerichtsbarkeit weitgehend Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich herrschte. Umstritten blieb jedoch weiterhin der Ausbau der Sanktionen aufgrund des Artikels 16, was die Abrüstungsverhandlungen weiterhin blockierte. 678 Zusammenfassend Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 468-473. 679 Siehe Runderlaß Weizsäcker (31.3.1928), ADAPtsronmihedcaVSPNIHGDA Β VHI, Nr. 202. 680 Siehe Hoesch an AAmV (28.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 194. 681 Gemeint ist die Abrüstung, R.B. 682 Hoesch an AA (28.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 194. 683 Runderlaß Weizsäcker (31.3.1928), Anlage 2, ADAP Β Vm, Nr. 202. 304 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Fortschritte in der Abr٧stungsfrage wurden auch durch andere vermeintliche deutschen Erfolge behindert: Die Verhinderung einer dauernden Kontrolle der Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland und das neuerliche Scheitern eines »Ostiocarnos«. Nachdem im Jahr 1926 das vom Vφlkerbund im Septem­ ber 1924 beschlossene Investigationsprotokoll am Widerstand Stresemanns und Chamberlains gescheitert war684, versuchte Frankreich, die Kontrolle der deutschen Entwaffnung und der Demilitarisierung des Rheinlandes auf andere Weise durchzusetzen. Gedacht war dabei an eine Commission de constatation et de conciliation (CCC)685. Die CCC bedeute im Grunde genommen eine ab­ geschwδchte Form dertsnmleba elements stables, und war bereits von Paul­Boncour und Briand seit Anfang 1928 in der Φffentlichkeit ventiliert worden686. In zwei Memoranden, die mφglicherweise aus der Feder Massigiis stammten, wurden die Eckpunkte dieser Kommission bestimmt687. Aus franzφsischer Sicht ergab sich die Notwendigkeit fur die CCC vor allem daraus, daß im Locarno-Vertrag fur die Untersuchung einer Verletzung der Demilitarisierungsbestimmungen fur das Rheinland nur ein Untersuchungsverfahren durch den Völkerbund gemäß Artikel 213 vorgesehen war. Allerdings: »ce mecanisme est assez lourd«688, und war vor allem bei kleineren Verstößen unzweckmäßig, deren Lösung nicht an die große Glocke gehängt werden sollte. Für geringfügige Verstöße bestand also eine »Lücke« in den Locarno-Verträgen, die dazu fuhren konnte, daß Deutschland durch eine Reihe kleinerer Maßnahmen letztendlich die Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags aushebeln konnte. Die in den Locarno-Verträgen vorgesehenen Schiedsverfahren waren in solchen Fällen ebenfalls unzweckmäßig, weil sie nur für bilaterale Streitfälle gedacht waren, nicht aber fur solche Konflikte, die alle Locarno-Mächte angingen. Gegenüber den elements stables stellte die Commission de constatation jedoch eine erhebliche Erleichterung dar: Die CCC sollte keine ständige Einrichtung sein, sondern nur bei Bedarf zusammentreten, aber zeitlich unbegrenzt arbeiten. Deutschland sollte gleichberechtigt in der CCC mitwirken und sie sollte ihren Sitz außerhalb Deutschlands, z.B. in Luxemburg haben. Als Mitglieder waren nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten vorgesehen sowie die Delegierten der Commission permanente consultative der entsprechenden Länder. Überhaupt sollte eine Verbindung zwischen der CCC und dem Völkerbund dahin gehend bestehen, daß die CCC im Falle eines größeren Verstoßes gegen die Entwaffhungsbestimmungen Material fur eine Völkerbundsun684 Siehe SALEWSKI, Militärkontrolle, S. 362-365. Zum Investigationsprotokoll siehe o. Kap. 4.1.4. 685 Zur CCC siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 42; JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 295. 686 Siehe Hoesch an AA (14.1.1928), ADAPzusronmlihgfedcaZVPNMLKIGEA Β Vm, Nr. 22. 687 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Massigli [?] (17.2.1928), MAE PAAP 217, 13; Auf­ zeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7. Zusammenfassend: KNIPPING, Lo­ carno-Ära, S. 42. 688 Aufzeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 305 tersuchung nach Art. 213 sammeln sollte, um diese gegebenenfalls zu be­ schleunigen. Frankreich war nur dann bereit, die zweite Rheinlandzone vorzei­ tig zu rδumen, falls Deutschland die Commission de constatation akzeptier­ te689. Deutschland dagegen wollte der CCC nur dann zustimmen, wenn das Rheinland sofort vollstδndig gerδumt w٧rde und die Kommission nach 1935 ­ dem im Versailler Vertrag festgelegten Ende der Besatzungszeit ­ aufgelφst w٧rde690. Nach deutschem Willen sollte die Kommission also an den Versail­ ler Vertrag gekoppelt werden, der die Begrenzung der Besatzungszeit vorsah, und nicht an den Locarno­Pakt, der zeitlich unbegrenzt g٧ltig war. Eine dau­ erhafte άberwachung des Rheinlandes, auch in so abgeschwδchter Form wie der CCC, wurde von Berlin also entschieden abgelehnt. Letztlich konnte sich Frankreich mit der Forderung nach der CCC nicht durchsetzen691, was die Si­ cherheitslage fur Frankreich unverδndert ließ. Das Scheitern der Commission de constatation hatte allerdings zur Konsequenz, daß Frankreich in der Abrüstungsfrage nun um so stärker auf seiner Position beharrte. Eine ähnlich negative Wirkung auf die Abrüstungsverhandlungen hatte auch der neuerliche - und gescheiterte - Anlauf Polens zur Schaffung eines »Ostlocarnos«. Nachdem, wie dargestellt, der polnische Vorstoß fur einen allgemeinen Nichtangriffspakt im September 1927 am Widerstand der Großmächte insbesondere Deutschlands und Großbritanniens - gescheitert war, unternahm der polnische Außenminister August Zaleski im Mai 1928 erneut einen Versuch, die Sicherheitslage seines Landes zu verbessern. In mehreren Reden hatte er gefordert, daß die Rückgabe des Rheinlands nur dann erfolgen könne, wenn dafür nicht nur an der deutschen West-, sondern auch an der Ostgrenze zusätzliche Sicherheitsgarantien geschaffen würden, und behauptete, für diese Forderung die Rückendeckung Frankreichs zu haben692. Zwar traf der Vorschlag Zaleskis in Paris vor allem auf die Zustimmung konservativer Kreise693, doch lehnte Briand das Projekt seines polnischen Kollegen ab694. Es mag zunächst als ein Widerspruch anmuten, daß der französische Außenminister einen Plan ablehnte, der für seinen wichtigsten Verbündeten in Osteuropa und letztlich auch für Frankreich selbst mehr Sicherheit bedeutet hätte. Doch Briands grand dessin für eine europäische Sicherheitsstruktur - soweit es sich aus der spärlichen Quellenlage destillieren läßt - sah anders aus. Zum einen war sich Briand durch seine Genfer Treffen mit Stresemann und Chamberlain sicherlich sehr der Tatsache bewußt, daß ein Arrangement, wie es Zaleski vor689 Siehe ibid. und Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR MüllerzyutsrponmlihgfedcbaZWTSRPO Π Bd. 1, Nr. 23. Siehe Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 23; Köpke an Delegation Genf (15.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 26. 691 Zu Einzelheiten siehe Kap. 4.2.1. 692 Siehe Schubert an Botschaft Paris (16.6.1928), ADAP Β Di, Nr. 79. 693 Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 66f.; DERS., Diplomatie, S. 255; JACOBSON, Lo­ carno Diplomacy, S. 154. 894 Siehe Hoesch an AA (22.6.1928), ADAP Β DC, Nr. 88. 690 306 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung geschlagen hatte, unmφglich durchsetzbar gewesen wδre695. Eingedenk dieser Schwierigkeiten hatte die franzφsische Sicherheitspolitik eine wichtige Modi­ fikation erfahren: Die Militδrb٧ndnisse mit den osteuropδischen Verb٧ndeten verloren an Bedeutung, was auch an der zunehmend defensiven Ausrichtung der franzφsischen Militδrdoktrin (Truppenreduzierung, άberlegungen zur Be­ festigung der Ostgrenzen) deutlich wurde. Allerdings bedeutete dies nicht, daß Frankreich »was abdicating its responsibility to support Poland effectively«696. Paris versuchte vielmehr, durch ein größeres finanzielles Engagement in Osteuropa, diese Staaten politisch wie auch militärisch zu stärken, damit diese weniger auf direkte französische Militärhilfe angewiesen waren697. Damit wurde die französische Politik der Tatsache gerecht, daß eine militärische Unterstützung Polens beispielsweise im Falle eines deutsch-polnischen Konfliktes aufgrund des Locarno-Vertrags schwieriger geworden war. Briand schien außerdem zunehmend daran zu denken, das Sicherheitsproblem zu regionalisieren: Wie gesehen, hatte er im Herbst 1927 einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland, der Sowjetunion, Polen, den baltischen Staaten und Rumänien vorgeschlagen, was allerdings gescheitert war698. Die Vorteile eines solchen Abkommens fur Frankreich hätten auf der Hand gelegen: Paris hätte seine Verpflichtungen gegenüber Polen abbauen können, wodurch sich deutsch-polnische Probleme nicht mehr so störend auf die deutschfranzösischen Beziehungen ausgewirkt hätten. Die Verständigungspolitik mit Deutschland wäre für Frankreich leichter geworden. Auch das französischsowjetische Verhältnis hätte nicht mehr so stark unter dem polnisch-russischen Gegensatz gelitten, was Paris einen größeren Spielraum in seiner Rußlandpolitik gegeben hätte. Mit dem Vorschlag eines Nichtangriffspakts zwischen Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Staaten hatte man sich außerdem der englischen Position angenähert: Auch in London strebte man regionale Sicherheitsabkommen allerdings ohne britische Beteiligung an699. Der größte Vorteil hätte aber darin gelegen, daß Frankreich - hätte es seine direkten Verpflichtungen in Osteuropa verringern können - einem Bündnis mit Großbritannien wohl einen bedeutenden Schritt näher gekommen wäre. London hatte ja gerade unter dem Hinweis, daß es nicht in die Händel Frankreichs in Osteuropa hineingezogen zu werden wünschte, die französischen Bündnisofferten abgelehnt. Wie schon zuvor scheiterte ein »Ostiocarno« am deutschen (aber auch sowjetischen) Revisions verlangen gegenüber Polen. Da somit alle Versuche 695 SieheSONJCBA JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 155; Aufzeichnung Schubert ADAPyxutsronmlkihgfedcaXWVUTSPONMLKIHFEDCBA Β IX, Nr. 8 1 . 696 POST, Weimar Foreign Policy, S. 149. 697 Siehe Seydoux [?] an Laroche (27.5.1927), MAE PAAP 261,42. 698 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 64, 67. 699 Siehe Simson an AA (1.3.1928), ADAP Β Vffl, Nr. 127. (18.6.1928), 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 307 Frankreichs, zusδtzliche Sicherheitsgarantien zu erhalten, sei es durch bessere Sanktionsmφglichkeiten, die Commission de constatation oder einen Nichtan­ griffspakt zwischen Deutschland, Polen und der Sowjetunion, gescheitert wa­ ren, hielt Frankreich an seinem Minimalprogramm ­ nδmlich der Verhinde­ rung konkreter Abr٧stungsschritte, falls keine zusδtzlichen Sicherheitszusagen erfolgten ­ fest. Besonders das Militδr forderte die Aufrechterhaltung dieses Standpunktes700. Frankreich konnte seine Haltung in der Abr٧stungsfrage um so konsequenter aufrecht erhalten ­ und Deutschland mußte sich, da es in der Abrüstungsfrage bis auf einen gewissen moralischen Anspruch über keinerlei Verhandlungsmasse verfugte, damit abfinden - , weil London ab 1927 zunehmend auf die französische Position einschwenkte. Was aber veranlagte die englische Regierung dazu, zu diesem Zeitpunkt auf die französische Position zuzugehen, obwohl man doch dem deutschen Standpunkt eigentlich sehr viel näher stand? Insgesamt profitierte das französischbritische Verhältnis von den allgemein verbesserten Beziehungen beider Länder, auf die oben schon eingegangen wurde. Außerdem diente das englische Entgegenkommen dazu, die französischen Bündniswünsche, die nach wie vor an London herangetragen wurden, abzuwehren. Um nicht dem Pariser Drängen nachgeben zu müssen, formelle Bindungen einzugehen, die über die in Locarno beschlossenen hinausgingen, zeigte sich die englische Regierung in anderen Fragen nachgiebig701. So unterstützte England die französische Forderung nach einem Überwachungsorgan fur die Entwaffnung des Rheinlandes, also die Commission de constatation et de conciliation (CCC), und verhielt sich in der Eisenbahnfrage702 und bei der Behandlung der restlichen Entwaffnungspunkte wohlwollend oder zumindest neutral. Entscheidender für die französisch-britische Annäherung in der Abrüstungsfrage war aber das Ungemach, das sowohl Frankreich aber vor allem England von jenseits des Adantiks, aus Washington, drohte: Im März 1927 hatte die US-Regierung Frankreich aufgefordert, sich an einer Seeabrüstungskonferenz zusammen mit England, Japan und den USA selbst zu beteiligen703. Dies war fur Frankreich vor allem deshalb »höchst unbequem«704, weil durch eine separate Seeabrüstungskonferenz das Prinzip dertrpniedca interdependance gefährdet wurde und so zu befürchten stand, daß sich der Druck auf Frankreich in der Frage der Landabrüstung verstärken würde. Großbritannien wiederum war an der Seeabrüstung nicht interessiert, vor allem was U-Boote und leichte Kreuzer betraf, die es zur 700 Siehe VAISSE, Disarmament, S. 183. 701 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 51. 702 Frankreich forderte die Zerstörung deijenigen Eisenbahnanlagen im Rheinland, die seiner Auffassung nach v.a. militärischen Bedürfnissen, z.B. im Rahmen der Truppenmobilisierung, dienten, siehe ibid. 703 Siehe Hoesch an AA (19.3.1927),idbRIA ΡAAA R, 29196. 704 Ibid. 308 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Sicherung der imperialen Verbindungswege und f٧r eine erfolgreiche See­ blockade als unerläßlich betrachtete. Die englische Position wiederum traf auf den erbitterten Widerstand der Vereinigten Staaten, die als kontinentale Macht die Freiheit der Meere durchgesetzt wissen wollten705. Die Marinekonferenz, an der vom 20. Juni bis 4. August 1927 Großbritannien, Japan und die USA teilnahmen (Frankreich hatte die Teilnahme abgesagt), scheiterte folgerichtig vor allem an den amerikanisch-britischen Differenzen706. Aufgrund ihrer spezifischen Interessenlagen kamen Engländer und Franzosen dagegen am 30. Juli 1928 zu dem bereits erwähnten Abrüstungskompromiß: Frankreich, das an der Seerüstung trotz seiner imperialen Verpflichtungen nur mäßig interessiert war, verpflichtete sich, die englische Position in Marinefragen zu unterstützen, während England, das als Seemacht an der Landabrüstung nur mittelbares Interesse hatte, sich bereit erklärte, den französischen Standpunkt in der Landabrüstung zu unterstützen, namentlich die ausgebildeten militärischen Reserven nicht mit in die Abrüstung einzubeziehen707. Für die Abrüstungsverhandlungen war der französisch-englische Kompromiß äußerst folgenreich: Wegen des dadurch hergestellten Zusammenhangs von Land- und Seerüstung blockierte der anglo-amerikanische Dissens in Marinefragen generell die Verhandlungen zur Rüstungsreduzierung708. Der französisch-britische Kompromiß belastete darüber hinaus das englischamerikanische Verhältnis709. In vielen wichtigen Fragen, wie beispielsweise dem Dawes-Plan und den Locarno-Verhandlungen, hatte aber eine gemeinsame Position Londons und Washingtons eine erfolgreiche Lösung erst ermöglicht. Insofern hatten die gestörten anglo-amerikanischen Beziehungen auch nachhaltigen Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen710. Durch das Ausscheren der englischen Regierung aus der Reihe deqenigen Mächte, die eine Abrüstung zu Lande forderten, wurde besonders auch die deutsche Position bei den Abrüstungsverhandlungen unterminiert711. Insgesamt verringerte sich der außenpolitische Spielraum der Reichsregierung merklich, weil Deutschland sich einer zwar informellen, nichtsdestotrotz aber wirkungsvollen französisch-britischen Quasientente gegenübersah712. SieheUTSRONMLKJIHGECBA J A C O B S O N , Locarno Diplomacy, S. 1 8 7 . Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 549. 707 Siehe B U C H H E I T , Briand-Kellogg-Pakt, S. 302; Aufzeichnung Ow-Wachendorf (7.8. 1928), ADAPzyutsrponmlkihgfedcaVSRPNLHFDCBA Β DC, Nr. 217. 708 Siehe Hoesch an AA (10.11.1928), PAAAR, 28245. 709 Siehe Chilton an Birkenhead (13.9.1928), DBFP ΙΑ V, Nr. 457. 710 SieheSONJCBA J A C O B S O N , Locamo Diplomacy, S. 188. 711 Siehe Aufzeichnung Bülow [10.8.1928], ADAP Β DC, Nr. 226; Runderlaß Schubert (23.8.1928), ADAP Β DC, Nr. 257. 712 Siehe Peter K R ٢ G E R , Von der Schwierigkeit europäischen und transatlantischen Bewußtseins. Die Reichsregierung, Briands Europa-Vorstellungen und die Rolle der USA 1929, in: Guido M ٢ L L E R (Hg.), Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 705 706 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 309 Aufgrund dieser Situation war es wenig verwunderlich, daß auch die sechste Tagung der Vorbereitenden Abrüstungskommission vom 15. April bis 6. Mai 1929 keine nennenswerten Fortschritte brachte713. Die Lage hatte sich für Deutschland seit dem Vorjahr prinzipiell nicht geändert. Washington war nach wie vor besonders an Marinefragen interessiert, wo der Gegensatz zu London weiterhin bestand, und überließ die »Landrüstung dem Gutdünken der entsprechenden Militärstaaten, ohne sicher zu sein, was ihnen dafür geboten würde«714. Da der französisch-britische Rüstungskompromiß weiterhin Bestand hatte, bedeutete dies für Deutschland: »Was unsere Interessen angeht, so ist schon heute festzustellen, daß auf der jetzt entstandenen Basis eine erträgliche Lösung nicht mehr erwartet werden kann«715. In den Augen der deutschen Regierung leisteten die vorliegenden Vorschläge keinen wirklichen Beitrag zur Abrüstung, doch konnte sich Deutschland auch nicht völlig aus den Abrüstungsverhandlungen zurückziehen, weil es sonst überhaupt keinen Einfluß mehr auf die Abrüstungsfrage hätte nehmen können. Auf der Londoner Flottenkonferenz, die vom 21. Januar bis zum 22. April 1930 stattfand716, kamen erneut die grundsätzlichen Auffassungsunterschiede in der Abrüstungsfrage zwischen den teilnehmenden Staaten Frankreich, Großbritannien, den USA, Japan und Italien zum Ausdruck. Gleich zu Anfang der Konferenz hatte die französische Delegation die Erweiterung des Kellogg-Briands-Pakts durch Sanktionsmechanismen gefordert. Als dieses abgelehnt wurde, legte Frankreich am 7. März 1930 einen Vorschlag für einen Garantiepakt für den Mittelmeerraum vor und erklärte sich im Gegenzug für eine Beteiligung der USA und Großbritanniens bereit, auf seine Marineforderungen zu verzichten. Ergänzend schlug Briand außerdem eine Vereinbarung vor, durch die die USA - ohne formell dem Völkerbund beizutreten - die Völkerbundsmechanismen zur Konfliktregelung anerkennen sollten717. »Hierdurch soll der Widerstand Englands gegen die Übernahme von festen Bindungen auf dem Gebiete der Sicherheit behoben werden«718, weil England eine solche Bindung stets mit der Begründung abgelehnt hatte, dadurch in Konflikt mit den USA zu geraten. An den Vorschlägen Frankreichs wurde deutlich, daß die Sicherheitsfrage nach wie vor die entscheidenden Impulse für die französische Außenpolitik 20. Jahrhundert (Festschrift Klaus Schwabe), Stuttgart 1998 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, 29), S. 120-131, hier S. 122. 713 Zusammenfassend vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 544-549; Runderlaß Köpke (17.5.1929), ADAPzuronmlihgfedcbaXVSNIE Β XI, Nr. 238. 714 Runderlaß Köpke (17.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 238. Siehe auch zum folgenden. 715 Ibid. 716 Ein Überblick findet sich in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 479-493. Zum folgenden siehe ibid. S. 480 u. 486f. 717 Siehe Hoesch an AA (9.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 142. 7,8 Ibid. 310 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gab und daß dieses Problem sich zwar vor allem an Deutschland, aber auch an Italien und der Sowjetunion entzündete. Der Schlüssel zur Lösung des Problems lag aber in London und Washington. Allerdings war es vom Beginn der Konferenz an unwahrscheinlich, daß sich die USA oder England auf Bindungen in der Sicherheitsfrage einlassen würden, wie sowohl Hoesch als auch Berfhelot übereinstimmend feststellten719. In der Tat lehnten London und Washington entsprechende Verpflichtungen ab und die Konferenz geriet in eine schwere Krise720. Um wieder Schwung in die festgefahrenen Verhandlungen zu bringen, erwog die US-Führung die Unterzeichnung eines »Konsultativpakts«, der allerdings keine neuen Verpflichtungen für die USA hätte beinhalten dürfen und erst nach dem Abschluß anderer Sicherheitsabkommen (insbesondere einem Mittelmeerpakt) zustande gekommen wäre721. Allerdings war der vorgeschlagene Konsultativpakt wohl keine ernsthafte Option gewesen, sondern ein verhandlungstaktischer Schachzug722. Einzig greifbares - und für Frankreich sicherlich wenig befriedigendes - Ergebnis war, daß sich Briand und MacDonald am 16. April 1930 auf eine gemeinsame Formel zur Interpretation des Artikels 16 einigen konnten723. Auch in der Frage der Rüstungsbegrenzung zur See blieben die Ergebnisse der Konferenz bescheiden. Zwar unterzeichneten die USA, Großbritannien und Japan ein Abkommen, die beiden anderen beteiligten Mächte, neben Frankreich auch noch Italien, blieben aber außen vor. Frankreich hatte die Parität mit Italien in der Flottenstärke abgelehnt, solange es keine entsprechenden Sicherheitsgarantien erhielt724. So war das Hauptproblem der Konferenz nur oberflächlich der italienisch-französische Gegensatz hinsichtlich der Parität725. Das eigentliche Problem bestand darin, daß Frankreich erneut keine zusätzlichen Sicherheitsgarantien - sei es in Form eines »Mittelmeer-Locarnos«, einer Erweiterung des Artikels 16 oder in Form von Zusagen durch die USA oder Großbritannien - erhalten hatte726. Nachdem MacDonald und seine Labour Party nach den fur sie erfolgreichen Wahlen 1929 die Regierung angetreten hatten, war der französisch-britische Kompromiß in der Rüstungsfrage zerbrochen, den sowohl Labour als auch die Liberalen bereits aus der Opposition heraus heftig kritisiert hatten727. Damit fand die Quasi-Entente der Jahre 1927 bis 1929 zwischen Paris und London ein Ende, so daß für Frankreich 1930 die Sicherheitslage - nachdem auch das 719 Siehe ibid. Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 486. 721 Siehe Aufzeichnung Weizsäcker (27.3.1930), ADAPyutsrponmlihfedcbaXVSONLJIDCBA Β XIV, Nr. 179. 722 Siehe ibid. Anm. 2. 723 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 498. 724 Siehe ibid. S. 490. 725 Siehe Aufzeichnung Schubert (18.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 156. 726 Siehe ibid. 727 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 189f. 720 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 311 Rheinland vollstδndig gerδumt worden war ­ so schwierig war, wie selten zu­ vor seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Insofern ist die resignierte Bilanz Massigiis nicht nur eine Abrechnung mit den Ergebnissen der Flottenkonfe­ renz, sondern f٧r ein ganzes Jahrzehnt franzφsischer Sicherheitspolitik seit 1919: Massigli zeigte sich sehr unzufrieden mit dem Ergebnis, und seine Äußerungen verrieten einen an ihm bisher nicht gewohnten Pessimismus über künftig zu erwartende Erfolge der französischen Abrüstungs- und Sicherheitspolitik. [...] Angesichts dieses Ergebnisses sei es um so bedauerlicher, daß alle Versuche Frankreichs, die Sicherheit Europas auf einer festeren Basis als bisher zu organisieren, völlig gescheitert seien728. Als problematisch bewertete Massigli dabei vor allem die Rolle der Vereinigten Staaten: Sie weigerten sich, in irgendeiner Form an der Organisation des Friedens teilzunehmen, weshalb wiederum die Engländer vor weitergehenden Bindungen zurückscheuten. Er fuhr fort, daß das Ziel der französischen Politik nach wie vor die Umsetzung der Prinzipien des Genfer Protokolls sei, erst dann sei auch Abrüstung möglich. Massigli befürchtete jedoch, daß, wenn dieses Ziel nicht erreicht würde und es deshalb nicht zur Abrüstung käme, Deutschland sich letztlich nicht mehr an die Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags gebunden fühlen würde und wieder aufrüsten werde: »Frankreich befinde sich also in der Zwangslage, unter allen Umständen das mit Genfer Protokoll beabsichtigte Ziel zu erreichen«729. Letztendlich scheiterten in der Tat alle Abrüstungsbemühungen Anfang der 1930er Jahre730. Die Gründe dafür waren vielfältig: Die Weltwirtschaftskrise ließ Abrüstung in der Agenda nach hinten rutschen und verschärfte überdies den Nationalismus731. Der sino-japanische Krieg untergrub die Abrüstungsbemühungen ebenso wie die personellen und organisatorischen Schwächen der Abrüstungskonferenz732. Auch die deutsche Position, die nun offensiver auf Revision ausgerichtet war und jetzt explizit die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung beinhaltete, verhinderte Fortschritte733. So scheiterte die Genfer Abrüstungskonferenz letztlich auch am ab 1930 zunehmenden deutschfranzösischen Gegensatz in der Abrüstungsfrage734. Die tiefere Ursache für den gescheiterten Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen im Völkerbund in den 1920er Jahren war allerdings weniger die Folge des deutsch-alliierten, sondern vielmehr des französisch-englischen 728 Rieth an AA (26.4.1930), ADAPzutsronmlihgfedcbaXVTSRNLIEDA Β XIV, Nr. 224, siehe auch zum folgenden. Ibid. 730 Vgl. STEINER, League of Nations, S. 68; VAiSSE, Disarmament, S. 184­200. 731 Siehe ibid., S. 186. 732 Ibid. S. 187f. 733 Vgl. KRÜGER, Außenpolitik, S. 546-551. 734 Siehe VAJSSE, Disarmament, S. 188-191. 729 312 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiemng Gegensatzes und weil London vor bindenden Sicherheitszusagen zur٧ck­ schreckte735. Die Diskussionen ٧ber Sicherheit in den diversen Gremien ­ sei es in der Vorbereitenden Abr٧stungskommission oder im Comit6 d'arbitrage ­ hinterlassen dar٧ber hinaus den Eindruck, daß Locarno die Sicherheitslage kaum verbessert hatte, und auch die Ziele der deutschen und französischen Außenpolitik erfuhren dadurch keine nennenswerte Modifikation. Frankreich beharrte weiterhin auf den Vorrang der Sicherheit, während Deutschland nicht bereit war, bei seinen Revisionszielen zurückzustecken. 4.1.6. Sicherheit durch Kriegsächtung? Der Briand-Kellogg-Pakt Der Völkerbund war nur eine Ebene, auf der in den 1920er Jahren Sicherheitspolitik betrieben wurde; ein weiterer wichtiger Impuls hierfür kam aus der Kriegsächtungsbewegung. Obwohl oberflächlich betrachtet sowohl die Völkerbundspolitik als auch die Kriegsächtungspolitik in die gleiche Richtung zielten, bestanden doch wesentliche Unterschiede zwischen beiden Ansätzen. Der erste Unterschied betraf die Teilnehmer: Zwar nahmen die USA und die Sowjetunion auch an den Abrüstungsverhandlungen des Völkerbunds teil, doch standen sie weiterhin außerhalb der Organisation des Völkerbunds und waren nur an Ergebnissen in der Abrüstung im engeren Sinne, nicht aber der Lösung der europäischen Sicherheitsfrage generell interessiert. Bei den Verhandlungen zum Briand-Kellogg-Pakt hingegen nahmen die Vereinigten Staaten eine Schlüsselstellung ein, und die Sowjetunion war zwar nicht an den Verhandlungen beteiligt, trat dem Kriegsächtungsvertrag jedoch kurz nach dessen Unterzeichnung am 27. August 1928 bei. Der zweite wichtige Unterschied bestand darin, daß zwischen dem Ansatz des Völkerbunds zur kollektiven Sicherheit und der vor allem in den USA populären Idee der Kriegsächtung wichtige semantische Unterschiede, ja teilweise sogar Widersprüche bestanden. Das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der Völkerbundssatzung rudimentär angelegt war und durch das Genfer Protokoll erweitert werden sollte, beinhaltete, wie erwähnt, zwei wesentliche Merkmale: die obligatorische Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten und, falls diese scheitern sollte, Sanktionen gegen den Aggressor. Kriegsächtung im eng gefaßten Sinne bedeutete aber die Ablehnung jeder Form kriegerischer Mittel, selbst deijenigen, die im Rahmen von Sanktionen durch ein Organ der kollektiven Sicherheit verhängt wurden736. So hatte - neben anderen Gründen - auch die Kriegsächtungsbewegung in der Vereinigten Staaten Einfluß darauf, daß die Ratifizierung des Versailler Vertrags und der Beitritt der USA in den Völ- 735 736 Siehe ibid. S. 177. Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 23. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 313 kerbund im Kongreß gescheitert war: Die Sanktionsmechanismen der Völkerbundssatzung standen im Gegensatz zu den Prinzipien der Kriegsächtung737. Andererseits hatte sich im Völkerbund die Idee der generellen Kriegsächtung - obwohl es auch dort Ansätze dazu gegeben hatte - nicht durchsetzen können. Gemäß der Völkerbundssatzung, genauer gesagt des Artikels 15, wurde ein Krieg zwischen zwei Staaten immer noch als gerechtfertigt angesehen, wenn zuvor ein Vermittlungsverfahren durch den Völkerbundsrat gescheitert war. Der polnische Vorschlag vom September 1927, einen allgemeinen Nichtangriffspakt abzuschließen, hätte diese - im Sinne eines absoluten Kriegsverbotes - bestehende Lücke der Völkerbundssatzung geschlossen, war aber, wie zu sehen war, am Widerstand vor allem Großbritanniens und Deutschlands gescheitert. Trotz dieser Unterschiede zwischen dem System der kollektiven Sicherheit des Völkerbunds und der Kriegsächtung - einem wichtigen Element der amerikanischen Sicherheitspolitik - , bestand natürlich eine gemeinsame Stoßrichtung, nämlich den Frieden zu sichern und den Krieg unmöglich zu machen, zumal die militärische Sanktion im System der kollektiven Sicherheit, wie bereits dargelegt wurde, ja nur die allerletzte Option war. Zwischen beiden Sicherheitspolitiken gab es eine interessante Schnittmenge, und zwar in bezug auf die Schieds- und Schlichtungspolitik. Wie schon festgestellt wurde, beinhaltete sowohl die Völkerbundssatzung738 wie auch das Genfer Protokoll739 Schiedsmechanismen. Unabhängig davon betrieben aber auch die Vereinigten Staaten eine aktive Schiedsvertragspolitik. Die USA hatten die Konventionen der beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, in denen u.a. die Schlichtung eine Rolle spielte, unterzeichnet740. Unter der Ägide des damaligen Außenministers William J. Bryan wurden in den Jahren 1913/14 mit 20 Staaten Schiedsabkommen geschlossen741. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte die US-Regierung diese Politik fort: Obwohl die USA nicht dem Völkerbund beigetreten waren, liefen - letztendlich allerdings erfolglose - Verhandlungen für einen Beitritt der Vereinigten Staaten zum Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem vor allem schiedsgerichtliche Aufgaben zukamen742. In einem Vertrag, der am 13. Dezember 1921 geschlossen wurde, verpflichteten sich Großbritannien, Frankreich, Japan und die USA, den gegenwärtigen Besitz737 Siehe ibid. Insbesondere Art. 12-15. 739 Insbesondere Art. 3-7. 740 Siehe ANDREWS, Dictionary of American History, S. 964. 741 Siehe ibid. 742 Zu den Verhandlungen über den amerikanischen Beitritt vgl. Richard VEATCH, The United States and the Permanent Court of International Justice, 1920-1926, in: Jacques BARlßTY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenuutrgaS έ Stuttgart 29­30 aoüt 1985, Bern u.a. 1987, S. 299-328. 738 314 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung stand im pazifischen Raum zu wahren, und ­ sollte sich dennoch ein Konflikt zwischen den beteiligten Staaten ergeben, der nicht auf bilateraler Ebene bei­ zulegen sein w٧rde ­ eine Konferenz aller Staaten zur Lφsung des Problems einzuberufen743. Zudem wurden auf US­amerikanische Initiative am 3. Mai 1923 und am 5. Januar 1929 ein interamerikanischer Schiedsvertrag geschlos­ sen744. Flankiert wurde dieser allgemeine Schiedsvertrag durch eine Resoluti­ on zur Δchtung des Krieges, die der Panamerikanische Kongreß in Havanna mit Beteiligung Washingtons - am 20. Februar 1928 verabschiedet hatte745. Etwa zur gleichen Zeit schlug Kellogg der französischen Regierung die Urfassung dessen vor, was sich zum Briand-Kellogg-Pakt entwickeln sollte, während die amerikanische Regierung mit Frankreich und Großbritannien gleichzeitig über die Erneuerung der jeweiligen bilateralen Schiedsverträge verhandelte. Die amerikanische Sicherheitsdoktrin bestand also, grob zusammengefaßt, aus Kriegsächtungs- und Schiedsvertragspolitik. Bis 1932 hatten die USA mit 63 Staaten Verträge abgeschlossen, in denen schiedsvertragliche Elemente enthalten waren746. Viele dieser Staaten waren wiederum Mitglieder des Briand-Kellogg-Pakts. Die Initiative zum Kriegsächtungspakt ging von Frankreich aus747. Am 6. April 1927, als sich der Kriegseintritt der USA an der Seite der Alliierten zum zehnten Mal jährte, machte Briand in einer öffentlichen Erklärung den Vorschlag, daß die Vereinigten Staaten und Frankreich gegenseitig auf den Krieg als Mittel der nationalen Politik verzichten sollten748. Bei dem Vorschlag des französischen Außenministers schien es sich - die Quellenlage ist nicht besonders gut - um eine relativ spontane Idee gehandelt zu haben, die wohl nach einem Gespräch mit dem New Yorker Professor James Shotwell, einem der Sprecher der amerikanischen Kriegsächtungsbewegung, der in Paris auf Durchreise war, entstanden war749. Die Motive750 für Briands Vorstoß wa743 Text des Abkommens in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 37. Jg. (1921), Teil 2, S. 317. 744 Bei dem Abkommen vom 3.5.1923 handelte es sich um einen »Vorvertrag«, siehe Bülow an Dieckhoff (24.1.1929), ADAPutsrlhgecXVSNI Β XIV, Nr. 51. 745 Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 415. Text der Resolution: Kellogg an Herrick (1.3.1928), FRUS 1928,1, S. 12f. 746 747 V g l . DEWOLF WOLF, General Synopsis, S. 158­162. A u s f ü h r l i c h z u m Briand-Kellogg-Pakt s. BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt; FERRELL, Peace. Eine nützliche Quellensammlung zum Thema ist: Pacte g£n£ral de renonciation ä la guerre comme instrument de politique nationale. Trente pi6ces relatives ä la prdparation et a la conclusion du Traitö sign6xvutsrqponmligedcaYUSRPMLHFEDA έ Paris le 27 aoüt 1928 (6. Avril 1927-27 Aoüt 1928), hg. v. Minist£re des affaires 6trang6res, Paris 1928. 748 Siehe Philip C. JESSUP, International Security. The American Role in Collective Action for Peace, New York [?] 1935, S. 37. Text der Erklärung in: Pacte gfcifral, Nr. 1 749 Siehe Jacques BARlfcTY, Le >Pacte Briand-Kellogg de renonciation έ la guerre< de 1928, in: DERS., Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique inter­ nationale: 1867­1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S. 355-370, hier S. 358. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 315 ren vielfδltig: Zum einen ging es ihm generell darum, das durch die Kriegs­ schuldenfrage belastete Verhδltnis zwischen beiden Lδndern zu verbessern, das unter der Weigerung Frankreichs, an der von Prδsident Coolidge initiierten Marineabr٧stungskonferenz 1927 teilzunehmen ­ und unter den sich daraufhin verstδrkenden Militarismusvorw٧rfen von jenseits des Atlantiks ­ , weiter ge­ litten hatte. Der franzφsische Außenminister versuchte außerdem, die USA stärker in die französische Sicherheitspolitik einzubinden, und dies mit einem recht originellen Ansatz: Da ein französisch-amerikanisches Bündnis nach dem Ersten Weltkrieg nicht zustande gekommen war, stellte der Vorschlag Briands eine »negative Militärallianz«751 dar, die im Falle des Zustandekommens zumindest ein Engagement Washingtons auf Seiten des Gegners - also vor allem Deutschlands - verhindert hätte. Dieser Aspekt spielte in eine weitere Überlegung hinein, denn in Frankreich wurde die Annäherung zwischen den USA und Deutschland insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet zunehmend mit Sorge betrachtet. Mit der Etablierung französisch-amerikanischer Sonderbeziehungen wäre auch dieses Problem entschärft worden. Innenpolitische Momente mögen Briand ebenfalls bewogen haben, aktiv zu werden. Sein Ansehen als Außenminister hatte durch Thoiry Schaden genommen, und die lauter werdenden Forderungen aus Deutschland, das Rheinland vorzeitig zu räumen, ließen die heimische Kritik an seiner Amtsführung nicht leiser werden. Allerdings blieb seine Initiative für einen französisch-amerikanischen Kriegsächtungspakt nicht ohne interne Kritik: Berthelot war von Anfang an skeptisch, was den Erfolg des Vorschlags anging, und in der Tat schien sich Briand bei der Ausarbeitung seiner Erklärung vor allem auf seinen Kabinettschef Leger gestützt zu haben752. Auch Poincare, der von Briand nicht eingeweiht worden war, schien »nicht sehr entzückt«753. Die amerikanische Regierung ignorierte zunächst den Vorschlag aus Frankreich. Zum einen wurde in Washington natürlich sofort erkannt, daß es sich bei dem Projekt um den Versuch handelte, die Vereinigten Staaten enger an Frankreich zu binden754, was Washington jedoch ablehnte. Zum anderen war die US-Regierung verärgert darüber, daß sich Briand direkt an die amerikanische Öffentlichkeit gewandt und so die üblichen diplomatischen Gepflogenheiten mißachtet hatte755, was das Department of State allerdings auch von der Verpflichtung enthob, sich überhaupt zu dem Thema äußern zu müssen. Das Thema der Kriegsächtung, das von Briand als bilaterales französischamerikanisches Projekt initiiert worden war, wurde schließlich von ganz ande750 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 31­41. Ibid. S. 46. 752 Siehe Hoesch an AA (24.4.1928), ADAPtsronmlkihgedcaVUTSPNKIHEDCBA Β VIE, Nr. 253. 753 Hoesch an AA (9.1.1928), AD AP Β Vm, Nr. 13. 754 Siehe Hoesch an AA (6.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 10. 755 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 44. 751 316 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung rer Seite an die US­Regierang herangetragen. Nachdem die Erklδrung Briands in der amerikanischen Φffentlichkeit kaum Beachtung gefunden hatte, wurde die φffentliche Diskussion durch einen Artikel von Nicolas Murray Butler in der »New York Times« am 25. April 1927 entfacht756. Butler der ebenso wie Shotwell an der Columbia University lehrte, hatte auf die Bedeutung des fran­ zφsischen Vorschlags f٧r die Kriegsδchtung hingewiesen, und seine Inter­ pretation fiel bei der amerikanischen Friedensbewegung757 auf fruchtbaren Boden: Als der Kriegsδchtungspakt Monate spδter ratifiziert werden sollte, erhielt das Department of State tδglich 600, das Weiße Haus weitere 200 Briefe, die die Forderung nach Annahme des Pakts unterstützten. Zwei Millionen Menschen beteiligten sich an einer Unterschriftenaktion, in der die Ratifizierung des Kriegsächtungspakts gefordert wurde758. Allerdings verharrte das offizielle Washington zunächst weiter in Untätigkeit. Briand mußte indessen feststellen, daß sich die öffentliche Diskussion in den USA in eine für ihn absolut unbefriedigende Richtung entwickelte. Statt des von ihm vorgeschlagenen bilateralen Kriegsverzichtes trat in der amerikanischen Öffentlichkeit mehr und mehr der Vorschlag eines allgemeinen Kriegsächtungspakts in den Vordergrund, der seine Intention »durch Schaffung eines französisch-amerikanischen Sonderverhältnisses eine Art moralische Bindung Amerikas zum Schutze Frankreichs herzustellen«759 konterkarieren mußte. Nachdem die Euphorie, die die erfolgreiche Atlantiküberquerung Charles Lindberghs760 beiderseits des Atlantiks erzeugt hatte, den ansonsten eher trüben französisch-amerikanischen Beziehungen ein kleines Zwischenhoch beschert hatte, versuchte Briand wieder Herr der Diskussion zu werden und brachte seinen ursprünglichen Vorschlag Anfang Juni 1927 der US-Regierung auch offiziell zur Kenntnis761. Da die amerikanische Regierung jedoch immer noch nicht reagierte, übergab Briand am 20. Juni 1927 dem amerikanischen Botschafter in Paris, Myron T. Herrick, einen Vertragsentwurf762. Bei der USRegierung traf dieser Vorschlag, weil er eine bedeutende Einschränkung der amerikanischen Handlungsfreiheit bedeutete, auf völlige Ablehnung763. Weil allerdings eine glatte Ablehnung des französischen Vorschlags wegen der Popularität des Kriegsächtungsgedankens in der eigenen Bevölkerung Kritik her- 756 Siehe ibid. S. 42f. Zur amerikanischen Friedenbewegung vgl. FERRELL, Peace, S. 21-30. Zur Kriegsächtungsbewegung im besonderen vgl. ibid. S. 31-37. 758 Siehe JESSUP, International Security, S. 39f. 759 Hoesch an AA (6.1.1928), ADAPxwutsronmlkihgfedcbaVUTSPNLKIHECB Β VIII, Nr. 10. 760 Lindbergh war am 21.5.1927 in Le Bourget gelandet. 757 761 762 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 44. Text des Vertragsentwurfs: Pacte ξέτιαΐ, Nr. 3. 763 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 46f., 55f. 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 317 vorgerufen hδtte, zφgerte das State Department eine offizielle Antwort weiter hinaus764. Einen neuen Impuls erhielt die Kriegsδchtungsidee erst wieder Ende des Jahres 1927. Der anhaltende φffentliche Druck in dieser Frage, das Scheitern der von Coolidge initiierten Flottenkonferenz765 und der Stillstand der Genfer Abr٧stungsverhandlungen veranlaßten die amerikanische Regierung, durch einen Vorstoß in der Kriegsächtungsfrage Bewegung in die festgefahrene internationale Situation zu bringen766. Am 22. Dezember 1927 sprach sich der auswärtige Ausschuß des Senats für ein multilaterales Rriegsächtungsabkommen aus und lehnte somit indirekt den Vorschlag Briands für einen exklusiv französisch-amerikanischen Vertrag ab767. Der Initiative des Senats folgten am 28. Dezember 1927 zwei Noten Kelloggs an die französische Regierung: Die erste beinhaltete den überarbeiteten Vorschlag für einen französischamerikanischen Schiedsvertrag, die zweite den Vorschlag eines allgemeinen Kriegsächtungspakts768. Die Vorschläge der ersten Note nahm Frankreich ohne große Änderungswünsche an und bereits am 6. Februar 1928 konnte das französisch-amerikanische Schiedsabkommen unterzeichnet werden769. Der Grund für diese reibungslose Annahme von Seiten Frankreichs war, daß man in Paris hoffte, dadurch »die Frage des Friedenspaktes einschlafen lassen«770 zu können, denn der amerikanische Vorschlag zur multilateralen Kriegsächtung wurde für Frankreich zunehmend unangenehm: Das französische Sicherheitssystem beruhte eben auch auf militärischen Beistandsverpflichtungen, die im Gegensatz zu den Bestimmungen eines allgemeinen Kriegsverzichts standen771. Außerdem würde ein multilateraler Friedenspakt verhindern, daß die USA, im Falle eines deutsch-französischen Konfliktes, zugunsten Frankreichs aktiv würden772. Die französische Regierung befand sich also in einem Dilemma: Eine glatte Ablehnung der amerikanischen Vorschläge würde das von Frankreich selbst kultivierte Bild als »Friedensmacht«773 trüben, eine Annah- 7< * Siehe ibid. S. 47. Vgl. auch Kap. 4.1.5. Coolidge hatte am 10.2.1927 vorgeschlagen, als Fortsetzung der Washingtoner Konferenz von 1922 neuerlich über die Marineabrüstung zu verhandeln. Die Flottenkonferenz trat erstmals am 20.6.1927 zusammen, scheiterte aber im August 1927 am britisch-amerikanischen Gegensatz in der Flottenfrage, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 430f.; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 59f., 111. 766 Siehe LEFFLER, Quest, S.PDA 162; Runderlaß Schubert (12.1.1928), ADAPmV Β Vm,xtsronmlkihgfedcbaVU Nr. 18. 767 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 56. 768 Siehe ibid. S. 75f. 769 Text des Abkommens in: Pacte gdneral, Nr. 7. 770 Runderlaß Köpke (16.4.1928), ΡAAA R, 70105. 771 Siehe Runderlaß Schubert (12.1.1928), ADAP Β V m Nr. 18. 772 Siehe Hoesch an AA (9.1.1928), ADAP Β Vffl, Nr. 13. 765 773 BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 78. 318 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung me jedoch das franzφsische Sicherheitssystem gefδhrden. Briand reagierte dementsprechend enttδuscht auf die beiden Noten Kelloggs774. In der prompten franzφsischen Antwort vom 5. Januar 1928775 stand denn auch die Schadensbegrenzung im Mittelpunkt. Briand schlug vor, daß Frankreich und die USA den Pakt aushandeln sollten und andere Mächte danach beitreten könnten. So sollte wenigstens formal ein französisch-amerikanisches Sonderverhältnis etabliert werden. Außerdem versuchte er, das Kriegsverbot des amerikanischen Vorschlags abzuschwächen, damit die Bündnisverpflichtungen Frankreichs davon ausgenommen blieben. Nicht der Krieg generell sollte geächtet werden, sondern nur noch der Angriffskrieg776. Die amerikanische Ablehnung kam ebenso postwendend: Kellogg bestand in seiner Note vom 11. Januar 1928 weiterhin auf einen von vornherein multilateralen Pakt und auf die generelle Verurteilung des Krieges als Mittel der nationalen Politik777. Die Begründung hatte Kellogg dem französischen Botschafter in Washington, Paul Claudel, schon kurz nach der Überreichung der Note vom 28. Dezember gegeben: »American public opinion would not view such a treaty with much favor because it looks too much like a treaty of alliance and too short a step towards universal peace«778. Die französische Antwortnote vom 21. Januar 1928779 bedeutete insofern ein Entgegenkommen, als die französische Regierung nun nicht mehr auf einen exklusiv französisch-amerikanischen Vertrag bestand. Um so stärker betonte Paris seine internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Völkerbunds und der Locarno-Verträge (die Bündnisverpflichtungen blieben wohlweißlich unerwähnt), die es der französischen Regierung nur erlaubten, einer Ächtung des Angriffskrieges, nicht aber des Krieges generell zuzustimmen. Kellogg ließ sich nicht von dem französischen Entgegenkommen in der Frage der Unterzeichnung des Abkommens ködern und forderte erneut die generelle Ächtung des Krieges, weil er andernfalls die moralische Kraft des Vertrags eingeschränkt sah780. Eine Ächtung des Angriffskrieges war darüber hinaus problematisch, weil eine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition des Begriffs der »Aggression« nicht gefunden werden konnte781. Da die Diskussion um die Bestimmung des Angreifers aber vor allem im Rahmen des Völkerbunds gefuhrt wurde, stand zu befurchten, daß, sollte sich Washington auf diese Frage einlassen, die Forderung nach einem Eintritt der USA vehe774 Siehe Whitehouse an Kellogg (31.12.1927), FRUS 1927,xutronlkihgedcbaUTSRPNKIHFECB Π, S. 630. Text der Note: Pacte giniral, Nr. 9. 776 Siehe ibid. 777 »retour ä la guerre [...] comme instrument de leur politique nationale«, Pacte g6neral, Nr. 10. 778 Kellogg an Whitehouse (30.1.1928), FRUS 1927, Π, S. 629. 779 Siehe Pacte g6n6ral, Nr. 11. 780 Siehe Kellogg an Claudel (27.2.1928), FRUS 1928,1, S. 9­11. 781 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 83. 775 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 319 menter an die amerikanische Regierung herangetragen werden w٧rde. Ein Vφlkerbundsbeitritt stand f٧r die Vereinigten Staaten jedoch außer Frage: Die eigene Handlungsfreiheit hatte Priorität782. Claudel riet zur Annahme des amerikanischen Vorschlags, weil er der Überzeugung war, daß ein Bruch des Kriegsächtungspakts wahrscheinlich ein direktes amerikanisches Engagement zur Folge haben würde und somit eine Rückkehr der USA in die internationale - auch politische - Kooperation bedeute783. Er versprach sich von dem amerikanischen Vorschlag also einen reellen Zugewinn für die französische Sicherheit. Briand hingegen teilte diese optimistische Bewertung nicht: Für ihn bedeutete der Vorschlag Kelloggs eine ernsthafte Gefahr für das französische Sicherheitssystem, der kein handfester Zugewinn an Sicherheit gegenüberstand784. Die französische Note vom 30. März 1928785 spiegelte vor allem Briands Pessimismus wider: Zwar ließ man den Vorbehalt bezüglich der Ächtung nur des Angriffskrieges fallen, man bestand aber darauf, daß bestimmte Staaten insbesondere Deutschland - dem Pakt beitreten mußten, damit Frankreich nicht in eine Situation kam, in der beispielsweise Deutschland Polen angriff und Frankreich nicht intervenieren konnte, weil es vertraglich an den Kriegsverzicht gebunden war. In der Note wurde außerdem gefordert, daß die Staaten gegenüber demjenigen Staat, der den Pakt bräche, ihre volle Handlungsfreiheit zurückerhielten. Auch sollte der Fall der Selbstverteidigung vom Kriegsverbot ausgeschlossen werden, ebenso wie die Verpflichtungen aus bereits bestehenden Verträgen, wie dem Versailler Vertrag, den Bündnisverträgen und dem Locarno-Pakt. Der französische Vorschlag bildete also nur formal einen Verzicht auf die Forderung, nur den Angriffskrieg, nicht jedoch generell den Krieg zu verbieten. In der Sache blieb Paris hart786. Kellogg ließ zwar erkennen, daß er die inhaltlichen Vorbehalte und Einschränkungen der französischen Seite anerkannte, lehnte aber eine explizite Aufnahme dieser Bedenken in den Vertragstext ab, um das moralische Gewicht des Vertrags nicht zu verwässern und um zu verhindern, daß sich aus dem Vertragstext irgendwelche Einschränkungen für die Entscheidungsfreiheit der USA ergeben könnten787. Die Verhandlung zwischen Frankreich und den USA waren somit an einen toten Punkt geraten. Der Schritt der amerikanischen Regierung, die Verhandlungen auszuweiten und auch die anderen Großmächte, vor allem Deutschland und Großbritannien, zu den Gesprächen einzuladen, war deshalb nicht nur eine 782 Siehe FERRELL, Peace, S. 150. Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 84f. 784 Siehe ibid. S. 87. 785 Text in: Pacte genöral, Nr. 13. 786 Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 98. 787 Siehe ibid. S. 99. 783 320 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung logische Folge aus der amerikanischen Forderung nach einem multilateralen Kriegsδchtungspakt, sondern bezweckte auch, die festgefahrenen Verhandlun­ gen wieder in Gang zu bringen. Die britische Regierung brachte der franzφsischen Initiative zunδchst nur wenig Interesse entgegen, zumal das Foreign Office deren Erfolgsaussichten eher skeptisch bewertete788. Chamberlain hielt den Pakt selbst f٧r weitgehend nutzlos, ein St٧ck Papier ohne Wert, so daß London zunächst abwartete, in der Erwartung, einbezogen zu werden, sollte es zu substantiellen Verhandlungen kommen, die auch andere Staaten betrafen789. Erst als sich Kellogg ab Dezember 1927 explizit und verstärkt für einen multilateralen Pakt aussprach, übernahm auch Chamberlain eine aktivere Haltung. Dies war jedoch weniger ein Ergebnis eines Meinungswandels hinsichtlich des Pakts selbst, sondern anderen Überlegungen geschuldet. In der britischen Öffentlichkeit, die Chamberlain wegen des Abrüstungskompromisses mit Frankreich scharf angegriffen hatte790, war der amerikanische Vorschlag äußerst populär, so daß der englische Außenminister hier vor heimischem Publikum Sympathien sammeln konnte791. Da außerdem die Verhandlungen über einen neuen anglo-amerikanischen Schiedsvertrag über die Frage der Seeblockade ins Stocken geraten waren und die Beziehungen wegen des Scheiterns der Seeabrüstungskonferenz von 1927 gespannt waren, bot sich der von Kellogg ins Gespräch gebrachte Pakt an, die Kluft zwischen Washington und London nicht noch größer werden zu lassen792. Allerdings unterstützte Chamberlain inhaltlich die Vorbehalte der französischen Regierung, die diese gegenüber dem amerikanischen Projekt gemacht hatte, weil er vermeiden wollte, daß Frankreich in den amerikanischen Vorschlägen eine Gefährdung der eigenen Sicherheit sah, und Paris deshalb seine Haltung in der Sicherheitspolitik wieder verhärten könnte. Dies hätte die gerade begonnene Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zwangsläufig gefährdet und die Forderungen aus Paris nach englischen Sicherheitsgarantien verstärkt793. In Deutschland hatte man den ursprünglichen französischen Vorschlag mit Sorge betrachtet, weil ein Sonderverhältnis zwischen Paris und Washington die Position Frankreichs gegenüber Deutschland verbessert und die Revisionsmöglichkeiten eingeschränkt hätte. Vor allem deshalb wurde der Vorschlag Kelloggs von Anfang 1928 in Berlin mit Erleichterung registriert und unterstützt794. Schubert begrüßte außerdem, daß die amerikanische Initiative »die 788 Siehe Hoesch an AA (11.1.1928), ADAPywtrponmlkihgfedcbaVUTSRPONLKJIHFEDCBA Β VHI, Nr. 14. Siehe ibid. 790 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 189f. 791 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 112f. 792 Siehe ibid. S. 118f. 793 Siehe Chamberlain an Howard (25.5.1928), DBFP ΙΑ V, Nr. 358. 7,4 Siehe Runderlaß Schubert (13.1.1928), ΡAAA R, 70106. 789 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 321 politische Wiederannδherung der Vereinigten Staaten an europδische Proble­ me«795 ermφgliche. Allerdings machte Hoesch darauf aufmerksam, daß eine vorbehaltlose Unterstützung des amerikanischen Vorschlags insofern schädlich für die deutsche Diplomatie werden könnte, als Deutschland im Herbst 1927 den polnischen Vorschlag eines allgemeinen Nichtangriffspakts, der »inhaltlich genau mit den amerikanischen Vorschlägen übereinstimmte«796 noch zu Fall gebracht hatte. Wichtiger war aber, daß ein solcher Pakt die Revisionsmöglichkeiten gegenüber Polen erheblich einschränken könne797. Schubert teilte diesen Vorbehalt allerdings nur bedingt798. Als die amerikanische Regierung am 13. April 1928 ihre Note an die Großmächte799 sandte, in der sie diese offiziell über die amerikanisch-französischen Verhandlungen informierte und den Entwurf zu einem multilateralen Kriegsächtungspakt beifugte800 - und somit die Verhandlungen von der bilateralen auf eine multilaterale Ebene hob verlagerten sich die Gewichte aufgrund der Disposition der englischen und der deutschen Regierung stärker zugunsten der USA, auch wenn die englische Regierung versuchte, Frankreich nicht völlig zu entfremden und auch die deutsche Position einige der französischen Vorbehalte inhaltlich teilte801. Frankreich zeigte sich besonders mit dem amerikanischen Paktvorschlag unzufrieden und ließ diesem am 20. April 1928 einen eigenen Entwurf folgen802. Dieses Projekt trug vor allem die Handschrift Poincares (Briand war erkrankt und hatte deswegen nicht an den entsprechenden Sitzungen teilnehmen können) und stellte insofern die französische Auffassung in sehr pointierter Form dar803. Im Grunde genommen wurden die Vorbehalte der französischen Note vom 30. März 1928804 wiederholt: Als Ausnahme vom allgemeinen Kriegsverbot wurden in Art. 1 des französischen Entwurfes Bündnisverpflichtungen und Verpflichtungen im Rahmen des Völkerbunds sowie des Versailler Vertrags genannt. Der Vertragsbruch durch eine Partei sollte alle übrigen von ihren Verpflichtungen gegenüber dieser entbinden (Art. 4). Außerdem sollte sich der Kriegsächtungspakt nicht auf früher eingegangene vertragliche Bindungen beziehen (auch hier dürfte der Versailler Vertrag im Mit- 795 Ibid. siehe auch KRÜGER, Friedenssicherung, S. 244,254. Hoesch an AA (13.1.1928), ADAPxutsronmlkihgfedcbaVUTSRPNHFDA Β Vffl, Nr. 21. 797 Siehe ibid.; KRÜGER, Friedenssicherung, S. 247. 798 S. Schubert an Hoesch (19.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 32. 799 Neben den USA und Frankreich Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan, siehe Pacte g6n6ral, Nr. 14. 800 Text des Vertragsentwurfes ibid. 801 Siehe Stresemann an Schurman (27.4.1928), ΡAAA R, 28244. 802 Text in: Pacte g6n<5ral, Nr. 15. 803 Siehe Hoesch an AAmV (24.4.1928), ADAP Β Vm, Nr. 253. 804 Text: Pacte general, Nr. 13. 796 322 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung telpunkt des franzφsisches Interesses gestanden haben) und er sollte erst dann in Kraft treten, wenn alle Großmächte ihn akzeptiert hätten (Art. 5). Kellogg fand den französischen Vorschlag »entirely unacceptable«805. Genährt wurde seine Ablehnung von den bereits bekannten Befürchtungen, den moralischen Anspruch des Vertrags durch Einfügung von Vorbehalten zu relativieren und der Gefahr, vertragliche Bindungen in irgendeiner Form einzugehen806. Inhaltlich bestand zwischen der französischen und der amerikanischen Interpretation allerdings kaum ein Unterschied807. Kellogg selbst erklärte dies in einer Rede vor der American Society of International Law am 28. April 1928 auch öffentlich808, weigerte sich aber nach wie vor, diese Vorbehalte in den Vertrag selbst einzufügen, sondern stimmte lediglich zu, die Interpretation des Vertrags in einem Notenwechsel zu fixieren809. Dies wiederum ging Briand nicht weit genug, der weiterhin auf der Aufnahme der französischen Vorbehalte in den Vertragstext beharrte810. Die Reichsregierung bemühte sich weiterhin, die Position Kelloggs zu unterstützen, ohne Frankreich allzu sehr vor den Kopf zu stoßen. Stresemann betonte im Kabinett vor allem das deutsche Interesse, die USA stärker in Europa zu engagieren, um ein Gegengewicht zur französischen Position vor allem in der Abrüstungsfrage zu schaffen811. Auch die absehbaren Verhandlungen bezüglich einer Neuregelung der Reparationen machten es notwendig, das gute Verhältnis zu den USA zu wahren812. Gegenüber Frankreich hatte man sich verpflichtet, mit einer Antwort auf die Vorschläge Washingtons jedoch noch so lange zu warten, bis der französische Gegenentwurf eingetroffen war813. Da der französische Entwurf vom 20. April 1928 aber für Deutschland inhaltlich nicht tragbar war, teilte Hoesch Berthelot, Fromageot und Leger am 23. April 1928 mit, daß die Reichsregierung die amerikanische Note positiv beantworten und den französischen Vorschlag nicht weiter in Betracht ziehen werde814. Um nicht in eine gemeinsame französisch-englische Front gegenüber den USA einbezogen zu werden, entschloß sich die Reichsregierung, mit ihrer Antwort vollendete Tatsachen zu schaffen815. In ihrer Note, die am 27. April 1928 dem amerikanischen Botschafter in Berlin, Jacob Schurman, übergeben wurde, unterstützte die deutsche Regierung den Vorschlag Wa805 Kellogg an Herrick (21.4.1928), FRUS 1928,1, S. 34. Siehe Kellogg an Herrick (23.4.1928), FRUS 1928,1, S. 34-39. 807 Siehe ibid. 808 Siehe Kellogg an Houghton (30.4.1928), FRUS 1928,1, S. 41f. 809 Siehe Claudel an Briand (31.5.1928), Pacte ginöral, Nr. 18. 8,0 Siehe Briand an Claudel (3.6.1928), Pacte genteil, Nr. 19. 811 Siehe Kabinettssitzung (19.4.1928), AdR MarxzxutsronihgedcbaVSRPNMKIHEDBA ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 463. 812 Siehe Kabinettssitzung (27.4.1928), AdR MarxmVI m/ I V Bd. 2, Nr. 466. 8.3 Siehe Kabinettssitzung (19.4.1928), AdR Marx ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 463. 8.4 Siehe Hoesch an AA (24.4.1928), ADAP Β VIE, Nr. 253. 815 Siehe Kabinettssitzung (27.4.1928), AdR Marx ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 466. 806 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 323 shingtons816. Allerdings wurde in der Note auch klargestellt, daß Deutschland den amerikanischen Vorschlag so interpretiere, daß dessen Bestimmungen nicht im Widerspruch zu den Bestimmungen des Völkerbunds und der Verträge von Locarno stünden, und daß durch den Pakt weder das Selbstverteidigungsrecht der Staaten eingeschränkt würde noch ein Vertragsbrüchiger Staat auf die Sicherheiten des Pakts setzen könne817. Frankreich konnte mit der deutschen Antwort insofern zufrieden sein, als sie viele französische Vorbehalte (Unantastbarkeit der Rechte des Völkerbunds und der Locarno-Verträge, Wahrung des Selbstverteidigungsrechts und Vorbehalt gegenüber dem Paktbrecher) teilte. Von der Ausnahme des Versailler Vertrags aus den Vertragsbestimmungen hatte die deutsche Note - mit Hinblick auf die Revision nur allzu verständlich - Abstand genommen und so eine ausdrückliche Sanktionierung französischer Interessen vermieden818. Ähnlich wie die deutsche bestand die britische Haltung zum amerikanischen Vorschlag darin, daß man der Form nach den amerikanischen Vorschlag zwar guthieß, inhaltlich aber die französischen Einschränkungen weitgehend unterstützte819. Auch die hohen Beamten des Völkerbunds äußerten sich positiv zu den amerikanischen Vorschlägen820, einzig Paris' osteuropäische Verbündete teilten die französischen Vorbehalte821. Die Chancen für Frankreich, den eigenen Vertragsentwurf doch noch durchzusetzen, waren aufgrund dieser Konstellation äußerst gering. In einer Note an die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan vom 23. Juni 1928822 gab die amerikanische Regierung Erläuterungen zur Interpretation des beiliegenden neuen amerikanischen Paktentwurfes, die inhaltlich weitgehend den französischen Vorbehalten entgegenkamen. Der Quai d'Orsay versuchte zwar noch Modifikationen zu erreichen, etwa durch die gleichzeitige Unterzeichnung zweier Protokolle, in denen die LocarnoVerträge und die Völkerbundssatzung ausdrücklich anerkannt werden sollten823, oder dadurch, daß die Diskussion des amerikanischen Vorschlags in den Völkerbund getragen werden sollte, scheiterte damit aber am Widerstand der anderen Mächte824. Text: Stresemaim an Schurman (27.4.1928),zutsrponmlkihgfedcbaWVUTSRPNMKIHFEDCBA ΡAAA R, 28244. Siehe ibid. 818 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 216f. 819 Siehe Chamberlain an Houghton (19.5.1928), Pacte gindral, Nr. 17. 820 Aufzeichnung Schubert (7.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 145. 821 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 166. 822 Siehe Pacte g6n£ral, Nr. 20. 823 Siehe Aide­M6moire der britischen Botschaft in Washington an das Department of State [ohne Unterschrift] (18.6.1928), FRUS 1928, I, S. 86f.; Kellogg an Herrick (29.6.1928), FRUS 1928,1, S. 100. 824 Vgl. BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 249­252. 816 817 324 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Die deutsche Regierung akzeptierte den amerikanischen Vorschlag vom 23. Juni 1928, der kaum von dem Entwurf vom 13. April abwich825, am 11. Juli 1928826. Auf Anraten Claudels827 und angesichts der ablehnenden Ein­ heitsfront, der sich die franzφsische Position gegen٧bersah, signalisierte Paris am 14. Juli 1928 seine Zustimmung828. Etwas versüßt wurde den Franzosen ihr Nachgeben dadurch, daß Kellogg zugestimmt hatte, den Kriegsächtungspakt in Paris zu unterzeichnen829. So konnte sich Frankreich wenigstens als moralischer Sieger präsentieren. Großbritannien gab am 18. Juli 1928 grünes Licht zum Vertragsentwurf Kelloggs830. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde der Kriegsächtungspakt schließlich am 27. August 1928 in Paris von den Außenministern der Großmächte unterzeichnet831. Der Pakt selbst bestand lediglich aus drei Artikeln. In Artikel I verpflichteten sich die Staaten, auf den Krieg als Mittel der nationalen Politik zu verzichten. In Artikel II bekannten sich die beteiligten Länder zur friedlichen Konfliktregelung, jedoch ohne daß dies weiter ausgeführt wurde. Artikel III enthielt vor allem Ratifikationsbestimmungen. Über den Briand-Kellogg-Pakt ist polemisiert worden, er habe weniger zum Weltfrieden beigetragen als die Frühstücksflocken mit dem Namen des damaligen amerikanischen Außenministers832. In der Tat konnte der Pakt weder kriegerische Konflikte verhindern noch dazu beitragen, diese schnell zu beenden. Dem Pakt, der den Krieg für immer unmöglich machen sollte, folgten der japanisch-chinesische Konflikt um die Mandschurei, der italienische Einmarsch in Abessinien und schließlich mit dem Zweiten Weltkrieg der mörderischste Konflikt, den die Menschheit jemals hat hinnehmen müssen. Nicht einmal die Abrüstungsverhandlungen wurden durch den Abschluß des Pakts positiv beeinflußt833. Dabei wurde vor allem kritisiert, daß es dem Pakt an Sanktionsmechanismen gefehlt habe834. Bereits die Zeitgenossen waren, was den realen Wert des Abkommens anging, skeptisch835. Paul-Boncour faßte gegenüber Hoesch die französischen Bedenken zusammen, indem er erklärte, die 825 826 827 So auch die Einschätzung Gaus': Aufzeichnung Gaus [25.7.1928], ADAPzutsronmlkihgedcbaZX ΒIX, Nr. 179. Siehe Schubert an Schurman (11.7.1928), Facte gindral, Nr. 21. Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 260. 828 Siehe Briand an Heirick (14.7.1928), ΡAAA R, 70106. 829 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 259. 830 Siehe Chamberlain an Atherton (18.7.1928), Pacte giniral, Nr. 26. Siehe Hoesch an AA (28.8.1928), ADAP Β Κ , Nr. 266; Wortlaut des Vertrags in: Pacte g6n6ral, Nr. 29. 831 832 833 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 11. Siehe ibid. S. 392. Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 81. 835 Zur Reaktion der französischen Presse siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 316f„ zur Reaktion der deutschen Presse ibid. S. 319f. 834 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 325 Kammer werde Pakt[,] wenn nicht einstimmig[,] so doch mit einer sehr grossen [sie] Mehr­ heit,] aber ohne Enthusiasmus annehmen. [...] Kelloggpakt, der nur eine moralische Bin­ dung darstelle, entspreche nicht der franzφsischen Auffassung ٧ber die Wege, die zur Siche­ rung des Friedens f٧hrten. [...] Frankreich glaube im Gegensatz zu der angelsδchsischen Auffassung, daß eine wirksame Sicherung des Friedens nur durch Schaffung von Garantien und Sanktionen erreicht werden könne und sei entschlossen[,] weiter in dieser Richtung zu arbeiten836. Die Verteidiger des Pakts haben vor allem auf dessen ethische Dimension hingewiesen: Die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik bedeute einen »moralischen Qualitätssprungusrnige sui generis [Herv. i.O.]«837: Das Kriegsverbot der Völkerbundssatzung erfuhr eine Ausweitung und band auch Staaten, wie vor allem die USA und die Sowjetunion, die außerhalb der Völkerbundsordnung standen838. Da der Kriegsächtungspakt außerdem als rechtliche Grundlage für die Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozesse diente (was allerdings völkerrechtlich umstritten ist), habe er wenigstens zur juristischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges beitragen können839. Für die Modernisierung der Außenpolitik bot der Briand-Kellogg-Pakt in zweierlei Hinsicht ein gewisses Potential. Der erste wichtige Aspekt war die Teilnahme der USA, wie der belgische Botschafter in Paris, Gaiffier d'Hestroy feststellte: On aurait tort, me semble-t-il, de miconnaitrexvutsrqponmligfedcaSNIA Γ importance de la signature du pacte plurilate­ ral de paix. S'il est vrai que le maintien de la paix ne ddpend pas d'une formule, il est, d'autre part, d'un intdret capital que I'Am6rique soit attirde dans le circuit europien. Ä l'avenir, cette puissance, qu'elle veuille ou non, ne saurait rester indifferente a la rupture d'un pacte qu'elle a non seulement signd mais dont elle a pris l'initiative840. Am Beispiel des Dawes-Plans und des Locarno-Pakts war zu sehen, daß die USA stets einen entscheiden Anteil daran hatten, daß sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich verbesserten, weil letztlich nur die USA das notwendige Gewicht hatten, das labile deutsch-französische Verhältnis zu stabilisieren. Von der - sehr begrenzten - Rückkehr der USA zu einer - sehr eingeschränkten - Verantwortung für die europäische Sicherheit mußte deshalb ein wenn auch bescheidener Impuls für die Modernisierung der Außenpolitik ausgehen. Der zweite Aspekt, der eine genauere Betrachtung des Briand-Kellogg-Pakts unter dem Gesichtspunkt der Modernisierung der Außenpolitik notwendig 836 Hoesch an AA (1.3.1929), PAAA R, 70107. Siehe HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik, S. 577. 838 Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 97f. 839 Siehe JacqueslifYTRBA BARlfiTY, Le »Plan Briand Kellogg de renonciation δ la guerre« de 1928, in: Jürgen HEIDEKING, Gerhard HUFNAGEL, Franz KNIPPING (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte (Festschrift Gerhard Schulz), Berlin, New York 1989, S. 448^59, hier S. 449. 840 Gaiffier an Hymans (16.7.1928), DDB Π, Nr. 180. 837 326 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung macht, ist die potentielle Bedeutung des Kriegsδchtungsvertrags f٧r die kol­ lektive Sicherheit. Wie festgestellt wurde, bildeten weder die Vφlkerbundssat­ zung noch der Briand­Kellogg­Pakt f٧r sich allein genommen eine vollstδndi­ ge Grundlage f٧r die kollektive Sicherheit: Durch die Vφlkerbundssatzung war Krieg unter bestimmten Voraussetzung immer noch mφglich ­ und nicht vom Vφlkerbund ahndbar. Es handelte sich dabei um die sogenannte »L٧cke« des Artikels 15841. Der Briand­Kellogg­Pakt wiederum beinhaltete zwar ein weit­ gehendes Kriegsverbot, jedoch keinerlei Schlichtungs­ und Sanktionsmecha­ nismen, wie diese in der Vφlkerbundssatzung zumindest rudimentδr angelegt waren. Die Aufnahme der Bestimmungen des Kriegsδchtungspakts in die Vφl­ kerbundssatzung w٧rde bedeuten, daß die »Lücke« des Artikels 15 geschlossen und die friedliche Schlichtung für alle internationalen Konflikte obligatorisch würde. Insofern würde die Inkorporierung des Briand-Kellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung gewissermaßen die »halbe« Verwirklichung des Genfer Protokolls bedeuten, dessen einer wesentlicher Bestandteil die obligatorische Schlichtung war. Die andere »Hälfte« des Genfer Protokolls, der Ausbau der Sanktionen - das sei hier ausdrücklich festgehalten - , war davon natürlich zunächst nicht unmittelbar betroffen. Daß diese Überlegungen durchaus Relevanz hatten, wurde an verschiedenen Stellen deutlich. Bereits im Juni 1928 hatte Briand gegenüber Hoesch erklärt, daß »Kriegsächtung [...] restlose Schiedsgerichtsbarkeit [bedinge]«842. Im September 1929 beschloß die Vollversammlung des Völkerbunds schließlich, eine Kommission einzusetzen, die erarbeiten sollte, auf welche Weise die Bestimmungen des Briand-Kellogg-Pakts in die Satzung des Völkerbunds integriert werden könnten843. Wie schon in der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit verliefen hier die Fronten nicht etwa zwischen Deutschland einerseits und Frankreich und Großbritannien andererseits, sondern es war wiederum London, das sich den weitgehenden Reformplänen aus Paris und Berlin widersetzte844. Aus Washington kamen zudem positive Signale: Dort mehrten sich die Stimmen, die ein stärkeres amerikanisches Engagement in der Frage der Kriegsverhütung anstrebten845. Gedacht war dabei an den Ausbau des Kellogg-Pakts nach dem Vorbild des pazifischen Vertrags oder des interamerikanischen Schiedsvertrags846. Allerdings bestand bei genauerem Hinsehen, wie auch bei der Schiedsvertragspolitik des Völkerbunds, ein deutlicher Unterschied zwischen der franzö- Siehe Aufzeichnung B٧low [16.12.1929], ADAPzvutsrponmlkihgfedcaXVSRNLKIHED Β ΧΙΠ, Nr. 201; LEE, Disarmament, S. 37. 842 Hoesch an AA (22.6.1928), ΡAAA R, 70106. 843 Siehe Aufzeichnung Köpke (30.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 65. 844 Siehe Aufzeichnung Köpke (30.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 65. 845 Siehe Bülow an Dieckhoff (24.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 51. 844 Siehe Aufzeichnung Bülow [16.12.1929], ADAP Β ΧΠΙ, Nr. 201; vgl. auch die An­ merkungen zur amerikanischen Schiedsvertragspolitik am Anfang dieses Kapitels. 841 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 327 sischen und der deutschen Auffassung, die durch die gemeinsame Front­ stellung gegen٧ber England nur verdeckt wurde. Frankreich hielt im Grunde genommen weiterhin am Genfer Protokoll fest: Die Schiedsvertragspolitik sollte den Status quo des Versailler Vertrags in Europa sichern, und als zusδtz­ liche Garantie sollten Sanktionen gegen ein vertragsbr٧chiges Land verhδngt werden. Diese Politik wurde deutlich an der franzφsischen Haltung auf der Londoner Flottenkonferenz von 1930847. F٧r Deutschland ­ und vor allem f٧r B٧low ­ wurde die angedachte Ein­ beziehung des Kriegsδchtungspakts in die Vφlkerbundssatzung zu einem wichti­ gen Moment der Revisionspolitik: Der Vφlkerbund sollte dadurch so umge­ baut werden, daß er seines Charakters als fortgeführter Kriegsallianz völlig entkleidet und marginalisiert würde848. Als sich Ende 1929 ein verstärktes amerikanisches Engagement in internationalen Fragen abzuzeichnen schien, sah er eine grundsätzliche Änderung für die Regelung internationaler Konflikte heraufziehen: Hauptverantwortlich dafür werde in Zukunft nicht mehr der Völkerbund, sondern der »Washingtoner Kreis« derjenigen Großmächte sein, die sich am Briand-Kellogg-Pakt beteiligt hatten. Diese Mächte würden die Entscheidung darüber fällen, ob interveniert würde. Dem »Genfer Kreis«, also dem Völkerbund, »würde dann nur noch die Exekutive für die im Washingtoner Kreis gebilligte Politik zufallen«849. Für Deutschland sei diese Politik vorteilhaft, weil dadurch der Einfluß des Völkerbunds, in dem Frankreich und seine Trabanten dominierten, verringert würde. Der Einfluß der USA im »Washingtoner Kreis« jedoch käme - so vermutete zumindest Berlin - Deutschland zugute. Mit der Marginalisierung des Völkerbunds und des französischen Einflusses darin würde zum einen ein Revisionsziel per se erreicht. Da Frankreich aber auch die wichtigste Status-quo-Macht war, mußte die Verringerung des französischen Gewichts der deutschen Revisionspolitik zugute kommen. Damit konnte dann Schiedsvertragspolitik im deutschen Sinne gemacht werden, die sich an der Wiedergutmachung des »Unrechts« aus dem Versailler Vertrag orientierte und eine Politik des friedlichen Wandels eröffnete. Aus deutscher Sicht mußte es bei der Integration des BriandKellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung also darum gehen, »eine Kompensation im revisionistischen Sinne für die stabilisierende und konservierende Wirkung zu erlangen, die ein schematischer Einbau des Kellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung zur Folge haben muß«850. Siehe Rieth an AA (26.4.1930), ADAPurniedbXVNI Β XIV, Nr. 224 und die Ausführungen im vorherigen Kapitel. 848 Zu den folgenden Ausführungen siehe Aufzeichnung Bülow [16.12.1929], ADAP Β ΧΠΙ, Nr. 201. 849 Ibid. 850 Ibid. 847 328 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Im Klartext hieß das: Große Teile im AA waren letztendlich nur bereit, einem Ausbau der kollektiven Sicherheit zuzustimmen, wenn im Gegenzug revisionspolitische Ziele erfüllt wurden. Die Position Schuberts, der zwar ebenso Revision forderte, aber durchaus zu Einschränkungen bezüglich der deutschen »Handlungsfreiheit«851 bereit war, die vielleicht eine Brücke zur französischen Position hätte bilden können, verlor dagegen zunehmend an Einfluß. Sichtbarstes Zeichen für diesen Politikwechsel wurde die Ernennung Bülows zu Schuberts Nachfolger im Juni 1930852. Nicht zuletzt wegen dieser Unterschiede in den deutschen und französischen Auffassungen, die nach Schuberts Entmachtung immer deutlicher zutage traten, kamen letztendlich die Pläne einer umfassenden Integration des Briand-Kellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung nicht zustande. Im September 1931 sprach sich die Bundesversammlung zwar erneut für eine Anpassung der Satzung aus, wegen der Divergenzen der einzelnen Mächte scheiterte dies jedoch853. Frankreich bestand weiterhin auf die Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten, was Deutschland noch immer ablehnte854. Die deutsch-französischen Gemeinsamkeiten bezüglich der Schiedsgerichtsbarkeit blieben letztendlich oberflächlich, und England lehnte eine Einschränkung der Handlungsfreiheit durch verpflichtende schiedsrichterliche Verfahren ab855. Die Annäherung der USA an die internationale Gemeinschaft, wie sie sich Ende 1929856 und im Mandschurei-Konflikt angedeutet hatte, blieb vorübergehend und ohne nachhaltige Folgen: Die USA behielten ihre Distanz zum Völkerbund oder anderen bindenden sicherheitspolitischen Vereinbarungen bei857. 4.1.7. Kollektive Sicherheit 1924-1929: Ein Resόmee Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, wurden in den Jahren 1924— 1929 verschiedene kollektive Sicherheitsstrukturen gebildet, in die auch Deutschland und Frankreich eingebunden waren. Eine dieser Strukturen war der Völkerbund. Nach dem deutschen Beitritt 1926 verlor dieser einen Gutteil seines Charakters als lockeres Bündnis und Forum der Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges, weil eine zentrale Bedingung für ein kollektives Sicherheitssystem - die Einbindung der potentiellen Gegner - erfüllt worden war. Diese Bedingung galt auch für eine zweite kollektive Sicherheitsstruktur des Unter851 Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAPtronlkihgfedaXVUTSPNKIHECB Β Vn, Nr. 246. Siehe KRÜGER, Friedenssicherung, S. 256. 853 Siehe BARI6TY, Plan, S. 456f. 854 Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 395. 855 Siehe ibid. S. 395f. 856 Siehe Bülow an Dieckhoff (24.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 51. 857 Siehe BUCHHEIT, Briand­Kellogg­Pakt, S. 396f. 852 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 329 suchungszeitraumes, die Vertrδge von Locarno. Sie bildeten ein System von Schiedsvertrδgen, das ­ was die deutschen Westgrenzen betraf ­ durch gegen­ seitige Garantieversprechen abgesichert wurde. Locarno bedeutete dabei nicht notwendigerweise eine Aufweichung des Vφlkerbundssystems (durch die In­ terpretation des Artikels 16), sondern die Locarno­Vertrδge konnten ­ zumin­ dest aus franzφsischer Sicht ­ durchaus zu einer Festigung der Vφlkerbundsga­ rantien beitragen. Allerdings blieben sowohl der Vφlkerbund als auch die Locarno­Vertrδge unvollstδndige Ansδtze der kollektiven Sicherheit. Der Vφlkerbund konnte vor allem deshalb nicht zu einem wirkungsvollen Organ der kollektiven Sicherheit werden, weil institutionelle Schwδchen, wie beispielsweise das Einstimmig­ keitsprinzip, Entscheidungen verhinderten, und es durch die »L٧cke« des Ar­ tikels 15 noch immer erlaubt war, unter bestimmten Voraussetzungen Krieg zu f٧hren. Die Versuche, diese L٧cke durch die Einbeziehung des Kriegsδch­ tungspakts zu schließen, scheiterten letztendlich. Da die Sanktionsmöglichkeiten des Artikels 16 der Satzung zudem nur fakultativ waren, fehlte ein weiteres wichtiges Element der kollektiven Sicherheit, nämlich die Abschreckung des potentiellen Gegners durch ein kalkulierbares Eskalationsschema. Auch Locarno beinhaltete keine festgelegten Sanktionsmechanismen und war zudem nur regional begrenzt. Daß die kollektiven Sicherheitsstrukturen der Zeit nur rudimentär ausgebildet waren, zeigte sich daran, daß während der Abrüstungsverhandlungen nach wie vor das Thema der Sicherheit dominierte. Weder der deutsche Beitritt zum Völkerbund noch der Locarno-Pakt hatten daran entscheidend etwas ändern können. Auch der wirkungsvolle Ausbau der Sanktionsmechanismen des Völkerbunds und der Schiedsgerichtsbarkeit scheiterten. Besonders hinsichtlich Osteuropas war eine gewisse Asymmetrie der Sicherheitslage festzustellen: Die deutsch-polnische Grenze war durch die Locarno-Verträge weniger gut abgesichert als die deutschen Westgrenzen. Da die Sowjetunion als potentieller Unruhefaktor zudem kaum in kollektive Sicherheitsstrukturen eingebunden war, stellte sie in Osteuropa ein weiteres destabilisierendes Element dar: Im Untersuchungszeitraum war sie kein Mitglied des Völkerbunds, und ein wie auch immer geartetes »Ostiocarno« kam ebenfalls nicht zustande858. Was waren die Ursachen dafür, daß die Umsetzung der kollektiven Sicherheit, trotz der unleugbar vorhandenen Ansätze, in den 1920er Jahren auf halbem Weg stecken geblieben ist? Ein wesentlicher Grund lag vor allem darin, daß kollektive Sicherheit als Modell für die Organisation des Staatensystems nicht unumstritten, ja nicht einmal das dominierende Modell war. Die Durch858 Siehe Rolf AHMANN, localization of Conflicts< or >Indivisibility of Peacec The German and the Soviet Approaches towards Collective Security and East Central Europe 1925-1939, in: DERS., Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 201-247, hier S. 201f. 330 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung setzungsfδhigkeit der kollektiven Sicherheit litt darunter, daß es Alternativen zu ihr gab. Dies wurde besonders an der französischen Politik deutlich. Kollektive Sicherheit bildete für die französische Sicherheitspolitik nur eine Option neben dem »Sicherheit-durch-Stärke«-Konzept und einer Bündnisstrategie mit Großbritannien und den USA als Wunschpartnern. Daß die französische Sicherheitspolitik zwischen diesen drei Modellen oszillierte, hatte dabei weniger damit zu tun, daß sich die französische Politik nicht auf eine Strategie einigen konnte oder administrative Schwächen und Querelen - wie etwa zwischen Kriegs- und Außenministerium - eine einheitliche Politik verhinderten. Ohne diese Aspekte völlig auszuschließen, lag die Ursache fur die bisweilen unstet wirkende französische Politik doch sehr viel stärker darin, daß Frankreich allein gelassen wurde. Eine Politik der Stärke kam für Frankreich nicht in Betracht, weil es sich strukturell Deutschland unterlegen sah - darin lag der Kern des französischen Sicherheitsproblems. Bei der Verwirklichung des Bündnissystems scheiterte Frankreich jedoch vor allem daran, daß die USA und Großbritannien alle Bündnisangebote zurückwiesen: Dies hatte angefangen bei den Garantieverträgen, die im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag zwar unterzeichnet worden, aber am Veto des US-Kongresses letztlich gescheitert waren. Bündnisangebote an England, wie beispielsweise im Vorfeld der deutschen Sicherheitsinitiative, führten ebensowenig zum Erfolg wie der Versuch Briands, die USA stärker an Frankreich zu binden: Kellogg machte aus der »negativen Allianz« Briands einen multilateralen Kriegsächtungspakt, der für Frankreich kaum einen realen Zugewinn an Sicherheit bedeutete. Aber auch die Versuche Frankreichs, den Völkerbund - und damit die kollektive Sicherheit - zu stärken, scheiterten vor allem am englischen Widerstand, wie das Schicksal des Genfer Protokolls und der Verlauf der Sicherheits- und Abrüstungsverhandlungen zeigten. Das non-committment der angelsächsischen Mächte wirkte sich aber nicht nur auf die französische Sicherheitspolitik aus, sondern generell auf die Durchsetzungsmöglichkeiten kollektiver Sicherheit. An Locarno wurde augenscheinlich, daß vor allem der Druck aus Washington und London dazu beigetragen hatte, daß Deutschland und Frankreich zusammenfanden. Gleichzeitig hatte England Verantwortung für die Sicherheit in Westeuropa übernommen. Nach Locarno nahm jedoch die Bereitschaft Londons, sich sicherheitspolitisch in Europa zu engagieren, rapide ab, was zum Großteil den Stillstand der europäischen Sicherheitspolitik in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bewirkte. Die amerikanische Zurückhaltung wirkte sich ähnlich aus. Die kollektive Sicherheit kam außerdem deshalb nicht recht voran, weil sich die beteiligten Mächte auf »Sicherheit« als außenpolitischem Oberziel nicht einigen konnten. Besonders die deutsche Regierung ordnete die kollektive Sicherheit revisionspolitischen Zielen unter. Dies bedeutete zwar nicht, daß Deutschland prinzipiell gegen mehr Sicherheit war, sondern nur, daß im Zwei- 4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen 331 felsfall Revision Vorrang vor Sicherheit hatte. Beispiele hierf٧r waren die Be­ handlung der deutschen Ostgrenzen in den Locarno­Vertrδgen und die Versu­ che Berlins, die diversen Vorschlδge f٧r ein »Ostiocarno« zu blockieren. Auch die Bem٧hungen der deutschen Politik, den Ausbau der Sanktionsmechanis­ men des Vφlkerbunds mφglichst zu verhindern, und am deutsch­sowjetischen Sonderverhδltnis festzuhalten, verdeutlichen die Prioritδt der Revisionspolitik. Analoges galt auch f٧r die USA und Großbritannien: Hier war man letztendlich nicht bereit, die Sicherheit der eigenen Handlungsfreiheit unterzuordnen. Ein weiterer Grund für die unvollständige Umsetzung der kollektiven Sicherheit bestand darin, daß keine Einigung darüber erzielt werden konnte, welche Art von kollektiver Sicherheitspolitik überhaupt betrieben werden sollte. Dies wurde vor allem an der Kriegsächtungspolitik deutlich, die zumindest teilweise mit den Prinzipien der kollektiven Sicherheit im engeren Sinne (d.h. die Abschreckung eines potentiellen Aggressors notfalls durch militärische Sanktionen) in Widerspruch stehen konnte. Dies setzte sich fort bei der Diskussion, ob Sicherheit nun ein Ergebnis der Abrüstung sei, oder umgekehrt erst Sicherheit Abrüstung ermögliche. Auch bei der Schiedsgerichtsbarkeit gab es zwischen Deutschland und Frankreich, bei vielen oberflächlichen Gemeinsamkeiten, gravierende Interpretationsunterschiede. Die Diskussion über die Art der kollektiven Sicherheit - bei aller Berechtigung der grundsätzlich zu klärenden Fragen - konnte dabei leicht zum Vorwand werden, konkrete Schritte in der Sicherheitspolitik zu blockieren. Dies wurde exemplarisch an der englischen Abrüstungspolitik deutlich. Gegenüber Frankreich, das auf den Grundsatz »Sicherheit vor Abrüstung« pochte, machte London geltend, daß Sicherheit ein Ergebnis der Abrüstung sei und nutzte dieses Argument auch, um die französischen Bündniswünsche abzuwehren. Andererseits verweigerte die britische Regierung die Abrüstung zur See aus Gründen der Sicherung der imperialen Seewege. Zur englischen Position in der Frage der Landabrüstung stand diese Haltung in eindeutigem Widerspruch. Hier diente der philosophische Ansatz lediglich als Argument der Interessenpolitik859. Letztendlich entscheidend für den Umstand, daß die Umsetzung von kollektiver Sicherheit dort an ihre Grenzen stieß, wo sie mit nationalen Interessen kollidierte, dürfte aber letztendlich die mangelnde Bereitschaft der angelsächsischen Mächte gewesen sein, Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Frankreich, das als einziges Land - nicht aus Uneigennützigkeit, sondern aus nationalem Interesse heraus - an Sicherheit interessiert war, war 8S ® Towle hat sicherlich nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß diese Widersprüche auch ihre Ursache in organisatorischen Unzulänglichkeiten und unterschiedlichen Bewertungen einzelner britischer Verantwortlicher hatten, vgl. TOWLE, British Security Policy, S. 140-144. 332 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung allein mit dieser Aufgabe ٧berfordert. Nur England und die Vereinigten Staa­ ten konnten moderierend in den Konflikt zwischen deutschen Revisionsan­ spr٧chen und franzφsischen Sicherheitsinteressen eingreifen. Kollektive Sicherheit blieb also im Untersuchungszeitraum nur ein Frag­ ment. Bisweilen verdient aber auch das Fragmentarische eine W٧rdigung. Zum ersten Mal wurden kollektive Sicherheitssysteme ٧berhaupt etabliert, und es setzte sich langsam die Erkenntnis durch, daß Sicherheit ein Wert an sich sei. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war kollektive Sicherheit zwar nicht die einzige, aber eine ernstzunehmende außenpolitische Konzeption. Die harten Auseinandersetzungen um die Definition des Aggressors im Völkerbund, die Frage nach den Sanktionsmechanismen des Völkerbunds und nach dem Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, um nur wenige Beispiele zu nennen, machen deutlich, daß diese Probleme und deren Implikationen erkannt und ernstgenommen wurden. Für Rechtsstaaten wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien und die USA war ein Abkommen wie der Kriegsächtungspakt - trotz fehlender Sanktions- und Schiedsmechanismen - außerdem mehr als nur ein Stück Papier, sondern hatte eine rechtlich bindende Kraft. Zum Stück Papier wurde er erst, als Deutschland ab 1933 das Recht als bindende Kraft nicht mehr anerkannte. Auch an einer anderen Stelle wird deutlich, daß kollektive Sicherheit als Idee einen nicht zu unterschätzenden Einfluß entwickelte. Der Charakter der französischen Sicherheitspolitik änderte sich - wie erwähnt - nach 1924/25 merklich. Obwohl sie nicht nur auf kollektiver Sicherheit beruhte, versuchte Paris, seine beiden anderen Strategien mit den Ideen der kollektiven Sicherheit in Einklang zu bringen. Die militärischen Verpflichtungen gegenüber den osteuropäischen Staaten wurden verringert und durch die Methoden der Finanzdiplomatie ersetzt; mit der Maginot-Linie und der Aufgabe einer aktiven Rheinlandpolitik wurde versucht, Verständigung mit Deutschland und Sicherung der eigenen Grenzen besser in Einklang zu bringen. Hinsichtlich der kollektiven Sicherheit kann also konstatiert werden, daß eine Modernisierung der Außenpolitik stattgefunden hat, die aber unvollständig geblieben ist. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems Im Rahmen des liberalen Modells der Friedenssicherung ist kollektive Sicherheit nur ein Element einer modernen Außenpolitik. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, gingen die Anhänger dieses Konzepts davon aus, daß der freie Welthandel - ergänzt durch die demokratische Entwicklung im Innern der Staaten - ebenfalls zur Friedenssicherung beitrage. Diese Annahme gründete 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 333 sich auf das Axiom, daß freier Handel zu engerer wirtschaftlicher Verflechtung und Abhängigkeit fuhren und so verhindern würde, daß man genau das Land angriff, von dem man wirtschaftlich ja selbst profitierte und abhängig war. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Norman Angell diese Idee mit großer öffentlicher Resonanz vertreten860. Außerdem trug ein liberales Weltwirtschaftssystem - gemäß der liberalen Wirtschaftsdoktrin - zur Wohlstandsmehrung bei, was ebenfalls Konflikte verhindern helfen sollte. Auch in den außenpolitischen Konzeptionen Deutschlands und Frankreichs spielten diese Überlegungen eine Rolle. Für Briand bot sich die wirtschaftliche Ebene vor allem deshalb zur Zusammenarbeit mit Deutschland an, weil die Volkswirtschaften Deutschlands und Frankreichs als weitgehend komplementär galten und fundamentale Unterschiede wie im politischen Bereich - zwischen Sicherheitsstreben einerseits und Revisionsverlangen andererseits - auf ökonomischer Ebene nicht bestanden861. Allerdings muß die Annahme, daß steigende wirtschaftliche Interdependenz eine zunehmende Friedensbereitschaft erzeuge, gerade vor dem Hintergrund der damaligen schwierigen wirtschaftlichen Lage mit größter Vorsicht betrachtet werden, wie Wurm richtig bemerkt: Diese von Briand wiederholt vertretene, auch in der damaligen Publizistik häufig anzutreffende Behauptung trug jedoch dem komplizierten Verhältnis von Interdependenz und Friedenssicherung nur unzureichend Rechnung, insofern nämlich, als wachsende Interdependenz auch anfälliger gegen Krisen macht, vor allem auch gegen solche Krisen, die an anderer Stelle des engeren Interdependenzsystems ihren Ursprung haben. (Dies war beispielsweise bei der späteren Weltwirtschaftskrise der Fall). Interdependenz kann auch nur dann fnedenssichemd bewertet werden, wenn sie von einer Beherrschung oder Kontrolle der wirksamen sozio-politischen Kräfte begleitet ist. Dies war damals noch weniger der Fall als heute862. Auch in Stresemanns außenpolitischer Konzeption kam der Wirtschaft eine zentrale Rolle zu. Die Wirtschaft bildete das wichtigste Mittel zur Revision: Wirtschaftliche Vernunft werde die offensichtlich ökonomisch unsinnigen Bestimmungen der Friedensverträge aufzuheben helfen, und die wirtschaftliche Macht Deutschlands könne dazu genutzt werden, die Revision voranzutreiben, indem beispielsweise durch den Krieg verlorene Gebiete mehr oder weniger zurückgekauft würden. 860 NormanWUTSRONMLHGEDCA A N G E L L , The Great Illusion.zywvutsrponmlkihgfedcbaZWTSRPNMLJHFEDBA Α Study of the Relation of Military Power to Na­ tional Advantage, London,RMLIE 1910. Ein Zusammenfassung der wichtigsten Thesen Angells findet sich in: J. D. B. MILLER, Norman Angell and the Futility of War. Peace and the Public Mind, Houndsmills u.a. 1 9 8 6 , S. 2 5 ­ 3 3 . Zur Perzeption des Werkes in der Öffentlichkeit siehe Barbara W. T U C H M A N , The Guns of August, Neuauflage [ohne Zählung], New York 1994, S. 10. Zum Einfluß des Liberalismus auf die internationalen Beziehungen: Lucian M. A S H W O R T H , Creating International Studies. Angell, Mitrany and the Liberal Tradition, Aldershot u.a. 1999. 861 Siehe W U R M , Rolle Deutschlands, S. 1 6 0 ; D E R S . , Sicherheitspolitik, S. 5 5 5 . 862 W U R M , Sicherheitspolitik, S. 5 5 5 . 334 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Die Versuche, das Weltwirtschaftssystem nach dem Ersten Weltkrieg zu li­ beralisieren, wurde durch schwerwiegende Strukturprobleme behindert863. Frankreich hatte mit Kriegszerstφrungen fertig zu werden, die vor allem die wirtschaftlich hochentwickelten Gebiete Nord­ und Ostfrankreichs betroffen hatten. Die Kosten f٧r deren Wiederaufbau betrugen 22,484 Mrd. GM864. Die hohen Sozialleistungen f٧r Kriegsversehrte, ­witwen und ­waisen865 sowie die Umstellung von der Kriegs­ auf die Friedenswirtschaft bereiteten Schwierig­ keiten, zumal die wirtschaftliche Beanspruchung der europδischen Volkswirt­ schaften wδhrend des Krieges dazu gef٧hrt hatte, daß außereuropäische Länder, gewissermaßen im Windschatten des Krieges, eigene, konkurrenzfähige Industrien aufgebaut hatten, die die Vormachtstellung Europas auf wirtschaftlichem Gebiet zu unterminieren drohten866. Der durch den Krieg unterbrochene Handel konnte nur mühsam wieder in Gang kommen, auch weil durch die wirtschaftliche Abschottung der neuen, aus der Erbmasse der Habsburgermonarchie und des Zarenreiches entstandenen Staaten Mittel- und Osteuropas ein zuvor relativ einheitlicher Wirtschaftsraum zerstört worden war867. Im Versailler Vertrag und den anderen Vorortverträgen wurde die wirtschaftliche Reorganisation Europas weitgehend versäumt868. Auch das Weltwährungssystem, das vor dem Krieg auf dem Goldstandard beruht hatte869, konnte nur eingeschränkt wiederhergestellt werden870. Insgesamt fehlte der Weltwirtschaft die Leitung, die vor dem Krieg von Großbritannien als informeller, 863 Vgl. die bibliographischen Angaben in Kapitel 2. Nach SAUVY, Histoire economique, Bd. 1, S. 209, entspricht diese Summe 27,768 Mrd. Goldfrancs. 865 Siehe Volker HENTSCHEL, German Economic and Social Policy, in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of Europe, VIII), S. 752813, hier S. 784f.; DERS., Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880-1980. Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt a. M. 1983, S. 121f.; SAUVY, Histoire 6conomique, Bd. 1,S. 183-197. 866 Siehe FISCHER, Zwischenkriegszeit, S. 27. 867 Siehe AMBROSIUS, Kriegswirtschaft, S. 288f.; Wolfram FISCHER, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat in Europa, 1914-1980, in: DERS. u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987, S. 1-221, hier S. 151. 868 Siehe DUROSELLE, United States, S. 111. 869 Zur Funktion des Goldstandards vgl. A. G. FORD, International Financial Policy and the Gold Standard, 1870-1914, in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of Europe, VIII), S. 197-249; ELCHENGREEN, Währungssystem, S. 21-68. 870 Siehe D. E. MOGGRIDGE, The Gold Standard and National Financial Policies, 1913-39, in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of Europe, VÜI), S. 250-314, hier S. 277. 864 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 335 nichtsdestotrotz aber zentraler F٧hrungsmacht ausge٧bt worden war. Die USA konnten oder wollten die entstandene L٧cke nicht f٧llen871. Neben diesen globalen Strukturproblemen, die hier nur kurz angedeutet werden kφnnen, wurden die Grundannahmen des liberalen Modells der Frie­ denssicherung auch dadurch ersch٧ttert, daß der Liberalismus als Wirtschaftsdoktrin durch die Kriegswirtschaft Konkurrenz von stärker interventionistischen Modellen erfahren hatte872. Das liberale Wirtschaftssystem der Vorkriegszeit bildete keinen Wert mehr an sich, weil die schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges bewältigt werden mußten873. Nichtsdestotrotz hatte das Axiom von zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung, die zu mehr Sicherheit führen sollte, Bedeutung für die Gestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses. Bilateral versuchten Deutschland und Frankreich durch einen Handelsvertrag, über den seit Ende 1924 verhandelt wurde, zu einer liberalen Gestaltung ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu gelangen. Beide Länder beteiligten sich außerdem an den Bemühungen des Völkerbunds für einen freieren Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Ein großes Hindernis für die Lösung aller wirtschaftlichen Fragen stellte aber die nach wie vor offene Reparationsfrage dar. 4.2.1. Die Reparationsfrage Auch nach der Londoner Konferenz vom Sommer 1924 stand die Reparationsfrage der Modernisierung der Außenpolitik im Wege874. Die durch die Reparationen erzeugten wirtschaftlichen Verzerrungen wurden durch den DawesPlan zwar verringert, bestanden grundsätzlich aber fort. Während der Transfermechanismus - durch die Einführung des Amtes des Generalagenten und des Transferschutzes - zwar verbessert wurde, wurde die Aufbringung der Reparationen sogar schwieriger. Nach der Stabilisierung der deutschen Währung Ende 1923 verteuerten sich deutsche Produkte so sehr, daß die deutsche Handelsbilanz in der Folgezeit fast immer negativ war. Die Bezahlung der Reparationen erfolgte somit faktisch aus der Substanz, eine Tatsache, die durch den Zustrom ausländischer - vor allem amerikanischer - Kredite nur verdeckt wurde. Dieses Problem wurde durch die hohen Zollmauern, hinter denen sich die Siegermächte - und wiederum vor allem die USA - verschanzten, noch verschärft. Es konnte sich kein dauerhaft stabiler Kreislauf entwikkeln, in dem Deutschland seine Reparationen durch Außenhandelsüberschüsse 871 Siehe NIEDHART, Stresemanns Auίenpolitik, S. 422. Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 19. 873 Siehe ibid. S. 29. 874 Vgl. Kap. 3.2. 872 336 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung hδtte bezahlen kφnnen. Der Dawes­Plan stellte also keine endg٧ltige Lφsung des Reparationsproblems dar, sondern war bestenfalls eine kurze Atempause. Bald schon nach dem Londoner Abkommen stand die Frage nach der Mobi­ lisierung bzw. der Kommerzialisierung der im Rahmen des Dawes­Plans auf­ gelegten Reichsbahn­ und Industrieobligationen im Mittelpunkt. Das AA lehn­ te die Mobilisierung ab und wollte an dem auf der Londoner Konferenz erreichten Stand der Reparationsregelung erst einmal nichts δndern. Zum ei­ nen geschah dies aus ganz prinzipiellen άberlegungen, denn eine Kommerzia­ lisierung der Reparationsschuld w٧rde deren Verringerung praktisch unmφg­ lich machen, zum anderen aber auch aus technischen Gr٧nden875: Die Unterbringung der Reparationsobligationen w٧rde schwierig werden, weil diese relativ niedrig verzinst wurden, die aktuellen Kapitalmarktsδtze aber recht hoch waren. Auch die Transferschutzklauseln des Dawes­Plans w٧rden dem Kapitaldienst der Obligationen entgegenstehen. Deshalb war f٧r Strese­ mann eine Kommerzialisierung nur dann mφglich, wenn die Transferregelun­ gen des Dawes­Plans geδndert w٧rden und diese im Zusammenhang mit der »Generalbereinigung Ostfragen (Korridor, Oberschlesien) und Westfragen (besetzte Gebiete und Saargebiet) und niedrige Festsetzung endgiltiger [sie] Reparationssumme«876 erfolgen w٧rde. Da die Zeit hierf٧r noch nicht reif er­ schien, versuchte Hoesch, Berthelot »diese Ideen endg٧ltig auszureden«877. Bewegung kam auf Seiten des AA in die Reparationsfrage erst ab Sommer 1926878, als sich das Gesprδch von Thoiry abzeichnete und verstδrkt άberle­ gungen zu einer »Generalbereinigung« des deutsch­franzφsischen Verhδltnis­ ses ­ endg٧ltige Reparationsregelung im Gegenzug f٧r eine sofortige R٧ckga­ be des Rheinlandes ­ angestellt wurden. Wδhrend das AA in bezug auf die Reparationen zunδchst zur٧ckhaltend blieb, war Hjalmar Schacht, seit Dezember 1923 Prδsident der Reichsbank, um so r٧hriger. Nach der erfolgreichen Wδhrungsstabilisierung genoß Schacht ein ungeheures Renommee als Finanzexperte im In- und Ausland879. Da die Reichsbank durch den Dawes-Plan in eine Gesellschaft mit internationaler Beteiligung umgewandelt worden war, war die Position des Reichsbankpräsidenten noch unangreifbarer gegenüber Eingriffen der deutschen Politik. Oft unter Umgehung der Reichsregierung diskutierte Schacht seine Reparations- und Finanzpläne mit internationalen Finanzexperten. Besonders engen Kontakt unterhielt er zum Gouverneur der Bank of England, Montagu Norman880. Der 875 Zum folgenden siehe Stresemann an Hoesch (8.12.1925), ADAPsronihedcbaXVSPNIHDA Β 1,1, Nr. 16. Ibid. 877 Hoesch an AA (25.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 263 878 SieheUTRONMKGECA KR٢GER, Außenpolitik, S. 344. 879 Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 206f. 880 Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32; Emile MOREAU, Souvenirs d'un gouverneur de la Banque de France. Histoire de la stabilisation du Franc (19261928), Paris 1954, S. 49. 876 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 337 Generalagent f٧r die Reparationen, der Amerikaner Parker Gilbert, schδtzte Schacht zwar als »tres capable, tres intelligent, mais doue d'un orgueil in­ commensurable.wvutsrqponmljihgfedcbaTSRPOMLIHGECBA Μ. GILBERT [Herv. i.O.] n'a pas entierement confiance en lui, non plus, a­t­il ajoute en riant, qu'en aucun allemand«881. Schacht verfolg­ te dabei, je nachdem, welchem Gesprδchspartner er sich gegen٧ber sah, ver­ schiedene Plδne. Dem franzφsischen Mitglied des Verwaltungsrates der Reichsbank, Charles Sergent882, schlug er vor, daß Deutschland und Frankreich sich in der Reparations- und Schuldenfrage koordinieren sollten, um den angelsächsischen Mächten eine gemeinsame, sowohl fur Frankreich als auch für Deutschland wesentlich günstigere Reparations- und Schuldenregelung zu präsentieren883. Als Gegenleistung für die Zusammenarbeit wollte Schacht Frankreich das Geld für die Stabilisierung des Franc vorschießen. Sergent verhielt sich gegenüber dem Vorschlag allerdings äußerst zurückhaltend, und er fand darin Unterstützung bei Seydoux. Eine Modifikation erfuhr der Plan des Reichsbankpräsidenten in dem Projekt des Belgiers Leon Delacroix, ehemaliger Ministerpräsident, Repräsentant seiner Regierung bei der Reparationskommission und Trustee für die Reichsbahnobligationen884. Delacroix schlug, vielleicht auf Initiative Schachts, vor, daß im Sommer 1926 eine allgemeine Konferenz für einen neuen Zahlungsplan, der den Dawes-Plan ersetzen sollte, stattfinden solle, durch den die Reparations- und Schuldenfrage endgültig geregelt werden würde885: Die USA sollten ihre Schuldforderungen (und damit auch die Reparationsbelastung) verringern, und Deutschland sollte sich verpflichten, die niedrigere Reparationslast bedingungslos zu zahlen, also faktisch der Kommerzialisierung der Reparationsschuld zustimmen. Auch eine enge Zusammenarbeit der Notenbanken strebte Delacroix an886. Dieser letzte Teil des delacroixschen Vorschlags ist insofern interessant, als er über die alleinige Regelung des Doppelproblems Schulden/Reparationen hinausweist auf eine 881 Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32. Sergent konnte dabei als deutschfreundlich gelten, weil er Mitglied des deutschfranzösischen Studienkomitees war (siehe Aufzeichnung Seydoux (21.1.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 388). Als Mitglied des Comit6 Peret und als Vizepräsident der Banque de l'Union Parisienne war sein Einfluß in französischen Wirtschaftskreisen nicht zu unterschätzen, vgl. MOLLIER, Ripubliques, S. 481; BURNAUD, Qui etes-vous? 1924, S. 697. 883 »>Croyez-vous que les Americains s'imaginent que vous les paierez? Le jour oü l'Allemagne et la France se prisenteront devant les Etats-Unis avec un plan commun, les Amencams l'accepteront, et PAngleterre suivra<«, Aufzeichnung Seydoux (2.12.1925), MAE PAAP 261, 34. Siehe auch zum folgenden. 884 Siehe BARlßTY, Finances, S. 60f. 885 Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3. Siehe auch zum folgenden. 886 Siehe ibid. 882 338 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung internationale Kooperation der Zentralbanken887, eine Rolle, die Schacht im Rahmen der Verhandlungen zum Young­Plan der zu errichtenden Bank f٧r Internationalen Zahlungsausgleich zuweisen wollte. Die Ideen Delacroix wur­ den, wie es scheint, ernsthaft in Erwδgung gezogen, scheiterten jedoch Anfang des Jahres 1926. Weitere Ideen Schachts waren der R٧ckkauf Eupen­ Malmedys, und der Kauf einer Kolonie von Frankreich888 ­ die Kaufsumme hδtte ebenfalls der franzφsischen Wδhrungssanierung dienen kφnnen ­ oder von Portugal, das ebenfalls finanziell in der Misere steckte889. Allerdings lehn­ te nicht nur Frankreich diese Vorschlδge als inakzeptabel ab, sondern auch Norman, der den Transfermechanismus des Dawes­Plans durch den Fluß großer Devisenströme neben den eigentlichen Reparationen gefährdet sah890. Ein weiterer Plan Schachts sah die sofortige Mobilisierung der Reparationsobligationen fur eine grundlegende Revision des Dawes-Plans, die Verringerung der Reparationsschuld auf 20 Mrd. GM und die Rückgabe des Rheinlandes vor891. Dieser Plan schien die Unterstützung der deutschstämmigen US-Banken Speyer & Co. sowie Kuhn, Loeb & Co. zu haben892. Bei aller Verschiedenheit der schachtschen Pläne sind zwei wesentliche Gemeinsamkeiten festzustellen: Er versuchte entweder, die Gesamtbelastung der Reparationen wesentlich zu verringern, oder die Lösung der Reparationsfrage dazu zu benutzen, Vorteile für die deutsche Seite auf anderen Feldern der Revisionspolitik (beispielsweise den Erwerb von Kolonien oder den Abzug der Besatzungstruppen aus dem Rheinland) zu erlangen. Die Ergänzungen, die er an diesen beiden Grundkonzepten vornahm, zielten vor allem darauf ab, die Attraktivität seiner Vorschläge bei den jeweiligen Gesprächspartnern zu erhöhen. Innerhalb des Quai d'Orsay gab es, wie es scheint, zwei nur mäßig miteinander koordinierte Konzepte bezüglich der Mobilisierung. Berthelot893, Bri887 Zur Kooperation der Zentralbanken vgl. OlivierYWVTRONMLKIGFEDCBA FEIERTAG, Banques centrales et relations internationales au XX* siecle. Le problfeme historique de la cooperation mondtaire internationale, in: Relations internationales 100 (1999), S. 355-376, hier S. 355-370. 888 Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36; Aufzeichnung Seydoux (23.6.1926), MAE PAAP 261, 36. 889 Siehe Aufzeichnung Ebert (2.12.1924), Friedrich EBERT jr. (Hg.), Friedrich Ebert: Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten Erinnerungen aus dem Nachlaß, 2 Bde., Dresden 1926, Bd. 2, S. 346-348. 8,0 Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36. Zusammenfassend Eckhard W A N D E L , Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika fur das deutsche Reparationsproblem 1924-1929, Tübingen 1971 (Diss. Tübingen 1970, Tübinger Wissenschaftliche Abhandlungen, 11), S. 70-72. 891 Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. 892 Siehe ibid. Zur Bedeutung der beiden Bankhäuser vor dem Ersten Weltkrieg heißt es: »With the possible exception of Speyer & Co., no other pre-World War I American issuer of foreign securities matched Morgan & Co. and Kuhn, Loeb's records, either in the size or in the geographical spread of their offerings«, Rondo C A M E R O N , V. I. B O V Y K I N (Hg.), International Banking 1870-1914, New York, Oxford 1991, S. 60. 893 Siehe Hoesch an AA (12.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 237. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 339 and894 und Laroche895 vertraten die Idee, im Gegenzug f٧r die Kommerziali­ sierung der Reparationsanleihen der fr٧hzeitigen Rδumung des Rheinlandes zuzustimmen. Besonders Berthelot schien der Motor dieser Idee zu sein896, die er durch den Journalisten Jules Sauerwein in der regierungsnahen Zeitung »Matin« Ende 1925 auch in der Φffentlichkeit propagieren ließ897. Seydoux' Überlegungen für die Kommerzialisierung gingen dagegen in eine etwas andere Richtung. Übereinstimmend mit Berthelot und Briand hielt zwar auch er die Kommerzialisierung der Reparationsbonds für notwendig, um den deutschen Reparationsschulden ihren politischen Charakter zu nehmen und diese endgültig festzuschreiben898, zumal ihn beunruhigte, daß das zunehmende Volumen deutscher Anleihen in den USA die Reparationstransfers beeinträchtigen könnte (was ja durchaus auch deutsches Kalkül war)899. Ebenso stimmte er mit seinen Vorgesetzten darin überein, daß die Mobilisierung dazu genutzt werden konnte, den Franc zu stabilisieren, dessen Wertverfall sich seit Anfang 1926 bedrohlich beschleunigte900. Allerdings vertrat er den Standpunkt, daß Deutschland keinerlei Anspruch darauf habe, Gegenleistungen für die Mobilisierung zu fordern, weil diese integraler Bestandteil des Dawes-Plans sei901. Auch wollte er nur einen kleinen Teil der Anleihen kommerzialisieren, genug, um den Franc zu stützen, aber nicht so viel, daß eine grundsätzliche Revision des Dawes-Plans und der Bestimmungen des Versailler Vertrags (vor allem hinsichtlich des Rheinlands) von den Deutschen würde gefordert werden902. Außerdem ging er - richtigerweise - davon aus, daß die vollständige Mobilisierung aller Reparationsobligationen von den USA mit Sicherheit und unter Umständen auch von Großbritannien abgelehnt werden würde903. Die Teilmobilisierung war nach Seydoux' Auffassung auch deshalb wünschenswert, weil der Dawes-Plan vorteilhaft für Frankreich war und deshalb solange wie möglich beibehalten werden sollte904. Nach Abzug der Schuldenzahlungen an die Vereinigten Staaten und England (780 Mio. GM) würde Frankreich, wenn die maximale Annuität des Dawes-Plans 1928 erreicht werden würde, immer noch 894 »Briand himself privately indicated an interest in the scheme in early December [1925, R.B.]«, JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 86. 895 So Laroche gegenüber Wigram, siehe Aufzeichnung Wigram (5.11.1925), DBFPzyxwutsrqponmlkih ΙΑ I, Nr. 66. Jules Laroche war zu diesem Zeitpunkt Directeur des affaires politiques et commer­ ciales, siehe Annuaire diplomatique 1928, S. 284. 896 Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 374. 897 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 407. 898 Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32. 899 Siehe ibid. 900 Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.7.1926), MAE PAAP 261, 36. 901 Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. 902 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 418. 903 Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35. 904 Siehe Seydoux an Berthelot (24.9.1926), MAE PAAP 261,4. 340 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung einen άberschuß von 520 Mio. GM pro Jahr erhalten905 - bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Rheinlandbesetzung und der Dawes-Kontrollen. Fände jedoch jetzt - 1926 - die Mobilisierung der Reparationsschuld und damit die Revision des Dawes-Plans statt, sei dagegen zu erwarten, daß die Reparationen auf dem Niveau dieses Jahres festgeschrieben würden. Gemäß dem Dawes-Plan betrug die Annuität in diesem Jahr jedoch nur 1,22 Mrd. GM, so daß der französische Anteil an den Reparationen niedriger sei als die fällige Schuldenrückzahlung an die USA und England906. Auch würden das Rheinland und die Dawes-Kontrollen bei einer vollständigen Mobilisierung aufgegeben werden müssen. Ein Zusammengehen mit Deutschland, um gemeinsam zu einer Reduzierung der Kriegsschulden und Reparationen zu kommen - so wie Schacht dies gegenüber Sergent vorgeschlagen hatte, lehnte Seydoux ab. Er schätzte die Chancen für den Erfolg als zu gering ein, zumal Frankreich ja auch anderweitig auf die angelsächsischen Mächte - vor allem in der Sicherheitsfrage - angewiesen war907. Das französische Finanzministerium bewegte sich auf einer noch vorsichtigeren Linie als Seydoux908: Ein zu starkes Drängen Frankreichs auf die Mobilisierung würde die Deutschen dazu verleiten, überzogene Konzessionen dafür zu fordern, die langfristig Frankreichs Interessen schadeten. Wie Gilbert und der höchste Beamte des englischen Treasury, Sir Otto Niemeyer, wies es darauf hin, daß bei der niedrigen Verzinsung der Anleihen diese nur unter Wert verkauft werden könnten. Clement Moret, als Directeur du mouvement general des fonds einer der wichtigsten Beamten im französischen Finanzministerium, bemerkte außerdem, daß im Falle einer Mobilisierung der Verhandlungsspielraum Frankreichs bei den Kriegsschulden beschränkt würde. Deshalb sollte erst dann mobilisiert werden, wenn ein Schuldenabkommen mit den USA und England erreicht worden sei909. Wie stand aber die Regierung in Washington, die in der Kriegsschuldenund Reparationsfrage die zentrale Stellung hatte, zur Mobilisierung? Einer der hartnäckigsten Gegner der Mobilisierung war der Unterstaatssekretär im amerikanischen Schatzamt und Sekretär der mit allen Fragen der Kriegsschulden befaßten World War Foreign Debt Commission910, GerrardvtsrponmlkihedcbaWSNFA Β. Winston911. Al­ 905 Nach dem Abkommen von Spa erhielt Frankreich 52 % der Annuität von 2,5 Mrd. GM, also etwa 1,3 Mrd. GM. Zur Entwicklung der Annuitäten des Dawes-Plans siehe Lucien PETIT, Histoire des finances ext6rieures de la France. Le reglement des dettes interalli6es (1919-1929), Paris 1932, S. 662f. 906 Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35. 907 Siehe Aufzeichnung Seydoux (2.12.1926), MAE PAAP 261, 34. 908 Vgl. hierzu WURM, Sicherheitspolitik, S. 414-^16. 909 Siehe ibid. S. 415. 910 Die World War Foreign Debt Commission bestand aus fünf Mitgliedern unter Vorsitz des Secretary of the Treasury und war zuständig »to refund or to convert, and to extent the time of payment of the principal or the interest, or both, of any obligation of any foreign Government now held by the United States of America«, Combined Annual Reports, S. 88. 9,1 Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 341 lerdings wollten auch seine Vorgesetzten, der Secretary of the Treasury, An­ drew Mellon, und Prδsident Coolidge die Mobilisierung so lange wie mφglich verhindern912. In der ersten Hδlfte des Jahres 1926 ging es der amerikanischen Regierung akut darum, zu verhindern, daß sich die Franzosen, die sich von der Mobilisierung die dringend benötigten Ressourcen für die Währungssanierung versprachen, von den deutschen Gegenforderungen übervorteilen ließen913. Denn dies hätte für die USA zur Folge gehabt, daß auch die Rückzahlung der französischen Kriegsschulden schwieriger geworden wäre914. Daneben war die Frage der Mobilisierung ein Druckmittel in den Händen der US-Regierung, Frankreich zur Ratifizierung des am 29. April 1926 geschlossenen Schuldenabkommens915 zu zwingen916. Darüber hinaus aber war die Offenhaltung der Reparationsfrage deshalb im amerikanischen Interesse, weil sie generell die Einflußnahme auf Europa ermöglichte, ohne unbequeme politische Bindungen eingehen zu müssen. Auch innenpolitisch war es für die US-Administration beinahe unmöglich, eine umfassende Schuldenreduzierung durchzusetzen. Ein Präsident, der einer nachhaltigen Verringerung der Kriegsschulden zugestimmt hätte, »would have a most difficult time and would probably invite disaster to his party«917. Reparationsagent Parker Gilbert machte sich in vielerlei Hinsicht zum Sprachrohr der amerikanischen Regierung und betonte gegenüber Seydoux, daß eine Mobilisierung der Reparationsanleihen, gar ohne deutsche Zustimmung, nicht möglich sei918. Allerdings schien er etwas weniger rigide eingestellt zu sein als die Administration in Washington. Gilbert versprach Seydoux, sich um die Mobilisierung einer ersten Tranche von 100 Mio. Dollar einzusetzen, unter der Bedingung, daß Frankreich das Geld zur Stabilisierung seiner Währung benutzen und einen konkreten Plan zur Währungsstabilisierung vorlegen würde919. Die letzte Gruppe einflußreicher Akteure, die es im Zusammenhang mit der Frage der Mobilisierung zu betrachten gilt, sind die internationalen Finanzkreise. Dabei muß zwischen den Zentralbanken und den Geschäftsbanken differenziert werden. Die Zentralbanken hatten vor allem ein Interesse an der Stabilität des Geldwertes und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eines Landes. Die Geschäftsbanken hingegen verfolgten vor allem ein Ziel, nämlich 912 Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35. 914 Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36. 915 ΡΕΉΤ, Finances ext6rieures, S. 671—677. Text des Abkommens in:zyxutsrponlkihgfedcbaTSPOMHGFECBA 916 Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.4.1926), MAE PAAP 261, 35. 917 Bentley Τ. MOTT, Myron T. Herrick, Friend of France. An Autobiographical Biography, Garden City 1929, S. 274. 918 Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3; Aufzeichnung Seydoux (8.7.1926), MAE PAAP 261, 36. 919 Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3. 913 342 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung die Gewinnmaximierung, wobei es wiederum zu unterscheiden gilt zwischen Banken, die sich auf den Verkauf auslδndischer Staatspapiere spezialisierten, und Banken, deren Schwerpunkt auf dem inlδndischen Geschδft lag. Letztere d٧rften einer Kommerzialisierung von auslδndischen Anleihen auf dem heimi­ schen Markt ablehnend gegen٧berstehen, weil diese Konkurrenz f٧r heimische Anleihen und Wertpapiere darstellten. Banken dagegen, die ٧ber gute Aus­ landsverbindungen verf٧gten, traten f٧r die Mobilisierung ein, weil sie sich davon gute Geschδfte versprachen, so zum Beispiel das Bankhaus Dillon, Read & Co.920. Dillon versuchte dadurch, den Konkurrenten Morgan, der fast exklusiv Geschδfte mit der franzφsischen Regierung machte, aus diesem lukra­ tiven Markt zu drδngen921 und bem٧hte sich außerdem, der »Bankier Deutschlands«922 zu werden. Das Bankhaus Morgan hingegen, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg in großem Umfang englische Staatspapiere in Amerika untergebracht hatte923 und über enge Kontakte zur Bank of England verfügte924, vertrat ganz die vorsichtige Linie Normans925. Andere Banken wiederum, die den deutschen Interessen nahestanden - wie die bereits erwähnten US-Banken Speyer & Co. und Kuhn, Loeb & Co. - , unterstützten die Auffassung der deutschen Seite und waren entsprechend optimistischer, was die Aufnahmefähigkeit des amerikanischen Kapitalmarktes für die Reparationsanleihen anging926. Diese Interessenlage spiegelte sich auch Ende des Jahres 1925/Anfang 1926 wider, als die Frage der Mobilisierung in Finanzkreisen akut wurde. Norman, Governor der Bank of England - der dabei ganz im Einklang mit dem Controller des englischen Treasury, Niemeyer, handelte927 - , und Strong von der Fe920 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.7.1926), ADAPutsrponmlihgfedcbaZWSRPNMLED Β 1,1, Nr. 275; Stresemann an Schubert (12.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 276. 921 Siehe WANDEL, Reparationsproblem, S. 64. Anfang 1924 hatte Morgan der französischen Regierung mit einem 100 Mio. US-Dollar Kredit geholfen, den Franc-Verfall abzubremsen, siehe LEFFLER, Quest, S. 100. 922 Siehe Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36. 923 Siehe CAMERON, International Banking, S. 60. 924 Seydoux bemerkt hierzu: »on sait d'intimite qui existe entre M. JAY [Herv. i.O.], de la Banque Morgan, et le Directeur de la Banque d'Angleterre«, Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. 925 Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36. 926 Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [27.9.1926], ADAP Β 1,2, Nr. 114. 927 Zum Einfluß Niemeyers und Normans auf die englische Finanzpolitik heißt es u.a.: »the controller was directly responsible, as his principal adviser on all financial matters, to the Chancellor of the Exchequer. The most important and controversial episode during Niemeyer's controllership was the return of the sterling to the gold standard, at pre-war parity. The influence of Niemeyer and Montagu [...] Norman [...] in this matter was vital. (Sir) Winston Churchill, as chancellor, was no financial expert and on such matter relied heavily on Niemeyer« D.N.B., 1971-1980, S. 632. Auf Anstoß Normans wechselte Niemeyer 1927 zur Bank of England, siehe ibid. Seydoux ging in allen internationalen Finanzfragen von einem »concert parfait [...] entre la Trfsorerie britannique et la Banque d'Angleterre« aus, Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 343 deral Reserve Bank of New York, standen der Mobilisierung der Eisenbahn­ obligationen einerseits skeptisch gegen٧ber, weil sie die Finanzmδrkte f٧r ٧bersδttigt hielten928. Andererseits strebten sie zur Konsolidierung der Welt­ wirtschaft auch die endg٧ltige Regelung der Reparations­ und Schuldenfrage an. Allerdings sollte dies erst geschehen, wenn der Franc stabilisiert und die langfristige wirtschaftliche Entwicklung Europas absehbar wδre929. Grund da­ f٧r, die Mobilisierung auf die Zeit nach der Francstabilisierung zu verschie­ ben, war zum einen, daß befurchtet wurde - wie Gilbert sich gegenüber Maltzan ausdrückte - , daß der Erlös aus der Kommerzialisierung »im Kessel französischer Inflation spurlos verschwinde«930. Zum anderen nutzte auch England den Druck, der sich auf Frankreich in dessen finanzpolitisch desolater Lage durch die Mobilisierungsfrage ausüben ließ, um es zum Abschluß eines Schuldenabkommens zu zwingen931. Für England war dies um so dringlicher, weil es selbst bereits seine Kriegsschulden bei den USA am 19. Juni 1923 konsolidiert hatte932. Trotz der weitverbreiteten Skepsis kam es am 31. Dezember 1925 dennoch zu einem Gespräch zwischen Mellon, Norman, Gilbert und Strong, in dessen Mittelpunkt die Lösung der französischen Währungskrise durch die teilweise Mobilisierung der deutschen Reparationsobligationen stand933. Die Zustimmung Deutschlands zur Kommerzialisierung einer ersten Tranche sollte dadurch erreicht werden, daß die Reparationslast verringert werden sollte. Der Erlös der Aktion sollte der Stabilisierung des Franc dienen. Bedingung jedoch war ein Plan für die Sanierung der französischen Währung und eine Regelung der Kriegsschulden. In einem weiteren Gespräch zwischen Gilbert, Norman, dem Gouverneur der Banque de Belgique, Fernand Hautain, und dem französischen Botschafter in den USA, Henry Berenger, schien es um das gleiche Thema gegangen zu sein934. Die amerikanischen Bankiers lehnten solche Pläne jedoch ab, wobei aus Seydoux' Aufzeichnung nicht klar wird, ob es sich um Vertreter der Zentral- oder der Geschäftsbanken handelte935. Allerdings dürfte der Konflikt vermutlich zwischen den Notenbanken und eventuell beteiligten Geschäftsbanken bestanden haben, die letztendlich für die Unterbringung der Obligationen auf den Finanzmärkten zuständig gewesen wären. Interessanterweise waren keine Vertreter der Banque de France bei diesen Gesprächen anwesend. Seydoux sah darin Normans wichtigstes Ziel erreicht, SieheWURM WURM, Sicherheitspolitik, S. 415f. Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. 930 Maltzan an AA (11.1.1926), ADAPzyxutsrponmlkihgfedcbaTSRPNMECA Β 1,1, Nr. 33. 931 Siehe Aufzeichnung Seydoux (16.3.1926), MAE PAAP 261,4. 932 Text des Abkommens siehe Combined Annual Reports, S. 106­113. 933 Gemäß einer Abschrift aus: The Chronicle (9.1.1926), Fundort: BdF 13702000008/175. 934 S. Abschrift aus: The New York Herald (1.1.1926), Fundort: BdF 1370200008/175. 935 S. Aufzeichnung Seydoux (10.1.1926), MAE PAAP 261, 35. 928 929 344 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung c'est­δ­dire la direction des finances du monde, par un petit organisme composi des Direc­ teurs des grandes Banques d'Emission. [...] la France est le sujet friquent de ces conversa­ tions et toutes ces questions se traitent en dehors de nous parce que, comme a ditronmaN Norman [Herv. i.O.], >je traite avec mes collogues des grandes banques, qui sont des organismes in­ d6pendants. Mais la Banque de France n'est pas ind6pendante, c'est un organisme d'Etat, je traiterai avec eile lorsqu'elle aura recouvrd cette ind6pendance<936. Das Verhalten Normans und der angloamerikanischen Banken d٧rfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, daß Briand im September 1926 versuchte, nicht mehr eine internationale, sondern eine deutsch-französische Lösung fur die Mobilisierung der Eisenbahnobligationen zu finden937 und sich Poincare verstärkt bemühte, aus eigener Kraft die Stabilisierung des Franc herbeizufuhren938". Betrachtet man die grundsätzlichen Einstellungen der verschiedenen Akteure zur Mobilisierungsfrage, so bleibt festzustellen, daß die Aussichten für Frankreich, die Obligationen zu eigenen Bedingungen zu kommerzialisieren, äußerst gering waren, was sich auch in den konkreten Verhandlungen bestätigte. Bereits kurz nachdem der Dawes-Plan verabschiedet worden war, versuchten Frankreich und Belgien, die Reparationsanleihen - diese hatten ein Volumen von 16 Mrd. GM - auf den internationalen Finanzmärkten zu platzieren. Hauptmotiv dafür war, den Reparationen ihren politischen Charakter zu nehmen, um dadurch zu verhindern, daß diese gewissermaßen durch einen Federstrich verringert oder gar völlig wegfallen würden. Ende 1925/Anfang 1926 spielten dann - parallel zu dem sich verstärkenden Verfall des belgischen und französischen Franc - auch finanzpolitische Überlegungen eine Rolle: Die Obligationen wurden zunehmend als ein Mittel entdeckt, die notwendigen Devisen zur Währungssanierung zu beschaffen939. Da die Kommerzialisierung also aus verschiedenen Gründen für die französische Regierung reizvoll war, legte diese zusammen mit Belgien bereits Ende 1924 einen Plan für den Verkauf der deutschen Obligationen vor, der jedoch sowohl von der Reichsregierung als auch vom Transferkomitee abgelehnt wurde940. Eine Initiative Clementeis, der auf einer Konferenz der alliierten Finanzminister vorgeschlagen hatte, eine erste Tranche der Obligationen zu verkaufen, scheiterte am Widerstand seiner Kollegen941. Zu diesem Zeitpunkt waren es allerdings nicht nur die mangelnde Aufnahmefähigkeit der internationalen Finanzmärkte, die 936 Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35. Vgl. die unten folgenden Ausführungen zu Thoiry. 938 »He [Poincard, R.B.] is dallying with the idea of the German railroad bonds not only as a means of keeping out of the hands of the Anglo-Saxon financiers, whom he dislikes, but also as being in line with his doctrine that France can save herself«, Whitehouse an Kellogg (7.10.1926), FRUS 1926,utsrponmlkihgfedcbaWUSRPMEBA Π, S. 106f. 939 Siehe Briand an Poincar6 (20.8.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398. 940 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 400. 94 ' Siehe ibid. 937 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 345 vor allem die angelsδchsischen Mδchte davor zur٧ckschrecken ließ, einer Mobilisierung zuzustimmen, sondern die Anfang 1925 auch noch völlig ungeklärte Sicherheitslage in bezug auf die Kölner Zone942. Nach diesem Mißerfolg ging bis Mitte 1925 selbst in Frankreich das Interesse an der Kommerzialisierung zurück. Erst im Herbst begann man sich in Paris wieder intensiver damit zu befassen, was mehrere Gründe hatte943: Der Wertverlust des Franc beschleunigte sich, nachdem es nicht gelungen war, eine neue Anleihe in Frankreich, die zur Konsolidierung der Kriegsschulden gedacht war, unterzubringen. Auch Auslandsanleihen waren keine Option: Die Politik der US-Regierung war es, keinem Land neue Auslandskredite zu gewähren, das nicht seine Kriegsschulden gegenüber Amerika konsolidiert hatte. Der amerikanische Kapitalmarkt blieb deshalb französischen Kreditwünschen verschlossen. Die Obligationen wurden somit als Mittel zur Devisenbeschaffung immer attraktiver, zumal die politischen Probleme, die noch Anfang des Jahres bestanden hatten (Sicherheitsproblem und Räumung der Kölner Zone), durch Locarno gelöst erschienen. Außerdem mußte das über Erwarten gute Geschäftsergebnis der Reichsbahn die Reichsbahnobligationen in französischen Augen zu einem guten Anlageobjekt machen. In diesen Zeitraum fielen die Gespräche, die Seydoux mit Gilbert über die Mobilisierung gefuhrt hatte, und die Pläne Delacroix' für eine Gesamtregelung des Schulden- und Reparationsproblems, die ja auch Gegenstand der Gespräche einiger Zentralbankchefs, Gilberts und der amerikanischen Regierung gewesen waren, wie oben dargestellt wurde. Zur gleichen Zeit schlug Berthelot Hoesch vor, die Räumung des Rheinlandes zu beschleunigen, wenn Deutschland im Gegenzug einer Mobilisierung der Anleihen zustimme944. Oswald Hesnard, Vertrauter Briands und eine Art französischer Nebenbotschafter in Berlin, eröffnete im gleichen Sinne Stresemann Anfang Dezember eine »Gesamtlösung« der deutsch-französischen Probleme und befürwortete eine Reise des deutschen Außenministers nach Paris, um dort über den Gesamtkomplex von Mobilisierung und Räumung zu verhandeln945. Die deutsche Seite blieb zunächst jedoch skeptisch: Zum einen teilte man in Berlin die technischen Bedenken, die die Amerikaner und Engländer hinsichtlich der Mobilisierung hatten, also vpr allem die Möglichkeit, die Anleihen ohne Verlust auf den internationalen Finanzmärkten zu piazieren946. Zum anderen ging Berlin die Räumung des Rheinlands als Zugeständnis fur die Mobilisierung nicht weit genug: Eine Räumung sei nur möglich, wenn die Transfermechanismen des Dawes-Plans geändert, eine »Generalbereinigung« auch 942 Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.6.1925), MAE PAAP 261, 3. Zum folgenden siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 404f. 944 Siehe POULAIN, Vorgeschichte, S. 91. 945 Siehe Aufzeichnung Kempner (8.12.1925), ADAPtsronmihecaSPNHDA Β 1,1, Nr. 15. 946 Siehe Stresemann an Hoesch (8.12.1925), ADAP Β1,1, Nr. 16. 943 346 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung hinsichtlich Polens (d.h. die R٧ckkehr des Korridors und Danzigs zu Deutsch­ land) und des Saargebiets erfolgen und die endg٧ltige Reparationssumme mφglichst niedrig festgelegt w٧rde947. Wegen der deutschen Zur٧ckhaltung in dieser Frage und weil die Zustim­ mung der USA zu einer Mobilisierung notwendig sein w٧rde, verlegte sich die franzφsische Regierung nun darauf, zunδchst zu einer Lφsung der Schulden­ frage zu kommen. Am 29. April 1926 konnte ein entsprechendes Abkommen zwischen dem amerikanischen Finanzminister Andrew Mellon und dem fran­ zφsischen Botschafter in Washington, Henry Berenger, unterzeichnet wer­ den948. Die Hoffnungen, die Frankreich in das Abkommen gesetzt hatte, erf٧ll­ ten sich jedoch nicht. Trotz der Anerkennung der Kriegsschulden durch Frankreich weigerten sich die Vereinigten Staaten weiterhin, Kredite zu ge­ wδhren, solange kein verbindlicher Plan zur Franc­Stabilisierung vorgelegt wurde949. Außerdem verlangten sie, daß das Schuldenabkommen erst vom französischen Parlament ratifiziert werde, bevor Kredite vergeben werden sollten950. Frankreich wiederum erklärte, daß eine Ratifizierung des Schuldenabkommens durch eine Teilmobilisierung der Reparationsanleihen erleichtert würde951. Nachdem die (vorläufige) Regelung der Schuldenfrage also kaum positive Effekte auf die französische Finanzlage hatte, gewannen Überlegungen für ein deutsch-französisches Arrangement in der Frage der Mobilisierung wieder an Bedeutung952. Die Reichsregierung lehnte dies jedoch weiterhin ab. Der Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und Vorsitzende der Kriegslastenkommission, David Fischer, äußerte gegenüber der Reichskanzlei seine Bedenken hinsichtlich einer Kommerzialisierung der Reparationsobligationen953: Die Einstellung der USA hinsichtlich der Mobilisierung habe sich nicht grundsätzlich geändert. Da außerdem das Schuldenabkommen zwischen den USA und Frankreich zu »sehr drückendefn] Verpflichtungen«954 für Paris geführt habe, sei zu erwarten, daß Frankreich die deutsche Reparationsschuld ebenfalls nur in kleinem Umfang verringern werde. Für Fischer sprach gegen eine Kommerzialisierung ferner, daß die Erfahrungen mit dem Dawes-Plan und mit dem Transfer großer Devisensummen noch nicht ausreichten, um zu einer endgültigen Regelung der Reparationsfrage zu gelangen. Auch Abgeordnete des Reichstags, von den Demokraten bis hin zur DNVP, äußerten sich ablehnend bezüglich der Kom947 Siehe ibid. Text des Abkommens in: PETIT, Finances extirieures, S. 671-677. 949 Siehe Aufzeichnung Seydoux (24.6.1926), MAE PAAP 261, 36. 950 Siehe Aufzeichnung Seydoux (26.7.1926), MAE PAAP 261,4. 951 Siehe Aufzeichnung Seydoux (6.8.1926), MAE PAAP 261, 36; Poincare an Briand (24.8.1926), MAE 1918-1929zutsrponmlkihgfedcbaWUSRPNMKIFEDA Ζ (Europe) Allemagne, 398. 952 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 418. 953 Siehe Fischer an Kempner (10.5.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 216, siehe auch zum folgenden. 954 Ibid. 948 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 347 merzialisierung, wobei dort vor allem der Gesichtspunkt der »άberfremdung« eine Rolle spielte, falls beispielsweise Reichsbahnobligationen in großem Umfang in die Hände ausländischer Gläubiger gelangten955. Die pessimistische Einschätzung Fischers und anderer wurde durch eine Reise Winstons und Strongs nach Berlin gestützt, die - ebenso wie Gilbert und Norman - die Mobilisierung und die damit einhergehende Revision des Dawes-Plans ablehnten956. Da sich die Franc-Krise aber weiter verschärfte, schlug Briand erneut ein Treffen mit Stresemann vor, »um über alle Fragen zu sprechen, die zu einer Bereinigung des deutsch-französischen Verhältnisses fuhren könnten«957. Stresemann selbst schien der Idee einer deutsch-französischen Generalbereinigung nun auch weniger abgeneigt zu sein. Der drohende Sturz der Regierung Briand hatte ihn vielleicht veranlaßt, mit Frankreich zu einer Einigung zu kommen, bevor eine neue Regierung, die Deutschland weniger wohlgesonnen war, ins Amt käme. Jedenfalls schien der deutsche Außenminister jetzt bereit, einer Kommerzialisierung der Obligationen zuzustimmen, wenn dadurch die vorzeitige Räumung des Rheinlandes, die Änderung des Dawes-Plans und die Verringerung der Gesamtsumme der Reparationen erreicht würde958. Auch sah Stresemann einen größeren finanzpolitischen Spielraum Deutschlands und Frankreichs gegenüber den USA, falls sich beide Länder auf eine Regelung der Kommerzialisierung einigen konnten959. In der Tat kam es auf französischer Seite nach dem Regierungsantritt Poincares am 23. Juli 1926 zu einem Kurswechsel in der Frage der Mobilisierung der Reparationsanleihen. Zwischen dem neuen Ministerpräsidenten und seinem Außenminister Briand kam es zu einem Briefwechsel, in dem die verschiedenen Ansichten aufeinandertrafen. Zwar standen sowohl für Briand wie auch für Poincare bei den Mobilisierungsplänen vor allem die Interessen Frankreichs im Vordergrund: Die Mobilisierung würde die Verringerung der deutschen Reparationsschuld unmöglich machen und war deshalb per se ein Gewinn für Frankreich. Beide waren sich auch darüber einig, daß die Kommerzialisierung die Lösung der französischen Währungskrise erleichtern würde. Uneinigkeit dagegen bestand über das Wie und die Art der deutschen Beteiligung. Briand versuchte, durch die gleichzeitige Regelung der deutschfranzösischen Probleme (also vor allem die Rheinlandbesetzung), die Kommerzialisierung aktiv zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehun955 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (17.9.1926), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcbaSRPNM Ζ (Europe) Allema­ gne, 398; Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88; BERNHARD, Strese­ mann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 15-24; Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 94. 956 Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36. 957 Aufzeichnung Schubert (2.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 264. 958 Siehe Margerie an Briand (17.7.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 389. 959 Siehe ibid. 348 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gen zu nutzen. Die Konzession, das Rheinland vorzeitig freizugeben, erschien ihm dabei unwesentlich: Nach der Mobilisierung hδtte Frankreich die be­ setzten Gebiete aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso aufgeben m٧ssen960. Die Rheinlandbesetzung hatte f٧r Briand dar٧ber hinaus keinen besonderen Wert. Er hielt sie als Sicherheitsinstrument f٧r untauglich, und je nδher der ­ seiner Meinung nach ­ unverr٧ckbare Zeitpunkt der R٧ckgabe kam, desto wertloser mußte sie in den Händen der französischen Diplomatie sein. Jetzt aber konnte die Rückgabe als große politische Geste genutzt werden, um die Annäherungspolitik fortzusetzen961. Da Briands Auffassimg nach die Zustimmung Deutschlands zur Mobilisierung wenn auch nicht formal, so jedoch faktisch notwendig war962, ließen sich bei einer solchen Aktion also mehrere Probleme gleichzeitig lösen. Poincare ging dagegen davon aus, daß die Zustimmung Deutschlands zur Mobilisierung keineswegs notwendig war, sondern die Zuständigkeit hierfür allein beim Reparationsagenten und den Trustees für die Obligationen lag963. Da er - und die zeitgleich stattfindenden deutsch-belgischen Gespräche über die Rückgabe von Eupen-Malmedy964 dürften sein Mißtrauen diesbezüglich nicht gerade verringert haben - davon ausging, daß Deutschland die Währungsschwierigkeiten Frankreichs und seiner Verbündeten dazu ausnutzen würde, Konzessionen bei der Revision des Versailler Vertrags zu erlangen, kam für ihn ein Entgegenkommen hinsichtlich der Rheinlandbesetzung überhaupt nicht in Frage965. An der Episode um die Mobilisierung wird der Unterschied zwischen der Deutschlandpolitik Poincares und der Briands exemplarisch deutlich: Sie bestand nicht in einem Dissens über die Ziele, sondern in der Methode oder vielleicht besser: des Charakters. Beiden ging es darum, den Frieden zu sichern, und dieser Friede sollte ein französischer Friede auf Grundlage des Versailler Vertrags sein. Poincarö, der Jurist, sah dies nur für möglich an, wenn der Versailler Vertrag sakrosankt blieb; in der kleinsten Abänderung und Abweichung erblickte er bereits eine 960 Siehe Seydoux an Berthelot (19.8.1926), MAE PAAP 261, 36. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 432. 962 Siehe Briand an Poincarö (20.8.1926), MAE 1918-1929zwvutsrqponmlkihgfedcbaWSPNMKI Ζ (Europe) Allemagne, 398. 963 Siehe Poincare an Briand (27.8.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398; Poincar6 an Briand (15.9.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398. 964 Bereits Ende 1924 war es auf belgische Initiative zu Kontakten zwischen Schacht und dem belgischen Wirtschaftsmagnaten Emile Francqui bezüglich der Rückgabe EupenMalmidys an Deutschland im Gegenzug fur deutsche wirtschaftliche Zugeständnisse an Belgien gekommen (siehe Aufzeichnung Ebert [2.12.1924], EBERT, Schriften, Bd. 2, S. 346348; Herbette an Briand [17.8.1926], MAE 1918-1929 Ζ [Europe] Allemagne, 398). Bis zum Sommer 1926 gab es offiziöse Gespräche zwischen Deutschland und Belgien in dieser Frage, bis die belgische Seite die Verhandlungen abbrach (siehe Aufzeichnung Schubert [21.8.1928], ADAP Β 1,2, Nr. 53). Hauptsächlich verantwortlich dafür war die französische Ablehnung (siehe Schubert an die Botschaften London, Paris, Rom und die Gesandtschaft Brüssel [6.8.1926], ADAP Β 1,2, Nr. 15). 965 Siehe Poincard an Briand (19.8.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398. 961 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 349 Gefahr f٧r die gesamte Nachkriegsordnung, weshalb er pedantisch am Buch­ staben des Vertrags festhielt. Briand maß dagegen den Paragraphen wenig Gewicht zu, für ihn zählte der Geist der Vereinbarung. Sollte man den Deutschen doch Zugeständnisse machen, solange das Wesentliche der Versailler Nachkriegsordnung Bestand hatte. Dieses Essentielle war seiner Auffassung nach nicht dadurch zu erreichen, indem man starr auf Rechtsansprüche pochte, sondern indem man Deutschland davon überzeugte, daß in der neuen Friedensordnung auch Chancen und Möglichkeiten lagen. Vertrat Briand in der französischen Deutschlandpolitik also das Prinzip des Zuckerbrots, so schwang Poincare die Peitsche. Beide waren sich jedoch einig darüber, in welche Richtung der Karren gezogen werden sollte. Deshalb fand das ungleiche Gespann Poincare-Briand in den Jahren 1926 bis 1929 außenpolitisch auch leidlich zusammen, wie Berthelot gegenüber Schubert erklärte: »Die Herren Poincarö und Briand ergänzten sich übrigens sehr gut. Sehr oft wollten sie eigentlich dasselbe. Die Schattierung könne er ungefähr folgendermaßen charakterisieren: Herr Briand sage >Ja, aber...<; Herr Poincare sage: >Nein, weil...<«966. Die Ausgangslage für eine »Gesamtregelung« der deutsch-französischen Probleme auf Grundlage eines Geschäftes finanzielle Unterstützung durch Deutschland (durch die Kommerzialisierung der Reparationsanleihen) für begrenzte Zugeständnisse Frankreichs (in Form der frühzeitigen Räumung des Rheinlandes) waren also wie folgt: Die angelsächsischen Mächte waren dagegen. Dies hatte zum einen rein technische Gründe, wie die Befürchtung, die Anleihen nicht auf den Finanzmärkten unterbringen zu können. Darüber hinaus wollten London und Washington verhindern, an Einfluß auf die Politik sowohl Deutschlands als auch Frankreichs zu verlieren. Für eine allzu enge deutsch-französische Zusammenarbeit, vor allem auch auf wirtschaftlichem Gebiet, galt das Diktum Seydoux': »Les Anglais ont une veritable terreur de nous voir nous rapprocher de rAllemagne«967. Allerdings waren nicht nur Engländer und Amerikaner gegen ein solches Tauschgeschäft, auch in Deutschland und in Frankreich selbst gab es unterschiedliche Vorstellungen, wie die Mobilisierung erfolgen sollte: Poincare, aber auch das Finanzministerium und Seydoux, wollten die Deutschen möglichst gar nicht erst fragen und lehnten Zugeständnisse jeglicher Art ab. Auch in Deutschland gab es Skeptiker, wie Staatssekretär Fischer, die bezweifelten, daß eine solche Aktion überhaupt durchfuhrbar, geschweige denn wünschenswert sei. Insofern standen die Chancen für eine »Gesamtregelung« der deutsch-französischen Probleme, wie sie sich Briand und Stresemann vorstellten, von vornherein relativ schlecht. Trotz dieser bescheidenen Erfolgsaussichten trafen sich der deutsche und der französische Außenminister am Rande der Vollversammlung des Völker966 967 Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAPyxuronligfedaVSPNMEA Β Vffl, Nr. 137. Seydoux an Margerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41. 350 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung bunds am 17. September 1926 in dem kleinen Bergdorf Thoiry nahe Genf zu einer Aussprache. Das Treffen ist von beiden Seiten gut dokumentiert968, wo­ bei jedoch die unterschiedlichen Schwerpunksetzungen auffallen: Zunδchst einmal fehlten in den franzφsischen Aufzeichnungen einige Punkte, die in Stresemanns Zusammenfassung erwδhnt werden (wirtschaftliche Kooperation gegen٧ber der Sowjetunion, Lage in England und der Tschechoslowakei969). In den deutschen Aufzeichnungen tauchten jedoch die Versicherungen Stre­ semanns, daß der Anschluß Österreichs kein unmittelbares Problem sei, nicht auf. Die vorzeitige Räumung des Rheinlands wurde in Stresemanns erstem Protokoll und den französischen Notizen nicht explizit erwähnt, sondern in den etwas wolkigen Begriff der »Gesamtlösung« bzw. »solution d'ensemble« gefaßt. Auch hinsichtlich der Einrichtung einer Völkerbundskontrolle zur Überwachung der Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland gibt es unterschiedliche Darstellungen970. Die Unterschiede in den beiden Versionen haben sicherlich verschiedene Ursachen: Wir wissen nicht, wie präzise die Übersetzung Hesnards war, und für die Aufzeichnungen Stresemanns ist bekannt, daß sie aus dem Gedächtnis nach der Unterredung gemacht wurden, es sich also nicht um ein Protokoll im eigentlichen Sinne handelte971. Entscheidend dürften für die unterschiedliche Gewichtung aber zwei Dinge gewesen sein: Die verschiedenen Interessen einerseits und die daraus resultierende abweichende Interpretation des Gesagten andererseits. Für Stresemann beispielsweise war der Anschluß Österreichs kein vorrangiges Revisionsziel972, während diese Frage in Frankreich aufmerksam verfolgt wurde. So erklärt sich, daß sich bei Briand eine diesbezügliche Notiz fand, bei Stresemann nicht. Was waren nun aber die Ergebnisse der Zusammenkunft von Thoiry? Die »Vossische Zeitung« schrieb hierzu: 968 Von französischer Seite liegen zwei Aufzeichnung »Notes sur l'entretien de Thoiry« (ohne Unterschrift) (17.9.1926), MAE 1918-1929zywvutsrponmlihgfedcbaYUTSRPNMLIHFED Ζ (Europe) Allemagne, 398 und »Entretien de Thoiry« aus der Feder Hesnards (undatiert), MAE PAAP 261, 2 vor. Auf deutscher Seite gibt es zwei Aufzeichnungen: Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88 und Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 94. Im veröffentlichen Nachlaß Stresemanns findet sich ein ganzes Kapitel über Thoiry und die Folgen: BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 15-79. Das Gespräch ist außerdem Thema einiger Untersuchungen: Jon JACOBSON, J. T. WALKER, The Impulse for a Franco-German Entente: the Origins of the Thoiry Conference, in: JContH 10 (1975), S. 157-181; Heinz-Otto SLEBURG, Das Gespräch zu Thoiry, in: Ernst SCHULIN (Hg.), Gedenkschrift Martin Göhring. Studien zur Europäischen Geschichte, Wiesbaden 1968, S. 317-337; BARIETY, Finances; POULAIN, Vorgeschichte. 949 In der späteren Aufzeichnung Stresemanns werden diese Punkte nur am Rande erwähnt. 970 Vgl. Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 94; »Notes sur l'entretien de Thoiry« (ohne Unterschrift) (17.9.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398. 971 Siehe ADAP Β 1,2, Nr. 88, Anm. 1. 972 Siehe BARLFITY, Relations franco­allemandes, S. 22f. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 351 1. Fortscheitende Reduzierung der Stδrke derzutsrponmlkihgfedcbaZSRNMKEBA Besatzungstruppen [alle Herv. i.O.], Umgrup­ pierung mit dem Ziel, die Besetzung unsichtbar zu machen. 2. Räumung der 2. und 3. Zone im Jahre 1927. 3. Rückgabe des Saargebiets an Deutschland schon im nδchsten Jahre, und zwar ohne Volksabstimmung. 4. Abschaffung der Militärkontrolle, Aus٧bung der Kontrolle ٧ber Reichswehr und Polizei durch den Vφlkerbund. 5. Kommerzialisierung eines Teils der deutschen Eisenbahn­Obligationen zugunsten Frankreichs. 6. Wohlwollende Neutralität Frankreichs bei der spδteren endg٧ltigen Liquidierung der Frage um Eupen und Maimed Damit waren die Absprachen von Thoiry weitgehend korrekt zusammenge­ faίt. Was in dem Zeitungsartikel jedoch nicht genannt wurde, war, wieviel Deutschland fur die vorzeitige Freigabe von Rheinland und Saargebiet w٧rde zahlen m٧ssen. Die beiden Auίenminister vereinbarten die Mobilisierung von deutschen Reparationsobligationen in Höhe von 1,5 Mrd. GM und den Rückkauf der durch den Versailler Vertrag an den französischen Staat übertragenen Saargruben für weitere 300 Mio. GM. Während in Deutschland bereits am 27. September 1926 der »ThoiryAusschuß« zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, dem Vertreter aus dem AA, der Reichskanzlei sowie dem Wirtschafts- und Finanzministerium angehörten974, unterblieben in Frankreich weitergehende Planungen. Dies lag vor allem an der Ablehnung, auf die der Vorstoß Briands im Kabinett selbst stieß. Zwar bekannten sich Berthelot und Briand weiterhin zur Gesamtregelung, wie sie in Thoiry vereinbart worden war975, Poincare und die Minister Tardieu, Louis Barthou, Bokanowski und vor allem Marin waren jedoch Gegner einer solchen Aktion976. Gegenüber dem Gouverneur der Banque de France, Emile Moreau, erklärte der Ministerpräsident: >Je ne suis pas hostile, en principe, δ 1'evacuation anticipie de la Rhename et de la Sarre, mais j'exigerai que cette φvacuation soit graduelle et qu'elle soit accompagnφe de la mobili­ sation simultanee et complete des obligations Dawes, dont le total s'ileve a 16 milliards de marks­or. Je ne me contenterai pas d'une remise partielle des obligations. En somme, j'entends pratiquer la politique de donnant, dormant [...] Enfin, je n'6vacuerai dφfinitivement la Rhdnanie que lorsque seront terminis les travaux militaires, renforipant la ddfense de notre nouvelle frontifere de l'Est contre une agression allemande<977. Nicht einmal im Quai d'Orsay war das Projekt des Außenministers unumstritten. Seydoux schrieb an den französischen Botschafter in Brüssel, Maurice 973 »Zweite Begegnung Stresemann­Briand. Was tut Pomcard?«, Vossische Zeitung (20.9. 1926). 974 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [27.9.1926], ADAPwvutsrponmlihgfedcbaZWVUS Β 1,2, Nr. 114. 975 Siehe Berthelot an Botschaft Washington (24.9.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Al­ lemagne, 398; Briand an Poincard (24.9.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 399. 976 Siehe »Zweite Begegnung Stresemann­Briand. Was tut Poincar6?«, Vossische Zeitung (20.9.1926); Rieth an Schubert (24.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 109. 977 MOREAU, Souvenirs, S. 111. 352 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Herbette: »Je tache de freiner tant que je peux dans l'affaire des obligations de chemins de fer, mais les gens sont tetus«978. In dieser internen Opposition ge­ gen die Plδne Briands lag auch eine wesentliche Ursache f٧r das Scheitern von Thoiry. In dem Maße, in dem es Frankreich gelang, die Währung aus eigener Kraft zu stabilisieren, rückte der Ratspräsident darüber hinaus auch wieder prinzipiell von der Mobilisierung der Reparationsanleihen ab. War Poincare kurz nach seinem Regierungsantritt durchaus noch für eine Mobilisierung gewesen - allerdings ohne Deutschland dafür irgendwelche Zugeständnisse machen zu wollen - , Schloß er sich nach Thoiry der Meinimg Gilberts an, der sie für verfrüht hielt979. Daß das Mellon-Berenger-Abkommen zur Regelung der französischen Kriegsschulden in den USA noch immer nicht von Frankreich ratifiziert worden war, stärkte Poincares Standpunkt sogar noch: Für die Regierung der Vereinigten Staaten war die Ratifikation die conditio sine qua non für die Mobilisierung. Briand selbst hatte schon frühzeitig erkannt, daß das Projekt von Thoiry mit Poincare nicht zu machen war, und hatte dies auch gegenüber Stresemann mehrmals zu verstehen gegeben980. Der französische Außenminister ging davon aus, daß Poincar6 mit seiner Währungsstabilisierung scheitern würde, dieser dann die Regierung verließe und endlich der Weg frei sein würde für seinen, Briands, eigenen Plan: Gesamtregelung mit Deutschland und Sanierung der französischen Finanzen mit Hilfe der deutschen Zahlungen981. Für den französischen Außenminister war Poincare »nur ein vorübergehender Faktor in französischer Politik«982. Der für Briand unerwartete Erfolg Poincares bei der Franc-Stabilisierung erhöhte jedoch die Stabilität der Regierung Poincare und dessen Gewicht auf die Regierungspolitik983. Wollte nun Briand seinerseits im Kabinett bleiben, mußte er in der Frage der Gesamtregelung zurückrudern und auf den Standpunkt des Ratspräsidenten zugehen. Im einzelnen richtete sich die innerfranzösische Kritik an den Plänen von Thoiry auf folgende Punkte: Die Konzessionen an Deutschland seien zu hoch, besonders die Aufgabe des Transferschutzes und die vorzeitige Freigabe des Rheinlandes, beides Punkte, die in französischen Augen eine wesentliche Garantie für die deutschen Reparationszahlungen waren984. Seydoux machte darauf aufmerksam, daß Frankreich, bevor nicht die volle Dawes-Annuität erreicht sei, kein Interesse an der Revision des Dawes-Plans haben könne (die 978 Seydoux an Heibette (14.10.1926), MAE PAAP 261,41. Siehe Poincard an Briand (22.9.1926), MAE 1918-1929zutsrponmlkihgfecbaWUSRPNMHED Ζ (Europe) Allemagne, 399. 980 Siehe Aufzeichnung Schubert (3.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 73; Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88. 981 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 433. 982 Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88. 983 Siehe Hoesch an AA (5.11.1926), ADAP B, 1,2, Nr. 183. 984 Siehe Ruppel an AA (8.10.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 135. 979 4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 353 Thoiry faktisch bedeutet hδtte)985. Außerdem dürfe eine Revision der Reparationsregelung nur dann erfolgen, wenn auch die Frage der Kriegsschulden neu aufgerollt würde, um zu verhindern, daß Frankreich mehr Schulden zahlen müsse als es an Reparationen erhalte986. Da die Rheinlandbesetzimg darüber hinaus eine Garantie fur die gesamte Reparationssumme bildete, sollte sie nicht fur nur einen kleinen Teil der Mobilisierung geopfert werden987. Bereits mehrfach erwähnte technische Vorbehalte wurden ebenfalls angeführt: die fehlende Aufnahmefähigkeit der internationalen Kapitalmärkte, die lange Vorbereitungszeit, die eine Kommerzialisierung beanspruchen würde und deshalb den französischen Staatsfinanzen keine unmittelbare Linderung bringen würde, und nicht zuletzt die nach wie vor ablehnende Haltung der Regierungen in Washington, London und Rom988. Auch die französischen Militärs, wie Foch, Joffre, Petain und Debeney, lehnten eine vorzeitige Räumung des Rheinlandes ab und machten vor allem Sicherheitsgründe geltend: Erst wenn die Ostgrenzen ausreichend gesichert waren und sich die Lage der osteuropäischen Verbündeten so weit konsolidiert hatte, daß sie effektive Bündnispartner im französischen Sicherheitssystem waren, konnte nach Ansicht der militärischen Führung auf die Besetzung des Rheinlandes verzichtet werden989. In London teilte man die Kritik, welche die französischen Gegner der Thoiry-Absprachen übten. Dies galt sowohl für die technischen Probleme990, aber auch für die Frage nach der Opportunität des Zeitpunktes für eine Mobilisierung. Ebenso wie Frankreich strebte England die Revision des Schuldenabkommens mit den USA an, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht machbar erschien991. Wie Frankreich mußte Großbritannien deshalb ein Interesse daran haben, daß Deutschland die volle Dawes-Annuität bezahlen würde, denn letztlich hing von der Höhe der deutschen Reparationszahlungen die Höhe der Schuldenzahlungen ab992. Ein weiteres Motiv für die englische Zurückhaltung lag darin, daß man nach Thoiry ein weitgehendes Arrangement zwi- 985 Siehe Seydoux an Berthelot (15.10.1926), MAE PAAP 261, 36. Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 470-472. 987 Siehe ibid. S. 472. In Thoiry war davon die Rede gewesen, Reparationsanleihen im Wert von 1,5 Mrd. GM zu mobilisieren. Die Gesamthöhe der Reparationsobligationen betrug jedoch 16 Mrd. GM (WURM, Sicherheitspolitik, S. 418), und die Gesamtsumme der Reparationszahlungen war 1921 auf 132 Mrd. GM festgelegt worden, NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 49. 988 Siehe Seydoux an Berthelot (15.10.1926), MAE PAAP 261, 36. 989 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 475-481. 990 Vgl. Ruppel an AA (25.9.1926), ADAPzyxusrponmlihgfedcaSQPONMFEDA Β 1,2, Nr. 113; Fleuriau an Quai d'Orsay (1.10.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 399. 991 Siehe Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36; Dufour an AA (29.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 120. 992 Siehe Aufzeichnung Massigli [?] (23.10.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 399. 986 354 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung sehen Paris und Berlin bef٧rchtete, das vor allem zu Lasten der britischen Wirtschaftsinteressen hδtte gehen kφnnen993. Die USA waren ebenfalls gegen die Mobilisierung994. Die Ablehnung der Amerikaner war dabei entscheidend: Nur der amerikanische Finanzmarkt war groß genug, die Reparationsanleihen - deren Plazierung außerdem von der Zustimmung des Treasury abhängig war - aufnehmen zu können995. Unmittelbarer Anlaß für die US-Regierung, die Zustimmung zu den Plänen von Thoiry zu verweigern, war vor allem die fehlende Ratifikation des amerikanischfranzösischen Schuldenabkommens durch Paris996. Es spielten aber noch andere Gründe eine Rolle: Auch die USA waren an einem möglichst langen, reibungslosen Funktionieren des Dawes-Plans interessiert, denn je größer die Annuität des Dawes-Plans wurde, desto höhere Zahlungen konnte man langfristig auch von den Kriegsschuldnern erwarten. Außerdem ging in Washington ebenfalls die Furcht davor um, daß Deutschland und Frankreich auf Kosten der USA wirtschaftlich enger kooperieren würden997. Doch auch in Deutschland regte sich Widerstand gegen Thoiry. Die Reichsbank äußerte vor allem Kritik an der Aufgabe des Transferschutzes998, eine Auffassung, die auch von Teilen des AA geteilt wurde999. Schacht war darüber hinaus gegen eine Teilregelung, sondern strebte eine endgültige Regelung des Reparationsproblems an1000. Auch das Reichswirtschaftsministerium äußerte sich kritisch, besonders wegen der notwendigen Zustimmung der übrigen Unterzeichnerstaaten des Dawes-Plans und der USA, die für wenig wahrscheinlich gehalten wurde1001. Aufgrund dieser Konstellation war die »Gesamtregelung«, wie sie in Thoiry besprochen worden war, chancenlos, vor allem weil die USA und Großbritannien sich dagegen ausgesprochen hatten. Es zeigte sich wieder einmal, daß bei den meisten Problemen, die zwischen Berlin und Paris bestanden, kaum etwas ohne die Zustimmung aus London und Washington ging, wie Seydoux richtig analysiert hatte: »Actuellement, et pour un temps que nous ne pouvons encore prevoir, la France, aussi bien que l'Allemagne, sont sous la botte financiere de PAngleterre et de PAmerique. Nous n'y pouvons rien, et nous sommes obliges 993 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.10.1926),zyxutsrponmlihgfedcbaZWUSRPNMLK ΡAAA R, 28260; Seydoux an Mar­ gerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41. 994 Zur grundsätzlichen Haltung der US-Regierung vgl. WANDEL, Reparationsproblem, S. 58-62. 995 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 88. 996 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.10.1926), ΡAAA R, 28260; Ruppel an AA (25.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 113. 997 Siehe Laboulaye an Briand (25.9.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 398. 998 Siehe Schacht und Kauffmann an Curtius (3.11.1926), BArchR 3101,15043. 999 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.11.1926), ΡAAA R, 28261. 1000 Siehe WANDEL, Reparationsproblem, S. 70. 1001 Siehe Aufzeichnung Lautenbach (10.11.1926), BArchR3101,15043. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 355 d'en passer par ce que veulent les Banquiers de Wall Street et de la City«1002. Das Gesprδch von Thoiry und die Umstδnde seines Scheiterns waren insofern von Bedeutung, als es Auskunft ٧ber die Beschrδnkung der Modernisierungs­ mφglichkeiten der Außenpolitik gab. Das Reparationsproblem als einer der wichtigen modernisierungshemmenden Faktoren konnte vor allem aus drei Gründen nicht gelöst werden: Erstens waren, wie dargelegt, sowohl die amerikanische als auch die englische Regierung gegen eine Lösung der Reparations- und Rheinlandfrage auf Grundlage des Gespräches von Thoiry. Diese Ablehnung war zwar nicht prinzipieller Natur, aber das Timing wurde sowohl in Washington als auch in London als inopportun betrachtet. Erst sollten die volle Dawes-Annuität abgewartet und die Schuldenabkommen mit Frankreich ratifiziert werden. Außerdem lehnten die angelsächsischen Mächte Regelungen ab, die ohne sie geschlossen wurden: Hier argwöhnte man, daß es zu einem Arrangement zwischen Deutschland und Frankreich kommen könnte, das nicht nur den englischen und amerikanischen Interessen bei der Rückzahlung der Kriegsschulden schaden, sondern auch zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Kooperation der beiden europäischen Kontinentalmächte zu Lasten von Amerikanern und Briten führen könnte1003. Die zweite Quelle des Widerstandes speiste sich aus wirtschaftlichen Bedenken, wie sie von den Notenbankchefs der USA, Englands und am Ende sogar von Schacht formuliert wurden: Die internationalen Kapitalmärkte schienen nicht aufnahmebereit für die deutschen Reparationsanleihen. Aber nicht nur die Zentralbanken widersetzten sich Thoiry, Widerstand kam auch von seiten anderer Wirtschaftskreise: Bereits auf der Londoner Konferenz von 1924, als der Dawes-Plan verabschiedet wurde, hatte sich die deutsche Industrie vehement dagegen ausgesprochen, politische Ziele gegen wirtschaftliche Zugeständnisse zu erkaufen1004. Außerdem kritisierten die deutschen Wirtschaftsverbände die dauernden Angriffe der DNVP, die seit Anfang 1927 wieder an der Regierung beteiligt war, auf den Dawes-Plan und deren ständige Forderung nach Revision, weil die ständige Unruhe in dieser Frage Wirtschaftsinteressen gefährde1005. Dieser Protest kann so interpretiert werden, daß sich die deutsche Wirtschaft natürlich langfristig nicht gegen eine Änderung des Dawes-Plans, vor allem im Sinne einer Verringerung der Zahlungen, aussprach. Vielmehr sollte zunächst durch eine verläßliche Reparationsregelung 1002 Seydoux an Margerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41. Siehe Peter KRÜGER, Die Ansätze zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Helmut BERDING (Hg.), Wirtschaftliche und politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 10), S. 149-168, hier S. 165. 1004 Siehe Protokoll der 3. Sitzung der Handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924), BArchR 3101, 20458. 1005 Siehe Aufzeichnung Köpke [9.5.1927],RA ΡAAA R, 35583. 1003 356 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage erreicht werden. Erst an­ schließend sollte in aller Ruhe über die Reduzierung der deutschen Verpflichtungen gesprochen werden. Angriffe auf diese Regelung, die sinnlos bleiben mußten, solange die USA und Großbritannien keine Bereitschaft erkennen ließen, zu einer Neuregelung des Reparationsproblems zu kommen, gefährdeten diesen Konsolidierungsprozeß, weil dadurch potentielle ausländische Kreditgeber verunsichert wurden. Auch Stresemann mußte aus dieser Lage die Konsequenzen ziehen und einen Frontalangriff auf den Dawes-Plan zunächst zurückstellen. Nach der erfolgreichen Währungsstabilisierung in Frankreich bestand außerdem dort kein Interesse mehr an einem finanziellen Arrangement mit Deutschland1006. Der dritte wesentliche Grund, der die Umsetzung der Absprachen von Thoiry verhinderte, waren innenpolitische Konstellationen, vor allem in Frankreich. Poincares Einfluß auf die französische Politik war durch die erfolgreiche Währungsstabilisierung enorm gestiegen1007, Briands Einfluß entsprechend gesunken. Zwar war ein Rückfall in eine Politik wie zu Zeiten des Ruhrkampfs unwahrscheinlich, allzu große Impulse für eine weitergehende deutsch-französische Annähung waren aber nicht mehr zu erwarten: Poincare blieb Deutschland gegenüber vorsichtig und mußte überdies ein Kabinett zusammenhalten, in dem Befürworter (Briand) und erbitterte Gegner (Marin) einer deutsch-französischen Annäherung vertreten waren. Auch die französische Öffentlichkeit blieb Deutschland gegenüber mißtrauisch, so daß von dort keine wesentlichen Impulse für eine Annäherung kamen. Aus diesen drei Faktoren ergaben sich für die deutsch-französischen Beziehungen, wie Seydoux richtig analysierte, folgende Konsequenzen1008: Die bilateralen Probleme fanden auf drei Ebenen statt; ein bestimmter Teil der Fragen konnte zwischen Berlin und Paris autonom geregelt werden; andere Fragen konnten von Deutschland und Frankreich im Rahmen des Versailler Vertrags zwar vorbereitet und erörtert, aber nur mit Zustimmung der anderen Mächte, also vor allem England und den USA, gelöst werden; ein dritter Bereich umfaßte die Revision des Versailler Vertrags und machte die Beteiligung der andern Staaten unabdingbar. Die Fragen, die Deutschland und Frankreich allein, ohne Einbindung Dritter, lösen konnten, waren nach Seydoux' Auffassung auf wirtschaftliche Problemstellungen beschränkt und »naturellement les moins importantes«1009. Für ihn kamen dabei vor allem zwei Aspekte in Frage. Die Saarbergwerke, die nach dem Ersten Weltkrieg an Frankreich übertragen worden waren, sollten nach seinen Vorstellungen in internationale Gesellschaften umgewandelt werden, an denen Deutsche und Franzosen, aber auch andere 100i Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. 1007 Z u m f o l g e n d e n vgl. WURM, Sicherheitspolitik, S. 4 8 4 - 4 8 6 , 4 9 3 . 1008 1009 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. Ibid. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 357 er nannte explizit Amerikaner und Italiener ­ beteiligt werden sollten. Da­ durch sollten einerseits franzφsische Wirtschaftsinteressen auch nach der ab­ sehbaren R٧ckgabe des Saargebiets an Deutschland 1935 langfristig gesichert werden, andererseits versprach er sich dadurch eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Eine Δnderung des politischen Status' des Saargebiets, etwa das vorzeitige Ende der Vφlker­ bundsverwaltung und die R٧ckgabe an Deutschland, Schloß er aber ausdrücklich aus. Einen zweiten Bereich der wirtschaftlichen Kooperation sah Seydoux vor allem auf dem Gebiet der Sachlieferungen. Durch die Schaffung gemischter deutsch-französischer Gesellschaften sollte zum einen die französische Infrastruktur ausgebaut1010 und zum anderen das französische Kolonialreich erschlossen werden1011. Der deutsch-französische Handelsvertrag, der zeitgleich verhandelt wurde1012, wurde von Seydoux zwar nicht ausdrücklich genannt, dürfte aber ebenfalls in diesem Zusammenhang von Interesse gewesen sein. Die Wirtschaftskooperation mit Deutschland erfolgte dabei keinesfalls aus altruistischen Motiven, sondern hatte unausgesprochen auch machtpolitische Ziele: Der Ausbau der französischen Infrastruktur und die Erschließung des Kolonialreiches standen durchaus in der Tradition der Überlegungen, die Wirtschaftskraft Frankreichs zu steigern, um dadurch den Vorsprung, den Deutschland nach französischer Auffassung beimutrponliged potentiel de guerre (dabei handelte es sich ja vor allem um wirtschaftliche Faktoren) hatte, zu verringern. Für Frankreich hatte die Wirtschaftskooperation aber noch eine andere Funktion. Paris war der Auffassung, daß die Reichsregierung durch die Wirtschaftskooperation zeigen konnte, wie ernst es ihr tatsächlich mit ihrer Friedenspolitik war1013. Die zweite Ebene der deutsch-französischen Beziehungen - Probleme, die innerhalb des Rahmens des Versailler Vertrags bestanden, aber nicht von Frankreich und Deutschland allein gelöst werden konnten - umfaßte vor allem zwei Bereiche: Den Komplex aus Reparationen und Kriegsschulden einerseits und das Sicherheitsproblem andererseits1014. Thoiry hatte gezeigt, daß ohne Zustimmung der USA und Englands die Reparationsfrage nicht gelöst werden konnte. Für Frankreich bestand das Problem vor allem in der Verbindung zwischen Reparations- und Kriegsschuldenfrage. Paris wollte unbedingt erreichen, daß zwischen Reparations- und Schuldenzahlungen ein positiver Saldo ,01 ° Zu Einzelheiten vgl. Aufzeichnung Seydoux (16.8.1927), MAE PAAP 261,4. Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. Bereits kurz nach der Londoner Konferenz hatte Claudel vorgeschlagen, das ambitiöse Programm des ehemaligen Kolonialministers Albert Sarraut zur Erschließung der französischen Kolonien im Rahmen eines deutsch-französischen Gemeinschaftsprogramms durchzuführen, siehe Aufzeichnung Claudel (13.9.1924), MAE 1918-1929zyxurponmlihgfedcaSPMKEA Ζ (Europe) Allemagne, 388. 1012 Siehe Kap. 4.2.2. 1013 Siehe Aufzeichnung Seydoux (15.6.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 389. 10,4 Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. 1011 358 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung zugunsten Frankreichs von etwa 500 Mio. GM bestand1015. Eine Verringerung der Reparationen war deshalb nur dann mφglich, wenn die USA und Großbritannien ihre Forderungen gegenüber Frankreich verringerten. Eine endgültige Schuldenregelung hing außerdem davon ab, daß der Franc endgültig stabilisiert wurde1016 und Frankreich die Schuldenabkommen mit England und den USA ratifizierte1017. Auch galt es, erst die volle Dawes-Annuität abzuwarten, denn vorher würden Washington und London, wie sich gezeigt hatte, nicht bereit sein, eine Neuregelung des Reparations- und Schuldenproblems anzugehen1018. Die französische Vorstellung für die endgültige Regelung des Schuldenproblems formulierte Seydoux in einem Artikel für die »Revue economique internationale«1019: Streichung der interalliierten Schulden und die Mobilisierung aller Reparationsobligationen in Höhe von 16 Mrd. GM. Nach erfolgter Mobilisierung sollten dann auch die Besatzungstruppen aus dem Rheinland abgezogen werden. Die Mobilisierung der Obligationen würde ausreichen, um die französischen Kosten für den Wiederaufbau zu decken. Allerdings ging es Seydoux nicht nur um die Finanzierung des Wiederaufbaus, sondern auch darum, die finanzielle Handlungsfreiheit gegenüber den USA und vor allem England wiederherzustellen: Derzeit beherrsche England die europäischen Kapitalmärkte und verteidige so »l'hegemonie que le Gouvernement britannique s'est assuree en Europe«1020. Das zweite große Problem, daß es aus französischer Sicht im Rahmen des Versailler Vertrags zu lösen galt, war die Sicherheitsfrage. Seydoux verlangte dabei die Beibehaltung der Interalliierten Militärkontrollkommissionen, bis alle Restpunkte zur Entwaffhungsfrage erledigt waren1021. Nahtlos an die Arbeit der IMKK sollte sich eine Völkerbundskontrolle anschließen, beispielsweise im Rahmen der schon oben dargestellten Commission de constatation et de conciliation1022. Der schwierigste Fragenkomplex umfaßte diejenigen Probleme, die eine Revision des Versailler Vertrags beinhalteten, also vor allem das Problem der 1015 Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. S. auch zum folgenden. Durch die Maßnahmen Poincards in der zweiten Hälfte des Jahres 1926 wurde der Verfall des Franc zwar gestoppt, erst 1928 jedoch wurde der Wert des Franc auf einem Fünftel seines Vorkriegswertes endgültig fixiert; in der Zwischenzeit wurde darüber diskutiert, ob der Franc wieder auf die Vorkriegsparität aufgewertet werden sollte, vgl. SAUVY, Histoire dconomique, Bd. 1, S. 84-96. 10,7 Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. 1018 Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. 1019 Vgl. Jacques SEYDOUX, Le Plan Dawes et la solution de la question des dettes, in: Revue 6conomique internationale, 19. Jg., Bd. 1, Nr. 3 (März 1927), S. 434-456, hier S. 455f. 1020 Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. 1021 Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. 1022 Siehe Kap. 4.1.5. 1016 4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 359 deutschen Ostgrenzen und des Korridors1023. Dies stand nat٧rlich im Gegen­ satz zum franzφsischen Interesse, das ja gerade darauf gerichtet war, die Ver­ sailler Ordnung zu stabilisieren und zu perpetuieren. Entsprechend vorsichtig nahmen sich auch die Vorschlδge Seydoux' zur Lφsung dieses Problems aus: Er schlug vor, daß Polen seine Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland verbessern sollte, um die Konfliktpunkte mit dem Reich zu minimieren. Ansonsten sollte Polen auf Zeit spielen: Da die deutsche Bevölkerung in den ehemals deutschen Gebieten rückläufig war, würde sich das Korridorproblem in Zukunft ganz von alleine lösen. Auch die von Deutschland wiederholt geforderte Rückgabe der Kolonien kam für Frankreich nicht in Frage. Das von der Reichsregierung angeführte Problem der Überbevölkerung sollte durch Auswanderung nach Südamerika und Afrika gelöst werden, ohne daß dadurch jedoch geschlossene deutsche Siedlungskolonien entstehen sollten1024. Faßt man die Ergebnisse von Thoiry und die Überlegungen Seydoux', die sicherlich repräsentativ für einen Großteil der französischen Deutschlandpolitik waren, zusammen, so lassen sich folgende Schlüsse daraus ziehen: Die meisten Probleme, die zwischen Deutschland und Frankreich bestanden, ließen sich nicht bilateral lösen. Vor allem in der Reparations- und Sicherheitsfrage kam es auf die Haltung der USA und Großbritanniens an. Frankreich war außerdem - vor allem nach erfolgter Währungsstabilisierung - nicht geneigt, substantielle Änderungen an der Versailler Ordnung vorzunehmen. Das einzige Feld, das sich zur Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich bot, waren die Wirtschaftsbeziehungen, und auch hier mußte, wegen der finanziellen Abhängigkeit beider Länder von den angelsächsischen Mächten, vorsichtig agiert werden. Im Grunde genommen waren die Möglichkeiten für einen autonomen deutsch-französischen Ausgleich eng begrenzt. Exemplarisch dafür war der Young-Plan. Er wurde durchgesetzt, weil nicht nur Frankreich und Deutschland, sondern vor allem auch Großbritannien und die USA ein Interesse daran hatten. Auch in Deutschland setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, daß die Absprachen von Thoiry nicht realisierbar waren. Als Stresemann Mitte Dezember 1926 im Kabinett über die Tagung des Völkerbundsrates in Genf referierte, machte er seine Abkehr von Thoiry - also einer »Gesamtregelung« auf Basis der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes bei deutscher Zustimmung zur teilweisen Mobilisierung der Reparationsanleihen - deutlich: »Überhaupt 1023 Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7, siehe auch zum folgenden. 1024 Seit Ende des 19. Jahrhunderts war Überbevölkerung kein deutsches Problem mehr, und die deutschen Kolonien vor dem Ersten Weltkrieg wurden auch nie zu einem Auffangbecken für einen vermeintlichen Bevölkerungsüberschuß, siehe Gisela GRAICHEN, Horst GRÜNDER, Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, Berlin 32005, S. 291-293. Die zeitgenössische Wahrnehmung hatte sich also noch nicht von alten Denkmustem gelöst. 360 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung sei von deutscher Seite das Problem der Rδumung mit betonter Gleichg٧ltig­ keit behandelt worden, um nicht durch Behandlung der Rδumungsfrage, bei der positive Ergebnisse doch nicht zu erwarten waren, die vφllige Erledigung der kleineren Fragen (Militδrkontrolle, Investigationen u.s.f.) zu gefδhr­ den«1025. Die Konzentration auf die »Erledigung der kleineren Fragen« ent­ sprach dabei der Politik, die Stresemann bereits vor Thoiry verfolgt hatte, so­ lange zumindest, wie sich Poincare an der Spitze der franzφsischen Regierung w٧rde halten kφnnen1026. In Thoiry waren Stresemann und Briand also an der Lφsung der Reparati­ ons­ und Rheinlandfrage gescheitert, und auch danach war zunδchst nicht dar­ an zu denken, diesen Problemkomplex aus der Welt zu schaffen. Die USA, die zweifelsohne die Schl٧sselposition im Kreislauf aus amerikanischen Krediten, Schulden­ und Reparationszahlungen innehatten, hatten kein Interesse daran, vor den Prδsidentschaftswahlen, die Ende 1928 stattfinden sollten, in dieser Frage aktiv zu werden: »Die Person von Coolidge bildet ein absolutes Hinder­ nis f٧r eine Revision der interalliierten Schulden. Außerdem wird keine der beiden Parteien in den Vereinigten Staaten eine Neuregelung der interalliierten Schulden, d.h. ihre Ermäßigung mit in die Plattform des Wahlkampfs aufnehmen wollen«1027. Auch konnte die deutsche Seite die Revision des DawesPlans nicht von sich aus einleiten, etwa, indem sie eine Transferkrise bewußt herbeiführte. Die gerade erreichte Freigabe des im Krieg beschlagnahmten deutsche Eigentums in den USA würde dadurch ebenso gefährdet wie der Zustrom der dringend benötigten amerikanischen Kredite für die deutsche Wirtschaft1028. Ein deutscher Zahlungsstopp hätte außerdem Poincare dazu verleiten können, auf einer Verlängerung der Besatzungsfristen für das Rheinland zu bestehen, denn die Rheinlandbesetzung diente ja vor allem als Pfand fur die Reparationszahlungen1029. Die deutsche Industrie war ebenso wenig an einer schnellen Revision interessiert. Sie versuchte, die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, die durch die Reparationszahlungen entstanden, zur Durchsetzung ihrer ordnungspolitischen Vorstellungen zu nutzen: Sie forderte vom Staat sparsameres Wirtschaften, weil beide, öffentliche Hand und Privatwirtschaft, auf den ausländischen Kapitalmärkten um Kredite konkurrierten und so die Zinsen hochtrieben1030. Im Grunde genommen ging es der Wirtschaft aber darum, den Einfluß des Staates und die Errungenschaften des Weimarer Sozi- 1025 Ministerbesprechung (15.12.1926), AdRMarx m/IV Bd. l,Nr. 156. Siehe Ministerbesprechung (2.9.1926), AdR Marx m/IV, Nr. 75. 1027 Aufzeichnung Ritter (18.4.1927), ADAPzyxutsrpnmlihgfedcbaVSRNMKIDBA Β V, Nr. 88. 1028 Siehe Kiep an Marx (23.7.1927) AdR Marx ΠΙ/IV Bd. 2, Nr. 280. 1029 Siehe Aufzeichnung Schubert (6.2.1928), ΡAAA R, 30181b. 1030 Siehe Dreyse und Bulling an Marx (27.7.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 260. 1026 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 361 alstaates durch den Hinweis auf die außerordentlichen Belastungen durch die Reparationszahlungen rückgängig zu machen1031. Aufgrund dieser Konstellation konnte der Impuls zur Lösung der Reparationsfrage nur von den USA kommen. In der Tat ging die Initiative zur Revision des Dawes-Plans von Parker Gilbert, dem Reparationsagenten, aus, der die Schlüsselstellung in dem Reparations- und Kriegsschuldensystem der Zwischenkriegszeit einnahm. Bis Ende des Jahres 1927 hatte sich Gilbert gegenüber allen Forderungen, den Modus der Reparationszahlungen zu ändern, gesperrt. Noch in seinem Memorandum vom 20. Oktober 1927 hatte der Reparationsagent die Reichsregierung aufgefordert, das Funktionieren des Dawes-Plans zu gewährleisten und hatte dabei vehement die Ausgabenpolitik der deutschen öffentlichen Haushalte kritisiert1032. Auch allen Versuchen, die deutschen Reparationsanleihen vollständig oder teilweise zu mobilisieren, hatte sich Gilbert bislang verweigert und dies nicht zuletzt damit begründet, daß dadurch eine Revision des Dawes-Plans unvermeidbar würde. Kaum zwei Monate nach seinem Schreiben an die Reichsregierung vollzog der Reparationsagent jedoch eine Kehrtwende: In seinem Jahresbericht über die deutschen Reparationszahlungen vom 10. Dezember 1927 schlug er eine endgültige Reparationsregelung vor, die unter anderem die Aufhebung der Finanzkontrollen und des Transferschutzes vorsah1033. Als Gründe1034 für seine Initiative machte Gilbert das wiederhergestellte Vertrauen in den deutschen Kapitalmarkt geltend, das einen Wegfall der Finanzkontrollen rechtfertige, außerdem befürchtete er beim Erreichen der vollen Dawes-Annuität eine Finanzkrise in Deutschland, die das Reich nutzen könne, sich seiner Reparationsverpflichtungen ganz zu entledigen. Wegen der ungeklärten Höhe der Reparationslast werde außerdem der Kapitalexport nach Deutschland erschwert, der fur die deutsche Wirtschaft jedoch unerläßlich sei. Allerdings nannte der Bericht weder ein konkretes Datum, zu dem der Dawes-Plan durch eine Neuregelung ersetzt werden sollte, noch sprach er ausdrücklich von der Mobilisierung der deutschen Reparationsschuld1035. Auf einer Reise nach Paris im Januar 1928 wurde der Reparationsagent deutlicher. In einem Gespräch mit dem Gouverneur der Banque de France, Moreau, schlug er am 17. Januar 1928 die Mobilisierung der deutschen Reparationsschuld vor, für die Frankreich im Gegenzug das Rheinland vorzeitig freigeben sollte1036. Auch Poincare ließ sich von diesem Vorschlag überzeugen: Mit der Mobilisierung war einer wesentlichen Forderung Frankreichs zur 1031 Siehe Kastl an Pünder (23.11.1927), AdR MarxzyvutsrponmlihgfedcaYVUSRPONMLJIHEDCB ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 350. Siehe Aufzeichnung Vallette (24.10.1927), ADAP Β Vn, Nr. 48. 1033 Siehe Aufzeichnung Vallette (19.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 215. 1034 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 144; HEYDE, Reparationen, S. 36. '03S Siehe Aufzeichnung Vallette (19.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 215 1032 1036 Siehe MOREAU, Souvenirs, S. 475­477. 362 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Garantierung der deutschen Reparationsleistungen gen٧ge getan. Durch die so erreichte Sicherheit bei den Reparationszahlungen kφnnte schließlich auch eine endgültige Regelung der Schuldenfrage erreicht werden, die die Beziehungen Frankreichs zu England ebenso belastete wie die zu den Vereinigten Staaten1037. In einem Gespräch am 18. Januar 19281038 erklärte sich der französische Ministerpräsident grundsätzlich mit dem Plan Gilberts einverstanden, stellte aber drei Bedingungen: Erstens müßten die Verhandlungen im Winter 1928/29 stattfinden, damit der neue Plan vor dem 1. August 1929 in Kraft treten konnte. Ratifizierte Frankreich nämlich bis dahin nicht das Schuldenabkommen mit den USA, mußte es 407 Mio. US-Dollar zusätzlich zahlen, die Washington für nach ihrem Abzug in Frankreich zurückgelassenes Kriegsmaterial verlangte1039. Poincare glaubte aber, das Schuldenabkommen nur dann durch das Parlament bringen zu können, wenn vorher die Reparationsfrage gelöst war. Zweitens forderte er, daß Frankreich mehr an Reparationen erhalten müsse, als es an Schulden zu zahlen hatte, und drittens mußte die Mobilisierung der deutschen Reparationsschuld unbedingt Bestandteil des neuen Planes sein. Auch im Quai d'Orsay war man »direkt begeistert von den Perspektiven, die der Reparationsagent aufzeigte«1040. Berthelot plante eine Gesamtregelung aller Probleme, von den Reparationen bis zu einer Lösung für das Saarland.1041 Im einzelnen sah sein Plan1042 vor, daß nach dem Abzug der Besatzungstrappen die Demilitarisierung des Rheinlandes durch einen Organismus, der in etwa den französischen Vorstellungen zur Commission de constatation et de conciliation entsprach, überwacht werden sollte. Sicherheitspolitisch forderte Frankreich zudem im Zusammenhang mit der angestrebten Gesamtregelung, daß zwischen Deutschland und Polen ein Nichtangriffspakt geschlossen werden sollte. Diese Forderung wurde später abgeschwächt, weil nach dem Abschluß des Kellogg-Briand-Pakts dessen Bestimmungen für ausreichend erachtet wurden1043. Auch sollte Deutschland Garantien gegen einen Anschluß Deutsch-Österreichs geben. Die Reparationen sollten vollständig kommerzialisiert werden, wobei Berthelot davon ausging, daß auch die Kriegsschuldenfrage Teil des Planes werden sollte1044. Die Saargruben sollten an Deutschland zurückverkauft werden, wobei aber die französischen Wirtschaftsinteressen an 1037 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 159. Siehe Etienne WEILL-RAYNAL, Les röparations allemandes et la France, Bd. 3: L'application du plan Dawes, le plan Young et la liquidation des reparations (avril 19231936), Paris 1947, S. 404. 1039 Siehe Aufzeichnung Ritter (21.8.1928), ADAPzutsrponmlihgfedcbaZVSRPNMIEDA Β Di, Nr. 251. 1040 HEYDE, Reparationen, S. 37. 1041 Siehe Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 137. 1042 Zum folgenden siehe Aufzeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7. ,043 Siehe ibid. 1044 Siehe Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 137. 1038 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 363 der Saar ­ vor allem hinsichtlich der Kohlenversorgung ­ gewahrt bleiben mußten. Das Memorandum, das Gilbert am 24. Februar 1928 an die Reparationskommission richtete1045, war ganz darauf ausgerichtet, Frankreich von seinem Vorschlag zu überzeugen: Er betonte, daß Deutschland erst dann eine sparsame Haushaltspolitik an den Tag legen werde, wenn die Endsumme der Reparationen feststehe und es die Verantwortung für den Transfer trage. Durch die Mobilisierung der Reparationsschuld entfalle auch die Problematik der Priorität von Reparations- und Schuldenzahlung, wodurch der amerikanische Kapitalexport nach Europa langfristig gesichert werde. Außerdem sei Frankreich dadurch dauerhaft in die Lage gesetzt, seine Schulden bei den USA zurückzahlen zu können. Die Reichsregierung blieb gegenüber den Aktivitäten des Reparationsagenten zunächst zurückhaltend. Nicht vollständig in die Aktionen Gilberts eingeweiht, erwartete sie nach wie vor, daß sich bis zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nichts Entscheidendes in der Reparationsfrage ergeben würde1046. Zudem ging man immer noch davon aus, daß eine Zunahme der privaten Auslandskredite langfristig zu einer Senkung der Reparationslast fuhren würde: »Je größer unsere private Verschuldung, um so kleiner sind unsere Reparationsveipflichtungen«1047. Allerdings befand sich die Reichsregierung in einem Dilemma1048: Ging die Verschuldung weiter, war dies zwar kurzfristig gut für die Konjunktur, und der zu erwartende Konflikt über die Priorität von Auslandsschulden- und Reparationszahlungen ließ eine Verringerung der Reparationslast erhoffen. Langfristig allerdings hatte diese Politik potentiell verheerende Folgen, denn eine Transferkrise würde zu einem sofortigen Zusammenbruch der deutschen Kreditwürdigkeit im Ausland führen. Ergriff die Reichsregierung aber energische Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und zur Verringerung der Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand, würde dies dauerhaft dazu führen, die Reparationen relativ problemlos zahlen zu können. Dann deren Verringerung durchzusetzen, würde deutlich schwieriger. Außerdem hatte die Drosselung der Staatsausgaben einen dämpfenden Effekt auf die ohnehin nicht allzu gute Wirtschaftslage, mit den entsprechenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. »Das Kabinett fällte daher überhaupt keine Entscheidung und ließ die Verschuldung weiterlaufen«1049. Ein weiteres Problem, das die deutsche Diplomatie umtrieb, war die Sorge, daß die Reparationsgläubiger der vorzeitigen Räumung des Rheinlands erst dann zustimmen würden, wenn die ganze Reparationssumme kommerzialisiert worden ,04S Siehe Memorandum Gilberts f٧r die RepKo (24.2.1928), BdF 140199202/13. Siehe HEYDE, Reparationen, S. 37. ,047 Siehe Aufzeichnung Simon (10.1.1927), ADAPutsrponmlihgfedbaZYVSRNIHED Β IV, Nr. 18. 1048 Zum folgenden siehe HEYDE, Reparationen, S. 38. 1049 Ibid. 1046 364 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung wδre. Schubert forderte, »daß die Rheinlandräumung erfolgt sein müsse, bevor die große Bereinigung der finanziellen Probleme eintrete, da sich sonst ein schauderhafter Kuhhandel entwickeln würde«1050. Denkbar war nach deutscher Ansicht bestenfalls die teilweise Mobilisierung der Reparationsanleihen, um das Rheinland frei zu bekommen, mit einer anschließenden endgültigen Regelung der Reparationen1051. Insgesamt aber versuchte Deutschland, die Rheinlandräumung »völlig getrennt«1052 von der Frage der Revision des Dawes-Plans zu behandeln. Im Grunde genommen trafen in der Rheinland- und Reparationsfrage zwei völlig gegensätzliche Auffassungen aufeinander: Briand argumentierte streng auf Grundlage des Versailler Vertrags daß eine vorzeitige Räumung des besetzten Gebiets nur dann erfolgen könne, wenn Frankreich erstens zusätzliche Sicherheitsgarantien, z.B. durch Überwachungsorgane für die Kontrolle der Demilitarisierungsbestimmungen, erhielte und zweitens die notwendigen Sicherheiten in der Reparationsfrage - also die Kommerzialisierung der Reparationsobligationen - gegeben würden1053. Die deutsche These hingegen war, daß die Räumung der besetzten Gebiete eine notwendige Konsequenz aus der Locarno-Politik sei. Locarno, so die Argumentation, schaffe Sicherheiten genug, ein Festhalten an der Besetzung dagegen bedeute einen schweren Schaden für die Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich1054. Daß die deutsche Vorstellung, Räumung und Reparationen unabhängig voneinander zu behandeln, illusorisch war, zeigte bereits die Rede Poincares in Carcassonne am 1. April 1928: Hier stellte er, vage zwar, einen direkten Zusammenhang zwischen vorzeitiger Freigabe des Rheinlandes und »Gegenleistungen« öffentlich her1055. Auch andere Faktoren, die der deutschen Diplomatie durchaus bekannt waren, ließen erwarten, daß der vor allem von Schubert verfolgte Plan sich kaum würde verwirklichen lassen: Seit Thoiry hatte immer ein Nexus zwischen Reparations- und Rheinlandfrage bestanden. Diese Verknüpfung wieder aufzuheben, war beinahe unmöglich. Großbritannien bot ebenfalls keinen Rückhalt für die deutsche Position: Wegen der noch nicht geklärten politischen Lage in den USA - die Präsidentschaftswahlen standen ja erst im November 1928 an - war es grundsätzlich gegen eine sofortige Änderung des Dawes-Plans1056. Auch die in London befürchtete Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich, falls es zu einer umfassenden Gesamtregelung zwischen Paris und Berlin käme, ließ England 1050 Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAPywvutsrponmlihgfedcbaVTSRPONMLJIHFEDC Β VI, Nr. 76. 1051 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 165f. 1052 Ministerbesprechung (22.8.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 18. 1053 So Briand vor dem Senat am 2.2.1928, teilweise wiedergegeben in: MAE PAAP 217, 13. ,0M Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 150. 1055 Siehe Hoesch an AA (2.4.1928), ADAP Β Vm, Nr. 206. 1056 Siehe Tyrell an Balfour (27.8.1928), DBFP, 1A V, Nr. 139. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 365 in der Frage der Revision des Dawes­Plans zur٧ckhaltend sein1057. Zusammen mit Belgien1058 sprach sich England deswegen f٧r eine Wetterf٧hrung der be­ stehenden Reparationsregelung aus. Daß sich im Zusammenhang mit der Räumung des Rheinlandes also tatsächlich der von Schubert befürchtete »schauderhafte Kuhhandel«1059 entwickeln würde, war also klar, und daß Deutschland für das besetzte Gebiet teuer würde bezahlen müssen, auch: Gilbert war der Meinung, Deutschland könne eine Annuität von 2 Mrd. GM dauerhaft leisten1060, und bereits Ende 1927 hatte Ritter festgestellt, daß eine Aufrollung der interalliierten Schuldenfrage - als Voraussetzung zur Verringerung der Reparationen - nicht zu erwarten sei1061, eine Auffassung, die Stresemann teilte1062. Außerdem dürfte im AA klar gewesen sein, daß Frankreich immer noch einen Überschuß aus den Reparationszahlungen - nach Abzug der Schuldenzahlungen - erzielen wollte, was kaum Spielraum für eine substantielle Senkung der Reparationen ließ. Hoesch warnte deshalb ausdrücklich, nachdem das AA im Sommer 1928 verstärkt auf eine Räumung des Rheinlandes zu drängen begann1063, die Räumungsfrage weiter voranzutreiben: »Seit vielen Monaten bin ich bemüht gewesen, [...] den Beweis zu führen, daß weder die französische öffentliche Meinung noch die französische Regierung für eine Vollräumung ohne Gegenleistung reif sind und daß infolgedessen die Räumung mangels möglicher Gegenleistungen nicht zu erzielen ist«1064. Aber die Reichsregierung blieb bei ihrem Kurs1065. Warum lief die deutsche Diplomatie mit ihrem Beharren auf Räumung ins reparationspolitische Messer? Der Ausgang der Reparationsverhandlungen, wie er sich heute präsentiert, und der seit dem Sommer 1928 vorausgezeichnet war, war, trotz der Mahnungen Hoeschs und anderer, trotz der Positionsbestimmungen Gilberts und Poincares, natürlich nicht so eindeutig vorhersehbar. Dennoch lagen bei der Führung des AA sicherlich einige Fehleinschätzungen vor: Die These, die Rheinlandräumung sei die notwendige Folge von Locarno, hatte außerhalb Deutschlands keine Anhänger, und nichts in diesen Verträgen stellte einen Zusammenhang zwischen dem Inkrafttreten des Rheinpakts und der Räumung her. Der französische Rechtsanspruch dagegen leitete sich aus dem Versailler Vertrag ab, der bezüglich der vorzeitigen Räumung feststellte: 1057 Siehe Aufzeichnung Seydoux (17.8.1928), MAE PAAP 261, 4. Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 271, 37. 1059 Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAPzyxwutsrponmlihgfedcbaXVSRPONMLJIHGEDCBA Β VI, Nr. 76. 1060 Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 261, 37. 1041 Siehe Runderlaß Ritter (27.12.1927), ADAP Β Vü, Nr. 237. 1062 Siehe Runderlaß Stresemann (18.4.1928), ADAP Β VII, Nr. 241. 1043 Am 28.7.1928 forderte Schubert die Botschaften in London, Paris und Rom sowie die Gesandtschaft in Brüssel zu entsprechenden Demarchen auf, siehe Schubert an Sthamer (28.7.1928), ADAP ΒIX, Nr. 194; ibid. Anm. 6. 1064 Hoesch an Schubert (7.8.1928), ADAP Β IX, Nr. 218. 1065 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 175. 1058 366 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiening »Leistet Deutschland vor Ablauf der 15 Jahre allen ihm aus dem gegenwδrti­ gen Vertrage erwachsenden Verpflichtungen Gen٧ge, so werden die Beset­ zungstruppen sofort zur٧ckgezogen«1066. Dadurch waren sowohl die franzφsi­ schen Forderungen nach Kommerzialisierung als auch nach άberwachung der Demilitarisierungs­ und Entwaffhungsbestimmungen abgedeckt1067. Die Reichsregierung gab sich in gewisser Weise dem eigenen Wunschdenken hin, wenn sie die vorzeitige Freigabe der besetzten Gebiete mit dem moralischen Anspruch auf Rδumung nach Locarno begr٧ndete. Wie an anderer Stelle zu sehen war, war diese Argumentation aber bereits unmittelbar nach Locarno, bei der Diskussion um die sogenannten »R٧ckwirkungen«,gescheitert1068. άberhaupt ist zu fragen, weshalb das AA jetzt vehement auf die Rδumung des gesamten Rheinlandes insistierte: Die Rδumung der zweiten, der Koblen­ zer Zone, stand zum 10. Januar 1930 an, die der letzten, der Mainzer Zone (die flächenmäßig allerdings die größte war1069), zum 10. Januar 1935. Warum jetzt, wo das Ende der Besatzungszeit nahte und sich der Charakter der Besetzung erheblich verändert hatte, auf die Räumung drängen, die ohnehin absehbar war? Die Gründe hierfür waren vor allem innenpolitischer Natur. Bereits im Sommer 1927 hatte Schubert gegenüber Schacht erklärt, »daß die Frage der Truppenreduktion leider eine symbolische Bedeutung angenommen habe und daß die Rheinlandräumung deshalb so wichtig [ist], weil sie uns in unserer Politik auf Schritt und Tritt behindere«1070. Wenig später erklärte Reichsjustizminister Hergt (DNVP) gegenüber dem Staatssekretär der Reichskanzlei, Hermann Pünder: Herr Minister Stresemann müsse noch bei irgendeiner Gelegenheit [...] für die Weltöffentlichkeit der deutschen Enttäuschung über die Behandlung der Rheinlandfragen Ausdruck geben. Unter Rheinlandfragen verstehe er sowohl die unzulängliche Truppenherabsetzung als auch die Verzögerung der Räumung. Werde eine solche Erklärung von maßgeblicher deutscher Stelle in Genf abgegeben, so habe er keinen Zweifel, die Deutsch-Nationalen bei der Stange zu halten1071. Mit anderen Worten: Das Verlangen der Reichsregierung auf Räumung des Rheinlandes beruhte auf vor allem innenpolitischen Beweggründen. Insgesamt nahm in Deutschland die Unzufriedenheit mit der Außenpolitik Stresemanns zu1072. Das AA brauchte einen öffentlichkeitswirksamen Erfolg, und die Räu1066 Art. 431 Versailler Vertrag. Poincare selbst betonte diese Auffassung gegenüber Stresemann, siehe Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAPzutsrpnmlihgfedcbaXWVTSRPNKIHGDA Β IX, Nr. 263. 1068 Siehe Kap. 4.1.4. 1069 Vgl. die den ADAP Β 1,1 beigelegte »Karte über die Militärische Besatzung der II. u. m. rheinischen Besatzungszonen« und Art. 429 des Versailler Vertrags. 1070 Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 76. 1071 Aufzeichnung Pünder (15.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 204. 1072 Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 412. 1067 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 367 mung des Rheinlandes bot sich dazu besser an als ein vorsichtiges Taktieren zum Beispiel in der Reparationsfrage. Hier rδchte sich nun, daß man unmittelbar nach Locarno vollmundige Versprechungen gemacht hatte, die die Räumung und andere Probleme gleichsam als gelöst erscheinen ließen1073. Insgesamt ließ sich ein »allgemeinerefs] Aufladen der deutschen Revisionsmentalität während des Sommers 1928«1074 feststellen, was seinen Ausdruck unter anderem darin fand, daß sowohl die DNVP nach der Wahl Hugenbergs zu ihrem neuen Vorsitzenden als auch das Zentrum, wo Ludwig Kaas den ehemaligen Reichskanzler Marx als Parteichef ablöste, deutlich nach rechts ruckten1075. Der Köder »Rheinlandräumung« bewirkte, daß sich Deutschland in der Reparationspolitik in der Defensive fand und nur wenige Möglichkeiten hatte, die Forderungen der Gläubiger, zumal diese sich einig zeigten, abzulehnen. Dem deutschen Volk wäre es sicherlich nur schwer begreifbar zu machen gewesen, wenn die Räumung der besetzten Gebiete an ein paar hundert Millionen mehr oder weniger gescheitert wäre, was natürlich auch die Westmächte wußten. Allerdings bleibt dann auch die Frage zu stellen, ob Deutschland überhaupt eine Chance gehabt hätte, zu einer günstigeren Reparationsregelung zu kommen. Traten nämlich die USA, England und Frankreich in der Reparationsfrage gemeinsam gegenüber Deutschland auf, so mußte Berlin sich praktisch den Forderungen dieser Länder beugen. Zumindest anfangs bestand diese reparationspolitische Einheitsfront jedoch nicht: Als Stresemann anläßlich der Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Pakts in Paris weilte, erklärte Poincare ihm in einem Gespräch hinsichtlich der Reparations- und Schuldenproblematik: Wir haben beide dieselben Interessen und wir müssen deshalb in derselben Richtung vorgehen. In dem Schuldenregelungsabkommen mit den alliierten Gläubigern hat Amerika ohne Ausnahme einen Zeitraum von 62 Jahren für die Regelung vorgesehen. Es ist klar, daß bei endgültiger Festsetzung der Reparationen für Deutschland ebenfalls 62 Jahre festgesetzt werden müssen, wenn Amerika seinerseits seinen interalliierten Schuldnern nicht bessere Bedingungen gibt. Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Zeitraum von 62 Jahren fur Deutschland zuviel ist. Dasselbe gilt für die direkten Schuldner Amerikas1076. Der prekäre Gesundheitszustand Stresemanns verhinderte jedoch eine weitergehende Erörterung des Themas1077. Auch Seydoux hielt die deutsche Reparationsbelastung dauerhaft fur zu hoch1078. Daß Stresemann nicht auf dieses An1073 Vgl. Kap. 4.1.4. Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 36. Eine Begründung fiir dieses »Aufladen« findet sich bei Knipping indessen nicht. 1075 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 230. 1076 Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAPzyxuronihgfedcbSPNMEDA Β Di, Nr. 263. 1077 Siehe ibid. 1078 Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 261, 37. 1074 368 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gebot einging, hatte einen einfachen Grund: Die Deutschen versuchten, die Reparationen letztendlich dadurch zu verringern, daß es zu einem Konflikt zwischen der Rückzahlung der privaten Schulden in Amerika und den Reparationsverpflichtungen kam: Das Kalkül war, daß die USA die Reparationsgläubiger zu einer Verringerung der Reparationsschuld zwingen würden, wenn die Rückzahlung der amerikanischen Kredite durch die Reparationen gefährdet würde1079. In diesem Fall mußte man sich in Berlin natürlich unbedingt das Wohlwollen der Amerikaner erhalten und konnte daher nicht mit Frankreich an einer konzertierten Aktion zur Schuldenreduzierung teilnehmen1080. Frankreich hingegen versuchte, durch eine gemeinsame Front der interalliierten Schuldner und der Reparationsgläubiger (die ja letztlich die interalliierten Kriegsschulden bezahlten), Druck auf die USA auszuüben, ihre Forderungen zu verringern, was Frankreich erlaubt hätte, die Reparationen zu reduzieren. Bestand zwar zwischen Paris und Berlin Einigkeit in dem Ziel, die finanziellen Belastungen zu verringern, waren die Wege dorthin doch gänzlich verschieden. Das deutsche Vorgehen war dabei das unrealistischere: Erholte sich Deutschland wirtschaftlich, würde der Konflikt zwischen Reparationszahlungen und Rückzahlung der Auslandsschulden gar nicht erst akut werden. Kam es jedoch tatsächlich zur Reparationskrise, würde auch der deutsche Auslandskredit zusammenbrechen, was zwar die Reparationszahlungen verringern, aber eine ernste Krise für die deutsche Wirtschaft bedeuten würde. Nach dem Elend der Nachkriegs- und Inflationszeit konnte dies nicht wirklich im deutschen Interesse sein. Bei der Bundesversammlung des Völkerbunds in Genf im September 1928 trafen die deutsche und die französische Position erneut aufeinander. Reichskanzler Müller - Stresemann mußte aus Gesundheitsgründen auf eine Teilnahme verzichten1081 - verlangte in Genf erneut die Räumung des Rheinlands, und zwar ohne Gegenleistungen1082. Briand hingegen forderte für die vorzeitige Freigabe des Rheinlandes die Neuregelung der Reparations- und Schuldenfrage und zusätzliche Sicherheitsgarantien in Form der Commission de constatation et de conciliation1083. Das Abschlußkommunique1084, das die fünf Rheinpaktmächte - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Italien - sowie Japan am 16. September 1928 veröffentlichten, kam sowohl 1079 Siehe Aufzeichnung Simon (10.1.1927), ADAPyxutsrponmlihgedcbaVUTSRPONMLJIHED Β IV, Nr. 18. Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 194. 1081 Siehe Ministerbesprechung (24.8.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 19. 1082 Siehe Sechsmächte-Besprechung (11.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 21. 1083 Siehe Unterredung Müller-Briand (5.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 20; Briand an Poincard (11.9.1928), MAE PAAP 217, 13; Sechsmächte-Besprechung (11.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 21; Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 23; Hoesch an AA (15.9.1928), ΡAAA R, 35585. 1084 Text: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 439f., vgl. auch Sechsmächtebesprechung (16.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 28. 1080 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 369 den deutschen wie auch den franzφsischen W٧nschen entgegen. Es wurden Verhandlungen zur vorzeitigen Rδumung des Rheinlands ebenso angek٧ndigt wie die Einberufung einer Sachverstδndigenkonferenz zur Lφsung der Repara­ tionsfrage. Außerdem wurde Einigkeit »über den Grundsatz der Einsetzung einer Feststellungs- und Vergleichskommission (Kontrollkommission)« festgestellt, jedoch blieb »[d]ie Zusammensetzung, das Funktionieren, der Gegenstand und die Dauer dieser Kommission f...] einer Verhandlung zwischen den Regg.en«1085 vorbehalten. Dem deutschen Standpunkt wurde insofern Genüge getan, daß ein explizites Junktim zwischen Räumung und Reparationsregelung vermieden wurde1086. Faktisch jedoch bestand diese Verknüpfung: Während der Gespräche in Genf hatten Italien, Belgien und Großbritannien die französische Position zur Rheinlandräumung unterstützt1087. Den französischen Wünschen kam außerdem entgegen, daß alle für Paris wichtigen Aspekte, wie die endgültige Reparationsregelung und die CCC, prinzipiell anerkannt wurden. Im Grunde genommen hatte jedoch weder die deutsche noch die französische Position eine grundsätzliche Änderung erfahren: Die Reichsregierung ging nach wie vor von der getrennten Behandlung der Rheinlandräumung und der Reparationsfrage aus1088, die französische Führung dagegen sah durch die Genfer Gespräche faktisch eine Verknüpfung beider Probleme hergestellt1089. Dennoch brachte die Genfer Tagung wichtige Vorentscheidungen hinsichtlich der zukünftigen Reparationsregelung: Der Weg fur eine vollständige Rheinlandräumung und eine endgültige Reparationsregelung war vorgezeichnet, andere Lösungsoptionen (etwa die Teilräumung oder eine provisorische Regelung der Reparationsfrage) waren nicht mehr akut. Auch neue Sicherheitsforderungen, z.B. fiir Polen oder gegen einen Anschluß Österreichs, wurden nicht mehr erhoben. Hier wirkte sich vor allem der Abschluß des BriandKellogg-Pakts positiv aus, der von Frankreich durchaus als reale Sicherheitsgarantie gewertet wurde. Offen geblieben war nach den Sechsmächtegesprächen allerdings, wie die Reparations- und Schuldenregelung konkret aussehen würde. Dies war eine für die Modernisierung der Außenpolitik entscheidende Frage, weil dadurch die Möglichkeiten fur eine Liberalisierung des Weltwirtschaftssystems nachhaltig bestimmt wurden. Käme es zu einer starken Herabsetzung der Schulden- und Reparationszahlungen, würde die Belastungen für die Weltwirtschaft reduziert: Das deutsche Zinsniveau würde sinken, Auslandskredite würden der 1085 Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 440. So sahen es zumindest StS Pitader (Aufzeichnung Pünder [18.9.1928], AdR Müllerzutsrponlkihgedc Π Bd. 1, Nr. 30) und Reichskanzler Müller (Ministerbesprechung [18.9.1928], AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 31). 1087 Siehe Briand an Poincari (11.9.1928), MAE PAAP 217,13. 1088 Siehe Ministerbesprechung (18.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 31. 1089 Siehe Ernst GEIGENMÜLLER, Botschafter von Hoesch und die Räumungsfrage, in: HZ 200 (1965), S. 606-620, hier S. 619. 1086 370 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung deutschen Wirtschaft zugute kommen, das Transferproblem, das die interna­ tionalen Kapitalmδrkte belastete, w٧rde verringert. Blieben die Reparations­ und Schuldenbelastungen jedoch hoch, w٧rde es weitaus schwieriger, die be­ stehenden weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte abzubauen. Das interalliier­ te Schuldenproblem war dabei der Dreh­ und Angelpunkt, denn nur wenn die Schulden reduziert w٧rden, waren Frankreich, aber auch England, bereit, ihre Reparationsanspr٧che zu verringern1090. Der Schl٧ssel zur Lφsung des Repara­ tions­ und Schuldenproblems lag in Washington, und Gilbert sollte dabei die zentrale Rolle spielen. Die wichtigen Eckpunkte des Young­Plans wurden un­ ter entscheidender Einflußnahme des Reparationsagenten bereits vor dem Zusammentritt der Expertenkommissionen festgelegt. Die Reparationsregelung, die er anstrebte, war ganz einfach: Die USA bestanden weiterhin auf der Rückzahlung der englischen und französischen Kriegsschulden, und zwar in unveränderter Höhe. Dies war auch die Position der amerikanischen Regierung und des aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, Herbert Hoover. Der deutsche Botschafter in Washington, Friedrich von Prittwitz und Gaffron, stellte bezüglich der Haltung des zukünftigen amerikanischen Präsidenten fest: Es ist unmöglich, vorherzusagen, welche Haltung Hoover als Präsident in dieser Frage [i.e. das Reparations- und Schuldenproblem, R.B.] einnehmen wird. Aber man wird nicht vergessen dürfen, daß er der Vertreter der Theorie des sogenannten >triangular trade< ist, d.h. der Theorie von der Möglichkeit großer Exportsteigerungen der Schuldnerstaaten nach den wenig industriell entwickelten Rohstoffländern, deren Kaufkraft durch Export ihrer Produkte nach den Gläubigerstaaten hinreichend gehoben werde. Sowohl hinsichtlich des Problems der interalliierten Schulden als auch der Reparationen bildet diese theoretische Einstellung Hoovers und seiner Gefolgsleute eine Belastung, die nicht zu übersehen ist1091. Ähnlich schätze Seydoux die Haltung Hoovers ein1092. Da also eine Schuldenreduzierung durch die USA recht unwahrscheinlich war, mußte eine Reparationsregelung erreicht werden, die sowohl Frankreich als auch Großbritannien so hohe deutsche Zahlungen zusicherte, daß sie zur Deckung der Kriegsschulden in den USA ausreichen würde. Darüber hinaus forderte Frankreich einen Überschuß, um den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete finanzieren zu können. Um beides, Schuldendienst und Wiederaufbau, durch Reparationsleistungen zu decken, mußte die Höhe der Reparationen zwischen 1,5 und 2 Mrd. GM liegen1093. 1090 Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAPzyxurponmlkihgfedcaZSPONMLJEDCBA Β DC, Nr. 118. 1092 Siehe Aufzeichnung Seydoux (17.8.1928), MAE PAAP 261,4. 1093 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 203f. Zur Deckung der französischen Ansprüche wäre eine Annuität von 1,5 Mrd. GM ausreichend gewesen; da Großbritannien aufgrund des Verteilungsschlüssels von Spa einen wesentlich geringeren Anteil der Reparationen erhielt, war zur Befriedigung der englischen Ansprüche eine Annuität von 2 Mrd. GM notwendig - oder eine Änderung des Verteilungsschlüssels. 1091 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 371 Wie gesagt hielt Gilbert 2 Mrd. GM als Gesamtannuitδt durchaus f٧r mφg­ lich1094, Paris und London waren jedoch weiterhin skeptisch. Wie bereits er­ wδhnt, hatte Poincare schon gegen٧ber Stresemann zu erkennen gegeben, daß er die Kriegsschulden für zu hoch hielt und sich deshalb für ein gemeinsames Vorgehen gegenüber den USA ausgesprochen1095. Seydoux hatte bereits 1927 bemerkt, daß England schwer an den 700 Mio. GM, die es jährlich an die USA zahlen mußte, zu tragen habe, und hielt deshalb die Reparationsbelastung des Dawes-Plans für Deutschland dauerhaft für zu hoch1096. In einem Gespräch am 20. September 1928 überzeugte Gilbert jedoch den französischen Ministerpräsidenten, nicht länger auf eine gemeinsame Front der Europäer gegenüber den USA in der Kriegsschuldenfrage zu bauen und seinen Vorschlag anzunehmen1097. Dabei waren die Chancen für ein gemeinsames Vorgehen der Europäer gar nicht so schlecht gewesen, weil Kellogg selbst eine Teilnahme von Amerikanern an der Sachverständigenkonferenz zur Reparationsfrage zunächst abgelehnt hatte1098. Wiederum war es Gilbert, der eine Teilnahme von amerikanischen Experten für wünschenswert hielt1099 und sich offensichtlich durchsetzte. Der Meinungswandel Poincares dürfte dabei verschiedene Ursachen gehabt haben: Durch die Zusagen Gilberts war für Frankreich sichergestellt, daß die deutschen Reparationen über den französischen Schuldenzahlungen liegen würden. Deutschland wollte sich nicht in eine antiamerikanische Position bringen lassen1100, und bereits auf der Genfer Völkerbundstagung hatte der englische Vertreter Lord Cushendun erklärt, daß er fur die Verhandlungen des finanziellen Sachverständigen-Ausschusses über die Reparationsfrage noch insofern Schwierigkeiten vorausgehe], als England auf keinen Fall irgend etwas mitmachen könne, das einem Appell an die Großmütigkeit der Vereinigten Staaten gleichkomme. England wolle nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen lassen, daß es seine Amerika gegenüber eingegangen Verpflichtungen voll und ganz durchzuführen gedenke1101. Zwar wollte London nicht an die »Großmütigkeit« der USA appellieren, weil man dies im Moment für aussichtslos hielt. Allerdings hielt auch die britische Regierung die Schulden und die Reparationen für zu hoch. Die englische Strategie zur Verringerung der finanziellen Belastungen sah vor, solange am Dawes-Plan festzuhalten, bis sich schließlich auch in Washington die Erkenntnis durchsetzte, daß die von den USA geforderten Summen nicht tragbar wa1094 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 216. Β DC, Nr. 263. ® Siehe Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAPzywutsrponmlihgfedcbaYXUSPONLKJEDC 1094 Siehe SEYDOUX, Plan Dawes, S. 453. 1097 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 215. 1098 Siehe Kiep an AA (20.9.1928), ADAP Β X, Nr. 44. 1099 Siehe Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAP Β X, Nr. 53. 1100 Siehe Aufzeichnung Pünder (18.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 30. 1101 Sechsmächtebesprechung (16.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 28. ,0 5 372 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung ren1102. Aber auch in London leistete Gilbert schließlich erfolgreiche Überzeugungsarbeit und Churchill, zu diesem Zeitpunkt Schatzkanzler, stimmte den Plänen des Reparationsagenten zu1103. Dabei ließ sich die britische Regierung nicht nur von der Argumentation Gilberts leiten, daß Deutschland die benötigten 2 Mrd. GM würde zahlen können, sondern auch davon, daß sie wegen der Auseinandersetzung mit den USA in der Flottenfrage unter Druck stand1104. Nachdem Frankreich und Großbritannien vom Plan Gilberts überzeugt waren, ging es noch darum, Deutschland zu gewinnen. Gilbert erklärte gegenüber Schubert, die deutsche Regierung dürfe natürlich nicht mit besonderen Illusionen in die Verhandlungen hineingehen. Sie müsse sich aber klar machen, daß selbst ein teueres Arrangement immer noch billiger sei, als wenn es in absehbarer Zeit zu keinem Arrangement komme; insbesondere müsse vermieden werden, daß ein Arrangement etwa später getroffen werden müsse, zur Zeit eines Niedergangs der deutschen Wirtschaft. Das sei das Gefährlichste für Deutschland1105. Die vom Reparationsagenten anvisierte 2 Mrd. GM-Annuität war in der Tat um ein Fünftel niedriger als die maximale Dawes-Rate. Was deutscherseits aber den Ausschlag dafür gegeben haben dürfte, dieser immer noch sehr ungünstigen Reparationsregelung zuzustimmen, war die Sorge, daß sonst die vorzeitige Räumung des Rheinlandes in Gefahr sei. Der Reparationsplan Gilberts hatte die Probleme auf den jeweils nächsten in der Reihe abgewälzt. Am Ende dieser Kette stand Deutschland, das letztendlich die Zeche zu zahlen hatte. Nachdem es dem Reparationsagenten gelungen war, die Zweifler in Frankreich und Großbritannien zu überzeugen, sah sich Deutschland - allerdings nicht ganz unverschuldet - einer geschlossenen Front der Reparationsgläubiger gegenüber. Da von einer Revision des Dawes-Plans immerhin gewisse Erleichterungen zu erwarten waren und auch die Befreiung des Rheinlands lockte, konnte Deutschland dieses Angebot, so schlecht es reparationspolitisch auch war und so sehr es die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte stabilisierte, kaum ausschlagen. Was letztendlich zu fragen bleibt, ist, warum Gilbert einen solchen Plan überhaupt vorgebracht hat, wo er doch aus eigener Anschauung die deutschen und europäischen Wirtschaftsprobleme und die negativen Auswirkungen der Reparations- und Schuldenzahlungen auf die europäischen Volkswirtschaften kennen mußte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Gilbert ab Ende 1927 den Weg des geringsten Widerstandes ging, um nicht in Konflikt mit der eigenen Regierung zu geraten. Er war außerdem an der schnellen Erle1102 1103 1,04 1105 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 203. Siehe HEYDE, Reparationen, S. 41. Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 217. Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAPrXN Β X, Nr. 53. 4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 373 digung der Reparationsfrage interessiert, weil er bef٧rchtete, durch eine zu lange Abwesenheit aus den USA karrieremäßig »>den Anschluß zu verlieren<«1106. Den endgültigen Durchbruch erlebte der gilbertsche Reparationsplan bei einem Treffen zwischen Poincare und Churchill am 19. Oktober 1928, zu dem gegen Ende auch der Reparationsagent hinzugebeten wurde1107. London und Paris verständigten sich darauf, daß der neue Reparationsplan eine Annuität von etwa 2 Mrd. GM umfassen sollte - also genau die Summe, die benötigt wurde, um sowohl die Ansprüche Großbritanniens wie auch die Frankreichs zu befriedigen, ohne eine Änderung am Verteilungsschlüssel von Spa vornehmen zu müssen. Die einzuberufenden Experten hatten damit nur noch technische Fragen zu klären1108. Frankreich erkannte unterdessen die BalfourErklärung von 1922 an, in der sich England festgelegt hatte, nur Reparationen in Höhe der Kriegsschulden zu verlangen, und sicherte die baldige Ratifizierung des französisch-britischen Schuldenabkommens zu1109. Zu diesem Zeitpunkt war also - und die Ergebnisse der Verhandlungen des Young-Komitees und der Haager Konferenzen bestätigen dies - die Reparationsfrage prinzipiell entschieden: Gilbert hatte seinen Vorschlag durchgedrückt, und der Reichsregierung blieb im Grunde genommen wenig mehr, als sich zu fugen1110. Wie fest die Einheitsfront der deutschen Reparationsgläubiger inzwischen war, zeigte sich auch daran, wie die Frage der Modalitäten, unter denen die Experten eine Reparationslösung erreichen sollten (die sogenanntentsronmfec terms of reference), gelöst wurden. Die Reichsregierung übergab nachdem sich in der Reparationsfrage nach den grundsätzlichen Absprachen von Genf nichts bewegt hatte - den Regierungen in London, Paris, Brüssel, Rom und Tokio am 30. Oktober 19281111 eine »Notiz«1112, in der sie ihre Vorstellungen bezüglich der Sacheverständigenkommission zum Ausdruck brachte: Deutschland forderte die Einbeziehung auch US-amerikanischer Vertreter und die Nominierung unabhängiger Experten (also nicht etwa amtlicher oder halbamtlicher Vertreter). Die deutsche Regierung machte den Vorschlag, daß 1106 Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAPzurnlihgfecXVNIDA Β IX, Nr. 118. Ähnliche Eindrücke schildert auch Stresemann (Runderlaß Stresemann (18.4.1928), AD AP Β Vffl, Nr. 241). 1107 Über das Gespräch gibt es »Notes prises au cours d'une Conversation entre le M. levutsrqonmlihfedca Ρτέ­ sident du Conseil, Ministre des Finances et M. Winston Chancelier, Chancelier de l'Echiquier« (ohne Unterschrift) (19.10.1928), Centre des Archives 6conomiques et finan­ ciers [CAEF], Fonds Tresor, relations multilatörales, Β 48 888. Die Aufzeichnung umfaßt allerdings nur den Teil der Gespräche, zu dem ein Dolmetscher hinzugezogen wurde. 1108 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 47 1109 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 42. 1110 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 206. 1111 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 441f. 1112 In dem erläuternden Erlaß Köpkes wurde besonderer Wert darauf gelegt, daß es sich nicht um ein Memorandum oder eine Note handelt. Erlaß und Text der Notiz: Runderlaß Köpke (27.10.1928), AD AP Β X, Nr. 86. 374 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung die Konferenz in Berlin stattfinden sollte, und sprach sich daf٧r aus, daß gemäß der Genfer Übereinkunft vom 16. September 1928 - eine »>vollständige und endgültige Regelung des Reparationsproblems<«1113 gefunden werden sollte. Für die deutsche Seite war dabei die »Umschreibung der Zuständigkeit, des Aufgabenkreises der Kommission [...] weitaus der wichtigste Punkt«1114. Nur dadurch sah das AA den Erfolg der Expertengespräche gewährleistet. Auch durch die Besetzung der Kommission mit unabhängigen Sachverständigen versprach man sich ein aus deutscher Sichte besseres Ergebnis: »Die Besetzung mit Beamten oder auch mit privaten Sachverständigen, die an Instruktionen gebunden sind, würde bedeuten, daß in Wirklichkeit eine Regierungsoder diplomatische Konferenz stattfindet, deren sämtliche Mitglieder mit gebundenen Marschrouten in die Verhandlungen gehen. Dies würde von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg eröffnen«1115. Die Reichsregierung versprach sich einen weiteren Vorteil von der Einbeziehung amerikanischer Sachverständiger: Allein schon wegen der »beherrschenden Stellung der Vereinigten Staaten auf dem Geldmarkt«1116 war eine Teilnahme der USA wünschenswert, weil dadurch auch die Frage der Mobilisierung gelöst werden konnte. Außerdem konnte dann vielleicht auch das Problem der interalliierten Schulden miterörtert werden, falls dies im Zusammenhang mit den Reparationsverhandlungen nötig würde. Zwar teilte die Reichsregierung den offiziellen Standpunkt der amerikanischen Politik, daß es keinen Zusammenhang von Reparationen und Kriegsschulden gebe, doch war ihr sehr wohl bewußt, daß die USA, »wenngleich sie auch den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet haben, doch mit gewissen Hundertsätzen Nutznießer der Dawes-Annuitäten sind«1117. Die französische Position für die Reparationsverhandlungen1118 bestand darin, daß die neue Regelung die französischen Kriegsschulden und die Kriegsschäden decken müsse. Auch sollten die Experten an die Weisungen der Regierungen gebunden sein und der Auftrag der Kommission sollte - im Sinne der von Gilbert vorgelegten Anregungen1119 - genau definiert werden. Gemäß 1113 Ibid. Siehe auch zum folgenden. Ibid. 11,5 Ibid. 1.16 Ibid. 1.17 Ibid. u " Vgl. Hoesch an AA (14.11.1928), ADAPtsronmihedcaXRPNHA Β X, Nr. 128; Hoesch an AA (16.11.1928), PAAA R, 35587 mit den Auszügen aus einer Rede Poincarös zu den Reparationen vor der Kammer. " " Dietsronmfec terms of reference in der von Gilbert am 5.10.1928 vorgelegten Form lauten: »The fixation of the number and amount of the annuities hereafter to be paid by Germany in complete and definitive liquidation of the indebtness to the Allied and Associated Powers for the costs arising out of the war, the form and terms in which the indebtness shall be expressed and the arrangement by means of which it may be capitalized and commercialized and the adaption of the Expert's plan to the conditions of a final settlement which may be recommended including all such changes in existing arrangements and organizations as may be 1114 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 375 diesertsronmfec terms of reference spielte die Bestimmung der deutschen Zahlungsfδ­ higkeit keine Rolle f٧r die Arbeit der Experten. Die endg٧ltige Reparationsre­ gelung war somit nicht wirtschaftlichen Erwδgungen untergeordnet, sondern nur »des obligations qui resultent des traites et accords existant entre PAllemagne et les puissances creanciers«"20. Das AA hatte sich zwar mit seiner Forderung durchsetzen kφnnen, daß die Experten nicht an Instruktionen ihrer Regierungen gebunden sein dürfen, jedoch wurde diese Bestimmung faktisch dadurch unterlaufen, daß die Sachverständigen durch die jeweiligen Regierungen oder die Reparationskommission benannt wurden1121. Bei den französischen Delegierten wurde besonders deutlich, daß die Unabhängigkeit der Experten nicht allzu groß sein konnte. Der Hauptdelegierte, Emile Moreau, war Gouverneur der Banque de France1122 und zusammen mit Poincare verantwortlich fur die Stabilisierung des Franc gewesen1123. Er war außerdem in der französischen Finanzverwaltung tätig gewesen1124. Der zweite Hauptdelegierte, Jean Parmentier, war ebenfalls Mitglied der Finanzverwaltung1125. Clement Moret als stellvertretendes Mitglied im Young-Komitee war als Directeur du mouvement general des fonds im französischen Finanzministerium direkt Poincare unterstellt, der zu diesem Zeitpunkt nicht nur Ministerpräsident, sondern auch Finanzminister war. Lediglich der zweite stellvertretende Delegierte, Edgar Allix, konnte als Professor an der Sorbonne eine gewisse Unabhängigkeit für sich in Anspruch nehmen1126. Da außerdem die Grundzüge der Reparationsregelung von Gilbert, Poincare und Churchill bereits bei ihrem Treffen im Oktober 1928 festgelegt worden waren, kam den Verhandlungen der Sachverständigen ohnehin nur eine begrenzte Bedeutung zu. Die französische Position vor den Young-Verhandlungen ließ sich wie folgt zusammenfassen1127: Ausgehend von der Bedingung, daß eine Reduzierung der Reparationen nur dann möglich sei, wenn die Kriegsschulden bezahlt werden könnten und darüber hinaus ein ausreichender Überschuß für den Wiederaufbau vorhanden sein müsse, stand im Mittelpunkt der französischen Bemühungen die Kommerzialisierung der deutschen Reparationsschuld. Dadurch found desireable for that purpose«, AD APzxwvutsrponmlkihgfedcbaZXWVUTSRQPNMKIHG Β X, Nr. 60, Anm. 2. Zum weiteren Gang der Diskussion um dietsronmfec terms of reference vgl. Hoesch an AA (17.12.1928), ADAP Β X, Nr. 218. Der Text der endg٧ltigen Vereinbarung findet sich in: Ritter an Botschaft Washington (19.12.1928), ADAP Β X, Nr. 223. 1120 Ritter an Botschaft Washington (19.12.1928), AD AP Β X, Nr. 223. 1121 Siehe ibid. 1122 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, CAEF, Fonds Tresor, relations multi­ lat&ales, Β 48 889. 1123 Ausf٧hrlich: MOREAU, Souvenirs, insbes. Kap. Π bis IV und XVIII. 1124 Siehe ibid. Kap. VI. 1125 Siehe BURNAUD, Qui etes­vous, 1924, S. 587. 1126 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1,187. 1127 Siehe Aufzeichnung Massigli [?] (21.8.1928), MAE PAAP 217, 13. 376 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisienmg sollte einerseits dauerhaft die Sicherung der deutschen Zahlungen erreicht werden, andererseits durch den Wegfall der ­ nach der Mobilisierung nicht mehr notwendigen ­ Kontrollen des Dawes­Plans (Reparationsagent, Trans­ ferschutz, άberwachung von Reichsbank und Reichsbahn) die Entpolitisierung des Reparationsproblems vorangetrieben werden. Davon versprach sich die franzφsische Regierung auch die Stδrkung von Frieden und Sicherheit in Eu­ ropa. In Deutschland war die maßgebliche Persönlichkeit bei den Reparationsverhandlungen Reichsbankpräsident Schacht, der zum deutschen Verhandlungsführer ernannt wurde. Trotz der Warnungen Gilberts und anderer ausländischer Experten, die die destruktive Haltung Schachts fürchteten1128, kam die Reichsregierung schließlich nicht umhin, den Reichsbankpräsidenten mit der Führung der deutschen Delegation zu betrauen. Als Retter der deutschen Währung genoß Schacht beinahe unbegrenztes Ansehen, und der Reichsregierung war daran gelegen, ihn durch seine Teilnahme auf die neue Reparationsregelung zu verpflichten1'29. Auch wurde die Wahl Schachts in der Öffentlichkeit begrüßt1130, während sich Stresemann ansonsten - wegen der wachsenden Ungeduld der Bevölkerung hinsichtlich der immer noch nicht vereinbarten Rheinlandräumung - zunehmend in der Defensive befand1131. Schacht verfolgte bei den Reparationsverhandlungen vor allem drei Ziele1132: Erstens versuchte er, zu einer objektiven Überprüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit zu gelangen, wobei letztere seines Erachtens vor allem - und das war sein zweiter wichtiger Punkt - von der deutschen Wirtschaftsstruktur abhing: Hätte Deutschland zum Beispiel wieder Kolonien oder erhielte es im Weltkrieg verlorene Gebiete zurück, wäre es wirtschaftlich leistungsfähiger und könnte entsprechend höhere Reparationen leisten1133. Drittens - und das war eine Forderung, die sich vor allem an die Reichsregierung wandte - müsse Deutschland eine Wirtschaftspolitik betreiben, die die Aufbringung der Reparationen ermögliche. Der Reichsbankpräsident schätzte allerdings seinen Handlungsspielraum völlig falsch ein1134: Zunächst einmal stand die deutsche Zahlungsfähigkeit überhaupt nicht zur Debatte. Spätestens durch die Festlegung zwischen Poincare und Churchill vom 19. Oktober 1928 hatte dieser Aspekt keine Relevanz mehr für die Sachverständigengespräche. Damit war auch Schachts poli1128 1129 Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 201, 206. Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 444. 1130 Siehe Amos E. SIMPSON, Hjalmar Schacht in Perspective, Den Haag, Paris 1969 (Studies in European History, XVm), S. 29f. 1131 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 232. 1132 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 44. 1133 Siehe Schacht an Stresemann (16.2.1929), ADAPzwutsronmlihgfedbaZXNKIF Β XI, Nr. 75. Zumindest in bezug auf die Kolonien war dies eine Fehlannahme; sie hatten für den deutschen Außenhandel nur eine minimale Bedeutung gehabt, siehe GRAICHEN, Deutsche Kolonien, S. 294f. 1134 Ähnlich argumentiert HEYDE, Reparationen, S. 44f. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 377 tischen Vorstößen, der Rückgabe des Korridors und der Kolonien, ein Riegel vorgeschoben. Einen zweiten großen Irrtum beging Schacht bei seiner Einschätzung der USA. Sie hielt er fur einen potentiellen Verbündeten Deutschlands, deren Interesse hauptsächlich daran gelegen sein mußte, daß die Zahlungsfähigkeit Deutschlands hinsichtlich der amerikanischen Privatkredite gewährleistet blieb1135. Er nahm deshalb an, daß die Vereinigten Staaten ein Interesse an der Verringerung der Reparationslast hatten, und sie deshalb auch ihre Ansprüche gegenüber Frankreich und Großbritannien so senken würden, daß die Reparationsbelastung letztendlich bei ca. 1 Mrd. GM festgelegt würde1136. Die USA gingen aber - wie Gilbert dies mehrfach bekräftigte - von einer deutschen Zahlungsfähigkeit von 2 Mrd. GM aus und dachten deswegen gar nicht daran, ihre Ansprüche gegenüber London und Paris zu verringern. Einen weiteren schweren Fehler beging Schacht bei der Beurteilung des Transferschutzes. In ihm sah Schacht einen wichtigen Vorteil fur die deutsche Seite, den er teuer zu verkaufen gedachte1137. Dabei übersah er, daß der Transferschutz ohnehin nur begrenzten Nutzen hatte: Würde der Transferschutz tatsächlich greifen, würde zwar die Gefahr für die Reichsmark durch den Transfer der Reparationsleistungen gemildert; gleichzeitig würden aber der Strom des Privatkapitals nach Deutschland abrupt zum Abbruch kommen. Nach der vorgesehenen Kommerzialisierung der Reparationsschuld machten auch die anderen Maßnahmen (Überwachung von Reichsbank und Reichsbahn) keinen Sinn mehr, weil dann ebenfalls der ausländische Kapitalstrom nach Deutschland sofort versiegen würde, wenn die Reparationsanleihen nicht mehr bedient würden. Insofern bedeutete die Aufgabe des Transferschutzes kein deutsches »Opfer«, das man in Verhandlungsmasse hätte verwandeln können. Die Verhandlungen des Young-Komitees fanden vom 11. Februar bis 7. Juni 1929 in Paris statt und sind vielfach dokumentiert und beschrieben worden1138, weshalb sie im folgenden nur summarisch dargestellt werden. Jedes der sieben teilnehmenden Länder - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Belgien, Italien und Japan - entsandte jeweils zwei Hauptdelegierte und zwei stellvertretende Mitglieder1139. Viele der Dele1135 Siehe ibid. S. 45. Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 201f. 1137 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 44f. 1138 Dokumentationen: Martin VOGT (Hg.), Die Entstehung des Youngplans dargestellt vom Reichsarchiv 1931-1933, Boppard 1970 (Schriften des Bundesarchivs Bd. 15), insbesondere S. 170-273. Auf französischer Seite liegt eine ausfuhrliche Dokumentation vor in: MAE Relations commerciales, sous-serie B: delibirations internationales, 426-429. Darstellungen: LINK, Stabilisierungspolitik, S. 452-469; HEYDE, Reparationen, S. 35-54; PITTS, France, S. 296-332; Bruce KENT, The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations 1919-1932, Oxford u.a. 21991, S. 287-301. 1139 Die Delegierten (D) und ihre Stellvertreter (St) waren: Deutschland: Hjalmar Schacht (D), Albert Vögler (D), Ludwig Kastl (St, nach dem Rücktritt Vöglers D), Carl Melchior (St); Frankreich:xutronmligedaSPMJEDCA έπύΐε Moreau (D), Jean Parmentier (D), Edgar Allix (St), Cl&nent Moret 1136 378 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung gierten waren bereits Mitglieder des Dawes­Komitees gewesen, wie Owen Young selbst, aber auch Josiah Stamp, Alberto Pirelli, Jean Parmentier und Edgar Allix 1 1 4 0 . Trotz der oberflδchlich betrachteten Δhnlichkeit zwischen Dawes­ und Young­Komitee, gab es einige wichtige Unterschiede: Zum einen wurde beim Young­Plan Deutschland formal gleichberechtigt zu den Verhand­ lungen hinzugezogen, wδhrend es im Dawes­Komitee nicht vertreten gewesen war. Der wichtigste Unterschied bestand jedoch in der Fassung des Auftrages: Wδhrend dietsronmfec terms of reference fur das Young­Komitee sehr eng gefaίt waren und sich ٧berwiegend auf technische Aspekte bezogen, hatte das Dawes­ Komitee einen wesentlich größeren Spielraum gehabt 1141 , zumal wichtige Ergebnisse des Young-Plans durch die Gespräche zwischen Poincare, Churchill und Gilbert schon vorweg genommen waren. Durch die Besetzung der deutschen Delegation wurde die ohnehin nicht besonders erfolgversprechende deutsche Position weiter verschlechtert. Schon vor der Konferenz war dem A A bekannt, daß Schacht auch politische Forderungen, wie z.B. nach Rückgabe der Kolonien und des Korridors, stellen wollte, was in der Wilhelmstraße (St); Großbritannien: Josiah Stamp (D), Lord Revelstoke (i.e. John Baring, D), Sir Charles Addis (St, nach dem Tod Revelstokes D), Sir Basil Blackett (St); USA: Owen D. Young (D, zugleich Vorsitzender der Verhandlungen), J. P. Morgan (D), Thos. Perkins (St), T. W. Lamont (St.); Belgien: Emile Francqui (D), Camille Gutt (D), Baron Terlinden (St), H. Fabri (St); Italien: Alberto Pirelli (D), Fulvio Suvich (D), Guiseppe Bianchini (St), Bruno Dolcette (St); Japan: Aoki Takashi (D), Kengo Mori (D), Suburo Sonoda (St), Yasumune Matsui (St), siehe »Rapport du Comitd des experts constitui en vue de recommander un reglement complet et definitif du problime des reparations (Nouveau Plan, Plan Young)« (7.6.1928), in: G. Fr. MARTENS, Nouveau recueil geniral de traitis et autres actes relatifs aux rapports de droit international. Continuation du grand recueil de G. Fr. Martens par Heinrich Treipel. Troisieme s6rie, tome XXIV, Leipzig 1931, S. 15-72. Der deutsche Text findet sich in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 485-509. Zu den Delegierten und ihren Stellvertretern kam noch weiteres technisches Personal; aus einer Telefonliste ergibt sich eine Zahl von 92 Personen, die dem Young-Komitee angehörten. Fundort dieser Telefonliste (datiert vom 28.2.1929): BArch R 2501, 6713. 1140 Siehe »Rapport du Premier Comite d'experts invites par decision de la commission des riparations, en date du 30 novembre 1923, ä rechercher les moyens d'iquilibrer le budget et les mesureszxvutsrponmlihgfedcbaTSRNMLHGFECA έ prendre pour stabiliser la monnaie de l'Allemagne« (9.4.1924), G. Fr. MAR­ TENS, Nouveau recueil geniral de traitds et autres actes relatifs aux rapports de droit interna­ tional. Continuation du grand recueil de G. Fr. Martens par Heinrich Treipel. Troisieme si­ ne, tome ΧΙΠ, Leipzig 1925, S. 781­809. 1141 So das Selbstverständnis des Dawes-Komitees selbst: »[The Dawes-] Committee bases its plan upon those principles of justice, fairness and mutual interest, in the supremacy of which not only the creditors of Germany and Germany herself, but the world, has a vital and enduring concern. With these principles fixed and accepted in that common good faith which is the foundation of all business, and the best safeguard for universal peace, the recommendations of the Committee must be considered not as inflicting penalties, but as suggesting means for assisting the economic recovery of all the European peoples and the entry upon a new period of happiness and prosperity unmenaced by war«, Dawes an RepKo (9.4.1924), in: Dawes-Plan. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 379 äußerst skeptisch bewertet wurde1142. Der Reichsbankpräsident, im schlechtesten Sinne des Wortes ein unabhängiger Experte, brachte die politischen Fragen dennoch vor, und das AA konnte nur behutsam versuchen, mäßigend auf den etwas primmadonnenhaften Schacht einwirken1143, dem zudem politische Ambitionen - etwa als Reichskanzler oder gar Reichspräsident - unterstellt wurden1144. Als weiteres Handikap fur die deutsche Delegation erwies sich der faktische Riß zwischen den Hauptdelegierten Schacht und Albert Vogler einerseits und den stellvertretenden Delegierten Ludwig Kastl und Carl Melchior andererseits. Schacht und Vogler schätzten die Leistungsfähigkeit Deutschlands eher gering ein und wollten deshalb die Kommerzialisierung der Reparationsschuld möglichst verhindern. Sie hielten vor allem Melchior in dieser Frage für zu optimistisch1145. Es gelang dem AA nicht, Melchior, der nach Ansicht Stresemanns ein »außerordentlich kühler und überlegter Unterhändler« war, der »[i]n manchen Fragen, die Deutschland angehen, [...] die deutschen Interessen außerordentlich wirksam wahrgenommen«1146 hatte, als zweiten Hauptdelegierten für das Young-Komitee durchzusetzen. Vor allem auf Druck der Schwerindustrie mußte die Reichsregierung der Entsendung Vöglers zustimmen1147, obwohl dieser, was internationale Verhandlungen anging, ein Neuling war, und - da es bei den Young-Verhandlungen vielfach um finanz- und banktechnische Fragen ging - als promovierter Ingenieur und Eisenindustrieller1148 nicht unbedingt die geeignetste Besetzung darstellte. Ein weiteres Problem bestand in der schlechten Kommunikation zwischen der deutschen Delegation und dem AA. Zum Teil war dies die Folge davon, daß Frankreich gewissermaßen Heimvorteil genoß: Die Verhandlungen fanden in Paris statt. Allerdings war die französische Regierung durch die täglichen 1142 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [Schubert] (11.1.1929), ADAPzwvutsrponmlkihgfedcbaZXV Β XI, Nr. 14; Auf­ zeichnung Ritter (4.3.1929), ADAP Β XI, Nr. 107. 1143 Ein Beispiel hierfür ist das Schreiben Stresemanns an Schacht (24.2.1929), ADAP Β XI, Nr. 86. Zum Verhältnis zwischen der deutschen Expertenkommission und der Reichsregierung siehe zusammenfassend: Martin VOGT, Letzte Erfolge? Stresemann in den Jahren 1928 und 1929, in: Wolfgang MLCHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 441-465, hier S. 454-^59. 1144 Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.3.1929), MAE PAAP 261, 37. 1145 Siehe Vogler an Stresemann (27.12.1928), ADAP Β X, Nr. 240, Anm. 1. Die Divergen­ zen zwischen Kastl und Melchior einerseits und Schacht und Vogler andererseits wurden besonders anläßlich Schachts Memorandum vom 5.12.1929 deutlich, in dem sich der Reichsbankpräsident von den Ergebnissen der Haager Konferenz und vom Young-Plan distanzierte (Text des Memorandums in AdR Müller Π Bd. 2, Nr. 369). Kastl und Melchior wiesen in einem gemeinsamen Schreiben die Kritik Schachts zurück (Kastl und Melchior an Hilferding (11.12.1929), BArch R 3101, 15051. 1146 Stresemann an Vogler (28.12.1928), ADAP Β X, Nr. 240. 1147 Siehe FritzLIHCBA BLAICH, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979, S. 93f. 1148 Siehe Werner BÜHRER, art. »Vögler, Albert«, in: Wolfgang BENZ, Hermann GRAML (Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 351. 380 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Berichte Morets detailliert ٧ber den Verhandlungsverlauf orientiert1149. Die Berichte Schachts und der anderen Delegierten waren demgegen٧ber sporadi­ scher und summarischer1150. Hoesch hielt sich außerdem mit der Berichterstattung über die Arbeit der deutschen Sacheverständigen zurück, um die »Fortdauer des Vertrauens, das die Herren mir bisher schenken«1151, sicherzustellen. Wie aufgrund der Verhandlungskonstellationen zu erwarten war, waren die Gespräche vor allem vom Gegensatz zwischen Schacht und den Unterhändlern der anderen Mächte geprägt. Die Reparationsgläubiger präsentierten Deutschland Forderungen in Höhe von 2,3 Mrd. GM (ein Minus von 0,2 Mrd. GM zur maximalen Dawes-Annuität). Schacht machte zunächst ein Angebot von 800 Mio. GM und später von 1,2 Mrd. GM, letzteres allerdings unter Beibehaltung des Transferschutzes für einen Teil der Annuität1152. Um die Arbeit zu beschleunigen und um die »Zeit der Monologe«1153 zu beenden, wurden schließlich drei Unterausschüsse gebildet, die sich mit dem Transferschutz, der Kommerzialisierung und den Sachlieferungen befaßten1154. Bis Ende März konnten immerhin die technischen Fragen weitgehend geklärt werden1155: Die deutsche Reparationsschuld sollte in einen geschützten und einen ungeschützten Teil aufgeteilt werden. Geschützt bedeutete in diesem Fall, daß dieser Teil der Reparationen nicht transferiert zu werden brauchte, wenn die deutsche Währung in Gefahr war. Der ungeschützte Teil mußte in jedem Fall überwiesen werden. Auch über die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, die die Rolle des Reparationsagenten übernehmen und die Reparationen an die einzelnen Gläubigerländer verteilen sollte, bestand weitgehend Einigkeit1156. Umstritten waren aber vor allem noch die Höhe der deutschen Zahlungen und die Länge der Laufzeit. Hier klafften die Vorstellungen weit auseinander1157. Eine ernste Verhandlungskrise trat ein, als die deutsche Delegation am 17. April 1929 ein Memorandum vorlegte, in dem sie zwar eine höhere Annui- Diese Berichte finden sich u.a. in: MAE RC B, 426-429. Vgl. den BandzyxwvutsrponmlihgfedcbaXSRPNMKIHEDBA Β XI der ADAP zum Stichwort »Reparationen«. 1151 Hoesch an Schubert, ADAP Β XI, Nr. 85. 1152 Siehe Bericht Schachts über die Sachverständigenkonferenz (12.3.1929), AdR Müller Π Bd. l.Nr. 152. 1153 Bericht Kastls über die Sachverständigenkonferenz (1.3.1929), AdR Müller II Bd. 1, Nr. 139. 1154 Siehe ibid. Anm. 1. 1155 Siehe Bericht Schachts und Vöglers über die Sachverständigenkonferenz (22.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 160. 1156 Siehe Aufzeichnung Seydoux (22.3.1929) MAE PAAP 261,4. 1157 Siehe Bericht Schachts und Vöglers über die Sachverständigenkonferenz (22.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 160, sowie Bericht Kastls und Melchiors über die Sachverständigenverhandlungen (29.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 164. Eine genaue Aufrechnung der Reparationsforderungen der vier europäischen Mächte, der amerikanische Vorschlag und der deutsche Vorschlag finden sich in: Besprechung über Reparationsfragen (17.4.1929), AdR Müller Π Bd. l,Nr. 137. 1150 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 381 tδt von durchschnittlich 1,65 Mrd. GM f٧r mφglich hielt, dieses Angebot aber mit der Forderung verkn٧pfte, Kolonien und das Korridorgebiet zur٧ckzuer­ halten1158. Abgesehen davon, daß das Reparationsangebot der Deutschen immer noch wesentlich niedriger war als die alliierten Forderungen - die europäischen Gläubiger forderten durchschnittlich 2,198 Mrd. GM, ein Kompromißvorschlag Youngs sah 2,109 Mrd. GM vor1159 - , stießen vor allem die politischen Forderungen auf Ablehnung. Zwar hatten die amerikanischen Delegierten inoffiziell eine gewisse Sympathie für die Rückgabe des Korridors und andere politische Wünsche der deutschen Delegation gezeigt1160, bei Engländern und Franzosen stießen diese jedoch - wie dies auch abzusehen war1161 auf erhebliche Widerstände1162. Selbst die amerikanische Regierung kritisierte jetzt die deutschen Forderungen scharf4163. Es war wohl nur der plötzliche Tod des englischen Delegierten Lord Revelstoke, der einen Bruch der Verhandlungen verhinderte, und den Delegationen die Möglichkeit gab, neue Vorschläge zu erarbeiten1164. Das Reichskabinett, das mit der Verhandlungsführung der Sachverständigen unzufrieden war und ein Scheitern der Konferenz verhindern wollte1165, versuchte nun, stärkeren Einfluß auf die Experten auszuüben und diese zu einer kompromißbereiteren Linie zu bewegen1166. Unterdessen nahmen auch die Westmächte den Reichsbankpräsidenten in die Zange, indem sie durch den Abzug von Kapital aus Deutschland den Kurs der Reichsmark unter Druck setzten. Diese Maßnahme wurde offenbar von der Banque de France gesteuert1167. Allerdings wurde sie vom französischen Finanzministerium heftig kritisiert, weil man damit genau 1158 Text des Memorandums: Ruppel an Ritter, Pünder, Schäffer und Dom (18.4.1929), ADAPzwvutsrponmlihgfedcbaXSRPNMKIHFEDCBA Β XI, Nr. 179. 1159 Siehe Besprechung über Reparationsfragen (17.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 137. 1160 Siehe bspw. Schacht an Stresemann (16.2.1929), ADAP Β XI, Nr. 75 oder Bericht Kastls über die Sachverständigenkonferenz (1.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 139. 1161 Bereits vor dem deutschen Memorandum hatte der ehemalige StS im AA, Richard von Kühlmann, einen Brief an den britischen Botschafter in Paris, Sir William Tyrrell, gerichtet, in dem er Ansprüche auf einige ehemalige deutsche Kolonialgebiete und portugiesischen Kolonialbesitz angemeldet hatte (Kühlmann an Tyrrell [19.3.1929], ADAP Β XI, Nr. 129). Bei den Engländern und auch bei der Reichsregierung - die betonte, daß Kühlmann ohne offizielles Mandat gehandelt habe - stieß das Vorhaben Kühlmanns auf Ablehnung (Aufzeichnung Schubert [4.4.1929], ADAP Β XI, Nr. 148; Aufzeichnung Schubert [4.4.1929], ADAP Β XI, Nr. 149). 1,62 Siehe Hoesch an AA (20.4.1929), ADAP Β XI, Nr. 186; Besprechung über Reparationsfragen (19.4.1929) AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 174. 1163 Siehe Prittwitz an AA (20.4.1929), ADAP Β XI, Nr. 185; Prittwitz an AA (29.4.1929), ADAP Β XI, Nr. 203. 1.64 Siehe Aufzeichnung Moret [?] (20.4.1929), MAE RC B, 427. 1.65 Siehe Ministerbesprechung (19.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 175. 1166 Siehe Stresemann an Botschaft Paris (3.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 214. 1167 Siehe Farmer an Poincarf (25.4.1929), MAE RC B, 427. 382 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung »le jeu du Dr. Schacht«1168 spiele, und eine Transferkrise provoziere, die den Deutschen die Argumente f٧r die Verringerung der Reparationslast liefern kφnne. Die Aktion wurde umgehend eingestellt, zumal auch die USA interve­ nierten1169. Der Reichsbankprδsident erklδrte zwar gegen٧ber der Reichsregie­ rung vollmundig, der Angriff auf die deutsche Wδhrung sei »restlos abge­ wehrt«1170, doch schien der Schock bei Schacht tief zu sitzen: Am 4. Mai 1929 erklδrte er sich zur Annahme des amerikanischen Kompromißvorschlags mit Vorbehalten einverstanden1171. Gleichzeitig begannen Schacht und Vogler, sich von den Ergebnissen der Reparationsverhandlungen zu distanzieren: Vogler erklärte am 18. Mai 1929 seinen Rücktritt als Sachverständiger, weil er die Belastungen für untragbar hielt1172. Schacht trat zwar nicht zurück, verlangte aber von der Reichsregierung eine Erklärung, daß er keine Verantwortung für den Young-Plan trage1173. In der letzten Phase der Expertengespräche belastete noch die belgische Markfrage die Verhandlungen. Das Problem ergab sich daraus, daß die deutsche Besetzung während des Ersten Weltkrieges den (durch das Gold der belgischen Nationalbank gedeckten) belgischen Franken beschlagnahmt und durch wertloses Besatzungsgeld ersetzt hatte. Seit dem Ende des Krieges hatte die belgische Regierung bislang vergeblich versucht, eine Entschädigung dafür zu erhalten. Jetzt drohte die belgische Delegation - mit Unterstützung Frankreichs - die Reparationsverhandlungen platzen zu lassen, falls die Markfrage nicht geklärt würde1174. Nachdem auch dieses Problem gelöst werden konnte, wurden die Verhandlungen am 7. Juni 1929 abgeschlossen1175. Der neue Reparationsplan1176 legte fest, daß Deutschland bis zum Jahre 1988 Reparationen zu zahlen hatte, wobei die Annuitäten im Durchschnitt etwa 2 Mrd. GM betrugen. Die Finanzkontrollen wurden aufgehoben und die Sachlieferungen sollten nach 10 Jahren auslaufen. Die Annuität wurde in einen geschützten und einen ungeschützten Teil aufgeteilt. Der ungeschützte Teil, der 1,68 Ibid. Siehe Aufzeichnung Seydoux (29.4.1929), MAE PAAP 261,4. 1170 Besprechung über reparationspolitische Angelegenheiten (29.4.1929), AdR Müllerzyutsrponm Π Bd. 1, Nr. 185. Siehe auch Vermerk Pünder (1.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 189; Be­ sprechung über die Reparationslage (1.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 190. 1171 Siehe Schacht an Müller (4.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 217. 1172 Siehe Aufzeichnung Ritter (22.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 242; Stresemann an die Bot­ schaften in Paris, London, Washington, Rom, Tokio und die Gesandtschaft in Brüssel (23.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 244; Reparationspolitische Besprechung (28.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 203. 1169 1173 1174 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 261f. Siehe Besprechung über die Reparationsverhandlungen (24.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 209; Ministerbesprechung (31.5.1929), AdR Müller Π Bd. l,Nr.214. 1175 Siehe Aufzeichnung Moret [?] (7.6.1929), MAE RC B, 429. 1176 Siehe Young­Plan, zusammenfassend: HEYDE, Reparationen, S. 48; KNIPPING, Locarno­ Ära, S. 48f.; JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 272. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 383 ein knappes Drittel der Gesamtsumme umfaßte, mußte in jedem Fall bezahlt werden, war kommerzialisierbar und wurde durch die Einnahmen der Reichsbahn gedeckt. Dieser Teil der Annuität kam vor allem Frankreich zugute und diente zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden. Die anderen zwei Drittel der Reparationen waren zur Deckung der interalliierten Schulden vorgesehen. Sie waren geschützt in dem Sinne, daß die deutsche Seite diese mit einer Frist von drei Monaten für maximal zwei Jahre aussetzen konnte, falls der deutschen Wirtschaft bzw. der Reichsmark Gefahr drohte. Ein Sonderausschuß sollte im Falle eines Moratoriums die Ursachen der Transferschwierigkeiten ermitteln, und eine Regierungskonferenz sollte anschließend Maßnahmen zur Behebung des Problems erarbeiten. Im Falle eines deutschen Moratoriums sollte Frankreich einen Fonds von 500 Mio. GM bilden, um daraus die Ansprüche der kleineren Reparationsgläubiger zu bedienen. Eine Verknüpfung zwischen Reparationen und Kriegsschulden bestand insofern, als der geschützte Teil der Reparationen sank, wenn die Kriegsschulden reduziert wurden. Die Reichsregierung entschloß sich - obwohl die deutsche Leistungsfähigkeit nicht fur die Festsetzung der Höhe der Reparationen ausschlaggebend gewesen war - am 18. Juni 1929 zur prinzipiellen Annahme des Expertenplanes1177. Ein Motiv dafür war, daß befurchtet wurde, eine Nichtannahme könne zu einer Zahlungskrise fuhren, die durch den damit einhergehenden Abzug ausländischen Kapitals zu einer schweren Wirtschaftskrise mit unabsehbaren sozialen Folgen führen würde1178. Stresemann befürchtete gar, »daß die Russen mit der etwaigen deutschen Ablehnung zweifellos auf eine neue Aktion für die Weltrevolution spekulierten«1179. Ferner gingen einige Kabinettsmitglieder davon aus, daß der Young-Plan nicht das letzte Wort in der Reparationsfrage sei und weitere Reduzierungen möglich würden. Auch der Wegfall der Finanzkontrollen war ein Beweggrund zur Annahme der Expertenpläne. Die Rückgabe des Rheinlandes wurde in der Kabinettssitzung zwar nicht erwähnt, dürfte aber ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben1180. Ebenfalls am 18. Juni billigte der französische Ministerrat den Plan1181. Für die französische Regierung waren vor allem drei Dinge entscheidend gewesen: Die im neuen Reparationsplan festgelegten Annuitäten deckten die Schuldenzahlungen an die USA und Großbritannien und ermöglichten die Finanzierung des Wiederaufbaus1182. In Paris war man, zweitens, der Ansicht, daß durch die 1177 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 49. Zum folgenden siehe Ministerbesprechung (2.5.1929), AdR Müller II Bd. 1, Nr. 192; Π Bd. 1, Nr. 194. Ministerbesprechung (3.5.1929), AdR MülleryutsrponmlihedcbaSONLJIDCBA 1,79 Ibid. 1180 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 267. 1181 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 326. 1178 1182 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 48. 384 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung endg٧ltige Lφsung der Reparationsfrage eines der ganz großen Probleme entfalle, das die deutsch-französischen Beziehungen und den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas belastete1183. Der dritte für Frankreich wesentliche Aspekt war die faktische Verknüpfung der Kriegsschulden mit den Reparationszahlungen1184: Während der ungeschützte Teil der Reparationen den französischen Wiederaufbaukosten entsprach, war der geschützte an die Schuldenrückzahlung gebunden. Sollte Deutschland um ein Moratorium fur die Reparationen nachsuchen, hatte Frankreich die Möglichkeit, seine Schuldenrückzahlung für maximal drei Jahre auszusetzen. Indes überzeugte dieser Zusammenhang die französischen Parlamentarier nicht restlos, wie die Debatten um die Ratifizierung der Schuldenabkommen mit den USA und Großbritannien im Juni und Juli 1928 zeigten. Nachdem der Young-Plan verabschiedet worden war, sah Poincare den Zeitpunkt für gekommen, die beiden Verträge nun endgültig durch das Parlament zu bringen. Die Zeit drängte dabei: Würde das Mellon-Berenger-Abkommen nicht bis zum 1. August 1929 ratifiziert sein, kämen - so sah es das Abkommen vor - zusätzliche Zahlungen in Höhe von etwa 400 Mio. US-Dollar auf Frankreich zu1185. Die ablehnende Haltung zur Ratifizierung speiste sich dabei aus unterschiedlichen Quellen1186: Der YoungPlan war zwar als Grundlage für eine anstehende Regierungskonferenz anerkannt, aber noch keinesfalls verabschiedet; vielen war die etablierte Verknüpfung zwischen Schulden und Reparationen außerdem nicht stark genug; und natürlich spielten auch Fragen des nationalen Prestiges eine Rolle. Nachdem die Amerikaner kategorisch abgelehnt hatten, neu über das Schuldenabkommen zu verhandeln bzw. Vorbehalte bezüglich der Deckung der Schuldenzahlungen durch die Reparationen in den Vertrag aufzunehmen1187, gelang es der Regierung in einem Kraftakt, doch noch die Ratifizierung der Schuldenabkommen durchzusetzen: Die Kammer stimmte am 20. Juli mit knapper Mehrheit zu1188. Der Senat verabschiedete sie am 26. Juli 1929, und am selben Tag demissionierte Poincar6 aus gesundheitlichen Gründen1189. Neue Gefahr für den Young-Plan und die Regierungskonferenz drohte unterdessen aus London: Dort hatten am 30. Mai 1929 Unterhauswahlen stattgefunden, die die Labour Party mit MacDonald erneut an die Regierung gebracht hatten. Neben innenpolitischen Gründen, wie die schlechte Wahlkampagne der 1183 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (13.6.1929), MAE RC B, 430. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (4.6.1929), CAEF, Fonds Trdsor, relations multilaterales,yutsrponmlihecaSRONLJHDCBA Β 48 888. 1185 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 160. 1186 Siehe Hoesch an AA (30.6.1929), BArch R 3101, 14499; Hoesch an AA (22.7.1929), BArch R 3101, 14499 1187 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 327f. 1,88 Zur Ratifizierungsdebatte in der Kammer siehe Hoesch an AA (22.7.1929), BArch R 3101, 14499. 1189 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 329-334. 1184 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 385 Tories und die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit1190, hatte auch die pro­ franzφsische Außenpolitik Chamberlains zur Wahlniederlage der Konservativen beigetragen1191. Zwar vermied der neue englische Außenminister, Arthur Henderson, einen radikalen Politikwechsel, doch wurden Brüche in der Entente deutlich, die faktisch zwischen London und Paris geherrscht hatte, solange Chamberlain Chef des Foreign Office gewesen war. London forderte beispielsweise jetzt wieder die allgemeine Abrüstung und beendete damit die gemeinsame englisch-französische Abrüstungspolitik, wie sie im Kompromiß vom 30. Juli 1928 vereinbart worden war1192. Ungemach deutete sich auch für die gemeinsame Reparationspolitik gegenüber Deutschland an, wie sie von Poincare und Churchill betrieben worden war. Der neue Schatzkanzler Sir Philipp Snowden lehnte den Young-Plan von Anfang an als für England zu nachteilig ab1193. In der Rheinlandfrage gab es ebenfalls Differenzen mit Frankreich: Henderson war zur Räumung des Rheinlands auch ohne Lösung der Reparationsfrage bereit und bei der Commission de constatation et conciliation neigte er eher dem deutschen Standpunkt zu, deren Arbeit bis 1935 zu befristen1194 Nachdem sich nach einigem diplomatischen Hin und Her die Regierungen auf das Konferenzprogramm und auf Den Haag als Tagungsort geeinigt hatten1195, trafen dort vom 6. bis 31. August 1929 die Delegationen Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Belgiens, Italiens und der anderen, kleineren Reparationsgläubiger zusammen, um über die Umsetzung des Young-Plans und die Räumung des Rheinlands zu verhandeln. Gemäß diesen beiden kardinalen Punkten wurden zwei Kommissionen gebildet. Die erste, unter Vorsitz des belgischen Finanzministers Baron Paul Houtart, befaßte sich mit dem Problem der Reparationen, die zweite, unter Vorsitz Hendersons, mit der Rheinlandräumung. Der Verlauf der Konferenz wurde vor allem von der unnachgiebigen Haltung des englischen Schatzkanzlers Snowden geprägt: Dieser forderte einen höheren Anteil seines Landes an den Reparationen und ein möglichst schnelles Ende der Sachlieferungen, die zu Lasten des englischen Exports gingen1196. Mit seinen Forderungen traf er auf den erbitterten Widerstand der Franzosen, so daß sich die Konferenz bald an einem toten Punkt befand1197. Dabei ließ sich der englische Schatzkanzler weder durch die Opposition in den eigenen 1190 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 280. Siehe ibid. S.281. 11,2 Siehe Kap. 4.1.5.; KNIPPING, Locamo-Ära, S. 57. 1193 Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1929), ADAPyutsrponmlihecbaSRPNLHDA Β ΧΠ, Nr. 81. ' 194 Siehe Sthamer an Schubert (8.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 67. 1195 Siehe Hoesch an AA (25.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 123. 1196 SiehefYSONJHEDCBA JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 285; HEYDE, Reparationen, S. 50f. 1197 Siehe P٧nder an AA (10.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 164. 1191 386 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Reihen1198 noch durch die Versuche amerikanischer Banken1199 und der Banque de France, durch den Abzug von Gold aus London das Pfund unter Druck zu setzen1200, beirren, weil er die φffentliche Meinung in England hinter sich wußte1201. Frankreich wiederum sah die englischen Forderungen als völlig überzogen an1202. Die Sackgasse, in der sich die Kommission für Reparationsfragen befand, wirkte sich auch auf die Arbeit der politischen Kommission aus, in der die Frage der Rheinlandräumung an erster Stelle stand. Zwar hatte Henderson erklärt, daß die Engländer in jedem Fall ihre Besatzungstruppen aus dem Rheinland abziehen wollten, selbst wenn die Haager Konferenz scheitern sollte1203. Briand aber hatte, um wiederum Druck auf Snowden und seine unnachgiebige Haltung in der Reparationsfrage auszuüben, erklärt: »Die Räumung sei an den Erfolg der Finanzkommission dieser Konferenz gebunden [...]. Erst dann könne man Endgültiges in der Räumungsfrage sagen«1204. Die deutsche Delegation befand sich dabei in einer unangenehmen Mittellage: Sie hatte das Hauptinteresse am Erfolg der Konferenz, wegen der Verringerung der Reparationslast durch den neuen Plan und wegen der erhofften vorzeitigen Freigabe des Rheinlandes. Allerdings bestand nun die Gefahr, daß England und Frankreich, um die blockierten Verhandlungen wieder in Gang zu bringen, zu einem finanziellen Arrangement kamen, das zu Lasten Deutschlands ging1205. Druckmittel hatte die deutsche Delegation indes nur wenige: Stresemann konnte gegenüber Briand nur betonen, daß ein Scheitern der Konferenz besonders hinsichtlich der Räumung die deutsch-französischen Beziehungen ernstlich gefährde1206. Am 28. August 1929 kam es schließlich zu einer Einigung über die englischen Forderungen: Der Anteil der ungeschützten Annuität wurde zugunsten Englands erhöht, außerdem sollte es den Überschuß erhalten, der durch die immer noch anfallenden höheren Dawes-Zahlungen gegenüber den niedrigeren Young-Plan-Annuitäten auflief*207. Damit waren die englischen Forderungen zu drei Vierteln erfüllt worden1208. Nach der Einigung in der Finanzkommission konnte schließlich auch in der Räumungsfrage ein Ergebnis erzielt 1198 Siehe Sthamer an AA (8.8.1929), ADAPzyvutsrponmlihgfedcbaYUTSQPONMLJIHFEDC Β ΧΠ, Nr. 156. Siehe Margerie an Quai d'Orsay u. Delegation Den Haag (9.8.1929), MAE 1918­1940 Y (Internationale), 39. 1200 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 313. 1201 Siehe Aufzeichnung Schmidt (9.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 158. 1202 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.8.1929), CAEF Fonds Tr6sor, relations multila­ tdrales, Β 48 888. 1203 Siehe ibid. 1204 Aufzeichnung Schmidt (19.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 189, vgl. auch Aufzeichnung Schmidt (21.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 196. 1205 Siehe Aufzeichnung Boden (13.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 169. 1204 Siehe Aufzeichnung Schmidt (21.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 196. 1207 Siehe Pünder an AA (28.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 217. 1208 Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (28.8.1929), MAE 1918­1940 Y (Internationale), 40. 1199 4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 387 werden. Das Rheinland sollte bis zum 30. Juni 1930 vollstδndig gerδumt werden1209. Die deutsche Delegation, die auch eine Lφsung der Saarfrage erreichen wollte, konnte sich mit Frankreich zumindest darauf einigen, daß Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollten1210, die in der Folgezeit jedoch versandeten. Auf der zweiten Haager Konferenz, die vom 3. bis 20. Januar 1930 stattfand, wurden diejenigen Probleme behandelt, die aufgrund des Konfliktes zwischen Snowden und den übrigen Teilnehmern zunächst zurückgestellt worden waren1211. Trotz der langen und schwierigen Verhandlungen war der Young-Plan nicht die erhoffte endgültige Lösung des Reparationsproblems. Heyde stellt dazu fest: »Nicht eines der Probleme, die zur Revision des Dawes-Plans geführt hatten, wurde gelöst«1212. Deutschland hatte zwar eine Verringerung der Annuitäten, die Abschaffung der ausländischen Kontrollen und die vorzeitige Räumung des Rheinlandes erreichen können1213, und Frankreich hatte, wenn auch keinen juristischen, so doch zumindest einen faktischen Zusammenhang zwischen Reparationsforderungen und Schuldenrückzahlung herstellen können1214; der Young-Plan - und nur das war eine Garantie dafür, daß er tatsächlich eine endgültige Lösung des Reparationsproblems darstellte - beruhte aber nicht auf einer realistischen Einschätzung der deutschen Zahlungsfähigkeit oder auf einer genauen Untersuchung des Wirkens des Gesamtkreislaufs von amerikanischen Auslandskrediten, deutschen Reparationen und interalliierten Schulden. Genau wie der Dawes-Plan funktionierte der Young-Plan im Grunde genommen nur auf Pump1215. Die Annuität, auf die man sich letztendlich geeinigt hatte, war politischen Bedingungen geschuldet, nicht wirtschaftlicher Vernunft. Frankreich und England wollten ihre Kriegsschulden gedeckt sehen, und Frankreich zusätzlich einen Überschuß - zur Finanzierung des Wiederaufbaus - sichergestellt haben. Dies geschah in Verkennung bekannter wirtschaftlicher Tatsachen. Die Schuld daran trugen letztlich die USA, die nicht bereit waren, ihre Ansprüche gegenüber Frankreich und Großbritannien zu senken. Parker Gilbert schlug - man muß fast sagen wider besseren Wissens - einen Reparationsplan vor, der mit der Realität nicht viel zu tun hatte: Hatte er in seinen Berichten im Jahr 1927 noch vor der sich verschlechternden Haushaltslage in Deutschland und den Auswirkungen fur die deutsche Zahlungsfähigkeit gewarnt1216, schien ihm die weiterhin rasant zunehmende Verschuldung der öffentlichen Haushal1209 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 343. Siehe Aufzeichnung Schmidt (21.8.1929), ADAPtrponihfedbaYXUSRNIHED Β XU, Nr. 196. 1211 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 53f. 1212 Ibid. S. 48. 1210 1213 1214 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 484-486. Siehe Aufzeichnung Quesnay [?] (12.5.1929), BdF 1450199202/13. 1215 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 49. 1216 Siehe Aufzeichnung Vallette (24.10.1927), ADAP Β ΥΠ, Nr. 48. 388 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung te1217 anschließend keine Sorgen mehr zu bereiten. Gegenüber Poincar6 und Seydoux, die beide Zweifel geäußert hatten1218, ob Deutschland die DawesBelastung langfristig würde tragen können, beteuerte er, daß eine Annuität von 2 Mrd. GM durchaus möglich sei1219. Neben den persönlichen Motiven des Reparationsagenten, der - wie sein Vertrauter Fräser gegenüber Seydoux betonte - noch immer hoffte »bien etre rendu libre en Septembre«1220, dürfte für die Haltung der amerikanischen Delegation bei den Young-Plan-Verhandlungen auch deren Verhältnis zur neuen Hoover-Administration entscheidend gewesen sein: Hoover, der sein Amt am 4. März 19291221 angetreten hatte, hatte von der (ebenfalls republikanischen) Vorgänger-Administration eine Expertendelegation geerbt, mit der er persönlich auf äußerst schlechtem Fuß stand: Weder Morgan noch Young, der sich zudem als möglicher Präsidentschaftskandidat fur die Demokraten positionierte, hatten das Vertrauen des neuen Präsidenten1222. Da außerdem die amerikanische Öffentlichkeit gegen jedwede Zugeständnisse in der Schuldenfrage eingestellt war, die Hoover, selbst wenn er gewollt hätte, kaum hätte durchsetzen können, war der Spielraum der amerikanischen Delegation extrem eingeschränkt1223. Hoover hatte sich darüber hinaus eine ökonomische Theorie zurechtgelegt, die zwar seinen Interessen und seiner Politik gelegen kam - die Rede ist von dem bereits erwähnten »triangular trade«1224 - , doch leider wenig mit den wirtschaftlichen Realitäten zu tun hatte und ernstzunehmende Kritik erfuhr1225. Die Klage Schachts gegenüber der Reichsregierung, daß allein die deutsche Expertendelegation richtige Verhandlungen über die Höhe der Reparationen (und Schulden) hatte fuhren wollen, statt dessen aber mit bereits mehr oder weniger festgelegten Forderungen konfrontiert wurde1226, waren insofern berechtigt, als dem AA durch Gilbert selbst bekannt war, daß eine Reparationsregelung nicht billig würde1227. Man wußte in Berlin ebenfalls über die Haltung Hoovers Bescheid1228 und über das Treffen zwischen Poincare und 1217 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1930, S. 516. Siehe SEYDOUX, Plan Dawes, S. 453; Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAP zyxwvu Β IX, Nr. 263. 1219 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 215. 1220 Aufzeichnung Seydoux (25.4.1929), MAE PAAP 261,4. 1221 Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 428f. 1222 Siehe Aufzeichnung Boyer (2.5.1929), MAE PAAP 261,4. 1223 Siehe ibid.; Aufzeichnung Seydoux (29.4.1929), MAE PAAP 261,4. 1224 Vgl. Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAP Β DC, Nr. 118. 1225 Vgl. z.B. Frank D. GRAHAM, La politique commerciale des Etats­Unis et leur position de criancier internationale, in: Revue 6conomique internationale, Jg. 18, Heft Π, Nr. 3 (Juni 1926), S. 537­546, insbes. S. 545f. 1226 Siehe Schacht an Müller (27.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 184; Müller an Schacht (30.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 188. 1227 Siehe Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAP Β X, Nr. 53. 1228 Siehe Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAP Β DC, Nr. 118. 1218 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 389 Churchill im Oktober 19281229. Allerdings d٧rften auch Schacht diese Tatsa­ chen nicht gδnzlich unbekannt gewesen sein1230. Dietsronmfec terms of reference hδtten sowohl der Reichsregierung als auch der deutschen Delegation Warnung ge­ nug sein m٧ssen, was den Verhandlungsspielraum bei den Pariser Experten­ verhandlungen anging. Die Verhandlungsfehler der deutschen Delegation (be­ sonders das Erheben politischer Forderungen und das Verhalten Schachts) haben die ­ ohnehin schwierige ­ Lage allerdings nicht gerade verbessert. Die deutschen Delegierten gingen naiv in die Verhandlungen, weil sie annahmen, substantielle Verhandlungen fuhren zu kφnnen. Die Reichsregierung dagegen hatte sich einer beinahe defδtistischen Haltung hingegeben: F٧r sie ging es nur noch darum, Schlimmeres ­ zu erwartende Unruhen bei einer nδher r٧ckenden Transferkrise und einem Scheitern der Rheinlandrδumung ­ zu vermeiden. Alles in allem war der Young­Plan also in der Tat keine endg٧ltige Lφsung f٧r das internationale Schulden­ und Reparationsproblem. Inwiefern beeinflußte nun die Reparationsfrage die Modernisierung der Außenpolitik? Sie wirkte auf dreifache Weise modernisierungshemmend: Erstens, die Reparationen verzögerten und verzerrten die wirtschaftliche Erholung Europas, die gemäß des liberalen Modells der Friedenssicherung eine wesentliche Voraussetzung für die friedliche Entwicklung der internationalen Beziehungen darstellte. Zweitens, der andauernde Streit um die Reparationen belastete die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und verzögerte so die Aussöhnung zwischen beiden Ländern. Auch für die innenpolitische Legitimation der verständigungsorientierten Außenpolitik hatte die Reparationspolitik verheerende Wirkung. Ein Beispiel hierfür ist der Zusammenschluß von DNVP, Alldeutschen und Nationalsozialisten am 9. Juli 1929 zum »Reichsausschuß für das Volksbegehren gegen den Young-Plan«1231. Durch den Hickhack um die Höhe der Reparationen bei den Pariser Sachverständigenverhandlungen und die - in deutschen Augen - zu lange Laufzeit des Planes schloß sich die republikfeindliche Rechte zusammen und konnte deutlich an Schlagkraft gewinnen. Es entstand in der Öffentlichkeit zudem der Eindruck, daß das Rheinland eben doch durch einen »Kuhhandel« freigekommen 1229 Siehe Rieth an AA (23.10.1928), ADAPzwutsrponmlihgfedcbaXUSRPNMIHGFDBA Β X, Nr. 79; Aufzeichnung ohne Unterschrift (25.10.1929), ADAP Β X, Nr. 80. 1230 In der Besprechung am 25.10.1929 zwischen Gilbert und Morris einerseits sowie RFM Hilferding und Schacht andererseits über die Besprechungen zwischen Churchill, Poincare und Gilbert selbst hatte der Reparationsagent bezüglich der Höhe der zukünftigen deutschen Belastung erklärt: »No agreement had been reached on the figures, and in the nature of things none could be reached in advance of the work of the Committee [...] At the same time, the Agent general wished to make it clear that each of the Allied Governments principally interested had already defined in rather precise terms its standpoint in principle«, und verwies anschließend auf die Reden Poincares und die Balfour-Erklärung zu den Reparationen (Aufzeichnung ohne Unterschrift [25.10.1929], ADAP Β X, Nr. 80). Aus diesen Hinweisen zu einer ungefähren Summe der Forderung zu kommen, war simple Arithmetik. 1231 Siehe HOUWINKTEN CATE, Schacht, S. 214. 390 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung war, auf Kosten zuk٧nftiger Generationen. Der Erfolg der vorzeitigen Rhein­ landrδumung verpuffte somit weitgehend wirkungslos f٧r die Reichsregierung. Trotz des letztendlichen Scheiterns des Volksbegehrens gegen den Young­ Plan ging die sogenannte »nationale Opposition« gestδrkt aus den Reparati­ onsquerelen hervor1232. Drittens verdeckte die Diskussion um die Reparationen andere wichtige Probleme, die weiterhin zwischen Paris und Berlin bestanden. Ein Beispiel hierf٧r ist die Commission de constatation et conciliation, die bei der Haager Konferenz sang­ und klanglos von der Tagesordnung ver­ schwand1233. Zwar werden »[d]ie Ursachen dieser Kehrtwendung [...] in den Akten nicht recht klar«1234, doch lassen sich einige begr٧ndete Vermutungen dar٧ber anstellen: England und Deutschland lehnten die CCC ab1235, und Bert­ helot und Briand waren auch keine allzu begeisterten Anhδnger dieser Idee1236. Vielleicht gaben sie aufgrund der Aussichtlosigkeit der Forderung und um die durch das Vorgehen Snowdens ohnehin schon angespannte Lage nicht noch weiter zu verschδrfen, ihre Forderungen auf. Zwischen Massigli und Friedberg wurden auf der Haager Konferenz immerhin noch einige Restfragen geklδrt, die die Umsetzung der Entwaffhungsbestimmungen betrafen1237. Letztendlich einigten sich Frankreich, Belgien und Deutschland darauf, daß alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Entwaffhungsbestimmungen auftauchen sollten, durch die im Locarno-Abkommen vorgesehenen Schiedskommissionen geklärt werden sollten1238. Wie Jacobson richtig feststellt, bedeutete diese Regelung aber keinerlei Zuwachs an Sicherheit für Frankreich1239. Man mag zwar darüber streiten, ob die CCC, wie sie ursprünglich von Paul-Boncour und Briand ins Spiel gebracht worden war, überhaupt einen realen Sicherheitsgewinn bedeutet hätte. Nichtsdestotrotz wird am Schicksal der CCC deutlich, daß das weiterhin bestehende Sicherheitsproblem Frankreichs durch die Reparationsverhandlungen in den Hintergrund gedrängt und letztlich nicht gelöst wurde. Trotz der nicht unerheblichen Belastungen, die das Reparations- und Schuldenproblem für die deutsch-französischen Beziehungen im politischen wie ökonomischen Bereich darstellte, kam es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nicht nur auf sicherheitspolitischem Gebiet zu Fortschritten im Sinne einer moderneren Außenpolitik, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Annäherung zwischen Paris und Berlin. Auf bilateraler Ebene war es vor allem der Han1232 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 355. 1233 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 51. KNIPPING, Locarno-Ära, S. 71. Siehe JACOBSON, L o c a m o Diplomacy, S. 297f. 1234 1235 1236 Siehe ibid. S. 299, 322. Siehe französisches Memorandum (15.8.1929), MAE PAAP 217, 13; Aufzeichnung Massigli (16.8.1929), MAE PAAP 217,13. 1238 Text des Abkommens in: Bassie an Quai d'Orsay (30.8.1929), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 40; Pünder an AA (30.8.1929), BArch R 3101, 14501. 1239 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 344. 1237 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 391 delsvertrag von 1927, der die Wirtschaftsbeziehungen beider Lδnder auf eine neue Grundlage stellte. 4.2.2. Die Verbesserung der bilateralen Handelsbeziehungen und der deutsch-französische Handelsvertrag1240 Bis zum 10. Januar 1925 gab es zwischen Deutschland und Frankreich keinen handelspolitischen Regelungsbedarf1241. An diesem Tag liefen die wirtschaft­ lichen Bestimmungen des Teils X des Versailler Vertrags aus, der die Grund­ lage der Handelsbeziehungen nicht nur zwischen beiden Lδndern, sondern zwischen Deutschland und allen Siegermδchten des Ersten Weltkrieges bilde­ te1242. Diese Wirtschaftsklauseln sahen im einzelnen vor: die einseitige Ge­ wδhrung der Meistbeg٧nstigungsklausel zugunsten der Alliierten bzw. Assozi­ ierten, die Einschrδnkung der deutschen Tarifhoheit, die zollfreie Ausfuhr bestimmter Kontingente aus Elsaß-Lothringen, Luxemburg und dem Saargebiet nach Deutschland und die Eingliederung des Saargebiets zum 10. Januar 1925 in das französische Zollgebiet. Frankreich dagegen erhob auf deutsche Waren den höchsten Zolltarif4243. Neben den Bestimmungen des Friedensvertrags hatte natürlich auch die von Frankreich und Deutschland verfolgte Handelspolitik wesentlichen Einfluß auf die Handelsvertragsverhandlungen. Die deutsche Handelspolitik seit dem Ersten Weltkrieg bestand hauptsächlich darin, Handelshemmnisse abzubauen. Sie strebte ein internationales Handelssystem an, das auf dem Prinzip der uneingeschränkten und unbedingten Meistbegünstigung beruhen sollte1244. Dies geschah nicht aus altruistischen Motiven: Deutschland, das nach dem verlorenen Krieg ohne jedes politische oder militärische Druckmittel war, sah in seiner Wirtschaftsmacht einen wichtigen Trumpf zur Revision der Versailler Friedensordnung und zur Wiederherstellung seiner Großmachtstellung1245. 1240 Die Ergebnisse dieses Abschnittes habe ich teilweise schon in meinem Aufsatz »Wirtschaftliches Interesse und politisches Kalkül: Die Entstehung des deutsch-französischen Handelsvertrags vom 17. August 1927« (Francia 29/3 [2002], S. 37-62) dargelegt. Für die vorliegende Arbeit wurde weiteres Quellenmaterial hinzugezogen und der deutschfranzösische Handelsvertrag unter Berücksichtigung der Fragestellung dieser Arbeit bewertet. 1241 Eine Verlängerung der wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags, für die gemäß Artikel 280 die Einstimmigkeit im Völkerbundsrat notwendig war, war aufgrund vor allem der ablehnenden Haltung der britischen Regierung unmöglich, siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift für Dior, AN, F 12, 8865. Vgl. auch MAE PAAP 261, 5. 1242 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, BArch R 3101, 20458. 1243 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.5.1924), ADAP A X, Nr. 70. 1244 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 248. 1245 Siehe Dirk STEGMANN, Deutsche Zoll- und Handelspolitik unter besonderer Berücksichtigung industrieller Interessen, in: Hans MOMMSEN, Dieter PETZINA, Bernd WEISBROD 392 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Allerdings war diese Politik in Deutschland selbst nicht unumstritten: Beson­ ders die Schwerindustrie und die Landwirtschaft bekδmpften einen Abbau der Zollschranken, um die eigenen Interessen zu sch٧tzen1246. Nur die verarbei­ tende Industrie st٧tzte den handelspolitischen Kurs der Reichsregierung. Die Außenhandelspolitik Frankreichs war seit der »loiwvutsrponmkihgfedcaTPNKJ Μέΐϊηβ« vom 11. Ja­ nuar 1892 vorwiegend protektionistisch1247. Nach dem Krieg fuhr Paris in die­ ser Tradition fort und erklärte die totale Zollautonomie als außenwirtschaftliches Ziel1248. Am 23. April 1918 hob das französische Parlament alle bestehenden Handelsverträge auf1249, und am 29. Juli des gleichen Jahres wurde der französische Doppelzolltarif allgemein gültig, d.h. Zollermäßigungen waren nur noch innerhalb der Spanne zwischen dem Höchsttarifxutrnmligfea (tarif general bzw. tarif maximum), und dem Mindesttarif {tarif minimum), möglich. Die Meistbegünstigungsklausel wurde abgeschafft. Am 30. Dezember 1920 wurden weitreichende Importverbote verhängt und die Zölle mehrfach angehoben1250. Allerdings war auch in Frankreich die Handelspolitik nicht unumstritten: Im Gegensatz zum Handels- und Finanzministerium stand man im Quai d'Orsay protektionistischen Maßnahmen ablehnend gegenüber1251. Dort befürchtete man, daß die Beziehungen zu politisch wichtigen Ländern durch Handelshemmnisse gestört und der eigene Handel durch Retorsionszölle Schaden nehmen würde. Auch die französische Landwirtschaft und die französische Schwerindustrie, die nach dem Krieg und der Rückkehr ElsaßLothringens mit großen Überkapazitäten1252 zu kämpfen hatten, standen für eine liberalere Wirtschaftspolitik. (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17. Juni 1973, Düsseldorf 1974, S. 499-513, hier S. 502. 1246 Siehe Ulrich NOCKEN, Das Internationale Stahlkartell und die deutsch-französischen Beziehungen 1924-1926, in: Gustav SCHMIDT (Hg.), Konstellationen internationaler Politik 1924-1932. Politische und wirtschaftliche Faktoren in den Beziehungen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten, Bochum 1983, S. 165-202, hier S. 166. 1247 Siehe Anita H I R S C H , La politique commerciale, in: Alfred SAUVY (Hg.), Histoire dconomique de la France entre les deux guerres, Bd. 4: divers sujets, conclusions et enseignements, bibliographie, Paris 1975, S. 9-48, hier S. 15. 1248 Siehe Pierre GUILLEN, La politique douani£re de la France dans les annies vingt, in: Relations internationales 16 (1978), S. 315-331, hier S. 315f. 1249 Allerdings blieben die bestehenden Abkommen vorläufig in Kraft, so daß z.B. Großbritannien, Belgien, Italien und andere Länder weiterhin die Meistbegünstigung genossen, siehe Döhle an AA (7.7.1924), BArch R 3101, 20458. 1250 Es gab aber Ausnahmen; vgl. undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, Anlage 7, BArch R 3101, 20458. 1251 Zur Haltung des Quai d'Orsay siehe GUILLEN, Politique douanifere, S . 3 1 7 - 3 1 9 ; speziell zu den deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift ( 1 8 . 1 . 1 9 2 5 ) , MAE 1 9 1 8 - 1 9 2 9utsrqponmligedcaYVTRLJIEBA Ζ (Europe) Allemagne, 5 2 4 . 1252 Vgl. Jacques B A R I £ T Y , Les consequences pour l'dconomiesrnifea fran9aise du retour de l'Alsace­Lorraine ä la France, in: Francia 3 (1975), S. 533-553. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 393 Wie in Deutschland hatte in Frankreich die Handelspolitik nicht nur die Aufgabe, wirtschaftliche Interessen zu wahren, sondern auch eine politische Funktion. Interessanterweise gab es dabei Parallelen zu den drei franzφsischen Strategien zur Sicherheitspolitik: Auch in der franzφsischen Außenwirtschaftspolitik gab es die Strategien »Bündnis gegen Deutschland«, »Politik der eigenen Stärke« und »internationale Kooperation«. Die wirtschaftliche Bündnispolitik war während des Krieges vor allem von Handelsminister Etienne Clementel, unter Mitarbeit u.a. des jungen Jean Monnet, formuliert worden. Der Plan Clementels sah eine weitgehende wirtschaftliche Kooperation der alliierten und assoziierten Mächte auch nach Kriegsende vor1253. Die einzelnen Volkswirtschaften und die internationalen Wirtschaftsbeziehungen sollten verstärkt geplant und koordiniert werden. Ziel war letztendlich die Schaffung eines alliierten Wirtschaftsblocks durch die gemeinsame Verwaltung von Rohstoffen und durch ein System von Präferenzzöllen. Dadurch sollte die gleichmäßige Entwicklung der Weltwirtschaft und die Lösung der französischen Rohstoffprobleme erreicht werden, zudem sollte der aggressive deutsche Wirtschaftsexpansionismus eingedämmt und so der Frieden langfristig gesichert werden. Auf der alliierten Wirtschaftskonferenz vom Juni 1916 kam es zu entsprechenden Vereinbarungen über die Nachkriegszusammenarbeit in Wirtschaftsfragen, jedoch ohne die Beteiligung der USA, die noch nicht Kriegsteilnehmer waren. Allerdings war fraglich, ob beispielsweise die britische Zustimmung zu diesen Plänen nicht nur taktischer Natur war, um die Moral der Kriegsallianz aufrechtzuerhalten. Die verstärkten Maßnahmen der Alliierten ab dem Jahr 1917 zur Verbesserung der Rohstoffversorgung und des Transports waren in französischen Augen ideale Voraussetzungen, auf denen die für nach dem Krieg angestrebte wirtschaftliche Kooperation aufgebaut werden konnte. Sie wurde für Frankreich auch zum Modell für die zukünftige Rolle des Völkerbunds in Wirtschaftsfragen. Die Pläne Clementels für eine stärkere verbandsmäßige Organisation der französischen Wirtschaft - die Gründung des Dachverbandes der französischen Produzenten, die Confederation generale de la production franfaise (C.G.P.F.), ging ebenfalls auf seine Initiative zurück - waren ebenso Bestandteil dieses Konzepts1254. Die handelspolitischen Maßnahmen, die Frankreich im Jahr 1918 durchführte (Kündigung aller Handelsverträge, Abschaffung der Meistbegünstigung, Doppelzolltarif) dürfen deshalb nicht nur als Teil eines neuen Protektionismus gesehen werden, sondern als Versuch Frankreichs, die Handelspolitik insgesamt um einen alliierten Wirtschafitsblock zu organisieren. Die hochfliegenden Pläne Clementels scheiterten aber vor allem aus zwei Gründen: Die C.G.P.F. war wegen der stark divergierenden Interessen der darin vertretenen Industrien keine schlagkräftige Organisation, womit die bessere 1253 1254 Zum folgenden siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 1-9. Siehe KUISEL, Capitalisme, S. 128. 394 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Planung der Wirtschaft schon im Innern scheiterte. Wichtiger jedoch war, daß die Amerikaner und Engländer nichts von den weitreichenden französischen Plänen wissen wollten1255. Deutlich wurde dies, als England und die USA im März bzw. Juli 1919 ihre Stützungskredite für den Franc einstellten und es so zu einem ersten Inflationsschub in Frankreich kam1256. Nachdem die alliierte Wirtschaftskooperation schon vor den im Versailler Vertrag vorgesehenen Militärbündnissen zwischen Frankreich und den USA bzw. Großbritannien gescheitert war, gewann die Option, die französische Wirtschaft auf Kosten der deutschen zu stärken, an Bedeutung. Dies wurde einerseits durch die handelspolitische Diskriminierung Deutschlands, wie sie im Teil X des Versailler Vertrags festgeschrieben war, versucht. Andererseits bemühte sich Frankreich - wie Bariety herausgearbeitet hat - durch den »projet siderurgique« des Versailler Vertrags, daß heißt durch die gezielte Stärkung der französischen, belgischen und auch italienischen Schwerindustrie und die Schwächung der deutschen - die wirtschaftlichen Gewichte zugunsten der Siegermächte des Ersten Weltkrieges nachhaltig zu verschieben1257. Eine wesentliche Schwächung der deutschen Schwerindustrie trat jedoch nicht ein, da ihr Zentrum, das Ruhrgebiet, erhalten blieb, und sich Deutschland schnell Ersatz für die verlorengegangenen Rohstoffvorkommen in Lothringen und Oberschlesien besorgen konnte1258. Frankreich hingegen hatte mit Überkapazitäten und einer unzureichenden Rohstoffbasis, vor allem bei Koks, zu kämpfen1259. Auch die Reparationspolitik wurde - nachdem sie anfänglich nur eine untergeordnete Rolle bei den französischen Wirtschaftsplanungen für die Nachkriegszeit gespielt hatte1260 - verstärkt in diese Politik integriert. Genauso wie das Rheinland nach dem Scheitern der Bündnisverträge an sicherheitspolitischer Bedeutung gewann, wurde es jetzt im Hinblick auf die französischen Wirtschaftspläne wichtiger. Im Ruhrkampf wurde dies an der Rolle der M.I.C.U.M. deutlich, die auch der Schwächung des deutschen schwerindustriellen Potentials dienen sollte1261. Daß das Rheinland weder sicherheits- noch wirtschaftspolitisch die erste Option französischer Politik war, wurde übrigens daran deutlich, daß die Besatzungsfristen im Versailler Vertrag zeitlich be1255 Siehe SOUTOU, Problemes, S. 580. Siehe SAUVY (Hg.), Histoire iconomique, Bd. 1, S. 41. 1257 Siehe Bariety, Relations franco-allemandes, S. 13-15. 1258 Siehe ibid. S. 149-151. 1259 Siehe John GlLLINGHAM, Coal and Steel Diplomacy in Interwar Europe, in: Clemens A. Wurm u.a. (Hg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik, Wiesbaden 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 23), S. 83-101, hier S. 84. 1260 Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 18. 1261 Siehe Ulrich NOCKEN, International Cartels and Foreign Policy: The Formation of the International Steel Cartel 1924-1926, in: Clemens A. WlIRM u.a. (Hg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik, Wiesbaden 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 23), S. 33-82, hier S. 37. 1256 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 395 grenzt wurden und nur lose an sicherheitspolitische (wie verbindliche Krite­ rien zur άberwachung der deutschen Entwaffnung und die Kontrolle der De­ militarisierung) bzw. wirtschaftspolitische Bedingungen (wie die endg٧ltige Lφsung der Reparationsfrage) gebunden wurden. Neben diesen beiden Strategien gab es zum Teil parallel dazu άber­ legungen, wichtige wirtschaftspolitische Ziele in Kooperation mit Deutschland zu erreichen. Darunter fallen vor allem die Aktivitδten Millerands, der bereits 1921 den Abschluß eines Handelsvertrags zwischen Deutschland und Frankreich vorgeschlagen hatte1262, oder der Seydoux-Plan und das Wiesbadener Abkommen, die oben bereits ausfuhrlich dargestellt worden sind1263. Allerdings war auch bei diesen Vorstößen den Deutschen von französischer Seite nur eine Juniorpartnerschaft angedacht. Die Revision des Versailler Vertrags und der darin enthaltenen Wirtschaftsbestimmungen war nicht beabsichtigt1264. Wie bei den sicherheitspolitischen Vorstößen Frankreichs im Völkerbund beispielsweise dem Sicherheitsprojekt Requins und dem Genfer Protokoll1265 konnte auch bei diesen Wirtschaftsprojekten keine Rede von einer gleichberechtigten Einbeziehung Deutschlands sein. Insofern waren auch sie - im Sinne der hier gebrauchten Definition - nur bedingt modern, moderner aber immerhin als der »projet siderurgique« und die Pläne zu einem gegen Deutschland gerichteten Wirtschaftsblock der Siegermächte. Betrachtet man die lange Dauer und die vielen Krisen der deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen, so waren diese in erster Linie auf wirtschaftliche Probleme zurückzufuhren, wie beispielsweise die Währungsschwankungen zwischen beiden Ländern. Allerdings dürften sich die Handelsgespräche auch deshalb in die Länge gezogen haben, weil Frankreich erst langsam Abschied von eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen nehmen mußte. Gerade in der Anfangsphase der Handelsgespräche versuchte die französische Delegation, die einseitigen Handelsvorteile aus dem Versailler Vertrag zumindest teilweise zu bewahren. Eine wesentliche Ursache dafür, daß Frankreich die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Versailler Vertrag nicht verewigen konnte, bestand darin, daß die USA und Großbritannien diese ablehnten - und deshalb auch nur der Befristung dieser Vorteile auf fünf Jahre zugestimmt hatten. Das handelspolitische Konzept, das die angelsächsischen Mächte verfolgten, sah ganz anders aus als das französische und deckte sich in vielfacher Weise mit dem deutschen: England wollte, allein schon um seiner angeschlagenen Exportwirtschaft willen, zurück zum liberalen Weltwirtschaftssystem der Vor1262 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.4.1924),utsrponmlihfedcbaUSRPMKIFEBA ΡAAA R, 105604. Siehe Kap. 2.3. 1264 Siehe »Instructions έ l'ambassadeur de France έ Berlin« (ohne Unterschrift) (26.6.1920), MAE, PAAP 261, 1. 1265 Siehe Kap. 4.1.3. 1263 396 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisienmg kriegszeit, in dem es die zentrale Rolle gespielt hatte1266. Die USA betrieben zwar selbst eine ausgesprochen protektionistische Handelspolitik, forderten aber den freien Zugang zu auslδndischen Mδrkten1267. Dabei hatte ein Prδfe­ renzsystem, wie es der Versailler Vertrag f٧r Frankreich bildete, nat٧rlich kei­ nen Platz, zumal London und Washington argwφhnten, Frankreich wolle eine wirtschaftliche Hegemonie auf dem europδischen Kontinent begr٧nden, die den Interessen der beiden angelsδchsischen Lδnder zuwiderlief1268. Insofern kam dem deutsch­amerikanischen Handelsvertrag vom 8. Dezember 1923 eine besondere Bedeutung zu1269. Er stellte 1923, dem Jahr der franzφsischen Ruhr­ besetzung, f٧r Deutschland nicht nur ein wichtiges außenpolitisches Aktivum gegenüber Frankreich dar, sondern führte auch zur Sanktionierung des Prinzips der Meistbegünstigung, welches die Reichsregierung als zentrales Anliegen ihrer Handelspolitik verfolgte. Dies richtete sich direkt gegen die Handelsbeschränkungen und die Ungleichbehandlung Deutschlands durch den Versailler Vertrag, also gegen die bis dahin vertretene französische Handelspolitik. Eine ähnliche Bedeutung hatte der deutsch-englische Handelsvertrag vom 2. Dezember 1924. Auch Großbritannien mußte, da es ebenfalls von den Wirtschaftsklauseln des Versailler Vertrags profitierte, zum 10. Januar 1925 seine Handelsbeziehungen zum Deutschen Reich neu regeln. Der britische Botschafter in Berlin, D'Abernon, hatte bereits am 26. Juli 1924 einen Handelsvertragsentwurf an Stresemann übergeben, über den ab Oktober 1924 verhandelt wurde1270. Auch im deutsch-englischen Handelsvertrag hatte Deutschland die Meistbegünstigung durchsetzen können und eine zufriedenstellende Lösung für das Problem der Reparationsabgabe (Recovery Act)1271, das auch die deutsch-französischen Verhandlungen betraf, gefunden. Damit unterband das AA erfolgreich die Versuche der französischen Regierung, mit London zu gemeinsamen Handelsabsprachen gegenüber Deutschland zu kommen1272. Besonders am deutsch-amerikanischen Handelsvertrag wurde jedoch deutlich, daß in einer Handelsvertragspolitik auf Grundlage der Meistbegünstigung 1266 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 249. Siehe IRIYE, American Foreign Relations, Bd. 3, S. 46f. 1268 Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 58. 1249 Zum deutsch-amerikanischen Handelsvertrag siehe Hans-Jürgen SCHROEDER, Zur politischen Bedeutung der deutschen Handelspolitik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Gearid D. FELDMAN u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, Berlin, New York 1982, S. 235-251, hier S. 247. 1270 Siehe ADAP, A XI, Nr. 126, Anm. 2. Zum deutsch-englischen Handelsvertrag vgl. JOHNSON, Lord D'Abernon, S. 87-107. 1271 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 258. Mit Großbritannien wurde das Problem um den Recovery Act dadurch gelöst, daß eine andere Erhebungsmethode vereinbart wurde, die gewährleistete, daß nicht mehr einzelne Kaufleute die Zahlungen vornahmen, sondern diese von der Regierung in Absprache mit dem Reparationsagenten geleistet wurden. Vgl. Chamberlain an Addison (29.11.1924), DBFP 1 XXVI, Nr. 604, bes. Anm. 3. ,272 Siehe Heiriot an Raynaldy (19.9.1924), MAE 1918-1929urponmlgeaEA Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1267 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 397 nicht das Allheilmittel f٧r die gestφrten internationalen Wirtschaftsbeziehun­ gen der Nachkriegszeit liegen konnte: Meistbeg٧nstigung bedeutet lediglich, daß ein Land automatisch diejenigen Zugeständnisse bekommt, die auch andere Länder in Handelsfragen erhalten. Betrieb ein Land jedoch generell eine Hochzollpolitik - wie es die Vereinigten Staaten taten - , so war der wirtschaftliche Nutzen der Meistbegünstigungsklausel minimal. Die Meistbegünstigungsklausel kann also nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie mit Zollsenkungen einhergeht. Infolgedessen war der deutsch-amerikanische Handelsvertrag wirtschaftlich gesehen ein Fehlschlag1273. Nach diesen einleitenden Bemerkungen sollen nun die Handelsvertragsverhandlungen in groben Zügen nachgezeichnet werden. Stichtag war, wie gesagt, der 10. Januar 1925, an dem die Bestimmungen des Teils X des Versailler Vertrags ausliefen. Natürlich fanden aber sowohl in Deutschland als auch in Frankreich schon vorher interne Überlegungen zur Neuregelung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen statt. In Frankreich trat am 16. Januar 1924 die interministerielle Kommission für Handelsverträge unter Vorsitz von Handelsminister Lucien Dior zusammen, um erstmals über das Projekt eines französisch-deutschen Handelsabkommens zu beraten1274. Die französische Regierung bot Deutschland die Verlängerung der wirtschaftlichen Privilegien der besetzten Gebiete gegenüber Frankreich, Handelserleichterungen zwischen diesen Gebieten mit dem unbesetzten Deutschland und auch die Senkung einiger Zolltarife an. Es wurde allerdings ausdrücklich festgehalten, daß »[p]our certaines industries et notamment pour la metallurgie, les concessions tarifaires ne sevtoniec con9oivent pas sans entente economique prealable«1275. Im Gegenzug forderte Frankreich die Verlängerung der Meistbegünstigung und Kontingente für Waren, die bisher nicht nach Deutschland exportiert werden konnten, sowie die Senkung einiger, in französischen Augen protektionistischer, Zollsätze. Die Niederlassungsrechte für französische Unternehmen und weitere Bestimmungen der Wirtschaftsklauseln des Versailler Vertrags sollten beibehalten werden. Im Grunde genommen wollte die französische Regierung also die Fortsetzung des bisherigen, einseitig Frankreich bevorzugenden Handelssystems, das auf dem Versailler Vertrag basierte. Die Zugeständnisse Frankreichs hielten sich in engen Grenzen und waren kosmetischer, nicht prinzipieller Natur. 1273 Vgl. Gilbert ZLEBURA, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt a. M. 1984, S. 89f.; SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 46f. 1274 Zur Organisation der französischen Außenwirtschaftspolitik vgl. M. SCHMIDLIN, J. DUROQ, L'organisation et la reglementation du commerce exteneur en France. Guide theonque et pratique ä l'usage des ötudiants et employis du commerce extirieur, Paris 1946, S. 198; H. MARTY, Die französische Handelspolitik seit dem KriegewvutsrponmlkihgfecaWSPMEA (Π), in: Weltwirtschaftliches Archiv 28 (1928), S. 230­269, hier S. 243­250. 1275 Protokoll (16.1.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 398 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Innerhalb der deutschen Regierung setzten konkrete άberlegungen zu einem deutsch­franzφsischen Handelsvertrag erst zu einem spδteren Zeitpunkt ein. Am 3. Mai 1924 fand auf Einladung des AA unter Leitung von Ministerialdi­ rektor Karl Edler von Stockhammern die erste Besprechung ٧ber einen deutsch­franzφsischen Handelsvertrag statt1276. Ergebnis dieses Gesprδches war, daß Frankreich die Initiative zu überlassen sei, weil sich für Deutschland handelspolitisch nach dem 10. Januar 1925 nichts ändere. Da Frankreich aber deutlich schlechter gestellt würde, stünde die französische Regierung um so stärker unter Druck, je näher dieses Datum rücke. Grundsätzlich sei Deutschland zwar zu Verhandlungen bereit, jedoch müsse zuvor die wirtschaftliche Einheit des Reiches wiederhergestellt werden - also alle Maßnahmen zurückgenommen werden, die im Zusammenhang mit dem Ruhrkampf von den Besatzungsbehörden erlassen worden waren. Darüber hinaus müßten alle Versuche Frankreichs, die Handelsgespräche mit der Verabschiedung des DawesPlans zu verknüpfen, unterbunden werden. Außerdem sei ein möglichst weitreichendes Abkommen anzustreben, durch das die Abschaffung auch anderer einseitiger Vorteile erreicht werden sollte, die Frankreich aufgrund des Versailler Vertrags zustanden. Vor allem die Verlängerung der zollfreien elsaßlothringischen Kontingente sollte möglichst vermieden werden. Hinsichtlich der Beteiligung der Privatwirtschaft an den Verhandlungen sprach man sich prinzipiell positiv aus, jedoch nur, wenn die Wirtschaft keine Vereinbarungen träfe, die »geneigt wären, die Handlungsfreiheit der Regierung zu präjudizieren«1277. Die deutschen Ziele für die Handelsvertragsverhandlungen waren also, die einseitigen Handelsbenachteiligungen durch den Versailler Vertrag abzubauen und zur handelspolitischen Gleichberechtigung zu gelangen sowie den französischen Markt für deutsche Produkte zu öffnen. Durch die bevorstehende Londoner Konferenz zur Verabschiedung des Dawes-Plans traten die Vorbereitungen für Handelsgespräche in eine konkrete Phase. Diese Konferenz bot die letzte Möglichkeit für Frankreich, die Reparationsfrage und vor allem die Räumung des noch immer besetzten Ruhrgebiets als Druckmittel für die Wirtschaftsverhandlungen zu nutzen1278. Uneinigkeit bestand aber zwischen Handelsminister Eugene Raynaldy und Premierminister Herriot, ob die ehemaligen Alliierten in die Verhandlungen mit Deutschland einbezogen werden sollten1279. Herriot setzte sich letztlich mit seiner Ansicht durch, die Alliierten außen vor zu lassen, da vor allem die Briten die Verlängerung der französischen Vorrechte ablehnten1280. Er beabsichtigte deshalb, durch bilaterale Verhandlungen mit Deutschland französische Sonderrechte zu 1276 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.5.1924), AD AP A X, Nr. 70. Ibid. 1278 Siehe Herriot an Raynaldy (10.7.1924), MAE 1918­1929yutrponmlihgedbaSRMHEA Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1279 Siehe ibid. 1280 Siehe Herriot an Raynaldy (18.7.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1277 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 399 sichern1281. Allerdings schδtzte man im Quai d'Orsay die Mφglichkeit, die Kontingente f٧r Elsaß-Lothringen und andere Vergünstigungen auch nur in abgeschwächter Form durchzusetzen, als gering ein. Sollte Deutschland dennoch der provisorischen Verlängerung der französischen Sonderrechte zustimmen, wollte Frankreich während der Räumung Wohlwollen zeigen, die Kontingente verringern und die Zolltarife fur bestimmte deutsche Produkte reduzieren1282. Als besonderes Lockmittel wurde Deutschland zugesichert, daß die Erleichterungen bereits mit Vertragsunterschrift, also unter Umständen schon vor dem 10. Januar 1925, in Kraft treten könnten1283. Die Reichsregierung stand Wirtschaftsverhandlungen prinzipiell positiv gegenüber1284. Wirtschaftsminister Eduard Hamm (DDP) stellte fest, »Deutschland brauche einen Handelsvertrag mit Frankreich nicht zu furchten. Je enger diese Verbindung sein werde, desto stärker würde sich die Übermacht Deutschlands fühlbar machen«1285. Es bestand allerdings keine Einigkeit darüber, ob für eine schnelle Ruhrräumung Zugeständnisse in Handelsfragen gemacht werden sollten. Reichspräsident Friedrich Ebert trat dafür ein, die Wirtschaftsvertragsverhandlungen »notfalls auch bei der Frage der militärischen Räumung als Kompensation«1286 zu verwenden. Auch Stresemann und das AA waren durchaus zu wirtschaftlichen Konzessionen bereit1287. Hamm, Ernährungsminister Graf von Kanitz (parteilos) sowie die Industrie lehnten dies jedoch ab1288. Auf der Londoner Konferenz kam es erstmals zu direkten Kontakten zwischen deutschen und französischen Regierungsvertretern bezüglich eines deutsch-französischen Handelsvertrags für die Zeit nach dem 10. Januar 1925. Französischerseits führte Finanzminister Etienne Clementel die Gespräche - in nicht immer reibungsloser Abstimmung mit Raynaldy in Paris1289. Von deutscher Seite waren an diesen Vorgesprächen Stresemann, Finanzminister Hans Luther (parteilos) und der Staatssekretär im RWiM Ernst Trendelenburg, der spätere Verhandlungsführer der deutschen Delegation für die Handelsgespräche, beteiligt. Am 8. August 1924 sprachen Stresemann und Herriot über einen Handelsvertrag. Herriot schlug dabei die sofortige Entsendung einer deutschen 1281 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (23.7.1924), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcbaYVTS Ζ (Europe) Alle­ magne, 523. ,282 Siehe Herriot an Raynaldy (10.7.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1283 Siehe Herriot an Raynaldy (18.7.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 128,1 Siehe St. Quentin an Quai d'Orsay (22.7.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1285 Hamm in einer Ministerbesprechung (29.7.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 264. 1286 Ministerrat (2.8.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 269. 1287 Siehe BARIETY, Relations franco­allemandes, S. 674. 1288 Siehe Kabinettssitzung (12.8.1924), AdR Marx VO. Bd. 2, Nr. 273; Hamm u. Simon an Trendelenburg (12.8.1924), BArchR 3101,20458. 1289 Siehe Raynaldy an Clementel (13.8.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523; C16mentel an Raynaldy (14.8.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 400 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Delegation nach Paris vor und bestand auf der Verlδngerung der elsaßlothringischen Kontingente um drei Jahre1290. Drei Tage später legte die französische Delegation einen Handelsvertragsentwurf4291 vor, der vorsah, daß Deutschland Frankreich die Meistbegünstigung gewähren sollte, während Frankreich, das ja seit 1919 die Meistbegünstigung offiziell abgeschafft hatte, »im einzelnen Zugeständnisse machen wollte, die ungefähr der Gleich170? t berechtigungsklausel entsprächen« . Die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Wirtschaft aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sollte besonders in bezug auf Elsaß-Lothringen wieder hergestellt und die Versorgung der französischen Industrie mit Kohlen durch die französische Beteiligung an deutschen Bergwerken gesichert werden. Im Gegenzug wollte sich Frankreich verpflichten, Eisenerz und Eisenhalbfabrikate zu liefern. Die Reichsregierung lehnte den französischen Vorschlag ab1294. Sie war nur dann bereit, Frankreich die Meistbegünstigung zu gewähren, wenn Frankreich gleichwertige Konzessionen machte. Die Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Bergwerken war für die deutsche Regierung ebenso inakzeptabel wie die Verlängerung der Kontingente für Elsaß-Lothringen, wogegen sich insbesondere die deutsche Schwerindustrie aussprach. Einer Verlängerung der zollfreien Exportkontingente für das Saargebiet wollte Deutschland nur dann entsprechen, wenn es weiterhin zollfrei Waren in das Saargebiet einfuhren könnte. Auf besonderen Widerstand stieß die französische Forderung, das gegenwärtige, auf dem Versailler Vertrag beruhende Zollregime auch nur übergangsweise zu verlängern und Deutschland lediglich einige Handelsvorteile einzuräumen, falls es nicht vor dem 10. Januar 1925 zu einer Einigung über einen Handelsvertrag käme. Statt dessen forderte Stresemann einen modus vivendi, für den die gleichen Bedingungen gelten sollten wie für den definitiven Handelsvertrag, d.h. vor allem die paritätische Gegenseitigkeit der Meistbegünstigung. Die Reichsregierung wollte so verhindern, daß durch die Verlängerung der französischen Vorrechte aus dem Versailler Vertrag - und sei dies auch nur prinzipiell und bei weitgehenden Konzessionen ein wichtiges Präjudiz für die weiteren Verhandlungen geschaffen würde. In London stellte sich die Verknüpfung von Räumungsfrage und Wirtschaftsverhandlungen aber bald als ein für beide Seiten gefährliches Instrument heraus: Die Ruhrräumung war durch den Dawes-Plan so gut wie beschlossen und von beiden Seiten kaum mehr zu beeinflussen. Wollte Frankreich die Räumungsfrage als Druckmittel für die Handelsgespräche nut- 1290 Siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 622f., 640f. Vgl. Aufzeichnung Schmidt (11.8.1924), ADAP A XI, Nr. 20. Sic. Soll wohl heißen: Meistbegünstigungsklausel. 1293 Aufzeichnung Schmidt (11.8.1924), ADAP A XI, Nr. 20. 1294 Siehe Kempner an deutsche Delegation London (12.8.1924), BArch R 3101, 20458. 1291 1292 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 401 zen, hδtte es sich mit seinen Alliierten absprechen m٧ssen1295. Es war aber mehr als fraglich, ob vor allem Englδnder und Amerikaner bereit waren, der Instrumentalisierung der Rδumungsfrage f٧r die Handelsgesprδche zuzustim­ men. Auch f٧r Deutschland mußte das Spielen der handelspolitischen Karte zur Beschleunigung der Ruhrräumung nach der Festsetzung einer verbindlichen Räumungsfrist zunehmend unattraktiv erscheinen, zumal Industrie und Teile der Regierung sich eindeutig gegen eine solche Verknüpfung ausgesprochen hatten1296. So blieb bezüglich des Handelsvertrags als einzig greifbares Ergebnis der Londoner Konferenz, am 1. Oktober 1924 mit offiziellen Handelsgesprächen zu beginnen1297. In der Zwischenzeit gingen die regierungsinternen Vorbereitungen weiter. Allerdings gelang es weder der deutschen noch der französischen Regierung, einen verhandlungsfähigen Zolltarif durch das Parlament zu bringen, was die Verhandlungen von Anfang an belastete1298. Wie in London vereinbart, reiste die deutsche Delegation Anfang Oktober 1924 nach Paris. Sie wurde vom Staatssekretär im RWiM, Ernst Trendelenburg, geleitet. Weiterhin gehörten ihr Vertreter verschiedener Ministerien und der Länder sowie Experten aus Industrie und Landwirtschaft an. Der Delegationsleiter hatte weitgehende Vollmachten bei der Verhandlungsfuhrung1299. Obwohl er aus dem Reichswirtschaftsministerium kam, war seine eigentliche Anlauf- und Koordinationsstelle das AA in Berlin. Ministerialdirektor Karl Ritter, dort seit 1924 als Leiter der Sonderreferate Wirtschaft und Reparationen zuständig für Wirtschaftsfragen, stellte die Schaltstelle zwischen der Delegation und dem AA dar. Ritter war aber nicht nur ein Verbindungsglied, sondern auch inhaltlich wesentlich an der Formulierung der deutschen Außenhandelspolitik beteiligt1300. Die französische Delegation wurde vom jeweiligen Handelsminister, also anfangs von Raynaldy, geleitet. Auch ihr gehörten Vertreter anderer Ministerien und Wirtschaftsexperten an1301. Die große personelle Konstante der französischen Delegation war Daniel Serruys, Leiter der Abteilung Accords commerciaux im Handelsministerium. Er war stellvertretender Verhandlungsführer, aber aufgrund der häufigen Ministerwechsel dürfte ihm eine Schlüsselrolle zugefallen sein. Seydoux, sein Ansprechpartner im Quai d'Orsay, verlor aufgrund seiner Erkrankung zuneh- 1295 Siehe Marx an AA, Kabinett u. Reichspräsident (14.8.1924), AdR MarxzxutsrponmlkihgfedcbaX Ι/Π Bd. 2, Nr. 275. 1296 Siehe Protokoll der 3. Sitzung der handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924), BArchR 3101, 20458. 1297 Siehe AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 307, Anm. 9. 1298 Siehe Kabinettssitzung (27.8.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 288. 1299 Siehe ibid. und Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.10.1914), ADAP A XI, Nr. 128. 1300 SieheRKGE KR٢GER, Struktur, S. 155. 1301 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (23.9.1924), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Alle­ magne, 523. 402 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung mend an Einfluß auf die Verhandlungen und schied Ende 1926 aus dem Dienst aus1302. Die eigentlichen Handelsvertragsverhandlungen begannen in einer Atmosphäre, die »entschieden günstig«1303 war. Dementsprechend kam es bereits am 12. Oktober 1924 zur Unterzeichnung eines Protokolls1304, in dem die Grundlagen fur die weiteren Verhandlungen festgelegt und die Gespräche bis zum 5. November 1924 vertagt wurden, damit beide Seiten ihre Vorschläge und Wünsche ausarbeiten konnten. Inhaltlich einigten sich die beiden Delegationen darauf, daß Deutschland Frankreich die Meistbegünstigung zugestehen wollte, wenn im Gegenzug Frankreich die faktische Meistbegünstigung, also denutrnmifa tarif minimum, gewährte. Allerdings blieben einige besonders heikle Punkte, wie die Kontingente für Elsaß-Lothringen, ausgeklammert und sollten erst in der nächsten Sitzungsperiode angesprochen werden. Zudem forderte Deutschland die Aufhebung der 26prozentigen Reparationsabgabe - des Recovery Act1305. Dies machte deutlich, daß zwischen den beiden Positionen noch große Differenzen lagen: Falls diese unüberbrückbar sein sollten, stellte sich die Frage, »ob wir [die Reichsregierung, R.B.] unter diesen Umständen es zum Abbruch der Verhandlungen kommen lassen oder ob wir unsererseits Frankreich gegenüber zum System der listenmäßigen Meistbegünstigung übergehen wollen«1306. Gleich bei der Wiederaufnahme der Gespräche am 5. November 1924 kam es zu einer schweren Verhandlungskrise, die sich an der Reparationsabgabe entzündete. Stresemann forderte die Abschaffung dieser Abgabe, weil sie deutsche Exporte diskriminiere, im Gegensatz zu den Prinzipien des DawesPlans stehe und so die Ratifizierung eines deutsch-französischen Handelsvertrags im Reichstag gefährde1307. Herriot erwiderte, daß die Reparationsabgabe ein Reparationsproblem sei und deshalb in keinem Zusammenhang mit den Handelsgesprächen stünde1308. Die Verhandlungen waren bald so festgefahren, daß der Abbruch drohte. Für die deutsche Regierung war die Lage prekär: Einerseits hätte das Scheitern der Handelsvertragsverhandlungen eine weitere schwere Belastung für die Räumung der Kölner Zone bedeutet, die nach dem Versailler Vertrag für den 10. Januar 1925 vorgesehen war, andererseits wären bei einem Nachgeben in der Frage der Reparationsabgabe die Handelsvertragsverhandlungen mit Großbritannien und Italien präjudiziell worden1309. 1302 Siehe Aufzeichnung Trendelenburg (12.8.1924), AdR MarxzxutsrponmlkihgfedcbaZXUSRPN Ι/Π Bd. 2, Anhang Nr. 3. Kabinettssitzung (31.10.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 347. 1304 Zum Inhalt dieses Protokolls siehe ibid. Anm. 1. 1305 Siehe Kabinettssitzung (31.10.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 347. 1306 Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.10.1924), ADAP A XI, Nr. 128. 1307 Siehe Stresemann an Botschaft Paris (4.11.1924), ADAP A XI, Nr. 141. 1308 Siehe Herriot an Botschaft Berlin (12.11.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1309 Siehe Kabinettssitzung (11.11.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 353. 1303 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 403 Letztlich wurde das Scheitern der Handelsgesprδche nur vermieden, weil Frankreich dem deutschen Vorschlag zustimmte, die Wirtschaftsver­ handlungen zunδchst unter Ausklammerung der Reparationsabgabe fortzu­ fuhren1310. In den Gesprδchen der Regierungsdelegationen stand nun die Frage der elsaß-lothringischen Kontingente im Mittelpunkt. Trendelenburg lehnte die diesbezüglichen französischen Wünsche mehrfach ab1311. Die Weigerung der Alliierten, die Kölner Zone zum 10. Januar 1925 zu räumen1312, führte fast zum Abbruch der Handelsgespräche1313. Trotz der kritischen Lage setzten sich Stresemann und Hamm im Kabinett dafür ein, die Wirtschaftsverhandlungen streng getrennt von den politischen Problemen zu behandeln und die Gespräche weiterzuführen1314, da der Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen nicht dazu genutzt werden könne, auf Frankreich Druck in bezug auf die Räumungsfrage auszuüben. Dafür war das Sicherheitsproblem für Frankreich zu bedeutend1315. Aber auch Herriot war daran interessiert, die Handelsgespräche fortzusetzen1316. Er glaubte zwar, daß Frankreich wirtschaftlich gesehen durch den Wegfall der einseitigen Handelsvergünstigungen nach dem 10. Januar relativ wenig zu furchten hatte. Nach der Verweigerung der Räumung der Kölner Zone wollte er aber eine weitere Verschlechterung des deutsch-französischen Verhältnisses vermeiden, denn ein Abbruch der Verhandlungen würde die deutschen Nationalisten nur noch weiter stärken. Von den Wirtschaftsbeziehungen ging in diesem Fall - ganz im Sinne des liberalen Modells der Friedenssicherung - also tatsächlich eine stabilisierende Wirkung auf das deutsch-französische Verhältnis aus. Doch nicht nur die politischen Rahmenbedingungen, in denen die Handelsgespräche stattfanden, waren äußerst schwierig, auch die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen schienen unüberwindbare Hindernisse aufzuwerfen. Am 1. Januar 1925 hatte Raynaldy der deutschen Delegation in Paris einen modus 131T 1319 vivendi-Entwurf übergeben , den die Reichsregierung jedoch ablehnte : Es sei nicht klar, was Frankreich als Gegenleistung für die deutsche Meistbegünstigung anbiete. Außerdem seien zollfreie Kontingente für elsaßlothringische Waren inakzeptabel. Das Kabinett beauftragte Trendelenburg, den französischen Provisoriumsvorschlag abzulehnen, die Verhandlungen selbst sollten aber weitergeführt werden. Die weiteren Verhandlungen gestal1310 Siehe Chefbesprechung (17.11.1924), AdR Marx VO. Bd. 2, Nr. 357. Siehe Kabinettssitzung (23.12.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 380. 1312 Siehe o.Kap. 4.2.1. 1313 Siehe KRÜGER, Auίenpolitik, S. 259f. 1314 Siehe Ministerbesprechung (6.1.1925), AdR MarxzxutsrponmlihgfedcbaZSRPNMLKHEDBA Ι/Π Bd. 2, Nr. 387. 1315 Siehe Hoesch an AA (5.1.1925), AD AP Α ΧΠ, Nr. 5. 1316 Zum folgenden Herriot an Margerie (24.12.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 523. 1317 Siehe Kabinettssitzung (27.1.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 9. 1318 Siehe Ministerbesprechung (6.1.1925), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 387. 1311 404 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung teten sich turbulent. Es kam zu immer neuen Vertragsentw٧rfen und Gegen­ vorschlδgen, sowohl f٧r einen provisorischen als auch f٧r einen endg٧ltigen Vertrag, doch am 17. Januar 1925 standen die Gesprδche abermals kurz vor dem Abbruch1319. Die franzφsische Seite hielt die versuchte Einflußnahme Deutschlands auf die Gestaltung der Zolltarife, die generell allein dem französischen Parlament vorbehalten sei, für unannehmbar1320. Trendelenburg plädierte deshalb für eine Unterbrechung der Verhandlungen für zwei bis drei Monate, damit Frankreich seinen neuen Zolltarif fertig stellen könne, auf dessen Grundlage dann weiter verhandelt werden solle1321. Im Moment - dies sei die einstimmige Meinung der Delegation - seien weitere Gespräche sinnlos, da Frankreich prinzipiell nicht bereit sei, Deutschland die faktische Meistbegünstigung zuzugestehen und so den Boden der Vereinbarungen vom 12. Oktober 1924 verlasse. Es bedurfte der Intervention Stresemanns, um den Abbruch der Verhandlungen zu verhindern1322. Der deutsche Außenminister war der Meinung, daß das Schreiben Raynaldys vom 17. Januar 1925, auf das Trendelenburg in seiner negativen Einschätzung Bezug nahm, ein »bemerkenswertes Entgegenkommen«1323 darstelle. Das Kabinett unterstützte seine Position und beschloß am 31. Januar 1925, weiter zu verhandeln, mit dem Ziel, im endgültigen Handelsvertrag die faktische Meistbegünstigung durchzusetzen1324. Falls dies nicht gelänge, sollten die Verhandlungen freundschaftlich unterbrochen werden, damit beide Länder ihre Zolltarife ordnen könnten. Für das Saargebiet sollte die deutsche Delegation versuchen, den Status quo ante vom 10. Januar 1925 beizubehalten, ohne jedoch die Kontingente für Elsaß-Lothringen als Konzession zu verwenden. In der Folgezeit verbesserte sich das Verhandlungsklima und es wurden Fortschritte erzielt: Trendelenburg stimmte der von Raynaldy vorgeschlagenen Trennung von Provisorium und Definitivum zu1325, Raynaldy wiederum erklärte sich bereit, die Meistbegünstigung im endgültigen Handelsvertrag de facto zu gewähren1326. Zwischen französischer und deutscher Seite bestand außerdem Übereinstimmung, daß die Schwerindustriellen beider Länder wieder ihre Gespräche aufnehmen sollten, da durch die Einigung der Wirtschaftsvertreter die Chancen für das Zustandekommen eines Handelsvertrags steigen 1319 Siehe Laroche an Margerie (14.1.1925), MAE 1918-1929zutsrponmlihgfedcbaZXUTSRPNM Ζ (Europe) Allemagne, 524. Siehe ibid. 1321 Zum folgenden siehe Trendelenburg und Hoesch an AA (18.1.1925), ADAP Α XU, Nr. 35. 1322 Siehe Stresemann an Trendelenburg (21.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 41. 1323 Ibid. 1324 Siehe Kabinettssitzung (31.1.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 13. 1325 Siehe Telegramm ohne Unterschrift an Margerie (7.2.1925), MAE 1918­1929 Ζ (Euro­ pe) Allemagne, 524. 1326 Zum folgenden siehe Trendelenburg an Ritter (7.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 78. 1320 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 405 w٧rden. Allerdings schienen die Verhandlungen erneut an der Frage der Meistbeg٧nstigung zu scheitern1327 und auch die Franzosen waren skeptisch, was den Ausgang der Wirtschaftsverhandlungen betraf4328. Erst am 19. und 20. Februar 1925 gestand Frankreich zu, Deutschland im endg٧ltigen Han­ delsvertrag die unbedingte Meistbeg٧nstigung zu gewδhren1329. Diese Konzes­ sion bedeutete faktisch die Abkehr von der in der Nachkriegszeit verfolgten franzφsischen Handelspolitik, die vom Prinzip der Zollautonomie geleitet ge­ wesen war. Es machte aber auch deutlich, daß Frankreich in dieser Phase der Handelsvertragsverhandlungen nicht aus einer Position der Stärke heraus verhandelte. Es mußte nachgeben, denn es brauchte sowohl politisch als auch wirtschaftlich den Erfolg. Allerdings dürften die französischen Konzessionen erheblich dadurch erleichtert worden sein, daß mit der Note vom 9. Februar 1925 die deutsche Sicherheitsinitiative eingeleitet worden war, die neue Bewegung in die Verständigungspolitik brachte. Auch das lange strittige Problem der Einbeziehung des Saargebiets in die Handelsverträge konnte entschärft werden1330. Am 28. Februar 1925 wurden die Ergebnisse der Verhandlungen in einem Notenwechsel fixiert1331. Für das Provisorium, für das die Verhandlungen am 16. März 1925 beginnen sollten, einigten sich beide Seiten darauf, daß Frankreich von Deutschland bis auf einige noch festzulegende Waren die Meistbegünstigung erhalten sollte. Einige deutsche Produkte sollten unterschiedlich behandelt werden, von der uneingeschränkten Gewährung des Minimaltarifs über das Zugeständnis des Minimaltarifs innerhalb bestimmter Kontingente bis hin zu Zwischentarifen zwischenutrnmligfea tarif minimum und tarif generalI332. In bezug auf die elsaß-lothringischen Kontingente gestand Deutschland zu, über Zollreduzierungen bis zur Hälfte der gültigen Zollsätze zu verhandeln, über die einzelnen Bedingungen bestand aber noch keine Einigkeit. Allerdings standen diese Kontingente unter dem Vorbehalt, daß sie nur dann gewährt würden, wenn sie nicht auch von Drittländern im Zuge der Meistbegünstigung gefordert würden. Eine völlige Zollbefreiung für Waren aus Elsaß-Lothringen war also selbst im Provisorium vom Tisch. Als Bedingung für den endgültigen Handelsvertrag wurde als wichtigster Punkt vereinbart, daß Frankreich Deutschland die faktische Meistbegünstigung zu den gegenwärtig geltenden Zolltarifen gewähren sollte. Lediglich für einige noch 1327 Siehe Stresemann an Hoesch (18.2.1925), ADAPzwutsronmlihgfedcbaWUTSPNMLKHDCA Α ΧΠ, Nr. 100. Siehe Aufzeichnung Schmieden (13.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 91. 1329 Siehe Trendelenburg und Hoesch an AA (20.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 108. 1330 Siehe Deutsche Delegation an AA (25.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 120. 1331 Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, ADAP Α ΧΠ, Nr. 129. 1332 Liste Α beinhaltete deutsche Waren, für die die gegenwärtigen französischen Minimaltarife zu entrichten waren, Liste Β Waren, auf die zwar der Minimaltarif, aber nur innerhalb bestimmter Kontingente erhoben wurde, Liste C Waren, für die der geplante künftige französische Minimaltarif angewandt werden sollte. Auf der Liste D schließlich waren die Waren aufgeführt, für die ein Zwischentarif zu entrichten war, siehe ibid. 1328 406 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung festzulegende Waren sollten f٧r kurze Zeit άbergangstarife gelten. Umgekehrt gestand Deutschland Frankreich zwar die Meistbeg٧nstigung zu, behielt sich allerdings eine kurze K٧ndigungsfrist f٧r den Fall vor, daß Frankreich sein Zollsystem zu Ungunsten Deutschlands modifizierte. Für die Verhandlungen verpflichteten sich beide Länder, auf wirtschaftliche Kampfmaßnahmen zu verzichten. Beide Verträge standen unter dem Vorbehalt, daß es zu einer strikten Kompensation der jeweils gewährten Vorteile kommen müsse. Der weitere Gang der Verhandlungen wurde vor allem durch die fehlende Einigung zwischen den Schwerindustrien beider Länder behindert. Obwohl die Gespräche der Wirtschaftsexperten, die anfangs parallel zu den offiziellen Verhandlungen stattgefunden hatten, bereits am 30. Dezember 1924 von denen der Regierungsdelegationen abgetrennt worden waren1333, gab es starke Wechselwirkungen. Faktisch bestand ein Junktim zwischen dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen der Schwerindustrie und dem Zustandekommen des Handelsvertrags1334. Der Nachteil dieses Tandemverfahrens von Privatund Delegationsverhandlungen lag darin, daß erst eine Einigung der Schwerindustrie vorliegen mußte, bevor andere wichtige Handelsvertragsfragen geklärt werden konnten, da eventuell in anderen Warengruppen eine Kompensation erfolgen mußte. Frankreich zeigte sich gegenüber den Industriellenverhandlungen und der Nichteinmischung der Politik in die Eisenfrage zunächst skeptisch: Raynaldy befürchtete einen Ausverkauf französischer Interessen durch das Übergewicht der deutschen Industrie1335, gab dann letztlich aber dem deutschen Drängen nach, denn auch für Frankreich hatte eine private Lösung positive Aspekte1336: Deutschland würde Kontingente fur ElsaßLothringen nur im Rahmen des Provisoriums gewähren, privatwirtschaftlich bestand jedoch die Möglichkeit, höhere Kontingente für einen wesentlich längeren Zeitraum zu vereinbaren. Außerdem konnten durch eine private Lösung Ansprüche Dritter auf die Einräumung von Kontingenten infolge der Meistbegünstigung umgangen werden. Die Industriellenverhandlungen kamen jedoch nur schleppend voran. Immer wieder sahen sich die Regierungen beider Länder genötigt, Druck auf die Delegationen auszuüben1337. Als Haupthindernis erwies sich die Einbeziehung der Saarindustrie. Erst mit dem Luxemburger Abkommen1338 konnte die Eisenfrage für die Handelsvertragsverhandlungen als zumindest vorübergehend geregelt gelten, auch wenn die endgültige Lö1333 Siehe Kabinettssitzung (23.12.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 380. Die Gründe hierfür waren vielfältig: Die Delegationen waren zu groß; weil keine Klarheit über die zukünftigen Zollsätze herrschte, waren Gespräche schwierig; vielfach waren sich die Experten eines Landes untereinander nicht einig über die Ziele der Verhandlungen. 1334 Vgl. Ritter an Posse (21.3.1925), ADAPwutsrponlihgfedcbaZXWUSRPNLHDCA Α ΧΠ, Nr. 190. 1335 Siehe Posse an Ritter (30.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 217. 1336 Siehe Ritter an Posse (21.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 190. 1337 Siehe beispielsweise Posse an AA (3.6.1925), ADAP A Xffl, Nr. 85. 1338 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 75. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 407 sung erst mit der Gr٧ndung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG) am 30. September 1926 erreicht werden konnte1339. Nach der Wiederaufnahme der Regierungsverhandlungen am 16. Mδrz 1925 gestaltete sich der weitere Verhandlungsverlauf widerspr٧chlich. Durch die deutsche Sicherheitsinitiative und den daraus resultierenden verbesserten deutsch­franzφsischen Beziehungen sowie durch die prinzipielle Einigung im Protokoll vom 28. Februar 1925 hatten die Wirtschaftsverhandlungen einer­ seits neuen Schwung erhalten. Andererseits wurden die Verhandlungen durch das Fehlen einer Einigung der Eisenindustrie verzφgert. Die deutsche Delega­ tion versuchte deshalb, Druck auf die Eisenindustrie auszu٧ben, verhandelte aber selbst hinhaltend1340. Auch personelle Verδnderungen der Delegationen verzφgerten die Gesprδche1341. Die Hauptschwierigkeit lag jedoch weiterhin bei den Zolltarifen. Zwar gelang es Deutschland, durch die Zolltarifhovelle vom 17. August 19251342 endlich eine Grundlage fur k٧nftige Verhandlungen zu schaffen, ein neuer franzφsischer Zolltarif war aber noch immer nicht ab­ sehbar, da die Zollreform durch die Inflation des Franc und verschiedene poli­ tische Interessen behindert wurde1343. Im einzelnen waren folgende Zφlle um­ stritten: Frankreich zeigte sich vor allem mit den deutschen Zφllen f٧r Parf٧m, Textilien, Automobile und Kautschuk unzufrieden, die deutsche Seite verlang­ te insbesondere bei den Tarifen fur Produkte der chemischen Industrie ­ dort besonders bei Teerfarben ­ der optischen, der Keramik­ und der Spielwaren­ industrie Zugestδndnisse1344. Das größte Hindernis stellten aber die deutschen Weinzölle dar. Frankreich drohte mit dem Abbruch der Verhandlungen, falls es nicht die Meistbegünstigung für Wein erhalten sollte1345. Eine weitere Schwierigkeit war die Ausdehnung der Handelsbestimmungen auf die französischen Kolonien, Mandate und Protektorate1346. Aufgrund der parlamentarischen Erörterung der Zolltarifhovelle und der Schwierigkeiten, die aus dem deutsch-spanischen Handelsvertrag resultierten - durch die Meistbegünstigungsklausel bestand eine Verbindung zu den deutsch-französischen Gesprächen - , hatte Deutschland kein Interesse, noch vor den französischen Parlamentsferien zu einem Vertragsabschluß zu kom- 1339 Das Luxemburger Abkommen hatte lediglich den Charakter einer Absprache, nicht eines Vertrags, siehe Erwin RESPONDEK, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutsch­ land und Frankreich, Berlin 1929, S. 118. 1340 Siehe Mathies und Hoesch an AA (18.5.1925), AD APzwvutsrponmlkihgfedcbaZWVSRPNLID Α ΧΠΙ, Nr. 47. 1341 Vgl. AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 16, Anm. 1. 1342 Die Zolltarifhovelle stellte zwar weder die liberal eingestellte verarbeitende Industrie noch die protektionistisch eingestellte Schwerindustrie und Landwirtschaft zufrieden; von einer R٧ckkehr zum Protektionismus kann aber keine Rede sein, siehe SCHULZ, Wirtschafts­ ordnung, S. 60­63. 1343 Siehe MARTY, Handelspolitik, S. 235. 1344 Siehe Posse an AA (3.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 85. 1345 Siehe Woermann an Ritter (27.6.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 170. 1346 Siehe Posse an AA (3.6.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 85. 408 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung men. Der neue franzφsische Handelsminister Charles Chaumet dagegen be­ tonte, daß die allgemeinen Fragen des Handelsvertrags gelöst seien und es nur noch einige offene Punkte hinsichtlich der Tarife zu klären gelte1347. Seine Eile dürfte vor allem auf die neuen deutschen Zollsätze, die zum 1. Oktober 1925 in Kraft treten sollten und teilweise auch französische Waren verteuerten, zurückzuführen gewesen sein. Trotz französischen Drängens konnte aber keine Einigung mehr erreicht werden, so daß die Verhandlungen am 7. Juli 1925 bis zum 15. September 1925 vertagt wurden1348. Beide Parteien bestätigten die Ergebnisse des Protokolls vom 28. Februar 1925 und erneuerten ihre Verpflichtung, auf Kampfmaßnahmen zu verzichten. Während der Unterbrechung der Handelsvertragsverhandlungen wurde über das Saarproblem weiter verhandelt1349. Dieser Komplex erwies sich als besonders drängend, da die Saar nach ihrer Eingliederung in den französischen Zollraum am 10. Januar 1925 von der deutschen Volkswirtschaft abgeschnitten war und das Saareisen den ohnehin gesättigten französischen Markt weiter belastete. Auch Deutschland mußte aus politischen Gründen um der Gefahr einer »Entfremdung« des Saargebiets zu begegnen - dringend an einer Lösung der Saarfrage interessiert sein. In einer Unterkommission wurde seit dem 7. März 1925 über ein Saarabkommen verhandelt, das schließlich am 11. Juli 1925 in Paris unterzeichnet werden konnte. Wenngleich das Saarabkommen trotz Ratifikation durch den Reichstag am 12. August 1925 letztlich scheiterte1350, war es dennoch ein wichtiger außenpolitischer Erfolg für die Reichsregierung, denn es zeigte die prinzipielle Möglichkeit auf, das Saargebiet weiterhin wirtschaftlich eng an das Reich zu binden. Mit französischer Zustimmung wurde somit eine Bestimmung des Versailler Vertrags - nämlich die Eingliederung des Saargebiets in den französischen Zollverband bis zur geplanten Volksabstimmung im Jahr 1935 - faktisch und mit französischer Zustimmung revidiert1351. Wie geplant begannen am 15. und 16. September 1925 wieder die eigentlichen Handelsgespräche, die wiederum nur langsam vorankamen. Gründe waren nach wie vor der fehlende französische Zolltarif1352 und der immer drama1347 Siehe Berthelot an Margerie (4.7.1925), MAE 1918-1929zwutsrponmlkihgfedcbaSRPNMLKI Ζ (Europe) Allemagne, 524. Siehe ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 191 Anm. 5. 1349 Siehe Kabinettssitzung (14.7.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 121. 1350 Die Ratifikationsurkunden wurden nicht ausgetauscht, weil inzwischen zwischen beiden Ländern Uneinigkeit wegen des von Frankreich verhängten Kohleneinfuhrverbotes herrschte (vgl. Margerie an Quai d'Orsay [1.8.1925], MAE 1918-1929 Ζ [Europe] Allemagne, 524; Berthelot an Margerie [4.8.1925], MAE 1918­1929 Ζ [Europe] Allemagne, 524; Berthelot an Margerie [9.8.1925], MAE 1918­1929 Ζ [Europe] Allemagne, 524) und die deutsche Industrie das Abkommen als für Frankreich zu günstig ansah, siehe POHL, Stresemannsche Außenpolitik, S. 523f. 1351 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 290. 1352 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (2.9.1925), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1348 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 409 tischere Verfall des Franc1353. Eine Regelung f٧r die Reparationsabgabe und die Ausweitung des Handelsvertrags auf die franzφsischen Kolonien, Protekto­ rate und Mandatsgebiete waren weitere Streitpunkte1354. Regierungskrisen in Deutschland und Frankreich verzφgerten die Verhandlungen weiter. Um zu verhindern, daß Frankreich die Verhandlungen zum Sicherheitspakt von Locarno als Druckmittel für die Handelsvertragsverhandlungen benutzte1355 und um die Ratifikation dieser Verträge nicht zu gefährden, war die deutsche Delegation außerdem erst danach bereit, ernsthaft weiter zu verhandeln1356. Dann sollten die Gespräche zügig fortgesetzt werden mit den Zielen, eine Regelung bezüglich des Valutadumpings, möglichst große Sicherheiten gegen zu befürchtende französische Zollerhöhungen im Zuge einer Tarifhovelle und eine möglichst kurze Frist für das Ende der einseitigen Benachteiligung des deutschen Handels zu erreichen1357. Am 15. Dezember 1925 wurden die Verhandlungen in Paris wiederaufgenommen und führten bereits am 19. Dezember 1925 zur Unterzeichnung eines Protokolls1358. Das Abkommen sah vor, daß der endgültige Handelsvertrag automatisch nach einer bestimmten Frist im Anschluß an das Provisorium in Kraft treten sollte, sowie eine 14monatige Benachteiligung bestimmter deutscher Waren, wobei diese Frist mit dem Abschluß des modus vivendi beginnen würde. Frankreich sollte von Deutschland die Meistbegünstigung und Tarifreduktionen für einige Produkte erhalten, Deutschland nach dem Ablauf der Übergangsfrist derutrnmifa tarif minimum zugestanden werden. Die Reichsregierung erwirkte ein Sonderkündigungsrecht, falls sie sich durch neue französische Zölle benachteiligt fühlen sollte. Die wesentlichen Unterschiede dieses Protokolls im Vergleich zu den Februar-Abmachungen lagen vor allem in dem Automatismus zwischen Provisorium und Definitivum und in der Dauer des Provisoriums, die von neun auf 14 Monate verlängert wurde. Im großen und ganzen hatte sich die deutsche Seite mit ihren Forderungen durchgesetzt, was nicht zuletzt am großen innenpolitischen Druck auf die französische Regierung in Handelsfragen gelegen haben dürfte1359. Die französische Öffentlichkeit und große Teile des Parlaments befürworteten einen Handelsvertrag mit Deutschland und zwangen die Regierung zum Entgegenkommen. Wichtig war 1353 Deshalb wurde in den ersten acht Monaten des Jahres 1925 trotz verschδrfter Zollbedin­ gungen mehr lothringisches Eisen nach Deutschland exportiert als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, obwohl 1924 die Exporte zollfrei gewesen waren, siehe Schubert an Hoesch (7.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 223. 1354 Vgl. Ritter an Trendelenburg (5.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 51. 1355 Siehe Aufzeichnung Trendelenburg (28.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 97. 1356 Siehe Hoesch an AA (11.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 235. 1357 Dazu siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (20.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 249. 1358 Siehe A. MERTENS, L'accord commercial franco­allemand du 17 ao٧t 1927, in: Revue economique internationale 19/4 (1927) S. 23­45, hier S. 28. 1359 Vgl. Hoesch an AA (8.12.1925), ADAP B, 1,1, Nr. 19. 410 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung dabei die Rolle der s٧dfranzφsischen Fr٧hgem٧sebauern, die sich durch die neuen deutschen Zφlle besonders benachteiligt sahen1360. Die Opposition der s٧dfranzφsischen Bauern gegen allzu hohe Forderungen erklδrt nicht nur das Einlenken der franzφsische Regierang, sondern auch, weshalb mit dem Fr٧h­ gem٧seabkommen das nδchste deutsch­franzφsische Handelsabkommen zu­ stande kam, denn die deutsche Seite hatte nat٧rlich ein Interesse daran, sich die Zustimmung dieser Kreise weiter zu erhalten. Nach der Unterzeichnung des Protokolls vom 19. Dezember 1925 ver­ δnderte sich außerdem der Charakter der Handelsvertragsverhandlungen. Ging es bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich um die Festlegung von Prinzipien für die Handelsverträge, standen jetzt praktische Aspekte im Vordergrund. Von nun an ging es weniger um allgemeine Grundsätze, sondern um auf wenige Waren begrenzte, sofort wirksame Abkommen, über die rasch eine Einigung erzielt werden konnte und die bis zum endgültigen Handelsvertrag schrittweise erweitert wurden. Dadurch konnten für Probleme, die zwar nur mittelbar mit dem Handelsvertrag zusammenhingen, ihn aber stark beeinflußten, wie z.B. die französische Währungskrise, pragmatische Übergangslösungen gefunden werden. Die Handelsvertragsverhandlungen waren also ein konvergenter Prozeß, in dem der prinzipielle Rahmen schrittweise durch praktische Abmachungen ausgefüllt wurde. Mit den Abmachungen von Locarno hatte sich aber auch das politische Umfeld für die Handelsvertragsverhandlungen in wichtigen Punkten verändert. Wenn auch der direkte Einfluß der Konferenz von Locarno auf die Handelsgespräche gering war, so war doch der Zusammenhang zwischen Locarno und dem Handelsvertrag evident: Nach dem Sicherheitspakt rückten die Handelsgespräche »mehr als bisher in den Brennpunkt des politischen Interesses«1361, denn Frankreich konnte »die durch das Locarnoabkommen angebahnte Verständigung auf politischem Gebiet ohne eine sich anschließende Verständigung auf wirtschaftlichem Gebiet nicht als vollgültige Lösung des deutsch-französischen Problems ansehen«1362. Auch auf deutscher Seite stellte Locarno nicht den Endpunkt der Verständigung dar. In einem Gespräch machte Stresemann gegenüber Margerie deutlich, daß nach der Lösung der Reparationsfrage durch den Dawes-Plan und der Klärung des Sicherheitsproblems durch die Locarno-Verträge jetzt die wirtschaftliche Verständigung kommen müsse: »>[I]1 faut s'acheminer vers la seule solution raisonnable et profitable pour les deux pays, l'union douaniere franco-allemande avec son corollaire logique la participation reciproque de 1360 Siehe ibid. Schubert an Hoesch (7.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 223. 1362 Aufzeichnung ohne Unterschrift (20.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 249. 1361 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 411 l'Allemagne dans des industries franfaises. Et je pense [...], que ce programme peut et doit etre realise dans un delai de cinq ans«<1363. Der erste provisorische Handelsvertrag, der nach Locarno abgeschlossen wurde, war ein Fr٧hgem٧seabkommen. Der Anstoß dazu ging von Frankreich aus, das am 31. Dezember 1925 der Reichsregierung vorschlug, über ein begrenztes Abkommen zur Erleichterung des Frühgemüsehandels zu verhandeln1364. Am 20. Januar 1926 stimmte die deutsche Regierung diesem Vorschlag zu1365. Die deutschen Ziele bestanden vor allem darin, Handelserleichterungen für Produkte der verarbeitenden Industrie zu erhalten, den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten zwischen dem Saargebiet einerseits und der Pfalz und dem Rheinland andererseits zu erleichtem sowie eventuelle Zugeständnisse in der Frage der Reparationsabgabe und Zusicherungen gegen mögliche, durch den Versailler Vertrag gedeckte Sanktionsdrohungen zu erlangen1366. Die Verhandlungen gestalteten sich aber vor allem wegen des Widerstands der deutschen Schwerindustrie schwierig. Sie wollte keinen Konflikt mit der Landwirtschaft riskieren, die handelspolitisch ebenfalls protektionistisch eingestellt war, und machte sich deshalb deren Vorbehalte gegen das Frühgemüseabkommen zu eigen. Wegen der fehlenden Unterstützung der Industrievertreter im Reichstag und aufgrund der ablehnenden Haltung der Landwirtschaft wurde die Verabschiedung eines solchen Abkommens im Reichstag ungewiß1367. Ernst Posse, Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium und seit Jahresbeginn neuer Verhandlungsfiihrer der deutschen Delegation, entkräftete diese Vorbehalte1368: Die französischen Agrarimporte gingen kaum zu Lasten der deutschen Landwirtschaft, da diese Produkte lediglich Importe aus Holland und Italien verdrängen würden, während Deutschland den ganzen Vorteil der Handelserleichterungen abschöpfen könnte. Um einer Flut von französischen Importen vorzubeugen, war die französische Einfuhr zudem kontingentiert, während die Handelsvorteile für deutsche Waren, bis auf wenige Ausnahmen, nicht beschränkt waren. Nachdem es am 10. Februar 1926 zu einer weiteren Verhandlungskrise gekommen war, weil die französische Seite nun auch die Aufhebung der Kontingentierung für Gemüse forderte, konnte am 12. Februar 1926 schließlich doch ein Abkommen unterzeichnet werden1369. Frankreich erhielt für landwirtschaftliche Produkte - wie Kartoffeln, Frischgemüse und Weintrauben - die Meistbegünstigung für ein Kontingent 1363 Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929zutsrponmlihgfecbaZWUSRPONKEDBA Ζ (Europe) Allemagne, 524. Siehe ADAP Β 1,1, Nr. 29, Anm. 1. 1365 Siehe Ritter an Botschaft Paris (21.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 50. 1366 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 29. ,367 Siehe Ritter an Posse (26.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 63. 1368 Siehe Posse an Ritter (28.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 68. 1369 Siehe RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 53f. 1364 412 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung von 27 000 Doppelzentnern. Im Gegenzug gestand Frankreich Deutschland den Minimaltarif f٧r bestimmte Holzarten, einige chemische Produkte, Land­ wirtschaftsmaschinen, Mφbel und andere Hausratsartikel zu. Wirtschaftlich war das Fr٧hgem٧seabkommen eher unbedeutend1370. Es bot Deutschland dennoch einen Nettovorteil und schadete kaum der deutschen Landwirtschaft. Außen- und handelspolitisch war es aber sehr günstig: Zunächst erhielt Deutschland bessere Konditionen als bisher selbst für den endgültigen Handelsvertrag vorgesehen waren. Von diesen Zugeständnissen würde die französische Seite bei den folgenden Verhandlungen so leicht nicht mehr abrücken können. Außerdem wurde die Unterstützung der Vertreter der Landwirtschaft in der französischen Kammer gesichert, die sich als »die Stosskraft [sic]«1371 fur eine liberale französische Außenhandelspolitik erwiesen hatte, während aus der Industrie - je nach Branche - sowohl protektionistische als auch freihändlerische Impulse kamen. Insgesamt nahm das Frühgemüseabkommen als - wenn auch bescheidener - Teilerfolg den Druck von den Handelsvertragsverhandlungen1372. Bereits im März trat die französische Regierung an die Reichsregierung mit dem Ziel heran, das Frühgemüseabkommen zu erweitern1373. Das von der Reichsregierung gewährte Kontingent war bereits nach zwei Wochen erschöpft gewesen und kaum den Landwirten in Südfrankreich zugute gekommen, weswegen diese die französische Regierung weiter unter Druck setzten. Reichsfinanz- und -wirtschaftsministerium sowie das AA setzten sich dafür ein, ein weiteres Kontingent für französisches Gemüse einzuräumen, um die innerfranzösischen Schwierigkeiten für weitere Zugeständnisse zu nutzen. Zudem waren die Beeinträchtigungen der deutschen Landwirtschaft geringer als befürchtet und die Vorteile für die deutsche Wirtschaft größer als erhofft. Am 25. März 1926 ermächtigte die Reichsregierung Posse zu Verhandlungen, die bereits am 8. April 1926 zum Abschluß kamen. Die Verlängerung des Frühgemüseabkommens1374 bedeutete für Frankreich ein neues Gemüsekontingent von 27 000 Doppelzentnern und Zollerleichterungen für weitere deutsche Waren, z.B. Milchprodukte, Schnittholz, Linoleum, Magnete und Autoteile. Trotz des Abschlusses der Frühgemüseabkommen gestalteten sich die Verhandlungen in der Folgezeit wieder schwieriger. Die Probleme lagen im Bereich der Zollfragen vor allem bei den deutschen Tarifwünschen für die chemische Industrie, den Maschinenbau, Elektrotechnik, Leder, Spielwaren und Porzellan und bei den französischen Tarifforderungen für Wein, Eisen, Seide, 1370 Siehe Hoesch an Stresemann (16.2.1927), ADAPutrponmlihgedcaTSRPNMKEDA Β 1,1, Nr. 105. Siehe Döhle an AA (14.1.1926), BArch R 3101,2639/2. 1372 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (22.2.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1373 Siehe Ritter an Kempner (24.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 179. 1374 Siehe MERTENS, Accord commercial, S. 29. 1371 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 413 Wolle und Kautschuk1375. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Frage der Reparationsabgabe und dem Saarproblem. Deutschland forderte außerdem, die Diskriminierungsfrist für deutsche Produkte während der Laufzeit des Provisoriums, wie sie ebenfalls im Dezember-Abkommen festgelegt war, aufzugeben1376. Auch die französische Ankündigung, die Zölle nicht mehr in Papierfranc, sondern auf Grundlage des Goldfranc zu erheben, stieß auf deutschen Widerstand1377. Die Hauptgründe für den schleppenden Verhandlungsverlauf lagen allerdings woanders. Deutschland wollte wegen der französischen Währungsschwierigkeiten und der Vorbereitungen für einen neuen französischen Zolltarif zuerst auf Klarheit warten. Die Währungskrise in Frankreich hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht und entwickelte sich zur innenpolitischen Dauerkrise. Poincare gelang es im Sommer und Herbst 1926 endlich, den Franc bei einem Fünftel seiner Vorkriegsgoldparität zu stabilisieren und somit eines der größten Hindernisse für die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder zu beseitigen1378. Die deutsche Delegation verhandelte außerdem hinhaltend, weil die Industrie, die bisher dem Handelsvertrag indifferent bis befürwortend gegenübergestanden hatte, diesen nun ablehnte1379. Die Ursachen dafür mögen ebenso in der französischen Währungskrise gelegen haben wie in der Tatsache, daß sich in den Industriellenverhandlungen weiterhin wenig bewegte. Deutscherseits versuchte man deshalb, die Verhandlungen bis zum Beginn der französischen Parlamentsferien zu verzögern, um sie dann erneut, ohne allzu großen Schaden für die Wirtschaftsgespräche, unterbrechen zu können, denn ein Handelsvertrag wäre bei der ablehnenden Haltung der Industrie nicht durch den Reichstag zu bringen gewesen. Die Reichsregierung wollte deshalb erst die Einigung der verschiedenen Industriezweige abwarten, um sich dadurch wieder die volle Zustimmung der Industrie für den Handelsvertrag zu sichern1380. Am 9. Juni 1926 stimmte Serruys zu, die Verhandlungen für den endgültigen Handelsvertrag während der französischen Parlamentsferien ruhen zu lassen, regte aber an, zuvor noch ein provisorisches Abkommen abzuschließen1381. Dafür wünschten die Franzosen Zugeständnisse für Baumwollwaren, Seide, Kraft- 1375 Siehe Schmieden an Bassenheim (15.5.1926), ADAP B, 1,1, Nr. 221. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.6.1926), MAE 1918-1929zutsrqponmljihgfedcbaVSRP Ζ (Europe) Alle­ magne, 524. 1377 Siehe Aufzeichnung Berthelot (30.6.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1378 Siehe Henri MORSEL, Conjoncture et structures economiques du monde jusqu'ä la grande crise (1919-1929), in: Georges DUPEUX (Hg.), GueiTes et crises 1914-1917, Paris 1977 (Histoire economique et sociale du monde, 5), S. 145-188, hier S. 159-162. 1379 Siehe Schmieden an Bassenheim (15.5.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 221. 1380 Vgl. ibid. 1381 Siehe Aufzeichnung Smend (9.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 243. 1376 414 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung fahrzeuge, Parf٧m und Wein1382. Die Reichsregierung stand einem Provisori­ um aber skeptisch gegen٧ber, hatte es sich doch vor allem beim zweiten Fr٧h­ gem٧seabkommen herausgestellt, daß Frankreich sofort von den Handelsvorteilen für seine landwirtschaftlichen Produkte profitierte, Deutschland jedoch die Zugeständnisse für seine Industrieprodukte gar nicht ausschöpfen konnte, weil fur diese Produkte erst längerfristig ein Markt erobert werden mußte. Deshalb bevorzugte die Reichsregierung nach dem lang erwarteten Abschluß der Industriellengespräche einen endgültigen Handelsvertrag1383. Erst am 16. Juni 1926 stimmte das Kabinett - gegen den Widerstand von Ernährungsminister Heinrich Haslinde (Zentrum) - Verhandlungen über ein Provisorium zu, allerdings mit der Auflage, daß dieses keinen Wein umfassen dürfe und bei Zugeständnissen für Obst und Gemüse »größte Zurückhaltung«1384 zu üben sei. Bei den anschließenden Verhandlungen über das Provisorium standen insbesondere zwei Probleme im Mittelpunkt: die Wein- und die Kolonialfrage. Für Frankreich stand fest, daß, sollte Deutschland für Wein nicht die Meistbegünstigung gewähren, das Provisorium kaum durchsetzbar wäre1385. Berthelot brachte sogar eine Reduzierung der französischen Besatzungstruppen im Rheinland ins Spiel, um Deutschland zu Konzessionen zu bewegen1386. Stresemann blieb allerdings wegen des vagen Charakters des französischen Vorschlags skeptisch, und Berthelot selbst nahm die Verbindung von Truppenreduzierung und Weinfrage bald wieder zurück1387. Die hohen Gegenforderungen Deutschlands im Falle der Einbeziehung von Wein ließen Frankreich schließlich am 6. Juli 1926 prinzipiell einlenken, über ein Provisorium unter Ausklammerung von Wein zu verhandeln1388. Die Kolonialfrage hatte bereits seit dem Beginn der Verhandlungen immer wieder eine Rolle gespielt1389, nun wurde sie aber zu einem akuten Problem der Verhandlungen. Im Kern ging es darum, daß Deutschland, das seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vom Handel mit den französischen Kolonien, Protektoraten und Mandatsgebieten - darunter auch einige ehemals deutschen Kolonien wie Kamerun und Togo - weitestgehend ausgeschlossen war, die Meistbegünstigung bezüglich der Handels- und Niederlassungsrechte in diesen 1382 Siehe Aufzeichnung Schubert (11.6.1926), ADAPzutsrponmlihgfedcbaVUSRPNMJEDBA Β 1,1, Nr. 246. Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.6.1926), in: MAJE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1384 ADAP Β 1,1, Nr. 250, Anm. 2. 1385 Siehe Berthelot an Margerie (26.6.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1386 Siehe ibid. 1387 Siehe Berthelot an Margerie (14.7.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1388 Siehe Schmieden u. Rieth an AA (6.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 267. 1389 Vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.12.1924), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Alle­ magne, 523. 1383 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 415 Gebieten erlangen wollte1390. Mit dem provisorischen Handelsvertrag vom 5. August 1926 wurde f٧r die Kolonialfrage eine vorlδufige Lφsung gefun­ den1391. Marokko und Indochina blieben ­ wegen der innenpolitischen Schwierigkeiten dort ­ zunδchst ausgeklammert. F٧r Kolonien, die die glei­ chen Tarifbestimmungen wie das franzφsische Mutterland hatten, sollten die gleichen Regelungen gelten wie f٧r Frankreich selbst, f٧r Gebiete mit abwei­ chenden Zollbestimmungen die Meistbeg٧nstigung. Dies galt auch f٧r die Gleichbehandlung deutscher Staatsb٧rger im Hinblick auf den Schutz der Per­ son, des Eigentums und der Berufsaus٧bung. Bez٧glich der Schiffahrt erhielt Deutschland f٧r alle Gebiete, mit Ausnahme Tunesiens1392, die Meistbeg٧nsti­ gung. Frankreich erhielt im vorlδufigen Handelsabkommen Zollvorteile wie die Meistbeg٧nstigung oder Vertragstarife f٧r Gem٧se, Fr٧hgem٧se, Blumen, Obst und besonders Weintrauben, Parf٧ms und Seifen, Seide, Kraftfahrzeuge sowie Champagner und Cognac. Tafelweine blieben weiterhin ausgeklammert. Bis auf die Ausklammerung von Wein und die Behandlung von Δpfeln zeigte sich Frankreich mit dem Erreichten zufrieden. Im Gegenzug erhielt Deutsch­ land denutrnmifa tarif minimum oder Zwischentarife f٧r chemische Produkte, den Ma­ schinenbau, die Elektrotechnik und weitere Artikel. Wδhrend sich die Zuge­ stδndnisse f٧r Frankreich auf wenige, besonders wichtige Produkte erstreckten, waren die Handelsvorteile f٧r Deutschland sehr viel weiter gefa­ chert1393. Neben dem provisorischen Handelsvertrag wurde am selben Tag außerdem ein Abkommen über Handelserleichterungen für den Warenverkehr zwischen dem Reich und dem Saargebiet geschlossen1394. Das provisorische Handelsabkommen bedeutete eine wichtige Erweiterung der Frühgemüseabkommen. Außerdem konnten dadurch auch Lösungen für noch offene prinzipielle Probleme, wie z.B. die Kolonialfrage gefunden werden. Deutschland gelang es, sich seinen wichtigsten Trumpf, nämlich die Nichteinbeziehung von Wein, zu erhalten, und behielt so für die Verhandlungen zum endgültigen Handelsvertrag das entscheidende Druckmittel in der Hand. So stellte dieses Abkommen - zusammen mit der Franc-Stabilisierung und der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft ebenfalls im Sommer 1926 - eine bedeutende Konsolidierung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen und eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zum definitiven Handelsvertrag dar. 1390 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.5.1926), MAE 1918-1929zwutsrponmlihgfedcbaUSMIE Ζ (Europe) Alle­ magne, 524. 1391 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (5.8.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allema­ gne, 524. 1392 Dort hatte Italien weitgehende Sonderrechte, siehe ibid. 1393 Siehe ibid. 1394 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 350. 416 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Allerdings war noch immer kein neuer franzφsischer Zolltarif in Sicht. Durch diese neuerliche Verzφgerung wurde absehbar, daß bis zum Ablauf des Provisoriums am 21. Februar 1927 kein endgültiger Handelsvertrag zustande kommen würde. Bereits im November 1926 wurde deshalb über eine Verlängerung und Ausweitung des Provisoriums nachgedacht1395. Die deutsche Regierung war allerdings skeptisch, denn für dessen Geltungsdauer bestanden immer noch Benachteiligungen für den deutschen Handel. Wiederum war die Weinfrage der wichtigste Konfliktpunkt in den folgenden Gesprächen. Frankreich drängte nun unbedingt auf die Einbeziehung von Wein, nachdem Handelsminister Maurice Bokanowski den französischen Weinbauern auf deren massiven Druck hin eine entsprechende Zusicherung gegeben hatte1396. Trotz weitreichender französischer Zugeständnisse - Frankreich wollte jetzt von der Diskriminierung deutscher Waren unverzüglich bei Inkrafttreten des Definitivums absehen und bot die Senkung einiger Tarife an - weigerte sich die Reichsregierung hartnäckig, Wein in das Provisorium aufzunehmen. Im Kabinett war die Einbeziehung von Wein äußerst umstritten und stieß besonders auf den Widerstand des neuen Landwirtschaftsministers Martin Schiele (DNVP)1397 und des Reichslandbunds1398. Auch im Reichstag war die Zustimmung zur Verlängerung des Provisoriums unter Einbeziehung von Wein unwahrscheinlich1399. Außerdem gedachte die Reichsregierung, den Druck der französischen Weinbauern auf die eigene Regierung erst für den endgültigen Handelsvertrag zu nutzen1400. Nach zähen Gesprächen kam es, basierend auf einem Kompromißvorschlag Serruys' vom 10. Februar 19271401, am 16. Februar 1927 zur Verlängerung des vorläufigen Handelsabkommens, einschließlich der Saarabkommen. In dem gleichzeitig unterzeichneten Protokoll behielt sich Frankreich jedoch vor, einige Klauseln des Vertrags bis zum 21. März 1927 in französischem Sinne zu modifizieren. Sollte dies nicht möglich sein, hatte Frankreich einseitig das Recht, das Provisorium zum 31. März 1927 zu kündigen. Mit diesen im Protokoll nicht näher spezifizierten Veränderungen war hauptsächlich an Wein gedacht. Dieser Kompromiß ermöglichte es der deutschen Seite zu behaupten, in der Zwischenzeit werde über den vom Reichstag gewünschten endgültigen Handelsvertrag verhandelt1402, und die französische Regierung wahrte gegenüber dem französischen Parlament im Hinblick auf die Weinfrage das Gesicht. 1395 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (5.11.1926), MAE 1918-1929zyutsrponmlihgfecbaVSRPNI Ζ (Europe) Allemagne, 525. 1396 Siehe Döhle an AA (5.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 104. 1397 Siehe Schubert an Botschaft Paris (9.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 120. 1398 Siehe Sybel an Stresemann (2.4.1927), ΡAAA R, 105612. 1399 Siehe Aufzeichnung Schubert (7.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 107. 1400 Siehe Döhle an Ritter (18.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 164. 1401 Vgl. Hoesch an AA (10.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 128. 1402 Siehe Ritter an Hoesch (12.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 140. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 417 Anfang Mδrz kehrte die deutsche Verhandlungsdelegation nach Paris zu­ r٧ck. Nun ging es vor allem um das Zusatzabkommen f٧r Wein. Posse und Hoesch drδngten darauf, sich den franzφsischen W٧nschen nach Einrδumung eines Weinkontingents zu beugen, um eine K٧ndigung des Abkommens durch Frankreich zu vermeiden1403. Das Reichskabinett stimmte am 9. Mδrz 1927 trotz des Widerstands von Schiele den Verhandlungen ٧ber ein Zusatzab­ kommen, einschließlich Wein, zu1404. Dafür sprachen nicht nur handelspolitische Gründe, wie z.B. die Gefährdung der Niederlassungsrechte für Deutsche in den ehemals deutschen Kolonien und der IRG, falls Frankreich das Provisorium kündigen sollte1405, sondern auch außenpolitische Überlegungen: Nachdem sich Deutschland faktisch im Handelskrieg mit Polen befand, mußte mit Frankreich, einem der wichtigsten Verbündeten Polens, ein gutes handels- und außenpolitisches Verhältnis gewahrt werden. Zudem begann im Mai die Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbunds1406, wo es für Deutschland, dem Vorreiter einer auf Meistbegünstigung beruhenden, liberalen Außenhandelspolitik, verhandlungstaktisch äußerst unklug gewesen wäre, nach nunmehr dreijährigen Verhandlungen kein Abkommen mit Frankreich zustande gebracht zu haben. Stresemann ordnete darüber hinaus die Handelsvertragsverhandlungen in einen größeren Zusammenhang ein. Er wollte durch die Verständigung mit Frankreich im allgemeinen und den Handelsgesprächen im besonderen das »Terrain für Räumung Rheinlands, Saargebiets und für die Revision DawesPlan [vorbereiten]. Insofern wäre Mißerfolg dortiger Verhandlungen und Kündigung durch Frankreich am 21. März höchst unerwünscht«1407. Nach schwierigen Gesprächen konnte am 15. März 1927 schließlich das Zusatzabkommen für Wein unterzeichnet werden, das bis zum 30. Juni 1927 gelten sollte1408. Demnach erhielt Frankreich ein meistbegünstigtes Kontingent für Tafelwein von 65 000 Doppelzentnern und von 5 000 Doppelzentnern für Dessertwein. Im Gegenzug erhielt Deutschland Handelserleichterungen für den Maschinenbau, die Elektroindustrie, die chemische Industrie sowie für Bier und Grubenholz. Mit dem Protokoll vom 15. Mäiz 1927 wurden nicht nur die Bestimmungen des provisorischen Handelsvertrags um das Weinabkommen erweitert, sondern auch die Grundsätze für den endgültigen Handelsvertrag neu festgelegt1409. Im einzelnen besagten diese neuen Grundsätze, daß deutsche Waren nicht diskriminiert werden sollten, und Frankreich gestand 1403 Siehe Hoesch an AA (4.3.1927), ADAPzutsrponmlihgfedcbaVSRPNMKIEDBA Β IV, Nr. 213. Siehe Kabinettssitzung (9.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 229. 1405 Vgl. undatierte Aufzeichnung Ritter, ADAP Β V, Nr. 62. 1406 Vgl. Kap. 4.2.3. 1407 Stresemann an Botschaft Paris (16.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 254. 1408 Siehe Beaumarchais an Margerie (2.4.1927), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 525; Posse an AA (26.3.1927), ADAP Β V, Nr. 34. 1409 Siehe deutsch-französisches Protokoll (15.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 250; undatierte Aufzeichnung Ritter, ADAP Β, V, Nr. 62. 1404 418 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung eine Bindung seiner Zolltarife zu, falls Deutschland im gleichen Zeitraum sei­ ne Tarife nicht δnderte. Frankreich erklδrte sich außerdem bereit, über die Senkung desutrnmifa tarif minimum fur einige Waren zu verhandeln. Die Zugeständnisse Frankreichs waren fur Deutschland sehr günstig und vor allem durch den starken Druck der französischen Weinbauern zu erklären. Der Optimismus, den diese günstigen Ergebnisse in Deutschland auslösten, wurde jedoch durch den französischen Zolltarifentwurf, den Bokanowski am 7. März 1927 dem Parlament vorlegte, deutlich gedämpft1410. Posse stellte fest, daß die vorgeschlagenen Tarife bis auf wenige Ausnahmen prohibitiv für deutsche Waren seien1411. Falls Frankreich seine Minimaltarife im Vorfeld neuer Verhandlungen nicht substantiell senke, könne nicht weiter verhandelt werden1412. Auch in Frankreich regte sich, vor allem von Seiten des Comite d'action economique et douaniere, in dem insbesondere die Landwirtschaft, die Exportindustrie und Verbraucherverbände organisiert waren, Widerstand gegen »l'exageration des tendances ultra-protectionnistes«1413. Erst durch die vom Völkerbund organisierte Genfer Weltwirtschaftskonferenz (4. bis 23. Mai 1927)1414 - die deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen waren zwangsläufig unterbrochen, da Serruys einer der Hauptdelegierten Frankreichs war - wurde die internationale Opposition gegen die französische Zollpolitik so groß, daß Frankreich eine Korrektur seiner Zölle in Erwägung zog. Auf dieser Konferenz wurden zwar nur unverbindliche Empfehlungen erarbeitet, Frankreich wurde aber vor allem von Belgien, der Schweiz, Großbritannien, Italien und auch Deutschland wegen seines protektionistischen Zollentwurfs angegriffen. Bereits vor der Weltwirtschaftskonferenz hatte es dazu zwischen den Pariser Botschaften der entsprechenden Länder Absprachen gegeben1415. Die abschließende Resolution wurde einstimmig, also auch von Frankreich, angenommen und beinhaltete die Forderungen, Zölle zu verringern und langfristige bilaterale Handelsverträge auf Grundlage der Meistbegünstigung zu vereinbaren. Der Tarifvorschlag Bokanowskis war dadurch diskreditiert, Frankreich handelspolitisch isoliert. Die deutsche Delegation spielte nun auf Zeit, um so den Druck auf Frankreich weiter zu erhöhen1416. Frankreich wich aus: Bokanowski erklärte am 9. Juni 1927, daß der Zolltarif zurückgestellt worden und mit einer Verabschiedung vor Ende 1927 nicht mehr zu rechnen sei. Für die Zwischenzeit sollten die Provisorien, einschließlich des Abkommens über Wein, verlängert 14,0 Vgl. RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 54-56. Siehe Posse an Ritter (8.4.1927), ADAPvutsrponmlihgfedcaZVSRPNKDA Β V, Nr. 70. 1412 Siehe Posse an AA (10.4.1927), ADAP Β V, Nr. 77. 1413 Rieth an AA (4.5.1927), ΡAAA R, 105613. 1414 Zum folgenden vgl. auch Kap. 4.2.3. 1415 Siehe Döhle an AA (8.4.1927), BArch R 3101, 2640. 14,6 Siehe Aufzeichnung Ritter (27.5.1927), ADAP Β V, Nr. 189. 1411 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 419 werden1417. Die deutsche Seite, gestδrkt durch die Ergebnisse der Genfer Kon­ ferenz und unter dem Druck, den vor allem das Weinabkommen im Reichstag hervorrief, lehnte eine Verlδngerung der Provisorien ab1418. Am 29. Juni 1927 wurden zwar die Saarvertrδge, nicht aber das Provisorium und das Weinab­ kommen verlδngert. Ab dem 1. Juli 1927 trat somit zwischen Frankreich und Deutschland ein vertragsloser Zustand ein. F٧r Deutschland war eine »g٧nsti­ gere Situation geschaffen [...], als sie bisher jemals war«1419, weil der Wegfall des Weinkontingents besonders Frankreich traf. In der Folgezeit setzten des­ halb intensive Verhandlungen f٧r ein dauerhaftes Abkommen ein1420. Obwohl die Verhandlungen unter großem Erfolgsdruck standen, gab es noch drei große Konfliktfelder. Das erste stellte die Einbeziehung der französischen Kolonien bzw. Protektorate Indochina und Marokko dar, die aus den Provisorien noch ausgeklammert worden waren. Deutschland forderte die Ausdehnung des Handelsvertrags auch auf diese Gebiete1421. Letztendlich mußte Deutschland in der Frage der Niederlassungsrechte in Marokko nachgeben. Immerhin erhielt es dort die Meistbegünstigung fur den Warenverkehr und Schiffahrtsrechte1422. Auch in der Weinfrage gab es nach wie vor Differenzen. Die deutsche Ausgangsposition war, daß Frankreich nur dann die uneingeschränkte Meistbegünstigung fur Wein erhalten sollte, wenn es auf die Diskriminierung einiger deutscher Waren, die in der Liste C des Handelsvertrags festgelegt werden sollten, verzichtete. Je mehr deutsche Waren auf der Liste C standen, desto größer sollten die Abschläge von dem französischen Weinkontingent von 360 000 Doppelzentnern sein1423. Eng damit verbunden war das dritte große Problem, nämlich das Ende der Diskriminierungsfrist für deutsche Waren. Nach deutschen Vorstellungen sollte diese Frist, also die Gültigkeit der Liste C, spätestens zum 1. März 1928 enden1424. Durch das Weinkontingent und die Verlängerung der Handelsvertragsdauer - zunächst war nur ein Jahr vorgesehen - versuchte die Reichsregierung, ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Die französische Regierung konnte aber als Frist für das Ende der Benachteiligung deutscher Waren den 15. Dezember 1928 ebenso durchsetzen wie die Möglichkeit, den Handelsvertrag zu kündigen, falls Deutschland vor Siehe Posse an AA (9.6.1927), ADAPzutsrponmlihgedcbaVSRPNMKIEDBA Β V, Nr. 212. Siehe ibid.; Beaumarchais an Margerie (27.6.1927), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Alle­ magne, 525. 1419 Ritter an Posse (5.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 6. 1420 Siehe Posse an Ritter (5.7.1927), AD AP Β, VI, Nr. 7. 1421 Siehe Posse an AA (7.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 10. 1422 Siehe Posse an AA (14.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 115. 1423 Siehe Kabinettssitzung (13.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 27. 1424 Siehe Kabinettssitzung (5.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 86. 1417 14,8 420 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Ablauf des Vertrags einen neuen Zolltarif verabschieden sollte1425. Damit wur­ den auch die letzten Probleme ausgerδumt. Der deutsch­franzφsische Handelsvertrag wurde am 17. August 1927 von den beiden Delegationsf٧hrern Posse und Bokanowski unterzeichnet und trat am 6. September des gleichen Jahres in Kraft1426. Er bestand aus dem eigentli­ chen Vertragstext mit 48 Artikeln, sechs Listen (A bis F), ergδnzenden Be­ stimmungen ٧ber die Niederlassungsrechte der Staatsangehφrigen beider Lδn­ der im jeweils anderen Land, einem Zeichnungsprotokoll mit Erlδuterungen des Vertragstextes sowie zwei Zusatzerklδrungen. Des weiteren erfolgte der Austausch von sieben weiteren Noten. Die erste der beiden Zusatzerklδrungen beinhaltete den Verzicht Frankreichs auf wirtschaftliche Repressalien, die Frankreich aufgrund des Versailler Vertrags zustanden, die zweite, daß Frankreich den Erhebungsmodus für die Reparationsabgabe dahingehend ändern würde, daß nur noch Pauschalzahlungen der deutschen Regierung - ohne Belastung für das Einzelgeschäft - erfolgen sollten1427. Kernpunkt des Vertrags war, daß Frankreich de jure und Deutschland de facto die Meistbegünstigung zugestanden wurden. Vollständig sollte dies erst spätestens zum 15. Dezember 1928 erfolgen, für die Zwischenzeit galten noch Übergangsbestimmungen, um Frankreich die Möglichkeit zu geben, einen neuen Zolltarif auszuarbeiten. Da das französische Parlament aber bereits am 2. März 1928 den neuen Tarif verabschiedete, der zum 16. März 1928 in Kraft trat und nach einer Übergangsfrist von einem Monat auch für das deutschfranzösische Handelsabkommen galt, bestand schon ab dem 16. April 1928 die volle gegenseitige Meistbegünstigung und die Übergangsregelungen der Listen C undzxwvutsrponmlkihgfedcbaZWVUSRPONLKIGFEDA Ε entfielen. Der Reichstag stimmte dem deutsch-französischen Handelsvertrag am 26. November 1927, das französische Parlament am 2. März 1928 zu. In der Zwischenzeit galt die Meistbegünstigung nur für deutsche Produkte der Listen Α und Β und für französische Waren der Listen Ε und F. Die Li­ ste Α beinhaltete deutsche Produkte, die vom altenutrnmifa tarif minimum profitierten, die Liste Β deutsche Produkte, für die ein neuerutrnmligfea tarif minimum, der am 6. September 1927 in Kraft trat, galt. Die neuen Zollsätze der Liste Β waren zwi­ schen Deutschland und Frankreich während der Handelsgespräche ausgehandelt worden und sollten während der ganzen Vertragsdauer Gültigkeit bewahren. In der Liste C waren diejenigen deutschen Waren festgelegt, für die bis zum Inkrafttreten eines neuen französischen Zolltarifs ein Zwischentarif zwischen dem tarif minimum und dem tarif general erhoben wurde. Die Li1425 Siehe Kabinettssitzung (9.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 95. Siehe Robert GUILLAIN, Les problemes douaniers internationaux et la Societd des Na­ tions, Paris 1930, S. 35. 1427 Eine entsprechende Vereinbarung wurde am 17.3.1928 unterzeichnet, siehe RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 73. 1426 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 421 ste D legte die Ausnahmen fest, f٧r die Frankreich keine festen Zollsδtze ga­ rantierte, wie dies in Artikel 4 des Handelsabkommens allgemein bestimmt worden war. Die ListeutsrponmlihgfedcbaVSRPNMKIHEDBA Ε umfaßte die französischen Produkte, für die die Zollsätze vereinbart und gesenkt wurden, die Liste F Produkte, fur die Frankreich sofort die Meistbegünstigung erhielt. Teilweise galten für Waren, die von den niedrigen Zollsätzen der Liste Ε profitierten, Kontingente. Diese Kontingente sollten entfallen, sobald die neuen französischen Zollsätze gelten würden. Des weiteren enthielt der Handelsvertrag Klauseln über Ausfuhrzölle, Handelsreisende, Muster, Transit und Niederlassungsrechte sowie über die Anwendung des Vertrags in den französischen Kolonien, Protektoraten und Mandatsgebieten. Das wichtigste Kennzeichen des Handelsabkommens war, daß Frankreich sich zum ersten Mal verpflichtete, seine Zölle zu binden. Es war der erste umfassende Handelsvertrag zwischen beiden Ländern seit dem Ersten Weltkrieg, denn bei den vorhergehenden Provisorien waren stets wichtige Warengruppen ausgeschlossen geblieben. Der Vertrag eröffnete beiden Ländern bessere Ausfuhrmöglichkeiten als jeder vorhergehende Handelsvertrag. Für Frankreich wurde besonders der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, vor allem für den Gemüse- und Weinanbau und für die beiden anderen großen Exportbranchen, die Textil- und Modeindustrie, erleichtert. Deutschland erhielt Tarifkonzessionen für wichtige Exportsektoren wie den Maschinenbau, die chemische Industrie und andere Zweige der verarbeitenden Industrie. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) sah das Abkommen »trotz der schweren Bedenken einzelner Industrien doch als geeignete Basis für die Wiedereroberung des französischen Marktes«1428. In Deutschland gab es allerdings auch Kritik an dem Abkommen. Die deutsche Landwirtschaft, besonders der Weinbau, sei nicht ausreichend gegen die französische Konkurrenz und die deutsche Industrie unzureichend gegen die niedrigeren französischen Löhne und Sozialabgaben geschützt worden. In Frankreich dagegen wurde der unzureichende Schutz des französischen Maschinenbaus und der chemischen Industrie sowie der deutsche Wirtschaftsexpansionismus beklagt. Dabei handelte es sich aber um Einzelstimmen. Im großen und ganzen wurde das Handelsabkommen positiv aufgenommen. Stresemann war - bis auf die Marokkofrage - zufrieden1429, Briand äußerte »lebhafte Genugtuung«1430 und der Quai d'Orsay betonte, daß der Vertrag, obwohl zunächst nur für 18 Monate geschlossen, eine dauerhafte Basis für die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder sein würde1431. Auch Poinca1428 Aufzeichnung ohne Unterschrift (25.8.1927), Ρ AAA R, 105615. Siehe Stresemann an Botschaft Paris (24.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 134. 1430 Hoesch an AA (27.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 145. 1431 Siehe Beaumarchais an Margerie (18.8.1927), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 525. 1429 422 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung re w٧rdigte das Abkommen1432. Beide Seiten waren sich einig ٧ber die Bedeu­ tung des Abkommens f٧r die Verbesserung der Beziehungen. Besonders vor dem Hintergrund der schwierigen politischen und wirtschaft­ lichen Lage stellte der deutsch-französischen Handelsvertrag einen großen Erfolg dar. Bei den Verhandlungen zeigte sich aber auch die Untrennbarkeit und Bedingtheit wirtschaftlicher und politischer Aspekte. Der unbestreitbare Erfolg des Abkommens darf jedoch nicht über die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten der internationalen Wirtschaftsordnung in der Zwischenkriegszeit hinwegtäuschen. Bereits kurze Zeit nach dem Abschluß des Abkommens machte sich vor allem auf deutscher Seite Ernüchterung breit1433. Das Reichswirtschaftsministerium kam im November 1928 zu dem Schluß: Als Ergebnis der deutschen Handelspolitik muss [sie] festgestellt werden, dass [sie] es ihr noch nicht gelungen ist, das handelspolitische Netz der internationalen Vereinbarungen, wie es in der Vorkriegszeit bestand, vollstδndig wiederherzustellen. In der Praxis haben sich diesem Bestreben erheblich grφssere [sie] Schwierigkeiten entgegengestellt, als man bei seinem Beginn angenommen hatte1434. Im Hinblick auf die deutsch-französischen Handelsbeziehungen wurde festgestellt, daß [e]ine Besserung [...] auch das am 6. September 1927 in Kraft getretene deutsch­franzφsische Handelsabkommen nicht gebracht [hat] [...] Da das Gesamtniveau der nunmehr f٧r Deutsch­ land geltenden franzφsischen Zollsδtze trotz der in dem Abkommen vereinbarten zahlreichen Zollsenkungen und ­bindungen im Vergleich zur Vorkriegszeit noch immer sehr hoch ist, so ist eine Wiederherstellung des Vorkriegsstandes der Außenhandelsbilanz kaum zu erwarten. Die am Warenverkehr mit Frankreich beteiligten deutschen Ausfuhrkreise klagen vielfach über die sehr schwierige französische Zollabfertigung, die nach ihrer Auffassung oft an Schikane grenzt1435. Die Liberalisierung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen war außerdem durch die zahlreichen internationalen Kartelle oftmals nur eine scheinbare1436. Auf Anfrage des Deputierten Grinda erklärte der französische Handelsminister Flandin am 13. November 1929, daß Frankreich Mitglied in 34 internationalen Kartellen sei, wobei Deutschland bei der überwiegenden 1432 Siehe Hoesch an AA (18.8.1927), ADAPrVNI Β VI, Nr. 124. »Enttäuschung über den Handel mit Frankreich. Frankreichs Nutzen aus dem Handelsabkommen mit Deutschland«, Hamburger Nachrichten (23.10.1927). 1434 Aufzeichnung ohne Unterschrift (1.11.1928), BArch R 3101, 2475. 1435 Ibid. 1436 Siehe Clemens A. WURM, Internationale Kartelle und die deutsch-französischen Beziehungen 1924-1930: Politik, Wirtschaft, Sicherheit, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der Westeuropäischen Sicherheit 1914-1963, München 2000 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 46), S. 97-115, hier S. 114. 1433 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 423 Mehrzahl dieser Kartelle ebenfalls beteiligt war1437. Dadurch waren wesent­ liche Bereiche des wirtschaftlichen Austausches faktisch aus dem Handels­ abkommen ausgenommen. Dies galt f٧r Grundstoffe wie Kali, Stahl und Aluminium ebenso wie f٧r einige Fertigprodukte, z.B. Autoreifen. Die Kartellierung wichtiger Grundstoffe f٧hrte aber wiederum dazu, daß die Produkte der verarbeitenden Industrie dadurch ebenfalls negativ beeinflußt wurden. Wurde beispielsweise Kali - als Grundstoff für die chemische Industrie - durch die internationalen Kartelle teurer, verteuerten sich auch die daraus hergestellten Produkte. Die Hoffnungen, die vor allem Frankreich in die Kartellierung gesetzt hatte - Loucheur und Serruys strebten dadurch die Schaffung größerer, wettbewerbsfähiger Einheiten, eine zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und als Folge dessen dann schließlich auch eine Verringerung der Zollsätze an erfüllten sich jedoch allesamt nicht1438. Auch auf internationaler Ebene hatte der deutsch-französische Handelsvertrag nicht die erhoffte Wirkung. Zwar kam es, vor allem durch die Handelsabkommen, die Frankreich infolge des deutsch-französischen Vertrags mit anderen Ländern neu verhandeln mußte, im Jahr 1928 zu einer gewissen Konsolidierung, was die Höhe der Zollsätze in Europa anging, doch war dieser Trend nur von kurzer Dauer. Bereits Ende des Jahres 1928 stieg das Zollniveau allgemein wieder1439. Im Hinblick auf die Modernisierung der Außenpolitik bedeutete der deutsch-französische Handelsvertrag zwar einen Schritt in Richtung eines liberaleren Handelssystems, jedoch keinen grundsätzlichen Durchbruch. 4.2.3. Die multilaterale Ebene der Handelspolitik: Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und ihre Folgen Handelspolitik wurde in den 1920er Jahren nicht nur auf bi-, sondern erstmals auch auf multilateraler Ebene betrieben. Der Völkerbund nahm dabei eine besondere Stellung ein. In Artikel 23, Buchstabe e) der Bundessatzung hatte sich der Bund die Sicherstellung der Freiheit des Verkehrs und »eine angemessene Behandlung des Handels aller Bundesmitglieder« zur Aufgabe gemacht. An dieser Bestimmung wird deutlich, daß das Ziel des Völkerbunds, nämlich die 1437 Siehe die entsprechende ٢bersicht im Journal officiel de la R0publique Fran9aise. Döbats Parlementaires,xvutsrqponmljihgfedcbaUSRPNLHEDBA Αηηέβ 1929, Nr. 85 (14.11.1929), S. 3134f. 1438 Siehe Eric BussifeRE, Les aspects 6conomiques du projet Briand. Essai de mise en pers­ pective. De 1'Europe des producteurs aux tentatives regionales, in: AntoinefYURNLKJIGFEA FLEURY, Lubor JLLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union f6dörale europeenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu a Θεηένβ du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 75­92, hier S. 82f. 1439 Siehe GUILLAIN, Problfemes douaniers intemationaux, S. 38f. 424 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Gewδhrleistung von Frieden und Sicherheit weltweit1440, nicht nur durch si­ cherheitspolitische Maßnahmen - wie die Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen (Artikel 10-17 der Völkerbundssatzung) und die Abrüstung (Artikel 8) - erreicht werden sollte, sondern daß auch die Freiheit des Handels und im weitesten Sinne der allgemeine Wohlstand als friedensfördemd betrachtet wurden. Die Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbunds, die im Mittelpunkt der Überlegungen dieses Kapitels stehen wird, wurde einberufen »[i]n der Erkenntnis, daß die Erhaltung des Weltfriedens in weitgehendem Maße von den Grundsätzen abhängt, nach denen die Wirtschaftspolitik der Nationen gestaltet und durchgeführt wird«1441. Natürlich waren die Weltwirtschaftskonferenz, die im Mai 1927 in Genf stattfand, und die Folgekonferenzen nicht nur sicherheits- sondern auch handelspolitisch von Bedeutung. Der Völkerbund hatte jedoch schon viel früher damit begonnen, sich mit Wirtschaftsfragen zu befassen: Bereits 1920 fand unter seiner Ägide in Brüssel eine internationale Finanzkonferenz statt, und er wurde in die Sanierung der vom Krieg zerrütteten österreichischen Währung eingeschaltet1442. Im September 1924 - der Dawes-Plan war gerade beschlossen worden und der englische Premier MacDonald hatte am 4. September 1924 die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund gefordert - sprach der Leiter der Wirtschaftsabteilung der Section economique et fmanciere im Völkerbundssekretariat1443, Pietro Stoppani, beim deutschen Konsulat in Genf vor und bat die deutsche Regierung um ein Memorandum über das bestehende System der Ein- und Ausfuhrverbote und die zukünftige deutsche Politik in dieser Frage. Außerdem wurde in Aussicht gestellt, Experten zu einer Vorbesprechung über dieses Problem nach Genf einzuladen1444. Als Stoppani in Berlin weilte, wiederholte er seine Bitte auch gegenüber dem für wirtschaftliche Fragen zuständigen Ministerialdirektor im AA, Karl Ritter1445. Über eine Beteiligung Deutschlands an der Enquete der Section economique äußerte sich Ritter zunächst vorsichtig. Da aber die langfristige deutsche Außenhandelspolitik - zumindest wie sie vom AA verfolgt wurde - auf eine Liberalisierung des Handels abzielte, beteiligte sich Deutschland konstruktiv an dem Projekt des Völkerbunds. Am 12. Dezember 1924 übersandte der deutsche Konsul in Genf, Gottfried Aschmann, das deutsche Memorandum zur Frage der Ein- und 1440 Vgl. Art. 1 der Völkerbundssatzung. Die Weltwirtschaftskonferenz, Genf, im Mai 1927, hg. v. Reichswirtschaftsministerium, Berlin 1927, S. 19. 1442 Siehe FLEURY, League of Nations, S. 513f. 1443 Zur Organisation der Section Economique im Rahmen des Völkerbunds siehe Eric BUSSIERE, reorganisation 6conomique de la S.D.N. et la naissance du r6gionalisme economique en Europe, in: Relations internationales 75 (1993), S. 301-313, hier S. 302f. 1444 Siehe Poensgen an AA (18.9.1924), BArch R 3101,2475/1. 1445 Siehe Aufzeichnung Ritter (20.10.1024), BArch R 3101, 2474/1. Siehe auch zum folgenden. 1441 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 425 Ausfuhrkontrollen an den Generalsekretδr des Vφlkerbunds, Sir Eric Drum­ mond1446. Das Memorandum, das aus der Feder des Ministerialrats im Reichswirtschaftsministerium Reinshagen stammte1447, kam zu dem Schluß, daß das »System der Aussenhandelskontrolle [sie] [...] in Deutschland in der Zurückbildung begriffen [ist]«1448, nachdem mit der erfolgreichen Sanierung der deutschen Währung die Hauptursache für die Handelsbeschränkungen entfallen sei. Als Ziel der deutschen Handelspolitik formulierte Reinshagen den Wegfall aller Handelsbeschränkungen außerhalb der Zollpolitik. Seiner Auffassung nach konnte dieses Ziel aber erst erreicht werden, wenn die wirtschaftlichen Diskriminierungen des Versailler Vertrags entfielen und besonders auf dem Gebiet der Sachlieferungen »die Unübersichtlichkeit der deutschen Reparationsleistungen«1449 beendet würde. An dieser Position wurde erneut deutlich, daß die deutsche Handelspolitik immer auch revisionspolitische Ziele verfolgte. Nach der Enquete des Völkerbunds fanden vom 26. bis 28. Mai 1925 tatsächlich auch Expertengespräche zum Thema Ein- und Ausfuhrverbote unter Leitung des Comite economique statt1450. Als deutscher Experte wurdetsrponlie ä titre personnel wiederum Reinshagen entsandt. Nachdem die erste Sitzung »mehr zu einem Verhör der Sachverständigen«1451 wurde, entwickelten sich die beiden übrigen Sitzungen stärker zu »zwanglose[n] Erörterungen«1452. Meinungsverschiedenheiten bestanden vor allem zwischen der Position Frankreichs, das von Serruys vertreten wurde, der die bestehenden Ein- und Ausfuhrverbote weitgehend aufrechterhalten wollte, und der Position Italiens, das auf die Abschaffung der Verbote drängte. Deutschland neigte der Position Italiens zu, Reinshagen vermied es aber, sich zu exponieren. Es kam zwar zu keinem konkreten Ergebnis, doch waren die Verhandlungen insofern positiv für Deutschland, als es sich als Befürworter eines freien Warenverkehrs präsentieren konnte, ohne sich in irgendeiner Form festlegen zu müssen. Nachdem der italienische Vorstoß zur Abschaffung der Ein- und Ausfuhrverbote gezeigt hatte, daß die französische Position in der Außenhandelspolitik ziemlich isoliert war, beschloß nun Frankreich selbst, in der internationalen 1446 Siehe Drummond an Aschmann (14.1.1925), in BArch R 3101, 2475/1. Bei dem Text des Memorandums handelt es sich höchstwahrscheinlich um: Aufzeichnung Reinshagen [?], [10.12.1924], BArch R 3101, 2475/1 (Datum und Urheberschaft Reinshagens gehen hervor aus: Ritter an RWiM [16.3.1925], BArch R 3101, 2475/1). Reinshagen war zudem Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligungen, siehe Aschmann an AA, (20.4.1925), BArch R 3101, 2475/1. 1448 Aufzeichnung Reinshagen [?], [10.12.1924], BArch R 3101, 2475/1. Siehe auch zum folgenden. 1449 Ibid. 1450 Über diese Konferenz siehe Aufzeichnung Reinshagen [28.5.1925], BArch R 3101, 2479. 1451 Ibid. 1452 Ibid. 1447 426 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung Wirtschaftspolitik die F٧hrungsrolle zu ٧bernehmen, um so stδrkeren Einfluß auf die Entwicklung ausüben zu können. Auf der sechsten Vollversammlung des Völkerbunds schlug der französische Delegierte und ehemalige Minister Louis Loucheur am 24. September 1925 die Einberufung einer Weltwirtschaftskonferenz vor, die sich mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage befassen sollte1453. Stresemann äußerte sich grundsätzlich positiv zur geplanten Konferenz: Deutschland wird in seiner zentralen europäischen Lage und mit seiner überlegenen Arbeitsenergie, Unternehmungslust, Organisationskraft und wissenschaftlichen Ausbildung von jeder Vereinfachung und Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs Nutzen ziehen. Wenngleich einzelne deutsche Wirtschaftszweige dabei vielleicht Schaden leiden werden, so wird die deutsche Wirtschaft im ganzen davon per saldo doch mehr Vorteil als Nachteil haben1454. Allerdings war der Außenminister skeptisch, was die konkreten Erfolge der Konferenz anging: Fortschritte seien kaum zu erwarten, da in Deutschland vor allem die Landwirtschaft dem Abbau der Zollschranken ablehnend gegenüber stehe und die anderen europäischen Länder ihren Zollschutz gegenüber der deutschen Industrie aufrechterhalten wollten. Außerdem seien Zollsenkungen erst dann möglich, wenn alle Währungen stabilisiert seien. Eine von vielen geforderte europäische Zollunion trage die Gefahr in sich, gegen die USA gerichtet zu sein, weshalb vor allem die USA, aber auch England und Rußland, versuchen würden, solche Pläne zu verhindern. Trotz der geringen Aussichten auf Erfolg wollte sich die Reichsregierung dennoch positiv an der Weltwirtschaftskonferenz beteiligen, um wenigstens kleine Erfolge zu erzielen. Die Skepsis Stresemanns war, besonders hinsichtlich der Position Frankreichs, durchaus berechtigt. Während der deutsche Außenminister auch in seiner Rede anläßlich des deutschen Beitritts in den Völkerbund deutlich machte, daß die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems der Vorkriegszeit im Mittelpunkt der deutschen Außenwirtschaftspolitik stehe1455, lagen für Loucheur die Prioritäten ganz woanders1456: Eine Beseitigung der Zollgrenzen lehnte er ab. Er strebte vielmehr an, durch die Hebung des Lebensstandards der Arbeiter den Konsum zu steigern und durch Konzentration und Massenfabrikation die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen, um die Überproduktion der europäischen Nationalökonomien zu kompensieren. Mittel hierfür waren nach Loucheurs Auffassung vor allem internationale In1453 Siehe BUSSIERE, Aspects 6conomiques, S. 77; Text der Resolution der Vollversammlung in: Louis LOUCHEUR, Camets secrets 1908-1932 (hg. von Jacques DE LAUNAY), Brüssel 1962, S. 158. Zu den Motiven Loucheurs siehe KRÜGER, Ansätze, S. 157. 1454 Runderlaß Stresemann (21.1.1926), ADAPzvutsronmlkihgfedcaZWUSPNLKHEC Β 1,1, Nr. 51. Siehe auch zum folgenden. 1455 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 86. ,456 Zur Position Loucheurs vgl. »Eine Weltkontrolle fur die Kartelle. Loucheur über die Weltwirtschaftskonferenz«, Berliner Börsenzeitung (31.3.1927); »Die gegenwärtige Wirtschaftslage Europas. Vortrag Loucheurs in Berlin«, Frankfurter Zeitung (9.4.1927). 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 427 dustriekartelle unter Einbeziehung von Arbeitgebervertretern und Verbrau­ cherorganisationen1457. Eine besondere Bedeutung kam dabei dem Vφlkerbund zu: »Eine Weltkontrolle fur die Kartelle zu organisieren sei Aufgabe des Vφl­ kerbundsorganismus in Genf«1458. Eine wirtschaftliche Blockbildung lehnte Loucheur jedoch, zumindest im Hinblick auf Großbritannien, ab: »Die Politik des Blocks [...] habe in den Jahren 1914 bis 1918 ihre Beurteilung erfahren. Sie seizutsrnmlkihgedcbaEB im Blut erstickt [alle Herv. i.O.] worden. Die europäische Vereinigung müsse alle produktiven Völker umfassen, sie müsse England einbeziehen«1459. Über die Rolle der USA indessen schwieg er sich weitgehend aus, doch dürfte sein Hinweis auf die »europäische Vereinigung« darauf schließen lassen, daß diese Organisation vor allem dazu gedacht war, die wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten zu brechen1460. Den einzigen positiven Hinweis zur Handelspolitik bildete seine Forderung nach der Vereinheitlichung von Handelsverträgen. Die Position Loucheurs wurde weitgehend von Daniel Serruys, dem Leiter der Abteilung accords commerciaux im französischen Handelsministerium, geteilt1461. Einige Abweichungen gab es jedoch in Detailfragen: Im Gegensatz zu Loucheur befürwortete Serruys eine Kontrolle der Kartelle durch den Staat und auch die antiamerikanische Stoßrichtung war bei Serruys prononcierter. Darüber hinaus spezifizierte Serruys den Charakter, den die Kartellierung haben sollte: Vor allem Kartelle, die zur weitgehenden Verflechtung, z.B. durch den Austausch von Know-how und gemeinsame Vertriebsorganisationen, führten (also das, was in Deutschland als »Rationalisierungskartell«1462 bezeichnet wurde), seien anzustreben1463. Großbritannien war gegenüber dem loucheurschen Vorschlag skeptisch eingestellt und versuchte, aufgrund seiner imperialen Interessen »die Konferenz in ein unverbindliches Palaver umzufunktionieren«1454. Auf Kritik stießen in London vor allem die französischen Kartellvorstellungen. Die USA, die ebenso wie Rußland und Deutschland als Nichtmitglieder des Völkerbunds zur Weltwirtschaftskonferenz eingeladen wurden, standen der französischen Initiative ebenfalls skeptisch gegenüber. Sie fürchteten eine »europäische Ver1457 Diese Vorstellungen entwickelt Loucheur an dieser Stelle nicht weiter. »Die gegenwärtige Wirtschaftslage Europas. Vortrag Loucheurs in Berlin«, Frankfurter Zeitung (9.4.1927). 1459 Ibid. 1460 Nach der Weltwirtschaftskonferenz trat dies auch offen zutage, siehe »Amerikas Furcht vor einer europäischen Wirtschaftseinheit«, Berliner Börsenzeitung (1.10.1927). 1461 Zur Position Serruys siehe »La reorganisation de nos industries et les grands cartels internationaux. Une interview de M. Serruys«, L'Information (30.4.1927) und »Frankreich und die Weltwirtschaftskonferenz. Unterredung mit dem französischen Hauptdelegierten, Ministerialdirektor Daniel Serruys«, Rheinisch-Westfälische Zeitung (4.5.1927). 1458 1462 1463 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 92. Siehe »La r6organisation de nos industries et les grands cartels internationaux. Une interview de M. Serruys«, L'Information (30.4.1927). 1464 SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 87. 428 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung schwφrung«1465, die zur »Entstehung zweier rivalisierender Industrieblφcke«1466 f٧hre, und Angriffe auf ihre eigene protektionistische Handelspolitik. Ihre Po­ sition war deshalb betont zur٧ckhaltend1467. Die Konstellation1468 im Vorfeld der Wirtschaftskonferenz sah also so aus, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien jede Form eines kontinentaleuropäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses verhindern wollten - und vor allem die USA an einer generellen Liberalisierung des Handels nicht interessiert waren. In Paris und Berlin war man sich zwar darüber einig, daß es zu einer »Wirtschaftsverständigung« kommen sollte, die als notwendiges Korrelat zum in Locarno initiierten politischen Entspannungsprozeß gesehen wurde1469; beide Seiten zeigten jedoch völlig gegensätzliche Wege auf, die zu diesem Ziel fuhren sollten: Deutschland befürwortete den Freihandel, während Frankreich auf die internationale Kartellierung setzte. Nachdem auf zwei vorbereitenden Konferenzen das Mandat der Delegierten und das Programm festgelegt worden waren1470, tagte die Weltwirtschaftskonferenz vom 4. bis 23. Mai 1927 in Genf. 50 Staaten hatten Delegierte zu den Gesprächen in die Schweiz entsandt1471. Es handelte sich dabei allerdings nicht um eine Regierungskonferenz, sondern um eine Tagung unabhängiger Experten, die jedoch in enger Abstimmung mit den Regierungen ernannt worden waren1472. Besonders Frankreich hatte sich dafür ausgesprochen, keine offiziellen Regierungsvertreter zu entsenden, weil es fürchtete, daß ansonsten die französische Handelspolitik kritisiert würde1473. Entsprechend ihres Auftrages konnten die Delegierten auch keine konkreten Beschlüsse fassen oder gar Konventionen beschließen, sondern nur Empfehlungen abgeben1474. Die deutsche Delegation in Genf bestand aus dem Rechtsanwalt und RDIFunktionär Clemens Lammers, dem Gewerkschafter Wilhelm Eggert, dem ehemaligen Reichsernährungsminister und Präsidenten des deutschen Bauernbunds Andreas Hermes, dem Industriellen Carl Friedrich von Siemens, der auch Präsident des vorläufigen Reichswirtschaftsrates war, und dem Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Ernst Trendelenburg. Die Bedeutung, die die Reichsregierung der multilateralen Ebene der Wirtschaftsdiplomatie 1465 Ibid. Ibid. 1467 Siehe Runderlaß Ritter (10.6.1927), ADAPzywvutsrponmlihgfedcbaZWVUSQONMLKHE Β V, Nr. 218. 14i8 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 88f. 1449 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524. 1470 Die erste vorbereitende Konferenz begann am 26.4.1926, die zweite dauerte vom 1 5 ­ 19.11.1926, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 459f., 493. 1471 Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 100. 1472 Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 368. 1473 Siehe Berthelot an Delegation Genf (20.9.1926), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 629. 1474 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 89. 1466 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 429 zumaß, wurde daran deutlich, daß Trendelenburg, der anfänglich Verhandlungsführer für die deutsch-französischen Handelsvertragsgespräche war1475, sich seit Anfang 1926 hauptsächlich mit der Weltwirtschaftskonferenz beschäftigte. Auffällig an der Zusammensetzung der deutschen Delegation war, daß die protektionistisch orientierte Schwerindustrie nicht vertreten war, und auch der Vertreter der Landwirtschaft, Hermes, dürfte als Zentrumsabgeordneter in Handelsfragen eher liberaler eingestellt gewesen sein als andere landwirtschaftliche Interessenvertreter aus dem Spektrum der DNVP. Die französischen Hauptdelegierten, die von einer Anzahl technischer Berater begleitet wurden, waren Louis Loucheur, Daniel Serruys und der Präsident des französischen Kohlenverbandes (C.C.H.F.), Henri de Peyerimhoff1476. Peyerimhoff vertrat eine etwas andere Auffassung zur internationalen Kartellierung als seine beiden Kollegen, weil er forderte, daß zuerst die französische Wirtschaft selbst rationalisiert und besser organisiert werden müsse, bevor es zu internationalen Absprachen großen Stils käme1477. Wie Loucheur unterstützte er aber das Konzept derronmigedc economie dirigee, also der verstärkten Planung und Organisation der Wirtschaft1478. Auch galt Peyerimhoff gegenüber einer deutsch-französischen Wirtschaftskooperation aufgeschlossen1479. Nach der Eröffnung der Konferenz durch eine Generalaussprache wurden drei Kommissionen gebildet, die sich mit den Themen Landwirtschaft, Finanzen und Bevölkerungsfragen (Kommission A), Industrie (B) sowie Handelsund Marktproblemen (C) befaßten1480. Die französische Delegation war mit dem Ziel nach Genf gereist, durch ihre Vorschläge für die internationale Kartellierung die Kritik gegen den neuen französischen Zolltarifentwurf, den Handelsminister Bokanowski am 7. März 1927 dem Parlament vorlegt hatte, abzubiegen1481. Da aber nicht nur Deutschland, sondern auch die Schweiz und andere Länder gerade Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich führten, nutzten diese das Genfer Forum, um vor allem die französische Handelspolitik zu kritisieren1482. Doch nicht nur die französische Zollpolitik, auch das französische Konzept zur internationalen Kartellierung stieß - vor allem bei den deutschen und englischen Delegierten - auf Widerstand1483. Schließlich war Loucheur 1475 Vgl. Kap. 4.2.2. Siehe Rieth an AA (30.4.1927),iheSRA ΡAAA R, 28241. 1477 Siehe »Französische Wirtschaftsgesinnung. Zur Internationalen Wirtschaftskonferenz«, Kölnische Zeitung (30.4.1927). 1478 Siehe MOLLIER, Republiques, S. 486. 1479 Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 493. 1480 Siehe Aufzeichnung Imhoff [?] (8.9.1926), BArch R 3101, 2479. 1476 1481 1482 1483 Vgl. RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 54-56. Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 94f. Siehe Ministerbesprechung (2.6.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 244. 430 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung der einzige, der die Idee der internationalen Kartellierung verfocht, nachdem fast alle bedeu­ tenden Redner vor ihm die freiere Gestaltung des Handelsverkehrs als die Kardinal frage behandelt, oder gar, wie v. Siemens, vor dem Glauben an die Wunderkraft der privaten Or­ ganisation gewarnt und ihr die freie Konkurrenz als das unentbehrliche, den technischen und den φkonomischen Fortschritt am meisten fordernde Prinzip gegen٧bergestellt haben1484. In der Resolution, die die Konferenz schließlich auch mit französischer Zustimmung verabschiedete, wurden der Protektionismus verurteilt und die Staaten zur Senkung der Zölle aufgefordert1485. Die internationale Staatengemeinschaft wurde außerdem ermuntert, möglichst langfristige Handelsverträge auf Grundlage der Meistbegünstigung abzuschließen, um Zollschwankungen zu vermeiden und dadurch den Welthandel zu stabilisieren. Internationale Konferenzen sollten einberufen werden, um den wirtschaftlichen Austausch zu fördern. Die Bedeutung der Weltwirtschaftskonferenz lag - und dies konnte aufgrund der Bedingungen, unter denen die Tagung stattgefunden hatte, auch gar nicht anders sein - hauptsächlich im Atmosphärischen und Grundsätzlichen: »Der Erfolg der Wirtschaftskonferenz liegt nach v. Siemens weniger in positiven Ergebnissen als in der Bildung einer öffentlichen Weltmeinung über die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die zweckmäßige Art der Wirtschaftsförderung sowie in der persönlichen Fühlungnahme der leitenden Wirtschaftsfiihrer in reger Zusammenarbeit«1486. Aus Sicht des AA war positiv zu vermerken, daß die wirtschaftsliberalen Tendenzen, wie sie der deutschen Außenwirtschaftspolitik zugrunde lagen, gestärkt wurden1487, während die französische Politik eines europäischen, insbesondere gegen die USA gerichteten, Wirtschaftsblocks auf Grundlage internationaler Kartelle eine Absage erhalten hatte1488. Im Sinne einer langfristigen Modernisierungswirkung lag die Bedeutung der Genfer Weltwirtschaftskonferenz vor allem in der Vorbildfunktion fur das GATT und die WTO1489. Nach der Weltwirtschaftskonferenz sollte es vor allem Deutschland sein, das die Speerspitze für die Liberalisierung des Welthandels bildete. Auf der Rats 1484 Ibid. Siehe Reichswirtschaftsministerium, Weltwirtschaftskonferenz, S. 45,47. 1486 Ministerbesprechung (2.6.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 244. 1487 Siehe »Die Weltwirtschaftskonferenz«, Wirtschaftsdienst Nr. 22 (3.6.1927). 1488 Siehe Runderlaß Ritter (10.7.1927), ADAPutsrnmlihgfecaVNEB Β V, Nr. 218. Bussiere geht meines Er­ achtens fehl, daß eine europäische Wirtschaftsorganisation v.a. am Widerstand Englands gescheitert ist, siehe BussifeRE, Organisation dconomique, S. 305f. Die Konfliktlinien verliefen vielmehr zwischen Deutschland mit seiner prononcierten Freihandelspolitik und der französischen Kartellpolitik, während England sich weitgehend desinteressierte. Wegen der Bedeutung der USA für die Reparationspolitik konnte und wollte Deutschland auch keine gegen die USA gerichtete Politik betreiben. 1489 Siehe FLEURY, League of Nations, S. 516. 14,5 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 43 \ tagung des Vφlkerbunds vom 13. bis 17. Juni 1927 forderte Stresemann als Berichterstatter ٧ber die Wirtschaftskonferenz, an der Umsetzung der Resolu­ tion zu arbeiten1490, was jedoch von den meisten anderen Ratsmδchten abge­ lehnt wurde1491. Stresemann selbst machte daf٧r insbesondere den englischen Widerstand verantwortlich1492. Daran wurde deutlich, daß sowohl die französische Auffassung, die europäischen Wirtschaftsprobleme durch Kartellierung zu lösen, als auch der deutsche Ansatz, zum relativ unbeschränkten Weltwirtschaftssystem der Vorkriegszeit zurückzukehren, keine breite Unterstützung fanden. Entscheidend war hier, wie in anderen Politikbereichen, die fehlende Stellungnahme Englands zugunsten einer Option. Wenig später forderte Trendelenburg im Wirtschaftsausschuß des Völkerbunds, der ab dem 12. Juli 1927 tagte, erneut die Umsetzung der Resolution der Weltwirtschaftskonferenz, also vor allem die Veröffentlichung und Vereinheitlichung der Zolltarife, später dann auch einen Zollabbau1493. Die Regierungen sollten außerdem zu Stellungnahmen aufgefordert werden, wie die Resolution verwirklicht werden könnte. Die übrigen Vertreter relativierten allerdings den Vorschlag Trendelenburgs, so daß eine konkrete Aktion nicht zustande kam. Dem beharrlichen Drängen Trendelenburgs war es auch zu verdanken, daß vom 17. Oktober bis 8. November 1927 die erste Konferenz des Völkerbunds zur Abschaffung von Ein- und Ausfuhrverboten stattfand. Ihre Bedeutung bestand vor allem darin, daß eine Konvention erarbeitet werden sollte, die über die »platonische[n] Erklärungen«1494 der Weltwirtschaftskonferenz hinaus zu ersten konkreten Maßnahmen zur Handelsliberalisierung führen sollte. Allerdings entbrannte schnell ein Streit darüber, in welchem Umfang Handelshemmnisse abgebaut werden sollten1495. Deutschland forderte möglichst wenige Ausnahmen und die generelle Ächtung von Ein- und Ausfuhrverboten. Zwischen der deutschen und der englischen Delegation kam es bald zu heftigen Auseinandersetzungen um das englische Importverbot für Farbstoffe. Deutschland forderte dessen Abschaffung, England lehnte dies aus Furcht vor der deutschen Konkurrenz ab1496. Als Retorsion hielt Deutschland deshalb an seinem Kohlenein- und -ausfuhrverbot fest, was indes weniger England traf, das selbst genug Kohlen forderte, als die anderen europäischen Staaten, die dadurch bewegt werden sollten, auf die englische Regierung Druck auszuSiehe Runderlaß Bülow (25.6.1927), ADAPxutsronmlihgfedcbaZYWVUTSRPNMLIHGECBA Β V, Nr. 255. Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 113f. 1492 Siehe ibid. S. 114. 1493 Siehe ibid. S. 118. 1494 Trendelenburg an Curtius (8.11.1927), BArch R 3101,20464. 1495 Siehe GUILLAIN, Problemes douaniers intemationaux, S. 63. 1496 Siehe Beaumarchais an Botschaft London (30.10.1927), MAE 1918­1940 Y (Internatio­ nale), 629. 1490 1491 432 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung ٧ben1497. Letztendlich stimmte England doch noch einer Befristung des Ein­ fuhrverbots f٧r Farbstoffe zu, ohne allerdings einen festen Termin f٧r dessen Abschaffung zu nennen1498. In der abschließenden Konvention1499 konnte sich Deutschland insofern durchsetzen, als daß Ein- und Ausfuhrverbote prinzipiell verboten und Ausnahmen (z.B. sanitäre, Veterinäre Bestimmungen und Maßnahmen zum Jugendschutz) restriktiv ausgelegt wurden. Allerdings war eine Reihe von Ausnahmen vorgesehen, die bis zu einer Folgekonferenz angemeldet werden mußten, und die vor allem Kohlen, Alteisen und Farbstoffe betrafen. Außerdem wurden die Kolonial- und Mandatsgebiete aus der Konvention ausgeklammert, so daß die britischen und französischen Präferenzsysteme für ihre Imperien ausgenommen blieben. Dies war problematisch, weil die Kolonien und Mandatsgebiete wichtige Rohstofflieferanten waren. Die Konvention, die zustande gekommen, aber noch nicht in Kraft gesetzt worden war, stellte zwar einen Fortschritt dar, drohte jedoch durch die zahlreichen Ausnahmeregelungen ausgehöhlt zu werden. Trendelenburg zeigte sich vor allem von den großen Schwierigkeiten überrascht, die die Lösung des in seinen Augen relativ einfachen Problems der Ein- und Ausfuhrverbote bereitet hatte1500. Am Konferenzverlauf wurde außerdem klar, daß Deutschland mit seinen weitgehenden Liberalisierungsforderungen keine Unterstützung in Frankreich, Großbritannien und den USA fand, allerdings hatten sich während der Verhandlungen auch protektionistische Partikularinteressen deutscher Wirtschaftskreise, namentlich aus den Reihen der Filmindustrie und des Bergbaus, artikuliert1501. Das weitere Schicksal der Konvention über den Abbau von Handelshemmnissen machte deutlich, daß die Liberalisierung des Welthandels, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, von den meisten Staaten abgelehnt wurde: Auf der Folgekonferenz über Ein- und Ausfuhrverbote, die vom 3. bis 19. Juli 1928 stattfand, hatte die Zahl der Ausnahmeanträge stark zugenommen1502. Nach schwierigen Verhandlungen konnte die Konvention zwar zum 1. Januar 1930 vorläufig in Kraft treten1503, doch scheiterte sie letztlich an der Ablehnung Polens, weil viele Staaten (unter anderem auch Deutschland) ihre Inkraftsetzung von der polnischen Zustimmung abhängig gemacht hatten1504. Die Abschaffung von Ein- und Ausfuhrverboten war aber nur eine Front, an der die Reichsregierung gegen Handelshemmnisse kämpfte. Ende 1927 unternahm Trendelenburg im Wirtschafitsausschuß des Völkerbunds einen Vorstoß 1497 Siehe ibid. Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 146. 1499 Hierzu siehe ibid. S. 148f. 1500 Siehe Trendelenburg an Curtius (8.11.1927), BArch R 3101, 20464. 1501 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 150f. 1502 Siehe ibid. S. 163. 1503 Siehe GUILLAIN, Problfemes douaniers internationaux, S. 75. 1504 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 224f. 1498 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 433 zur Senkung von Zφllen1505. Diese Initiative scheiterte jedoch wiederum am Widerstand Frankreichs und Großbritanniens. Serruys beharrte auf seinem Standpunkt, Zollsenkungen von der Kartellierung der betreffenden Industrie abhängig zu machen und diese zudem über mehrere Jahre zu strecken. Außerdem sollten nur Höchstzölle festgelegt werden, ohne über die konkrete Senkung von Tarifen zu verhandeln. England lehnte Zollsenkungen grundsätzlich ab. Streit bestand außerdem darüber, ob zuerst die Zollnomenklatur vereinheitlicht1506 oder sofort mit Zollreduzierungen begonnen werden sollte. Ein besonderes Problem für allgemeine Zollsenkungen bildeten die Vereinigten Staaten: Die USA, die keineswegs daran dachten, Abstriche von ihrer Hochzollpolitik zu machen, würden, da sie mit den meisten europäischen Staaten Handelsverträge auf Basis der Meistbegünstigung geschlossen hatten, automatisch in den Genuß allgemeiner Zollsenkungen kommen, ohne selbst einen einzigen Tarif absenken zu müssen. Viele europäische Staaten weigerten sich deshalb, ihre Zölle zu senken, um nicht den USA Handelsvorteile gewähren zu müssen, ohne selbst dafür Gegenleistungen zu erhalten1507. Bewegung gab es lediglich auf dem Gebiet eines »Zollfriedens«: England weil es die Pläne zur engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa, die der Belgier Paul Hymans und Briand auf der Bundesversammlung im September 1929 vorgeschlagen hatten, ablehnte - schlug vor, daß sich die Völkerbundsstaaten verpflichten sollten, für zwei Jahre auf Zollerhöhungen zu verzichten1508. Während dieses »Zollwaffenstillstands« sollten Verhandlungen über Zollreduzierungen stattfinden1509. Deutschland stimmte diesem Vorschlag vor allem deshalb zu, weil er weniger offensichtlich gegen die USA gerichtet war als die belgischen und französischen Europapläne. Im AA vermutete man insbesondere bei der französischen Initiative ein starkes antiamerikanisches Moment1510. Trotz der Skepsis der französischen Regierung - Handelsminister Pierre Etienne Flandin befürchtete, daß die Verhandlungen genutzt werden könnten, um vor dem Inkraftsetzen der Zollfriedenskonvention die Tarife 1505 Zum folgenden siehe ibid. S. 155­157. Das Problem war insofern relevant, weil es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer enormen Differenzierung der Zolltarife gekommen war: Hatte der französische Zolltarif 1892 noch 1 500 Position, so umfaßte er 1927 4 371. Analoges galt für den deutschen Tarif: 1888 beinhaltete er 489 Positionen, 1925 2 300, siehe GUILLAIN, Problemes douaniers internationaux, S. 77. Die Differenzierung war problematisch, weil sie eine immer gezieltere Diskriminierung von Waren ermöglichte und Zollsenkungen durch die Aufsplitterung von Einzeltarifen umgangen werden konnten, siehe »Trendelenburg über die Weltwirtschaftskonferenz«, Berliner Börsenzeitung (24.2.1927). 1507 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 157. 1508 Allerdings war der Zollfrieden ursprünglich eine belgische Idee, siehe 6ric BuSSliRE, La France, Ia Belgique et l'organisation economique de l'Europe, 1918-1925, Paris 1992, S. 330. 1509 Siehe ibid. S. 183 1510 Siehe Schubert an Hoesch (10.12.1929), ADAPrN Β ΧΙΠ, Nr. 189. 1506 434 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung nochmals krδftig zu erhφhen1511 ­ und der vorsichtigen Haltung der Reichs­ regierung, hier stand eine Zolltarifhovelle an, weil der deutsche Zolltarif von 1925 zum Ende des Jahres 1929 auslief4512, kam es zu Gesprδchen ٧ber den Zollfrieden. Nachdem die Verhandlungen fast an der ablehnenden Haltung Serruys' scheiterten1513, konnte auf Basis eines Kompromißvorschlags1514 von Flandin am 24. März 1930 die Genfer Handelskonvention unterzeichnet werden. Darin verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, bis zum 1. April 1931 vertraglich festgelegte Zölle nicht zu erhöhen. Der Vertrag sollte stillschweigend für jeweils sechs Monate verlängert werden. Der neue amerikanische Smoot-Hawley-Tarif, der die amerikanischen Zölle nochmals erhöhen sollte, ließ die Chancen fur die Ratifikation allerdings sinken, da wiederum die USA trotz ihrer eigenen protektionistischen Zölle durch die Meistbegünstigungsklausel vom Einfrieren der europäischen Zölle profitiert hätten. Schließlich scheiterte die Konvention aber nicht nur an der amerikanischen Handelspolitik, sondern auch an der deutschen Nichtratifikation: Die deutsche Handelspolitik neigte - ausgehend von agrarprotektionistischen Interessen - ab Anfang der 1930er Jahre selbst immer mehr zu Zollerhöhungen1515. Auch auf multilateraler Ebene kam es also nach den ermutigenden Anfängen auf der Weltwirtschaftskonferenz kaum zu Fortschritten bezüglich der Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen - und somit der Verwirklichung des liberalen Modells der Friedenssicherung. Von den größeren Ländern war es allein Deutschland, das versuchte, zum Freihandelssystem der Vorkriegszeit zurückzukehren. Wie Deutschland strebte zwar auch Frankreich eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Länder an, machte dies aber von der Kartellierung einiger wichtiger Wirtschaftszweige abhängig. Die USA, die an ihrer Hochzollpolitik festhielten, und selbst Großbritannien, das vor dem Ersten Weltkrieg der Hort des Freihandels gewesen war, lieferten keine positiven Beiträge zur Liberalisierung der Weltwirtschaft. 4.2.4. Weltwirtschaftliche Verflechtung und die Modernisierung der Außenpolitik: Eine Bilanz Ebenso wie auf politischer Ebene blieb die Modernisierung der Außenpolitik auf wirtschaftlichem Gebiet fragmentarisch. Bezogen auf die deutsch-franzö1511 Siehe Hoesch an AA (25.11.1929), ADAPvutsrponmljihgfedcbaZXWVUTSRPNLIHEDC Β ΧΠΙ, Nr. 155; Laurence BADEL, Treve douaniere, lib&alisme et conjoncture (septembre 1929­mars 1930), in: Relations internatio­ nales 82 (1995), S. 141­161, hier S. 148. 1512 Siehe Schubert an Hoesch (10.12.1929), ADAP Β XIII, Nr. 189. 1313 Siehe Wiehl an Schubert (4.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 134; BADEL, Treve douanifre. 1514 Siehe Wiehl an Schubert (8.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 141. 1515 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 248. 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 435 sischen Wirtschaftsbeziehungen blieb der deutsch­franzφsische Handelsver­ trag der einzig wirkliche Erfolg, der jedoch so lange unvollstδndig bleiben mußte, wie er nicht von allgemeinen Zollsenkungen begleitet wurde. Nach den positiven Ansätzen der Weltwirtschaftskonferenz blieben die multilateralen Vorstöße, das Welthandelssystem zu liberalisieren und zur Vorkriegsordnung (die keineswegs dem idealtypischen Zustand entsprochen hatte) zurückzukehren, in den Ansätzen stecken. Insgesamt, so die Bilanz aus Sicht der Modernisierung, gab es, was die weltwirtschaftliche Verflechtung anging, kaum Fortschritte, und bereits ab 1928 setzte, wie Guillain feststellt1516, ein Trend hin zu mehr Protektionismus ein, der sich mit der Weltwirtschaftskrise noch verschärfte. Warum aber kam die Modernisierung der Außenpolitik im wirtschaftlichen Bereich nur schleppend voran? Die Gründe hierfür waren komplex und lagen nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet. Eine wesentliche Ursache lag sicherlich in den schwierigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die ökonomische Situation der Nachkriegszeit war vor allem durch die Kriegsfolgen geprägt, wie der Fehlallokation von Ressourcen, dem Auftreten neuer, außereuropäischer Wettbewerber, den Währungsturbulenzen oder neuen Zollgrenzen, vor allem in Mittel· und Osteuropa. Verschärft wurden diese Wirtschaftsprobleme unter anderem durch die Reparationen1517. Es ergab sich somit ein Teufelskreis: Die schwierige wirtschaftliche Lage verhinderte die Liberalisierung der Weltwirtschaft, die fehlende Liberalisierung wiederum verzögerte die ökonomische Erholung. Ein weiterer wesentlicher Grund für den weitgehend gescheiterten Abbau von Wirtschaftshemmnissen lag darin, daß die Liberalisierung der Weltwirtschaft gerade nicht als Patentrezept zur Lösung der internationalen Wirtschaftsprobleme gesehen wurde. Von den großen Wirtschaftsmächten trat allein Deutschland auf internationaler Ebene als konsequenter Verfechter des Freihandels auf. Frankreich setzte zur Lösung der Probleme dagegen auf die internationale Kartellierung, und die klassische Freihandelsnation England zog sich mehr und mehr auf ihr imperiales Präferenzsystem zurück. Besondere Verantwortung kam aber den Vereinigten Staaten zu, die durch ihre protektionistische Politik die Liberalisierung blockierten. Auf internationaler Ebene schienen dabei auch die Interessen der nationalen Verbandsführer durch. Von den wirtschaftlichen Interessenverbänden kamen keine eindeutigen Impulse für oder gegen die Liberalisierung. Einige Branchen - in Deutschland zum Beispiel die chemische und die Elektroindustrie, in Frankreich insbesondere die Landwirtschaft - waren freihändlerisch eingestellt, andere, wie die deutsche Schwerindustrie und Landwirtschaft und die französische verarbeitende Industrie, protektionistisch. In Deutschland spiegelte sich dieser innerwirt1516 15,7 Siehe GUILLAIN, Problemes douaniers intemationaux, S. 38f. Vgl. Kap. 4.2.1. 436 4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung schaftliche Konflikt auch im Kabinett wider. Zwar trat die Reichsregierung nach außen hin in den 1920er Jahren recht konsequent für den Freihandel ein. Diese Außenwirkung konnte aber nur deshalb erreicht werden, weil das Reichsernährungsministerium als Hort des Protektionismus zunächst nur geringen Einfluß auf die Gestaltung der Außenwirtschaftspolitik hatte, die vor allem beim AA und beim Reichswirtschaftsministerium angesiedelt war. Mit der beginnenden Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland auch zu einer verschärften Agrarkrise wurde, und dem Rechtsruck des Kabinetts Brüning stieg der Einfluß landwirtschaftlicher Interessen, so daß die bis dahin liberale Außenwirtschaftspolitik zunehmend durch eine agrarprotektionistische Politik ersetzt wurde1518. Auch der deutsch-französische Handelsvertrag fiel dieser neuen Politik schließlich zum Opfer1519. Die Umsetzung einer liberalen Außenwirtschaftspolitik wurde durch die prekären Mehrheitsverhältnisse in den nationalen Parlamenten erschwert. Wäre eine konsequente Liberalisierung durchgeführt worden, hätte dies kurzfristig - vor allem in den stark durch Zölle geschützten Industrien - durch die dadurch neu entfachte Konkurrenz zu einer Anpassungskrise geführt. Nicht wettbewerbsfähige Unternehmen wären dadurch zerstört oder zu schmerzhaften Anpassungen gezwungen worden. Die damit einhergehenden sozialen Folgen, wie vor allem Arbeitslosigkeit, waren Gründe, die viele Regierungen von radikalen Einschnitten Abstand nehmen ließen. Der - nicht genau absehbare Langzeiterfolg der Liberalisierung (gemäß der liberalen Theorie größere Effizienz und sinkende Preise durch größere Konkurrenz), der zudem nur schwer einer konkreten politischen Entscheidung zuzuordnen ist, wurde deshalb vielfach dem wirtschaftspolitischenyutsronmlihgedD muddling through, dem Durchwursteln, dem systeme D geopfert. Das Problem, daß die erwartete Wirkung einer Maßnahme oder Reform erst in einem größeren zeitlichen Abstand erfolgt, der Effekt dieser Maßnahme nur schwer kalkulierbar und oft von einer gewissen Umstellungskrise begleitet ist, ist ein wichtiger Grund, daß solche Maßnahmen oftmals dem Machterhalt der Regierenden geopfert wurden - und werden. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, daß die Modernisierung der Außenpolitik sowohl politische als auch wirtschaftliche Aspekte umfaßte, die sich im Idealfall gegenseitig ergänzen sollten: Im liberalen Modell der Friedenssicherung dienen dem Ziel der Friedenssicherung sowohl friedliche Konfliktregelungsmechanismen als auch zunehmender materieller Wohlstand und gesellschaftliche Stabilität. Wie in den Ausführungen über die Sicherheitspolitik zu sehen war, war diese Politik aber weder in Frankreich noch in Deutschland unumstritten. Während in Paris und Berlin Einigkeit darüber bestand, daß die 1518 Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 232f. Vgl. Sylvain SCHIRMANN, La d6nonciation du traiti de commerce franco-allemand d'aoüt 1927, in: Relations internationales 82 (1995), S. 163-173. Siehe auch DERS., Les relations economiques et financieres franco-allemandes, 1932-1939, Paris 1995, S. 52-62. 1519 4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems 437 Außenwirtschaftspolitik auch ein Mittel der Außenpolitik sein konnte und vielleicht sogar sein mußte, divergierten doch die vornehmlichen außenpolitischen Ziele: Für Frankreich, das hauptsächlich die Wahrung seinerutsriec securite als außenpolitisches Ziel verfolgte, mußte Außenwirtschaft deshalb eine andere Bedeutung haben als für Deutschland, das Revisionspolitik betrieb. Es wurde dargelegt, daß Paris, analog zu seinen drei sicherheitspolitischen Konzepten auch drei außenwirtschaftliche Konzepte verfolgte. Die französische Politik der internationalen Kartelle bildete dabei keine Ausnahme: Sie diente einmal zur Stabilisierung des durch den Krieg geschaffenen Status quo; sie diente aber auch der Kontrolle der deutschen Industrie1520. Durch Kartellvereinbarungen würden - so sah man dies zumindest in Frankreich zu dieser Zeit - der unbändigen deutschen Wirtschaftskraft Zügel angelegt. Man konnte sich dem Bullen nicht in den Weg stellen, also versuchte man ihn zu reiten. Ein freier wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen Deutschland und Frankreich hätte, so interpretierte das die französische Führung, zwangsläufig zu einer wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands gefuhrt. Internationale Kartelle sollten diese Dominanz vermeiden helfen. Deutschland wiederum verfolgte mit seiner Freihandelspolitik auch eine revisionspolitische Agenda. Die Abschüttelung der wirtschaftlichen Beschränkungen des Versailler Vertrags war dabei ein Revisionsziel per se. Befreit von den Fesseln des Friedensabkommens sollte die deutsche Wirtschaftskraft dann zur Erreichung anderer Revisionsziele genutzt werden. Allerdings beruhte sowohl die deutsche wie auch die französische Sicht der Wirtschaftsentwicklung - und die daraus gezogenen sicherheits- und revisionspolitischen Schlüsse - auf einer Fehlwahrnehmung: Die französische Wirtschaft expandierte in den 1920er Jahre stark, während die deutsche stagnierte1521. Aufgrund der unterschiedlichen außenpolitischen Zielsetzungen konnten Deutschland und Frankreich also nur sehr mühsam gemeinsame außenwirtschaftliche Zielsetzungen entwickeln. Wie im Bereich der Sicherheitspolitik wirkte sich aber auch hier vor allem die fehlende Einflußnahme der angelsächsischen Mächte negativ aus. Besonders die USA nahmen dabei ihre Führungsrolle, die ihnen aufgrund ihrer dominierenden Position in der Weltwirtschaft zufiel, nicht nur nicht wahr, sondern schadeten durch ihre Hochzollpolitik und ihrer unnachgiebigen Haltung in der Schulden- und Reparationspolitik der wirtschaftlichen Verständigung. 1520 Siehe NOCKEN, Internationales Stahlkartell, S. 168. Vgl. Franipois CARON, Changement technique et culture technique, in: Maurice L6VYLEBOYER (Hg.), Histoire de la France industrielle, Paris 1996, S. 232-253, hier S. 242; Albrecht RLTSCHL, Marc SPOERER, Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901-1995, Stuttgart 1997, S. 24. 1521 5. SCHLUSS DER ABBRUCH DER MODERNEN AUSSENPOLITIK UND BRIANDS EUROPAPLAN Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur das endg٧ltige Ende des europδischen Konzerts und den Aufstieg der Fl٧gelmδchte USA und Sowjetunion, sondern auch eine Modernisierung der Außenpolitik. Neben die nationale Macht- und Interessenpolitik der europäischen Länder, die ihren sichtbarsten Ausdruck im Imperialismus der Vorkriegszeit gefunden hatte, trat ein neues - moderneres außenpolitisches Werte- und Politiksystem. Dieses neue Konzept sah den Zweck der Außenpolitik nicht mehr ausschließlich in der nationalen Interessensicherung, sondern verstärkt in der Wahrung des Friedens und der Sicherheit der Staatengemeinschaft begründet. Die Säulen dieses Friedensmodells waren die Schaffung von kollektiven Sicherheitsstrukturen und die Wiederherstellung des durch den Krieg zerstörten liberalen Weltwirtschaftssystems. Kollektive Sicherheit mit ihren Kernpunkten friedliche Streitschlichtung und Abschreckung sollte internationale Konflikte verhindern und der freie Welthandel die tieferen Ursachen hierfür - Armut und soziale Ungerechtigkeit - beseitigen. Demokratie im Innern der Staaten sollte die Basis dieses modernen, liberalen Friedensmodells bilden. Der wichtigste Propagandist dieses Friedensmodells, der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, konnte diese Vorstellungen im Versailler Vertrag allerdings nur unvollständig umsetzen. Das Friedensabkommen blieb in sich widersprüchlich. Modernen Elementen wie vor allem der Völkerbundssatzung und den Bestimmungen über das internationale Arbeitsamt - standen Bestimmungen gegenüber, die traditionellen außenpolitischen Zielsetzungen geschuldet waren. Letztere betrafen vor allem die Abtrennung vieler deutscher Gebiete ohne Volksabstimmung oder die wirtschaftlichen Bestimmungen, die dem Verlierer auferlegt wurden. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland die Revision des Versailler Vertrags und in Frankreich die nationale Sicherheit vor allem vor Deutschland im Mittelpunkt der jeweiligen außenpolitischen Bemühungen standen, konnten sich auch diese beide Länder nicht völlig der Modernisierung der Außenpolitik entziehen. Sowohl Deutschland als auch Frankreich konnten dabei auf inhaltliche wie organisatorische Entwicklungen aus der Vorkriegszeit zurückgreifen. Die beispielsweise bereits vor dem Krieg angemahnte stärkere Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange fand in den administrativen Reformen der auswärtigen Dienste in Deutschland und Frankreich ihren Niederschlag. Insbesondere zwischen den Jahren 1923/24 und 1929 wurden Elemente des liberalen Modells der Friedenssicherung auch in die deutschfranzösischen Beziehungen integriert. 440 5. Schluß Bez٧glich der Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen wurden im Unter­ suchungszeitraum erhebliche Erfolge erzielt: Deutschland trat dem Völkerbund bei, die Locamo-Verträge konstituierten, zumindest für den Bereich der deutschen Westgrenze, ein kollektives Sicherheitssystem, und die Schiedsverträge, die Deutschland - ebenfalls in Locarno - mit seinen östlichen Nachbarn schloß, trugen zur Erhöhung der Sicherheit bei. Ein weiteres wichtiges Element der außenpolitischen Modernisierung wurde mit dem Kriegsächtungspakt erzielt, in dem der Krieg als Mittel der Politik erstmals grundsätzlich verurteilt wurde. Auch bezüglich der Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, dem zweiten wichtigen Aspekt der Modernisierung der Außenpolitik, wurden wichtige Fortschritte erzielt: Durch den deutsch-französischen Handelsvertrag vom 17. August 1927 konnte der bilaterale Handel zwischen Deutschland und Frankreich erleichtert werden. Über die Meistbegünstigungsklausel wirkte diese Liberalisierung auch auf die Handelsbeziehungen Deutschlands und Frankreichs mit anderen Staaten. Auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genf im Mai 1927 wurde der freie Handelsverkehr als Ziel der internationalen Wirtschaftspolitik deklariert, mit den Nachfolgekonferenzen erste Schritte auf dem Weg zur Verwirklichung dieses Zieles getan. Die Modernisierungsanstrengungen machten sich auch in einer zunehmenden Verständigungsbereitschaft zwischen Deutschland und Frankreich bemerkbar, die sich im weitesten Sinne auf die »Zivilgesellschaft«1 bezog. Auf diese Verständigungsbemühungen kann an dieser Stelle nur exemplarisch2 1 Unter »Zivilgesellschaft« soll dabei »eine Sphäre sozialer Institutionen und Organisationen« verstanden werden, »die nicht direkt der Funktion politischer Selbstverwaltung integriert sind und nicht unmittelbar staatlicher Regulierung unterliegen, doch in verschiedener Weise auf den Staat einwirken: für ihn Grundlagen bereitstellen, Rahmenbedingungen schaffen, seine Leistungen ergänzen, ihn aktiv beeinflussen. In Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medien, Verbänden usw. erfüllt die Zivilgesellschaft Funktionen, die sich nicht in der Koordinierung von Privatinteressen erschöpfen, sondern die Konstitution eines allgemeinen tragen. Sie bildet kollektive Identität(en), begründet Gemeinsinn, stiftet Öffentlichkeit, fördert soziale Sicherheit«, Emil A N G E H R N , Zivilgesellschaft und Staat. Anmerkungen zu einer Diskussion, in: Politisches Denken. Jahrbuch 1992, Stuttgart, Weimar 1993, S. 145-158, hier S. 150. Zur Diskussion um den Begriff der Zivilgesellschaft siehe Hans Manfred B O C K , Das deutschfranzösische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen Deutschland und Frankreich, in: D E R S . (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, S. 13-120, hier S. 14-16. 2 Umfassende bibliographische Angaben zum Thema finden sich in: Hans Manfred B O C K , Bibliographischer Versuch zu den zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, in: D E R S . (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, S. 379-477. Weitere bibliographische Hinweise bei Ina B E L I T Z , Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära. Programme Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan eingegangen werden, weil sie nicht den eigentlichen Kern des Themas dieser Untersuchung betreffen, der sich ja vor allem auf das Regierungshandeln be­ zieht. Da aber per defmitionem die Zivilgesellschaft mit staatlichem Handeln im Zusammenhang steht, soll dieser Aspekt zumindest kurz angedeutet wer­ den. Gerade im Umfeld von Locarno kam es zu einer Anzahl von Initiativen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das deutsch-französische Verhältnis zu verbessern. Dazu gehörte unter anderem das Deutsch-Französische Studienkomitee (Comite franco-allemand d'information et de documentation), das durch Einwirkung auf die Presse dazu beitragen wollte, Mißverständnisse und falsche Darstellungen über das jeweils andere Land auszuräumen3. Des weiteren wurden bei den Tagungen der Mitglieder verschiedene Aspekte der deutschfranzösischen Beziehungen erörtert4. Der Initiator des Studienkomitees, der luxemburgische Industrielle Emile Mayrisch5, hatte die Organisation ausdrücklich mit dem Bestreben ins Leben gerufen, den in Locarno eingeleiteten Prozeß zu unterstützen. Das Komitee erhielt dabei sowohl vom Quai d'Orsay als auch vom AA wohlwollende »moralische Unterstützung«6. Insgesamt war eine erstaunliche Vielfalt deutsch-französischer Kontakte festzustellen. Auf wirtschaftlichem Gebiet kam es zu Gesprächen über eine deutsch-französische Kooperation zur Erschließung des französischen Kolonialreiches7, die die ausdrückliche Unterstützung Briands hatten, im französischen Kolonialministerium jedoch auf Bedenken stießen8. Auch Pläne zu einer und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Frankfurt a. M. u.a. 1997 (Diss. Münster 1995, Europäische Hochschulschriften, Reihe 2, 745), S. 535-569. Zusammenfassend siehe Hans ManfredUTSONMKCBA BOCK, Kulturelle Eliten in den deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Rainer HUDEMANN, Georges-Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 73-91. 3 »L'objet et Taction du Comitd fran9ais-allemand d'information«, Le Temps (20.6.1926); Ζ (Europe) Allemagne, 388. Vgl. OKCB Aufzeichnung Seydoux (10.11.1925), MAE 1918-1929yusrponmlihgedcaVSRQOMHEBA BOCK, deutsch-französisches Institut, S. 27-40. 4 Vgl. Druckschrift »Comit6 franco-allemand d'information et de documentation« [ca. Anfang 1928] in: MAE PAAP 261, 6. 5 Vgl. hierzu insbes. Guido MÜLLER, Emile Mayrisch und westdeutsche Industrielle in der westeuropäischen Wirtschaftsverständigung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Galerie. Revue culturelle et pedagogique 10/4 (1992), S. 545-559, und DERS., Der luxemburgische Stahlkonzem ARBED nach dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der deutsch-französischen Wirtschaftsverflechtung, in: Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande 25/4 (1993), S. 535-543. Dort auch weitere Literaturhinweise. 6 Runderlaß (ohne Unterschrift) (11.6.1926), Ρ AAA R, 105610. Für Frankreich: Aufzeichnung Seydoux (9.1.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 388. 7 Siehe Margerie an Quai d'Orsay (12.2.1926), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 390. 8 Siehe Hoesch an AA (30.11.1926), BArch R 3101, 2640. 442 5. Schluß wirtschaftlichen Zusammenarbeit gegenüber der Sowjetunion, die ebenfalls Sympathien auf höchster politischer Ebene fanden, wurden mehrfach erörtert9. Weniger ambitiös, aber mit vermutlich höheren Realisierungschancen, waren Pläne zur Gründung einer deutschen Wirtschaftsstelle in Paris und einer deutsch-französischen Handelskammer10. Auch auf kulturellem Gebiet kam es zu Initiativen zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen. So sprach sich Painleve für eine Wiederaufnahme der geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Westen aus11, und im Sommer 1926 wurde der Boykott, der seit Kriegsende gegenüber der deutschen Wissenschaft bestanden hatte, aufgehoben12. Selbst im militärischen Bereich kam es zu einer gewissen Entspannung: Der französische Militärattache in Berlin, Oberst Rene Tournes, traf im November 1929 mit dem Chef der deutschen Heeresleitung, General Wilhelm Heye zusammen13. Vermittelt wurde dieses Treffen durch den deutschen General Georg von der Lippe, der wiederum mit Arnold Rechberg bekannt war. Rechberg war als Propagandist eines deutsch-französischen Bündnisses hervorgetreten, das dazu beitragen sollte, Europa vor der Gefahr des Bolschewismus zu schützen. Allerdings sollte dieses Bündnis erst dann zustande kommen, wenn einige wesentliche deutsche Revisionsziele erfüllt worden wären. Nichtsdestotrotz wertete Tournes die Gespräche positiv, da sie beitragen könnten, unter der deutschen Rechten - Lippe war Mitglied im »Stahlhelm« und in der DNVP - die Feindschaft gegenüber Frankreich abzubauen14. Auch auf parteipolitischer Ebene gab es Fortschritte. Wenig erstaunlich war dies bei den Sozialisten, die traditionell internationalistisch eingestellt waren. Hier kam es zu verschiedenen Treffen zwischen Politikern mehrerer europäischer Länder, unter ihnen auch Franzosen und Deutsche15. Der ehemalige Minister Le Troquer schlug im Sommer 1928 die Gründung einer deutschfranzösischen Parlamentariergruppe vor, der allerdings in Frankreich vor al- Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (2.3.1926), MAE 1918-1929zyutsrponmlihgfedcaUTSR Ζ (Europe) Allema­ gne, 391; Margerie an Quai d'Orsay (7.12.1928), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. 10 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (5.11.1928), BArch R 3101,2644/1. 11 Siehe Hoesch an AA (3.6.1926), Ρ AAA R, 70527. 12 Siehe Brigitte SCHROEDER­GUDEHUS, Die Jahre der Entspannung. Deutsch-französische Wissenschaftsbeziehungen am Ende der Weimarer Republik, in: Yves COHEN, Klaus MANFRASS (Hg.), Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Internationales Kolloquium, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Paris in Verbindung mit dem Deutschen Museum München und der Citi des Sciences et de l'Industrie Paris, München, 12.-15. Oktober 1987, München 1990, S. 105-115, hier S. 106. 13 Siehe Touinis an 2 ' Bureau (30.11.1928), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. Siehe auch zum folgenden. 14 Siehe Tournfes an 2' Bureau (17.4.1929), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. 15 Siehe Hoesch an AA (29.12.1927), Ρ AAA R, 28243. 9 Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan 443 lern linke und Mittelparteien angehφrten16. Einige Reichstagsabgeordnete aus SPD, DVP, DDP, Wirtschaftspartei und Zentrum fanden sich nach anfδngli­ chem Zφgern schließlich bereit, eine deutsche Partnerorganisation zu gründen17. Eine erste gemeinsame Sitzung fand am 31. Mai 1929 in Paris statt18. Zwischen französischen und deutschen Katholiken kam es auf Anregung des Studienkomitees ebenfalls zu Treffen, mit denen die Hoffnung verbunden wurde, »daß die Anknüpfung vertrauensvollerer Beziehungen zwischen dem deutschen und französischen Katholizismus ein wertvolles Agens in den politischen Beziehungen beider Völker sein kann und wird«19. Interessant waren diese Gespräche wegen der »enge[n] Verbindung in Frankreich zwischen Katholizismus und Nationalismus«20 und weil »Katholizismus und Reaktion in Frankreich traditionell weitgehend identisch sind«21. Da das deutsche Zentrum seinen Schwerpunkt im zum Teil noch immer französisch-besetzten Rheinland hatte, konnte man in diesen Treffen tatsächlich einen wichtigen Schritt Richtung deutsch-französischer Annäherung sehen. Nach einer neuerlichen Zusammenkunft zwischen deutschen und französischen Katholiken im Dezember 1929 gewann Hoesch den Eindruck, daß dieses Treffen »ein voller Erfolg gewesen ist. Seine Folgen werden sich immer deutlicher auswirken, und das ist um so höher zu bewerten, als er sich auf verhältnismässig [sie] rechtsstehende Kreise erstreckt, die der Annäherungspolitik bisher ziemlich ablehnend gegenüber standen«22. Selbst die extreme Rechte entwickelte Ideen zu einer Annährung. Der Reichstagsabgeordnete Moritz Klönne (DNVP) schlug eine deutschfranzösisch-britische Zusammenarbeit vor, wenn zuvor weitreichende deutsche Revisionsforderungen erfüllt würden23. Kapitän Ehrhardt, als Freikorpsführer zu einer gewissen Berühmtheit gelangt, sprach sich ebenfalls für eine Annäherung an Frankreich aus24. Wie bei Rechberg waren diese Überlegungen antibolschewistisch motiviert25. In Frankreich fand dieser politische Ansatz unter anderem Zustimmung bei Robert Fabre-Luce und Paul Reynaud26. Die Fortschritte in den Bereichen der kollektiven Sicherheit, der wirtschaftlichen Kooperation und auch der gesellschaftlichen Annäherung sind um so Siehe Aufzeichnung Corbin (19.6.1928), MAE 1918­1929zyutsrqponmlihgfedcbaWUTSRQPOM Ζ (Europe) Allemagne, 391. Siehe Wirth an Le Trocquer (23.3.1929), ΡAAA R, 70534. 18 Siehe Aufzeichnung Deslaurens [31.5.1929], ΡAAA R, 70534. 19 Aufzeichnung Papen (o.D.), Ρ AAA R, 70533. 20 Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.9.1928), ΡAAA R, 70533. 21 Ibid. 22 Hoesch an AA (14.1.1930), ΡAAA R, 70535. 23 Siehe Guerlet an Quai d'Orsay (23.9.1929), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. 24 Siehe Hoesch an AA (24.12.1929), Ρ AAA R, 70535. 25 Siehe ibid.; Guerlet an Quai d'Orsay (23.9.1929), MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allema­ gne, 392. 26 Siehe Aufzeichnung Bassenheim (12.11.1926), Ρ AAA R, 70528. 16 17 444 5. Schluß erstaunlicher vor dem Hintergrund der schwierigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen. Auch die Kürze der Zeit, in der diese Fortschritte erreicht wurden, belegt, daß die Modernisierung der Außenpolitik eine beträchtliche Wirkung entfaltete. Trotz all dieser Fortschritte blieb die Modernisierung der Außenpolitik während des gesamten Untersuchungszeitraumes jedoch stark beschränkt und der eingeleitete Modernisierungsprozeß war nicht unumkehrbar. Wie bereits dargelegt wurde, blieben die Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen des Völkerbunds fakultativ und wurden nicht konkretisiert. Versuche dazu, wie beispielsweise das Genfer Protokoll, scheiterten. Auch Locarno beinhaltete keine konkreten Pläne für den Ernstfall und war außerdem regional begrenzt. Der potentiell größere Konfliktherd - die deutsche Ostgrenze - blieb von internationalen Sicherheitsgarantien weitgehend ausgenommen. Ebenso führte der Kriegsächtungspakt zu keiner materiellen Verbesserung der Sicherheitslage. Trotz aller Fortschritte seit Kriegsende gab es auch am Ende der 1920er Jahre ein europäisches Sicherheitsproblem. Auch im außenwirtschaftlichem Bereich blieben die Erfolge der Modernisierung bescheiden: Selbst nach dem deutsch-französischen Handelsvertrag blieb das Zollniveau zwischen den Staaten hoch, auf internationaler Ebene kam es sogar bereits ab 1928 wieder zu steigenden Tarifen. Der wirtschaftsliberale Impetus, der von der Genfer Weltwirtschaftskonferenz ausging, verpuffte in den Nachfolgekonferenzen weitgehend, wie das Scheitern der Konvention über die Beseitigung von Handelshemmnissen zeigte. Die internationale Kartellierung der Nachkriegszeit führte zur Ausklammerung wichtiger Produkte aus der eigentlichen Handels- und Zollpolitik und relativierte damit die ohnehin begrenzten Ansätze zur Liberalisierung der Weltwirtschaft weiter. Viele deutsch-französische Projekte, wie beispielsweise die koloniale Zusammenarbeit oder eine wirtschaftliche Kooperation gegenüber Rußland, kamen über das Stadium von Vorüberlegungen kaum hinaus. Auch die oben genannten zivilgesellschaftlichen Verständigungsbemühungen blieben insgesamt doch recht bescheiden. Es fällt auf, daß es sich bei den Aktiven der verschiedenen Organisationen vielfach um die gleichen Personen handelte27. Diese Gruppierungen waren außerdem keine Massenorganisationen, sondern kleine, begrenzte Zirkel28. In der Öffentlichkeit wurden diese Verständigungsbemühungen darüber hinaus kaum wahrgenommen. Die Besu27 Siehe »Organisations fran?aises pour Pentente europeenne«, Europäische WirtschaftsUnion (1.4.1928). 28 Siehe LaurencexvutsrqponmlihgfedcbaYUSRPLKJHGFEDBA Β ADEL, Les promoteurs franfais d'une union economique et douanidre de l'Europe dans l'entre­deux­guerres, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fedirale europ6enne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu a Geneve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 17­29, hier S. 29. Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan 445 che Thomas Manns und Alfred Kerrs in Paris verliefen weitgehend unbeachtet29. Herriot, der sich öffentlich zur deutsch-französischen Aussöhnung bekannte, sah sich deswegen in Paris immer noch den »übelsten Anpöbelungen«30 ausgesetzt. Viele Verständigungsbemühungen, wie beispielsweise die des deutsch-französischen Studienkomitees, litten an einer schlechten finanziellen Ausstattung31, und innerhalb dieser Organisation kam es zu Spannungen: Viele Franzosen befürchteten, daß deutsche Industrielle das Studienkomitee dazu benutzen wollten, eine »hegemonie economique«32 zu errichten. Insgesamt gelangt man zu dem Eindruck, daß bei diesen verschiedenen Initiativen vielfach nur die jeweiligen nationalen Standpunkte dargelegt wurden, ohne daß es wirklich zur Erörterung von praktikablen Lösungsmöglichkeiten kam33. Allerdings gilt auch für diesen Bereich der deutsch-französischen Beziehungen, daß der offene Meinungsaustausch und die Gesprächsbereitschaft nur wenige Jahre nach dem Krieg bereits einen erheblichen Fortschritt an sich bedeuteten. Woran lag es, daß die Modernisierung der Außenpolitik in den deutschfranzösischen Beziehungen relativ beschränkt blieb? Eine wichtige Ursache war, daß sie sowohl in Deutschland als auch in Frankreich stets nur eine außenpolitische Option war. Frankreich verfolgte je nach politischer Konjunktur noch (mindestens) zwei andere außenpolitische Strategien: Die Bündnispolitik und - vielleicht prononcierter als gemeinhin angenommen wird - eine Politik der eigenen Stärke. Auch nach Locarno waren diese beiden Konzepte - wie das Zusammengehen zwischen England und Frankreich in Abrüstungsfragen und die ursprünglichen französischen Pläne zum Briand-Kellogg-Pakt zeigten - bedeutsam. Die Projekte zur Befestigung der französischen Ostgrenzen Stichwort Maginot-Linie - verdeutlichten, daß Frankreich seine Sicherheit ' Siehe Hoesch an AA (20.8.1927),yxwvutsrponmlihgedcbaSRPMIEBA Ρ AAA R, 28242. Ibid. 31 Siehe Seydoux an Margerie (23.5.1927), MAE PAAP 261, 42. Poincare selbst versuchte, die französischen Großbanken zu stärkerem finanziellen Engagement zu bewegen. Diese hielten sich jedoch zurück: Sie forderten, daß erst die Gesetze abgeschafft werden müßten, die die Betätigung französischer Banken im Ausland verboten, und die Bestimmungen des Versailler Vertrags zur Beschlagnahme deutschen Eigentums in Frankreich aufgehoben würden. Erst dann könnten sich die Banken auch tatkräftig am wirtschaftlichen Austausch und der Verständigung beteiligen, siehe Moret an Celier (20.5.1927), Ex-BNP, 41688-4; Aufzeichnung ohne Unterschrift [Moret?] (8.6.1927), Ex-BNP, 41688-4. 32 Aufzeichnung Seydoux (15.6.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 388. 33 Siehe beispielsweise das Interview mit Bruhn, Mitglied des deutsch-französischen Studienkomitees und Generaldirektor bei Krupp, in dem dieser die deutschen Revisionsforderungen (Rückgabe des Korridors, Truppenabzug usw.) wiederholte: »Um die deutschfranzösische Verständigung«, Kölnische Volkszeitung (6.6.1926). In dem Gespräch zwischen Heye und Tournes legte der deutsche General ebenfalls die deutschen Revisionswünsche dar, auf die Tournes jedoch kaum einging, siehe Toumfes an 2° Bureau (30.11.1928), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392. 2 30 446 5. Schluß weiterhin stärker durch die eigene Verteidigungsbereitschaft als durch den deutschen Verständigungswillen gewährleistet sah. Für die deutsche Revisionspolitik wiederum spielte auch nach Locarno die »russische Option« eine Rolle, wie der Berliner Vertrag und die Bemühungen zeigten, die sowjetischen Bedenken hinsichtlich eines deutschen Völkerbundsbeitritts zu zerstreuen. Mit anderen Worten: Eine moderne Außenpolitik - im Sinne der Herstellung von kollektiver Sicherheit, Stabilität und Wohlstand - war bis 1929 nicht so sehr dasutsronlihedcZM Ziel der deutschen und der französischen Außenpolitik, sondern nur eine von mehreren Methoden zur Erreichung anderer außenpolitischer Ziele, nämlich zur Erlangung von securite einerseits und zur Durchsetzung von Revisionsforderungen andererseits. Allerdings darf der Einsatz moderner außenpolitischer Methoden nicht so verstanden werden, daß es sich dabei lediglich um ein rein taktisches Element zur Umsetzung sicherheits- und revisionspolitischer Zielsetzungen handelte34. Weder Deutsche noch Franzosen machten einen Hehl aus ihren außenpolitischen Zielen, so daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß die Verständigungspolitik genutzt wurde, um ihre eigentlichen politischen Absichten zu verschleiern. Beide Regierungen versuchten außerdem, ihre außenpolitischen Ziele mit den modernen Methoden in Einklang zu bringen. Sowohl die deutsche Revisions- als auch die französische Sicherheitspolitik veränderten sich unter dem Einfluß des liberalen Modells nicht unerheblich: Deutschland entwickelte ein Revisionsmodell, das verstärkt auf friedliche Mittel setzte35, und Frankreich gestaltete seine Sicherheitspolitik so, daß sie mehr auf deutsche Befindlichkeiten Rücksicht nahm, indem es stärker auf die Finanzdiplomatie setzte und auf das Rheinland als strategisches Glacis verzichtete. Soutou kommt zu dem Schluß, daß seit Locarno »aucun dirigeantsrnifa fran9ais n'echappe completement au dogme de la securite collective«36. Dennoch konnten die latenten Widersprüche zwischen französischem Sicherheitsstreben, deutschem Revisionsverlangen und liberalem Modell in den 1920er Jahren nicht völlig ausgeglichen werden, worin letztlich auch eine der Ursachen für das Scheitern der modernen Außenpolitik lag. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Mittel und die Möglichkeiten der modernen Außenpolitik im Untersuchungszeitraum noch neu und unerprobt waren. Es bedurfte eines langen Lern- und Anpassungsprozesses, um Widersprüche zwischen Methoden und Zielen aufzuspüren und die richti34 Diese These vertritt beispielsweise Hagspiel, siehe Hermann HAGSPIEL, Die Auffassung und die Benützung von Konzepten der >neuen Diplomatie< in der deutsch-französischen Verständigungspolitik (1924-1928), in: JacquesxvutsrqponmligedcaYURMLHFEA ΒΑΚίέΐΎ, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867­1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S. 335-353, hier S. 351. 35 Siehe Kap. 4.1.4. 36 SOUTOU, S£curit<£ collective, S. 131. Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan gen Konsequenzen daraus zu ziehen, zumal die Komplexität der internationalen Beziehungen durch die enge Verknüpfung wirtschaftlicher, politischer und sozialer Fragen extrem zugenommen hatte. Das Scheitern der modernen Außenpolitik Ende der 1920er Jahre war deshalb keine Zwangsläufigkeit. Die verständigungsorientierte Politik hatte im Gegenteil dazu beigetragen, viele Probleme, die sich unmittelbar aus dem Krieg und dem Versailler Vertrag ergeben hatten, zumindest vorläufig zu lösen und zu einem modus vivendi zu gelangen. Das Reparations- und Schuldenproblem wurde durch den Dawes- bzw. Young-Plan entschärft. Durch die deutsche Entwaffnung und die Demilitarisierung des Rheinlandes sowie durch Locarno kam es zu Fortschritten im Bereich der Sicherheit. Die Lösung dieser Fragen wurde innerhalb des Rahmens der Bestimmungen des Versailler Vertrags erzielt und stellte diesen nicht grundsätzlich in Frage. In eine kritische Phase trat die Modernisierung jedoch, als die Folgeprobleme des Versailler Vertrags gelöst worden waren und die grundsätzliche Entscheidung und Neubewertung darüber näherrückte, ob und wie Sicherheitsbzw. Revisionspolitik weiter betrieben werden und in welchem Verhältnis diese beiden Ziele zu einer modernen Außenpolitik stehen sollten. Nach der Haager Konferenz - und erst dann - konnte darüber verhandelt werden, wie die europäische Nachkriegsordnung (mit dem deutschfranzösischen Verhältnis als zentralem Problem) grundsätzlich ausgestaltet werden sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt, Ende 1929/Anfang 1930, stand die Frage an, welche grundsätzlichen Ziele die französische und deutsche Außenpolitik verfolgen sollte. Das zentrale Problem dabei war: Würden Deutschland der Revision und Frankreich der Sicherheit als Oberziel ihrer Außenpolitik treu bleiben, oder würden diese beiden Ziele einer gesamteuropäische Friedensordnung auf Grundlage des liberalen Modells untergeordnet? Anders als Knipping37, Niedhart38 und andere39 sehe ich das Jahr 1927/28 nicht als Wendejahr der internationalen Beziehungen, von dem an die Verständigungspolitik langsam abzubröckeln begann, sondern vielmehr als eine Plateau-Phase, in der es um die grundsätzliche Neuorientierung der Außenpolitik ging. Zur Jahreswende 1929/1930 waren das europäische Staatensystem und die deutschfranzösischen Beziehungen also in einer äußerst labilen Entscheidungssituation, weil es zu einer prinzipiellen Festlegung des Verhältnisses von Zielen und Methoden der zukünftigen deutschen und französischen Außenpolitik kommen mußte. In dieser Situation kam dem Europa-Plan Briands eine besondere Bedeutung zu, weil darin ein mögliches Zukunftskonzept für das internationale Staatensystem (zumindest für dessen europäischen Teil) entwickelt wurde. Die deutsche 37 38 39 Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 32. Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 8 0 - 8 7 . Siehe JACOBSON, L o c a r n o Diplomacy, S. 101; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 138. 448 5. Schluß Stellungnahme zum französischen Europa-Memorandum gibt deshalb - zumindest begrenzt - Auskunft darüber, welche Ziele Deutschland in Zukunft verfolgen würde. Die Beurteilung der Intentionen, die Briand und die französische Außenpolitik zu ihrer Europainitiative bewegten, wird vor allem dadurch erschwert, daß es nur wenige Anhaltspunkte gibt, die »die Hintergründe dieser französischen Initiative [...] erhellen«40. Nichtsdestotrotz läßt sich sagen, daß sich der briandsche Europaplan aus drei Quellen speiste: Erstens, den verschiedenen Zollunionsplänen, zweitens, der französischen Sicherheitspolitik und, drittens, im weitesten Sinne idealistischen Einstellungen41. Trotz der oftmals problematischen politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zirkulierten verschiedene Pläne fur eine Zollunion zwischen beiden Staaten. Auf französischer Seite hatten vor allem Bosc und Molinari eine Zollunion für möglich gehalten, da sich die beiden Volkswirtschaften auf ähnlichem Niveau befänden und sich gegenseitig ergänzten42. Hugo Stinnes sprach sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für eine deutsch-französische Zollunion aus, von der er Vorteile für die deutsche Industrie erwartete. Im Zusammenhang mit dem Auslaufen der Wirtschaftsbestimmungen des Versailler Vertrags zum 10. Januar 1925 begann sich das Reichswirtschaftsministerium ebenfalls mit einer deutsch-französischen Zollunion zu beschäftigen. Aus wirtschaftlichen Gründen hielt man diese für durchaus wünschenswert und technisch machbar. Zwei Gründe sprachen aber nach Ansicht des RWiM dagegen: Eine deutschfranzösische Zollunion würde wahrscheinlich dazu führen, daß die Exporte Englands und der USA nach Frankreich durch deutsche Produkte ersetzt würden, weshalb »die übrige Welt ein solches Gebilde bekämpfen«43 würde. Dadurch würde die europäische Wirtschaft nach den Kriegsfolgen und dem Ruhrkampf erneut in »Unruhen«44 versetzt, die insgesamt als schädlich beurteilt wurden. Eine weitere Schwierigkeit sah das RWiM darin, daß eine Zollunion die gemeinsame Planung der Zollpolitik und darüber hinaus auch anderer Bereiche der Wirtschaftspolitik notwendig machen würde. Frankreich allein darüber entscheiden zu lassen, war aus deutscher Sicht eine »unmögliche Vorstellung« und eine »kulturwidrige Konstruktion«45. Ein gemeinsames Zollparlament zur Regelung dieser Fragen würde dagegen wohl in Frankreich auf Ablehnung stoßen: »Rein politisch betrachtet ist Frankreich für die Vor- 40 41 KNIPPING, Locamo­Δra, S. 85. Siehe ibid. Ähnlich argumentieren WRIGHT, Stresemann, S. 483; SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 180; KRÜGER, Schwierigkeit, S. 123f. 42 Zum folgenden siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [1924],RΒrihdcbIA Arch R 3101, 20458. 43 Ibid. Ibid. 45 Ibid. 44 Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan 449 Stellung eines gemeinsamen [Zoll-, R.B.] Parlamentes heute nicht reif«46. Für den Moment sah man also in Deutschland eine Zollunion zwar prinzipiell für wünschenswert aber nicht realisierbar an. Stresemann selbst sprach sich allerdings gegenüber Margerie dafür aus, ein solches Projekt etwa zwischen 1930 und 1935 zu realisieren47. Eine deutsch-französische bzw. eine europäische Zollunion hatte aber nicht nur Anhänger in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Hier hatte die Union douaniere europeenne (UDE) eine gewisse Bedeutung. Sie war am 12. März 1925 nach einem »Aufruf an die Europäer« entstanden, den neben dem Franzosen Charles Gide unter anderem auch der Deutsche Edgar SternRubarth, der wiederum ein Vertrauter Stresemanns war48, sowie der Ungar Elemer Hantos unterzeichnet hatten49. Norman Angell, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Idee popularisiert hatte, daß weltwirtschaftliche Verflechtung Konflikte verhindern würde, weil diese ökonomisch sinnlos seien, war ebenfalls Mitglied50. Die UDE erlangte vor allem deshalb einen gewissen Einfluß, weil sie über gute Kontakte zum Quai d'Orsay verfügte51 und weil sie viele bedeutende Persönlichkeiten zu ihren Mitgliedern zählen konnte. Briand selbst war Ehrenpräsident, der ehemalige Minister Yves Le Trocquer Vorsitzender52. Seydoux saß im Verwaltungsrat, und zu den Mitgliedern zählten zahlreiche ehemalige Minister, Parlamentarier und Professoren. Der Nachfolger Serruys im französischen Handelsministerium, Paul Elbel, war ebenfalls Mitglied. War die Zielsetzung der Union douaniere anfangs auf den globalen Abbau von Handelshemmnissen ausgerichtet, verlagerte sich ihr Arbeitsschwerpunkt später zunehmend auf die Forderung nach einer regionalen wirtschaftlichen Kooperation in Europa53. Einen erneuten deutschen Vorstoß in dieser Frage unternahm Wilhelm Eggert, der als Vertreter des ADGB an der Genfer Weltwirtschaftskonferenz teilnahm. Dort schlug er - im Beisein Trendelenburgs - vor, zunächst zu einer Vereinheitlichung der Zollsätze und der Zollnomenklatur zu kommen, um anschließend über den schrittweisen Abbau der Zölle schließlich eine europäische Zollunion zu schaffen54. Diese Zollunion sollte wiederum Vorstufe für die Verwirklichung des weltweiten Freihandels sein. In der Tat: »Dies war nichts geringeres als die Vorwegnahme des 46 Ibid. Siehe Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929urponmlihgeaSEA Ζ (Europe) Allemagne, 524. 48 Siehe SCHÖNEBERGER, Diplomatie, S. 55, 69, 99. 49 Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18. 47 50 Siehe Aufzeichnung Corbin [?] (19.11.1928), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 635. Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18, 23. 52 Siehe »Organisations fran9aises pour l'entente europienne«, Europäische WirtschaftsUnion (1.4.1928); siehe auch zum folgenden. 51 53 54 Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18. Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 96. 450 5. Schluß Briand-Planes auf der Ebene der europäischen Handelsordnung«55, wurde jedoch von Frankreich und England abgelehnt. Trotz dieser Ablehnung blieb eine europäische Zollunion weiterhin in der Diskussion. Im Januar 1929 äußerte sich Serruys gegenüber Hoesch besorgt, daß Deutschland von der europäischen Wirtschaftskooperation zugunsten einer noch engeren Zusammenarbeit mit den USA abweichen könnte56. Eine Befürchtung, die Ritter für unbegründet hielt: Es ist nach wie vor eines der Hauptziele unserer Wirtschaftspolitik, die wirtschaftliche Verständigung innerhalb Europas zu fördern. Zur Erreichung dieses Zieles ist möglichst weitgehender Wirtschaftsausgleich zwischen Deutschland und Frankreich eine wichtige Voraussetzung. [...] Leider sind wir indessen bei der Verwirklichung dieser beiden Absichten durch zwei ungelöste Fragen erheblich behindert: Reparationen und Räumung57. Aus französischer Sicht - dies ist für den Zeitpunkt der Veröffentlichung der briandschen Europapläne von Bedeutung - war nach der vermeintlich erfolgreichen Lösung dieser beiden »ungelösten Fragen« auf der Haager Konferenz der Moment gekommen, die politische und wirtschaftliche Ordnung Europas weiter auszugestalten. Angestoßen durch die zunehmende Aktivität Briands auf dem Gebiet der europäischen Kooperation wurden auch vom Völkerbund Pläne für eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Länder entwickelt: Sir Arthur Salter, der Direktor der Section economique im Völkerbundssekretariat, und sein Stellvertreter, Pietro Stoppani, sprachen sich während der Bundesversammlung, auf der Briand seinen Europa-Plan vortragen wollte, für eine wirtschaftliche Stärkung Europas aus. Stoppani58, der in der wirtschaftlichen Zersplitterung Europas das Hauptübel für die schlechte Wirtschaftslage sah, schlug die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes nach Vorbild der USA vor. Allerdings sollte dies erst das Endziel einer langfristigen Entwicklung sein. Zunächst sollten die Zolltarife eingefroren und später schrittweise gesenkt werden. Stoppani sprach sich außerdem dafür aus, zunächst die Industrieländer zusammenzufassen, und die stärker agrarisch geprägten Staaten Ost- und Südosteuropas erst später, nach Lösung von deren Wirtschaftsproblemen, aufzunehmen. Die Pläne Salters bewegten sich in eine ähnliche Richtung. Auch er forderte einen zweijährigen Zollfrieden, dem Zollsenkungen folgen sollten59. Allerdings schien das Endziel Salters weniger ein gemeinsamer europäischer Markt zu sein, sondern vielmehr ein europäisches 55 Ibid. S. 97. Siehe Hoesch an AA (5.1.1929), ADAPutsronlihfedcaZXRPNIDBA Β XI, Nr. 8. Ritter an Botschaft Paris (31.1.1929), ADAP Β XI, Nr. 43. 58 Zu den Vorschlägen Stoppanis siehe BUSSLIRE, Organisation economique, S. 308f.; DERS., Aspects 6conomiques, S. 86. 59 Siehe Aufzeichnung Imhoff (6.9.1929), ADAP Β Xffl, Nr. 5. 56 57 Der Abbruch der modernen Auß enpolitik und Briands Europaplan 4 51 Prδferenzsystem mit Ausrichtung vor allem gegen die »amerikanische Ge­ fahr«60 und Vorkehrungen dagegen, daß die USA einseitig von der Meistbegünstigungsklausel profitierten. Im Europa der 1920er Jahre war die Idee einer Zollunion also durchaus verbreitet und dürfte - die Verbindung zwischen Briand und der UDE belegt dies - sicherlich eine wichtige Quelle für das französische Europamemorandum gewesen sein. Eine weitere Motivation ergab sich sicherlich aus dem nach wie vor ungestillten französischen Sicherheitsbedürfiiis. Locarno und der Briand-KelloggPakt stellten, wie bereits dargelegt wurde, noch keineswegs die umfassenden Sicherheitsgarantien dar, die Frankreich anstrebte61. Das Abkühlen des französisch-britischen Verhältnisses mit dem Regierungsantritt MacDonalds im Juni 1929 dürfte die französische Regierung dazu veranlaßt haben, mit dem Europaplan auch eine neue Initiative in der Sicherheitspolitik zu starten62. Naturgemäß am schwierigsten dürfte die Beantwortung der Frage nach den ideellen Grundlagen des briandschen Europamemorandums sein. Dennoch gibt es Anhaltspunkte dafür, daß der Europaplan nicht nur Resultat eines wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kalküls war, sondern auch idealistische Momente enthielt. Ein Element für den Friedenswillen Briands waren sicherlich die Kriegserfahrungen. Als Regierungschef während der Schlacht von Verdun, dem Synonym für den Wahnsinn des totalen Krieges, war er von dem Bestreben geleitet, seinen französischen Landsleuten und der Welt ein solches Massentöten für alle Zukunft zu ersparen63. Dies machte ihn keineswegs zu einem Pazifisten, der den Krieg als Mittel der Politik generell ablehnte. Er wollte jedoch ein für alle Mal erreichen, daß die Sicherheit Frankreichs gewährleistet war, mithin eine internationale Ordnung existierte, die einen neuen bewaffneten Konflikt unmöglich machte. Dieses Bedürfnis wurde von einem Großteil der politischen Klasse Frankreichs geteilt. Dem Comite fran9ais de Cooperation europeenne, das sich dem Ziel verschrieben hatte de »>developper la Cooperation des peuples de l'Europe dans le cadre et dans l'esprit de la Societe des Nations<«64, gehörte ein Großteil der Prominenz des Landes an. Als Ehrenpräsident dieser Vereinigung fungierte der Präsident der Republik, Gaston Doumergue, dem Ehrenkomitee gehörten unter anderem Poincare, Briand, Caillaux, Herriot und Painleve an. Zu den Mitgliedern gehörte - wie zur Union douaniere - wiederum Seydoux. Briands besonderes europäisches Enga60 Ibid. Siehe BARliTY, Briand, S. 134. 62 Siehe KNIPPING, Locanio-Ära, S. 58. 63 Siehe Jacques BARIETY, Aristide Briand. Les raisons d'un oubli, in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fdderale europöenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä Geneve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 1-13, hier S. 6. 64 »Comite fran^ais de coop6ration europeenne« [Mai 1927], Fundort: AN 313 AP, 220. 61 452 5. Schluß gement wurde auch daran deutlich, daß er sich in der Paneuropa-Union des österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi engagierte, deren Ehrenpräsident er war65. Coudenhove-Kalergi forderte eine enge deutschfranzösische Kooperation, paneuropäische Abrüstung und Militärkontrolle sowie eine deutsch-polnische Verständigung und eine Zollunion, unter der Voraussetzung allerdings, daß zwischen Deutschland und Frankreich Gleichberechtigung herrsche und die Revision offen gehalten würde66. Die Ehrenpräsidentschaft Briands in dieser Organisation war deshalb bemerkenswert, weil Teile des Quai d'Orsay den Zielen der Paneuropa-Union kritisch gegenüber standen. Seydoux lehnte vor allem den Ausschluß Englands und Rußlands aus den Plänen Coudenhoves ab, denn dies führe »forcement ä un groupement des Puissances domine par l'Allemagne«67, eine Kritik, die auch Berthelot teilte68. Den Vorbehalten des Quai d'Orsay Schloß sich die insgesamt noch kritischere Reichsregierung an. Bülow stellte fest: »Die große Schwäche der Coudenhove'schen Pläne lag von Anfang an darin, daß aus seiner Konzeption Paneuropas England und Rußland ausgeschlossen sein sollten«69. Da der von Coudenhove geplante europäische Staatenverband »nichts anderes als ein Abklatsch des Völkerbunds«70 sei, sei darüber hinaus zu befurchten, daß er zur Schwächung des Völkerbunds führen würde, was »vom deutschen Standpunkt durchaus unerwünscht wäre«71. Bülow riet auch deshalb zur Zurückhaltung, weil Coudenhove »in den letzten Jahren in steigendem Maße französische Tendenzen zu unterstützen schien«72 und empfahl, daß die Reichsregierung nicht offiziell an Veranstaltungen der Paneuropa-Union teilnehmen sollte, was dann auch so geschah. Auch die Pläne Arnold Rechbergs für ein deutsch-französisches Militärbündnis - die sich im Grunde genommen in eine ähnliche Richtung bewegten, wie die Coudenhove-Kalergis - stießen in Frankreich auf eine wesentlich größere Resonanz als in Deutschland. Die Gründe für die vergleichsweise größere französische Akzeptanz und die deutsche Skepsis waren dabei stets die gleichen: In Frankreich erblickte man darin ein probates Mittel zur Erhöhung der 65 Siehe Martin POSSELT, Die deutsch-französischen Beziehungen und der Briand-Plan im Spiegel der Zeitschrift Paneuropa, 1927-1930, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union f6d6rale europteme. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenuvutsrponmlihgfedbaTSRPOMLGFEB έ Genfeve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 31­51, hier S. 33. 66 Siehe Reinhard FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik, Stuttgart 1977 (Schriftenreihe der VfZG, 34), S. 11-16. 67 Aufzeichnung Seydoux (4.3.1927), MAE PAAP 261, 37. Siehe Berthelot an Seydoux (5.4.1928), MAE PAAP 261,42. Aufzeichnung Bülow (5.5.1930),idbRIA ΡAAA R, 70104. 70 Ibid. 71 Ibid. 72 Ibid. 68 65 De r Abbruch der modernen Auί enpo litik und Briands Euro paplan 4 53 eigenen Sicherheit, wδhrend in Deutschland vor allem bitter aufstieß, daß die Revisionsmöglichkeiten durch derlei weitgehende Verpflichtungen eingeschränkt würden. Neben den sicherheitspolitischen Implikationen, die sich aus den verschiedenen Projekten für einen Zusammenschluß Europas, seien sie nun von Rechberg, Coudenhove-Kalergi oder anderen, ergaben, muß aber sicherlich auch das visionäre, idealistische Element gewürdigt werden, und hier ist das besondere Engagement Briands zu betonen. Allerdings mußten die Ideen Briands fur eine engere europäische Zusammenarbeit lange reifen, bis er sie mit seiner spektakulären Rede vor dem Völkerbund am 5. September 1929 vor der Welt verkündete. Als entscheidendes Ereignis fur die Hinwendung Briands nach Europa sieht Bariety hauptsächlich den für Frankreich verheerenden Verlauf der Washingtoner Flottenkonferenz von 1922: Nur durch einen Zusammenschluß Europas, resümierte der damalige französische Ministerpräsident, könne vermieden werden, daß Europa künftig zwischen den USA und Rußland zerrieben werde73. Praktische Konsequenzen hatte dies zunächst keine, denn Briand mußte, nachdem er von Präsident Millerand auf der Konferenz von Cannes öffentlich gemaßregelt worden war, die Regierung verlassen. Einen neuen Impuls gewann der Europa-Gedanke bei Briand nach dem Abschluß der Verträge von Locarno, weil diese nach französischer Lesart das Sicherheitsproblem noch keineswegs gelöst hatten. Vor der Kammer erklärte er Anfang 1926 die Notwendigkeit eines europäischen Föderalstaates nach Vorbild der USA74. In den Jahren 1927/1928 erwähnte er Europa weniger, was Bariety jedoch weniger mit nachlassendem Interesse erklärt, sondern damit, daß Europa bereits »gemacht« wurde75: Deutschland trat dem Völkerbund bei, die Abrüstungsverhandlungen begannen, und auch auf wirtschaftlichem Gebiet kam es durch die Internationale Rohstahlgemeinschaft und die Handelsvertragsverhandlungen zu einer Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich. Gleichzeitig mußte Briand, nachdem Poincare wieder Ratspräsident geworden und der Versuch einer deutsch-französischen »Gesamtlösung« in Thoiry nicht zuletzt am Widerstand des französischen Regierungschefs gescheitert war, vorsichtiger agieren. Ab 1928 erwachte jedoch erneut das Interesse Briands an einer stärkeren europäischen Kooperation76. Nachdem Frankreich seine Position in den Verhandlungen mit den USA, die zum späteren Kriegsächtungspakt fuhren sollten, nicht hatte durchsetzen können, wurde Briand erneut klar, daß aus sicherheitspolitischer Sicht nicht viel von Washington zu erwarten war77. Das Verhalten der USA in der Kriegs73 Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 6f. Siehe ibid. S. 8. 75 »On >faisait< 1'Europe«, ibid. S. 9. 76 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63. 77 Siehe BARIETY, Pacte, S. 360. 74 454 5. Schluß schuldenfrage und der Zollpolitik sowie in der Minderheitenfrage und anderen Probleme im Völkerbund stärkte sein Interesse an einer besseren europäischen Zusammenarbeit78. Im März 1929 fertigte Jacques Rueff im Auftrag Legers eine Aufzeichnung an, »die als Urform des Europaplans gelten kann«79: Diese Aufzeichnung beinhaltete einen »pacte economique« der europäischen Regierungen, um die Stellung Europas in der Weltwirtschaft zu sichern. Ziel dieses Pakts sollte ein gemeinsamer Markt sein, wobei Einzelheiten den Beratungen von Experten vorbehalten werden sollten. Der neue, noch protektionistischere amerikanische Smoot-Harley-Zolltarif, der am 7. Mai 1929 in den Kongreß eingebracht wurde, und die zunehmende Zusammenarbeit zwischen deutschen und amerikanischen Unternehmen - zwischen General Motors und Opel bzw. General Electric und der AEG wurden Anfang 1929 Kooperationsabkommen unterzeichnet - verstärkten diese Forderungen noch80. Im April 1929 gelangte an die Öffentlichkeit, daß Briand nach dem erfolgreichen Abschluß der Reparationsverhandlungen eine europäische Zollunion und den Ausbau der deutsch-französischen Industriekartelle anstrebe. Auch beim Völkerbund in Genf griff »[d]er Gedanke an die Schaffung eines Europäischen Zollvereins< [...] unzweifelhaft mehr und mehr um sich«81. Auf der Ratstagung des Völkerbunds im Juni 1929 in Madrid erkundigte sich Briand bei Stresemann, was dieser über die französischen Zollunionsvorstellungen dächte82. Aufgrund der antiamerikanischen Stoßrichtung der französischen Pläne verhielt sich der deutsche Außenminister jedoch zurückhaltend83. Auch in Großbritannien herrschte wegen der Rolle der Dominions eine gewisse »Ratlosigkeit«84, was die französischen Ideen anging. Aus der Reaktion seiner Gesprächspartner zog Briand zwei Konsequenzen: Zum einen rückte der Quai d'Orsay von seiner prononciert antiamerikanischen Linie ab85, zum anderen lancierten Briand und andere französische Politiker die Europaideen verstärkt in der Öffentlichkeit86, wobei sich auch die Paneuropa-Bewegung an dieser Aktion beteiligte87. 78 79 80 81 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 86. Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63 Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 86. Dufour an Köpke (8.4.1929), ADAPzutsrponmlihgfedcbaYXTSRPONLIEDBA Β XI, Nr. 162. Siehe Aufzeichnung Schmidt (11.6.1929), ADAP Β XII, Nr. 19. Siehe Peter KRÜGER, Der abgebrochene Dialog. Die deutschen Reaktionen auf die Europavorstellungen Briands 1929, in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fdderale europienne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä Genfeve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 289-306, hier S. 304. 82 83 84 85 KNIPPING, Locamo-Ära, S. 88. Siehe Hoesch an AA 12.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 87. Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 12f. 87 Siehe POSSELT, Paneuropa, S. 42. 86 Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan 455 In Deutschland blieb die Reaktion darauf weiterhin »skeptisch abwar­ tend«88. Zwar wurde die wirtschaftliche Zusammenarbeit begrüßt, allerdings vermutete man weiterhin eine antiamerikanische Spitze hinter den französischen Plänen89. Auf völlige Ablehnung stieß jedoch die politische Komponente des Briand-Projekts, da sie nach Auffassung des AA vor allem dazu dienen sollte, den Status quo in Europa zu zementieren und die französische Sonderstellung in Europa zu sichern90. Briand ließ sich von diesen kühlen Reaktionen des Auslands jedoch nicht beirren und auch die diesbezüglichen Warnungen Legers und Massigiis schlug er in den Wind91. Die neue Labour-Regierung in England, die er für aufgeschlossener gegenüber seinen Ideen hielt als die Tories92, und der Rücktritt seines wichtigen potentiellen innenpolitischen Widersachers Poincare93 stimmten ihn optimistisch. Nachdem durch die Haager Konferenz auch endlich das leidige Reparationsproblem und die Frage der Rheinlandräumung erledigt waren, hielt Briand den Moment für seine Europainitiative fur gekommen, zumal er durch Indiskretionen der Presse in Zugzwang geriet, konkrete Vorschläge zu unterbreiten94. Am 5. September 1929 hielt Briand schließlich seine Rede vor der Vollversammlung des Völkerbunds, in der er die Schaffung eines »lien federal«95 zwischen den europäischen Staaten forderte. Vor allem Deutschland und Großbritannien blieben die Vorschläge zu vage, sie forderten Konkretisierungen96. Gleichzeitig begannen beide Länder, die den Vorschlägen Briands skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, den französischen Vorstellungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Stresemann betonte in seiner Antwort vor dem Völkerbund vor allem die wirtschaftlichen Aspekte des briandschen Vorschlags und verband dies mit der Forderung, daß sich die europäische Kooperation nicht gegen die USA richten dürfe97. Die Friedenssicherung sah er vor allem in einem Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, der Einbindung des Briand-Kellogg-Pakts in die Satzung des Völker88 KNIPPING, Locamo-Ära, S. 88. Siehe ibid. 50 Siehe Aufzeichnung Schubert (1.8.1929), ADAPzwutsronmlkihgfedcbaYTSRPNIEDBA Β ΧΠ, Nr. 138. 91 Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 13. 92 Siehe Aufzeichnung Schmidt (11.6.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 19. 93 Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 12. 94 Siehe ibid. S. 12f. 95 Die Rede Briands ist teilweise abgedruckt in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 539-541. 96 Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63. 97 Rede Stresemanns: BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 570-580, insbesondere S. 577f.; siehe auch: Martin VOGT, Die deutsche Haltung zum Briand-Plan im Sommer 1930. Hintergründe und politisches Umfeld der Europapolitik des Kabinetts Brüning, in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union föderale europeenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenuvnkieG k Genive du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 305-329, hier S. 311. 89 456 5. Schluί bunds und der allgemeinen Abr٧stung begr٧ndet98, wof٧r seines Erachtens keineswegs ein neues europδisches Organ notwendig wδre. Stresemann ver­ suchte so, besonders die mφglichen politischen Implikationen des Vorschlags zu verhindern. Großbritannien, das eine engere europäische Wirtschafitskooperation wegen seines Präferenzsystems für das Empire ablehnte, schlug dagegen einen Zollfrieden für zwei Jahre vor, damit während dieses Zeitraums über Zollreduzierungen verhandelt werden könnte". Der Charme dieses Vorschlags lag darin, daß er konkret war, während die französische Initiative unklar geblieben war. Außerdem richtete sich auch dieser Plan weniger offensichtlich gegen die USA. Nichtsdestotrotz wurde die französische Regierung von der Vollversammlung aufgefordert, ein Memorandum in der Europafrage zu entwerfen, das von den Regierungen kommentiert werden sollte. Im Winter 1929/1930 beschäftigten sich vor allem Massigli und Leger100 mit der Ausarbeitung des französischen Europamemorandums, das am 17. Mai 1930 - dem Tag, an dem die Räumung der letzten Besatzungszone im Rheinland angekündigt wurde - den Regierungen der europäischen Mitgliedsstaaten des Völkerbunds übergeben wurde101. Das Memorandum gliederte sich in fünf Teile. Im ersten Teil des Memorandums wurden allgemeine Grundsätze der europäischen Einigung dargelegt. Dort wurde betont, daß die europäische Kooperation nur in Zusammenarbeit mit dem Völkerbund erfolgen könne. Außerdem wurde festgestellt, daß sich die engere europäische Wirtschaftskooperation nicht gegen andere Staaten richte und auch an eine Einschränkung der Souveränität der Staaten nicht gedacht sei. In einem Elementarvertrag sollten möglichst knapp die Ziele und die Organisation des europäischen Zusammenschlusses sowie das Verhältnis zum Völkerbund geregelt werden. Der zweite Abschnitt befaßte sich mit der Organisation der europäischen Zusammenarbeit. Neben der Conference europeenne, in die alle Staaten Vertreter entsenden sollten, sollte es noch einen politischen Ausschuß geben sowie ein Sekretariat zur Koordination der Arbeit der Konferenz und des Rates. Im Grunde genommen handelte es sich um den gleichen Aufbau wie beim Völkerbund102. Im dritten Teil wurden Leitlinien für 98 Siehe BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 572-574. Zum folgenden siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 183-185. 100 Siehe Hoesch an AA (20.6.1930), ADAPxutsrlhecXVTSND Β XV, Nr. 90. 101 Deutscher Text: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 460-468; Französischer Text in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fiderale europdenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä Genöve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, Anhang I. Zum folgenden siehe ibid. 102 Siehe Antoine FLEURY, Avant-propos, in: DERS., Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union föderale europdenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. 99 Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan 457 die europδische Zusammenarbeit vorgeschlagen. Wichtigste Bestimmung war die »[allgemeine Unterordnung des Wirtschaftsproblems unter das politische Problem«103, weil auch die wirtschaftliche Einigung »streng durch die Sicher­ heitsfrage bestimmt wird«104. Sonst kφnne nicht gewδhrleistet werden, daß die schwächeren Staaten nicht der Beherrschung durch die stärkeren ausgesetzt würden. Die politische Zusammenarbeit sollte, bei Beibehaltung der Souveränität der Staaten, durch den Ausbau des Schiedsvertragswesens und die Ausdehnung der Locamo-Garantien auf ganz Europa erreicht werden. Verschiedene lokale Sicherheitssysteme (wie beispielsweise das von Locarno) sollten außerdem zu einem gesamteuropäischen System zusammengefaßt werden. Im wirtschaftlichen Bereich wurden die Errichtung eines gemeinsamen Marktes sowie die Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenaustauschs »lediglich unter dem Vorbehalt der Bedürfnisse der nationalen Verteidigung in jedem Staate«105 als Leitlinie formuliert. Der vierte Teil des Memorandums umfaßte eine Zusammenfassung der noch offenen Fragen bezüglich der künftigen Gestalt Europas. Dabei ging es unter anderem um die genaue Festlegung der Bereiche der europäischen Zusammenarbeit, wie beispielsweise die Umsetzung des Programms der Weltwirtschaftskonferenz, die Kartellkontrolle, gemeinsame Infrastrukturmaßnahmen oder die Förderung unterentwickelter Gebiete, die geistige Zusammenarbeit und den Ausbau interparlamentarischer Beziehungen. Nach Auffassung der französischen Regierung waren die Bestimmung der Methoden der europäischen Zusammenarbeit und des Verhältnisses des zu schaffenden europäischen Gebildes zu außereuropäischen Staaten weitere wesentliche noch zu lösende Probleme. Im abschließenden Teil betonte die französische Regierung, daß es sich lediglich um Vorschläge handele, die langfristig zur Verbesserung der Lage in Europa beitragen sollten. Mit keinem Wort wurde im übrigen der Versailler Vertrag erwähnt. Das französische Europamemorandum stand ganz in der Tradition der französischen Außenpolitik der 1920er Jahre: In ihm wurde das französische Bestreben sichtbar, die durch den Versailler Vertrag geschaffene europäische Ordnung zu stabilisieren und die immer noch als prekär empfundene Sicherheitslage Frankreichs zu verbessern. Besonders wurde dies an der Unterordnung wirtschaftlicher Fragestellungen unter vor allem sicherheitspolitische Aspekte deutlich. Die Aufnahme eines wirtschaftlichen Programms an sich stellte aber ein enormes Entgegenkommen der französischen Regierung dar. Sicherheitspolitisch bedeutete der französische Europaplan im Grunde genommen die Wiederanknüpfung an das Genfer Protokoll, diesmal auf regionaActes du colloque tenu δ Geneve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. I­XVI, hier s.xn. 103 Europamemorandum. Ibid. 105 Ibid. 104 458 5. Schluί ler, europδischer Ebene. Die Schlichtungsmechanismen sollten ausgebaut und eine Art Superiocarno f٧r ganz Europa sollte geschaffen werden. Neu indes war, daß im Gegenzug fur die Erfüllung der französischen Sicherheitswünsche eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit angeboten wurde, die nach herrschender Auffassung wohl vor allem Deutschland zugute gekommen wäre106. Und war es nicht Stresemann gewesen, der seit 1925 von einer Zollunion gesprochen hatte, und diese Forderung in seiner letzten großen Rede wiederholt hatte107? Im Grunde genommen - dies war allerdings nur die deutschlandpolitische Ebene des Briand-Plans - hatte die französische Regierung der Reichsregierung einen Deal vorgeschlagen: Anerkennung der politischen europäischen Nachkriegsordnung gegen Erfüllung der wirtschaftlichen Forderungen Deutschlands. Dabei war nicht völlig auszuschließen, daß man auch den deutschen politischen Forderungen in den Verhandlungen entgegengekommen wäre, denn der Vorschlag, wie ihn Frankreich am 17. Mai 1930 vorgelegt hatte, stellte ein erstes Verhandlungsangebot dar, nicht das letzte Wort. In Deutschland wurden natürlich die sicherheitspolitischen Implikationen erkannt. Aus dem Text des Memorandums zitierend, stellte Staatssekretär Schubert fest: >Ein ständiges System vertraglich festgelegter Solidarität< [Herv. i.O.], wir wissen, was diese Worte im Sprachschatz der französischen Politik bedeuten. Sie bedeuten den Wunsch, durch immer neue Abmachungen den durch die Friedensverträge iJ. 1919 geschaffenen Zustand Europas zu stabilisieren und durch den Aufbau eines Sanktionssystems gegen den Friedensbrecher sicherzustellen108. Hoesch kam zu ähnlichen Schlüssen: »Paul-Boncour und andere Persönlichkeiten haben ganz offen ihrer Meinung Ausdruck gegeben, daß das Briandsche Projekt einen bedeutsamen und vielleicht den letzten möglichen Versuch darstelle, ein System der Friedenssicherung durch gegenseitige Unterstützung im Sinne des Genfer Protokolls doch noch auf die Füße zu stellen«109. Schubert, der bald als Staatssekretär abgelöst und als Botschafter nach Rom »abgeschoben« werden sollte, und Hoesch gehörten allerdings zu den wenigen, die auf deutscher Seite auch die positiven Ansätze des Europamemorandums zu würdigen wußten. Der deutsche Botschafter in Paris sah in Briands Vorschlag keineswegs ein »Zweckmanöver«110, Frankreich sei vielmehr ernsthaft auch am wirtschaftlichen Zusammenschluß Europas interessiert. Er äußerte jedoch Zweifel, ob das von Frankreich vorgeschlagene Verfahren, zuerst den politi106 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [1924], BArch R 3101, 20458. Vgl. Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929utsrponmlihgedcbaXVSRPN Ζ (Europe) Allemagne, 524; BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 570-580. 108 Schubert an Reichskanzlei (26.5.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 40. 109 Hoesch an AA (20.6.1930), ADAP Β XV, Nr. 90. 110 Ibid. 107 Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan 459 sehen Rahmen und dann erst die wirtschaftliche Kooperation festzulegen, aufgrund der akuten Wirtschaftskrise in Europa praktikabel sei111. Auch Schubert sah vor allem in den wirtschaftlichen Vorschlägen des französischen Memorandums einen »guten Kern«112, wenngleich er sich dafür aussprach, daß ein gegen die USA und die Sowjetunion gerichteter Kontinentalblock verhindert werden müsse und der Völkerbund nicht geschwächt werden dürfe113. Bülow, der kommende starke Mann im AA, lehnte dagegen den französischen Europaplan ab114. Ohne die wirtschaftlichen Aspekte und den Vorschlagscharakter des Memorandums ausreichend zu würdigen, kam er zu dem Ergebnis, daß der Briand-Plan hauptsächlich der Sicherung der französischen Vormachtstellung und des Status quo diene. Deutschland würde damit Frankreich dauerhaft untergeordnet sein115. Er stellte fest: »Diese Stellungnahme führe dazu, daß man eigentlich den politischen Teil des Memorandums restlos ablehnen müsse, infolgedessen auch der von Briand gewünschten Unterordnung der Wirtschaft unter die Politik nicht zustimmen könne«116. Dieser Auffassung schloß sich Julius Curtius, seit dem Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929 neuer deutscher Außenminister, weitgehend an117. Curtius erkannte dabei eine entscheidende Schwachstelle des französischen Vorschlags, daß nämlich die politischen Fragen - wie die Abrüstungsverhandlungen und der Kriegsächtungspakt gezeigt hätten - nicht ohne die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gelöst werden könnten. Es ist an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen worden, daß - wegen der prekären machtpolitischen Situation zwischen Deutschland und Frankreich - ein stabilisierendes Element, wie eine aktive Einflußnahme Großbritanniens und der USA, notwendig gewesen wäre. Weder bei Curtius noch bei Bülow wurde diese Erkenntnis allerdings in aktive Politik umgesetzt, sondern als ein allein negatives Argument zur Ablehnung des französischen Vorschlags verwandt. Daß der französische Köder - die wirtschaftliche Kooperation - von vielen in Deutschland verschmäht wurde, lag vor allem daran, daß sich die deutsche Außenwirtschaftspolitik, wie bereits dargelegt wurde, vor allem auf Druck des Reichsernährungsministeriums118 ab 1929/1930 von ihrer liberalen Grundhal111 Siehe ibid. Aufzeichnung Schubert (28.5.1930), ADAPzwutsrponmlkihgfedcbaZXVTSRPONMLKIHGFED Β XV, Nr. 52. 113 Siehe ibid. 114 Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 309; Aufzeichnung Bülow (21.5.1930), ADAP Β XV, Nr. 39. 115 Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 310. 116 Aufzeichnung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51, ebenfalls abgedruckt in: Reinhard OPITZ (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900­1945, Köln 1977, Nr. 65. 117 Siehe Aufzeichnung Bülow (11.6.1930), ADAP Β XV, Nr. 71, siehe auch zum folgenden. 118 Aufzeichnung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51. Zu den zunehmend protektionistischen Forderungen aus der Schwerindustrie und der Landwirtschaft siehe FROMMELT, Paneuropa, S. 78­80. 1,2 460 5. Schluß tung zunehmend löste und protektionistischer wurde. Wie am Vorschlag Curtius' für eine deutsch-österreichische Zollunion vom März 1931 deutlich wurde, wandte sich Deutschland vom Freihandel ab, hin zu einem mitteleuropäischen Wirtschaftsblock unter deutscher Kontrolle119. Auffällig ist auch, daß deutsche Diplomaten und Politiker argumentierten, ein Eingehen auf die französischen Vorschläge würde die deutschen Revisionsmöglichkeiten einschränken120. Gleichzeitig entwickelte die deutsche Seite aber keine genauen Vorstellungen darüber, welches Revisionsziel als nächstes angestrebt werden sollte, ja welche Revisionsziele realistischerweise überhaupt erreichbar waren. Die französische Initiative hätte von Deutschland genutzt werden können, zumindest die Spielräume für die zukünftig deutsche Revisionspolitik auszuloten und unter Umständen auch zu konkreten Revisionsschritten zu kommen. Allerdings muß man sagen, daß die deutschen Revisionsmöglichkeiten - was Frankreich anging - begrenzt waren121: Die Rückgabe des Korridors, nicht jedoch Oberschlesiens, schien möglich. Den Anschluß Österreichs lehnte Frankreich ab, und das militärische Übergewicht gegenüber Deutschland mußte erhalten bleiben. Daß in Deutschland, nachdem wichtige Revisionsziele bis Ende der 1920er Jahre zweifelsohne erreicht worden waren - die Freigabe des Rheinlandes, eine Verringerung der Reparationen, die wirtschaftliche und politische (nicht jedoch militärische) Gleichberechtigung - , keine weiteren konkreten Revisionsziele mehr formuliert wurden, hatte möglicherweise einen ganz einfachen Grund: Es fehlte die Bereitschaft, anzuerkennen, daß viele Revisionsziele durch die Politik der friedlichen Verständigung sich nicht würden erreichen lassen. Indem die Revisionspolitik auf eine vage Zukunft verschoben wurde, konnte man an der Fiktion festhalten, weiterhin die Revision der deutschen Ostgrenzen zu betreiben. Dies war vor allem auch im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit nötig, denn die vorzeitige Rückgabe des Rheinlandes hatte nicht etwa zur Dämpfung, sondern zu einem neuen Aufflammen des Revisionismus geführt122. Da das politische System zunehmend in die Krise geriet, wofür der Rücktritt der Regierung Müller und der Beginn des Präsidialregimes unter Brüning den augenscheinlichsten Beleg darstellte, fehlte vielleicht die Kraft zu dieser Einsicht123. Gleichzeitig manövrierte sich die deutsche Politik aber auch in die Handlungsunfähigkeit, weil sie sich einer realistischen Einschätzung verweigerte und auf Abwarten setzte. 119 Siehe POSSELT, Paneuropa, S. 49. Vgl. beispielsweise: Aufzeichnung Bülow (21.5.1930), ADAPzutsronmlkihgfedcbaXWVUSR Β XV, Nr. 39; Aufzeich­ nung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51; Schubert an Reichskanzlei (26.5.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 40; Hammerstein an AA (12.7.1930), ADAP Β XV, Nr. 76. 121 Siehe WURM, Deutschlands Rolle, S. 165, 169. 122 SieheWVTROIHG V O G T , Deutsche Haltung, S. 319. 123 Vgl. W R I G H T , Stresemann, S. 454­457. 120 Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan 461 Die deutsche Antwort auf das franzφsische Memorandum, die am 15. Juli 1930 ٧bergeben wurde124, war dem Ton nach zwar zustimmend, ent­ hielt aber so viele Vorbehalte, daß sie einer Ablehnung gleichkam. Zwar wurde ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Zollpolitik befürwortet, allerdings wurde festgestellt, daß die europäische Zusammenarbeit in dieser Frage nicht gegen andere Länder gerichtet sein dürfe. Die Unterordnung der wirtschaftlichen unter die politischen Fragen lehnte Deutschland ab und forderte statt dessen Gleichberechtigung auch auf militärischem Gebiet. Die deutsche Antwort auf das französische Europamemorandum war in zweifacher Hinsicht eine verpaßte Chance. Einerseits wurde versäumt, die zugegebenermaßen flachen Wasser deutscher Revisionsmöglichkeiten auszuloten. Andererseits unterblieb eine realistische Bewertung der deutschen Außenpolitik, ihrer Ziele ebenso wie ihrer Methoden. In der Tat, Deutschland war nicht bereit, »die ihm zukommende Ordnungsfunktion einer Großmacht zu erfüllen und seine Revisionsforderungen übernationalen Interessen unterzuordnen«125 und versäumte es, eine »geschlossene Konzeption für eine künftige europäische Ordnung«126 zu entwickeln. Es wäre indes falsch, allein Deutschland für das Scheitern des französischen Europaplanes verantwortlich zu machen. Auch Italien, die Niederlande, Belgien und Polen äußerten sich zu den Vorschlägen skeptisch127. Kritik kam außerdem aus dem Völkerbund selbst, der durch die Pläne Briands seine Marginalisierung befürchtete128. Ausschlaggebend dürfte - wie bei vielen anderen wichtigen Entscheidungen bezüglich der deutsch-französischen Beziehungen - die Ablehnung durch die englische Regierung gewesen sein129. Der englische Außenminister Henderson warnte vor der Regionalisierung des Völkerbunds130 und der antiamerikanischen Spitze des französischen Vorschlags131. Großbritannien wandte sich allerdings auch deshalb gegen den Europaplan, weil es befürchtete, neue politi124 Text: Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 469­472. BERG, deutsche Locamopolitik, S. 269. 126 KR٢GER, Auίenpolitik, S. 7. 127 Siehe Ministerbesprechung (5.7.1930), AdR Br٧ningzwutsronmlihgfedcbaZUSRPNMLHEBA Ι/Π Bd. 1, Nr. 65. Eine Zusammen­ fassung der Antworten findet sich in: Aufzeichnung ohne Unterschrift (30.8.1930), BArch R 2501,6317. 128 Siehe Mane­RenielYUTRONMLKJFE MOUTON, La Sociite des Nations et le Plan Briand d'Union euro­ ρέηηβ, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fddirale euro­ pöenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä QenÄve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 235-255, hier S. 238f. 129 Zusammenfassend hierzu: Andrea Bosco, The British Foreign Office and the Briand Plan, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union f6derale europdenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä GenÄve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 347-358. 130 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.9.1929), ADAPzutsronihgfecUSRNBA Β ΧΙΠ, Nr. 9 131 Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (30.8.1930), BArch R 2501, 6317. 125 462 5. Schluί sehe Garantien und mehr Verantwortung in Europa ٧bernehmen zu m٧ssen132. Allein Churchill äußerte sich positiv133. Das Scheitern des Europaplans lag teilweise darin begründet, daß die Ideen Briands zu visionär waren, besonders in einer Zeit, in der die nationalen Egoismen - aufgrund der Weltwirtschaftskrise und der sozialen Spannungen, die daraus erwuchsen - zunahmen134. Problematisch war auch, daß in dem französischen Memorandum das Schwergewicht auf die politischen, nicht aber auf die viel drängenderen wirtschaftlichen Fragen gelegt wurde135. Dies hatte allerdings auch innenpolitische Gründe, denn der neue französische Regierungschef Tardieu forderte die stärkere Berücksichtigung sicherheitspolitischer Aspekte und war protektionistischer eingestellt136. Für das Schicksal des Briartd-Plans war jedoch entscheidend, daß die französische Außenwirtschaftspolitik in sich widersprüchlich blieb. Stellte der Briand-Plan zwar einerseits die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa in Aussicht, weigerte sich Frankreich andererseits hartnäckig, konkret am Abbau von Wirtschaftshemmnissen und Zollreduzierungen mitzuwirken, wobei sich die französische Vorsicht vor allem aus der Angst vor der deutschen Wirtschaftsmacht erklärte137. Für diese Widersprüche waren vor allem innerfranzösische Meinungsunterschiede ausschlaggebend. Während der Quai d'Orsay weiterhin liberal eingestellt war, lehnten das Agrarministerium, aber auch Ratspräsident Tardieu, die freihändlerische Politik ab. Auch von den französischen Wirtschaftsverbänden sprach sich nur einer, das Comite d'aetion economique et douaniere, vorbehaltlos für eine liberale Außenhandelspolitik aus138. Briands Europainitiative war ein ähnliches Schicksal beschieden wie so vielen anderen Plänen zur Neuordnung der internationalen Beziehungen: Auf britische und Schweizer Initiative setzte der Völkerbund am 17. September 1930 eine Studienkommission zu diesem Thema ein. Diese tagte bis 1932 mehrmals und kam zum letzten Mal am 1. Oktober 1937 zusammen, ohne je offiziell aufgelöst worden zu sein139. Um auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen - nämlich warum die Modernisierung der Außenpolitik scheiterte - , läßt sich also im Hinblick auf das Schicksal des französischen Europamemorandums sagen: Die Fortsetzung einer modernen Außenpolitik scheiterte, weil in der Situation des Jahres 1929/1930 vor allem Deutschland versäumte, ein neues außenpoliti132 Siehe Schubert an Reichskanzlei (26.5.1930), AdR Br٧ningrdNB Ι/Π Bd. 1, Nr. 40; KR٢GER, Schwierigkeit, S. 128. 133 Siehe Ministerbesprechung (5.7.1930), AdR Br٧ning I/II Bd. 1, Nr. 65. 134 Siehe FLEURY, Avant­propos, S. XIV. 135 Siehe ibid. S. XV. 136 Siehe BUSSIERE, Aspects economiques, S. 88; BADEL, Treve douaniere, S. 153, 159f. 137 Siehe BOYCE, Limits, S. 114. 138 Siehe BADEL, Treve douaniere, S. 150f., 159. ,39 Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 99. Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan 463 sches Konzept mit modernen Zielsetzungen zu entwickeln. Allerdings standen auch der Briand­Plan und die tatsδchlich von Frankreich verfolgte Politik fak­ tisch in einem nicht unerheblichen Widerspruch zueinander. Der Briand­Plan behinderte aber auch deshalb die Modernisierung der Außenpolitik, weil durch ihn die Komplexität der internationalen Beziehungen, in einer Phase, als diese ohnehin schon labil waren, erhöht, und so eine Lösung erschwert wurde. In Kapitel 3 wurde dargelegt, daß das Reparationsproblem erst dann gelöst werden konnte, als durch das Vorgehen im Dawes-Plan die Reparations- von der Sicherheitsfrage abgetrennt worden war. Dies verringerte die bis dahin herrschende Komplexität der außenpolitischen Probleme, wodurch die Regelung des Reparationsproblems erst ermöglich wurde. Die Unterordnung der wirtschaftlichen Aspekte unter die Sicherheitspolitik im französischen Europamemorandum bewirkte genau das Gegenteil: Die Verquickung von beiden Problemen erhöhte die Komplexität der internationalen Beziehungen wieder. Es war gerade dieser Zusammenhang, der der deutschen Regierung die Ablehnung des französischen Memorandums erleichterte. Es gab jedoch noch weitere Gründe, die die Krise der modernen Außenpolitik zu diesem Zeitpunkt verstärkten. In diesem Zusammenhang sind vor allem personenbezogene Faktoren zu nennen. Besonders hervorzuheben ist dabei sicherlich der Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929. Sein Nachfolger Curtius lenkte »teils aus persönlicher Überzeugung, teils unter innerpolitischem Druck, die deutsche Außenpolitik in eine stärker national geprägte Richtung«140. Die aufgrund persönlicher und politischer Differenzen zwischen ihm und Schubert erfolgte Ablösung des Staatssekretärs und die Ernennung Bülows zu Schuberts Nachfolger leitete ab 1930 die Verstärkung der Revisionspolitik und die Wendung nach Südost- und Ostmitteleuropa ein141. Das deutsch-österreichischen Zollunionsprojekt vom März 1931 markierte diesen Kurswechsel und beendete die Verständigungspolitik142. Zeitgleich mit den personellen Veränderungen in der deutschen Diplomatie vollzog sich der Rückgang des Einflusses von Briand auf die französische Außenpolitik. Briand blieb zwar nach dem Scheitern seines letzten Kabinetts am 22. Oktober 1929 Außenminister, Tardieu nahm aber zunehmend das Heft in die Hand143. Der neue französische Ratspräsident beurteilte die Verständigungspolitik skeptischer, beharrte stärker auf französischen Positionen und setzte - vor allem, nachdem sich das französisch-britische Verhältnis mit dem Amtsantritt der Labour-Regierung merklich abgekühlt hatte - auf eine unabhängigere Politik144. Der Personal- und Politikwechsel in Deutschland und 140 KNIPPING, Locamo-Ära, S. 94; KRÜGER, Schwierigkeit, S. 129f. Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 315. 142 Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 356. 143 Siehe ibid. S. 353; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 95. 144 Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 95. 141 464 5. Schluß Frankreich fand seine Entsprechung auch in Großbritannien, wo der seit Juni 1929 amtierende Premier MacDonald von der profranzösischen Politik Chamberlains abrückte und zur klassischen Gleichgewichtspolitik zurückkehrte145. Gerade in Zeiten des fehlenden politischen Konsenses ist mit dem Wechsel des Personals oft auch ein Politikwechsel verbunden. Dieser Austausch des politischen Personals betraf allerdings nicht nur die Außenpolitik. Ende der 1920er Jahre schien vielmehr ein tiefgehender Generationswechsel stattzufinden, der Personen in Führungspositionen brachte, die während des Ersten Weltkriegs in der Regel noch keine leitenden Funktionen innegehabt hatten und deshalb dieses epochale Ereignis aus einer anderen Perspektive wahrnahmen und andere Konsequenzen daraus zogen. Der Tod Fochs beispielsweise, ebenfalls im Jahre 1929, zementierte erst den radikalen Wechsel in der französischen Militärdoktrin von der Offensive zur Defensive. Solange der Generalissimus noch lebte, war eine Sicherheitspolitik, die allein auf die Befestigung der Ostgrenze abzielte, nur schwer möglich146. Im großen Stil wurde der Bau der Maginot-Linie erst nach seinem Tod in Angriff genommen. Das relativ gute persönliche Verhältnis zwischen den »Großen Drei« der Locarno-Politik, Stresemann, Briand und Chamberlain, hatte allerdings auch Nachteile für die Modernisierung der Außenpolitik gehabt. Ihre »Genfer Teeparties« hatten zwar dazu gefuhrt, daß viele Probleme informell gelöst wurden, verhinderten bzw. verzögerten aber durch die Umgehung der Völkerbundsgremien auch den Aufbau internationaler Konfliktregelungsmechanismen, was übrigens schon von Zeitgenossen kritisiert wurde147. Neben der sichtbaren Einigkeit der »Großen Drei« bestanden die verschiedenen nationalen Interessen und Konflikte aber weiter und konnten deshalb auch in der Phase der relativ guten Beziehungen zwischen den drei Staaten nicht ausgeräumt werden148. Der Abgang Stresemanns, Briands und Chamberlains hinterließ auf der Ebene der multilateralen Diplomatie ein Vakuum, das paradoxerweise erst durch die überragende Rolle dieser drei entstanden war. Nicht nur konzeptionelle und personale Faktoren trugen jedoch zum Scheitern der Modernisierung der Außenpolitik bei, sondern auch die internationalen Rahmenbedingungen. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, war das deutsch-französische Verhältnis sehr labil und hätte dringend der Stabilisierung durch Dritte, vor allem durch die Vereinigten Staaten und Großbritannien, bedurft. Diese beiden Staaten übernahmen aber nur sehr beschränkt Verantwortung für die europäischen Sicherheits- und Wirtschaftsstrukturen. Locarno hatte gezeigt, was möglich war, wenn Großbritannien bereit war, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen. Allerdings war Locarno auch einer der 145 Siehe ibid. S. 94. Siehe Hoesch an AA (8.6.1926),riheZVSRNMLA ΡAAA R, 70494. 147 Siehe Runderlaß Bülow (25.6.1927), ADAP Β V, Nr. 255. 148 Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 245; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 388. 146 Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan wenigen Fälle gewesen, in denen London Verantwortung für die europäische Sicherheit (zumindest im Westteil Europas) übernommen hatte. Andere Sicherheitsinitiativen, multilateral wie bilateral, wurden gerade durch Großbritannien verhindert, wie das Beispiel des Genfer Protokolls zeigte. Auch die Vereinigten Staaten griffen nicht stabilisierend in die europäische Politik ein, es blieb bei einer einzigen ebenso großen wie leeren Geste, dem KelloggBriand-Pakt, der seine Entstehung jedoch gerade dem amerikanischen Wunsch verdankte,tnihc nicht in europäische Angelegenheiten involviert zu werden. Auf wirtschaftlichem Gebiet unternahmen die beiden angelsächsischen Mächte ebenfalls wenig, um die Lage zu verbessern. Die starre Haltung der USA in der Kriegsschuldenfrage (die direkte Auswirkungen auf das Reparationsproblem hatte) und die überaus problematische US-Handelspolitik verzögerten die wirtschaftliche Erholung Europas und beeinträchtigten dadurch auch die politische Annäherung149. Die Abstinenz Washingtons und Londons war um so tragischer, weil diese beiden Länder die Exponenten des liberalen Modells der Friedenssicherung waren. Es waren die Ideen Wilsons und der angelsächsischen Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus wie Adam Smith und David Ricardo, die der modernen Politik der 1920er Jahre ihre Inspiration verliehen. Die Politik der beiden Länder blieb hinter diesen hohen Erwartungen zurück. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien versagten als Führungskräfte des liberalen, modernen Systems der Friedenssicherung weitgehend. Nicht nur die Haltung des Westens, sondern auch die Rolle der Sowjetunion behinderte die Modernisierung der Außenpolitik, und zwar in zweierlei Hinsicht. Sie störte das deutsch-französische Verhältnis erstens, weil sie Deutschland die »russische Option« eröffnete, deshalb die deutsche Verständigungspolitik ständig relativierte und sie nur zu einer Option der deutschen Außenpolitik machte. Andererseits wurde der deutsche Handlungsspielraum durch die Rücksichtnahme auf die Beziehungen mit der Sowjetunion oft eingeschränkt150. Der Kommunismus und die aktive Unterstützung der kommunistischen Parteien in Europa durch Moskau trugen zweitens dazu bei, die innenpolitische Lage in Deutschland und Frankreich zu destabilisieren und erschwerten so die innenpolitische Mehrheitsfindung für eine moderne Außenpolitik151. Zu den Faktoren, die die Modernisierung der Außenpolitik behinderten, zählt natürlich auch die Weltwirtschaftskrise, die just zu dem Zeitpunkt zu 149 150 Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 378f. Siehe ibid. S. 369. Für Frankreich siehe Pierre LEVEQUE, Histoire des forces politiques en France, Bd. 2: 1880-1940, Paris 1994, S. 202-207. Für Deutschland siehe Heinrich August WINKLER, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Bonn, Berlin 1984 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegimg in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 9), S. 343f. 151 466 5. Schluί einem Aufflammen des wirtschaftlichen Nationalismus und der sozialen Spannungen f٧hrte, an dem sich das europδische Staatensystem und die deutsch­franzφsischen Beziehungen in einer kritischen Phase befanden. Die Weltwirtschaftskrise mußte sich um so stärker auswirken, weil es in den 1920er Jahren, auch wegen des Reparations- und Kriegsschuldenproblems, kaum gelungen war, die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit grundsätzlich zu lösen. Die Modernisierung der Außenpolitik scheiterte also Ende der 1920er Jahren an einer Kumulierung hemmender Faktoren: In Deutschland und Frankreich blieb sie der Revisions- bzw. Sicherheitspolitik oft untergeordnet, die USA und Großbritannien wurden ihrer Führungsrolle nicht gerecht, der sowjetische Einfluß verschärfte innergesellschaftliche Spannungen, personelle Umwälzungen und die Weltwirtschaftskrise, die durch strukturelle ökonomische Probleme verstärkt wurde, trafen das internationale System zu einem Zeitpunkt, an dem der Modernisierungsprozeß selbst besonders verwundbar erschien, weil sich das internationale System in einer Phase der Neuorientierung und -bewertung von Zielen und Methoden befand. Daß das liberale Friedensmodell aber durchaus das Potential für eine dauerhafte Befriedung hat, zeigt die Geschichte Westeuropas und der europäischen Integration nach 1945. Dies lag nicht zuletzt an den ungleich günstigeren Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach der totalen Kriegsniederlage kam für Deutschland (zumindest für dessen westlichen Teil) nur eine Politik auf der Grundlage des liberalen Modells der Friedenssicherung in Frage, um überhaupt wieder auf die internationale Bühne zurückzukehren. Frankreich mußte aufgrund des amerikanischen und britischen Drucks und der Bedrohung durch die Sowjetunion von einer Politik Abstand nehmen, die auf die Zerschlagung Deutschlands ausgerichtet war. Vor allem die USA übernahmen nach dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftliche und politische Initiative, die sie nach 1918 hatten vermissen lassen. Der lange wirtschaftliche Aufschwung der zweiten Nachkriegszeit erleichterte die Aussöhnung zwischen den Völkern und ebnete den Weg für die Zusammenarbeit. Die Modernisierung der Außenpolitik, die in den Jahren 1923 bis 1929 ihren Anfang genommen hatte, fand so nach 1945 ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung. ABK٢RZUNGSVERZEICHNIS AA AD AP ADGB AdR AN BArch BdF BNP BPPB CAEF CCC C.C.H.F. C.G.P.F. DBFP DDB DDP D.N.B. DNVP DVP EdG FRUS GATT GM H.C.I.T.R. HZ IMKK IRG JContH MAE MdR MGM M.I.C.U.M. MinR. Mio. Mrd. NATO OGG PAAA Auswδrtiges Amt Akten zur deutschen auswδrtigen Politik Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Akten der Reichskanzlei Archives nationales Bundesarchiv Banque de France Banque national de Paris Banque de Paris et des Pays­Bas Centre des archives economiques et financieres Commission de constatation et de conciliation Comite central des houilleres de France Confederation generale de la production fran^aise Documents on British Foreign Policy Documents diplomatiques beiges Deutsche Demokratische Partei The Dictionary of National Biography Deutschnationale Volkspartei Deutsche Volkspartei Enzyklopδdie deutscher Geschichte Papers relating to the Foreign Relations of the United States General Agreement on Tariffs and Trade Goldmark Haute commission interalliee des territoires rhenans Historische Zeitschrift Interalliierte Militδrkontrollkommission(en) Internationale Rohstahlgemeinschaft Journal of Contemporary History Archives du Ministere des affaires etrangeres Mitglied des Reichstags Militδrgeschichtliche Mitteilungen Mission interalliee de contrφle des usines et des mines Ministerialrat Million(en) Milliarde(n) North Atlantic Treaty Organization Oldenbourg Grundriß der Geschichte Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes 468 PAAP Paribas RDI REM RepKo RFM RMbesGeb. RWiM RWM S.D. S.D.N. S.F.I.O. StS UDE UNESCO UNO VfZG VSWG WTO Ζ Abk٧rzungsverzeichnis Papiers d'agents ­ Archives privees Banque de Paris et des Pays­Bas Reichsverband der Deutschen Industrie Reichsminister(ium) f٧r Ernδhrung und Landwirtschaft Reparationskommission Reichsfinanzminister(ium) Reichsminister(ium) f٧r die besetzten Gebiete Reichswirtschaftsminister(ium) Reichswehrminister(ium) sous­direction Societe des Nations Section franfaise de l'internationale ouvriere Staatssekretδr Union douanifere europφenne United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization United Nations Organization Vierteljahrshefte f٧r Zeitgeschichte Vierteljahrsschrift f٧r Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte World Trade Organization Zentrumspartei QUELLEN­ UND LITERATURVERZEICHNIS Quellen Unveröffentlichte Quellen N.B. Die im Text gebrauchte Abk٧rzung f٧r den jeweiligen Archivbestand ist in eckigen Klammern angegeben. 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Politische Abteilung II - allgemein, Bde. 70096, 70097, 70100, 70103, 70104, 70105, 70106, 70107. 470 Quellen­ und Literaturverzeichnis Politische Abteilung II ­ Frankreich/Politik, Bde. 70494, 70527, 70528, 70533, 70534, 70535. Referat Vφlkerbund, Bde. 97144. Handakten Ritter, Bde. 105604,105610,105612,105613, 105615. Frankreich Archives nationales Ministere du Commerce [AN F 12], Bd. 8865. Papiers Painleve [AN 313 AP], Bd. 220. Banque de France [BdF] N.B.: Die Bestδnde der Banque de France sind nicht in einzelne Serien unter­ teilt. Bde. 140199202/13,1370200008/76,13702000008/175. BNP­Paribas N.B.: Durch die Fusion der Banque National de Paris (BNP)und und der Banque de Paris et des Pays­Bas (Paribas, BPPB) 1999 sind die Archivbestδnde beider Banken und ihrer Vorgδngerinnen im Archiv von BNP­Paribas vereinigt: Es handelt sich neben der Paribas vor allem um den comptoir national d'escompte de Paris und die Banque nationale pour le commerce etzvutsronlihfedcbaPN ΓwutsrniedI Industrie, die beide 1945 verstaatlicht und 1966 zur BNP fusioniert wurden1. Die Archi­ valien aus den Bestδnden von Paribas sind mit BPPB gekennzeichnet, die der Vorgδngerbanken der BNP mit Ex­BNP. Banque de Paris et des Pays­Bas [BPPB] 1 Cabet 1, 187. Banque Nationale de Paris [Ex­BNP] Bd. 41688­4. Centre des archives economiques et financiers [CAEF] Fonds Tresor, relations multilaterales, Bd. 48 888,48 889. Archives du Ministere des affaires etrangeres Serie Papiers d'agents ­ Archives Privees [MAE PAAP] Papiers Herriot [MAE PAAP 89], Bde. 15, 19. Papiers Massigli [MAE PAAP 217], Bde. 7,13,105. Papiers Seydoux [MAE PAAP 261], Bde. 1­7, 30­32, 34­37, 40­42. 1 S. M. L. COHEN, BNP Paribas Group, in: Jay P. PEDERSEN (Hg.), International Directory of Company Histories, Bd. 36, Detroit u.a. 2001, S. 94­97. Quellen 471 Serie Relations commerciales, sous­serie B: deliberations internationales [MAE RC B] Bde. 426­430. Serie Y (Internationale 1918­1940) [MAE 1918­1940 Y (Internationale)] Bde. 23, 27, 39,40, 506, 629, 635. Serie Ζ (Europe 1918­1929), sous­serie Allemagne [MAE 1918­1929 Ζ (Europe) Allemagne] Bde. 388­392, 398, 399,482, 523­525. Veröffentlichte Quellen Tagespresse, Presseperiodika Berliner Bφrsenzeitung »Trendelenburg ٧ber die Weltwirtschaftskonferenz« (24.2.1927). »Eine Weltkontrolle f٧r die Kartelle. Loucheur ٧ber die Weltwirtschafts­ konferenz« (31.3.1927). »Amerikas Furcht vor einer europδischen Wirtschaftseinheit« (1.10.1927). 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84,99,101,144,160 Brauns, Heinrich 232 Breaud, Henri 104, 106 Briand, Aristide 23,48,65,67, 81, 86­87, 93­94, 147, 195­196,204,217, 230, 235­239,246,257,261­263,265, 272­273,275,282,284,295­296, 303­306,309­310, 314­319, 321­322, 324­325, 330,333, 339, 344­345, 347­352, 356, 360, 364,367, 369, 386­387, 391,421,433,441,447­455, 458­489,461­464 Brockdorff­Rantzau, Ulrich Graf von 63, 88,196, 283 Brouckere, Louis de 294 Br٧ning, Heinrich 21, 75,436,460 Bryan, William J. 313 Buchheit, Eva 300 B٧low, Bernhard Wilhelm von 58, 299, 327­328,452,459,463 Butler, Nicolas Murray 316 Caillaux, Joseph 153,451 Carp, Werner 118 Cecil, Viscount of Chelwood, Robert Gascoyne­Cecil 203,205,271,287, 293­294 Challener, Richard 66 Chamberlain, Sir Joseph Austen 209­210,218,222,226,229,233, 235­236,238­239,257,260,262, 272­273,282,284, 295, 304, 306,320, 385,464 Chassain de Marcilly, Henri 77 Chaumet, Charles 408 Churchill, Winston Leonard Spencer 218, 226, 372­373, 375­376, 378,385, 389, 462 Claude, Inis L. 271 Claudel, Paul 318­319,324 Clauzel, Bertrand 60 Clemenceau, Georges 56,73, 80,194,267 CliSmentel, Etienne 169, 344,393,399 Coolidge, Calvin 114,147, 315,317,341, 360 Corbin, Andr6 Charles 59 Coste, Emile 93,96, 98,100 Coudenhove­Kalergi, Graf Richard 452­453 Coulondre, Robert 59 Crewe, Robert Offley Asburton Crewe­ Milnes, 1st Marquess of 117 Crowe, Sir Eyre Alexander Burby Wichart 160, 222,226 504 Personen Verzeichnis Cuno, Wilhelm 98,108­ 109,118,199, 213­ 215,219,221­ 223 Curtius, Julius 459­460,465 Curzon, George Nathaniel, Marquess Curzon of Kedlestone 218 Cushendun, Lord Robert John McNeil 301,371 D'Abemon, Edgar Vincent, I st Baron, of Esher 214,218­ 219,222­ 223,226, 248,263,396 Dariac, Adrien 95 Daudet, Leon 74 Dawes, Charles Gates 144,147 Debeney, General Marie Eugene 275,353 Debrix, Ren6 104 Degoutte, General Jean Marie 93­ 94,98, 135,137 Delacroix, Leon 337­338,345 Denvignes, General Joseph 118 Desticker, General Pierre Henri 173 Dior, Luden 397 Doumer, Paul 147 Doumergue, Gaston 152,272,451 Drummond, Sir Eric James 282­283,425 Ebert, Friedrich 399 Eggert, Wilhelm 428,449 Elbel, Paul 449 Fabre­Luce, Robert 443 Faille de Leverghem, Georges Comte della 109­110 Ferry, Disird 74 Fischer, David 346­347, 350 Flandin, Pierre Etienne 422,433­434 Fleuriau, Aime­Joseph de 183,224 Foch, Marschall Ferdinand 53,65, 72­74, 85,92­ 93, 101,135, 137,228, 267,275,353,464 Forster, Dirk 223 Francqui, Emile 147 Franklin­Bouillon, Henry 153 Frentzen, Paul 108 Frδser, Leon 388 Frenken, Josef 232 Friedberg, Heinrich von 391 Fromageot, Henri 237, 322 Gaiffier d'Hestroy, Edmond 325 Gaus, Friedrich 58,209,237 George V. 272 Geraud, Andr6 265 Geß ler, Otto 165 Gibson, Hugh Simons 294 Gide, Charles 449 Gilbert, Seymour Parker 236, 337, 340341,343, 345,347, 352,361-363, 365366, 370-373,375, 377,379, 388-389 Girault, Rend 172 GiscardD'Estaing, Edmond 104 Gout, Jean 60 Grinda, 422 Guillain, Robert 435 Haas, W alto-de 58 Hagen, Louis 105 Hagspiel, Hermann 24 Hamm, Eduard 399,403 Hantos, Elemer 449 Harding, Warren Gamaliel 109,114,116 Haslinde, Heinrich 414 Hasse, General Otto 204 Hautain, Fernand 343 Henderson, Arthur 385-386,461 Herbette, Maurice Lucien Georges 352 Hergt, Oskar 109,366 Hermant, Max 93,104 Hermes, Andreas 428-429 Herren, Madeleine 11-12 Herrick, Myron T. 316 Herriot, Edouard 65,67,108,152- 161, 165,167- 169,172- 174,183,206- 207, 209- 210,217,219,223- 224,229,246, 259-260,278-279,285, 398-399, 402- 403,445,451 Hesnard, Oswald 108,345,350 Heyde, Philipp 387 Heye, General Wilhelm 276,442 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von 281 Hoesch, Leopold von 141,143,149,154, 163, 173,209,219,222- 224,228, 230- 231,235- 236,239,246,261- 262, 303, 310, 321-322,324,326, 336, 345, 365-366, 380,417,443,450,458 Hoover, Herbert Clark 370-371,388-389 Houghton, Alanson Bigelow 236 Houtart, Baron Paul 386 Hugenberg, Alfred 367 Hughes, Charles Evans 34, 95,99,108, 113,116-117, 130,213 Hurst, Sir Cecil James Barrington 237 Hymans, Paul 433 Personenverzeichnis Jacobson, Jon 391 Janssen, Albert 148 Jarres, Karl 125 Jaspar, Henri 123,147 Jeannesson, Stanislas 130,172 Joffre, Marschall Joseph Jacques Cesaire 275,353 Jouvenel, Henri de 64,294­295 Jusserand, Jean 183,213 Kaas, Ludwig 367 Kanitz, Gerhard Graf von 232,399 Kastl, Ludwig 379 Kellogg, Frank Billings 229,314, 317­320,322, 324­328,330,371 Kerr, Alfred 445 Keynes, John Maynard 78, 86, 180 Kindersley, Sir Robert Molesworth 148, 167 Klφrtne, Moritz 443 Knipping, Franz 21,24,447 Kφpke, Gerhard 58 Krohne, Rudolf 233 Kr٧ger, Peter 10­12,20,68 505 Maltzan, Adolf Georg Otto [Ago] von, Freiherr zu Wartenberg und Penzlin Siehe Maltzan, Ago von Maltzan, Ago von 58, 88,108,111,163, 183,196, 343 Mangin, General Charles 123 Mann, Thomas 445 Marcilly, Henri de Siehe Chassain de Marcilly, Henri Margerie, Pierre Jacquin de 101,110,154, 230,246,257,262,410,449 Marin, Louis 74,351,356 Marx, Wilhelm 151,367 Massigli, Rene 60,67,261, 304, 311,391, 455­456 Mayrisch, Emile 441 McKenna, Reginald 144 McKinley, William 147 Melchior, Carl 379­380 Mellon, Andrew William 341, 343,346 Millerand, Alexandre 77­78, 80, 86,108, 143,152,395,453 Moldenhauer, Paul 125 Molinari, 448 Monnet, Jean 393 Moreau, Emile 351,362,375 Moret, Clφnent 340, 375,380 Morgan, John Pierpont 342, 389 M٧ller, Hermann 21,368,460 Mussolini, Benito 109,116 Lacroix, de 59 Lammers, Clemens 428 Lampson, Sir Miles Wedderbum 262 Laroche, Jules 123,339 Lasteyrie du Saillant, Charles Comte de 96,104 Neuhaus, Albert 232,264 Laurent­Atthalin, Andrd 148 Neurath, Konstantin Freiherr von 109 Le Rond, General Henri Louis Edouard Niedhart, Gottfried 11,21,249,447 246 Niemeyer, Sir Otto Ernst 340, 342 Le Troquer, Yves 143,442,449 Nieuwenhuys, Adrien 101 Leftbvre de Laboulaye,zyxwvutsrqponmlihgfedcbaWTSRPOMLKJHGFEDCA Αηάτέ 59 Nollet, General Charles Marie Edouard Leftbvre du Prey, Edmond 67 155,173 L6ger, Marie Ren6 Auguste Alexis 315, Norman, Montagu Collet 234,337­338, 322,454­456 342­344,347 Lindbergh, Charles Augustus 316 Lippe, General Georg von der 442 Litwinow, Maxim M. 303 Painlev6, Paul 152,222,230,442,451 Lloyd George, David 73, 81, 86­88,94, Parmentier, Jean 147,375,378 97­98,204,267 Paul­Boncour, Joseph 293,295, 301­302, Loucheur, Louis 83­84,93­94,108,137, 304, 324, 391 228,423,426­427,429­430 Peretti de la Rocca, Emmanuel 124 Luther, Hans 124­125,233­234,238, Pertinax Siehe Giraud, Andre 256,264,399 P6tain, Marschall Henri Philippe 275, 353 Peyerimhoff de Fontenelle, Henri de 429 Pferdmenges, Robert 105 MacDonald, Ramsay 136,155­162,165, 167­169,173,205­207,217,219,259, Pichon, Stephen 77, 80 278­279, 310­311, 385,424,451,464 Pilotti, Massimo 237 506 Personenverzeichnis Pilsudski, Jφsef 246 Pinot, Robert 107,141,143 Pirelli, Alberto 148,379 Poincarφ, Raymond 21,48, 53,67, 73, 87, 89,92­98,101,103,110,112, 117­118,122­124,128­132,134, 136­137,139­140,143,150­152, 154­155,160,172,174,183, 195, 203­206,213,215­216,275, 315, 321, 344, 347­352, 356, 360, 362,364, 366­367, 371, 373, 375­377, 379, 384­385, 388­389,413,422,451,453, 455 Posse, Hans Emst 411­412,417­418, 420, Prittwitz und Gaffron, Friedrich von 370 Piinder, Hermann 366 Rathenau, Walther 83­84,88,96 Rauscher, Ulrich 243,247 Raynaldy, Eug&ne 398­399,401, 403­404,406 Rechberg, Arnold 122,442­443, 452­453 Reinshagen, 425 Requin, Edouard 203­205,211,271,287, 395 Revelstoke, Lord Siehe Baring, John Reynaud, Paul 443 Ricardo, David 465 Ritter, Karl 58, 141,365,401,424,450 Rolin, Henri 237 Rosenberg, Frederic Hans von 101,214 Rueff, Jacques 454 Ruppel, Julius 160 Salter, Sir Arthur 450 Sauerwein, Jules 339 Schacht, Hjalmar 146, 336­340, 354­355, 366, 376­377, 379­380,382, 389­390 Schiele, Martin 232,237,264,416­417 Schleicher, Oberst Kurt von 276 Schlieben, Otto von 264 Schmidt, Alfred 108 Schubert, Carl Theodor von 58,79,130, 183, 214,219,222,230,246,248­249, 257,262,298, 302­303,320­321,328, 349, 364­366, 372,458­459,463 Schurmann, Jacob Gould 322 Seeckt, Hans von 165,196,233,276,283 Sergent, Charles 337,340 Serruys, Daniel 401,413,416,418,423, 425,427,429,433­434,449­450 Seydoux, Jacques 59, 63, 67,77, 80, 83, 93­94,96, 98,123,136­137,139, 140­143,149,156,168,228,236, 337, 339­341, 343­345, 349­350, 352­353, 355, 356­359, 368, 371, 388,401,449, 451­452 Sharp, Walter 66 Shotwell, James 314,316 Siemens, Carl Friedrich von 429­430 Sinn, Werner 108 Skirmunt, Konstanty Graf 205 Skrzynski, Graf Aleksander 282 Smith, Adam 465 Smuts, Jan Christiaan 126 Snowden, Philipp 167, 385­387, 391 Snowden, Philipp 168 Soutou, Georges­Henri 446 Spears, General Edward Louis 218 Spengler, Oswald 126 Stamp, Josiah 148,378 Stem­Rubarth, Edgar 449 Sthamer, Friedrich Gustav Carl Johann 108,159­161,235 Stinnes, Hugo 98,105,108, 141,448 Stockhammern, Karl Adolf Edler von 398 Stoppani, Pietro 426­427,452 Stresemann, Gustav 19­21,24,57, 109­111,125­127,133,141,146,151, 163­166, 173, 182, 196­197,215, 220­221,230,232­234,237­239, 243­244,255­256, 263­264,276,295, 298, 304, 306, 322, 333, 336, 345, 347, 350­352, 356, 360, 365,367­368, 371, 376, 380,384, 387, 396, 399­400, 402­404,410­411,414,417,421,426, 431,449,454­456,458­459,463­464 Strong, Benjamin 234, 342­343, 347 Tannery, Jean 93 Tardieu,yusronmlihedaTPJH Αηάτέ 72,74, 351,460­461 Thomas, James Henry 167 Tirard, Paul 73­74, 85, 93­96, 98, 103­104,123, 126­127,135, 137,262 TournΔs, Oberst Ren6 440 Trendelenburg, Emst 399,401,403­404, 429,431­433,449 Troquer, Yves le Siehe Le Trocquer, Yves Vandervelde, Emile G. 238,262 Vφgler, Albert 379,380, 382 Personenverzeichnis Wallroth, Erich 58 Weizsδcker, Ernst Freiherr von 58 Wiedfeldt, Otto Karl Ludwig 212 Π. von Preuίen 44 Wilhelmvon Wilson, Woodrow 15­17,34,41,46,52, 55­56, 73,190,267,465 Winston, GerrardD. 341,347 Wirth, Joseph 76, 82,196 Wolff, Otto 118­119 Wright, Jonathan 248,299 Wurm, Clemens A. 333 Young, Owen D. 147, 378, 381, 389 Zaleski, August 305­306 Zechlin, Walter 58