Blessing · Der mögliche Frieden
deutsches
historisches
Inst it ut
historique
allemand
paris
Pariser Historische Studien
Herausgegeben vom
Deutschen Historischen Institut Paris
Band 76
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Der mögliche Frieden
Die Modernisierung der Außenpolitik
und die deutsch-französischen
Beziehungen 1923-1929
von Ralph Blessing
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Pariser Historische Studien
Herausgeberin: Prof. Dr. Gudrun GERSMANN
Redaktion: Veronika VOLLMER
Institutslogo: Heinrich PARAVICINI, unter Verwendung eines Motivs am Hötel Duret-de-Chevry
Anschrift: Deutsches Historisches Institut (Institut historique allemand)
Hötel Duret-de-Chevry, 8, rue du Parc-Royal, F-75003 Paris
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I Wissen für die Zukunft
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© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München
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Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht).
Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza
ISBN: 978-3-486-58027-3
ISSN: 0479-5997
INHALT
Vorwort
7
1. Einleitung: Die Modernisierung der Außenpolitik
9
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte der Modernisierung der
Außenpolitik
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste in Deutschland und
Frankreich
2.3. Die blockierte Modernisierung, 1919-1922
3. Die Anfänge der modernen Außenpolitik
3.1. Der Ruhrkampf
3.2. Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung in den deutschfranzösischen Beziehungen, 1924-1929
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
4.1.1. Sicherheit und kollektive Sicherheit
4.1.2. Französische Sicherheits- und deutsche Revisionspolitik
als Problem der deutsch-französischen Beziehungen
4.1.3. Ansätze zur kollektiven Sicherheit: Von den
ersten Versuchen im Völkerbund zur deutschen
Sicherheitsinitiative vom Februar 1925
4.1.4. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom Februar 1925
und Locarno
4.1.5. Die Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheit
im Völkerbund
4.1.6. Sicherheit durch Kriegsächtung? Der Briand-KelloggPakt
4.1.7. Kollektive Sicherheit 1924-1929: Ein Resümee
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems ...
4.2.1. Die Reparationsfrage
4.2.2. Die Verbesserung der bilateralen Handelsbeziehungen
und der deutsch-französische Handelsvertrag
4.2.3. Die multilaterale Ebene der Handelspolitik: Die Genfer
Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und ihre Folgen
4.2.4. Weltwirtschaftliche Verflechtung und die
Modernisierung der Außenpolitik: Eine Bilanz
27
30
57
70
91
91
138
185
185
185
191
198
217
265
312
328
332
335
391
423
434
6
Inhalt
5. Schluß: Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands
Europaplan
439
Abkürzungsverzeichnis
467
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Darstellungen
469
469
477
Personenverzeichnis
503
VORWORT
Die vorliegende Untersuchung stellt die gekürzte und überarbeitete Fassung
meiner Dissertation dar, die ich unter dem Titel »Die Modernisierung der Außenpolitik: Kollektive Sicherheit und wirtschaftliche Verflechtung in den
deutsch-französischen Beziehungen 1923-1929« an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin bei Dekan Professor Oswald
Schwemmer eingereicht habe.
Zu besonderem Dank bin ich den Herren Professoren Clemens A. Wurm
und Klaus Schwabe verpflichtet, die mir nicht nur als Erst- bzw. Zweitgutachter zur Verfugung standen, sondern mich während der gesamten Promotion,
die ich am 2. Juli 2004 mit der Disputation abschließen konnten, konstruktiv
unterstützten.
Meinen Eltern, Freunden und vor allem meiner Frau kann ich nicht genug
für ihren moralischen Beistand danken.
Diese Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung durch die Friedrich-Ebert-Stifitung und das Deutsche Historische Institut
in Paris. Besonders Herrn Professor Paravicini sei an dieser Stelle gedankt.
Auch den Mitarbeitern im Bundesarchiv, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, den Archiven der Banque de France und der BNP-Paribas,
dem Centre des archives economiques et financiers und den Archives du
Ministere des affaires etrangeres in Paris schulde ich Dank für ihre Hilfsbereitschaft und ihre Geduld.
Sunnyside, NY, im November 2006
Ralph Blessing
1. EINLEITUNG
DIE MODERNISIERUNG DER AUSSENPOLITIK
Die deutsch-französischen Beziehungen der 1920er Jahre waren einem dramatischen Wandel unterworfen. Hatte es 1923, während des sogenannten »Ruhrkampfs«, noch so ausgesehen, als würde die »guerre froide«1, die zwischen
Deutschland und Frankreich seit dem Ende der Feindseligkeiten am 11. November 1918 geherrscht hatte, erneut in einen gewaltsamen Konflikt umschlagen, so normalisierte sich das Verhältnis zwischen beiden Ländern bis zum
Ende des Jahrzehnts und konnte gelegentlich sogar als freundschaftlich gelten.
Die Ursachen für diesen ebenso schnellen wie radikalen Wandlungsprozeß so die These dieser Studie - lagen vor allem darin begründet, daß die bilateralen Beziehungen beider Länder zwischen 1923 und 1929 einer »Modernisierung« unterzogen wurden, die sich nachhaltig auf die Methoden und Zielsetzungen der deutschen und französischen Außenpolitik auswirkte. Klassische
Ansätze der Außenpolitik, in denen es vor allem darum ging, die Machtposition des eigenen Landes zu stärken oder doch zumindest gegen Konkurrenten
abzusichern, wurden teilweise durch kooperativere Formen des zwischenstaatlichen Verkehrs ersetzt, in denen das gemeinsame Ziel der Friedenssicherung
einen höheren Rang einnahm. An die Stelle der Geheim- trat vielfach die Konferenzdiplomatie, und die multilaterale Diplomatie des Völkerbunds ergänzte
die vor dem Weltkrieg vorherrschende bilaterale Politik. Die Außenwirtschafts- und auswärtige Kulturpolitik - um nur zwei Beispiele zu nennen wurden als neue Felder für die Diplomatie erschlossen.
Um jedoch »Modernisierung« zu einem für die Fragestellungen dieser Arbeit funktionalen analytischen Begriff zu machen, sind einige Präzisierungen
und Ergänzungen zu bereits bestehenden Definitionen notwendig. Ursprünglich tauchte der Begriff der »Modernisierung« in den 1950er und 1960er Jahren in der Politikwissenschaft und der Soziologie auf und diente zur Beschreibung der Entwicklung der Länder der Dritten Welt2. »Modernisierung« wurde
vor allem als eine »Strategie des Nachholens, orientiert am je erreichten Entwicklungsstand der industriell am höchsten entwickelten Gesellschaften«3 ver' Vgl. die Überschrift zu Kap. 15 von Raymond POIDEVIN, Jacques BARLFITY, Les relations
franco-allemandes 1815-1975, Paris 1977.
2
M. Rainer LEPSIUS, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der »Moderne« und
die »Modernisierung«, in: Reinhart KOSELLECK (Hg.), Studien zum Beginn der modernen
Welt, Stuttgart 1977 (Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, 20),
S. 10-29, hier S. 11.
3
Reinhart KÖSSLER, Tihnan SCHIEL, Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie der Modernisierung, Frankfurt a. M. 1996 (Umbrüche der Moderne, 2), S. 16.
10
1. Einleitung
standen. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde der Begriff erweitert, um allgemein
den Prozeß zu beschreiben, der von der vormodernen zur modernen Gesellschaft führte4: »Industrielle Revolution und Aufklärung, ausgehend vom Europa des 18. Jahrhunderts, haben eine gesellschaftliche Entwicklung ins Leben
gerufen, die heutzutage gemeinhin mit dem Begriff derusronigedM
Modernisierung [Herv.
i.O.] gekennzeichnet wird«5. Soweit die Modernisierungstheorie fur geschichtliche Phänomene herangezogen wurde, bezog sie sich ebenfalls meist auf diese der Soziologie entlehnten Kategorien6. In den »Geschichtlichen Grundbegriffen« finden sich zwar die Stichworte »Modern, Modernität, Moderne«,
aber nicht das der Modernisierung, wobei die dort verwandten Definitionen
ebenso hilfreich wie trivial sind: Modern ist »>gegenwärtig<, Gegenbegriff:
>vorherig<«, zweitens »>neu<, Gegenbegriff: >alt<« und drittens »>vorübergehend<, Gegenbegriff: >ewig<«7. Diese Definitionen sind fur das Thema dieser
Arbeit allerdings unzureichend, denn sie befassen sich hauptsächlich mit innergesellschaftlichen Problemen, d.h. sie klammern die Außenbeziehungen
von Staaten weitgehend aus. Werden dennoch internationale Prozesse im Zusammenhang mit der Modernisierung betrachtet8, so steht auch dabei meist der
soziale Wandel9 im Mittelpunkt. Die verwandten Modernisierungsbegriffe
umfassen außerdem in der Regel nur die »Makroebene«10, also relativ lange
Zeitspannen und große geographische Räume, die für die Betrachtung eines
zeitlich wie räumlich begrenzten Untersuchungsbereichs inadäquat sind.
Hilfreicher erscheint die Studie Peter Krügers, der die Neuansätze einer »eigenständige[n] republikanische[n] Außenpolitik«11 in der Weimarer Republik
untersucht. Diese Neuerungen bestanden seiner Ansicht nach vor allem in den
größeren Anforderungen, welche die intensiveren und vielfaltigeren internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg an die deutsche Außenpolitik stellten. Ursachen hierfür seien die größere Informationsflut infolge ver4
Siehe LEPSIUS, Theoreme, S . l l .
Volker HILDEBRANDT, Epochenumbruch in der Moderne. Eine Kontroverse zwischen Robert Kurz und Ulrich Beck, Münster 1996 (Politikwissenschaft, 33), S. 1. Eine ähnliche Definition findet sich bei: Reinhard BENDIX, Modernisierung in internationaler Perspektive, in:
Wolfgang ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969 (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 31), S. 507-512, hier S. 506.
6
Vgl. Hans-Ulrich WEHLER, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975,
5
S. 1 1 - 1 7 .
7
Hans Ulrich GUMBRECHT, Modern, Moderne, Modernität, in: Otto BRUNNER, Werner
CONZE, Reinhart KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93-131, hier S. 96.
8
Vgl. hierzu die Aufsätze in Teil 8 von: Wolfgang ZAPF (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Köln, Berlin 1969 (Neue wissenschaftliche Bibliothek, 31).
9
Siehe beispielsweise BENDIX, Modernisierung.
10
11
WEHLER, Modernisierungstheorie, S. 17.
Peter KRÜGER, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, S. 16, zum
folgenden S. 11-16. Ähnlich argumentiert auch Klaus HILDEBRAND, Das vergangene Reich.
Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Berlin 1999, S. 552.
Die Modernisierung der Außenpolitik
11
besserter Kommunikationsmittel, der größer werdende Einfluß wirtschaftlicher Fragen auf die Außenpolitik (und dadurch auch vielfältigere Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten) sowie die Kulturpolitik als neues Element
der Außenpolitik. Folge davon seien die personelle Ausweitung und Spezialisierung des Auswärtigen Dienstes, die, zusammen mit einem gewachsenen
Einfluß von Parlament und Öffentlichkeit und neugegründeten, einflußreicheren internationalen Organisationen, vor allem zu moderneren Methoden der
deutschen Außenpolitik führten12. Diese Änderungen erlaubten es, so Krüger
weiter, von einer distinkt republikanischen Außenpolitik zu sprechen, in der
wirtschaftliche Macht Vorrang vor militärischer habe, und ein insgesamt kooperativeres Klima vorherrsche.
Viele der Elemente der »republikanischen Außenpolitik«, die Krüger und
andere beschreiben, sind - das wird diese Untersuchung zeigen - auch kennzeichnend für eine im Sinne dieser Arbeit moderne Außenpolitik13. Dennoch
erscheint mir der von Krüger entwickelte Begriff unvollständig, um die »Modernisierung« richtig zu erfassen: Er ist fast ausschließlich phänomenologisch
und klammert das Prozessuale weitgehend aus. Außerdem werden durch die
von Krüger betonten Neuansätze, wie Niedhart zu Recht feststellt14, die antirepublikanischen Kräfte zu wenig einbezogen und sie beziehen sich weniger
auf die Inhalte als vielmehr auf die Formen der Außenpolitik.
Madeleine Herren fuhrt einen anderen Modernisierungsbegriff ein: Für sie
besteht die Modernisierung der Außenpolitik in einem Internationalisierungsprozeß, der hauptsächlich durch zunehmende multilaterale Kooperation geprägt ist15. In ihrer Untersuchung steht dabei der gouvernementale Internationalismus im Mittelpunkt, dessen zentrales Problem der Zugang zur
Information sei. Modernisierung bedeute deshalb vor allem zunehmende Vernetzung16, wobei im Gegensatz zur klassischen Diplomatie nicht von einem
»exklusiv von den Großmächten kontrollierten internationalen System« ausgegangen werden könne, sondern von »multilateralen Netzwerken«17. »Modernisierung beschreibt langfristigen und großräumigen sowohl gesellschaftli-
12
13
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 1 1 - 1 6 , 520f.
Zur Gleichsetzung von republikanischer Außenpolitik und »modernerer« Außenpolitik
siehe Gottfried NIEDHART, Locarno, Ostpolitik und die Rückkehr Deutschlands in die internationale Ordnung nach den beiden Weltkriegen, in: DERS., Detlef JUNKER, Michael W.
RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im
20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 3-17, hier S. 5f.
14
Gottfried NIEDHART, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 1999 (EdG, 53),
S. 43 f.
15
Siehe Madeleine HERREN, Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modemisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865-1914, München
2000, S. 2.
16
Siehe ibid. S. 4.
17
Ibid. S. 3.
12
1. Einleitung
chen wie auch ökonomischen Wandel«18, wobei militärische Macht zusehends
von der Wirtschaftskraft als entscheidendem Machtfaktor abgelöst werde.
»Schlüsselbegriffe außenpolitischer Modernisierung«19 seien somit Normenbildung, Standardisierung und Informationstransfer.
Für die Zwecke dieser Arbeit ist der von Herren entwickelte Modernisierungsbegriff jedoch nur bedingt brauchbar, betont er doch in erster Linie die
Multilateralität der Außenpolitik und ist deshalb kaum auf die bilateralen
deutsch-französischen Beziehungen anwendbar. Auch sieht die Autorin den
von ihr gebrauchten Begriff des gouvernementalen Internationalismus überwiegend als Mittel der kleineren Mächte, Einfluß zu gewinnen, weshalb sich
ihre Definition der Anwendung auf zwei europäische Großmächte entzieht.
Außerdem war in den deutsch-französischen Beziehungen weniger »Information« das Problem, sondern vielmehr »Macht« und deren Kontrolle, die im
Sicherheitsverlangen Frankreichs und den deutschen Revisionsbestrebungen
ihren Ausdruck fand.
Wiewohl die von Krüger und von Herren entwickelten Begriffe wichtige
Aufschlüsse über die Modernisierung der Außenpolitik liefern, sind sie für
diese Arbeit unzureichend, weil sie die Außenbeziehungen Deutschlands und
Frankreichs - bi- wie multilateral - nur teilweise erfassen und sie außerdem
keinen Prozeßbegriff darstellen, durch den sowohl der Wandel des deutschfranzösischen Verhältnisses wie auch die Widerstände dagegen erfaßt werden
können.
Weil die vorhandenen Modernisierungsbegriffe für die Zwecke dieser Arbeit nur bedingt brauchbar sind, muß eine neue Definition von »moderner Außenpolitik« gefunden werden. Was also ist unter »Modernisierung« zu verstehen20?
18
Ibid.
"Ibid. S. 11.
20
Die folgenden Ausführungen zum Begriff der Modernisierung haben Joseph Schumpeters
Überlegungen zur Innovation zum Ausgangspunkt, wie er sie v.a. in seinem Werk »Theorie
der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital,
Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus« (München, Leipzig 41935, insbesondere S. 88-130)
dargelegt hat. Weil sich Schumpeters Überlegungen aber natürlich vorrangig auf die Untersuchung der ökonomischen Entwicklung beziehen, erschienen mir einige Modifizierungen
und Differenzierungen notwendig. In Schumpeters Diktion entspricht Innovation dem, was
im folgenden als Modernisierung definiert wird: die »Durchsetzung neuer Kombinationen«
(ibid. S. 100). Mir erschien die Trennung von Innovation (gemeint als die Idee und das Programm, das dem Prozeß Modernisierung zugrunde liegt) und der Modernisierung (als Umsetzung der Innovation) angebracht, um die Bedeutung der Innovation zu unterstreichen.
Außerdem soll, wie in dieser Studie gezeigt wird, deutlich werden, daß das Auftauchen innovativer Ideen und theoretischer Debatten keinesfalls auch automatisch die Umsetzung
dieser Ideen bedeutet. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, daß ich Innovation,
anders als Schumpeter, weder als festes Datum noch als normativ gebunden sehe. Modernisierung ist eben nicht nur die »Durchsetzung neuer Kombinationen«, die Modernisierung
kann auch dazu führen, daß die ihr zugrundeliegenden Innovationen durch den Prozeß der
Die Modernisierung der Außenpolitik
13
Modernisierung ist vor allem ein Prozeß. »Prozeß« wird dabei definiert als
die Veränderung von Strukturen im Laufe der Zeit, wobei unter »Strukturen«
die materiellen und immateriellen Gebundenheiten einer Gesellschaft verstanden werden. Zu den materiellen Gegebenheiten gehören beispielsweise die
Bevölkerungsgröße eines Landes, die Wirtschaftskraft und -struktur einer Region oder der Aufbau der Verwaltung eines Staates. Immaterielle Faktoren
sind unter anderem die kollektiven Werte einer Gesellschaft, die ihren Ausdruck in der politischen Verfassung, im Wirtschafts- oder Rechtssystem, aber
auch in der Religion finden. Strukturen haben eine gewisse zeitliche Dauer,
sind deswegen aber nicht unwandelbar. Sie verändern sich, eher langsam als
schnell, eben durch Prozesse.
Die Beziehung zweier Staaten ist ebenfalls ein struktureller Zusammenhang.
Sie ist bestimmt durch materielle Faktoren, wie die Bevölkerungsgröße des
einen Landes im Vergleich zu der des andern, die Zusammensetzung und den
Umfang des Handels oder die relative militärische Stärke beider Länder.
Daneben gibt es aber auch immaterielle Strukturen, die Auskunft darüber geben wie »gut« oder »schlecht« die Beziehungen sind, inwieweit ein Verständnis für die Gesellschaft des anderen Landes vorhanden ist und so weiter.
Modernisierung ist eine bestimmte Art von Prozeß, der durch die Umsetzung bzw. Realisierung von »Innovationen« gekennzeichnet ist. Die Innovation selbst ist zunächst nur eine Idee. Sie ist dabei nicht nur als etwas genuin
Neues zu sehen, sondern auch als ein Konzept, das aus der Kombination bestehender Entwürfe hervorgeht oder auf erkannte Fehler und Schwächen des
Bestehenden reagiert. Sie ist dabei zunächst einmal wertfrei zu sehen: Die
Aussage, ob eine Innovation positive oder negative Auswirkungen hat, ob sie
die beabsichtigten Ziele erreicht oder nicht, ob sie wie auch immer sinnvoll ist,
kann in der Regel erst am Ende der Modernisierungsphase bewertet werden.
Modernisierung verändert werden. Modernisierung in dem von mir gebrauchten Sinne ist
außerdem nicht gleichzusetzen mit Fortschritt: Schumpeter konnte dies tun, weil für ihn Innovation objektivierbar ist, was sich in einer besseren Produktionsfunktion darstellen läßt.
Für historische Entwicklungen ist diese Objektivierbarkeit jedoch nicht oder nur bedingt
gegeben. Übernommen habe ich unterdessen die Idee des Prozessualen und die Annahme,
daß eine Innovation eben nicht nur das Alte ersetzt, sondern daß der Übergang vom Alten
zum Neuen ein Verdrängungswettbewerb ist, in dem das Neue gegen das Alte durchgesetzt
werden muß (siehe ibid. S. 101). Während Schumpeter jedoch vor allem den »Unternehmer«
als eigentlichen Träger dieses Prozesses sieht (siehe ibid. S. 119—121), kommt es meines
Erachtens nicht nur darauf an, einen Akteur zu haben, der sich durch »Führerschaft« (siehe
ibid. S. 124-126) auszeichnet, sondern auch darauf, daß die strukturellen Rahmenbedingungen ittr den Modernisierungsprozeß stimmen. Die Modernisierung hängt von zahlreichen
Faktoren ab, die den Handlungsspielraum des »Unternehmers« (bzw. Außenpolitikers) einengen. Allerdings stellt auch Schumpeter fest: »Zur Durchsetzung der neuen Kombinationen
bedarf es der Verfügung über Produktionsmittel« (ibid. S. 103). Es ist jedoch nicht davon
auszugehen, daß es etwa ein festes Verhältnis zwischen strukturellen und personalen Anteilen im Modernisierungsprozeß gibt: Sie schwanken spezifisch in dem Maße, in dem jeweils
modernisierungsfördernde bzw. -hemmende Faktoren vorhanden sind.
14
1. Einleitung
Eine Innovation setzt aber nur dann einen Prozeß in Gang, wenn sie realisiert wird. Umsetzung bedeutet dabei nicht nur den Austausch des Alten durch
das Neue, sondern das Innovative tritt zunächst neben das bereits Existierende.
Die Innovation setzt sich nicht automatisch durch, sondern tritt mit dem Bestehenden in einen Verdrängungswettbewerb - und kann in diesem Wettbewerb durchaus scheitern. Für den Erfolg des Modernisierungsprozesses
kommt es nicht nur darauf an, daß das Neue objektiv »besser« ist als das Alte
(das ist für das Neue auch noch nicht unbedingt feststellbar), sondern ob die
Innovation eine ausreichende Durchsetzungsfahigkeit hat. Letztere hat eine
personale Komponente, die vor allem den Durchsetzungswillen eines Akteurs
beschreibt, und einen materiellen Bestandteil, der die Ressourcen umfaßt, die
einem Akteur zur Durchsetzung einer Innovation zur Verfugung stehen. Diese
Ressourcen können zum Beispiel aus Kapital oder auch parlamentarischen
Mehrheiten bestehen. Die personale und die materielle Komponente bedingen
sich gegenseitig. Ein Akteur kann zwar die materiellen Voraussetzungen zur
Durchsetzung seiner Innovation positiv beeinflussen, indem er andere überzeugt, in der Regel reicht der Durchsetzungswille allein aber nicht aus. Andererseits müssen die Ressourcen durch einen bestimmten Willen und ein bestimmtes Programm geleitet werden, weil sie sonst im Prozeß der
Modernisierung keine Funktion haben.
Die Durchsetzungsmöglichkeiten eines innovativen oder konservativen (im
Sinne eines innovationsverhindernden) Programms hängen von verschiedenen
modernisierungshemmenden und -fördernden Faktoren ab. Modernisierungshemmend wirken sich in erster Linie die Vorzüge aus, die aus einem bestehenden System erwachsen: Diese Vorteile können materieller Art (wie z.B.
monetäre Werte) sein, oder auch immaterieller Natur (wie Prestige, Ruhm
oder Ehre). Modernisierungshemmend sind aber auch die Kosten, die mit der
Umsetzung der Innovation verbunden sind. Kosten sind dabei sowohl rein
geldmäßig zu sehen - wie etwa die Investitionen in ein neues Verkehrssystem - , können aber auch gesellschaftlicher Natur sein, wenn beispielsweise
durch neue Technologien Arbeitsplätze verloren gehen. Modernisierungshemmend wirkt außerdem das Funktionieren des Alten. Je besser das Alte
funktioniert (oder zu funktionieren scheint) und je unsicherer die Vorteile des
Neuen sind (oder erscheinen), desto schwieriger wird eine Neuerung durchsetzbar sein.
Modernisierungsfördernd sind im Umkehrschluß dann diejenigen Vorteile,
die aus einer Innovation erwachsen könnten, und die Kosten, die entstünden,
falls die Modernisierung verhindert würde. Auch wird die Bereitschaft, das
Alte durch das Neue zu ersetzen, um so größer sein, je schlechter das Bestehende funktioniert.
Da Innovationen aber immer mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet sind
(funktioniert und bewährt sich das Neue wirklich?), müssen die modernisie-
Die Modernisierung der Außenpolitik
15
rungsfördernden Elemente, um sich durchzusetzen, tendenziell vorteilhafter
sein (oder erscheinen) als die modernisierungshemmenden. Je unsicherer aber
das Neue ist, desto größer müssen vergleichsweise auch die zu erwartenden
Vorteile sein. Allerdings ist die mit der Modernisierung verbundene Unsicherheit abhängig von deren individueller und kollektiver Wahrnehmung und Bewertung, die jedoch wiederum durch verschiedene Akteure zielgerichtet beeinflußt werden kann.
Das gerade Vorgestellte ist eine allgemeine Definition von Modernisierung.
Sie ist notwendig, um grundsätzliche Prinzipien der Modernisierung zu erläutern. »Innovation« ist jedoch ein sowohl themen- wie zeitspezifischer Platzhalter, weil die Innovation von heute morgen schon wieder das Bestehende, Etablierte ist.
Die Innovation, deren Umsetzung im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht,
ist das liberale Modell der Friedenssicherung. »Modernisierung der Außenpolitik« bedeutet also konkret die Einflüsse dieses Konzepts auf die Gestaltung
der deutsch-französischen Beziehungen in den Jahren 1923 bis 1929. Dabei
soll nicht die ideengeschichtliche Betrachtung im Vordergrund stehen, sondern die Untersuchung der Einflüsse des liberalen Modells auf die konkreten
historischen Abläufe.
Worin bestand nun idealtypischerweise dieses Friedensmodell, das unter anderem vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson propagiert wurde21?
Ziel des liberalen Konzepts war, Wilson zufolge, die Herbeiführung eines gerechten Friedens, denn nur dieser könne ein auf Dauer sicherer Frieden sein22.
Voraussetzung dafür sei vor allem die Demokratie im Innern der Staaten: »Eine feste Vereinigung für den Frieden kann nur aufrechterhalten werden, wenn
die Mitglieder demokratische Nationen sind. Man könnte keiner autokratischen Regierung das Vertrauen schenken, daß sie ihr treu bleiben oder ihre
Vereinbarungen innehalten würde«23. Aus dieser Grundforderung nach Demokratie leitete er weitere Voraussetzungen ab, nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Ausdruck dafür, daß jedes Volk selbst demokratisch über
21
Wilsons Verdienst bestand vor allem in der »grand synthesis and propagation« dieses Modells der Friedenssicherung, Thomas J. KNOCK, Wilsonian Concepts and International Realities at the End of the War, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998,
S. 111-129, hier S. 111. Wilson selbst war sogar »a rather belated adherent to the collective
security idea«, Inis L. CLAUDE jr., Power and International Relations, New York 1962,
S. 109.
22
Siehe Rede Wilsons vor dem Kongreß (2.4.1917), in: Herbert MICHAELIS, Ernst
SCHRAEPLER, Günter SCHEEL (Hg.), Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch
1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 1, Berlin
1958, Nr. 102.
23
Ibid.
16
1. Einleitung
sein Schicksal bestimmen solle24. Wie das Leben im Innern des demokratischen Staates, sollten auch die internationalen Beziehungen durch das Recht
geregelt werden, also durch
[d]ie Einwilligung aller Nationen, sich in ihrem Verhalten zueinander von denselben Grundsätzen der Ehre und der Achtung vor dem gemeinen Recht der zivilisierten Gesellschaft leiten zu lassen, die für die einzelnen Bürger aller modernen [R.B.: also demokratischen
Rechts-] Staaten in ihren Beziehungen zueinander gelten, dergestalt, daß alle Versprechen
und Abmachungen gewissenhaft beobachtet, daß keine Sonderanschläge und Verschwörungen angezettelt werden, daß keine selbstsüchtigen Schädigungen ungestraft zugefügt werden,
und daß wechselseitiges Vertrauen geschaffen werde auf der vornehmen Grundlage wechselseitiger Achtung vor dem Recht25.
Eine weitere, ebenfalls aus der innerstaatlichen Demokratie abgeleitete Forderung Wilsons war das Ende der Geheimdiplomatie (Punkt I der Vierzehn
Punkte)26. Ebenso wie im demokratischen Rechtsstaat Kontrolle durch öffentliche Verhandlung, Debatten und Abstimmungen erzielt werde, müsse dies
nun auch auf internationaler Ebene durchgesetzt werden. Eine weitere Komponente des liberalen Modells der Friedenssicherung war die Durchsetzung
des Freihandels27, die konkret in den Punkten II (Freiheit der Schiffahrt und
der Meere) und III (Beseitigung aller wirtschaftlichen Schranken und Errichtung gleicher Handelsbeziehungen) der Vierzehn Punkte verlangt wurde. Denn
fur Wilson stand fest, daß nicht nur politische Streitigkeiten, sondern auch
»wirtschaftliche Rivalitäten [...] eine ergiebige Quelle für Pläne und Leidenschaften« seien, »die Krieg erzeugen«28. Wilson forderte außerdem die möglichst universelle Umsetzung der erwähnten Voraussetzungen, denn nur dann
sei die Sicherung des Friedens dauerhaft möglich. Diese Universalität Schloß
Bündnisse einzelner Staaten aus, die gegen die Interessen anderer Staaten oder
der Friedenserhaltung gerichtet waren29.
Waren diese Voraussetzungen erfüllt, so sollten nach dem Willen des amerikanischen Präsidenten durch einen Völkerbund die Konflikte zwischen den
Staaten friedlich geregelt werden. Mittel hierfür waren die allgemeine Abrü-
24
Siehe Botschaft Wilsons an den KongreßbSMLIHECA
(11.2.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und
Folgen, Bd. 2, Nr. 399b.
25
Rede Wilsons in Mount Vernon (4.7.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd.
2, Nr. 399c.
26
Abgedruckt in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 399a.
27
Siehe Gottfried NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, Locaino und die Grenzen der Entspannung, in: Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt
1982 (Wege der Forschung, 539), S. 416-425, hier S. 416.
28
Rede Wilsons in Mount Vernon (4.7.1918), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd.
2, Nr. 399c.
29
Siehe Rede Wilsons in New York (27.9.1918), in: ibid. Nr. 399d; Sara MOORE, Peace
without Victory for the Allies, 1918-1932, Oxford, Providence 1994, S. 20f.
Die Modernisierung der Außenpolitik
17
stung und der Aufbau eines Systems der kollektiven Sicherheit im Rahmen
eines »Völkerbunds«30.
Das von Wilson vertretene Modell der liberalen Friedenssicherung ist nicht snieda
das, sondern nur ein Konzept, das helfen sollte, den Frieden zu bewahren; seine Annahmen und Voraussetzungen blieben nicht unwidersprochen31. Es bildet einen von vielen möglichen Idealtypen, mit dessen Hilfe reale Ereignisse
gewissermaßen vermessen werden können. Daß der von Wilson inspirierte
Prozeß der Modernisierung, deren zugrundeliegende Innovation im übrigen
auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition zurückblicken kann32, wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung der Beziehungen auch zwischen Deutschland
und Frankreich hatte, steht außer Frage. Nicht nur wurde das Modell zumindest teilweise, beispielsweise durch den Völkerbund, dessen Satzung dem
Völkerrecht eine »epochale Wendung«33 verlieh, umgesetzt. Viele Aspekte
des Konzeptes, wie die Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen oder die
Liberalisierung des Handels, haben die internationalen - und die deutschfranzösischen - Beziehungen der 1920er Jahre entscheidend geprägt. Sie blieben insofern also nicht nur Innovation, sondern setzten tatsächlich einen Modernisierungsprozeß in Gang.
Der hier eingeführte und in dieser Definition durchaus neue Modernisierungsbegriff ist aber nicht nur für den Untersuchungszeitraum relevant, sondern bietet auch andere Vorteile. Durch ihn kann der begriffliche Rahmen der
bisherigen Untersuchungen über die deutsch-französischen Beziehungen der
1920er Jahre erweitert werden, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens war die
französische Perspektive bisher weitgehend vom Problem der Sicherheit dominiert34, während auf deutscher Seite vor allem die Frage der Revision des
Versailler Vertrags und, damit zusammenhängend, die der Kontinuität deut-
30
Siehe Punkte IV und XIV der Vierzehn Punkte, in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen,
Bd. 2, Nr. 399a.
31
Zusammenfassend hierzu: Jörg MEYER, Theorien zum Frieden im neuen Europa. Ein Beitrag zur Debatte um eine europäische Friedensordnung, Berlin 2000 (Berliner EuropaStudien, 8), S. 94-110 (Kritik am Konzept von Frieden durch Demokratie), S. 152-164 (Kritik am Institutionalismus-Modell, das dem Völkerbund zugrunde liegt), S. 211-224 (Kritik
am Frieden durch Freihandel-Modell).
32
Es lassen sich, zurückgreifend auf die Definition Fetschers, mindestens drei Grundmodelle
der Friedenssicherung im wilsonschen Konzept ausmachen: das des Weltstaats, das des Friedens durch Freihandel und das des Friedens durch Demokratie. Zu den verschiedenen Modellen vgl. Iring FETSCHER, Modelle der Friedenssicherung, München 2 1973, S. 13-24
(Weltstaat), S. 38-43 (Frieden durch Freihandel) und S. 53-58 (Frieden durch Demokratie).
33
Otto KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, München u.a. 3 1987, S. 84.
34
So z.B. Clemens A. WURM, Die französische Sicherheitspolitik in der Phase der Umorientierung 1924-1926, Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1979 (Europäische Hochschulschriften
ReiheutsrponlihfedcaSRPONJHFEA
ΙΠ, 115), S. 16; Stanislas JEANNESSON, Poincarf, la France et la Ruhr (1922-1924).
Histoire d'une occupation, Straßburg 1998, S. 27.
18
1. Einleitung
scher Außen- und Großmachtpolitik im Mittelpunkt des Interesses standen35.
Stellt man jedoch den deutschen Revisionsanspruch und das französische Sicherheitsverlangen einander gegenüber, so wird schnell deutlich, daß diese
beiden Konzepte sich gegenseitig ausschlossen36: Frankreichs Sicherheit lag
vor allem in der Verhinderung deutscher Revisionsansprüche begründet. Besonders die Entwicklung der Jahre 1924 bis 1929 zeigte aber, daß ein Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich in begrenztem Rahmen möglich
war, trotz Revisions- und Sicherheitsstreben. Neben diesen beiden unzweifelhaft vorhandenen und wesentlichen Triebfedern der gegenseitigen Beziehungen muß es also noch ein »Mehr« gegeben haben, das diesen Ausgleich ermöglichte. Dieses »Mehr«, das wird in der Arbeit zu zeigen sein, lag darin
begründet, daß sowohl Deutschland als auch Frankreich bereit waren, sich auf
die Modernisierung ihrer Beziehungen einzulassen. Allerdings wurde diese
Bereitschaft durch verschiedene Faktoren begrenzt, und Revisions- bzw. Sicherheitsforderungen waren hierfür sicherlich entscheidend.
Durch die Erweiterung um den Begriff der Modernisierung soll außerdem
zweitens erreicht werden, die Geschichte der internationalen Beziehungen der
1920er Jahre nicht ausschließlich unter den bislang vorherrschenden Gesichtspunkten der Vorgeschichte zum Zweiten Weltkrieg und der Kontinuität deutschen Machtstrebens zu sehen37. Der betrachtete Zeitraum war eben einerseits
nicht nur von denjenigen deutschen Ambitionen geprägt, die im Angriffskrieg
gegen Polen und bald darauf gegen fast den Rest der Welt gipfelten. Andererseits setzte in Frankreich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs
eine Phase des kontinuierlichen Verfalls, dernedca
decadence38, ein, die viele Historiker für die bittere Niederlage von 1940 verantwortlich machen39. Es gilt desSo z.B. Marshall M. LEE, WolfganglYWUTSRONMLKIHEDCBA
MlCHALKA, German Foreign Policy 1917-1933. Continuity or Break?, Leamington Spa, Hamburg, New York 1987; zusammenfassend NlEDHART, Außenpolitik, S. 50f. Die Arbeit Krügers, die die neuen Ansätze der deutschen Außenpolitik hervorhebt, stellt letztlich nur die Antithese bzw. Erweiterung des Revisionsansatzes dar, vgl. KRÜGER, Außenpolitik, insbesondere S. 13-16.
36
Siehe Franz KN1PPING, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locamo-Ära 1 9 2 8 1931. Studien zur internationalen Politik in der Anfangsphase der Weltwirtschaftskrise,
München 1987, S. 1.
37
Siehe NIBDHART, Außenpolitik, S. 4 1 ; MOORE, Peace, S. 6 . Boyce stellt hierzu fest:
»More fundamentally, the unceasing search for the origins of the Second World War and its
consequences has probably had the unintended effect of >flattening out< the inter-war period
by highlighting the longevity of certain political and ideological tendencies or sources of
instability and aggression. Thus the continuities are stressed far more than the discontinuities«, Robert BOYCE, The Collapse of Globalisation in the Inter-War Period. Some Implications for Twentieth-Century History, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift Peter
Krüger), Stuttgart 2 0 0 1 , S. 1 2 1 - 1 3 2 , hier S. 121.
38
So der Titel der Studie Duroselles: Jean-Baptiste DUROSELLE, La Decadence, Paris 1 9 7 9 .
39
So z.B. Anthony ADAMTHWAITE, Grandeur and Misery. France's Bid for Power in
Europe, 1 9 1 4 - 1 9 4 0 , London, New York 1995, S. 15. Eine ähnliche Tendenz findet sich in
35
Die Modernisierung der Außenpolitik
19
halb, den eigenständigen Charakter der Periode herauszuarbeiten, ohne aus
dem Blick zu verlieren, daß die 1920er Jahre natürlich auch Vorgeschichte der
1930er Jahre und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs waren. Es wäre unhistorisch, dies zu leugnen. Allerdings sind die 1920er Jahre ebenso Vorgeschichte zu heute, wo das Konzept des liberalen Modells der Friedenssicherung - besonders nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks - im
Rahmen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur eine Renaissance
feiert40. Ebenso unhistorisch ist es deshalb, einen Determinismus zu konstruieren, der zwangsläufig vom Friedensschluß des Jahres 1919 in die Ereignisse
der Jahre 1933 bis 1945 mündet. Darum ist es notwendig, die Ambiguitäten
und Interdependenzen der Entwicklung herauszuarbeiten und die Freiheit der
Entscheidung der Akteure zu akzeptieren. Dabei darf jedoch nicht vergessen
werden, daß diese wiederum durch viele Faktoren - wie beispielsweise ihre
Weltanschauung oder ihre Verfügungsgewalt über materielle Mittel - begrenzt
(aber eben nicht determiniert!) werden.
Der Begriff der Modernisierung erlaubt es darüber hinaus drittens, Aspekte
in die Untersuchung der internationalen wie bilateralen Beziehungen aufzunehmen, die bisher vernachlässigt wurden oder das Thema separater Untersuchungen waren, wie beispielsweise Wirtschaftsfragen41. Dabei beruht die Vernachlässigung ökonomischer Aspekte nicht so sehr darauf, daß diese nicht für
einzelne Akteure herausgearbeitet worden wären: Die Literatur über Stresemann beispielsweise gibt beredt Auskunft darüber, welche wichtige Rolle
wirtschaftliche Überlegungen in seinem politischen Denken einnahmen, die in
einer »ökonomischen Variante deutscher Machtpolitik«42 gipfelten. Die Vernachlässigung ist vielmehr darin zu sehen, daß die politischen Konzepte und
Ambitionen zu wenig mit den realwirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten verglichen wurden43. Gerade aber in den komplexen Wechselwirdem Sammelband von Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918—
1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, dessen einleitendes
Kapitel vom Herausgeber mit »1940 as end and beginning in French inter-war history and
historiography«, überschrieben ist. Zur Gegenposition siehe Clemens A. WURM, Frankreich
und die Rolle Deutschlands in Europa während der Ära Briand-Stresemann, in: Gottfried
NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale
Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 150-170, hier
S. 157f.; Robert FRANK, La hantise du d6clin. Le rang de la France en Europe, 1920-1960.
Finances, difense, identit6 nationale, Paris 1994, S. 159,283.
40
Siehe MEYER, Theorien zum Frieden, S. 7-9.
41
Die Untersuchung Pohls ist in diesem Zusammenhang nicht hilfreich, weil sie den Einfluß
von Wirtschaftsinteressen auf die Außenpolitik der Weimarer Republik überbewertet, siehe
Karl-Heinrich POHL, Weimars Wirtschaft und die Außenpolitik der Republik 1924-1926.
Vom Dawes-Plan zum internationalen Eisenpakt, Düsseldorf 1979.
42
NIEDHART, Außenpolitik, S. 46.
43
Wichtige Ausnahmen sind die Arbeiten Wurms zur Umorientierung der französischen
Sicherheitspolitik und Soutous zur französischen Politik in Osteuropa: WURM, Sicherheitspolitik und Georges-Henri SOUTOU, L'imp6rialisme du pauvre: la politique iconomique du
20
1. Einleitung
kungen zwischen politischer und ökonomischer Sphäre liegen wichtige Ursachen für die Modernisierung der Außenpolitik wie auch für ihr Scheitern begründet44.
Aus dem hier vorgestellten Modell der Modernisierung - als Prozeß der Beeinflussung der Außenpolitik durch das liberale Konzept der Friedenssicherung als wesentlicher Innovation - ergeben sich die zwei zentralen Fragestellungen dieser Arbeit: Erstens, inwieweit hat in den Jahren 1923 bis 1929
eine Modernisierung der deutsch-französischen Beziehungen stattgefunden,
d.h. inwieweit haben die deutsche und die französische Diplomatie moderne
Elemente in ihre Außenpolitik inkorporiert, und zweitens, wo lagen die Defizite im Modernisierungsprozeß und was waren die Ursachen hierfür? Lagen
sie darin begründet, daß moderne Elemente nur unzureichend einbezogen
wurden, oder war das liberale Modell etwa in sich selbst unschlüssig? Inwiefern waren diese Defizite ursächlich fur das Scheitern der Modernisierung der
Außenpolitik am Ende der 1920er Jahre? Aus diesen beiden Hauptfragen leiten sich weitere Untersuchungsthemen ab: Wer waren die Akteure der Modernisierung der Außenpolitik, wer ihre Gegner? Was waren deren Motive?
Wie haben gesellschaftliche, wirtschaftliche und außenpolitische Rahmenbedingungen als hemmende oder fördernde Faktoren die Modernisierung der
Außenpolitik beeinflußt?
Aus der Fragestellung ergibt sich der Untersuchungszeitraum der Arbeit: Bis
zum Ruhrkampf waren die deutsch-französischen Beziehungen geprägt durch
die bereits erwähnte »guerre firoide«, in deren Klima das unzweifelhaft vorhandene Innovationspotential nicht genutzt werden konnte45. Deshalb stellt der
Ruhrkampf, der die Wende hin zur Modernisierung einleitete, den Ausgangspunkt der Untersuchung dar, wobei eine genaue Datierung dieser Wende aufgrund der prozessualen Entwicklung nicht möglich und auch wenig sinnvoll
ist. Wie in Kapitel 3 dargestellt wird, fand der Umschwung zwischen September 1923 (Abbruch des Ruhrkampfs) und August 1924 (Londoner Konferenz)
statt.
Ein Ende für den Betrachtungszeitraum zu finden, ist schwieriger. Die Untersuchung wird zeigen, daß die Modernisierung von Anfang an von Widersprüchlichkeiten geprägt war, die ihren Abbruch Anfang der 1930er Jahre begünstigten. Was letztlich auslösendes Moment für den Politikwechsel Ende
der 1920er Jahre war und wann genau er einsetzte, ist weitgehend umstritten:
Während Krüger den Tod Stresemanns (3. Oktober 1929), den Ausbruch der
Weltwirtschaftskrise (»Schwarzer Donnerstag« am 24. Oktober 1929, gefolgt
gouvernement franyais en Europe centrale et Orientale de 1918 a 1929. Essai d'interpretation,
in: Relations internationales 7 (1976), S. 219-239.
44
Siehe Philipp HEYDE, Das Ende der Reparationen. Deutschland, Frankreich und der
Young-Plan 1929-1932, Paderborn u.a. 1998, S. 24f.
45
Siehe Kap. 2.3.
Die Modernisierung der Außenpolitik
21
vom »Schwarzen Dienstag« am 29. Oktober 1929), das Scheitern der Regirung Müller und den Übergang zum Präsidialregime Brünings (30. März 1930)
als Anfang vom Ende der »republikanischen Außenpolitik« sieht46, stellen
beispielsweise Niedhart und Knipping die Erosion der 1923/24 etablierten
Ordnung bereits in den Jahren 1927 bzw. 1928 fest47. Da in unserem Modell
der Modernisierung personale und strukturelle Aspekte eine Rolle spielen,
kommt aber auch dem Wechsel des politischen Personals 1929, der übrigens
auch in Frankreich stattfand48, eine wichtige Rolle zu. Auch wenn der Tod
Stresemanns, der Rücktritt Poincares, die Weltwirtschaftskrise oder der Rücktritt Müllers allein nicht ursächlich das Ende der Modernisierung bewirkt
haben und zurecht auf die Krisenerscheinungen ab 1927 hingewiesen worden
ist, so ist doch meines Erachtens erst mit den Ereignissen Ende 1929/Anfang
1930 das vorläufige Ende einer Entwicklung erreicht. Diese sollen deshalb als
Endpunkt der Arbeit dienen.
Die Gliederung dieser Untersuchung ergibt sich aus der Fragestellung einerseits und der Periodisierung andererseits. Nach den einleitenden Überlegungen
dieses Abschnittes werden im zweiten Kapitel strukturelle Aspekte der Modernisierung der Außenpolitik erläutert. Im Mittelpunkt stehen dabei der Versailler Vertrag und die administrativen Reformen im Quai d'Orsay und im
Auswärtigen Amt (AA), mit denen auf die neuen Anforderungen an die Außenpolitik reagiert wurde. Dort wird ebenfalls kurz die Entwicklung der Jahre
1919 bis 1922 dargestellt und untersucht, weshalb der Modernisierungsprozeß
trotz verschiedener innovativer Ansätze bis 1922/23 weitgehend blockiert
blieb. Im Anschluß daran werden der Ruhrkampf und der Dawes-Plan als auslösende Momente des Modernisierungsprozesses betrachtet. Das vierte Kapitel
bildet den Schwerpunkt der Untersuchung und befaßt sich mit dem Prozeß der
Modernisierung in den Jahren 1924-1929. Da das Ziel des liberalen Modells
der Friedenssicherung, die dauerhafte Sicherung eines gerechten Friedens, vor
allem durch den Auf- und Ausbau tragfähiger kollektiver Sicherheitsstrukturen
und der Etablierung eines liberalen internationalen Handelssystems erreicht
werden sollte, wird sich die Gliederung dieses Teils an diesen beiden Hauptlinien des Konzeptes orientieren. Im sicherheitspolitischen Teil werden unter
46
47
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 161.
Siehe Gottfried NIEDHART, Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn u.a. 1989,
S. 80-82; KNIPPING, Locamo-Ära, S. 4.
48
Poincard mußte aufgrund eines Prostataleidens im Sommer 1929 zurücktreten (siehe Aufzeichnung Köpke (28.7.1929), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PAAA), R 7050).
Im gleichen Jahr verstarben Marschall Foch und Clemenceau, siehe Ren6 REMOND, Frankreich im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994 (Geschichte Frankreichs, 6), S. 152f. Briands Rücktritt erfolgte zwar erst Anfang 1932, doch sank sein Einfluß innerhalb der Regierung Tardieus ab 1930 zunehmend, siehe Christian DELPORTE, LayurqponmliedcbaRPDB
ΠΓ R6publique, Bd. 3: 1919-1940:
De Raymond Poincari ä Paul Raynaud, Paris 1998 (Histoire politique de la France, 3),
S. 204.
22
1. Einleitung
anderem Locarno, Deutschlands Eintritt in den Völkerbund, die internationalen Abrüstungsbemühungen und der Kellogg-Briand-Pakt sowie deren Bedeutung für den Modernisierungsprozeß untersucht. Anschließend wird dargestellt, wie die deutsch-französischen Beziehungen durch die zweite Säule des
liberalen Friedensmodells - die Liberalisierung des Außenhandels - beeinflußt
wurden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Verhandlungen zum deutschfranzösischen Handelsvertrag und die Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und
ihre Folgen. Weil die Reparationen bedeutenden Einfluß auf die Gestaltung
der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen hatten, wird dieser Teil mit
einer etwas genaueren Betrachtung dieses Problembereichs eingeleitet. Der
Aufbau demokratischer Strukturen im Innern der Staaten, der dritte Hauptaspekt des liberalen Konzepts, wird dagegen nur am Rande thematisiert. Dies
geschieht vor allem deshalb, weil der Einfluß des Auslandes auf die demokratische Entwicklung eines Staates - außer im Falle eines von außen erzwungenen Regimewechsels49 - nur sehr mittelbar ist und diese sehr viel stärker von
innenpolitischen Einflüssen geprägt ist. Eine Untersuchung dieser Frage würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im letzten Kapitel werden die
Ergebnisse zusammengefaßt und die Frage untersucht, warum die Modernisierung der deutsch-französischen Beziehungen 1929/1930 zum Abbruch kam.
Der Europa-Plan Briands wird einen Schwerpunkt dieser Überlegungen bilden.
Anspruch dieser Studie ist es, die deutsche und die französische Seite möglichst gleichberechtigt zu betrachten. Dieser Anspruch muß sich natürlich in
der Quellenauswahl widerspiegeln, was allerdings einige Schwierigkeiten bereitete: Während im Falle Deutschlands in wesentlich größerem Umfang auf
veröffentlichtes Material, z.B. aus den »Akten zur deutschen Auswärtigen Politik« oder den »Akten der Reichskanzlei«, zurückgegriffen werden konnte,
fehlen solche Publikationen für die französische Seite fast völlig50. Durch entsprechend umfangreichere Recherchen in französischen Archiven habe ich
versucht, diese Schieflage etwas abzugleichen. Ein ungleich größeres Problem ergibt sich jedoch daraus, daß viele Quellen in Frankreich schwieriger
einzusehen oder gar nicht vorhanden sind51. Beispielsweise gibt es keine offi49
Dabei sollte nicht vergessen werden, daß die USA auch für einen Regimewechsel in
Deutschland in den Krieg gezogen sind, siehe Rede Wilsons vor dem Kongreß (2.4.1917),
in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 1, Nr. 102.
50
serie 1920-1932 liegen erst für den Zeitraum
Die »Documents diplomatiques franfais« dersrie
1920-1921 vor.
51
Zur Quellenproblematik siehe HEYDE, Reparationen, S. 32f.; Hagspiel weist darauf hin,
daß infolge des Zweiten Weltkrieges und der Verlagerung der Archivbestände des Quai
d'Orsay nach Berlin viele Unterlagen verloren gegangen sind, siehe Hermann HAGSPIEL,
Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich? Die deutsch-französische Außenpolitik der zwanziger Jahre im innenpolitischen Kräftefeld beider Länder, Bonn 1987 (Pariser
Historische Studien, 24), S. 17.
Die Modernisierung der Außenpolitik
23
ziellen Aufzeichnungen über die Sitzungen des Ministerrats, also dessen, was
den deutschen Kabinettsprotokollen entspricht52. Auch wichtige persönliche
Zeugnisse und Aufzeichnungen fehlen: Briand galt als ausgesprochen schreibfaul53, Philippe Berthelot, über lange Jahretsrnligedca
secretaire gendral des französischen Außenministeriums (eine Position, die der des Staatssekretärs in einem
deutschen Ministerium ähnlich war), verbrannte nach seinem Ausscheiden aus
dem Quai d'Orsay seine Papiere, wodurch ein wichtiger Quellenbestand verloren gegangen ist54. Über viele Vorgänge scheinen gar keine Aufzeichnungen
zu bestehen55. Trotz aller Bemühungen, einen Ausgleich zu schaffen, besteht
also eine gewisse, zum Teil unvermeidbare Asymmetrie der Quellenlage.
Die Fragestellung, die der Auswertung der Quellen zugrunde liegt, ist, wie
die jeweiligen Außenministerien in der Konzeption und Durchführung ihrer
Politik durch verschiedene modernisierungsfördernde und -hemmende Faktoren beeinflußt worden sind und wie sie selbst die Modernisierung vorangetrieben haben. Um ein vollständigeres Bild dieser Faktoren, besonders der wirtschaftlichen, zu gewinnen, wurden auch andere Quellenbestände einbezogen,
so vor allem aus dem Reichswirtschaftsministerium (RWiM) und dem Ministere du commerce, die bei Handelsvertragsverhandlungen und Reparationsfragen Einfluß auf außenpolitische Themen nahmen. Im Falle Frankreichs
wurde auch das Finanzministerium berücksichtigt, da die Bestände des Handelsministeriums sich als wenig aufschlußreich für das Thema erwiesen haben.
Ergänzenden Charakter haben die herangezogenen Quellenbestände der beiden Zentralbanken, der Reichsbank und der Banque de France, und verschiedene andere Quellenbestände, die vor allem Privatbanken umfassen, welche
sich aber insgesamt für die Fragestellung als recht dürftig erwiesen haben56.
Bisher gibt es keine umfassende Darstellung der deutsch-französischen Beziehungen für den Untersuchungszeitraum57. Einige Untersuchungen, wie die
52
Siehe ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 11; Jacques BARIETY, Les relations franco-allemandes apres la premifere guerre mondiale 10 novembre 1918-10 janvier 1925. De l'ex6cutionvutsronmlihgfe
έ
la nigociation, Paris 1977, S. 635.
53
Siehe Emmanuel PEREm DELLA ROCCA, Briand et Poincare (souvenirs), in: Revue de
Paris Nr. 43/24 (1936), S. 767-788, hier S. 767f.
54
Siehe ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 114.
55
Z.B. über die Motivation Poincares zur Unterstützung der Putschisten im Rheinland und
die Zustimmung zur Einsetzung der späteren Dawes-Kommission (siehe BARLFETY, Relations
franco-allemandes, S. 249) oder die französischen Vorbereitungen zu den Gesprächen in
Chequers, wo Herriot und MacDonald die Umsetzung des Dawes-Plans besprachen (siehe
ibid. S. 392).
56
Zu Einzelheiten vgl. Quellenverzeichnis.
57
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 3. Die Arbeit Maxeions (Michael-OlafutsronmlkihedcaXWSPONL
ΜAXELON, Stresemann und Frankreich 1924-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf
1972) ist insofern wenig hilfreich, weil die französische Seite unzureichend berücksichtigt
wird und seine Auffassung von der Ost-West-Balance inzwischen als überholt gelten kann,
siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 90f.
24
1. Einleitung
Barietys58, enden früher, andere, so z.B. die von Knipping59, beginnen später.
Dies ist insofern verwunderlich, als die deutsch-französischen Beziehungen
eine zentrale Rolle in den internationalen bzw. europäischen Beziehungen einnahmen60, und der Zeitraum, vor allem wegen der Entspannung zwischen den
ehemaligen Kriegsgegnern, von besonderem Interesse ist. Die Studie Hagspiels bleibt - was sicherlich eine Ursache darin hat, daß seine Fragestellung
eine andere ist - unbefriedigend, weil einige wichtige Ereignisse, wie z.B. der
deutsch-französische Handelsvertrag von 1927, weitgehend ausgeklammert
bleiben61. Insgesamt, und dies trifft besonders für Frankreich zu, gibt es ein
doppeltes Ungleichgewicht in der Forschungslage, und zwar dergestalt, daß
die 1920er Jahre generell weniger untersucht sind als die 1930er Jahre und die
zweite Hälfte der 1920er Jahre wiederum weniger gut erforscht ist als die erste62.
Über Einzelaspekte, die die Außenpolitik Deutschlands und Frankreichs in
dieser Zeit betreffen, gibt es zahlreiche neuere Untersuchungen, so z.B. zum
Ruhrkampf63, zum Kellogg-Briand-Pakt64, zum Young-Plan65 oder zur Weltwirtschaftskonferenz66. Das gesellschaftliche und wirtschaftsgeschichtliche
Umfeld ist, zumindest in seinen groben Zügen, erforscht67. Über viele der Akteure, die eine Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen spielten, gibt
es Biographien68. Vor allem zu Stresemann gab es in den letzten Jahren einige
neue Studien69. Dieses wiedererwachte Interesse an »Weimars größtem
58
BARLFITY, Relations franco-allemandes.
59
KNIPPING, Locamo-Ära.
00
Siehe ibid. S. 5.
Hagspiel erwähnt den deutsch-französischen Handelsvertrag lediglich vier Mal (HAGSPIEL, Verständigung, S. 236, 334, 339f., 360), ohne jedoch dessen Ergebnisse kritisch zu
bewerten.
42
Siehe R£MOND, Frankreich, S. 19; WURM, Rolle Deutschlands, S. 151.
63
JEANNESSON, Poincard; Conan FISCHER, The Ruhr Crisis, 1923-1924, Oxford, New York
2003.
64
Eva BUCHHEIT, Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Machtpolitik oder Friedensstreben?,
Münster 1998.
65
HEYDE, Reparationen.
66
Matthias SCHULZ, Deutschland der Völkerbund und die Frage der europäischen Wirtschaftsordnung, 1925-1933, Hamburg 1997 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, 19).
67
Vgl. die bibliographischen Angaben in Kap. 2.
68
Vgl. Literaturverzeichnis.
69
Zusammenfassend hierzu: Karl Heinrich POHL, Gustav Stresemann. Überlegungen zu
einer neuen Biographie, in: DERS. (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine
Zeit, Göttingen 2002, S. 13-40. Im einzelnen ist hinzuweisen auf: Christian BAECHLER,
Gustave Stresemann (1878-1929). De l'impdrialismelaέ la s6curitä collective, Straßburg
1996; Jonathan WRIGHT, Gustav Stresemann. Weimar's Greatest Statesman, Oxford u.a.
2002; Eberhard KOLB, Gustav Stresemann, München 2003; John P. BLRKELUND, Gustav
Stresemann. Patriot und Staatsmann. Eine Biographie, Hamburg 2003.
61
Die Modernisierung der Außenpolitik
25
Staatsmann«70 findet jedoch keine Entsprechung bei anderen beteiligten Personen71, vor allem nicht bei den hohen Beamten72.
Allerdings gibt es auch einige Bereiche, die nicht oder nur kaum erforscht
sind. Dies gilt z.B. für den deutsch-französischen Handelsvertrag. Insgesamt
läßt sich feststellen, daß die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen in
der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in ihrem gesamten Umfang noch nicht
umfassend dargestellt wurden.
Nach diesen einleitenden Überlegungen soll nun die Modernisierung der
Außenpolitik und ihr Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen 1923
bis 1929 untersucht werden. Den Anfang werden dabei die Rahmenbedingungen der Modernisierung, vor allem der Versailler Vertrag und die administrativen Reformen im AA und dem Quai d'Orsay machen.
70
So der Untertitel von WRIGHT, Stresemann.
Eine Ausnahme bildet Poincarö, vgl. hierzu: John F. V. KEIGER, Raymond Poincarö,
Cambridge u.a. 1997; Francois ROTH, Raymond Poincarö. Un homme d'fetat röpublicain,
Paris 2000.
72
Über Berthelot und den französischen Botschafter in Berlin, de Margerie, gibt es Biographien: Jean-Luc BARR£, Philippe Berthelot. L'6minence grise, 1866-1934, Paris 21998; Bernard AUFFRAY, Pierre de Margerie (1861-1942) et la vie diplomatique de son temps, Paris
1976. Über Jacques Seydoux gibt es einen Aufsatz von Nicole JORDAN, The Reorientation of
French Diplomacy in the mid-1920s: the Role of Jacques Seydoux, in: English Historical
Review, Bd. 117, Heft 473 (2002), S. 867-888. Über die wichtigen deutschen Spitzenbeamten existieren hingegen nur wenige Studien, vgl. Peter KRÜGER, Carl von Schubert und die
deutsch-französischen Beziehungen, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit
1914-1963, München 2000 (Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien, 46), S. 73-96.
71
2. RAHMENBEDINGUNGEN UND VORGESCHICHTE
DER MODERNISIERUNG DER AUSSENPOLITIK
Wie jede historische Entwicklung war die Modernisierung der Außenpolitik
Teil einer komplexen historischen Wirklichkeit. Politische, wirtschaftliche und
kulturelle Einflüsse erzeugten Handlungsspielräume und -begrenzungen für
die außenpolitischen Akteure, die diesen verschiedene Optionen ermöglichten
oder verschlossen1. Man kann deshalb »Geschichte nicht mehr als einen geradlinig verlaufendem und >totalisierenden< Prozeß einer dynamisch fortschreitenden Entwicklung auffassen«2. Dennoch wird sie bestimmt durch das,
»what occurred (or might occur) in the context of what could have happened
(or could happen), and in the demarcation of this from what could not«3.
Der Historiker befindet sich bei der Beleuchtung dieser Handlungsspielräume in einem Dilemma. Während nämlich die geschriebene Geschichte nach
Linearitäten, Kausalitäten und Kontinuitäten sucht4, verläuft der eigentliche
historische Prozeß doch ganz anders: Es werden, beschränkt auf die Dauer des
winzigen Augenblicks, den man die Gegenwart nennt, parallel Entscheidungen
getroffen, aus denen sich Linearitäten oder Kontinuitäten erst in der Rückschau als Konstrukt ergeben5.
Dies hat natürlich auch Einfluß darauf, welche Informationen dem Handelnden und dem Historiker zur Verfügung stehen. Der Geschichtsschreiber hat
den Vorteil, daß er die Ergebnisse einer Entscheidung oder einer Entwicklung
kennt - was ihn jedoch leicht zu jenem »creeping determinism«6 verleitet, der
ihn in der Nachschau scheinbar zwangsläufige Handlungsverläufe zeichnen
läßt, die in der Realität nie bestanden haben. Das historische Subjekt dagegen
verfugt über das, was an dieser Stelle als Gegenwartswissen bezeichnet werden soll. Zwar weiß es nicht unbedingt, welches Ergebnis seine Entscheidung
haben wird, doch verfügt es über das Bewußtsein der momentanen Lage,
kennt Freund und Feind (und die Abstufungen dazwischen), weiß über all die
1
Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 5.
Hans Ulrich GUMBRECHT, 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 10.
3
Isaiah Berlin, zitiert nach: Niall FERGUSON, Virtual History. Towards a >chaotic< theory of
the past, in: DERS. (Hg.), Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London, Basingstoke, Oxford 1998 [Taschenbuchausgabe der Erstauflage von 1997], S. 1-90, hier S. 83f.
4
Siehe Ferdinand SEIBT, Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition des historischen Sinns, in: Heinz GUMIN, Heinrich MEIER (Hg.), Die Zeit. Dauer und Augenblick,
München, Zürich 21990 (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 2),
S. 149.
5
Siehe ibid. S. 149f.
6
Zum Problem des creeping determinism vgl. Malcolm GLADWELL, A Critic at Large. The
Problem with Intelligence Reform, in: The New Yorker (10.3.2003), S. 83-88.
2
28
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
»weichen« Faktoren Bescheid, die aus Quellen nur sehr schwierig oder gar
nicht zu erschließen - und zu verstehen - sind. Die Rekonstruktion dieses Gegenwartswissens 7 würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb an
dieser Stelle der Hinweis auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur
genügen muß: In Deutschland wie in Frankreich wurde die Außenpolitik durch
die Instabilität des politischen Systems beeinflußt 8 , wobei die Situation in
Deutschland insofern eine schwierigere war, weil von weiten Teilen der Bevölkerung die neue republikanische Staatsform in Frage gestellt wurde 9 , während dies in Frankreich kaum der Fall war 10 . Pazifisten einerseits und Nationalisten andererseits stellten konträre außenpolitische Forderungen an die
Außenpolitik ihrer Regierungen 11 .
7
Zu diesem Gegenwartswissen und der nur bedingten Rekonstruierbarkeit eben dieses Wissens vgl. GUMBRECHT, 1926, S. 460-465.
8
Zur politischen Entwicklung Europas in der Zwischenkriegszeit vgl. Volker BERGHAHN,
Europa im Zeitalter der Weltkriege. Die Entfesselung und Entgrenzung der Gewalt, Frankfurt a. M. 2002; Walther L. BERNECKER, Europa zwischen den Weltkriegen 1914-1945,
Stuttgart 2002 (Handbuch der Geschichte Europas, 9); Gunther MAI, Europa 1918-1939.
Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart 2001; Horst MÖLLER, Europa zwischen den Weltkriegen, München 1998 (OGG, 21). Zu Deutschland in der
Zwischenkriegszeit vgl. Karl Dietrich BRACHER, Die Auflösung der Weimarer Republik.
Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 'i960 (Schriften
des Instituts für politische Wissenschaft der FU Berlin, 4); DERS., Manfred FUNKE, HansAdolf JACOBSEN (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 1988 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, 251); Eberhard
KOLB, Die Weimarer Republik, München 31993 (OGG, 16); Horst MÖLLER, Weimar. Die
unvollendete Demokratie, München 51994 (dtv Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, ohne
Bandzählung); Hans MOMMSEN, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918—
1933, Überarb. u. aktual. Aufl., Berlin 1998; Detlev J. K. PEUKERT, Die Weimarer Republik.
Krisenjahre der Moderne, Frankfurt a. M. 1987; Hagen SCHULZE, Weimar. Deutschland
1918-1933, durchges. Aufl. [ohne Zählung], Berlin 1994, Heinrich August WINKLER, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, durchges. Aufl. [ohne
Zählung], München 1998. Zu Frankreich: Philippe BERNARD, Pierre DUBIEF, The Decline of
the Third Republic 1914-1938, [Nachdruck der ersten Taschenbuchaufl. 1988], Cambridge
1993 (The Cambridge History of Modern France, 5); GisÄUe und Serge BERSTEIN, La Troisi£me R6publique. Les noms, les thfemes, les lieux, Paris 1987 (Les grandes encyclop6dies
du monde de..., hg. v. Xavier BROWAEYS); Serge BERSTEIN, Pierre MILZA, Histoire de la
France au XX* siicle, Bd. 1: 1900-1930, Brüssel 21999; Charles BLOCH, Die Dritte französische Republik. Entwicklung und Kampf einer parlamentarischen Demokratie (1870-1940),
Stuttgart 1972; DELPORTE,yvutsrqponligedcbaYURPONMLJIGFEA
ΠΓ R£publique; Jean Marie MAYEUR, La vie politique sous la
ΠΓ R6publique 1870-1940, Paris 1984; Jean-Yves MOLLIER, Jocelyne GEORGE, La plus
longue des republiques 1870-1940, Paris 1994; Fridiric MONIER, Les annöes 20 (19191930), Paris 1999 (La France contemporaine, ohne Bandzählung); Ren6 REMOND, La ^publique souveraine. La vie politique en France 1879-1939, Paris 2002; DERS., Frankreich.
9
Siehe MÖLLER, Weimar, S. 214.
Siehe MAYEUR, Vie politique, S. 256.
" Jacques BARLFITY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern
1987; Robert H. FERRELL, Peace in Their Time. The Origins of the Kellogg-Briand-Pact,
10
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
29
Natürlich belastete auch die vor allem in Deutschland schleppende wirtschaftliche Entwicklung12 die Außenpolitik - einmal ganz direkt die Außenwirtschaftspolitik, aber, durch die Verschärfung der sozialen und politischen
Gegensätze, die politische Entwicklung insgesamt.
New Haven, London 1952, insbes. S. 16-20; Ilde GORGUET, Les mouvements pacifistes et la
röconciliation franco-allemande dans les annöes vingt (1919-1931), Bern u.a. 1999; Karl
HOLL, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Keith ROBBINS, European Peace
Movements and Their Influence on Policy after the First World War, in: Rolf AHMANN,
Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western
European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 73-86.
12
Zur Entwicklung der europäischen bzw. Weltwirtschaft: Gerald AMBROSIUS, W. H. HUBBARD, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, München 1986; Youssef CASSIS (Hg.), Finance and Financiers in European History, 1880-1960, Cambridge u.a.
1992; Carlo M. ClPOLLA, Knut BORCHARDT (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte,
Bd. 5: Die europäischen Volkswirtschaften im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart, New York
1980; Wolfram FISCHER u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis
zur Gegenwart, Stuttgart 1987; Georges DUPEUX (Hg.), Guerres et crises 1914-1917, Paris
1977
(Histoire 6conomique et sociale du monde, 5); Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The
Industrial Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a.
1989 (The Cambridge Economic History of Europe, 8); Barry ElCHENGREEN, Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000. Zu
Deutschland: Gerald AMBROSIUS, Von Kriegswirtschaft zu Kriegswirtschaft, in: Michael
NORTH (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München
2000, S. 282-350; DERS., Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und
Geschichte, Stuttgart 2001 (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, 3); Hermann
AUBIN, Wolfgang ZORN (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte,
Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976; Gerald D. FELDMAN, The Great disorder.
Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914-1924, New York, Oxford
1997; Friedrich-Wilhelm HENNING, Das industrialisierte Deutschland 1914-1992, Paderborn
u.a. "1993; Harold JAMES, The German Slump. Politics and Economics 1924-1936, Oxford
1986; Hans MOMMSEN, Dietmar PETZINA, Bernd WEISBROD (Hg.), Industrielles System und
politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17. Juni 1973, Düsseldorf 1974; Albrecht RlTSCHL, Deutschlands Krise und Konjunktur. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. Zu Frankreich: Fernand
BRAUDEL, Ernest LABROUSSE (Hg.), Histoire dconomique de la France, Bd. 4: L'ere industrielle et la societe d'aujourd'hui (siecle 1880-1980), Paris 1979; Francois CARON, Histoire
economique de la France XIXe-XXe si£cle, Paris 21995; Jean-Noel JEANNENEY, L'argent
cachi. Milieux d'affaires et pouvoirs politiques dans la France du XX® siÄcle, Paris 21984;
DERS., Francis de Wendel en r6publique. L'argent et le pouvoir, 1914-1940, 3 Bde., Lille
1976; Richard F. KUISEL, Le capitalisme et l'Etat en France. Modernisation et dirigisme au
XXe sidcle, Paris 1984; Georges LEFRANC, Les organisations patronales en France. Du passe
au pr6sent, Paris 1976; Maurice LEVY-LEBOYER (Hg.), Histoire de la France industrielle,
Paris 1996; Aim6e MOUTET, Les logiques de l'entreprise. La rationalisation dans l'industrie
franjaise de l'entre-deux-guerres, Paris 1997 (Diss. Paris 1992, Civilisations et soci6tis, 93);
Jacques NfiRli, Le probleme du mur d'argent. Les crises du franc (1924—1926), Paris 1985;
Alfred SAUVY, Histoire economique de la France entre les deux guerres, 4 Bde., Paris 19651975.
30
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Wie gesagt, auf eine detaillierte Darstellung dieser Zusammenhänge muß
hier verzichtet werden. Dennoch sollen zwei Aspekte, die wichtige Rahmenbedingungen für die Modernisierung der Außenpolitik und die deutschfranzösischen Beziehungen darstellten und eng mit dem eigentlichen Thema
dieser Studie zusammenhängen, etwas genauer erörtert werden. Es handelt
sich dabei um den Versailler Vertrag und dessen Auswirkungen auf das internationale System der 1920er Jahre und die administrativen Reformen in den
auswärtigen Diensten Deutschlands und Frankreichs, die die technischen Voraussetzungen für eine moderne Außenpolitik schufen.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
Der Versailler Vertrag, »das am meisten geschmähte und am wenigsten gelesene Schriftstück der Geschichte«13, bildete eine der wesentlichen Grundlagen
der internationalen Staatenordnung der Zwischenkriegszeit und hatte somit
eine zentrale Bedeutung für die Modernisierung der Außenpolitik. Dabei sollte
allerdings nicht vergessen werden, daß das europäische Staatensystem nicht
ausschließlich auf dem Versailler Vertrag ruhte, sondern auch auf den anderen
sogenannten Vorortverträgen zwischen den Alliierten und Assoziierten und
Österreich, Bulgarien, Ungarn und der Türkei14. In einem weiteren Kontext
gehören auch die Beziehungen Frankreichs und Deutschlands zu Großbritannien, den USA, den neu entstandenen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas
und zur Sowjetunion dazu15.
London setzte nach dem Krieg seine Gleichgewichtspolitik fort, indem es
sowohl eine deutsche wie auch eine französische Hegemonie - wirtschaftlich
wie politisch - auf dem europäischen Kontinent zu vermeiden suchte16. Um
die negativen Folgen, die der Erste Weltkrieg auf die eigene Wirtschaft und
das Empire gehabt hatte, aufzuarbeiten, versuchte es, auf dem europäischen
Festland Stabilität zu schaffen17. Insofern bremste es Frankreich bei seinen
13
David Lloyd George, zitiert nach: Ferdinand CZERNIN, Die Friedensstifter. Männer und
Mächte um den Versailler Vertrag, Bern, München 1968, S. 7.
14
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 34.
15
Siehe MÖLLER, Europa, S. 19.
16
Siehe Stephanie SALZMANN, Großbritannien und Deutschland während der Locamo-Ära.
Persönliche Sympathien im Konflikt mit nationalen Interessen, in: Gottfried NIEDHART,
Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in Europa. Nationale Interessen
und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim 1997, S. 233-245, hier S. 235.
17
Siehe Philip TOWLE, British Security and Disarmament Policy in Europe in the 1920s, in:
Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems
of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S.127-153, hier S. 127.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
31
Versuchen, den Versailler Vertrag allzu strikt durchzusetzen, und stand den
Forderungen der deutschen Außenpolitik durchaus maßvoll gegenüber, gab es
doch eine Reihe von gemeinsamen Interessen mit dem ehemaligen Kriegsgegner: England war an einer raschen wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands
interessiert, um dort seine Waren absetzen zu können18, und es sah Deutschland als wichtiges Bollwerk gegen die bolschewistische Gefahr19.
Für Frankreich blieb Großbritannien, das sein Kriegsbündnis mit Paris nicht
erneuert hatte, der wichtigste außenpolitische Bezugspunkt, doch waren die
bilateralen Beziehungen durch vielerlei Probleme belastet20: London glaubte,
die Ambitionen Polens, des wichtigsten Verbündeten Frankreichs im Osten,
destabilisiere die Lage gerade dort, wo sie ohnehin am prekärsten in Europa
sei21. In den übrigen Staaten Osteuropas kollidierten vor allem die wirtschaftlichen Interessen Londons und Paris'22. Auch in anderen Bereichen gab es
zahlreiche Konflikte zwischen beiden Ländern: In der Türkeipolitik; im Nahen
Osten, wo es um konkurrierende Erdölinteressen ging23; bei dem dornigen
Problem der interalliierten Schulden, das ja nicht nur Frankreich und die USA
betraf, sondern auch zwischen Frankreich und Großbritannien bestand24; in der
Deutschland- und Reparationspolitik, in der London, wie am Beispiel des
Ruhrkampfs zu sehen sein wird, andere Interessen als Paris hatte und folglich
die Meinungen weit auseinandergingen25.
Vergleicht man die lange Liste der Streitpunkte, die zwischen Paris und
London bestanden, mit der kurzen, die Deutschland und Großbritannien betrafen, stellt sich die Frage, warum England Frankreich in seinen Beziehungen
weiter die Priorität einräumte26 und sich nicht stärker gegen Paris auf die Seite
18
Siehe Constanze BAUMGART, Stresemann und England, Köln, Weimar, Wien 1996 (Diss.
Köln 1995), S. 98.
19
Siehe Christoph JAHR, Britische Außenpolitik unter dem Eindruck von Versailles, in: Gerd
KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften
der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14), S. 113-125, hier S. 120.
20
Zusammenfassend siehe Hans Otto SCHÖTZ, Der britisch-französische Gegensatz in der
Deutschlandpolitik am Beispiel des Versuchs der Gründung einer Notenbank für die besetzten Gebiete am Jahreswechsel 1923/24. Thesen und Fragestellungen zur Problematik der
Europapolitik beider Großmächte vor der deutschen Stabilisierung, in: Gerald D. FELDMAN
u.a. (Hg.), Konsequenzen der Inflation, Berlin 1989 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 67), S. 125-147, hier S. 142-144.
21
Siehe Piotr S. WANDYCZ, The Twilight of French Eastern Alliances 1926-1936. FrancoCzechoslovakian-Polish relations from Locarno to the Remilitarisation of the Rhineland,
Princeton 1988, S. 4.
22
Siehe Magda ADÄM, The Little Entente and Europe, 1920-1929, Budapest 1993, S. 50f.
23
έ 1945,
Siehe Jean-Baptiste DUROSELLE, Histoire des relations internationales de 1919utsrqponlihedcaUTS
Paris 122001, S. 27.
24
Siehe Denise ARTAUD, La question des dettes interalli6es et la reconstruction de l'Europe
1917-1929, Bd. 1, Paris 1978 (Diss. Paris 1976), S. 62.
25
Siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 16f.
26
Siehe BAUMGART, England, S. 109.
32
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Berlins stellte. Sicherlich machte die französisch-britische Waffenbrüderschaft
im Ersten Weltkrieg gegen den »boche« bzw. die »huns« ein solches Revirement psychologisch nur schwer denkbar. Außerdem betrieb Großbritannien
nicht erst seit 1938 eine Politik des Appeasements, und nicht nur gegenüber
Deutschland27. Nach der Logik des Appeasements mußte gerade auf das Land
mäßigend eingegangen werden, das am ehesten in der Lage war, britische Ansprüche in Frage zu stellen oder zu bedrohen, und das war - vor wie nach dem
Ersten Weltkrieg - nun gerade nicht Deutschland, sondern Frankreich. Die
Entente Cordiale vom 8. April 190428 zwischen London und Paris stand ebenso in dieser Tradition wie die britische Nachkriegspolitik nach 1918. In die
Logik des Arguments paßt, daß die englische Regierung dazu neigte, die
Macht Frankreichs zu überschätzen, was im Gegenzug natürlich bedeutete,
daß Deutschland eher unterschätzt wurde29.
Während in der Politik Großbritanniens in bezug auf Frankreich und
Deutschland also durchaus Parallelen und Kontinuitäten zur Vorkriegszeit
auszumachen sind, rückten die USA - vor dem Krieg eine Quantite negligeable in der Politik der europäischen Mächte - in eine wichtige, vielleicht sogar
die entscheidende Position30. Dies stand in krassem Gegensatz dazu, wie die
USA Europa sahen, denn »[p]our ces cousins d'outre-Atlantique [...] l'Europe
demeure petite et lointaine«31.
Das französisch-amerikanische Verhältnis war vor allem durch zwei Faktoren belastet: Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch den amerikanischen Kongreß beraubte Frankreich auch des damit verbundenen Beistandsabkommens und ließ Frankreichs Bedürfnis nach Sicherheit gegenüber
Deutschland ungestillt32. Die Kriegsschuldenfrage vergiftete dazu das Verhältnis zwischen beiden Ländern über Jahre. Dem Beharren Washingtons auf
Rückzahlung der Kriegsschulden und strikter Trennung von »politischen« Re27
Zum folgenden vgl. Niall FERGUSON, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das
20. Jahrhundert, Stuttgart 21999, S. 89-91.
28
Siehe Gustav ROLOFF (Hg.), Schulthess' europäischer Geschichtskalender, Neue Folge,
Bd. 20 (1904), München 1905, S. 221f.
29
Siehe Stephen A. SCHUKER, The End of French Predominance in Europe. The Financial
Crisis of 1924 and the Adoption of the Dawes Plan, Chapell Hill 1976, S. 384.
30
Die neueste Übersicht zur amerikanischen Außenpolitik findet sich bei Klaus SCHWABE,
Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart.
Eine Jahrhundertgeschichte, Paderborn 2006, insbesondere S. 43-77, 85-89.
31
Ren£ GlRAULT, Robert FRANK, Turbulente Europe et nouveaux mondes 1914-1941, Paris
1988, S. 71. Zu den Grundlagen der amerikanischen Außenpolitik siehe Frank COSTIGLIOLA,
Awkward Dominion. American Political, Economic, and Cultural Relations with Europe,
1919-1933, Ithaca, London 1984, S. 56-75.
32
Zu den Hintergründen der Nichtratifikation siehe Klaus SCHWABE, Die Vereinigten Staaten und die Sicherheit Frankreichs 1918-1955, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutschfranzösischen Beziehungen, München 1996, S. 19-44, hier S. 21.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
33
parations- und »kommerziellen« Kriegsschulden stand die ebenso unnachgiebige französische Haltung gegenüber, die darin bestand, daß Amerika vor seinem Kriegseintritt gut am Krieg verdient habe, der vor allem das Blut französischer Soldaten gekostet habe, und daß deshalb ohne deutsche Reparationen
die Rückzahlung der französischen Schulden undenkbar sei33. Außer in der
Schuldenfrage sahen die USA jedoch kaum die Notwendigkeit, sich politisch
in Europa zu engagieren, weil sie der Meinung waren, ihr wirtschaftlicher Einfluß würde ausreichen, um die eigenen - auch politischen Ziele - durchzusetzen. Außerdem wollte Washington vermeiden, in europäische Querelen hineingezogen zu werden34. Die französische Sicherheit sahen sie hingegen als
weitgehend gewährleistet an, ja es galt sogar, »zu viel Sicherheit«35 für Frankreich - im Sinne einer französischen Hegemonie in Europa - zu verhindern,
weshalb sie das Werben Paris' um Allianzen nicht erwiderten. Im Gegenteil,
durch das Verknüpfen von Abrüstung und Schuldenfrage, getreu dem Motto
»rüstet ab, damit ihr eure Schulden bezahlen könnt«, trafen die USA in Frankreich einen ganz empfindlichen Nerv36.
Etwas rosiger war es dagegen um das deutsch-amerikanische Verhältnis bestellt37. Nach gewonnenem Krieg und der Beseitigung des in amerikanischen
Augen undemokratischen und militaristischen kaiserlichen Regimes in
Deutschland hatte man in Washington mit den neuen Machthabern in Berlin
keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr. Eine »deutsche Gefahr« sah man
in Washington - anders als vor allem in Paris - nicht38. Im Gegenteil: Ebenso
wie Deutschland waren auch die USA an einer wirtschaftlichen Erholung interessiert, denn Deutschland war ein potentiell guter Kunde und bot ein riesiges Feld für amerikanische Investitionen. Die Deutschen wiederum sahen im
finanziellen Engagement der Vereinigten Staaten eine Möglichkeit, die eigene
Kapitalknappheit zu mildern und die USA an sich zu binden39. Die Reparationszahlungen und die anderen wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler
Vertrags sah man dabei in Berlin und Washington übereinstimmend als
33
Siehe Jean-Baptiste DUROSELLE, France and the United States. From the Beginnings to the
Present, Chicago, London 1978, S. 123f.
34
Siehe Manfred BERG, Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika. Weltwirtschaftliche Verflechtung und Revisionspolitik 1907-1929, Baden-Baden 1990 (Diss.
Heidelberg 1988), S. 424.
35
SCHWABE, Sicherheit, S. 19.
36
Siehe ibid. S. 23f.
37
Zusammenfassend: Klaus SCHWABE, Die USA, Deutschland und der Ausgang des Ersten
Weltkrieges, in: Manfred KNAPP u.a., Die USA und Deutschland 1918-1975. Deutschamerikanische Beziehungen zwischen Rivalität und Partnerschaft, München 1978, S. 11-61,
hier S. 60.
38
Siehe BERG, Vereinigte Staaten, S. 419.
39
Siehe Wemer LINK, Die Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und den USA, in:
Manfred KNAPP u.a., Die USA und Deutschland 1918-1975. Deutsch-amerikanische Beziehungen zwischen Rivalität und Partnerschaft, München 1978, S. 62-106, hier S. 66.
34
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Haupthindernis für die wirtschaftliche Erholung an, und man war sich über die
Abschaffung, zumindest aber die Abmilderung dieser Bestimmungen, einig40.
Insofern bestand also eine zumindest teilweise Interessenparallelität zwischen
Deutschland und den USA, solange Deutschland sich an die amerikanischen
Spielregeln des friedlichen Wandels hielt41.
Die jeweiligen bilateralen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zu
den USA und Großbritannien beeinflußten aber auch das deutsch-französische
Verhältnis. Insgesamt kann man davon ausgehen, daß von den angelsächsischen Mächten ein mäßigender Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen ausgeübt wurde. Die ökonomischen Interessen und der wirtschaftliche
Einfluß Washingtons und Londons verhinderten einerseits, daß Frankreich
einseitig gegen Deutschland seine Reparations- und Sicherheitsinteressen
durchsetzte, und Deutschland wurde andererseits durch wirtschaftliche Anreize ermuntert, seine Revisionsziele nicht gewaltsam, sondern friedlich durchzusetzen. Mittel hierzu war die von Washington verfolgte Politik der »offenen
Tür« 42, die nicht nur den freien Zugang zu allen (nichtamerikanischen) Märkten umfaßte, sondern auch die Befriedung der Welt auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, der Demokratie und allgemeiner Abrüstung,
sowie des friedlichen Wandels43. Trotz der Ablehnung des Völkerbunds durch
den Kongreß und der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags blieb die amerikanische Außenpolitik also vielen der Ziele, die Wilson proklamiert hatte,
treu, auch wenn sich unter dem neuen Außenminister Charles Hughes die Methoden wandelten44. So wirkte Washington - zusammen mit London - weiter
im Sinne einer Modernisierung der Außenpolitik. Allerdings bestanden zwischen Theorie und Praxis der amerikanischen Politik verschiedene Spannungsverhältnisse, Ungereimtheiten und Fiktionen. Während die USA den
freien Zugang zu den internationalen Märkten forderten, schütteten sie selbst
sich wirtschaftlich ab: Die »offene Tür« ließ sich nur in einer Richtung durchschreiten, wodurch viele Wirtschaftsprobleme der Zwischenkriegszeit verschärft wurden. Auch in der Reparationspolitik spielte Washington eine etwas
40
Siehe ibid. S. 65,68.
Siehe ibid. S. 102.
42
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 62.
43
Die Open Door Policy im eigentlichen Sinne umfaßt lediglich die wirtschaftlichen Aspekte
des gleichberechtigten, möglichst freien Zugangs zu den internationalen Märkten, vgl. Wayne ANDREWS (Hg.), Concise Dictionary of American History, New York31962, S. 667. Die
anderen hier genannten Aspekte stehen aber durchaus im logischen Zusammenhang mit der
Entwicklung der Open Door Policy, vgl. Akira IRIYE, The Cambridge History of American
Foreign Relations, Bd. 3: The Globalizing of America, 1913-1945, Cambridge u.a. 1993, S.
46f. und zum »liberalen Modell der Friedenssicherung«, NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 13-19.
44
Vgl. hierzu Patrick O. COHRS, The First >Real< Peace Settlements after the First World
War: Britain, the United States and the Accords of London and Locarno, in: Central European History 12/1 (2003), S. 1-31, hier S. 9f.
41
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
35
dubiose Rolle. Die Vereinigten Staaten waren in dieser Frage nämlich keinesfalls der »unabhängige Schiedsrichter«, zu dem sie sich gerne stilisierten, sondern waren durch das Kriegsschuldenproblem - obwohl das stets bestritten
wurde - eben doch indirekt Reparationsgläubiger45. Andererseits war Deutschland durch das große finanzielle Engagement der USA seit dem Dawes-Plan
keineswegs mehr unabhängig gegenüber Washington46. Durch seine entscheidende Bedeutung im Kreislauf von Auslandskrediten, Reparationen und
KriegsschuldenrUckzahlungen sicherte sich Washington aber auch ein wesentliches Mitspracherecht bei den meisten politischen Fragen, die Europa betrafen. Sowohl für Deutschland als auch für Frankreich blieben die USA also ein
wichtiger außenpolitischer Faktor, den es auch in das gegenseitige Verhältnis
einzubeziehen galt. Gleichzeitig machte die Asymmetrie der Kräfteverhältnisse zugunsten der Vereinigten Staaten die Aussöhnung zwischen Deutschland
und Frankreich schwieriger, wenn nicht unmöglich. Denn es war ja gerade das
divide et impera in der Kriegsschulden- und Reparationsfrage, das den amerikanischen Einfluß in Europa sicherte. Letztlich erfolgte die Einflußnahme Washingtons nur in zweiter Linie, um die wirtschaftliche und politische Lage in
Europa - und speziell zwischen Deutschland und Frankreich - zu stabilisieren,
sondern blieb den eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen untergeordnet: Die Politik der USA war deswegen modernisierungsfördernd und
-hemmend in einem, weil die Friedenssicherung der Wahrung der eigenen Interessen in vielen Bereichen untergeordnet wurde.
Die nach dem Krieg entstandenen osteuropäischen Staaten von Polen bis
Rumänien waren sowohl für Frankreich als auch für Deutschland ein wichtiges Betätigungsfeld ihrer Diplomatie. Für Frankreich sollte Osteuropa strategisch das werden, was Rußland vor dem Ersten Weltkrieg in der französischen
Außenpolitik war: Ein starkes Gegengewicht zu Deutschland47. Die französische Strategie beruhte dabei auf zwei Faktoren: Polen sollte als ein »mächtiges
Bollwerk«48 ausgebaut werden, und Paris versuchte, die sogenannte Kleine
Entente - bestehend aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien als weiteren Pfeiler des französischen Sicherheitssystems in Europa auszubilden49. Dabei richtete sich diesertsroniedca
cordon sanitaire nicht nur gegen Deutschland,
sondern auch gegen die bolschewistische Gefahr aus der Sowjetunion50 und
nicht zuletzt gegen die wirtschaftlichen Ambitionen Großbritanniens und Itali45
Siehe LINK, USA, S. 69.
Siehe ibid. S. 97.
47
Siehe BERNARD, Decline, S. 105.
48
KOLB, Weimarer Republik, S. 27.
49
Siehe Kalerovo Hovi, Security before Disarmament, or Hegemony? The French Alliance
Policy, 1917-1927, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest
for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 115126, hier S. 118f.
50
Siehe RjfeMOND, Frankreich, S. 55.
46
36
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
ens im Donauraum51. Die Kleine Entente war jedoch, wenn schon keine Totgeburt, so doch von Anfang an eine schwächliche Kreatur52: Der Kitt, der sie
zusammenhielt, war in erster Linie die Angst der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawiens vor der »ungarischen Gefahr«53. Dieser Zusammenhalt
aber war prekär. Minderheitenprobleme und Grenzstreitigkeiten belasteten das
Verhältnis der Staaten untereinander54. Diese latenten Konflikte mußten natürlich auch die Stabilität der Kleinen Entente untergraben. Ost- und Südosteuropa war die »Krisenzone Nummer eins im Europa der Zwischenkriegszeit«55,
was den Wert dieser Staaten als Bündnispartner für Frankreich selbstverständlich schmälerte. Neben diesen internen Querelen und Zwistigkeiten wurde die
französische Bündnispolitik noch durch andere Faktoren geschwächt: Wie
dargestellt, war der eigentliche Hauptgegner der Kleinen Entente nicht
Deutschland, sondern Ungarn, während die französischen strategischen Planungen ja vor allem gegen Deutschland und zum Teil auch gegen die Sowjetunion gerichtet waren. Die Kleine Entente ließ sich deshalb nur bedingt gegen
Deutschland mobilisieren56. Außerdem hatten die mittel- und osteuropäischen
Staaten nach der gerade gewonnenen Unabhängigkeit kein Interesse daran, in
die Abhängigkeit eines anderen Landes zu geraten und versuchten aus diesem
Grund, »einen komplizierten Kurs zwischen den Großmächten zu steuern«57.
Nicht nur aufgrund dieser Faktoren war die Kleine Entente fur die Zwecke der
französische Außen- und Sicherheitspolitik nur bedingt geeignet. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Staaten in der östlichen Hälfte Europas außerdem
noch wirtschaftlich rückständig und schwach und allein deshalb schon materiell nicht in der Lage, die französische Sicherheitspolitik nachhaltig zu stärken58. Von französischer Seite wurde dies durchaus erkannt, und die Regierung versuchte, französisches Kapital in diese Region zu lenken59. Allerdings
blieben die französischen Anleger, nach dem Verlust des vor dem Krieg in
Rußland angelegten Kapitals, mit Investitionen in diesem krisengeschüttelten
Raum zurückhaltend60, und der französische Staat war - belastet durch Wie51
52
Siehe ADAM, Little Entente, S. 49.
Siehe Sally MARKS, The Ebbing of European Ascendancy. An International History of the
World 1914-1945, London, N e w York 2002, S. 275-278.
53
Zur Entstehungsgeschichte der Kleinen Entente vgl. DUROSELLE, Histoire, S. 2 2 - 2 4 und
ausführlich ADAM, Little Entente, S. 47-109.
54
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 16f.
55
KOLB, Weimarer Republik, S. 60.
56
Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 5, 15.
WURM, Sicherheitspolitik, S. 96.
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 27.
57
58
59
Siehe Alice TEICHOVA, Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und
Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit, München 1988 (Sozial- und
Wirtschaftshistorische Studien, 18), S. 88-91.
60
Eine Ausnahme bildet sicherlich das starke Engagement Schneiders und des CreusotKonzerns in Osteuropa, vgl. DUROSELLE, Histoire, S. 22.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
37
deraufbau, Kriegsschulden und Inflation - nicht in der Lage, einzuspringen.
Der Warenverkehr dieser Staaten wurde aber weiterhin zum großen Teil mit
dem geographisch günstiger gelegenen Deutschland abgewickelt, so daß
Frankreich seine Marktanteile in dieser Region kaum vergrößern konnte61.
Neben diese strukturellen Schwächen des französischen Bündnis- und Einflußsystems in Osteuropa traten auch taktische Widersprüchlichkeiten der
französischen Politik. So war die wirtschaftliche Durchdringung Frankreichs
in Osteuropa oftmals von kurzfristigen Wirtschaftsinteressen geleitet, die langfristig der französischen Position dort eher schadeten62. Auch die französische
Militärdoktrin stand in krassem Widerspruch zu einer Allianzpolitik. Sie war
rein defensiv, während für eine aktive Bündnispolitik eine bewegliche Armee
notwendig gewesen wäre, um den Bundesgenossen in Osteuropa zu Hilfe
kommen zu können63.
Für Polen galten in vielerlei Hinsicht die gleichen Probleme wie für die
Staaten der Kleinen Entente, doch war die Situation dort vielfach noch schwieriger. Dies ergab sich vor allem aus der Zweifrontenstellung Warschaus gegenüber Deutschland und der Sowjetunion: Durch die weitgehende Abtrennung ehemals deutscher Gebiete wurde der neu entstandene polnische Staat
Hauptobjekt deutscher territorialer .Revisionsbegierden. Dabei war der
deutsch-polnische Gegensatz kein zwangsläufiges Ergebnis des Krieges und
der deutschen Gebietsverluste im Osten64. Was die deutschen Ressentiments
hervorrief, war weniger die Abtrennung Posens und Westpreußens, sondern
vor allem die Abtretung Danzigs als »Freie Stadt« unter Völkerbundsverwaltung und die Trennung Ostpreußens vom Rest des Reiches. Die Teilung Oberschlesiens zu - aus deutscher Sicht - Polens Gunsten vergiftete das deutschpolnische Verhältnis weiter65. Durch den polnischen Angriff auf die Sowjetunion hatte sich Warschau aber auch im Osten einen dauerhaften Gegner geschaffen66.
Im Grunde genommen war Polen, wie die Länder der Kleinen Entente, für
Frankreich ein Verbündeter von zweifelhaftem Wert: verstrickt in Händel mit
den Nachbarn, politisch instabil und wirtschaftlich schwach. Auch militärisch
61
Vgl. SOUTOU, Imperialisme, S. 237.
Siehe Bernd Jürgen WENDT, England und der deutsche »Drang nach Südosten«. Kapitalbeziehungen und Warenverkehr in Sttdosteuropa zwischen den Weltkriegen, in: Immanuel
GEISS, Bernd Jürgen WENDT (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 483-512, hier S. 507.
63
Siehe GlRAULT, Europe, S. 102.
64
Zum folgenden vgl. Heinrich KÜPPERS, Der Faktor Polen in der deutschen Frankreichpolitik 1918-1934, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les
relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München
1996, S. 155-164, hier S. 156-161. Vgl. auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 114.
65
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 25.
66
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 61.
62
38
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
war von den mittel- und osteuropäischen Staaten wenig zu erwarten67. In vielerlei Hinsicht schien es so,, als behindere Warschau die französische Politik
mehr als daß es ihr half, denn das ohnehin problematische deutschfranzösische Verhältnis wurde durch die französische Rücksichtnahme auf
Polen weiter belastet. In abgeschwächter Form galt dies sicherlich auch für das
französisch-sowjetische Verhältnis. Umgekehrt führte der gemeinsame Gegner
Polen zu einer Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion, die
ebenfalls nicht im Interesse Frankreichs liegen konnte und die merkwürdige
Kooperation zwischen konservativem, preußisch-deutschem Militär und der
Roten Armee erst ermöglichte.
Die deutsche Politik im Osteuropa war aufgrund der fehlenden militärischen
Machtmittel vor allem darauf ausgerichtet, durch die Wiederaufnahme von
Handels- und Wirtschaftskontakten dort wieder an Einfluß zu gewinnen: Bereits 1920 und 1921 konnten Handelsabkommen mit der Tschechoslowakei
und Jugoslawien abgeschlossen werden68. Dies ist auch im Zusammenhang
mit der zweiten Priorität deutscher Außenpolitik in diesem Raum zu sehen,
nämlich der Eindämmung des polnischen Expansionismus'69.
An der Stellung Polens wird deutlich, daß auch die Sowjetunion - obwohl
ausgeblutet durch Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg - zumindest mittelbar Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen ausübte70. Nachdem
sich die Hoffnungen der sowjetischen Kommunisten auf eine Weltrevolution
zerschlagen hatten, kehrte die neue Führung in den Jahren 1920/21 zu den
normalen zwischenstaatlichen Beziehungen zurück und versuchte, sich außenpolitisch Ruhe zu verschaffen, um das Regime im Inneren konsolidieren zu
können71. Trotz dieser Rückkehr zu den klassischen Formen der Diplomatie
blieb die Sowjetunion außenpolitisch isoliert, fürchteten doch die westlichen
Regierungen die innenpolitische Destabilisierung nach bolschewistischem
Vorbild durch die Komintern72. Die einzige Ausnahme dabei bildete das Deutsche Reich. Dies ergab sich vor allem aus der gemeinsamen Gegnerschaft zu
Polen und der Tatsache, daß beide Länder - Deutschland nach dem verlorenen
Krieg und die Sowjetunion aufgrund ihres neuen politischen Systems - die
Parias der neuen internationalen Ordnung waren73. Aus sowjetischer Sicht ergab sich durch die Annäherung an Deutschland zudem die Chance, einen Teil
der kapitalistischen Einheitsfront, von der man sich in Moskau umgeben sah,
67
Für die Tschechoslowakei exemplarisch dargelegt: WURM, Sicherheitspolitik, S. 96-99.
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 113.
69
Siehe ibid. S. 115.
70
Zu den deutsch-russischen Beziehungen, nicht nur auf politischer Ebene, vgl. Gerd KOENEN, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005,
insbes. S. 287-386.
71
Siehe GlRAULT, Europe, S. 95.
72
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 62.
73
Siehe NIEDHART, Außenpolitik, S. 12.
68
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
39
zu sprengen74. Obwohl sich für Deutschland und die Sowjetunion die außenpolitische Lage und Frontstellung ähnelten, betrieb Deutschland - und das ist
seit einigen Jahren Konsens in der Forschung - keine »Politik der Ost-WestBalance«75. Die Prioritäten der deutschen Politik lagen eindeutig im Westen,
denn was für die britische Außenpolitik des Appeasement galt, war auch das
Axiom der deutschen Beziehungen mit dem Westen: Der Ausgleich mußte mit
den Staaten erfolgen, mit denen die meisten Konfliktpunkte bestanden. Frankreich und die anderen westlichen Staaten waren die Reparationsgläubiger
Deutschlands, nicht die Sowjetunion. Es waren französische, belgische und
britische Truppen, die das Rheinland besetzt hielten, nicht sowjetische. Das
notwendige Kapital für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands
konnte nur aus dem Westen kommen, und durch das französisch-polnische
Bündnis wurde die Revision der deutschen Ostgrenzen auch zu einem deutschfranzösischen Problem76. Angesichts der deutschen militärischen Impotenz
blieb deshalb der Ausgleich mit dem Westen, zumindest bis zur Konsolidierung der deutschen Machtposition, die einzige Option77. Außerdem ging auch
- und vielleicht besonders - in Berlin das Gespenst vor einem »Deutschen
Oktober« um78. Für die deutsche Außenpolitik war die Sowjetunion lediglich
eine taktische Reserve79.
Allerdings, obwohl die Probleme des Ostens in vielerlei Hinsicht mit denen
Westeuropas verknüpft waren, blieben sie doch oft, auf eine ganz erstaunliche
Weise unverbunden. Während sich die Beziehungen zwischen Deutschland
und dem Westen nach Locarno und dem deutsch-französischen Handelsvertrag zaghaft in Richtung Kooperation zu bewegen schienen, waren es gerade
die weiterhin bestehenden Gegensätze zwischen Frankreich und seinen osteuropäischen Verbündeten einerseits und Deutschland und der Sowjetunion andererseits, die die Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland bremsten. Im Sinne der Definition waren die Beziehungen, die Deutschland und
Frankreich zu den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion unterhielten,
also modernisierungshemmend, weil sie Konflikte zementierten und Interessengegensätze schufen.
74
Siehe DERS., Internationale Beziehungen, S. 51.
So der Titel des Buches von Maxeion: Michael-Olaf MAXELON, Stresemann und Frankreich 1924-1929. Deutsche Politik der Ost-West-Balance, Düsseldorf 1972. Im gleichen
Sinne auch Marc POULAIN, Zur Vorgeschichte der Thoiry-Gespräche, in: Wolfgang BENZ,
Hermann GRAML (Hg.), Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans
Rothfels zum Gedächtnis, Stuttgart 1976, S. 87-120, hier S. 87. Zu den Anfängen der deutschen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 115.
76
Siehe Gaines POST jr., Diplomatie und Machtpolitik. Stresemanns West-Ost-Balance, in:
Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege
75
der Forschung, 539), S. 2 5 0 - 2 7 5 , hier S. 252.
77
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76f.
78
Siehe DERS., Außenpolitik, S. 12.
79
Siehe DERS., Internationale Beziehungen, S. 77.
40
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Neben der diplomatischen Ebene wurden die internationalen Beziehungen
natürlich auch durch »forces profondes«80 beeinflußt, also durch Faktoren von
säkularem Charakter, auf die die Tagespolitik nur begrenzt einwirken kann,
wie beispielsweise langfristige Trends des Bevölkerungswachstums und der
wirtschaftlichen Entwicklung81, sowie durch andere transnationale Einflüsse,
wie den Ideologien des Kommunismus, Nationalismus, Liberalismus oder Faschismus, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann82.
Neben diesen internationalen Rahmenbedingungen war der Versailler Vertrag also nur ein Faktor der internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Es gab somit auch nur bedingt ein »Versailler System«83. Deshalb ist es
auch falsch, die Defizite des internationalen Systems ausschließlich im Friedensvertrag von Versailles zu suchen. Vielleicht wäre die internationale Lage
sehr viel stabiler gewesen, wenn die USA den Versailler Vertrag ratifiziert
hätten und dem Völkerbund beigetreten wären - was weniger Folge außen- als
vielmehr innenpolitischer Schwierigkeiten gewesen war84. Dies hätte das
Kriegsbündnis zwischen Frankreich, den USA und Großbritannien (und den
anderen, kleineren alliierten und assoziierten Staaten) in eine effektive Friedensallianz überfuhrt85. Was, wenn das sogenannte Genfer Protokoll von 1924
von Großbritannien akzeptiert worden wäre und den Völkerbund in ein wirkliches Instrument der kollektiven Sicherheit umgewandelt hätte?86 Was, wenn
es Frankreich gelungen wäre, die Kleine Entente als wirksamentsroniedca
cordon sanitaire gegen Deutschland auszubauen?87 All dies hätte bewirken können, daß
der Versailler Vertrag - ohne auch nur einen Buchstaben zu ändern - zu einem
effizienteren Instrument der europäischen Nachkriegsordnung hätte werden
können. Er scheiterte weniger an sich selbst, sondern viel mehr »durch das
Abrücken nahezu aller Unterzeichner [...] von dessen Bestimmungen [...] Unter den Siegern wie den Besiegten gab es genau besehen nur Revisionisten«88.
80
Siehe GlRAULT, Europe, S. 71.
Siehe ibid. S. 73.
82
Siehe Klaus-Jürgen MOLLER, Einleitung, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER
(Hg.), Les tiers dans les relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen
Beziehungen, München 1996, S. 9-16, hier S. 9f. und GLRAULT, Europe, S. 80-88.
83
Vgl. die Kapitelüberschriften in Teil 1: NIEDHART, Außenpolitik. Die französische Literatur spricht - vielleicht zutreffender - von einer »ordre versaillais«: GlRAULT, Europe, S. 121.
84
Siehe BERNARD, Decline, S. 102; Alan SHARP, The Versailles Settlement. Peacemaking in
Paris, 1919, Basingstoke, London 1991, S. 39f.
85
Auch Zeitgenossen sahen in der Abwesenheit der USA im Völkerbund eine große Schwächung des internationalen Systems: Siehe Martin LÖFFLER, Vereinigte Staaten von Amerika,
Versailler Vertrag und Völkerbund, Berlin 1932 (Politische Wissenschaft, 11), S. 139f.
86
Vgl. DELPORTE, Hf Republique, S. 108f.
87
Vgl. BERNARD, Decline, S. 105.
88
PEUKERT, Weimarer Republik, S. 65.
81
3.2 Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz
41
Nichtsdestotrotz war der Friedensvertrag ein wesentlicher Faktor der internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Der Versailler Vertrag89
wurde am 28. Juni 1919 von Deutschland und den alliierten und assoziierten
Mächten des Ersten Weltkriegs unterzeichnet und trat am 10. Januar 1920 in
Kraft. Mit ihm wurde versucht, die Folgen des bis dahin mörderischsten Krieges der Menschheitsgeschichte in 440 Artikeln und diversen Anlagen zu regeln. Auf eine Schilderung der Umstände, wie der Vertrag zustande kam und
wie um die einzelnen Bestimmungen gerungen wurde, wird hier verzichtet;
dies wurde oft - und ausfuhrlich - getan90.
Doch inwiefern beeinflußte der Versailler Vertrag die Modernisierung der
Außenpolitik? Analysieren wir zunächst die 15 Teile des Vertragswerkes hinsichtlich ihrer modernisierungsfÖrdernden bzw. -hemmenden Bestimmungen.
Der erste Teil beinhaltete die Völkerbundssatzung. Die Schaffung des Völkerbunds stellte eine wesentliche Wendemarke dar, indem nämlich durch die
Einführung der Kriegsächtung (Art. 11) der »Grundpfeiler des klassischen
Völkerrechts, nämlich die Souveränität und das aus ihr fließende Recht der
souveränen Staaten zum Krieg (ius ad bellum), zum Einsturz«91 gebracht wurde. Dieser Artikel bedeutete zwar noch kein generelles Kriegsverbot - dies
wurde erst mit dem Kellogg-Briand-Pakt vom 27. August 1928 eine völkerrechtliche Norm - , etablierte aber erstmals ein Kriegsverhütungsrecht, das aus
den Elementen Abrüstung (Art. 8, 9), Schiedssprechung bzw. Streitschlichtung
(Art. 11-15) und kollektiver Sicherheit (Art. 10, 16) bestand92. Mit dem Völkerbund wurde also eine der zentralen wilsonschen Forderungen, die er in seinem Friedenskonzept formuliert hatte, erfüllt - im Prinzip zumindest: »Aber
die neue Institution entpuppte sich doch rasch als ein schwaches und problematisches Gebilde, das die großen Erwartungen nur zu einem kleinen Teil erfüllte und schließlich nur noch ein Schattendasein führte«93. Die Gründe hier89
Text des Versailler Vertrags: o.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen. Neue
durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925. Zwar ist nur die französische und englische Version des Vertrags
authentisch (vgl. Ratifizierungsvermerk im Anschluß an Artikel 440), doch habe ich zugunsten der besseren Lesbarkeit auf die deutsche Fassung zurückgegriffen, zumal es in
dieser Arbeit nicht um eine Exegese des Versailler Vertrags geht.
90
Ausführliche bibliographische Hinweise zum Versailler Vertrag in: Manfred F. BOEMEKE,
Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment
after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 637-657. Einen Überblick über die Ereignisse auf
der Friedenskonferenz gibt: SHARP, Versailles Settlement. Weitere aktuelle Darstellung:
Patrick de GMELINE, Versailles 1919. Chronique d'une fausse paix, o.O. 2001; Gerd KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften der
Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14); Margaret MACMILLAN, Paris 1919. Six
Months That Changed the World, New York 2003.
91
92
93
KlMMINICH, Völkerrecht, S. 85.
Siehe ibid. S. 84.
KOLB, Weimarer Republik, S. 26.
42
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
für waren vielfältig. Oft waren es Konstruktionsfehler oder nicht ausreichend
festgelegte Mechanismen, die die Arbeit des Völkerbunds blockierten. Das
Einstimmigkeitsprinzip im Völkerbundsrat behinderte die Entscheidungsfindung94, und die in Artikel 16 festgelegten Sanktionsmöglichkeiten blieben faktisch wenig wirksam, weil unverbindlich95. Versuche, den Völkerbund schlagkräftiger zu gestalten, scheiterten an den widersprüchlichen außenpolitischen
Konzeptionen der Mitgliedsländer, die den Bund nur so weit unterstützten, wie
es den eigenen Interessen nutzte, und ansonsten darauf bedacht waren, ihre
Souveränität zu verteidigen96. Ein Beispiel hierfür war das Scheitern des sogenannten Genfer Protokolls.
Eine weitere Schwäche des Völkerbunds war seine mangelnde Universalität.
Die Verlierer des Weltkrieges und auch die Sowjetunion blieben zunächst
ausgeschlossen, und die USA wurden, nachdem die Ratifizierung des Versailler Vertrags im Kongreß gescheitert war, ebenfalls nicht Mitglied des Bunds97.
So schürte der Ausschluß der Verliererstaaten dort Vorbehalte gegen den
Bund als eines »Clubs der Sieger«, den diese zur Sicherung ihrer Vorrechte
aus dem Friedensvertrag nutzten, und machte andererseits die universelle Gültigkeit der neuen, modernen völkerrechtlichen Normen zur Illusion.
In den Teilen II bis IV des Versailler Vertrags wurden die neuen Grenzen
Deutschlands festgelegt: Deutschland mußte Elsaß-Lothringen (Art. 51-79)
und Eupen-Malmedy (Art. 34)98 abtreten. Das Saargebiet kam für 15 Jahre
unter die Verwaltung des Völkerbunds. Anschließend sollte durch eine Volksabstimmung darüber entschieden werden, ob es zu Deutschland oder zu Frankreich kommen oder unter Völkerbundsverwaltung bleiben sollte (Art. 45-50
und Anlage). Danzig wurde zur freien Stadt, ebenfalls unter Völkerbundsaufsicht (Art. 100-108), und das Memelgebiet wurde von Deutschland abgetrennt
(Art. 99)". In Oberschlesien und Teilen Schleswigs sollte die Bevölkerung
darüber entscheiden, ob sie zu Polen bzw. Dänemark oder Deutschland gehören wollte. Femer mußte Deutschland ohne Abstimmung auf Teile Westpreußens und der Provinz Posen verzichten (Art. 28). Der »Anschluß« DeutschÖsterreichs an das Deutsche Reich wurde faktisch untersagt (Art. 80)100.
Deutschland ging aller seiner Kolonien verlustig, die unter die Mandatsverwaltung des Völkerbunds (Art. 119) kamen.
94
Siehe GIRAULT, Europe, S. 108.
Siehe ibid. S. 109.
96
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 26.
97
Siehe Alfred PFEIL, Der Völkerbund. Literaturbericht und kritische Darstellung seiner
Geschichte, Darmstadt 1976 (Erträge der Forschung, 58), S. 63-65.
98
Auch der Verzicht Eupen-Malmedys erfolgte de jure erst nach einer Volksabstimmung,
S. Art. 34.
99
Der endgültige Verbleib dieses Gebiets wurde im Versailler Vertrag nicht festgelegt, ibid.
100
Er war nur mit Zustimmung des Völkerbundsrates möglich.
95
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
43
Die territorialen Bedingungen des Versailler Vertrags waren in vielerlei
Hinsicht nicht mit dem liberalen Modell der Friedenssicherung vereinbar: Das
Selbstbestimmungsrecht der Völker wurde zumindest formal in den Fällen
mißachtet101, in denen Gebiete ohne Volksabstimmung abgetrennt wurden
(dies galt vor allem für Elsaß-Lothringen, Westpreußen und Posen), auch
wenn in diesen Fällen wohl Mehrheiten für Frankreich bzw. Polen zustande
gekommen wären. Die Abtrennung des Saargebiets und seine wirtschaftliche
Ausbeutung durch Frankreich war vor allem ökonomisch begründet102, und die
Übertragung Danzigs an den Völkerbund und die Abtrennung Memels entsprangen vor allem strategischen Überlegungen, nämlich Polen einen Zugang
zum Meer zu gewähren. Mit dem Willen der Bevölkerung hatten diese Bestimmungen also wenig zu tun. Allerdings hatten selbst die Vierzehn Punkte
die Abtrennung Elsaß-Lothringens und den freien Zugang eines zu schaffenden polnischen Staates zum Meer enthalten, so daß diese Bestimmungen, auf
die sich Deutschland bei seinem Ersuchen um Waffenstillstand ausdrücklich
berufen hatte, die deutsche Regierung nicht unvorbereitet getroffen hatten103.
Auch die explizite Verweigerung des friedlichen Anschlusses DeutschÖsterreichs stellte eine Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker
dar und war eine sicherheitspolitische Maßnahme zur Vermeidung eines
mächtigen, geeinten Großdeutschlands. Allerdings - und das muß den Verfassern des Versailler Vertrags zugute gehalten werden - wurde das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen nicht soweit beschnitten, daß die Existenz eines deutschen Staates in Frage gestellt wurde: Die Deutschen durften ihr Land
bis auf die erwähnten Abtretungen ungeteilt behalten. Im Versailler Vertrag
wurde also eine wichtige Forderung des modernen Friedenskonzepts, das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, nur teilweise und vor allem auf Kosten
der Verlierer verwirklicht. Es blieb vielfach den wirtschaftlichen und strategischen Interessen der Siegermächte untergeordnet. Selbst wenn aber in allen
Abtrennungsgebieten ordnungsgemäße Volksabstimmungen stattgefunden
hätten, das Selbstbestimmungsrecht an sich ist eine nicht unproblematische
Innovation des modernen Völkerrechts, weil es im Widerspruch zum Oberziel
des liberalen Friedenskonzepts, der Sicherung des Friedens, stehen kann104:
101
Siehe Thomas WÜRTENBERGER, Gemot SYDOW, Versailles und das Völkerrecht, in: Gerd
KRUMEICH (Hg.), Versailles 1919. Ziele - Wirkung - Wahrnehmung, Essen 2001 (Schriften
der Bibliothek für Zeitgeschichte - Neue Folge, 14), S. 35-52, hier S. 45.
102
Vgl. Artikel 45 des Versailler Vertrags.
103
Siehe Klaus SCHWABE, Woodrow Wilson, Revolutionary Germany and Peacemaking,
1918-1919. Missionary Diplomacy and the Realities of Power, Chapel Hill, London 1985,
S. 17.
104
Siehe DERS., Woodrow Wilson und das europäische Mächtesystem in Versailles: Friedensorganisation und nationale Selbstbestimmung, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und
Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert (Festschrift
Peter Krüger), Stuttgart 2001, S. 89-107, hier S. 91.
44
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Das beginnt mit definitorischen Fragen. Was ist ein Volk im Vergleich zu einer Volksgruppe, einem Stamm oder einem Clan? Wie läßt sich das Selbstbestimmungsrecht in Gebieten mit einer starken ethnischen Durchmischung, wie
sie in Mittel- und Osteuropa vorherrschten und zum Teil immer noch vorherrschen, umsetzen? Bedeutete dies nicht in letzter Konsequenz sogenannte »ethnische Säuberung«, also, weniger euphemistisch ausgedrückt, Vertreibimg?
Macht das Selbstbestimmungsrecht überhaupt Sinn, wenn dadurch Klein- und
Kleinststaaten entstehen, die politisch wie wirtschaftlich kaum überlebensfähig sind?
In Teil V des Versailler Vertrags wurden die militärischen Verpflichtungen
Deutschlands fixiert. Deutschland war ein Heer von maximal 100 000 Mann
erlaubt (Art. 160, Tafeln 1 und 2), die Marine durfte nicht mehr als 15 000
Mann umfassen (Art. 183). Eine Luftwaffe durfte Deutschland nicht mehr unterhalten (Art. 198). Die Wehrpflicht wurde abgeschafft (Art. 173), die Ergänzung der Heeresstärke hatte nach strengen Richtlinien zu erfolgen (Art. 174 u.
175). Die Bewaffnung der deutschen Streitkräfte wurde stark beschränkt:
Deutschland durfte keine schweren Waffen, Panzer und Giftgas besitzen
(Art. 164, 166, 171), ebenso wenig U-Boote (Art. 191). Stückzahl und Munition der erlaubten Waffen waren sprichwörtlich für jeden einzelnen Schuß festgelegt (Tafel 3). Die Zahl der Kriegsschiffe und deren maximale Tonnage waren begrenzt (Art. 181 u. 190). Deutschland mußte alle Festungen westlich des
Rheins und in einem 50 Kilometer breiten Streifen östlich davon schleifen
(Art. 42, 180). Dort durfte es außerdem keine militärischen Einheiten stationieren (Art. 43). Auch einige Küstenbefestigungen mußten zerstört werden
(Art. 195). Zur Überwachimg der militärischen Bestimmungen wurden alliierte Kontrollkommissionen mit umfangreichen Befugnissen eingesetzt
(Art. 203-210)105.
So positiv die Entwaffnungsbestimmungen im Hinblick auf eine allgemeine
Abrüstung waren, wie sie das liberale Modell forderte und wie sie in Artikel 8
der Völkerbundssatzung festgeschrieben war, sie beschränkten sich lediglich
auf die Verlierer des Krieges, während die Sieger sich aus Gründen der »nationalen Sicherheit« nicht auf konkrete Abrüstungsschritte festlegen wollten.
Auch die Kontrollkommissionen waren nur gegen die Verlierer gerichtet und
etablierten kein System der gegenseitigen Rüstungsüberwachung und -kontrolle.
Der VI. Teil befaßte sich mit Kriegsgefangenen und Kriegsgräbern.
Teil VII (vor allem die Artikel 227 und 228) enthielt Strafbestimmungen,
die die Auslieferung Wilhelms II. und anderer deutscher »Kriegsverbrecher«
festlegten, und deren Verurteilung durch ein alliiertes Sondergericht vorsahen.
105
Für jede Waffengattung war eine eigene Kontrollkommission vorgesehen: Die Interalliierte militärische Kontrollkommission, die Interalliierte Marine-Kontroll-Kommission und
die Interalliierte Kontroll-Kommission für das Luftfahrtwesen, vgl. Art. 203-210.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
45
Der folgende, VIII. Teil, umfaßte die von Deutschland in Geld- und Sachleistungen zu erbringenden Reparationen und wurde durch den berühmtberüchtigten »Kriegsschuldartikel« 231 eingeleitet106. In Artikel 232 wurde
jedoch ausdrücklich anerkannt, daß Deutschland nicht alle Kriegsschäden ersetzen konnte. Die Höhe der Leistungen sollte endgültig durch die Reparationskommission (RepKo)107 fixiert werden (Art. 233). Allerdings sollte
Deutschland eine Art Vorschuß in Höhe von 20 Mrd. Goldmark (GM) leisten.
Teil VII und VIII waren in bezug auf die Modernisierung der Außenpolitik
äußerst heikle Punkte. Traf es zwar einerseits zu, daß das neue Völkerrecht auf
dem Recht ruhen sollte und ein Verstoß gegen dessen oberste Maxime - die
Bewahrung des Friedens - ein Straftatbestand darstellte, so ist doch festzuhalten, daß es dieses Recht bei Ausbruch des Krieges noch nicht gegeben hatte108.
Gemäß des Grundsatzes nulla poena sine lege waren die Forderungen, die aufgrund der Teile VII und VIII gegenüber deutschen Militärs und Politikern, die
für den Krieg verantwortlich zeichneten, und den Ersatzleistungen, die gefordert wurden, schwierig: Das klassische Völkerrecht kannte »keine allgemeinen
Rechtsnormen [...], die den Staaten die Pflicht auferlegten, den Frieden zu erhalten«109. Es gab somit keinen Tatbestand, schon gar nicht völkerrechtlich,
der - wie etwa Artikel 26 (1) des Grundgesetzes - die Einleitung eines Angriffskrieges unter Strafe gestellt hätte. Auch war die Kriegsschuld ohne eine
neutrale Untersuchung von vornherein nur den Verlierern des Krieges auferlegt worden. Die Bestimmung, all jene Personen zu richten, die »gegen die
Gesetze und Gebräuche des Krieges verstoßenden Handlung angeklagt
sind«110, bezog sich auch nicht auf die alliierten Streitkräfte, obwohl beispielsweise die Seeblockade der Alliierten völkerrechtlich auf tönernen Füßen
stand111. Neben der rechtlichen Fragwürdigkeit der Straf- und Reparationsbestimmungen ergab sich hinsichtlich der Reparationen außerdem die Frage
nach ihrem ökonomischen Sinn: Hier bestand eine offensichtliche Inkongruenz zur Forderung nach freiem Wirtschaftsverkehr als Grundlage für allgemeinen Wohlstand, der dem Frieden dienen sollte.
106
Der Wortlaut des Artikels 231 ist: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären
und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündete als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sind, welche die alliierten und assoziierten Regierungen
und ihre Angehörigen infolge des Krieges durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben«.
107
Aufbau, Aufgaben und Befugnisse der RepKo sind in Art. 233 sowie in den AnlagentslgfeYWVRNL
ΠVI festgelegt. Vgl. ΈΫΒΗΗΒ WEILL-RAYNAL, Les röparations allemandes et la France, Bd. 1:
D4s origines jusqu'ä l'institution detiaV
Vitat des payements (novembre 1918-mai 1921), Paris
1938, S. 143-162.
101
Siehe WÜRTENBERGER, Völkerrecht, S. 47.
109
Siehe KIMMINICH, Völkerrecht, S. 76.
110
Artikel 228 des Versailler Vertrags.
111
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 122.
46
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Im IX. Teil wurden finanzielle Bestimmungen getroffen, die unter anderem
besagten, daß Deutschland für die Besatzungskosten durch die alliierten und
assoziierten Truppen aufzukommen habe (Art. 249).
Die wirtschaftlichen Bestimmungen waren in Teil X festgelegt. Wichtigste
Punkte waren die einseitige Meistbegünstigung, die Deutschland den alliierten
und assoziierten Mächten gewähren mußte (Art. 264 u. 265), sowie die Einfuhr zollfreier Kontingente aus Elsaß-Lothringen, Luxemburg und dem Saargebiet nach Deutschland (Art. 268). Diese Bestimmungen sollten fur 5 Jahre,
bis zum 10. Januar 1925, gelten, konnten aber durch einstimmigen Beschluß
des Völkerbundsrates verlängert werden (Art. 280).
Die Teile XI und XII beschäftigten sich mit Luftschiffahrt, Wasserstraßen,
Häfen und Eisenbahnen und den Rechten, die Deutschland diesbezüglich den
alliierten und assoziierten Staaten einzuräumen hatte.
Die Bestimmungen der Teile X-XII entsprachen in ihren eindeutig die Verlierer benachteiligenden Bestimmungen nicht dem Geist des liberalen Friedenskonzeptes, das, wie mehrmals betont wurde, den freien Welthandel als
eine Grundlage der Friedenssicherung sah. Auch hier waren die Friedensbedingungen weniger vom wilsonschen Gedankengut als vielmehr von vor allem
französischen Wirtschafts- und zum Teil auch Sicherheitsinteressen geprägt:
Es galt, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die der Krieg hinterlassen hatte,
und die mit der Eingliederung Elsaß-Lothringens verbundenen Probleme abzufedern sowie das wirtschaftliche Übergewicht Deutschlands abzubauen112.
Teil XIII befaßte sich mit der Schaffung eines Internationalen Arbeitsamtes,
dessen Aufgabe es sein sollte, die Arbeitsbedingungen und die sozialen Bedingungen der Arbeiter zu verbessern113. Wie der Völkerbund selbst, so stellte
auch das ihm angegliederte Internationale Arbeitsamt eine genuine und wichtige Neuerung im Sinne des hier gebrauchten Begriffs der Modernisierung dar.
In der Präambel zu diesem Teil wurde die dem wilsonschen Gedankengut entnommene Gleichung »Wohlstand gleich Friedenssicherung« deutlich:
Da der Völkerbund die Begründung des Weltfriedens zum Ziele hat und ein solcher Friede
nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit begründet werden kann; und da ferner Arbeitsbedingungen bestehen, welche für eine große Zahl von Menschen Ungerechtigkeit,
Elend und Entbehrungen mit sich bringen, durch die eine derartige Unzufriedenheit erzeugt
wird, daß der Weltfriede und die Welteintracht in Gefahr geraten, und eine Verbesserung
dieser Verhältnisse dringend erforderlich ist114.
Im vorletzten Abschnitt, Teil XIV, wurden die »Sicherheiten für die Ausfuhrungen« der Bestimmungen des Versailler Vertrags festgelegt. Sie umfaßten vor allem die Besetzung des linksrheinischen Reichsgebiets und einiger
112
113
1,4
Ausführlich hierzu in Kapitel 4.2.
Vgl. die Präambel dessliedbTI
ΧΠΙ. Teils.
Ibid.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
47
rechtsrheinischer Brückenköpfe für maximal 15 Jahre (Art. 428) und die Festlegung derjenigen Zonen, die bereits nach fünf bzw. zehn Jahren geräumt
werden sollten (Art. 429). Der Vertrag sah ausdrücklich die Verlängerung der
alliierten und assoziierten Besetzung vor, falls Deutschland seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkäme (Art. 430). Allerdings war ebenso ausdrücklich vorgesehen, daß eine vorzeitige Räumung dann erfolgen sollte,
wenn Deutschland alle seine Verpflichtungen erfüllte (Art. 431). Da die Reparationen selbst, wie wir gesehen haben, völkerrechtlich fragwürdig waren, waren es die daraus abgeleiteten Sicherheiten auch. Die Besetzung hatte außerdem einen schweren Eingriff in die Souveränität Deutschlands zur Folge, der
sich, wie die deutsche Seite nicht müde wurde zu betonen, kaum mit dem
Geist der Vierzehn Punkte vereinbaren ließ.
Im letzten Teil wurden verschiedene andere Bestimmungen festgelegt, die
im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht weiter von Interesse sind.
Vergleicht man die Bestimmungen des Versailler Vertrags mit den hehren
Worten wilsonscher Friedensrhetorik - auf die sich die deutsche Regierung in
ihrem Ersuchen um Waffenstillstand bezogen hatte115 - so war die Ernüchterung groß. Man kann feststellen, daß der Versailler Vertrag eigentlich (mindestens) zwei Friedensverträge darstellte: Einige Abschnitte bekannten sich zu
den Prinzipien Wilsons. Dazu sind vor allem Teil I (Völkerbundssatzung) und
XIII (Internationales Arbeitsamt) zu zählen. Andere Teile, vor allem die Wirtschaftsbestimmungen (Teil X) und die Reparationsbestimmungen (Teil VIII)
standen dagegen in mehr oder weniger starkem Gegensatz zu den Prinzipien
des liberalen Modells. Wieder andere Teile blieben in sich widersprüchlich. In
den territorialen Bestimmungen wurde das Selbstbestimmungsrecht formal das galt für die Abstimmungsgebiete - geachtet, oft wurde es jedoch anderen
Interessen (dies betraf vor allem Danzig und den »Korridor« und das Verbot
des »Anschlusses«) untergeordnet. Die Entwaffnungsbestimmungen waren
zwar prinzipiell begrüßenswert, betrafen aber faktisch nur die Verlierer: Die
Forderung nach allgemeiner Abrüstung, wie sie in Artikel 8 des Versailler Vertrags festgelegt wurde, blieb für die Sieger Theorie. Wichtigstes Kennzeichen
des Versailler Vertrags war also die »ambigu'ite«116, der »zwitterhafte Charakter
der Pariser Friedensordnimg«117 zwischen modernen und nichtmodernen Bestimmungen, die zum Teil in mehr oder weniger offenem Widerspruch zueinander standen. Durch den Friedensvertrag war sowohl die Ruhrpolitik Poincares
115
Siehe Note der deutschen Regierung an die US-RegierungYVTSRNMLIHECBA
( 3 . 1 0 . 1 9 1 8 ) , M I C H A E L I S u.a.,
Ursachen und Folgen, Bd. 2, Nr. 400.
1.6
Georges-Henri SOUTOU, L'Allemagne et la France en 1919, in: Jacques B A R L I T Y , J. M.
V A L E N T I N , A. GUTH (Hg.), La France et l'Allemagne entre les deux guerres mondiales. Actes du colloque tenue en Sorbonne (Paris IV), 15-16-17 janvier 1987, Nancy 1987, S. 9-20,
hier S. 19.
M A I , Europa 1 9 1 8 - 1 9 3 9 , S. 2 0 2 .
1.7
48
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
im Jahre 1923 als auch die verständigungsorientierte Politik Briands gedeckt118. Der Versailler Vertrag war deshalb sowohl modernisierungsfördernd
wie -hemmend.
In der »complex reality of peacemaking«119, die eingebettet war in eine
wirtschaftliche Krise bei Siegern und Besiegten, in politische und soziale Unruhen und die psychologischen Folgen des Krieges und verschiedene, spezifische Interessen120, war die Durchsetzung eines ganz und gar modernen Friedens auf Grundlage des liberalen Modells der Friedenssicherung aber
sicherlich unrealistisch. Der Versailler Vertrag war ein Kompromiß und konnte wohl unter den herrschenden Umständen auch nur ein Kompromiß sein121.
Nicht nur die eigentlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags beeinflußten die Modernisierung der Außenpolitik, negativ wie positiv. Der Friedensvertrag wirkte auch mittelbar. In diesem Zusammenhang sollen drei Phänomene genauer betrachtet werden: Der erste Aspekt bezieht sich auf die
Komplexität des Vertragswerkes, der zweite auf dessen Dynamik und der dritte umfaßt schließlich die zunehmende Beteiligung der Öffentlichkeit an außenpolitischen Prozessen und dem damit einhergehenden Einzug der »Moral«
in die internationalen Beziehungen.
Der Versailler Vertrag war ein äußerst weitreichendes Abkommen, seine
Regelungsdichte hatte bis dahin nicht gekannte Dimensionen122. Diese Komplexität bezog sich nicht nur auf die Anzahl der Paragraphen und Anlagen,
sondern auch auf seine inhaltlichen Bestimmungen. Der Friedensvertrag ging
über die klassischen Bestimmungen, wie die Beendigung des Kriegszustandes
und die Festlegung von Grenzen und Reparationen, weit hinaus und eröffnete
mit seinen vielfältigen Wirtschaftsbestimmungen, der Völkerbundssatzung
und der Schaffung eines Internationalen Arbeitsamtes völlig neue Bereiche der
Außenpolitik und des Völkerrechts. Entsprechend war auch die Detailfulle des
Vertrags bis dato unbekannt: Deutlich wurde dies beispielsweise an den genauen Vorschriften zu Umfang und Bewaffnung der deutschen Streitkräfte. So
wie der moderne Krieg alle Bereiche des Lebens beeinflußt hatte, so ging nun
auch der Frieden über die Sphäre des Politischen oder Militärischen hinaus
118
Siehe Georges-Henri SOUTOU, The French Peace Makers and Their Home Front, in:
Manfred F.SRONMLKIGFEDCBA
BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 167-188, hier S. 187.
119
Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER, Introduction, in: DIES.
(Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge 1998, S. 1-20,
hier S. 2.
120
Vgl. KNOCK, Wilsonian Concepts, S. 123-126.
121
Siehe BOEMEKE, Introduction, S. 3.
122
Siehe Peter KRÜGER, Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und
Friedenssicherung, München 21993 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit [ohne Bandzählung]), S. 12.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
49
und drang ein in Wirtschaft und Soziales. Auf die Totalität des Krieges folgte,
wenn man so will, die Totalität des Friedens123.
Die Komplexität der internationalen Beziehungen erhöhte sich auch durch
die Schaffung neuer Institutionen und Gremien. Dies bezog sich nicht nur auf
die Schaffung internationaler Organisationen, wie dem Völkerbund, dem Internationalen Arbeitsamt und anderen, dem Völkerbund angeschlossenen Institutionen, sondern in vielleicht noch stärkerem Maße auf die Kommissionen,
die zur Durchsetzung des Versailler Vertrags geschaffen wurden: die RepKo,
die interalliierten Militärkontrollkommissionen, die Hohe interalliierte Rheinlandkommission (H.C.I.T.R.) und als Koordinationsorgan auf höchster Ebene
die Botschafterkonferenz124 in Paris. Dies waren zum Teil supranationale
Gremien, denen, den Fall der RepKo als Beispiel gesetzt, Vertreter der
USA125, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans, Belgiens und des serbo-kroatisch-slowenischen Staates (Jugoslawiens) angehörten126. Die Kommissionen hatten weitgehende Kompetenzen, die allerdings hauptsächlich die
deutsche Seite betrafen. So war die RepKo durch »keine Gesetzgebung, durch
kein Gesetzbuch und durch keine Sonderbestimmungen«127 gebunden und hatte »überhaupt die weitestgehende Vollmacht zur Überwachung hinsichtlich
der Fragen der Wiedergutmachung«128. Die Entscheidungen innerhalb der
Kommission wurden durch Mehrheitsbeschluß gefaßt, nur in Ausnahmefällen
gab es ein Vetorecht einzelner Vertreter129. Durch diese Kommissionen wurde
eine Zusammenarbeit und Koordination der Außenpolitik zwischen den Siegermächten des Ersten Weltkriegs auch ohne förmliche Bündnisse notwendig.
Die Arbeit dieser Gremien mußte außerdem mit den nationalen Trägern der
Außenpolitik und der nationalen Politik überhaupt koordiniert werden130 und
schuf so einen verstärkten Zwang zur Konsultation zwischen den Siegermächten einerseits und zwischen den Siegermächten und Deutschland andererseits.
So trugen die Bestimmungen des Vertrags und die mit ihrer Umsetzung beauftragten Kommissionen dazu bei, Interdependenzen, Koordinations- und Konsultationsnetze zu schaffen, die zu einer in dieser Form wahrscheinlich neuartigen Dichte des zwischenstaatlichen Austauschs führten. Allerdings waren
123
Siehe Keith HAMILTON, Richard LANGHORNE, The Practice of Diplomacy. Its Evolution,
Theory and Administration, London, New York 22003, S. 183.
124
Vgl. Jürgen HEIDEKING, Areopag der Diplomaten. Die Pariser Botschafterkonferenz der
alliierten Hauptmächte und die Probleme der europäischen Politik 1920-1931, Husum 1979
(Historische Studien, 436).
123
Dies änderte sich natürlich mit der Nichtratifikation des Versailler Vertrags durch die
USA.
126
Siehe AnlagezwutsrpnligedbaVTIB
Π zu Teil VIII des Versailler Vertrags, § 2.
127
Ibid. §11.
128
Ibid. § 12.
129
Vgl. ibid. § 16a.
130
Beispielsweise waren bei den militärischen Bestimmungen und in der Frage der Besatzungsarmeen ja auch die jeweiligen Kriegs- bzw. Verteidigungsministerien einzubeziehen.
50
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
diese neuen zwischenstaatlichen Kontakte geprägt von einer starken Asymmetrie zwischen den Siegermächten, die Forderungen stellten, und Deutschland
und den anderen Kriegsverlierern, die vielfach die Entscheidungen der interalliierten Gremien nur hinnehmen konnten.
Allerdings hatte der gewaltige Umfang des Friedensprogramms auch Koordinationsprobleme zur Folge. Schon in Versailles traf sich ein noch nie dagewesener Troß aus Politikern, Diplomaten und Experten aus verschiedensten
Bereichen in 58 Kommissionen und Unterkommissionen, die die einzelnen
Vertragsbedingungen ausarbeiteten131. In der Tat hatte es »[e]inen solchen
staunenswerten Apparat [...] noch nie auf einer internationalen Konferenz gegeben«132. Die Konsequenzen einer solchen Ausdehnung, personell wie inhaltlich, ließen sich in Versailles feststellen und trugen zum Teil zu der bereits
festgestellten Widersprüchlichkeit der einzelnen Vertragsteile bei. Diese waren zum Teil nicht aufeinander abgestimmt, eine Schwerpunktsetzung war
nicht immer zu erkennen und es kam zu einer »wohl unbeabsichtigte[n] Kumulierung«133 vertraglicher Bestimmungen, was oft auch der ungenügenden
Vorbereitung der Delegationen geschuldet war134.
So führte also die Komplexität des Versailler Vertrags auch mittelbar zu einer Modernisierung der Außenpolitik: Es kam zu einer thematischen Ausweitung außenpolitischer Problemstellung (sozusagen zur »Totalisierung der Außenpolitik«), die notwendigerweise die Spezialisierung und Professionalisierung des diplomatischen Apparats nach sich zog, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird. Daraus ergab sich außerdem das Problem der
verstärkten Koordinierung einzelner Politikbereiche, Strategien und Akteure
der auswärtigen Beziehungen. Versailles war auch deshalb ein moderner Friedensvertrag, weil er, wie die moderne Außenpolitik auch, einen umfassenden
Ansatz zur Friedenssicherung verfolgte. Der Versailler Vertrag beschränkte
sich eben nicht mehr nur ausschließlich auf politische oder diplomatische Fragen, sondern bezog wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte mit ein.
131
Siehe Andre TARDIEU, La Paix, Paris 1921, S. 103. »Es handelte sich um eine Mammutkonferenz mit ca. 10 000 Delegierten und Sachverständigen, die in 58 Kommissionen zur
Klärung der Einzelfragen arbeiteten. Am Ende verzeichnete man 1 646 Sitzungen«, NLEDHART, Internationale Beziehungen, S. 29.
132
KRÜGER, Versailles, S. 12.
133
Ibid. S. 13. Soutou indes betont die Komplexität der französischen Friedensstrategie
(SOUTOU, Peace Makers, S. 170), Bariity und Stevenson weisen zu Recht auf die Verbindungen zwischen territorialen, wirtschaftlichen und militärischen Kriegszielen in der französischen Planung hin (BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 65; David STEVENSON,
French War Aims and Peace Planning, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge
u.a. 1998, S. 87-109, hier S. 90).
134
Sally MARKS, The Illusion of Peace. International Relations in Europe, 1918-1933, Basingstoke, New York 22003, S. If.
3.2 Der Dawes-Plan und die Londoner Konferenz
51
Eng mit der gestiegenen Komplexität der durch den Versailler Frieden umgestalteten europäischen Staatenordnung war die Dynamisierung der internationalen Beziehungen verbunden. Diese war zum einen Ergebnis des aus der
Vielzahl der zu regelnden Bereiche resultierenden mangelnden Wissens oder
auch nur die Vertagung eines Problems, über das sich die alliierten und assoziierten Mächte bei ihren Beratungen auf der Friedenskonferenz nicht hatten
einigen können. Dies galt vor allem für den gesamten Komplex der Reparationen. So wurde die Festlegung der Gesamthöhe der Reparationen der Entscheidung der RepKo überlassen (Art. 233 des Versailler Vertrags). Gleichzeitig
besagte dieser Artikel aber auch: »Die Kommission wird die Schadensmeldungen prüfen und der deutschen Regierung angemessene Gelegenheit geben,
gehört zu werden. Die Beschlüsse dieser Kommission über die Höhe der obenbezeichneten Schäden sollen spätestens am l.Mai 1921 aufgesetzt und der
deutschen Regierung als Gesamtbetrag der Verpflichtungen mitgeteilt werden«. Dadurch war der Möglichkeit der deutschen Intervention in Fragen der
Reparationen - und, wenn man so will, der Revision des Vertrags - die Tür
zumindest einen Spalt breit geöffnet. Folge dieser Flexibilität war eine eingebaute Dynamik, vor allem in Form der Fristen, die der Vertrag setzte. Diese
Fristen spielten aber nicht nur gegen Deutschland, sondern auch zu seinen
Gunsten, denn die Besetzung des Rheinlandes war beispielsweise auf 15 Jahre
beschränkt, die Beschränkungen der Handelsfreiheit auf fünf135, und auch an
anderen Stellen werden Fristen gesetzt136. Der Versailler Vertrag revidierte
sich gewissermaßen selbst. Noch flexibler wurde das Vertragswerk dadurch,
daß Fristen, ganz abhängig vom Wohlverhalten Deutschlands, verlängert oder
- was oft genug vergessen wird - auch verkürzt werden konnten137. Zeitlich
befristete Druckmittel hatten zudem den Nachteil, daß sie um so wertloser
wurden, je näher ihr Ablauf rückte. Dies bewirkte eine weitere Dynamisierung
der Entwicklung, nämlich eine Art Torschlußpanik bei den Mächten, denen
diese befristeten Vorteile zugute kamen, und ermöglichte Deutschland außenpolitische Spielräume. Für wieder andere Bestimmungen sah der Versailler
Vertrag eine Revision des Vertrags vor, wenn diese durch den Völkerbundsrat
gebilligt wurde, so z.B. beim »Anschluß« Deutsch-Österreichs138 - auch wenn
dies zugegebenermaßen nur eine sehr theoretische Möglichkeit war. Auch der
Eintritt Deutschlands in den Völkerbund wurde von dessen Wohlverhalten
135
Fristen der Rheinlandbesetzung: Art. 428, 429 Versailler Vertrag, Fristen für die Handelsbeschränkungen: Art. 280 Versailler Vertrag.
136
Z.B. fur die Dauer des Völkerbundsregimes im Saargebiet (Art. 49 Versailler Vertrag),
Volksabstimmungen, beispielsweise für Eupen-Malm6dy (Art. 34) etc.
137
Art. 430 sah die Verlängerung der Besatzungszeit vor, falls Deutschland nicht seinen
Verpflichtungen nachkommen sollte, Art. 431 legte die vorzeitige Räumung fur den Fall fest,
daß Deutschland alle Forderungen des Vertrags vorzeitig erfüllen würde.
138
Vgl. Art. 80 Versailler Vertrag.
52
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
abhängig gemacht139. Die militärischen Bestimmungen, denen Deutschland
unterworfen war, konnten ebenfalls durch den Völkerbund gelockert werden140. In vielen Fällen sah der Vertrag die Möglichkeit zumindest der Anhörung der deutschen Vertreter vor141. In der Mantelnote zum Versailler Vertrag
wurde zudem ausdrücklich eine Revision in Aussicht gestellt142, und Wilson
selbst setzte vor allem Hoffnungen in den Völkerbund als Mittel, um die von
ihm erkannten Schwächen des Friedensvertrags zu revidieren143. Der Versailler Vertrag schuf so keinen neuen Status quo, sondern sorgte dafür, daß die
Beziehungen zwischen den Staaten stets im Fluß blieben. So gab es in der
Nachkriegsordnung nicht nur die Status quo-Mächte und die revisionistischen
Staaten. Der durch den Versailler Vertrag geschaffene Zustand wurde durch
den Friedensvertrag selbst ständig in Frage gestellt. Die Dynamik des Versailler Vertrags wirkte außerdem modernisierungsfördernd, weil Wohlverhalten
belohnt und Fehlverhalten, im Sinne eines Abweichens der Verliererstaaten
von den von den Siegermächten festgelegten Friedensbestimmungen, bestraft
wurde. Auch wurde die Dynamik und Flexibilität der neuen komplexen Nachkriegssituation besser gerecht.
Die gestiegene Bedeutung der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung
- und damit einhergehend der Einzug der Moral in das zwischenstaatliche Leben - war ein weiteres Phänomen, das nur mittelbar mit dem Versailler Vertrag verknüpft war, nichtsdestotrotz aber Bedeutung für die Modernisierung
der Außenpolitik hatte. Zwar war der Einfluß der Öffentlichkeit auf die eigentlichen Friedensverhandlungen relativ gering144, allerdings wurde von den
Teilnehmern selbst in den Verhandlungen versucht, die öffentliche Meinung
als vermeintliches Druckmittel zu instrumentalisieren145. Auch wenn die Be-
139
Vgl. Mantelnote zum Versailler Vertrag (16.6.1919), abgedruckt in: O.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und
deutsche Ausfiihrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 1-13.
140
Art. 164 des Versailler Vertrags.
141
Für die RepKo siehe AnlagezutsrpnmlihgfedcaVTREBA
Π zum Teil Vm. des Versailler Vertrags, § 10.
142
»Er [der Versailler Vertrag, R.B.] schafft auch gleichzeitig den Apparat für die friedliche
Erledigung aller völkerrechtlichen Fragen durch Aussprache und Übereinstimmung, wodurch die im Jahre 1919 geschaffene Regelung selber von Zeit zu Zeit abgeändert werden
und neuen Ereignissen und neu entstehenden Verhältnissen angepaßt werden kann«, Mantelnote.
143
Siehe SHARP, Versailles Settlement, S. 59.
144
»public opinion as such, though it found frequent and sometimes sensational expression,
on the whole produced noise rather than a discernible impact on the decisions reached in
Paris«, Anthony LENTIN, A Comment, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN,
Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 221-243.
145
Siehe Klaus SCHWABE, Germany's Peace Aims and the Domestic and International Constraints, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth GLASER (Hg.), The Treaty
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
53
deutung der öffentlichen Meinung auf die Ergebnisse der Friedenskonferenz
begrenzt war, so hatte die Außenpolitik im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit stets mit der durch überzogene Kriegsziele angeheizten und durch den
Friedensvertrag enttäuschten öffentlichen Meinung zu kämpfen, gewissermaßen mit den Geistern, die sie selbst gerufen hatte146.
In Deutschland, wo nach Jahren der Siegespropaganda das Ausmaß der Niederlage kaum realisiert worden war147, hatte der Versailler Vertrag, gelinde
gesagt, eine äußerst schlechte Presse148. Die Reaktionen in Frankreich waren
nicht viel freundlicher149. Vor allem Poincare und Foch warnten vor der Aufgabe der Rheingrenze, zumal das versprochene Bündnis mit den USA und
Großbritannien nicht zustande kam150, und diese Garantien »Papierfetzen«151
blieben. Insgesamt stimmte die Mehrheit der Franzosen, mit Ausnahme der
extremen Rechten und Linken152, dem Frieden zwar zu153, doch bestand zugleich die Ansicht: »nous avions perdu la paix«154.
Natürlich war die Öffentlichkeit nicht erst deshalb ein außenpolitischer Faktor, weil sie von der Politik mobilisiert wurde; sie konnte erst von der Politik
mobilisiert werden, weil es Öffentlichkeit, im Sinne von Staatsbürgern, die das
Verhalten von Politikern in Wahlen sanktionieren können, als Öffentlichkeit,
die in großem Umfang Zugang zu Informationen durch die Presse hat, gab.
Zum Zeitpunkt der Friedensverhandlungen war diese Art von Öffentlichkeit
nun zwar kein gänzlich neues Element in der politischen Auseinandersetzung
mehr; so etabliert, wie es heute jedoch erscheinen mag, war sie aber auch noch
of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a. 1998, S. 37-67, hier S. 53 und
LENTIN, Comment, S. 242f.
146
Dies gilt vor allem für die deutsche Öffentlichkeit, für die der Versailler Vertrag über den
ganzen Zeitraum hinweg ein »Schandfrieden« blieb, siehe S C H W A B E , Peace Aims, S . 64 und
Fritz K L E I N , Between Compiegne and Versailles: The Germans on the Way from a Misunderstood Defeat to an Unwanted Peace, in: Manfred F . B O E M E K E , Gerald D. F E L D M A N , Elisabeth G L A S E R (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge
u.a. 1998, S. 203-220, hier S. 219f.
147
Zur zeitgenössischen Deutung und Wahrnehmung zusammenfassend vgl. M Ö L L E R , Europa, S. 161-163, 173-175 und K O L B , Weimarer Republik, S. 195f.
148
»Annahme des Gewaltfriedens«, Vossische Zeitung (24.6.1919).
149
Siehe David S T E V E N S O N , France at the Paris Peace Conference. Addressing the Dilemmas of Security, in: Robert B O Y C E (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1 9 1 8 - 1 9 4 0 .
The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 10-29, hier S. lOf.
150
Zur Position Fochs siehe sein Memorandum vom 10.1.1919, auszugsweise zitiert in: Bertrand de JOUVENEL, D'une guerre ä l'autre, Bd. 1: De Versailles a Locarno, Paris 1940, S.
75f. Zu den Ansichten Poincares siehe ibid. S. 83. Siehe auch F I S C H E R , Ruhr Crisis, S. 5f.
151
Foch, zitiert nach: Raymond R E C O U L Y , Le memorial de Foch. Mes entretiens avec le
Marechal, Paris 1929, S. 237.
152
Vgl. S O U T O U , Peace Makers, S . 182-186.
153
Pierre MlQUEL, La paix de Versailles et l'opinion publique franfaise, Paris 1972, S. 558.
154
Ibid. S. 563. Vgl. auch K O L B , Weimarer Republik, S. 196 und M O N I E R , Annees 20, S.
61f.
54
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
nicht155. Gerade in Deutschland, wo die Außenpolitik erst mit den Oktoberreformen und der Novemberrevolution dem Parlament (zur Zeit der Verhandlungen zum Versailler Vertrag: der Nationalversammlung) verantwortlich geworden war, war Öffentlichkeit im außenpolitischen Prozeß etwas durchaus
Neues und nichts Selbstverständliches156. Der gestiegene Einfluß der Öffentlichkeit auf außenpolitische Entscheidungen führte somit auch zu einer gewissen Demokratisierung der Außenpolitik, wenn dies auch - wie die innenpolitische Debatte um die Revision des Versailler Vertrags in Deutschland in den
1920er Jahren oder die »Dolchstoßlegende« zeigten - nicht indem von Wilson
gedachten friedensfordernden Sinne wirkte.
Eng verbunden mit dem gestiegenen Einfluß der öffentlichen Meinung auf
die Außenpolitik war auch der Einzug der Moral in das Völkerrecht, wie dies
an mehreren Stellen auch im Versailler Vertrag zum Ausdruck kam157. Von
einigen wurde dies bedauert und kritisiert158, öffnete es doch einer vermeintlichen »Siegeijustiz« Tür und Tor, und war es doch gerade die moralische Verurteilung Deutschlands, die die deutsche öffentliche Meinung hinsichtlich des
Versailler Vertrags nachhaltig vergiftete, was die vielleicht schwerwiegendste
Folge des Friedens von Versailles war159. Der Einzug der Moral in das Völkerrecht war aber eine notwendige Folge des Weltkrieges. Dies hatte zum einen
mit der völlig neuen Dimension des Krieges zu tun: Ein Krieg, der Millionen
Menschen das Leben kostete, Millionen mehr verstümmelte, zu Witwen und
Waisen machte und so gut wie jedem materielle Opfer abverlangte, ein solcher
Krieg war nicht mehr durch eine wie auch immer geartete Staatsräson zu
rechtfertigen. Zum anderen hatte dies auch mit dem Bedeutungsgewinn und
dem Entstehen von Öffentlichkeit zu tun. Denn die Öffentlichkeit brauchte
eine Begründung, eine Rechfertigung, um Kampf und Elend zu ertragen und
die Entbehrungen von vier Jahren Krieg durchzustehen. Welcher Grund wäre
besser, als für »die« Gerechtigkeit und »das« Gute zu kämpfen (was den Gegner aber zwangsläufig zu »dem« Bösen schlechthin macht)? Letztlich ergab
sich aus der Absolutheit der moralischen Ansprüche, auf Grund derer der
Krieg gefuhrt wurde und geführt werden mußte, die öffentliche Kritik am zustande gekommenen Friedensschluß: Im Lichte eines für »die« Gerechtigkeit
und »das« Gute geführten Krieges konnte ein Frieden, der in einen Kompromiß mündet, nur einen schalen Beigeschmack haben. Die einzige Alternative
155
Dies galt für Deutschland und Frankreich gleichermaßen, siehe Paul Gordon LAUREN,
Diplomats and Bureaucrats. The First Institutional Response to Twentieth Century Diplomacy in France and Germany, Stanford 1976 (Hoover Institution Publications, 153), S. 29f.
156
Vgl. Ragna BODEN, Die Weimarer Nationalversammlung und die deutsche Außenpolitik.
Waffenstillstand, Friedensverhandlungen und internationale Beziehungen in den Debatten
von Februar bis August 1919, Frankfurt a. M. u.a. 2000, S. 17f., 52-55.
157
Siehe KRÜGER, Versailles, S. 30.
158
Vgl. ibid.
159
Vgl. KLEIN, Compidgne, S. 219.
2.1. Versailler Vertrag und internationales System
55
zu einem Kompromißfrieden wäre jedoch die totale Zerstörung des Gegners,
zu der sich die Alliierten - auch aufgrund ihres moralischen Anspruches nicht bereit fanden. Dementsprechend war der Versailler Vertrag voll von moralischen Begründungen. Der »Kriegsschuldartikel« 231 und die Artikel zur
Auslieferung von Kriegsverbrechern (Art. 227f.) wurden bereits genannt. Der
Vertrag postulierte aber durchaus auch Normen, die sich zugunsten Deutschlands interpretieren ließen: Die zumindest teilweise Ächtung des Krieges in
der Präambel des Völkerbunds und die in Artikel 8 des Versailler Vertrags
geforderte allgemeine Abrüstung erwiesen sich als durchaus stichhaltiges Argument der deutschen Delegationen bei den diversen Abrüstungskonferenzen160. Das normative Element wurde also (spätestens) mit dem Versailler
Vertrag integraler Bestandteil nicht nur des Völkerrechts, sondern auch der
Außenpolitik, und wurde ein wesentlicher Faktor der Modernisierung.
Der Versailler Vertrag hatte also für die deutsch-französischen Beziehungen
in der Zwischenkriegszeit eine zweifache Bedeutung: Unmittelbar legte er die
Grundlagen für die Modernisierung der Außenpolitik, indem einige Elemente
des liberalen Konzepts der Friedenssicherung explizit festgeschrieben wurden.
Darunter fallen vor allem die Gründung von Völkerbund und Internationalem
Arbeitsamt. Gleichzeitig wurden diese Neuerungen aber nicht konsequent
durchgesetzt und durch andere Vertragsbestimmungen, die den wilsonschen
Prinzipien mehr oder weniger entgegenstanden - hier ist vor allem an einige
Teile der territorialen Bestimmungen, die Wirtschaftsklauseln und die Reparationen zu denken - eingeschränkt. Mittelbar führte der Versailler Vertrag
durch seine hohe Komplexität und die damit einhergehende Dynamisierung
der Außenpolitik - wohl mehr unfreiwillig als beabsichtigt - zur Modernisierung der Außenpolitik, weil er ein dichtes Netz von Abhängigkeiten zwischen
Siegern und Besiegten schuf, das zu einer Verdichtung der außenpolitischen
Kontakte führte. Diese Kontakte betrafen nicht mehr nur die klassischen Bereiche der Außenpolitik, sondern auch Felder, die der traditionellen Diplomatie verschlossen geblieben waren. Die Verdichtung der Kontakte führte außerdem zu einem erhöhten Bedarf an Spezialisierung und Koordination der
Außenpolitik, die durch die Interpretations- und Handlungsspielräume des
Versailler Vertrags noch verstärkt wurde. Der gestiegene Einfluß der öffentlichen Meinung, zum Teil unvermeidbares Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung in den vertragsschließenden Ländern, zum Teil durchaus aber auch
gewollter Bestandteil der »neuen Diplomatie« im Sinne Wilsons161, war dagegen im konkreten Fall eher als modernisierungshemmend einzustufen. Zumin160
Auch in der Präambel des V. Teils des Versailler Vertrags (Bestimmungen über die
Land-, See- und Luftstreitkräfte) wird von der »allgemeinen Beschränkung der Rüstung aller
Nationen« gesprochen.
161
Vgl. Punkt I der Vierzehn Punkte, in dem Wilson die Abkehr von der Geheimdiplomatie
fordert, in:SMLIHECA
MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 2 , Nr. 399a.
56
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
dest in der Zeitspanne unmittelbar nach dem Weltkrieg wurde in Deutschland
der Versailler Vertrag als ganzes abgelehnt und seine modemisierungsfördernden Aspekte nur unzureichend erkannt. In Frankreich wiederum wurde oft auch auf öffentlichen Druck hin - eine Politik betrieben, die sich häufig auf
die repressiven Elemente des Versailler Vertrags stützte. Der Friedensvertrag
von Versailles und die Wirkung, die er entfaltete, waren also in hohem Maße
ambivalent. Je nach Betonung der modernisierungsfÖrdernden oder -hemmenden Aspekte waren verschiedene politische Strategien möglich, in Richtung Modernisierung ebenso wie zu deren Verhinderung. Clemenceau faßte
die dem Friedensvertrag innewohnenden Möglichkeiten treffend zusammen:
»The treaty [...] will only be worth what you are worth; it will be what you
make it«162.
Eine wesentliche Begrenzung dieser Spielräume läßt sich auf die Einflüsse
des internationalen Systems zurückfuhren, die oben bereits kurz angedeutet
wurden. Erstens setzten die angelsächsischen Mächte - wenn man so will als
die Erben der Ideen Wilsons - das liberale Modell der Friedenssicherung nicht
als integrales Ganzes um, sondern nur dessen wirtschaftlichen Teil. Dabei ließen sie sich vornehmlich von den eigenen ökonomischen Interessen leiten.
Deshalb blieb auch die Umsetzung der wirtschaftlichen Komponente des liberalen Modells der Friedenssicherung inkonsequent. Dies wurde besonders an
der amerikanischen Hochzollpolitik und dem Festhalten an den ökonomisch
unsinnigen Kriegsschulden und Reparationen deutlich, worauf jedoch vor allem deshalb nicht verzichtet werden konnte, weil sie die wesentlichen Mittel
zur Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen waren. Die zweite begrenzende Wirkung des internationalen Systems auf die deutschfranzösischen Beziehungen bestand darin, daß die Beziehungen der westeuropäischen Staaten und Deutschlands mit Osteuropa weniger modern waren als
die Beziehungen zwischen dem Westen und Berlin. In Osteuropa herrschte
eine mehr oder weniger klassische Bündnisstruktur vor, in der sich die Staaten
der Kleinen Entente und Polen - als Verbündete Frankreichs - sowie Deutschland und die Sowjetunion mehr oder weniger antagonistisch gegenüberstanden. Durch die kleineren revisionistischen Mächte, wie z.B. Ungarn und die
Konflikte innerhalb der Kleinen Entente, wurde diese Asymmetrie zwischen
Ost und West noch verstärkt. Die Konflikte in Osteuropa wirkten sich jedoch
wieder negativ auf die Beziehungen zwischen den Westmächten - speziell
Frankreich - und Deutschland aus.
Die von Moskau verfolgte Mischung aus ideologisch-antikapitalistischer
und machtorientierter Außenpolitik und das deutsch-sowjetische Sonderverhältnis bildeten die dritte Begrenzung, die modernisierungshemmend auf die
deutsch-französischen Beziehungen wirkte.
162
Zitiert nach STEVENSON, French War Aims, S. 101.
2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste
57
Betrachtet man das europäische System der internationalen Beziehungen in
seiner Gesamtheit, so lag das deutsch-französische Verhältnis im Schnittpunkt
der drei beschriebenen Problemkreise. Während die Auswirkungen des Versailler Vertrags auf die Modernisierung der Außenpolitik ambivalent waren,
wirkten also die Einflüsse des internationalen Systems - mit der bedingten
Ausnahme der Beziehungen Deutschlands und Frankreichs zu den USA und
England - eher modernisierungshemmend.
2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste in Deutschland und Frankreich
Die gestiegene Komplexität der internationalen Beziehungen nach dem Ersten
Weltkrieg, die Folge der geänderten internationalen Rahmenbedingungen und
des Versailler Vertrags war, übten, ebenso wie die neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikationsverbreitung163, einen Modernisierungsdruck
auf die Außenpolitik aus. Dies hatte natürlich auch Folgen für die administrative Durchführung der Diplomatie: Neue Themenbereiche der Außenpolitik,
wie zum Beispiel die auswärtige Kultur- und Außenwirtschaftspolitik, machten eine Spezialisierung innerhalb der auswärtigen Dienste notwendig164.
In diesem Kapitel wird dargestellt, mit welchen administrativen Maßnahmen
auf diese neuen Herausforderungen im AA und im Quai d'Orsay reagiert wurde. Außerdem soll untersucht werden, wie effizient die »government machine«165 in Deutschland und in Frankreich war, denn nur wenn man einen Überblick über die Funktion und die Effektivität des administrativen Apparates der
Außenpolitik hat, kann die Frage beantwortet werden, ob der Erfolg (oder
Mißerfolg) einer poltischen Strategie durch thematisch-programmatische Faktoren bestimmt war, oder ob schon die technischen Voraussetzungen dafür
mangelhaft waren.
Das AA behielt im Zeitraum zwischen 1922 und 1936 weitgehend seinen
organisatorischen Aufbau bei166. Die oberste Leitungsebene bestand aus dem
Reichsminister des Auswärtigen - vom 13. August 1923 bis zu seinem Tod
am 3. Oktober 1929 Gustav Stresemann - und dem Staatssekretär. Der Posten
163
164
Siehe LAUREN, Bureaucrats, S. 38f.
Allgemein zu diesen neuen Herausforderungen vgl. HAMILTON, Practice of Diplomacy,
S. 136-174.
165
Anthony ADAMTHWAITE, France's Government Machine in the Approach to the Second
World War, in: H. SHAMIR (Hg.), France and Germany in an Age of Crisis, 1900-1960.
Essays in Honour of Charles Bloch, Leiden 1990, S. 203-213, hier S. 203.
166
Zu den folgenden Ausführungen über den organisatorischen Aufbau des AA von 1922 bis
1936 siehe ADAP, Ergänzungsband, S. 548-550, zur personellen Besetzung ibid. S. 556f.,
561-563.
58
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
des Staatssekretärs wurde im Untersuchungszeitraum von Ago von Maltzan
und ab dem 23. Dezember 1924 bis zum 18. Juni 1930 von Carl von Schubert
bekleidet. Unterhalb des Staatssekretärs gliederte sich das Amt in sieben Abteilungen. Abteilung I war für Personal und Verwaltung zuständig, die Abteilungen II bis IV hatten regionale Zuständigkeiten. Abteilung II, die im ganzen
Untersuchungszeitraum von Gerhard Köpke geleitet wurde, befaßte sich mit
West- und Südosteuropa. Abteilung III, zuständig für das britische Empire,
Amerika und den Orient, stand zunächst unter der Leitung Schuberts. Nach
dessen Aufstieg zum Staatssekretär wurde sie von Walter de Haas geführt. Die
Abteilung IV (Ost- und Nordeuropa, Ostasien)167 unterstand zunächst Erich
Wallroth und ab dem 19. September 1928 Oskar Trautmann. Abteilung V, die
Rechtsabteilung, wurde von Friedrich Gaus geleitet. Der Zuständigkeitsbereich der Abteilung VI war »Kultur und Deutschtum im Ausland«. Eine Sonderstellung nahm die »Vereinigte Pressestelle der Reichsregierung und des
AA« ein: Sie war zwar Teil des AA, ihr Leiter168 aber der Reichskanzlei unterstellt. Neben den Abteilungen, die ihrerseits in Referate unterteilt waren, standen einige Sondereinheiten, die nicht an einzelne Abteilungen angegliedert
waren. Dazu gehörten beispielsweise das Sonderreferat Vbd. (Völkerbund)169,
das von seiner Gründung am 6. Februar 1923 bis zum 26. Januar 1928 von
Bernhard Wilhelm von Bülow und anschließend von Ernst Freiherr von Weizsäcker geleitet wurde, und ein Sonderreferat für wirtschaftliche Fragen, das
unter verschiedenen Namen (Sonderreferat W, W. Rep. bzw. Abteilung W)
geführt wurde, unter Leitung von Karl Ritter.
Der Aufbau des französischen Ministere des affaires etrangeres ähnelte in
vielerlei Hinsicht dem des AA, war insgesamt jedoch komplexer170. Dem Posten des Staatssekretärs im AA entsprach die Position des Secretaire general,
die von 1920 bis 1933 - mit der Ausnahme der Jahre 1922-1925171 - von Phil167
Die Abteilung IV wurde am 15.7.1924 aus den Abteilungen IVa (Osteuropa und Skandinavien) und IVb (Ostasien) gebildet. Die Abteilung IVa wurde seit dem 12.2. bzw. 10.4.1923
von Erich Wallroth geleitet, IVb seit dem 1.1.1920 von Hubert Knipping.
168
Karl Spiecker (4.12.1924-16.1.1925), Carl Otto Kiep (16.1.1925^.11.1926) und anschließend Walter Zechlin. Einzelheiten zur Organisation der Vereinigten Presseabteilung
bei Markus SCHÖNEBERGER, Diplomatie im Dialog. Ein Jahrhundert Informationspolitik des
Auswärtigen Amtes, München, Wien 1981, S. 42-47, sowie BAECHLER, Stresemann, S. 480.
169
Das Völkerbundsreferat wurde am 25.2.1927 der AbteilungzywvutsrqponmlihgfedcbaZVUSQP
Π angegliedert.
170
Zum Aufbau des Quai d'Orsay siehe Jean BAILLOU (Hg.), Les affaires itrangferes et le
corps diplomatique fran5ais. Histoire de radministration franchise, Bd. 2: 1870-1980, Paris
1984, S. 385-387.
171
Die zeitweise »Verbannung« Berthelots vom 30.12.1921 bis 2.4.1925 aus dem Secritariat
gendral war Folge von Gerüchten, Berthelot sei in den Skandal um die finanziell angeschlagene Banque industrielle de Chine, deren Präsident sein Bruder Andr6 war, verwickelt. Poincare nahm die Affäre zum Anlaß, den ihm ungenehmen Berthelot zu entfernen. Zu dieser
Affäre: BARRE, Berthelot, S. 363-379, JEANNENEY, L'argent cachi, S. 118-168, und Richard D. CHALLENER, The French Foreign Office. The Era of Philippe Berthelot, in: Gordon
A. CRAIG, Felix GILBERT (Hg.), The Diplomats 1919-1939, Princeton 1953 (Nachdruck
2.2. Die Reform der auswärtigen Dienste
59
ippe Berthelot besetzt war. Dem Minister stand als sein persönlicher Stab von
Beratern das Cabinet zur Seite, das, obwohl technisch unabhängig von der
eigentlichen Ministerialbürokratie172, großen Einfluß auf die Gestaltung der
Außenpolitik hatte173.
Als Zwischenstufe zwischen der Leitung des Quai d'Orsay und den einzelnen Abteilungen stand die Direction des affaires politiques et commerciales,
die in unserem Untersuchungszeitraum von verschiedenen Männern geleitet
wurde174. Analog zu den einzelnen Abteilungen des AA war die Direction des
affaires politiques et commerciales in fünf sous-directions (S.D.) unterteilt,
von denen vier nach geographischen Gesichtpunkten gegliedert waren (S.D.
d'Asie et d'Oceanie, S.D. d'Europe, S.D. d'Afrique und S.D. d'Amerique).
Die fünfte, die S.D. des relations commerciales, war für Wirtschafts- und
Handelsfragen zuständig. Den für diese Untersuchung wichtigsten sousdirections standen in den Jahren 1924 bis 1929 de Lacroix, Corbin und Lefebvre de Laboulaye (S.D. d'Europe) sowie Jacques Seydoux und Robert Coulondre (S.D. des relations commerciales) vor175. Direkt dem Minister bzw.
seinem Cabinet und dem Secretaire general waren weitere bureaux, services
und sous-directions unterstellt. Die bureaux hatten dabei meist technische
Aufgaben, wie das bureau du depart et de l'arrivee, das für die Korrespondenz
zuständig war. Services konnten sowohl technische als auch politischadministrative Aufgaben haben. Zur ersten Gruppe zählte beispielsweise der
Service telegraphique et telephonique, zur zweiten der Service des reparations
1994), S. 49-85, S. 70f. Zur Person Andre Berthelots siehe Daniel LANGLOIS-BERTHELOT,
Marcelin Berthelot. Un savant engage, Paris 2000, S. 301-316.
172
Zur Rolle des Cabinet du Ministre siehe CHALLENER, Era, S. 59 und BAILLOU, Affaires
etrangeres, S. 378f.
173
Der Einfluß ergab sich zum einen aus dem täglichen persönlichen Kontakt mit dem Minister, zum anderen aber auch daraus, daß der Chef du cabinet innerhalb der Ministerialbürokratie eine hohe Stellung einnehmen konnte; so war Alexis L6ger in seiner Zeit als Chef du
cabinet (1925-1932) zunächst Leiter der sous-direction d'Asie et d'Oceanie (31.10.192510.12.1927), später directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales (10.12.192710.12.1929) und anschließend directeur des affaires politiques et commerciales,
(10.12.1929-28.2.1932). Allerdings wurden auch Nicht-Diplomaten als Chef du Cabinet in
den Quai d'Orsay geholt, wie etwa Gaston Bergery von Edouard Herriot, der vom
15.6.1924-10.4.1925 Ministerpräsident und Außenminister war, siehe BAILLOU, Affaires
dtrangeres, S. 378f.
174
Nämlich vom 31.8.1920-24.10.1924 von Emmanuel Perretti de la Rocca, vom
24.10.1924-31.12.1925 von Jules Laroche, vom 31.12.1926-28.11.1927 von Maurice Delarüe Caron de Beaumarchais, vom 31.12.1926-3.9.1927 von Charles Corbin vom 3.9.192710.12.1929 und vom 10.12.1929-28.2.1933 von Alexis L6ger. Vgl. Annuaire diplomatique
et consulaire de la Ripublique Franfaise pour 1923. hg. v. Ministere des affaires etrangeres,
Nouvelle Serie - Tome XXXVI Soixante et unieme annee, Paris 1923 und die folgenden
Jahrgänge.
175
Jacques Seydoux war sous-directeur des relations commerciales vom 28.5.191931.12.1926, Robert Coulondre anschließend bis 1933, siehe Annuaire diplomatique, 19231933.
60
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
et de la Ruhr176 unter Leitung von Pierre Arnal, oder die Völkerbundsabteilung
im französischen Außenministerium, der Service franfais de la Societe des
Nations, der sukzessive von Jean Gout, Bertrand Clauzel und Rene Massigli
geleitet wurde177. Diesem Service war auch das Generalsekretariat der Botschafterkonferenz angegliedert178. Die französische auswärtige Kulturpolitik
wurde vom Service des oeuvres franfais ä l'etranger gefuhrt179. Die beiden
anderen sous-directions, die direkt der Führung des Quai d'Orsay verantwortlich waren, hatten technische Bedeutung und sind im Zusammenhang mit dieser Arbeit nicht von Interesse180. Anders als in Deutschland hatte das französische Außenministerium aber eine eigene Presseabteilung (Service de la presse
et de l'information), die direkt dem Cabinet du Ministre unterstellt war181.
Natürlich waren die administrativen Reformen nicht nur das Ergebnis des
Krieges und des Versailler Vertrags. In Deutschland war bereits vor dem
Krieg mehrfach Unmut über die Inhalte und die Organisation der Außenpolitik
geäußert worden. Die Bevorzugung des Adels, die Vernachlässigung wirtschaftlicher Belange, die fehlende parlamentarische Kontrolle, Ineffizienz und
die Interventionen des Kaisers waren dabei die Hauptkritikpunkte gewesen182.
Während des Krieges, als das AA rapide an Bedeutung verlor und durch die
sogenannte Luxburg-Affäre183 diskreditiert wurde, mehrten sich die Forderungen nach umfassenden Reformen, besonders aus den Kreisen des Handels und
der exportorientierten Industrie184. Auch die 1917 im Rahmen der Mobilisierung der Kriegswirtschaft erfolgte Gründung des Reichswirtschaftsamtes185,
176
Ab 1925 nur noch service des reparations, siehe BAILLOU, Affaires etrangeres, S. 386.
Zum Service franfais de la Soci£t6 des Nations siehe ibid. S. 387. Zur Person Massigiis
und seiner Haltung gegenüber Deutschland vgl. Raphaelle ULRICH, Rene Massigli and Germany, 1919-1938, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940.
The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 132-148.
178
Siehe BAILLOU, AffaireszxvutsronmlihgfedcbaSKED
έ ί ^ έ τ β β , S. 387f.
179
Siehe ibid. S. 393, 451f.
180
Es handelte sich dabei um die S.D. des affaires administratives et des unions internationa
les und die S.D. des chancelleries et du contentieux, zu Einzelheiten vgl. ibid. S. 398401.
181
Siehe ibid. S. 379, 391f.
182
Kurt Doss, Das deutsche Auswärtige Amt im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer
Republik. Die Schülersche Reform, Düsseldorf 1977, S. 147f., 153f. Siehe auch LAUREN,
Bureaucrats, S. 55-68.
183
Die sogenannte Luxburg-Affäre wurde ausgelöst durch ein von den Alliierten abgefangenes Telegramm des deutsche Gesandten in Buenos Aires, Karl Graf von Luxburg, in dem
dieser gefordert hatte, neutrale Schiffe möglichst »spurlos« zu versenken, um internationale
Verwicklungen zu vermeiden, und obendrein noch den argentinischen Außenminister beleidigt hatte. Ausführlich: DOSS, Schülersche Reform, S. 21-48.
184
Zu Einzelheiten vgl. ibid. S. 92-118.
185
Das Reichswirtschaftsamt, Vorläufer des Reichswirtschaftsministeriums, ging aus einigen
Abteilungen des Reichsamts des Innern und einigen Behörden, die im Rahmen der Kriegswirtschaft erreichtet worden waren, hervor. Es nahm am 1.9.1917 seine Tätigkeit auf, am
21.10.1917 erfolgte durch Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt die formale Errichtung der
Behörde, siehe Walther HUBATSCH, Entstehung und Entwicklung des Reichswirtschaftsmi177
2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste
61
das bald auch die Außenwirtschaftspolitik für sich beanspruchte, schärfte bei
den Verantwortlichen im AA die Wahrnehmung für notwendige Reformen,
weil man sich nun unliebsamer Konkurrenz im Bereich der Handelspolitik
ausgesetzt sah186. Den wichtigsten Katalysator für die Reformen im AA stellten jedoch der Ausgang des Krieges und die Novemberrevolution dar187.
In Frankreich, wo das politische System überlebte, besaß der Reformprozeß
eine größere Kontinuität und dauerte über einen längeren Zeitraum an188. Allerdings war auch dort bereits vor dem Krieg Kritik an der mangelnden Innovationsbereitschaft laut geworden189. Wenn man als Anfangspunkt der Reformen im Quai d'Orsay die Einführung des Regionalprinzips betrachtet (die
Einfuhrung dieser Aufteilung wurde zu einem der Kernpunkte der sogenannten Schülerschen Reform), so begannen sie bereits 1907190 und waren erst gegen 1920 abgeschlossen, wenn die offizielle Einführung des Postens des Secretaire general als Endpunkt des Reformprozesses angesehen wird191. In
Deutschland hingegen konzentrierten sich die Reformen weitestgehend auf
den Zeitraum zwischen Mai 1918 und Juni 1921192. Natürlich ist diese zeitliche Begrenzung der Reformprozesse etwas willkürlich, denn in komplexen
Organisationen wie Ministerien finden ständig Anpassungen und Umstrukturierungen statt, die die Abgrenzung zur »Reform« im umfassenden Sinne
schwierig machen193.
Trotz vieler Unterschiede im Detail und der konkreten Umsetzung gab es
viele Parallelen zwischen den Reformen im Quai d'Orsay und im AA. Zum
einen ist dabei der gesteigerte Einfluß der Öffentlichkeit und der öffentlichen
Meinung auf die Außenpolitik zu nennen. Dies galt vor allem für Deutschland,
denn dort wurde die Außenpolitik nach der Oktoberverfassung und der Revolution erstmals dem Parlament verantwortlich, und es wurde ein Reichstags-
nisteriums 1880-1933. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Reichsministerien, Darstellung und Dokumentation, Berlin o.J., S. 18f.
186
Vgl. DOSS, Schülersche Reform, S. 145, 169-172.
187
Siehe ibid. S. 200.
188
Zusammenfassend siehe Maurice VAlSSE, L'adaption du Quai d'Orsay aux nouvelles
conditions diplomatiques (1919-1929), Revue d'histoire moderne et contemporaine,
ΧΧΧΠ/1 (1985), S. 145162.
189
Vgl. LAUREN, Bureaucrats, S. 4455.
190
Siehe BAILLOU, Affaires etrangeres, S. 383.
191
Siehe CHALLENER, Era, S. 50. Allerdings wurde bereits am 1.10.1915 Titel und Funktion
des Secrdtaire g6neral eingeführt, die Position jedoch erst 1920 geschaffen und definiert,
siehe VAISSE, adaption, S. 147. Die Reformen werden detailliert dargestellt in LAUREN, Bur e a u c r a t s , S. 8 0 - 1 1 7 .
192
In dieser Zeit war Edmund Schüler für die Reformen zuständig, die seinen Namen tragen,
siehe Doss, Schülersche Reform, S. 162; LAUREN, Bureaucrats, S. 118-153.
193
Beispielsweise wurde die Stelle des zweiten, für Wirtschaftsfragen zuständigen Staatssekretärs im AA 1922, nach dem Ausscheiden Schülers, abgeschafft, da sie sich nicht bewährt
hatte, vgl. Doss, Schülersche Reform, S. 226-228.
wutsronmlk
62
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
ausschuß für auswärtige Politik eingerichtet194. In geringerem Umfange galt
dies aber auch in Frankreich, wobei allerdings festzuhalten bleibt, daß »neither
the Chamber or the Senate Committees on Foreign Affaires emerged as the
masters of the Quai d'Orsay«195 und daß der Spielraum der französischen Diplomatie groß blieb196. Allerdings dürfte fur beide Länder gelten, daß das gesellschaftliche Interesse an außenpolitischen Fragen nach dem Krieg und dem
Friedensschluß zugenommen haben dürfte. Entsprechend dieser wichtigeren
Rolle der Öffentlichkeit gewann die Informationspolitik an Bedeutung. Die
»Vereinigte Pressestelle der Reichsregierung und des AA« wurde bereits angesprochen. Im Quai d'Orsay wurde ebenfalls eine Presseabteilung eingerichtet, nämlich der Service de la Presse et de l'information, der am
2. September 1920 gegründet wurde und aus der 1916 auf Initiative Berihelots
gegründeten Maison de la Presse hervorgegangen war197.
In beiden Ländern wurde auch auf die erweiterten Anforderungen reagiert,
die an die Außenpolitik gestellt wurden. Für beide Länder galt, daß neue Aufgaben, die bisher nicht oder nur peripher im Bereich der Diplomatie lagen, zu
lösen waren.
Eine dieser Neuerungen war die Einfuhrung der multilateralen Diplomatie
durch den Völkerbund, die die klassische bilaterale Diplomatie ersetzte oder
ergänzte. Dementsprechend wurden im AA und dem Quai d'Orsay Spezialabteilungen geschaffen, die sich mit Fragen des Völkerbunds befaßten: das Völkerbundreferat bzw. der Service fran^ais de la Societe des Nations198. Als weiteres wichtiges kollektives Entscheidungsgremium auf internationaler Ebene
sind sicherlich auch die Botschafterkonferenz anzusprechen und andere Organisationen, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des Versailler Vertrags
standen, wie die Hohe interalliierte Kommission für die besetzten Gebiete im
Rheinland (H.C.I.T.R.) oder die verschiedenen interalliierten Militärkontrollkommissionen (IMKK). Sinnigerweise war dem Service franfais de la S.D.N.
auch das Sekretariat für die Botschafterkonferenz angegliedert.
Für die Außenpolitik beider Länder spielten auch wirtschaftliche Fragestellungen eine zunehmend wichtigere Rolle199, denn die Folgen des Krieges waren ökonomisch ebenso einschneidend wie politisch. Als Folge dieser neuen
wirtschaftlichen Anforderungen wurden in den auswärtigen Diensten wieder194
Peter KRÜGER, Struktur, Organisation und außenpolitische Wirkungsmöglichkeiten der
leitenden Beamten des Auswärtigen Dienstes 1921-1933, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Das
diplomatische Korps 1871-1945, Boppard 1985 (Bündinger Forschungen zur Sozialgeschichte,ywvutsronmlihgfedcbaUSRPONMLIHFECBA
1φ, S. 101169, hier S. 139f.
195
196
CHALLENER, Era, S. 57.
Siehe ibid. S. 58.
Siehe BAILLOU, Affaires 6trang6res, S. 379.
198
Siehe ibid. S. 387, 502f.
199
»Prior to the twentieth century, Ministries of Foreign Affairs has relatively little involve
ment with commercial matters«, LAUREN, Bureaucrats, S. 154.
197
2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste
63
um Spezialeinheiten eingerichtet: Deutschland schuf das schon genannte Son
derreferat f٧r wirtschaftliche Fragen. Außerdem wurde die Stelle eines Staatssekretärs für Wirtschaft eingeführt, die sich jedoch nicht bewährte200. In
Frankreich wurde am 1. Mai 1919 die sous-direction des relations commerciales gegründet201, die durch andere offizielle und halboffizielle Stellen zur französischen Außenhandelsförderung, wie z.B. den Office national du commerce
exterieur ergänzt wurde202. Auch die Aufhebung der Trennung zwischen diplomatischem und konsularischem Dienst und die Einführung des Regionalprinzips, wodurch nun wirtschaftliche und politische Angelegenheiten gleichermaßen bearbeitet wurden, kann als Aufwertung wirtschaftlicher Belange
gesehen werden203. Nicht immer allerdings wurden die Reformen gleich vollständig umgesetzt. Jacques Seydoux forderte die Schaffung des Postens des
attache financier bei den großen Botschaften204, und die Handelsattaches, deren Position bereits 1908 geschaffen worden war, wurden erst in den 1930er
Jahren zur wichtigen Einflußgröße der französischen Diplomatie205.
Kulturelle Belange wurden ebenfalls als neues Feld außenpolitischer Betätigung entdeckt. Zwar hatte es in beiden Ländern bereits vor dem Krieg Ansätze
zu einer auswärtigen Kulturpolitik gegeben, wobei besonders Frankreich mit
seinen zahlreichen staatlichen und halbstaatlichen Organisationen als Vorreiter
und Vorbild kulturellen Engagements im Ausland gegolten hatte. In diesem
Zusammenhang spielte die 1883 gegründete Alliance franfaise eine wichtige
Rolle und der bureau des travaux speciaux, aus dem am 15. Januar 1920 die
eigentliche Kulturabteilung des Quai d'Orsay, der Service des ceuvres franfaises ä l'etranger, hervorging. In Deutschland, wo Kulturpolitik auch in der Kaiser- und Weimarer Zeit vor allem Ländersache war, blieben die Ansätze sehr
viel bescheidener: Zwar wurde im AA 1906 ein für die deutschen Auslandsschulen zuständiges Schulreferat gegründet, doch war dieses insgesamt wenig
bedeutsam206. Erst mit einem Erlaß Brockdorff-Rantzaus vom 24. April 1919
200
Siehe Doss, Schülersche Reform, S. 170.
Siehe Pierre Foumie im Vorwort des Inventars der Serie Relations Commerciales, S. ΙΠ,
unveröffentlichtes Manuskript.
202
Siehe G. de TARDE, Die französischen Dienststellen zur Ausdehnung des Handels - das
Auswärtige Handelsamt, in: O.V., Les grands vins de Francc, Sondernummer von »La vie
Technique et Industrielle«, Paris [?] 1928, Fundort: BArch R 3101, 2644. Eine umfassende
Darstellung der staatlichen französischen Außenhandelsforderung findet sich auch in: Aufzeichnung Hoffmann [?] (28.1.1929), BArch R 3101, 2645 u. Aufzeichnung Hoffmann [?]
(1.2.1929), BArch R 3101, 2645.
203
Siehe DOSS, Schülersche Reform, S. 214, 216.
204
Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37.
205
Siehe Laurence BADEL, Les acteurs de la diplomatie economique de la France au XX®
siecle: les mutations du corps des attach6s commerciaux (1919-1950), in: Relations internationales 114(2003), S. 189-211,hier S. 189f.
206
Siehe Doss, Schülersche Reform, S. 60, 68.
201
64
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
wurde das Schul faktisch zum Kulturreferat207. In beiden Lδndern litt die
auswδrtige Kulturpolitik jedoch an der Krise der φffentlichen Finanzen208.
In gewissem Sinne ist die gewachsenen Bedeutung der auswδrtigen Kultur
politik auch als Ergδnzung des verstδrkten φffentlichen Interesses an der Au
ßenpolitik zu sehen, wobei hier die Wirkung weniger auf die heimische Öffentlichkeit abzielte als auf die des Auslandes. In Frankreich entsprang die
auswärtige Kulturpolitik dem Sendungsbewußtsein in Sachen Kultur und der
Verbreitung eines universalen Fortschrittsgedankens, der bis auf die Französische Revolution zurückging209. Die Bedeutung, die man dort der Kulturpolitik
zumaß, wurde nicht zuletzt daran deutlich, daß Frankreich das 1922 gegründete und dem Völkerbund angegliederte Institut international de cooperation intellectuelle - der Vorläufer der UNESCO - mit Sitz in Paris zum großen Teil
finanzierte210. In Deutschland hingegen war die Motivation für auswärtige
Kulturpolitik sehr viel bodenständiger: Nach der weitgehenden politischen und
militärischen Entmachtung des Reiches wurde sie als neuer Aufgabenbereich
entdeckt, der den Einfluß Deutschlands in der Welt wieder stärken sollte. Weil
außerdem infolge der Kriegsniederlage und der Propagandaschlachten während des Krieges das Image Deutschlands im Ausland denkbar schlecht war,
wurde auch die Verbesserung des Deutschlandbildes zu einer wichtigen Aufgabe der Außenpolitik211. Die Entstehung großer deutscher Minderheiten vor
allem in den Ländern Osteuropas und des östlichen Mitteleuropas als Folge
des Versailler Vertrags und des Zusammenbruchs der Donau-Monarchie spielten eine weitere wichtige Rolle für das stärkere kulturelle Engagement des AA
im Ausland212.
Unmittelbar nach dem Krieg war die auswärtige Kulturpolitik, oder vielmehr die auswärtige Kulturpropaganda, explizit auch gegen das jeweils andere
Land gerichtet. So stellte der Senator Henri de Jouvenel in einer Parlamentsdebatte über die deutsche Kulturpolitik fest: »>die Mittel der deutschen Propaganda sind Lüge, Verleumdung und Bestechung, ihr Ziel ist Revanche[<]. Für
Jouvenel ist die deutsche Propaganda nicht bloss [sie] eine zur Vorbereitung
der Revanche geschmiedete Waffe, sie bildet ein wahres Attentat gegen den
Menschengeist, sie ist kein Teil der Aussenpolitik [sie], sie ist die Aussenpoli-
207
Siehe ibid. S. 82. In den folgenden Jahren fanden noch diverse Umorganisationen statt, zu
Einzelheiten: vgl. ibid. S. 82-95.
208
Für Frankreich BAILLOU, Affaires e t o u ^ r e s , S. 393; für Deutschland Kurt DÜWELL,
Deutschlands auswärtige Kulturpolitik 1918-1932. Grundlinien und Dokumente, Köln, Wien
1976, S. 237, 250.
209
Siehe Jean-Francis de RAYMOND, L'action culturelle exterieure de la France, Paris 2000,
S. 18.
210
Siehe DÜWELL, Kulturpolitik, S. 44.
211
Siehe ibid. S. 32.
212
Siehe ibid. S. 103. Zur Organisation der Deutschtumspflege vgl. ibid. S. 105-117.
2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste
65
tik Deutschlands selbst213«. In den besetzten Gebieten Deutschlands westlich
des Rheins diente die franzφsische Kulturpolitik aber auch dazu, »que les re
gions occupees ne fussent gagnees par la contagion de 1'esprit de revanche,
trop souvent entretenu et encourage dans d'autres provinces d'Allemagne«214.
Sie sollte dazu dienen, nachdem Deutschland 1918 formal Republik geworden
war, nun auch tatsδchlich den demokratischen Geist in die deutsche Gesell
schaft einzupflanzen, wie dies unter anderem Foch forderte:
[I]l ne suffira, sans doute, de changer la forme du Gouvernement allemand [...] C'est seule
ment du redressement des esprits ramends par la difaite, puis par la libre discussion,xutsrponligedcaJD
έ des
notions plus exactes du Droit et de la Justice, c'est de leur participation large au contrφle du
Pouvoir executif, que pourra sortir un fonctionnement democratique des institutions
d'apparence r6publicaine qui auraient, sans cela, toute la puissance d'un pouvoir absolu.
Nous ne verrons se produire une pareille evolution qu'avec le temps, beaucoup de temps
sans doute215.
Die Linke um Briand, Blum oder Herriot hofften, durch die aktive Fφrderung
der demokratischen Parteien und Institutionen in Deutschland, die Sicherheit
Frankreichs zu erhφhen216. Dies sollte dadurch geschehen, daß Deutschland
begrenzte Zugeständnisse gemacht wurden und die demokratischen Parteien
sich diesen Erfolg auf die Fahne schreiben konnten217. Allerdings sollte die
Substanz des Versailler Vertrags dadurch nicht angetastet werden, im Gegenteil, durch die »Humanisierung«218 des Versailler Vertrags sollte Deutschland
dazu gebracht werden, den Friedensvertrag endgültig zu akzeptieren, womit
dem deutschen Revisionismus der Boden entzogen werden sollte219.
Eine weitere Neuerung der außenpolitischen Entscheidungsprozesse war die
zunehmende Zusammenfassung außenpolitischer Entscheidung in den Zentralen220. Dies dürfte einerseits Ergebnis technischer Neuerungen gewesen sein,
die Informationen schneller in den Hauptstädten verfugbar machten. Andererseits erforderten die zunehmende Ausweitung der Aufgaben der auswärtigen
Politik und die daraus folgende administrative Diversifizierung einen höheren
213
Botschaft Paris an AA (ohne Datum und Unterschrift, ca. 9.7.1923), BArch R 3101,
14553, siehe auch DÜWELL, Kulturpolitik, S. 242.
214
Paul TlRARD, La France sur le Rhin. Douze anndes d'occupation rhdnane, Paris 1930,
S. 259.
215
Aufzeichnung Foch an die Bevollmächtigen der Mächte (10.10.1919), in: Documents
diplomatiques. Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations concemant
les garanties de securit6 contre une agression de l'Allemagne (10 janvier 1919-7 ddcembre
1923), hg. v. Ministäre des affaires 6trang£res, Paris 1924, Nr. 1.
216
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 18.
217
Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 155.
218
Vincent J. PITTS, France and the German Problem. Politics and Economics in the Locarno
Period, 1924-1929, New York 1987 (Diss. Cambridge 1975), S. 335.
219
Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 153.
220
Siehe KRÜGER, Struktur, S. 115 (AA); CHALLENER, Era, S. 63f. (Quai d'Orsay).
66
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Koordinationsbedarf durch die Zentralen. Auch inhaltlich spiegelte sich dieser
hφhere Koordinationsbedarf wieder: War die klassische Diplomatie vor allem
bilateral ausgerichtet, mußten mit der Zunahme multilateraler Probleme, z.B.
im Rahmen des Völkerbunds, viel mehr außenpolitische Akteure sinnvoll miteinander in Bezug gesetzt werden als noch vor dem Ersten Weltkrieg.
Nach diesem kurzen Rundumblick über den institutionellen Rahmen und die
Anpassung der Außenpolitik in Deutschland und Frankreich soll noch einmal
auf die Ausgangsfrage nach der Effizienz des außenpolitischen Prozesses zurück gekommen werden. Diese Frage ist natürlich kaum zufriedenstellend zu
beantworten, ja die Frage nach der Effizienz staatlichen Handelns wirft Probleme auf, mit der sich ganze Wissenschaftszweige befassen221. Notwendigerweise werden die Antworten darauf deshalb auch eher impressionistisch
ausfallen und gelten nur für den Bereich der Außenpolitik.
Adamthwaite sieht einen (wenn nicht den) ausschlaggebenden Grund für die
Malaise der französische Außenpolitik und letztlich den Untergang der Dritten
Republik im Strudel von Kriegsniederlage und deutscher Besetzung 1940 in
den Mängeln des französischen Regierungssystems222. Er greift dabei vor allem auf eine Untersuchung Sharps223 vom Anfang der 1930er Jahre zurück.
Aus mehreren Gründen scheint diese Ansicht, zumindest was den Untersuchungszeitraum dieser Studie betrifft, unzutreffend zu sein. Zum einen stellt
Sharp selbst fest, daß der Quai d'Orsay indem allgemeinen bürokratischen
Wirrwarr der Dritten Republik relativ gut organisiert war224. Auch der Einwand Challeners, der Quai d'Orsay habe auf die neuen Herausforderungen, die
sich aus der Völkerbundsdiplomatie und den zunehmend wirtschaftlichen Fragestellungen in der Außenpolitik ergaben, nur halbherzig reagiert225, ist meines Erachtens nur bedingt haltbar. Viele organisatorische Änderungen, die zur
stärkeren Berücksichtigung wirtschaftlicher Fragestellungen führten, sind im
221
Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von LAUREN, Bureaucrats, S. 228-234.
Eine weitere Erklärung der Kriegniederlage Frankreichs, die durchaus in die Logik
Adamthwaites paßt, ist die der »blockierten Gesellschaft«, die davon ausgeht, daß es Frankreich aufgrund seiner mangelnden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik nicht
gelang, »optimal seine Ressourcen und seinen außenpolitischen Handlungsspielraum zur
Wahrung seiner Sicherheitsinteressen« zu nutzen (Roland HÖHNE, Die politische Blockierung der Modernisierung im Frankreich der Zwischenkriegszeit, in: Hartmut ELSENHANS
u.a. (Hg.), Frankreich - Europa - Weltpolitik. [Festschrift Gilbert Ziebura], Opladen 1989,
S. 50-60, hier S. 50). Wie aus diesem Abschnitt hervorgeht, halte ich diese These zumindest
für die 1920er Jahre für nicht ganz tragföhig. Zur Relativierung des Ansatzes der »soci£t6
bloquie« vgl. Ingo KOLBOOM, Wie modern war die Dritte Republik? Von der »Zerstörung
der republikanischen Synthese« zur Revision der »blockierten Gesellschaft«, in: Hartmut
ELSENHANS u.a. (Hg.), Frankreich - Europa - Weltpolitik. (Festschrift Gilbert Ziebura),
Opladen 1989, S. 61-72, hier S. 63-65.
223
Walter Rice SHARP, The French Civil Service: Bureaucracy in Transition, New York
1931 (Nachdruck von 1971).
224
Siehe ibid. S. 334.
222
225
CHALLENER, Era, S. 62.
2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste
67
Gegenteil in Frankreich viel fr٧her umgesetzt worden als in Deutschland, wie
die Einfuhrung des Regionalprinzips und damit die Verschmelzung konsulari
scher und diplomatischer Aufgaben. Bereits im Mai 1919 wurde, wie schon
angesprochen, eine eigene sousdirection f٧r wirtschaftliche Aufgaben ge
schaffen, die in Jacques Seydoux nicht nur einen äußerst kundigen, sondern
auch einen einflußreichen Diplomaten als Leiter hatte (am Ende seiner Laufbahn war Seydoux immerhin directeur-adjoint des affaires politiques et commerciales)226. Die Vernachlässigung des Völkerbunds und der multilateralen
Diplomatie durch den Quai d'Orsay erscheint ebenfalls nicht sehr stichhaltig:
Auch hier reagierte man schnell mit der Errichtung einer eigenen Fachabteilung, die zudem personell gut ausgestattet war227. Die Verknüpfung der Völkerbundsabteilung mit dem französischen Sekretariat der Botschafterkonferenz und die Leitung durch Rene Massigli (dem späteren Secretaire general
des Quai d'Orsay), der als französischer Delegierter an vielen wichtigen Konferenzen teilnahm, lassen eine enge Verzahnung der »neuen« multilateralen
mit der »klassischen« Diplomatie erkennen228. Auch die Rolle, die die französische Diplomatie dem Völkerbund inhaltlich beispielsweise mit dem Genfer
Protokoll oder dem briandschen Europaplan zuwies, lassen keinesfalls auf eine
Unterschätzung dieses neuen Instruments der internationalen Politik schließen.
Personelle Faktoren sprechen außerdem dafür, daß die französische Außenpolitik zumindest eher besser denn schlechter organisiert war. Im Gegensatz zur
hohen Fluktuation in anderen Ministerien229 herrschte im Quai d'Orsay, was
die Ministerposten betrifft, eine außergewöhnlich hohe Kontinuität: Bis auf
das Zwischenspiel Herriots und des nur sechs Tage amtierenden Lefebvre du
Prey230 wurde der Quai d'Orsay in den 1920er Jahren von Poincare und Briand
geleitet. Zudem galt das Verhältnis zwischen Briand und Berthelot, zwischen
Minister und oberstem Diplomaten, als vertrauensvoll und gut231. Die perso226
»>Involved with all the great questions posed since the War<, Seydoux had enormous
influence over French diplomacy and policymaking«, JORDAN, Reorientation, S. 868.
227
Erst in den 1930er Jahren, mit dem Bedeutungsverlust des Völkerbunds, geht auch die
personelle Ausstattung des service zurück, siehe BAILLOU, Affaires 6trangferes, S. 386-388.
Frankreich war das einzige Land, das während der ganzen Zwischenkriegszeit in seinem
Außenministerium eine selbständige Völkerbundsabteilung unterhielt, HAMILTON, Practice
of Diplomacy, S. 161.
228
So war Massigli Delegierter auf der Haager Konferenz, vgl. Annuaire diplomatique 1934,
S. 322-323. Zur Rolle Massigiis in der Botschafterkonferenz siehe ULRICH, Massigli,
S. 134f.
229
Vgl. Bertold SPULER, Regenten und Regierungen der Welt (Minister Ploetz), Teil II
Bd. 4: Neueste Zeit 1917/18-1964, Würzburg 21964, S. 186-191.
230
Edmond Leftbvre du Prey war Außenminister vom 8.-13.6.1924 im Kabinett Fran<;oisMarsal, das nach dem Wahlsieg des Linkskartells und vor dem Zusammentritt des neuen
Parlaments und den Rücktritten Poincaris und Millerands die Amtgeschäfte wahrnahm, siehe ibid. S. 187.
231
Siehe CHALLENER, Era, S. 78f.
68
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
nelle Kontinuitδt bei den Diplomaten war hoch (wenn auch die einzelnen Po
sten in der Zentrale φfter umbesetzt zu werden schienen als beispielsweise in
Deutschland), und die Ausbildung fast alle Diplomaten waren Absolventen
der Ecole libre des sciences politiques galt als ausgezeichnet, auch wenn sie
zum Teil theorielastig und zu wenig wirtschaftsorientiert war232. Erst Anfang
der 1930er Jahre wurde die franzφsische Diplomatie zunehmend unbeweg
licher und der Quai d'Orsay geriet in die Krise233.
Kr٧ger stellt fest, daß sich das AA den neuen Erfordernissen der Außenpolitik nach einigen Anpassungsschwierigkeiten im Anschluß an die
Schülersche Reform im großen und ganzen gut angepaßt habe234. Darüber
hinaus wird die Frage der organisatorischen Effizienz eigentlich kaum erörtert,
auch wenn für Deutschland die Frage zu stellen wäre, wie effizient - bei aller
Problematik des Begriffes - eine Außenpolitik sein kann bei instabilen
Regierungen, prekären Mehrheitsverhältnissen im Parlament und einem
fehlenden außenpolitischen Konsens in der Öffentlichkeit, zumal auch
»[persönliche Feindschaften [...] in den höheren Rängen des Auswärtigen
Amtes nicht unbekannt«235 waren.
Für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit kann deshalb davon ausgegangen werden, daß Effizienzprobleme, verstanden als unzureichende
organisatorische, personelle und konzeptionelle Ausstattung der auswärtigen
Dienste beider Länder, kein Faktor waren, der die Außenpolitik nachhaltig
belastete. Im Gegenteil »[t]he reforms and innovations instituted for the Quai
d'Orsay and the Wilhelmstrasse demonstrated an ability to respond creatively
to the rigorous demands of twentieth-century diplomacy«236. Daß große
Organisationen natürlich immer Reibungsverluste im Innern und mit der
Umwelt haben, soll dabei ebenso wenig vergessen werden wie die Tatsachen,
daß die Reformen oftmals auf Widerstände in den Ministerien trafen und viele
Herausforderungen an die damalige Diplomatie neu waren und der Umgang
damit erst gelernt werden mußte237.
232
Siehe GlRAULT, Europe, S. 105. Jeanneney stellt fest, daß sich die Ausbildung in wirtschaftlicher Hinsicht an der Ecole hauptsächlich auf die liberale Wirtschaftstheorie und die
Ablehnung des Staatsinterventionismus beschränkte, siehe Jean-Nogl JEANNENEY, Pr6face,
in: Richard F. KuiSEL, Le capitalisme et l'Etat en France. Modernisation et dirigisme au
XX* siecle, Paris 1984, S. 7-15, hier S. 8. Zur Ausbildung speziell der Botschafter siehe
Jean-Claude ALLAIN, Les ambassadeurs fran?ais en poste de 1900-1939, in: Rainer HUDEMANN, Georges Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20.
Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 265-279, hier S. 273f.
233
Siehe V A I S S E , adaption, S. 1 5 4 1 6 2 .
234
Siehe K R ٢ G E R , Struktur, S. 155; BAECHLER, Stresemann, S. 472.
235
POST, Diplomatie, S. 262. Dies betraf besonders die Konkurrenz zwischen Anhängern der
West- und Ostpolitik, siehe ibid. S. 262-264.
236
L A U R E N , Bureaucrats, S . 2 0 8 .
237
Siehe ibid. S. 209-221.
2.2. Die Reform der auswδrtigen Dienste
69
Die Interpretation der vermeintlichen Ineffizienz des Quai d'Orsay scheint
mir dabei vor allem auf drei Faktoren zu beruhen: Erstens wird die Zwischen
kriegszeit in Frankreich zu sehr als eine in sich geschlossene Periode gesehen,
in der die Defizite des Friedensschlusses von 1918/19 direkt zur Niederlage
des Jahres 1940 f٧hrten. Dies war jedoch nicht der Fall, denn wie in Deutsch
land zeigte sich auch in Frankreich erst wδhrend der Weltwirtschaftskrise eine
innen und außenpolitische Erosion, die für den Zeitraum bis 1929 nicht gegeben war. Außerdem wurde zweitens die vermeintliche oder tatsächliche Ineffizienz anderer französischer Behörden recht undifferenziert auf den Quai
d'Orsay übertragen, obwohl das französische Außenministerium in vielerlei
Hinsicht besser organisiert war als andere Ministerien238. Drittens hatte die
französische Außenpolitik während des Untersuchungszeitraumes mit einer
viel komplexeren Problemstellung zu kämpfen als die deutsche. Während es in
Deutschland vor allem um Revision ging, wobei Frankreich als das größte
Hindernis dieses Revisionsverlangens identifiziert wurde, war die französische
Lage komplexer: Zwar war das Ziel der französischen Außenpolitik fur den
Untersuchungszeitraum klar definiert, nämlich Sicherheit, vor allem (aber
nicht nur) vor Deutschland. Die praktische Umsetzung jedoch war sehr
schwierig, weil verschiedene, sich zum Teil ausschließende Politikentwürfe
miteinander konkurrierten. Allein die Behandlung des ehemaligen Kriegsgegners war problematisch: Sollte er mit Macht niedergehalten werden oder
sollte im Gegenteil durch Annäherung eine Befriedung erreicht werden?
Durch das Verhalten der ehemaligen und momentanen Verbündeten wurde die
Lage weiter kompliziert. Die Kleine Entente war militärisch schwach, untereinander zerstritten und deshalb nur bedingt brauchbar. Großbritannien zauderte, den eigenen Vorteil im Auge behaltend, und blieb ein bestenfalls halbherziger Verbündeter, der das Sicherheitsbestreben Frankreichs nicht oder
mißverstand, aber dennoch nicht verprellt werden durfte, denn ein schlechter
Verbündeter war schließlich besser als gar keiner. Schließlich war die Rolle
der USA problematisch, die als politischer Faktor zwar weitgehend ausgeschieden, aber aufgrund ihrer zentralen wirtschaftlichen Rolle stets präsent
waren. Auch hier galt es fur Frankreich, die eigenen Interessen zu wahren und
dabei die USA als wichtigen Kreditgeber und potentiellen Verbündeten zu
erhalten. Dabei fand sich Frankreich in einer Zwickmühle, zwischen, so behaupteten Freund und Feind, überzogenen Reparationsforderungen einerseits
und dem ständigen Vorwurf mangelnder Zahlungsbereitschaft bei seinen
Kriegsschulden andererseits.
Insgesamt gesehen läßt sich also feststellen, daß sowohl Deutschland als
auch Frankreich in den 1920er Jahren über einen funktionierenden administrativen Apparat für die Außenpolitik verfugten. Beide Länder hatten sich dabei
238
Siehe SHARP, Bureaucracy, S. 333-335.
70
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
den neuen Anforderungen also vor allem neuen oder erweiterten Politikfel
dern, wie Außenwirtschafts- und auswärtiger Kulturpolitik, und den neuen
Methoden, wie der multilateralen Diplomatie im Rahmen von Botschafterkonferenz, Völkerbund und der internationalen Konferenzdiplomatie - im großen
und ganzen angepaßt. Außerdem läßt sich konstatieren, daß viele administrative Änderungen ähnlich umgesetzt wurde, z.B. die Schaffung spezieller Wirtschafts- oder Presseäbteilungen, daß aber das Tempo der Reformen unterschiedlich war: In Frankreich über Jahre gedehnt, in Deutschland, vor allem
als Ergebnis der Novemberrevolution und des verlorenen Krieges, stärker gedrängt239.
2.3. Die blockierte Modernisierung, 19191922
Die Modernisierung der Außenpolitik, die ab 1923 einsetzte, hatte eine Vorgeschichte: Vieles, was nach 1923 versucht wurde, war schon zuvor gedacht
worden. Erst das Scheitern der Nachkriegspolitik bis 1923 kann erklären, warum und auf welche bereits vorher vorhandenen Ansätze zurückgegriffen wurde. Gleichzeitig waren viele Probleme der deutsch-französischen Beziehungen
vor 1923 auch die der späteren Jahre. Die unmittelbar seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vorhandenen, vergleichsweise modernen Politikansätze blieben jedoch zunächst blockiert; das deutsch-französische Verhältnis oszillierte
zwischen vorsichtigen Verständigungsbemühungen und Versuchen, die Situation mit Gewalt zu bereinigen, ohne daß eine der beiden Optionen zur vollen
Anwendung kamen. Es hatte sich ein Kreislauf gebildet, indem gerade, als die
eine Seite vorsichtigen Verständigungswillen andeutete, die andere Seite ihre
Gangart verschärfte, was wiederum die Verständigungsbemühungen der ersten
Partei frustrieren mußte und so fort. Kompliziert wurde das ganze Problem
noch durch den Einfluß Dritter, vor allem das Verhältnis Frankreichs zu seinen
ehemaligen Kriegsverbündeten. Kamen diese Frankreich entgegen, war Frankreich auch zu einer konzilianteren Politik gegenüber Deutschland bereit, fühlte
Frankreich sich dagegen allein gelassen, zog es auch in der Deutschlandpolitik
die Zügel an240.
239
Siehe Peter KRÜGER, Die deutschen Diplomaten in der Zeit zwischen den Weltkriegen,
in: Rainer HUDEMANN, Georges Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich
im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 281-291,
hier S. 281,287.
240
Siehe Jacques BARI£TY, Die französische Politik in der Ruhrkrise, in: Klaus SCHWABE
(Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten
Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 11-27, hier S. 17.
2.3. Die blockierte Modernisierung
71
Obwohl das Reparationsproblem beileibe nicht das einzige Problem war241,
soll sich die Darstellung vor allem auf diese Frage konzentrieren, denn sie war
die bei weitem wichtigste und drδngte die anderen Probleme weitgehend in
den Hintergrund242. Sie »represented also a contest for dominance in the Euro
pean economy, or more precisely a struggle over access to scarce capital and
energy resources in a period of increasing competition and shrinking mar
kets«243. Es waren vor allem die Reparationen, die die Labilitδt der deutsch
franzφsischen Beziehungen so lange konservierten. Was die Lφsung dieser
Frage so schwierig machte, war, daß sie mit so gut wie allen anderen Problemen der deutsch-französischen Beziehungen und des internationalen Systems
zusammenhing: Sie war aufs engste mit wirtschaftlichen Fragen verknüpft,
außerdem natürlich mit dem Problem der interalliierten Schulden. Die bedeutendste - und auch schwierigste - Verbindung ergab sich jedoch aus der Verknüpfung von Reparationsfrage und der Sicherheit Frankreichs, dem Kernanliegen französischer Außenpolitik nach dem Ersten Weltkrieg244. Einmal ganz
direkt: Die Stärkung der französischen Wirtschaftskraft und die Schwächung
der deutschen verbesserte Frankreichs Sicherheitslage245. Außerdem konnte
Deutschland das Geld, was es für Reparationen zahlen mußte, nicht zur Wiederaufrüstung verwenden246. Indirekt bestand eine Verbindung zwischen Sicherheits-, Reparations- und Rheinlandproblem. Gemäß Artikel 428 des Versailler Vertrags war die Besetzung des Rheinlands als Sicherheit für die
Ausführung der Vertragsbestimmungen gedacht, also in erster Linie für die
Reparationen, aber auch die Entwaffhungsbestimmungen etc.
Seit Herbst 1918 rückte vor allem auf Betreiben Marschall Fochs247 der
Rhein als militärische Grenze Frankreichs zunehmend in den Mittelpunkt der
241
Tatsδchlich waren die ersten auίenpolitischen Probleme, die nach der Unterzeichnung des
Versailler Vertrags auftauchten, die Fragen nach der Auslieferung mutmaίlicher deutscher
Kriegsverbrecher, allen voran WilhelmwvutsrnlihgfedcaRFE
Π., und Fragen der Entwaffnung der Reichswehr,
vgl. KRÜGER, Auίenpolitik, S. 95, 103.
242
So ٧bereinstimmend Marc TRACHTENBERG, Reparation in World Politics. France and
European Economic Diplomacy, 19161923, New York 1980, S. VE; GLRAULT, Europe,
S. 127; PEUKERT, Weimarer Republik, S. 65.
243
SCHUKER, French Predominance, S. 384.
244
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 27; BARLFITY, Relations francoallemandes, S. 25.
245
GeorgesHenri SOUTOU, Der Einfluί der Schwerindustrie auf die Gestaltung der Frank
reichpolitik Deutschlands 19191921, in: Hans MOMMSEN, Dietmar PETZINA, Bernd WEISBROD (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik.
Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.17. Juni 1973, D٧ssel
dorf 1974, S. 543552, hier S. 543f.
246
Siehe Stephen A. SCHUKER, The Rhineland Question. West European Security at the
Paris Peace Conference of 1919, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth
GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a.
1998, S. 275312, hier S. 294.
247
Zu den Plδnen Fochs siehe Gitta STEINMEYER, Die Grundlagen der französischen
Deutschlandpolitik 1917-1919, Stattgart 1979, S. 99-101.
72
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
άberlegungen, um die franzφsische Sicherheit dauerhaft vor seinem großen
östlichen Nachbarn zu sichern248. In Anlehnung an Aufzeichnungen Fochs vom
Ende des Jahres 1918 und Anfang 1919249 legte Andre Tardieu in einer Denkschrift vom 25. Februar 1919 die Ziele der französischen Rheinlandpolitik
dar250: Der Rhein und die rechtsrheinischen Brückenköpfe sollten die militärische und ökonomische Grenze Frankreichs werden, das Rheinland selbst ein
weitgehend autonomer Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich,
natürlich mit starker Anbindung an Paris. Foch, zu diesem Zeitpunkt unumschränkter Herrscher über das Rheinland - seine Truppen hatten nach der
Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 11. November 1918 das Rheinland
besetzt und es herrschte das Kriegsrecht - , versuchte unterdessen, Fakten zu
schaffen: Er beauftragte Paul Tirard, der seine Überlegungen bezüglich des
Rheinlands teilte, mit dem Aufbau ziviler administrativer Organe, die dem
Stab Fochs angegliedert waren. Maugas wurde von Foch mit dem Aufbau einer Wirtschaftsverwaltung betraut, der die Aufgabe zukam, enge Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Belgien einerseits und dem Rheinland
andererseits herzustellen251. Besonders der Aufbau der Wirtschaftskontakte
gestaltete sich jedoch schwierig, da die rheinische Industrie der französischen
so überlegen war, daß französische Präferenzzölle fur rheinische Waren die
eigene Wirtschaft hart getroffen hätten252.
Bei den Friedensvertragsverhandlungen konnte Clemenceau die weitreichenden Forderungen, die Foch und andere hinsichtlich des Rheinlands stellten, nicht
durchsetzen: Die französischen Pläne stießen bei den Alliierten und Assoziierten,
die die Etablierung einerfranzösischenHegemonie auf dem Kontinent fürchteten,
auf wenig Gegenliebe. Darüber hinaus war Clemenceau selbst davon überzeugt,
daß das Bündnisabkommen, das er den Amerikanern und Briten abgerungen hatte, eine weitaus bessere Sicherheitsgarantie darstellte alsfranzösischeTruppen am
Rhein, auf deutschem Gebiet mit einer Bevölkerung, die für die Besatzungsmacht
wenig Wohlwollen hegte253. Nach der Bündniszusage Wilsons und Lloyd
Georges gab sich der französische Ministerpräsident - zum Ärger Fochs254 und
Zum folgenden vgl.YTSRONJIEBA
BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 26-32; JEANNESSON,
Poincarö, S. 27.
249
Siehe JeanvutsrponmlihgfedcaVSPMF
ΑυτΠΝ, Foch ou le triomphe de la volonte, Paris 32000, S. 278f. Vgl. auch
Memorandum Fochs an die Bevollmächtigen der Mächte (10.1.1919), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations concemant les garanties de s6curit6 contre
une agression de l'Allemagne (10 janvier 1919-7 dicembre 1923), hg. v. Ministöre des affaires dtrangeres, Paris 1924, Nr. 1.
250
Abgedruckt in: TARDIEU, Paix, S. 165-184 und in: Documents diplomatiques. Documents
relatifs aux ndgociations concemant les garanties de s6curit6 1924, Nr. 2.
251
Siehe BARifiTY, Relations franco-allemandes, S. 34-36.
252
Siehe SCHUKER, Rhineland Question, S. 290.
253
Siehe BARISTY, Relations franco-allemandes, S. 46.
254
Siehe Aufzeichnung Foch (31.3.1919), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs
248
2.3. Die blockierte Modernisierung
73
Poincares255, der zu diesem Zeitpunkt Staatsprδsident war mit einer auf 15 Jahre
befristeten Besetzung des Rheinlands zufrieden und stimmte auch dem Be
satzungsstatut256 zu, indem die Rechte der Alliierten und die administrativen
Grundlagen f٧r die Besetzung festgelegt wurden. Im Rheinlandstatut wurde
die deutsche Verwaltungshoheit wiederhergestellt. Als zentrales alliiertes
Organ wurde die Haute commission interalliee des territoires rhenans
(H.C.I.T.R) geschaffen, in der die alliierten Kommissare die Grundlagen der
Besatzungspolitik bestimmten. Es handelte sich bei der H.C.I.T.R. um eine
zivile Behφrde, die den militδrischen Stellen im Rheinland ٧bergeordnet war.
Allerdings war die neue Behφrde immer noch ein machtvolles Mittel in den
Hδnden Frankreichs: Ihr Prδsident wurde Tirard, ein Exponent der
franzφsischen Rheinlandpolitik, und sie konnte Verordnungen erlassen, an die
sich sowohl die Besatzungstruppen wie auch die deutsche Verwaltung zu halten
hatten257. Besonders nach dem Auszug der Amerikaner aus der H.C.I.T.R. hatte
Frankreich in diesem Gremium fast immer die Mehrheit, da der belgische
Kommissar in der Regel seinem franzφsischen Kollegen folgte und bei
Stimmengleichheit die Stimme des franzφsischen Vorsitzenden entschied258.
Die Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch die USA δnderte hin
sichtlich der Sicherheitsfrage jedoch f٧r Frankreich alles: Dadurch wurden
auch die Beistandspakte mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien hinfällig. Das Sicherheitsprogramm Frankreichs, das zum Großteil auf diesen
Bündniszusagen ruhte, drohte Makulatur zu werden259, denn der Alternative einer aktiven französischen Rheinlandpolitik im Sinne einer Perpetuierung der
Besetzung und Autonomisierung des Rheinlandes - war durch das Rheinlandstatut und den Versailler Vertrag zunächst ein Riegel vorgeschoben. Allerdings gewannen die Anhänger einer aktiven französischen Rheinlandpolitik zu denen neben Fochdie Deputierten Maurice Barres, Tardieu, Barthou, Leon
Daudet, Louis Marin, Desire Ferry und als Lobby vor allem der Comite de la
rive gauche du Rhin zählten, der seine Mitglieder aus den Reihen der Politik,
des Militärs, und rechter Intellektueller rekrutierte - wieder an Zulauf, ohne
aux negotiations concemant les garanties de sdcuriteiheSONJEA
1924, Nr. 5, Foch an Clemenceau
(5.5.1919), ibid. Nr. 9, und Auszug aus dem Protokoll der Vollversammlung der Friedenskonferenz (6.5.1919), ibid. Nr. 13.
255
Siehe Pomcard an Clemenceau (28.4.1919), ibid. Nr. 8.
256
Das Rheinlandstatut wurde zusammen mit dem Versailler Vertrag am 28.6.1919 unterzeichnet. Der Text findet sich u.a. in: o.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen.
Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924
revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 242246.
257
Siehe Pierre JARDIN, La politique rh6nane de Paul Tirard, in: Revue d'AUemagne et des
pays de langue allemande 21/2 (1989), S. 208216, hier S. 208.
2S!
»Ainsi, on le voit, la >d6faite< de Foch n'etait pas totale«, BARIETY, Relations francoallemandes, S. 61.
2S
' Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 29.
74
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
daß es freilich eine direkte Beeinflussung der französischen Außenpolitik
durch diese »Rheinland-Lobby« gegeben hätte260.
Allerdings bestand zwischen der Reparations- und Sicherheits- (sprich:
Rheinland-)Politik ein grundsätzlicher Widerspruch261. Es mußte aus wirtschaftlichen Gründen im Interesse Frankreichs sein, ein Maximum an deutschen Reparationen zu erhalten, um die verwüsteten Gebiete Nordostfrankreichs schnell wieder aufzubauen und Deutschland auf den Weltmärkten
Paroli bieten zu können. Dies setzte aber voraus, das Deutschland ökonomisch
leistungsfähig und als wirtschaftliche und politische Einheit erhalten blieb.
Sicherheitspolitisch betrachtet war es dagegen geboten, Deutschland wirtschaftlich zu ruinieren und als Staat zu zerschlagen. Die Reparationen wurden
in diesem Konzept nur noch zum Instrument der französischen Sicherheitspolitik: Die Reparationslasten sollten so hoch gesetzt werden, daß Deutschland
sie gar nicht erfüllen konnte, was als Verstoß gegen die Bedingungen des Versailler Vertrags mit einer Verlängerung der Besatzungsfristen (Artikel 430 des
Versailler Vertrags) geahndet werden konnte. Das Dilemma fur Frankreich
war offensichtlich: Entweder ein relativ starkes und wohlhabendes Deutschland, das kräftig Reparationen zahlen konnte, oder ein zerschlagenes Deutschland, von dem an wirtschaftlicher Wiederaufbauhilfe nichts zu erwarten war.
Bis 1924 lavierte die französische Politik zwischen diesen beiden Optionen262.
Gründe hierfür waren der häufige Wechsel des politischen Personals und die
oft unklare Politik insbesondere Großbritanniens, das weder bereit war, Frankreich ausreichende Sicherheitsgarantien zu geben, noch diese gänzlich ablehnte, wodurch sich Paris in einem sicherheitspolitischen Nirwana befand. Die
mal konziliantere, mal halsstarrigere Haltung Deutschlands erschwerte die
französische Positionsbestimmung weiter, wobei jedoch die Voraussetzung für
eine kontinuierliche deutsche Außenpolitik denkbar schlecht waren263: Die
junge Republik wurde von Putschversuchen von rechts und links heimgesucht,
und es kam aufgrund der schwierigen innenpolitischen Lage zu häufigen Regierungswechseln. Allein schon wegen dieser Probleme, die durch die Umstrukturierung des AA und das Fehlen von geeignetem Führungspersonal weiter erschwert wurden, »konnte von einer konsequenten, eindeutigen Linie der
deutschen Außenpolitik 1919 bis 1923 keine Rede sein«264. Die Bürde des
verlorenen Krieges und des von Deutschland als »Schandfrieden« und »Diktat« empfundenen Versailler Vertrags, zusammen mit seiner außenpolitischen
260
Siehe ibid. S. 30-33; WURM, Rolle Deutschlands, S. 153f.
Vgl. hierzu: BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 65f.; JEANNESSON, Poincar6, S.
33; GlRAULT, Europe, S. 101, 128f.; REMOND, Frankreich, S. 90.
262
In diesem Sinne auch Keiger: »Viewed positively it was a policy of many strands; more
negatively it was a cluster of confused and contradictory policies variously grasped at by an
anxious and insecure power«, KEIGER, Poincare, S. 278.
263
Zum folgenden siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 77-79.
264
Ibid. S. 78.
261
2.3. Die blockierte Modernisierung
75
Isolierung und fehlenden Machtmitteln, erschwerten die Entwicklung von
tragfδhigen außenpolitischen Konzepten und machten Deutschland mehr zum
Objekt denn zu einem Akteur in den internationalen Beziehungen. Die Revision des Versailler Vertrags blieb zwar wichtigstes und vordringliches Ziel deutscher Politik, allerdings war man sich in der Wilhelmstraße nicht darüber einig, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Neben Überlegungen zur
Zusammenarbeit mit den Siegern, zur Wiedereingliederung Deutschlands in
ein liberales Weltwirtschaftssystem und zur Schaffung einer internationalen
Staatengemeinschaft, die auf Recht, kollektiver Sicherheit und Schiedsgerichtsbarkeit ruhen sollte, gab es durchaus auch Konzeptionen, in denen die
Zusammenarbeit mit der Sowjetunion angestrebt wurde, um nötigenfalls gewaltsam die Ergebnisse von Versailles umzustoßen. Wieder andere versuchten, die Allianz der Gegner zu unterminieren und die Sieger gegeneinander auszuspielen, wobei die deutschen Möglichkeiten aber überschätzt
wurden. Insgesamt war die deutsche Politik defensiv in dem Sinne, daß verbittert versucht wurde, in Entscheidungen, die durch den Versailler Vertrag
noch nicht endgültig herbeigeführt waren (Oberschlesien, Höhe und
Konditionen der Reparationen usw.), möglichst den Besitzstand zu waren.
Konstruktive Elemente gab es kaum. Selbst die Erfiilhingspolitik265 Wirths
war ja im Grunde genommen kein positiver Ansatz: Dem Gegner zu zeigen,
daß selbst beim besten Willen seine Forderungen nicht zu erreichen sind, um
ihn dadurch zum Nachgeben zu zwingen, nahm durchaus die Logik der
brüningschen Katastrophenpolitik in der Weltwirtschaftskrise vorweg.
Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, daß weder Frankreich
noch Deutschland über ein schlüssiges außenpolitisches Konzept verfugten.
Die Modernisierung der Außenpolitik kam zunächst nicht zustande, weil in
beiden Ländern eine klare politische Linie fehlte. Es gab vielmehr unterschiedliche, konkurrierende Ansätze, wie an den Ereignissen der Jahre 1919
bis 1922 deutlich wurde.
Die erste große Etappe der Reparationspolitik nach dem Ersten Weltkrieg
stellte die Konferenz von Spa (5.-16. Juli 1920) dar266. Dabei konnte Deutschland erreichen, daß es weniger Kohlen als Reparationen liefern mußte (die
Menge wurde von 2,4 auf 2 Mio. t pro Monat reduziert). Um die wirtschaftliche Lage in Deutschland zu verbessern und die Kohlenförderung anzukurbeln, wurden für die Reparationskohlen zusätzlich befristet Vorschüsse und
Exportprämien bezahlt. Außerdem wurden die Fristen für den Personalabbau
der Reichswehr verlängert. Allerdings scheiterte die deutsche Delegation, die
erstmals wieder zu Verhandlungen zugelassen war, mit ihrem Versuch, über
die Reparationsfrage zur Revision anderer wesentlicher Bestimmungen des
265
Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 55.
266
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 104-111; DUROSELLE, Histoire, S. 15; FISCHER, Ruhr
Crisis, S. 18.
76
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Friedensvertrags zu gelangen. Wichtigstes Ergebnis von Spa war, daß sich die
Alliierten darauf verständigen konnten, wie die deutschen Reparationen untereinander aufgeteilt werden sollten: Frankreich sollte 52 Prozent, das Britische
Empire 22, Italien 10, Belgien 8, Portugal und Japan jeweils 0,75, Jugoslawien
5, Griechenland 0,4 und Rumänien 1,1 Prozent der Reparationen erhalten,
über deren Höhe aber noch keine Einigung erzielt werden konnte267.
Bereits vor Spa war es auf französischer Seite allerdings zu einem gewissen
Meinungswechsel, was die Deutschlandpolitik anging, gekommen. In seinen
Instruktionen für den französischen Geschäftsträger in Berlin, Henri de Marcilly, stellte der noch amtierende Außenminister Stephen Pichon fest268, daß
das Ziel der bisherigen Reparationspolitik - hohe Reparationsleistungen bei
einer gleichzeitig möglichst starken Schwächung Deutschlands - unerreichbar
sei. Außerdem sei nicht davon auszugehen, daß die deutsche Regierung sich
weigere, seinen Pflichten aus dem Versailler Vertrag nachzukommen, sondern
vielmehr aufgrund des starken innenpolitischen Drucks von rechts und links
nur wenige Möglichkeiten zur Vertragserfüllung habe. Es gebe Anzeichen
dafür, daß die deutsche Politik zunehmend von ihrer Verweigerungshaltung
abgehe und statt dessen die Revision des Vertrags anstrebe. Auch von seiten
der deutschen Industrie gebe es zunehmend Signale für eine Zusammenarbeit
mit Frankreich. Pichon schloß: »Nous n'avons aucune raison pour ne pas reprendre avec l'Allemagne des relations commerciales actives, mais ces relations seront dictees uniquement par notre interet, et celui-ci dependra du traitement que l'Allemagne nous accordera«269. Allerdings wurde zu diesem
Zeitpunkt noch keine Schlußfolgerung für die zu verfolgende Politik gegenüber Deutschland gezogen: Zunächst gelte es, abzuwarten.
Aber die Dinge entwickelten sich: In dem Maße, in dem die deutschen Zahlungsschwierigkeiten zunahmen270, wuchs in Frankreich die Ansicht, daß die
Reparationen vernünftigerweise vor allem durch Sachlieferungen geleistet
werden sollten. Außerdem setzte sich in der französischen Regierung, die seit
Januar 1920 von Millerand geleitet wurde, zunehmend die Ansicht durch, daß
das durch den Versailler Vertrag in Teil VIII Anhang IV etablierte System für
die Sachlieferungen zu bürokratisch war und für Frankreich nicht schnell genug die zum Wiederaufbau benötigten Leistungen erbrachte271. Nachdem zu267
Allerdings war man zu einer prinzipiellen Anerkennung des »Plan de Boulogne«, der f٧nf
Annuitδten zu 3 Mrd. GM, f٧nf Annuitδten zu 6 Mrd. GM und 32 Annuitδten zu 7 Mrd. GM
vorsah, gekommen, siehe SAUVY, Histoire economique, Bd. 1, S. 138, 143.
268
Vgl. Pichon an de Marcilly (13.1.1920), in: MAE PAAP 261, 1. Aus einer handschriftli
chen Notiz geht hervor, daί Seydoux Urheber der Aufzeichnung war.
269
Ibid.
270
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 116.
271
Siehe GeorgesHenri SOUTOU, Probltoies concemant le rdtablissement des relations 6co
nomiques francoallemandes apres la Premiere Guerre mondiale, in: Francia 2 (1974),
S. 580596, hier S. 581.
2.3. Die blockierte Modernisierung
77
vor Gesprδche ٧ber Fragen der Schwerindustrie zwischen Deutschland und
Frankreich Anfang 1920 an der Weigerung der deutschen Schwerindustrie, an
solchen Verhandlungen teilzunehmen, gescheitert waren und die deutsche Re
gierung bei den Verhandlungen in Spa ein vφllig unzureichendes Angebot fur
die Sachlieferungen gemacht hatte272, setzte Millerand, inspiriert von Seydoux,
zunehmend auf eine aktivere Politik. Die deutsche Regierung hielt man fiir zu
schwach, um konstruktive Vorschlδge zu machen, und zu England befand man
sich nicht nur in Reparationsfragen zunehmend im Widerspruch273. Millerand
ging von der These aus, daß es vor allem die wirtschaftlichen Probleme seien,
die die Politik in Europa während der nächsten Jahre prägen würden, und daß
die Ziele der deutschen Außenpolitik die Revision des Versailler Vertrags und
der wirtschaftliche Wiederaufstieg seien274. Eine Revision des Versailler Vertrags könne aber nur dann vermieden werden, wenn es der französischen Politik gelänge, Deutschland begreiflich zu machen, daß der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nicht im Widerspruch zum Versailler Vertrag stehe. Nur so
könne verhindert werden, daß Frankreich zum Sündenbock für die deutsche
Wirtschaftskrise gemacht werde und sich die Alliierten, angestoßen durch
Keynes275, für eine weitgehende Revision des Versailler Vertrags stark machten: »Le resultat de cette situation est qu'il nous faut nous-memes nous occuper du relevement economique de l'Allemagne, de fa?on ä le Her au nötre
dans la mesure qui nous semblera preferable, ä Pempecher de se dresser contre
nous et ä en tirer les avantages qu'il peut nous procurer«276. Millerand begründete eine derart gestaltete Zusammenarbeit damit, daß im Bereich der Wirtschaft momentan die einzige Möglichkeit bestehe, zu einer Annäherung mit
Deutschland zu kommen daß und die Nachbarschaft beider Länder eine Zusammenarbeit zwingend notwendig mache, zumal sich Deutschland und
Frankreich wirtschaftlich ergänzten: Deutschland habe die Kohlen und Frankreich das Erz für die Stahlerzeugung. Während in Frankreich Arbeitskräftemangel herrsche, habe Deutschland die notwendigen Arbeitskräfte. Auch gegenüber England und den USA bestehe eine Interessengemeinschaft zwischen
Deutschland und Frankreich: Auf den Rohstoffmärkten könne man gemeinsam
auftreten, und durch französische Kapitalbeteiligungen an der deutschen Wirtschaft könne die einseitige Abhängigkeit Deutschlands von amerikanischem
272
273
Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 156, 159.
Siehe ibid. S. 165, 168f.
274
Zum folgenden siehe Instructions ä l'ambassadeur de France ä Berlin [Charles Laurent]
(26.6.1920), MAE, PAAP 261, 1. Die Aufzeichnung ist ohne Unterschrift, jedoch wahrscheinlich von Millerand. Aus einer handschriftlichen Anmerkung geht hervor, daß das
Schreiben von Seydoux vorbereitet worden war.
275
John Maynard Keynes' »The Economic Consequences of the Peace« war 1920 erschienen.
276
Instructions ä l'ambassadeur de France ä Berlin [Charles Laurent] (26.6.1920), MAE,
PAAP 261, 1. Zum folgenden ibid.
78
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
und englischem Kapital vermieden werderi. Auch in Osteuropa sei eine
deutschfranzφsische Kooperation anzustreben, da Deutschland andernfalls
versuchen werde, seinen wirtschaftlichen Einfluß dort zum Schaden Frankreichs durchzusetzen. Da Deutschland außerdem bezüglich Rußlands allein
aufgrund seiner geographischen Lage im Vorteil sei, könne Frankreich, bei
einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Deutschland, auch daraus
wichtige Vorteile ziehen.
Entlang der hier skizzierten Linie entwickelte Frankreich bis zur Brüssler
Konferenz (16.-22. Dezember 1920) den sogenannten Seydoux-Plan277. Er sah
vor, daß die Sachlieferungen vereinfacht und sozusagen kommerzialisiert
werden sollten: Französische Firmen sollten direkt bei deutschen Lieferanten
bestellen, die von der deutschen Regierung - in Papiermark - aus einem noch
zu schaffenden Reparationsfond bezahlt werden sollten. Später wurde das System noch um die Bereitstellung von Arbeitskräften und die Verrechnung von
französischen Exporten nach Deutschland erweitert, das Grundprinzip aber
blieb bestehen. Das von Frankreich ins Spiel gebrachte System hatte gegenüber den bestehenden Bestimmungen einige entscheidende Vorteile: Es kurbelte die deutsche Wirtschaft an, da diese nun ein Interesse an Exporten nach
Frankreich haben mußte, und deckte den französischen Bedarf bei gleichzeitiger Ausschaltung des Transferproblems, das die ohnehin trudelnde deutsche
Währung weiter belastete. Durch die Deckung des französischen Importbedarfs durch Deutschland auf Reparationskosten konnten darüber hinaus Importe aus den USA und England verringert werden, was die stark negative französische Zahlungsbilanz entlastete - und so auch den Abwertungsdruck vom
französischen Franc nahm. Außerdem wurde der französische Staat, der den
Wiederaufbau der zerstörten Gebiete in Nordostfrankreich bisher durch Vorschüsse aus den zu erwartenden deutschen Reparationszahlungen finanziert
hatte, entlastet, was dem französischen Budget und dem Kurs des Franc ebenfalls nur nutzen konnte. Aber auch politisch hatte das Projekt seinen Charme:
Es konnte einen ersten Schritt zur Aussöhnung bilden, indem es auch für
Deutschland Vorteile versprach. Da Frankreich außerdem wenig Hoffnung
hatte, Deutschland langfristig militärisch in Schach halten zu können, lag in
der Zusammenarbeit auch eine Möglichkeit, die eigene Sicherheitslage zu verbessern. Darüber hinaus näherte dieses Projekt die Position Frankreichs an die
seiner ehemals Alliierten an, die in der Reintegration Deutschlands in die
Weltwirtschaft das beste Mittel sahen, die wirtschaftlichen Kriegsfolgen zu
beseitigen. Eine deutsch-französische Wirtschaftskooperation, in der Frankreich vom Aufschwung Deutschlands profitierte, ließ die Widerstände in Paris
dagegen schwinden.
277
Zum folgenden siehe KRÜGER, Auίenpolitik,. S. 117f.; TRACHTENBERG, Reparation,
S. 157160.
2.3. Die blockierte Modernisierung
79
Trotz der vielen Vorteile scheiterte der SeydouxPlan278: Die franzφsische
Industrie f٧rchtete, durch umfangreiche deutsche Reparationslieferungen aus
dem lukrativen Aufbaugeschδft gedrδngt zu werden. Die deutsche Industrie,
die langfristig von ihrer eigenen άberlegenheit gegen٧ber der franzφsischen
ausging, war ebenfalls nicht geneigt, an dem Plan mitzuwirken, der eine dau
erhafte Beschrδnkung des deutschen wirtschaftlichen Einflusses bedeutet hδt
te. Auch die deutsche Regierung konnte sich, trotz der positiven Bewertung
des Vorschlags durch Außenminister Simons, nicht zu einer vollen Unterstützung des Planes durchringen, und selbst Schubert nahm eine kritische Haltung
gegenüber den französischen Vorschlägen ein. Vor allem aber torpedierten die
Engländer seit August 1920 die französischen Vorstöße aus Sorge, daß der
von Seydoux vorgeschlagene Plan zu einer Annäherung zwischen Frankreich
und Deutschland zum Schaden Englands führen könnte.
Der Seydoux-Plan und der, wenn man so will, Paradigmenwechsel der französischen Außenpolitik zu Anfang des Jahres 1920 machen deutlich, daß bereits vor dem Ruhrkampf in Frankreich Ansätze zu einer kooperativen Außenpolitik bestanden, die im Sinne der Definition immerhin begrenzt modern war:
An Stelle von Hegemonie und Niederhaltung des ehemaligen Kriegsgegners
traten Elemente der Aussöhnung, basierend auf wirtschaftlicher Kooperation
und gemeinsamer Interessen. Am Seydoux-Plan wurde aber auch deutlich, daß
eine modernere Außenpolitik, deren Konzeption übrigens keineswegs mit dem
Amtsantritt Millerands in eins fiel, wie die Instruktionen von Clemenceaus
Außenminister Pichon zeigen, zum Scheitern verurteilt war, solange nicht eine
Reihe von Bedingungen erfüllt wurde. Es genügte nicht, einen durchdachten
und vorteilhaften Plan zu haben. Auf beiden Seiten mußte die Bereitschaft
vorhanden sein, konstruktiv über einen Plan verhandeln zu wollen, was eine
allzu große interne Opposition ausschloß. Angesichts des vehementen Widerstandes der deutschen und teilweise auch der französischen Industrie war es
fraglich, ob die beiden Regierungen, selbst wenn sie sich untereinander einig
gewesen wären, den Plan hätten umsetzen können. Außerdem wurden die Interessen Dritter unzureichend berücksichtigt. Die implizit antiangloamerikanische Spitze des Projekts mußte dessen Realisierungschancen von
vornherein stark einschränken.
Es ist aber fraglich, ob der Plan bei günstigeren Bedingungen Erfolg gehabt
hätte, denn es gab einen grundlegenden Unterschied zwischen der deutschen
und der französischen Position, dem der Plan keine Rechnung trug. Während
Frankreich versuchte, durch eine begrenzte wirtschaftliche Wiederaufrichtung
Deutschlands die Revision des Versailler Vertrags gerade zu verhindern, wollte Deutschland durch die Mobilisierung seines wirtschaftlichen Potentials den
278
Zum Scheitern des Seydoux-Plans siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 117f.; TRACHTENBERG, Reparation, S. 161f., 179f., 184f.; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 16.
80
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
Friedensvertrag gerade zu Fall bringen. Es war deshalb mehr als zweifelhaft,
ob Deutschland sich als Juniorpartner Frankreichs in wirtschaftlichen Fragen,
wie es die franzφsischen Plδne letztendlich vorsahen, abgefunden hδtte. Eine
solche Konstellation, die dem tatsδchlichen wirtschaftlichen Gewicht der bei
den Lδnder nicht entsprach, war aber eben gerade keine im Sinne der Definiti
on moderne Politik, denn das Ziel war nicht der Interessenausgleich, sondern
ein st٧ckweises Entgegenkommen Frankreichs, um im großen und ganzen den
durch den Versailler Vertrag geschaffenen Status quo zu zementieren. Nichtsdestotrotz zeigte dieses Projekt, daß französischerseits durchaus der Wille zu
einer moderneren Außenpolitik vorhanden war.
Auf den folgenden Reparationskonferenzen wirkten die Folgen des Seydoux-Plans und seines Scheiterns nach. Die wichtigsten Ergebnisse der Pariser
Konferenz (24.-29. Januar 1921) waren, daß sich die Alliierten auf eine Reparationssumme von 226 Mrd. GM einigten, die in Annuitäten von zunächst 2,
später bis zu 6 Mrd. GM geleistet werden sollte. Zusätzlich sollten 12 Prozent
des deutschen Exporterlöses als Reparationszahlungen abgeführt werden279.
Während die Höhe der Reparationszahlungen in den Augen der Engländer
nicht endgültig war, lag die Bedeutung der Konferenz vor allem darin, daß
Frankreich erstmals eine pauschale Reparationssumme anerkannt hatte. Zuvor
hatte Paris darauf bestanden, daß sich die Höhe der deutschen Zahlungen nach
den tatsächlich entstandenen Schäden richten mußte. Die Höhe der Reparationen stieß in der deutschen Öffentlichkeit aber auf energische Ablehnung und
führte zunächst dazu, daß über die Sachlieferungen nicht weiter verhandelt
wurde und sich die Beziehungen zwischen Deutschland und den Alliierten
dramatisch verschlechterten. Erst im Sommer 1921 kam es zu einer Wiederaufnahme der deutsch-französischen Gespräche über die Sachlieferungen280.
Entsprechend schlecht waren die Erfolgsaussichten für die Londoner Konferenz, die vom 1. bis 7. März 1921 tagte. Die deutsche Delegation kam weitgehend unvorbereitet und konnte den begrenzten guten Willen, der ihr von Briand, der inzwischen französischer Ministerpräsident geworden war, und Lloyd
George entgegengebracht wurde, nicht nutzen281. Sie legte einen Vorschlag
vor, der Reparationszahlungen in Höhe von insgesamt 30 Mrd. Goldmark, die
Rückgabe ganz Oberschlesiens an Deutschland und die Aufhebung aller Wirtschaftsbeschränkungen aus dem Versailler Vertrag beinhaltete. Angesichts der
zuvor von den Alliierten festgelegten 226 Mrd. GM mußte das deutsche Angebot als Provokation erscheinen282. Die Siegermächte reagierten mit der Besetzung Düsseldorfs, Ruhrorts und Duisburgs. England behielt 50 Prozent der
279
280
281
282
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
JEANNESSON, Poincare, S. 53.
TRACHTENBERG, Reparation, S. 189f.
KR٢GER, Auίenpolitik, S. 123.
JEANNESSON, Poincari, S. 54.
2.3. Die blockierte Modernisierung
81
Exporterlφse der rheinischen Wirtschaft ein, und es wurde eine Zollmauer
zwischen Restdeutschland und dem besetzten Gebiet errichtet283.
Der Druck der Besetzung verfehlte indes nicht eine gewisse Wirkung: Die
deutsche Regierung legte am 24. April 1921 ein neues Reparationsangebot
vor284. Es sah Zahlungen in Hφhe von 50 Mrd. GM vor, ebenso eine alliierte
Anleihe zur St٧tzung der deutschen Wδhrung und zur Ankurbelung der deut
schen Wirtschaft. Ein Expertenkomitee sollte die Zahlungsfδhigkeit Deutsch
lands untersuchen ein Element, das beim DawesPlan wieder auftauchen
sollte bevor die Zahlungsmodalitδten festgelegt werden sollten. Ein Teil der
Reparationsschuld sollte durch den Wiederaufbau der zerstφrten Gebiete in
Frankreich durch deutsche Arbeitsleistung und Sachlieferungen geleistet wer
den. Außerdem bot Deutschland an, einen Teil der alliierten Schulden bei den
USA zu übernehmen, was jedoch sowohl'Von Washington als auch von Paris
sofort abgelehnt wurde: Die Vereinigten Staaten verhinderten dies, da so eine
direkte Verknüpfung von Reparationen und interalliierten Schulden geschaffen worden wäre, und Frankreich fürchtete, daß, wenn es selbst nicht mehr
Reparationsgläubiger Deutschlands sei, es die Möglichkeit zu Sanktionen verlieren würde. Als Zeichen des guten Willens bot Deutschland schließlich die
sofortige Zahlung von 1 Mrd. GM an. Allerdings stellte die Reichsregierung
auch Gegenforderungen: Es sollte zu keinen weiteren Gebietsabtretungen
mehr kommen (gedacht war vor allem an Oberschlesien, wo die Volksabstimmung, die über die Zugehörigkeit des Gebiets zu Polen oder Deutschland
entscheiden sollte, am 20. März 1921 stattgefunden hatte und die mit 60 Prozent zugunsten Deutschlands ausgegangen war), außerdem wurde verlangt, die
wirtschaftlichen Sanktionen und die Liquidation deutschen Vermögens im
Ausland zu stoppen und Deutschland von den Besatzungskosten zu entlasten.
Auch dieser Vorschlag fand, weil immer noch völlig unzureichend, bei den
Alliierten wenig Anklang: Am 30. April 1921 legten sie ihre Reparationsforderungen in Höhe von 132 Mrd. GM vor. Die deutsche Regierung unter
Reichskanzler Wirth lehnte zunächst ab, beugte sich aber einem alliierten Ultimatum vom 5. Mai 1921, indem die Alliierten eine Besetzung des Ruhrgebiets androhten, falls Deutschland seine Zahlungsverpflichtungen nicht anerkennen sollte285.
Das Londoner Ultimatum bestärkte die Regierung Wirth in der Verfolgung
ihres außenpolitischen Ansatzes, der Erfullungspolitik286. Diese hatte zwei
Ziele: Durch die Demonstration des guten Willens bei den Reparationszahlungen wollte die deutsche Regierung in technischen Verhandlungen versuchen,
in kleinen Schritten die Revision des Versailler Vertrags voranzutreiben. Au283
284
285
286
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 124.
Zum folgenden siehe ibid. S. 128.
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 49.
Zur Erfullungspolitik siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 91f., 132f.
82
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
ßerdem beabsichtigte Wirth, durch den Versuch der Erfüllung der in deutschen
Augen völlig überzogenen Reparationsforderungen den Alliierten zu zeigen,
daß eine Verringerung der Zahlungen notwendig war, weil sie Deutschlands
Leistungsfähigkeit weit überschritten. Bedeutung hatte die Erfüllungspolitik
nicht nur für die Reparationspolitik, sondern vor allem im Hinblick auf Oberschlesien287. Nachdem, wie gesagt, die Volksabstimmung zugunsten Deutschlands ausgegangen war, hatte die deutsche Regierung in einer Note am
1. April 1921 ganz Oberschlesien für sich beansprucht. Die englische Regierung, die den deutschen Forderungen prinzipiell wohlwollend gegenüberstand,
konnte mit Frankreich, das dieses wichtige Industriegebiet seinem polnischen
Verbündeten zukommen lassen wollte, zu keiner Einigung kommen. Paris und
London übergaben deshalb am 12. August 1921 die Oberschlesienfrage dem
Völkerbund zur Entscheidung. In dieser Situation, in der die Entscheidung
über Oberschlesien - aus dem immerhin ein Viertel der deutschen Kohlenproduktion stammte - offen war, erhoffte sich die deutsche Regierung durch die
loyale Erfüllung ihrer Reparationsverpflichtungen eine Entscheidung zu ihren
Gunsten. Als der Völkerbund am 12. Oktober 1921 seine Entscheidung zur
Teilung des Gebiets bekannt gab - wobei die wirtschaftlich wichtigen Teile an
Polen gingen - , bedeutete dies einen schweren Rückschlag für die deutsche
Außenpolitik im allgemeinen und die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Polen im besonderen.
Dabei hatte es seit dem Londoner Ultimatum wichtige Fortschritte gegeben.
Nach einer Initiative des Reichsministers für Wiederaufbau, Walther Rathenau288, kam es am 12. Juni 1921 zu einem ersten Treffen zwischen ihm und
dem französischen Minister für die befreiten Gebiete, Louis Loucheur289. Beide wollten zu einer Lösung für das Problem der Sachlieferungen gelangen, für
das nach dem Scheitern des Seydoux-Projekts immer noch keine zufriedenstellende Regelung gefunden worden war. Rathenau schlug in Anlehnung an
die Pläne Seydoux' vor290, daß Deutschland im Zeitraum von 1921 bis 1924
Waren im Wert von 9 Mrd. GM an Frankreich liefern sollte. Das Geld für diese Sachlieferungen sollte durch Anleihen der Reichsregierung aufgebracht
werden, die zu einem Drittel auf dem deutschen und zu zwei Dritteln auf dem
französischen Markt piaziert werden sollten, was das im Seydoux-Plan zunächst ausgeklammerte Problem der Einrichtung eines Reparationsfonds löste.
287
Zur Oberschlesienfrage siehe ibid. S. 134f. Zur Behandlung des Problems durch den Völkerbund siehe PFEIL, Völkerbund, S. 70-73.
288
Rathenau wurde erst am 31.1.1922 Reichsaußenminister. Zum Zeitpunkt der Gespräche
zwischen Rathenau und Loucheur war Friedrich Rosen Chef des AA, siehe AdR Wirth I/II
Bd. 2, S. 1173.
289
Siehe itienne WEILL-RAYNAL, Les r6parations allemands et la France, Bd. 2: L'application de l'6tat des payements, l'occupation de la Ruhr,wvutsrponlihedaSPMDA
Γ institution du plan Dawes (Mai
1921Avril 1924), Paris 1947, S. 29.
290
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 146.
2.3. Die blockierte Modernisierung
83
Die ٧brigen Modalitδten δhnelten den zuvor ins Spiel gebrachten Bestimmun
gen: Kommerzialisierung der Lieferungen, d.h. direkte Bestellung des franzφ
sischen Auftraggebers beim deutschen Produzenten. Loucheur stand dem Pro
jekt positiv gegen٧ber, und so kam es am 6. Oktober 1921 zur Unterzeichnung
des Wiesbadener Abkommens291, das den Vorschlδgen Rathenaus weitgehend
folgte292: Deutschland sollte bis zum 1. Mai 1926 an Frankreich Waren im
Volumen von 7 Mrd. GM liefern, die zu einem Teil sofort und zu einem ande
ren Teil durch langfristige Anleihen finanziert werden sollten. Zwei von der
RepKo unabhδngige Organisationen in Deutschland und Frankreich sollten
daf٧r sorgen, daß französische Auftraggeber und deutsche Lieferanten ohne
großen bürokratischen Aufwand zusammenfanden und die Lieferungen praktisch wie von privat zu privat funktionierten.
Die Gespräche zwischen Loucheur und Rathenau und die dadurch bewirkte
Verbesserung der Beziehungen trugen erste Früchte: Die Zollgrenze zwischen
dem besetzten und unbesetzten Deutschland, die im Rahmen der Alliierten
Besetzung Düsseldorfs und Duisburgs im April des Jahres errichtet worden
war, wurde am 30. September 1921, also wenige Tage vor der Unterzeichnung
des Abkommens von Wiesbaden, aufgehoben293.
Auch auf anderem Gebiet konnte die deutsche Diplomatie Fortschritte erzielen: Am 25. August 1921 wurde zwischen den USA und Deutschland - die
sich, nachdem Washington den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, de
jure noch immer im Kriegszustand befanden - ein Friedensvertrag unterzeichnet294. Die Normalisierung der Beziehungen mit den USA wurde von Deutschland vor allem deshalb angestrebt, um ein Gegengewicht gegen die Politik
Frankreichs und Großbritanniens zu schaffen295.
Wie der Seydoux-Plan scheiterte aber auch das Wiesbadener Abkommen.
Unmittelbarer Auslöser war die Entscheidung des Völkerbunds zur Teilung
Oberschlesiens, die den deutschen Verständigungswillen schlagartig erlahmen
ließ296. Außerdem hatten sich die Rahmenbedingungen seit dem Scheitern des
Seydoux-Projekts nicht nachhaltig geändert: < Die deutsche und französische
Wirtschaft standen dem Sachlieferungsabkommen immer noch ablehnend gegenüber, und auch der englische Widerstand bestand weiterhin, denn in Lon291
Siehe BERNARD, Decline, S. 109.
Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 84f.
293
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 72.
294
Der Vertragstext ist abgedruckt in: O.V., Der Friedensvertrag von Versailles nebst
Schlußprotokoll und Rheinlandstatut sowie Mantelnote, und deutsche Ausfuhrungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August
1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 263-267.
292
295
296
S i e h e LINK, U S A , S. 64f.
Zu den Ursachen des Scheiterns des Wiesbadener Abkommens siehe BARIETY, Relations
franco-allemandes, S. 87-89; BERNARD, Decline, S. 110; NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 50; DUROSELLE, Histoire, S. 15f.
84
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
don f٧rchtete man immer noch, daß es zu einem deutsch-französischen Arrangement unter Ausschluß anderer kommen könnte, eine Angst, die der englische Vertreter in der RepKo, Bradbury, auch bei seinen italienischen und belgischen Kollegen schürte.
Das vorläufige Scheitern der Politik des Ausgleichs und des Pragmatismus
in der Reparationsfrage führte zu einer Krise der gesamten Reparationspolitik,
die letztlich erst durch den Dawes-Plan gelöst wurde. Das Ende der Politik
von Wiesbaden machte aber auch den grundsätzlichen Gegensatz in den politischen Konzeptionen Englands und Frankreichs in der Reparationsfrage deutlich, der den eigentlichen Auslöser für die Krise der Reparationspolitik darstellte: Nicht der deutsche Widerwille, die Reparationen zu zahlen, war das
Kernproblem, sondern das fehlende Einvernehmen zwischen Paris und London über Ziele und Modalitäten. Hier offenbarte sich eine weitere Schwäche,
die die Modernisierung der Außenpolitik zunächst blockierte: Da fast alle Probleme, die sich aus dem Versailler Vertrag ergaben - also Reparationen, Sicherheit und viele andere Komplexe (Rheinland, französische Bündnispolitik
in Osteuropa, wirtschaftlicher Wiederaufbau usw.) - , multilateral waren, mußten bilaterale Ansätze, wie sie der Seydoux-Plan oder das Wiesbadener Abkommen darstellten, und erst recht unilaterale Pläne, wie zum Beispiel die
Pläne Tirards und Fochs in bezug auf das Rheinland, scheitern. Der Multilateralismus der Probleme war in letzter Konsequenz Folge der prekären und ungeklärten Machtsituation in Europa. Weder Deutschland noch Frankreich oder
Großbritannien konnten ihre Politik allein gegenüber den anderen Ländern
durchsetzen. Ein wichtiges Versäumnis der Politik von Wiesbaden (aber auch
des Seydoux-Plans) lag darin, daß sie gegen den Willen Großbritanniens zustande gekommen war.
Die vergleichsweise moderne Politik von Wiesbaden scheiterte aber nicht
nur an der mangelnden Einbeziehung Dritter, sondern auch an der Komplexität der Reparationsfrage. Dieses Problem war nicht nur multilateral, sondern
auch multidimensional. Der Krieg veränderte die Außenpolitik dahingehend,
daß sie nun nicht mehr nur auf der Ebene der Politik, sondern - wegen der
ökonomischen Implikationen der Reparationen - auch auf der wirtschaftlichen
Ebene betrieben wurde. Während vor dem Krieg - vereinfacht gesagt - die
Diplomatie sich überwiegend mit politischen Fragen befaßte, mußte sie jetzt
politische und wirtschaftliche Probleme lösen. Da in privatwirtschaftlichen
Wirtschaftssystemen der Staat aber nur sehr begrenzt auf die Wirtschaft Einfluß nehmen kann, kam es zu einer überproportionalen Zunahme von Akteuren, was wiederum zu Koordinierungsproblemen führen mußte. Verschärft
wurde dies dadurch, daß die Interessen und Absichten der beteiligten Gruppen
selbst innerhalb eines Landes nicht gleichgerichtet waren: Landwirtschaft,
verarbeitende Industrie, Handel, Schwerindustrie usw. verfolgten unterschiedliche Ziele. Die nach dem Krieg ohnehin schwierige Wirtschaftslage und die
2.3. Die blockierte Modernisierung
85
neuen Zollschranken in Europa potenzierten die Schwierigkeiten noch. Die
Lφsung der Reparationsfrage im Jahr 1921 scheiterte also auch daran, daß die
Komplexität des Problems nur ungenügend einbezogen worden war. Das bedeutete fur die Politik: Sie mußte entweder Artsätze entwickeln, die möglichst
viele Interessen zufriedenstellend berücksichtigten (allerdings nimmt die
Wahrscheinlichkeit, daß Rahmenbedingungen herrschen, in denen eine fur alle
Seiten annehmbare Lösung erreicht werden kann, mit der Zunahme der Akteure rapide ab), oder die Komplexität der Probleme mußte reduziert werden.
Dieser Weg wurde schließlich beim Dawes-Plan beschritten297. Dabei wurde
die Lösung des Reparationsproblems dadurch erleichtert, daß die Sicherheitsvon den Reparationsfragen entkoppelt wurden. Modernisierung der Außenpolitik bedeutet deshalb auch, Lösungsansätze fur die gestiegene Komplexität
außenpolitischer Probleme zu finden.
An der gestiegenen Komplexität der internationalen Beziehungen scheiterte
auch Lloyd George, der Ende des Jahres 1921 versuchte, neuen Schwung in
die Reparationsfrage zu bringen. Dies geschah aus zwei Überlegungen heraus:
Zum einen versuchte der englische Premier-, die schlechte wirtschaftliche Lage
im Vereinigten Königreich zu lindern298. Durch die Verringerung der Reparationslast sollte Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine geholfen werden, was das Reich zu einem attraktiven Handelspartner für England machen
und somit den britischen Export stärken sollte299. Zum anderen hatte London
ein großes Interesse daran, daß auf dem europäischen Kontinent eine gewisse
Stabilität einzog, damit man sich in Ruhe um die Probleme der Umstrukturierung des Empire kümmern konnte300. Als größten Störfaktor für die Normalisierung der Beziehungen sah man in London das Reparationsproblem, und
deshalb wollte man genau dort ansetzen. Lloyd George beabsichtigte, zum
wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas eine internationale Konferenz unter
Einbeziehung Deutschlands und der Sowjetunion einzuberufen301. Um Paris
die Verringerung der deutschen Reparationsschuld, die in den Augen Englands
Ursache für die schlechte wirtschaftliche Lage Deutschlands und des Kontinents war, schmackhaft zu machen - hier wirkte der Einfluß von Keynes'
»The Economic Consequences of the War«
bot Lloyd George Frankreich
einen bilateralen Sicherheitspakt an. Briand stand diesem Vorschlag offen gegenüber, allerdings mit Einschränkungen: Er wollte nicht nur einen bilateralen
Vertrag, sondern auch Garantien für Frankreichs Verbündete in Osteuropa
297
298
299
300
301
Vgl. Kap. 3.2.
Siehe BERNECKER, Europa, S. 166.
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 16.
Siehe LEE, German Foreign Policy, S. 24.
Siehe GlRAULT, Europe, S. 130.
86
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
sowie eine Verkn٧pfung von Kriegsschulden und Reparationsfrage, um
Großbritannien in der Frage der Reparationen dauerhaft an sich zu binden302.
Auf der Konferenz von Cannes303 (4.-13. Januar 1922) kam es zwischen
Briand und Lloyd George zu Gesprächen bezüglich der Weltwirtschaftskonferenz, des französisch-britischen Sicherheitspakts und der Reparationen. Zwar
konnte man sich schnell auf die Einberufung der Wirtschaftskonferenz einigen, doch lagen in der Beistandspakt- und Reparationsfrage die Positionen
weit auseinander: Lloyd George weigerte sich, den Beistandspakt auf Frankreichs Verbündete auszudehnen, und auch in Reparationsfragen konnte keine
Einigung erzielt werden. Die Konferenz wurde schließlich abrupt abgebrochen, als Briand seinen Rücktritt erklärte, weil Millerand, inzwischen Staatspräsident, die in seinen Augen zu konziliante Haltung Briands sowohl in der
Sicherheits- wie auch der Reparationspolitik öffentlich gerügt hatte.
Nachfolger Briands wurde Poincare, der allerdings keinen tiefgreifenden
Kurswechsel in der Deutschlandpolitik einleitete: Zwar war er, was die von
Lloyd George geplante Weltwirtschaftskonferenz und die englischen Sicherheitsgarantien anging, sehr viel skeptischer als sein Vorgänger304, ließ aber
den Gesprächsfaden zu Deutschland nicht abreißen. Im Gegenteil, er bemühte
sich, die von seinem Vorgänger abgesegnete und im Wiesbadener Abkommen
festgeschriebene Politik umzusetzen: Im Bemelmans-Cuntze-Abkommen vom
27. Februar 1922 und dem Gillet-Ruppel-Abkommen vom 15. März 1922
wurden wichtige praktische Fragen im Zusammenhang mit dem Wiesbadener
Abkommen geklärt305 und mit der Schaffung des Comite consultatif des prestations en nature am 5. Mai 1922 der institutionelle Rahmen fur die Umsetzung des Vertrags geschaffen306.
In der Frage eines Sicherheitspakts kam es allerdings zu keiner Einigung
zwischen England und Frankreich307, so daß die Weltwirtschaftskonferenz in
Genua (10. April-19. Mai 1922) bereits unter denkbar schlechten Voraussetzungen begann308. Lloyd George präsentierte erneut seinen Plan zur wirtschaftlichen und politischen Befriedung Europas unter gleichberechtigter Einbeziehung Deutschlands und der Sowjetunion. Als Mittel dazu sollte ein
302
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 57.
Hierzu siehe KR٢GER, Außenpolitik, S. 162-166; DUROSELLE, Histoire, S. 57f.
304
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 74.
305
Siehe WEILLRAYNAL, Reparations, Bd. 2, S. 145-147.
306
Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 92.
307
Vgl. Nr. 23-43, in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux negociations
concemant les garanties de söcuritd 1924.
308
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 10. Zur Konferenz von Genua siehe auch Carole FINK,
The Genoa Conference: Methods and Results of Conference Diplomacy, in: Jacques BARJETY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S. 245258.
303
2.3. Die blockierte Modernisierung
87
internationales Konsortium dienen, daß den Wiederaufbau der sowjetischen
Wirtschaft finanzieren und dadurch insgesamt die Weltwirtschaft ankurbeln
sollte309. Die Konferenz von Genua endete mit einem Fehlschlag: Da der Sicherheitspakt zwischen England und Frankreich nicht zustande gekommen
war, war Frankreich an den englischen Vorschlägen zur Lösung der Wirtschaftsprobleme, die durch eine Reduzierung der Reparationen vor allem
Frankreich zu bezahlen gehabt hätte, wenig interessiert. Auch das Fehlen der
USA erwies sich als schwere Belastung310. Washington hatte seine Abwesenheit mit der Teilnahme der Sowjetunion begründet und fürchtete, aus dem geplanten Konsortium zum Aufbau der Sowjetunion ausgeschlossen zu werden.
Außerdem forderte es, daß Frankreich und Großbritannien abrüsten sollten,
damit sie mit den eingesparten Mitteln ihre Kriegsschulden endlich zurückzahlten, was vor allem in Paris auf Ablehnung stieß. Auch die Sowjetunion,
die im Mittelpunkt von Lloyd Georges Plan stand, hatte kein Interesse an den
englischen Vorschlägen: Die Anerkennung der russischen Vorkriegsschulden
und die Ausbeutung der sowjetischen Erdölvorkommen durch den Westen
lehnte die Sowjetregierung ab und forderte im Gegenzug Wiedergutmachung
fur die von den westlichen Mächten im russischen Bürgerkrieg angerichteten
Schäden311. Die Sowjetunion sah sich von den Ambitionen der »kapitalistischen« Staaten bedroht und versuchte, die Umklammerung durch die westlichen Staaten zu sprengen, indem sie die vermeintliche »Einheitsfront« des
Westens durch Separatabkommen zu zerbrechen versuchte312.
Dies gelang ihr effektvoll durch den am 16. April 1922 mit Deutschland abgeschlossenen Vertrag von Rapallo, der am Rande der Wirtschaftskonferenz
zustande gekommen war. Der Inhalt des Vertrags war vergleichsweise unspektakulär313: Deutschland und die Sowjetunion verständigten sich darauf, gegenseitig auf Reparationen als Folge des Krieges und auf Entschädigung infolge
der Verstaatlichung von ausländischen Betrieben in der Sowjetunion zu verzichten. Außerdem sollten die diplomatischen und konsularischen Beziehungen wiederhergestellt werden und man sicherte sich gegenseitig die Meistbegünstigung zu. Darüber hinaus verpflichtete sich Deutschland, dem
internationalen Konsortium für Rußland nur nach vorheriger Absprache beizutreten. Anders als in Frankreich geargwöhnt, wurden in Rapallo keine geheimen militärischen Absprachen getroffen. Auch sah Rathenau, der inzwischen
Außenminister geworden war, anders als die eigentlichen Initiatoren der Rapallo-Politik - der Staatssekretär im AA von Maltzan und der deutsche Bot305
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 51.
Siehe Werner LINK, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921-1932,
Düsseldorf 1970, S. 122.
311
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 60f.
312
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 51 f.
313
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 61f.
310
88
2. Rahmenbedingungen und Vorgeschichte
schafter in Moskau, BrockdorffRantzau in dem deutschsowjetischen Ab
kommen keine neue »deutschrussische Revisionsachse«314, sondern vielmehr
eine taktische Neugewichtung, in der die deutsche Enttδuschung ٧ber die Re
gelung der Oberschlesienfrage und die Behandlung der deutschen Moratori
umsgesuche f٧r die Reparationen zum Ausdruck kam315. Psychologisch hatte
Rapallo aber verheerende Folgen: In London und noch stδrker in Paris sah
man einen gemeinsamen deutschrussischen Block entstehen, der jede auf
Ausgleich mit Deutschland beruhende Politik bedrohen mußte und Frankreich
und England wieder einander näherbrachte316. Für die französische Regierung
rückte das Sicherheitsproblem, das durch die Reparationsfragen lange Zeit
verdeckt geblieben war, schlagartig wieder in den Vordergrund außenpolitischer Betrachtungen zurück und bewirkte die Verhärtung der Deutschlandpolitik Poincares317. Das deutsch-sowjetische Abkommen machte aber auch deutlich, daß es in der deutschen Außenpolitik einflußreiche Vertreter gab, die eine
nach Westen gerichtete, auf Einbeziehung Deutschlands abzielende moderne
Politik ablehnten und statt dessen ein Zusammengehen mit der Sowjetunion
mit dem Ziel einer möglicherweise gewaltsamen Revision des Versailler Vertrags anstrebten318.
Läßt man die Ereignisse der Jahre 1919 bis 1922 Revue passieren, so ist
festzustellen, daß nur wenige substantielle Ergebnisse erzielt wurden. Die Reparationsfrage blieb weitgehend ungelöst. Zwar wurde eine »endgültige« Reparationssumme festgelegt und deren Aufteilung unter den Alliieren beschlossen, zwar wurde Deutschland durch ein Ultimatum dazu gezwungen, die
Reparationszahlungen zu akzeptieren; ob Deutschland aber zahlen konnte und wollte - blieb unklar. Auch die Sicherheitsfrage blieb weiter offen. Obwohl Deutschland bis Ende 1921 weitgehend entwaffnet war319, blieb das Sicherheitsproblem weiterhin bestehen. Für Frankreich bestand es vor allem darin, daß man sich einem ökonomisch und demographisch überlegenen,
unversöhnlichen Nachbarn gegenübersah, dessen Hauptziel die Rückgängigmachung der Ergebnisse des Friedensvertrags war320. Dieses Sicherheitsdefizit
abzugleichen, war durch die Allianzen mit den aus den Trümmern des Habsburger- und Zarenreiches entstandenen Staaten Osteuropas nicht gelungen.
Die Verlängerung der Kriegsallianzen mit Großbritannien und den USA war
gescheitert, und auch der anderen Alternative - eine aktive Rheinlandpolitik
zur Abtrennung des linksrheinischen Gebiets von Deutschland - kam man
314
PEUKERT, Weimarer Republik, S. 68f.
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 151, 177.
316
Siehe ibid. S. 178f.
317
Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 76f.
318
Siehe LEE, German Foreign Policy, S. 59.
319
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 137.
320
In diesem Sinne z.B. Paul Reynaud vor der Chambre des D6put6s,zwutsrnmihgfedcbaRBA
Τ siance du 28 ddcem
bre 1923, Abschrift auszugsweise in: BArch R 3101,20437.
315
2.3. Die blockierte Modernisierung
89
nicht nδher. Der wirtschaftliche Wiederaufbau Europas war ebenfalls noch
nicht geschafft. Die Sieger fanden sich in einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise
wieder, die Wδhrungen Frankreichs und Deutschlands verfielen, und in
Deutschland wurde die Krise nur durch die Scheinbl٧te der Inflation ٧ber
deckt.
Eine Teilschuld an diesen Problemen kam dem Versailler Vertrag zu, durch
den es weder gelungen war, eine klare, von allen akzeptierte politische Ord
nung zu etablieren, noch die wirtschaftlichen Nachwirkungen des Krieges zu
friedenstellend zu lφsen. Eine Teilschuld traf jedoch auch die USA, die sich
weitgehend aus Europa zur٧ckgezogen hatte, und durch deren Ausscheren das
Versailler Vertragswerk von Anfang an geschwδcht wurde.
Kurz gesagt, nirgendwo, sei es in politischen oder wirtschaftlichen Fragen,
war eine eindeutige Entscheidung erreicht worden, Europa stolperte von einer
Krise zur nδchsten, ohne daß eine dieser Krisen so stark gewesen wäre, die
Situation grundlegend zu verändern.
Hinsichtlich der Modernisierung der Außenpolitik bleibt in der Situation des
Jahres 1922 zu konstatieren, daß es zwar wegen der Vielzahl der herrschenden
Probleme einen sehr starken Modernisierungsdruck gab, daß aber durch die
Verschränkung von sicherheits-, reparations- und wirtschaftspolitischen Themen und durch das Auftreten neuer Akteure, die vor dem Krieg keinen oder
nur wenig Einfluß auf die Außenpolitik gehabt hatten, das Umfeld für die Außenpolitik wesentlich komplexer geworden war. Gewiß, durch administrative
Reformen wurde versucht, den neuen Problemen Herr zu werden. Eine bessere
Manövrierfähigkeit der Diplomatie wurde dadurch zunächst jedoch noch nicht
erreicht. Im Gegenteil, der Eindruck allgemeiner Hilf- und Konzeptionslosigkeit herrschte vor, weil neben Akteuren, die versuchten, die Lösung der anstehenden Probleme durch Kooperation und Kompromiß zu erreichen, solche
standen, die notfalls eine Entscheidung durch militärische Macht in Kauf
nahmen. Keine Gruppierung konnte sich mit ihren Vorstellungen zunächst
durchsetzen, so daß die Politik insgesamt unkoordiniert erschien: Die Entscheidung des Völkerbunds in der Oberschlesienfrage war kontraproduktiv zu
den wenige Tage zuvor erreichten Ergebnissen des Wiesbadener Abkommens.
Eine Konsequenz daraus war, daß die Ansätze zur Verständigung in Deutschland und Frankreich zeitlich kaum aufeinander traf, sondern meist versetzt. Im
Endeffekt bedeutete dies, daß zwar einige konzeptionelle Voraussetzungen für
die Modernisierung der Außenpolitik vorhanden waren, diese sich aber aus
den genannten Gründen nicht durchsetzen konnten. In der Situation des Jahres
1922 gab es also drei Möglichkeiten: Ein »weiter so wie bisher«, also eine
Pattsituation bezüglich moderner und traditioneller Methoden; eine Rückkehr
zur klassischen Machtpolitik; das Durchsetzen moderner, kooperativer Ansätze der Außenpolitik.
3. DIE ANFΔNGE DER MODERNEN AUSSENPOLITIK
3.1. Der Ruhrkampf
Der Ruhrkampf, »einer der großen, wenn nichtred
der [Herv. i.O.] Wendepunkt
in der Geschichte der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg«1, hatte in mehrerlei Hinsicht entscheidende Bedeutung für die Modernisierung der Außenpolitik. Das gilt natürlich zunächst fur den Ausgang der
Ruhrkrise, die, beginnend mit dem Dawes-Plan, die kurze Ära der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich einleitete. Es wäre jedoch falsch,
die Bedeutung des Ruhrkampfs fur die moderne Außenpolitik nur von seinem
Ende her zu sehen, als Resultat einer vermeintlichen oder tatsächlichen französischen Niederlage und gestiegener deutscher Kooperationsbereitschaft. Wie
im vorangegangenen Abschnitt zu sehen war, gab es schon seit Beginn der
1920er Jahre kooperative Ansätze zur Gestaltung der deutsch-französischen
Beziehungen - wie den Seydoux-Plan oder das Wiesbadener Abkommen - ,
die jedoch nicht durchgesetzt werden konnten. Die Bedeutung des Ruhrkampfs besteht deshalb in erster Linie nicht darin, daß er zu einem radikalen
Bruch in der deutschen und vor allem der französischen Außenpolitik seit dem
Versailler Vertrag führte, sondern daß er half, den auf beiden Seiten vorhandenen verständigungsorientierten und im Sinne dieser Arbeit modernen außenpolitischen Konzeptionen den Weg zu ebnen. Anders gesagt: Der Ruhrkampf war nicht nur ein Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich,
sondern auch eine Auseinandersetzung innerhalb des AA, des Quai d'Orsay,
der Regierungen und der Parlamente um die zukünftige Außenpolitik beider
Länder, in der die modernen Kräfte einen wichtigen Etappensieg erzielen, sich
aber nicht vollständig durchsetzen konnten. In dieser Perspektive gewinnt der
Ruhrkonflikt eine Bedeutung, die dessen eingehende Untersuchung unabdingbar macht.
Ganz allgemein betrachtet war die Besetzung des Ruhrgebiets - oder auch
nur die Drohung damit - ein gutes und bewährtes Druckmittel der Alliierten,
um die Deutschen gefügig zu machen: Bereits im März 1921 hatten alliierte
Truppen einschließlich englischer Soldaten Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort
besetzt2. Das Londoner Ultimatum, mit dem die deutsche Regierung Anfang
Mai 1921 zur Annahme der alliierten Reparationsforderungen gezwungen
1
Klaus SCHWABE, Zur Einf٧hrung, in: DERS. (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der
internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 1 9 , hier S. 1.
2
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 124.
92
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
wurde, bestand in der Androhung, das Ruhrgebiet vollständig zu okkupieren3.
Das Ruhrgebiet war als Sanktionsobjekt deshalb so attraktiv, weil es das Zentrum der deutschen Schwerindustrie und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt
war4. Wer das Ruhrgebiet beherrschte, hatte direkt oder indirekt die Kontrolle
über große Teile der deutschen Wirtschaft, des Verkehrs und der Kommunikation. Es lag außerdem günstig an den bereits von Frankreich, Belgien und
Großbritannien besetzten rheinischen Gebieten und eignete sich als »produktives Pfand«, indem ausstehende Reparationskohlen direkt von dort nach Frankreich transportiert werden konnten, um so den Kohlen- und vor allem den
Koksbedarf der französischen Schwerindustrie zu decken.
Auch für die weiterreichenden Ziele französischer Hardliner ließ sich das
Ruhrgebiet nutzen: Eine Abtrennung des Ruhrgebiets konnte eine sinnvolle
wirtschaftliche Ergänzung für ein autonomes oder separates Rheinland sein,
oder dazu beitragen, daß Deutschland, seines wirtschaftlichen Herzens beraubt, zerfiel. Ein Verlust oder zumindest die Kontrolle des Ruhrgebiets würde
die Deutschen, so hoffte man, auch von einer weiteren Zusammenarbeit mit
der Sowjetunion, die sich in Rapallo angekündigt hatte, abhalten. Daneben
konnte das Ruhrgebiet in französischer Hand nicht nur als Druckmittel gegenüber Deutschland, sondern auch gegenüber England und den USA eingesetzt
werden, damit sie Frankreich doch noch die ersehnten Sicherheitsgarantien
geben oder Zugeständnisse in der Schuldenfrage machen würden5. Kurz gesagt, eine Aktion an der Ruhr könnte Frankreich zur zufriedenstellenden Lösung der drei Probleme führen, die in den Augen vieler Franzosen durch den
Versailler Vertrag nicht vollständig gelöst worden waren: Deutschland endlich
zur Zahlung der Reparationen zu bringen, die langfristige Koksversorgung
Frankreichs sicherzustellen und die Abspaltung des Rheinlands (und damit die
Umsetzung der französischen Sicherheitswünsche) einzuleiten6.
Trotz der vielen Vorteile, die die Ruhrbesetzung zu bieten schien, konnte
sich Poincare, der unmittelbar nach dem Krieg noch die Rheinlandpolitik
Fochs unterstützt hatte, zwischenzeitlich aber eine konziliantere Politik gegenüber Deutschland verfolgte, erst allmählich dazu durchringen. Der Einmarsch ins Ruhrgebiet war nämlich auch mit Risiken behaftet: Er kostete Geld
und sein Erfolg war keineswegs gewiß; würde die deutsche Bevölkerung mit
Widerstand reagieren - und was machte die Reichsregierung? Gab sie nach
oder sollte es zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen kommen, unter Um3
Siehe BERNARD, Decline, S. 109.
4
Zum folgenden siehe JEANNESSON, Poincare, S. 4448; BARIETY, Ruhrkrise, S. 19.
5
Siehe Denise ARTAUD, Reparations and War Debts. The Restoration of French Financial
Power, 19191929, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918
1940. The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 89106, hier
S. 96.
6
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 49.
3.1. Der Ruhrkampf
93
stδnden zusammen mit der Sowjetunion? Wie w٧rden sich die Englδnder ver
halten war London bereit, sich zu beteiligen oder nicht? Ein weiteres Pro
blem bestand darin, daß Poincare mit (mindestens) zwei Denkrichtungen konfrontiert war, die mit der Ruhrbesetzung grundlegend verschiedene Ziele
verfolgten: Die Gruppe der »Rheinländer« um Paul Tirard und seine Mitarbeiter - wie beispielsweise Max Hermant, dem Chef der französischen Besatzungstruppen General Jean Degoutte und sein Stab, Foch und andere - wollte
die Besetzung des Ruhrgebiets vor allem als Hebel benutzen, um das Rheinland entweder in Form eines autonomen Staates innerhalb des Deutschen Reiches oder als eigenen souveränen Pufferstaat abzutrennen. Sie verfolgten also
vor allem (sicherheits-)politische Absichten7.
Andererseits gab es aber auch die Gruppe der »Ökonomen«, die vor allem
aus hohen Funktionären aus dem Quai d'Orsay (allen voran Jacques Seydoux),
dem Ministerium für öffentliche Arbeiten (z.B. Emile Coste) und dem Finanzministerium (beispielsweise Jean Tannery) bestand. Sie sahen in der
Ruhrbesetzung hauptsächlich ein Mittel, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen,
also um Deutschland zur Zahlung der Reparationen zu zwingen und die französische Kohlenversorgung langfristig sicherzustellen8. Der Konflikt zwischen
den verständigungsbereiten Kräften und den Falken sollte das Verhalten
Frankreichs im Vorfeld und während des Ruhrkampfs nachhaltig prägen9. Die
Position Poincares war dabei nicht immer eindeutig.
Aber zunächst zu den Ereignissen, die der Besetzung des Ruhrgebiets
vorausgingen. Wie gesagt, schon in der Reparationskrise vom Frühjahr 1921
war die Besetzung des Ruhrgebiets eine Option gewesen. Anfang April 1921
hatte Philippe Berthelot, Generalsekretär des Quai d'Orsay, seinen Mitarbeiter
Seydoux und Louis Loucheur - zu diesem Zeitpunkt Minister für die befreiten
Gebiete - beauftragt, einen Aktionsplan aufzustellen, der am 22. April 1921
vorgelegt wurde10. Dieser Plan ging allerdings nicht so weit wie ein Projekt,
das Tirard bereits am 10. Februar 1921 Briand vorgeschlagen hatte11. Der Präsident der H.C.I.T.R. hatte darin gefordert, eine Zollgrenze zwischen dem besetzten Gebiet und dem Restreich einzurichten, die preußischen Beamten auszuweisen und die öffentlichen Haushalte im Rheinland durch die H.C.I.T.R.
kontrollieren zu lassen. Außerdem sollte ein conseil consultatif, bestehend aus
rheinischen Industriellen, Bankiers, Arbeitervertretern usw., geschaffen werden, der gewissermaßen den Embryo eines rheinischen Parlaments und damit
7
Siehe AUTIN, Foch, S. 344.
Siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 65.
9
Der Ansicht Schötz', demzufolge das Ziel der französischen Politik »das ungeteilte französische Interesse an der Aufweichung der Einheit des deutschen Reiche?, wie es sich bis Anfang 1924 in der praktischen Politik niederschlug«, war, kann ich mich nicht anschließen,
SCHÖTZ, Deutschlandpolitik, S. 141.
10
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 59f.
11
Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 71-73.
8
94
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
einer eigenen rheinischen Staatlichkeit bilden sollte. Die Besetzung des Ruhrgebiets als produktives Pfand sollte die ganze Aktion absichern. Seydoux und
Loucheur lehnten in ihrem Bericht die weitgehenden Pläne Tirards ab. Sie definierten als Hauptziel der Ruhrbesetzung, daß Deutschland zur Zahlung der
Reparationen gezwungen werden solle12.
Diesen entschärften Plänen konnte auch die englische Regierung zustimmen, obwohl sie eher gegen die Ausweitung der Besetzung eingestellt war. Sie
trug nur deshalb das Londoner Ultimatum mit, um Frankreich von einem Alleingang abzuhalten. Lloyd George befürchtete außerdem, daß, falls er die
Vorschläge Briands ablehnen würde, Poincare wieder an die Macht käme13.
Allerdings machte London wichtige Vorbehalte: Die Besetzung des Ruhrgebiets sollte zeitlich befristet werden, sie durfte nicht zu einer Aufteilung
Deutschlands fuhren und sollte erst dann erfolgen, wenn Deutschland einem
förmlichen Ultimatum nicht nachgekommen war14.
Die Reichsregierung beugte sich jedoch am 11. Mai 1921 den alliierten Bedingungen15, und so blieben die Pläne für die Ruhrbesetzung zunächst in der
Schublade. Zwischenzeitlich verbesserte sich durch den Seydoux-Plan und die
Gespräche, die zum Wiesbadener Abkommen fuhren sollten, das deutschfranzösische Verhältnis, und die verständigungsbereiten Kräfte schienen die
Oberhand zu gewinnen.
Das Tauwetter war aber nur von kurzer Dauer. Ausgelöst durch die für
Deutschland enttäuschende Entscheidung des Völkerbunds in der Oberschlesienfrage, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Berlin und Paris wieder.
Der Vertrag von Rapallo schließlich festigte die Meinung der Hardliner in Paris, die in den deutschen Friedensbeteuerungen reine Taktik sahen. Verstärkt
wurde die allgemeine Krisenstimmung noch durch den unaufhaltbar scheinenden Wiederaufstieg der deutschen Schwerindustrie, während die französische
darniederlag16. Auch für Poincare, der nach dem Rücktritt Briands im Januar 1922 die Regierung übernommen hatte, ließ Rapallo die Alarmglocken
schrillen und die Sicherheitsproblematik wieder in den Vordergrund treten. Er
forcierte nun den Eintritt Polens in die Kleine Entente und versuchte, allerdings erfolglos, mit England die Gespräche über ein Sicherheitsabkommen
wieder aufzunehmen17. Unterstützung fanden Poincares Befürchtungen in einem Bericht Degouttes vom 2. Mai 1922, in dem dieser angesichts der Annäherung zwischen der Sowjetunion und Deutschland die Besetzung des Ruhrgebiets und die Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Gruben
12
13
14
15
16
17
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
Siehe
JEANNESSON, Poincare, S. 60.
K.EIGER, Poincare, S. 275.
JEANNESSON, Poincare, S. 61.
WEILL-RAYNAL, Reparations, Bd. 1, S. 63 8f.
NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 55.
JEANNESSON, Pomcarö, S. 76f.
3.1. Der Ruhrkampf
95
vorschlug18. In die gleiche Kerbe schlug der Report des Deputierten Adrien
Dariac, der nach Abschluß einer Informationsreise in die besetzten Gebiete,
auf der er auch mit Tirard zusammengetroffen war, eine Ruhrbesetzung vorschlug19. Gleichzeitig wütete in Deutschland eine heftige Pressekampagne gegen Poincare, in der versucht wurde, ihm die Hauptschuld am Ausbruch des
Ersten Weltkrieges zuzuschieben20.
Indes, festgelegt hatte sich Poincare auch im Sommer 1922 noch nicht auf
eine Ruhrbesetzung. Er fuhr zweigleisig21. Er versuchte weiterhin, das Wiesbadener Abkommen umzusetzen und unterstützte die Arbeiten eines Komitees
- bestehend aus alliierten, amerikanischen, niederländischen und deutschen
Bankiers - , das die Aufgabe hatte, die Bedingungen einer internationalen Anleihe für Deutschland auszuarbeiten, mit deren Hilfe die Stabilisierung der
Mark erreicht werden sollte. Allerdings scheiterten diese Gespräche am
10. Juni 1922, da Poincare die Verringerung der Reparationszahlungen als
Vorbedingung für eine solche Anleihe nicht akzeptieren konnte22.
Der Fehlschlag dieser Verhandlungen bewegte jedoch die US-Regierung zu
zunehmender diplomatischer Aktivität23. Der (inoffizielle) amerikanische Vertreter bei der RepKo, Ronald Boyden, und Secretary of State Charles Hughes
entwickelten einen Plan, der in vielerlei Hinsicht das Verfahren des späteren
Dawes-Komitees vorwegnahm: Er beinhaltete unter anderem die Einsetzung
eines Expertenkomitees zur Beurteilung der deutschen Zahlungsfähigkeit. Die
diplomatische Initiative von Hughes kam jedoch nicht zustande, da Balfour
am 1. August 1922 erklärte, daß die englische Regierung nur noch Kriegsschulden in Höhe der eigenen Schulden bei den USA von seinen Gläubigern
einfordern wolle. Diese Verletzung des amerikanischen Prinzips der Trennung
von Reparationen und Kriegsschulden, das zudem noch die französischen
Wünsche nach Streichung der Schulden verstärken mußte, ließ Washington
erneut eine abwartende Haltung einnehmen.
Unterdessen trafen in Paris vermehrt Nachrichten ein, die die französische
Führung zunehmend am guten Willen der Deutschen zweifeln ließen und die
Ruhrbesetzung attraktiver erscheinen lassen mußten24: Frankreich sah in der
SieheYWTSRONMLKIHFECBA
BARLFITY, Relations franco-allemandes, S. 96.
Siehe Alfred E. C O R N E B I S E , Gustav Stresemann und die Ruhrbesetzung. Die Entwicklung
eines Staatsmannes, in: Wolfgang M L C H A L K A , Marshall M. L E E (Hg.), Gustav Stresemann,
Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 177-208, hier S. 179.
18
19
20
21
Siehe KEIGER, Poincare, S. 280-283.
Siehe John F.V. KEIGER, Raymond Poincarö and the Ruhr Crisis, in: Robert BOYCE (Hg.),
French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power,
London, New York 1998, S. 49-70, hier S. 53.
22
23
Siehe JEANNESSON, P o i n c a r i , S. 87.
Hierzu siehe Werner L I N K , Die Vereinigten Staaten und der Ruhrkonflikt, in: Klaus
(Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach
dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984, S. 40-51, hier S. 42-44.
24
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 87.
SCHWABE
96
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 das Wiedererwachen des deutschen
Nationalismus. Der beschleunigte Verfall der Mark - bei gleichzeitig rauchenden Schornsteinen im Ruhrgebiet - wurde in Paris in steigendem Maße als
mutwilliges Manöver wahrgenommen, dessen eigentliches Ziel in der Torpedierung französischer Reparationsansprüche lag. An dem Tag schließlich, als
der französische Ministerrat die sofortige Anwendung des Wiesbadener Abkommens beschloß, am 12. Juli 1922, forderte die deutsche Regierung erneut
ein Moratorium für die Reparationszahlungen fur die Jahre 1922 bis 192425.
»[C]'en est trop pour Poincare«26, der darin ein weiteres Zeichen für den mangelnden guten Willen der Deutschen sah und am selben Tag eine interministerielle Kommission mit dem Auftrag einsetzte, eine Lösung für das Reparationsproblem zu finden. Am 19. August 1922 legte Seydoux, der zusammen mit
Coste der Hauptimpulsgeber dieser Arbeitgruppe war, einen Plan vor, der eine
Besetzung des Ruhrgebiets vorsah, die möglichst unsichtbar für die Bevölkerung und mit geringem militärischem Aufwand vonstatten gehen sollte, um
damit dieses wichtige wirtschaftliche Pfand zur Durchsetzung der französischen Reparationsforderungen in die Hand zu bekommen27. Außerdem sollte
eine zivile Kommission zur Überwachung der Ruhrindustrie geschaffen werden - dies nahm die im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung geschaffene
Mission Interalliee de Contröle des Usines et des Mines (M.I.C.U.M) vorweg.
Die Anhebung der Kohlensteuer sowie die Einführung einer Exportabgabe
waren ebenfalls geplant. Weitergehende Pläne, die zu einer Abtrennung des
Rheinlandes hätten führen können, wie beispielsweise die Wiedererrichtung
einer innerdeutschen Zollgrenze, wurden in dem Vorschlag nicht erwähnt.
Dieser Plan erführ in der innerfranzösischen Diskussion Kritik von zwei Seiten28: Finanzminister Charles de Lasteyrie bezweifelte den Nutzen eines solchen Vorgehens und sah im Gegenteil unvorhersehbare Gefahren für den französischen Haushalt. Tirard auf der anderen Seite schlug Ergänzungen vor, die
- ohne den Plan direkt zu kritisieren - den Charakter des seydouxschen Projekts völlig veränderten und es von einem vorwiegend wirtschaftlichen in ein
hauptsächlich politisches Programm umformten: Er forderte neben den von
Seydoux vorgeschlagenen Maßnahmen außerdem die Schaffung einer innerdeutschen Zollgrenze, die Ausweisung preußischer Beamter, die Schaffüng
einer rheinischen Währung und die Erweiterung der Befugnisse der H.C.I.T.R.
In der Zwischenzeit verhärtete sich die Haltung Poincares in der sogenannten Pfandfrage. Am 30. Juli 1922, kurz vor dem Beginn einer neuerlichen Reparationskonferenz in London, erklärte er öffentlich, daß Frankreich einem
deutschen Reparationsmoratorium nur dann zustimmen könne, wenn die Alli25
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63.
26
JEANNESSON, Poincar6, S. 87.
27
28
Siehe BARRIITY, Relations franco-allemandes, S. 97; JEANNESSON, Poincari, S. 94f.
Siehe ibid., S. 5.
3.1. Der Ruhrkampf
97
ierten von Deutschland bestimmte »produktive Pfδnder«, z.B. Bergwerke oder
δhnliches erhielten29.
Die Erklδrung Poincares stieß in London, wo man die Pfänderpolitik ablehnte, auf Widerstand. Andererseits fühlte sich Paris durch die bereits erwähnte
Erklärung Balfours düpiert, in der dieser einen Zusammenhang von englischen
Reparationsforderungen und englischen Kriegsschulden in den USA hergestellt hatte, denn damit waren die französischen Hoffnungen, mit London zu
einem gemeinsamen Standpunkt in der Schuldenfrage gegenüber Washington
zu kommen, zunichte gemacht. Außerdem wurde Frankreich dadurch unter
Druck gesetzt, seine eigenen Reparationsansprüche zu verringern30. Da keine
Aussicht darauf bestand, daß die USA ihre Schuldenansprüche verringern
würden, hätte die Verringerung der Reparationen vor allem bedeutet, daß
Frankreich weniger Geld für den Wiederaufbau zur Verfugung gehabt hätte31.
Die Differenzen zwischen Frankreich und Großbritannien in der Türkeifrage32
vertieften die »mesentente cordiale« und ließen für die neuerliche Reparationskonferenz, die vom 7. bis 14. August 1922 in London stattfinden sollte,
wenig Gutes erwarten. Poincare lehnte dort erneut ein Moratorium für die
deutschen Reparationszahlungen ohne entsprechende Garantien ab33, während
Lloyd George weiterhin die französische Pfänderpolitik kritisierte und forderte, daß Frankreich endlich anfangen solle, seine Kriegsschulden zu bezahlen.
Der französische Ratspräsident wiederum konnte dies nicht akzeptieren und
erklärte, daß Frankreich erst dann seine Schulden bezahlen werde, wenn es
von Deutschland Reparationen erhalte. Die Konferenz scheiterte an diesen unüberbrückbaren Gegensätzen34.
Der Ausgang der Londoner Konferenz bestätigte Poincare in seiner Auffassung, daß sich eine Verhandlungslösung in der Reparations frage nicht mehr
erreichen lasse und nur noch die Politik der produktiven Pfänder zu einer Lösung fuhren könne35. Allerdings dachte er bei diesen Pfändern weniger an eine
Besetzung des Ruhrgebiets, die er - um die Engländer nicht ganz zu vergraulen - ablehnte, sondern an Aktionen im Rheinland, wie die Wiedererrichtung
einer innerdeutschen Zollmauer oder Kapitalbeteiligungen an deutschen Unternehmen36.
29
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63.
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 16.
31
Siehe FISCHER, Ruhr Crisis, S. 24.
32
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 91 f.
33
Siehe Klaus SCHWABE, Groίbritannien und die Ruhrkrise, in: DERS. (Hg.), Die Ruhrkrise
1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn
1984, S. 53-87, hier S. 55.
34
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 63.
35
Siehe BARlßTY, Relations francoallemandes, S. 104.
36
Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 56.
30
98
3. Die Anfange der modernen Außenpolitik
Wie wenig Zuversicht die französische Regierung in die Londoner Konferenz gesetzt hatte, war daran deutlich geworden, daß zeitgleich von Seydoux
und Coste der bereits erwähnte Plan über die im Ruhrgebiet zu ergreifenden
Maßnahmen ausgearbeitet worden war37.
In der Folgezeit lösten immer neue deutsche Moratoriumsgesuche, die
Frankreich als unzureichend ablehnte, weil sie keine Pfander vorsahen, und
immer neue Ruhrpläne, in denen die »Rheinländer« um Tirard und Degouttezunehmend ihre Vorstellungen durchsetzen konnten, einander ab.
Es waren schließlich zwei Ereignisse, die Poincare in Richtung Ruhrbesetzung tendieren ließen, ohne daß an dieser Stelle im Detail auf die Frage eingegangen werden soll, wann genau sich der französische Ministerpräsident dazu
entschied38. Das eine war die neue Reichsregierung unter Führung Wilhelm
Cunos, den Poincare für eine Marionette von Hugo Stinnes und seinesgleichen
hielt, und in dessen Amtsantritt er einen gefahrlichen Rechtsruck in Deutschland ausmachte39. Das zweite war der Sturz Lloyd Georges und der Regierungsantritt Bonar Laws. Das persönliche Verhältnis zwischen Lloyd George
und Poincare war denkbar schlecht gewesen und der britische Premier hatte
sich hartnäckig den französischen Bündnisavancen widersetzt40. In Lloyd
George hatte die französische Regierung die stärkste Opposition für ihre
Ruhrpläne gesehen. Bonar Law - keineswegs ein Befürworter einer Ruhrbesetzung, aber um eine Verbesserung des angeschlagenen französischbritischen Verhältnisses bemüht - hinterließ bei Poincare den Eindruck zumindest der wohlwollenden Neutralität gegenüber einer französischen Ruhraktion41. Dieser Eindruck wurde durch vom französischen Geheimdienst abgefangene, geheime britische Dokumente bestätigt42. Obwohl es bei einem
neuerlichen französisch-britischen Gipfeltreffen in London am 9. Dezember 1922 zu keiner Übereinkunft in der Reparations- und Ruhrfrage kam, fühlte sich die französische Seite durch die veränderte Haltung Großbritanniens so
ermutigt, daß von Coste ein abgeschwächter Ruhrplan ausgearbeitet wurde,
der zunächst nur die Entsendung einer Ingenieursmission nach Essen (dem
Sitz des Kohlensyndikats) vorsah. Nach diesem Plan sollte nur im Falle man-
37
38
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 94f.
Bariöty geht davon aus, daß Poincart sich erst Ende November endgültig entschieden hat
(BARltTY, Relations franco-allemandes, S. 107), während Jeannesson die Ansicht vertritt,
daß Poincare bereits nach dem Scheitern der Londoner Konferenz die Ruhraktion plante und
sich in der Folgezeit nur noch Zielsetzung und Vorgehensweise geändert haben (JEANNESSON, Poincari, S. 117). Auch Keiger datiert den Beginn konkreter Besetzungspläne auf April
1921 (KEIGER, Poincar6, S. 285). Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist die Klärung dieser Frage jedoch unerheblich.
39
Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 106f.
40
Siehe KEIGER, Poincar6, S. 286f.
41
42
Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 56.
Siehe KEIGER, Poincari, S. 296.
3.1. Der Ruhrkampf
99
gelnder deutscher Kooperationsbereitschaft eine militδrische Besetzung
wenn mφglich einschließlich britischer Truppen - erfolgen43.
In Frankreich wurden die Signale also zunehmend auf Okkupation gestellt:
Die Reparationskommission stellte am 26. Dezember 1922 formell fest, daß
Deutschland seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachgekommen sei44.
Die Entscheidung kam gegen die Stimme des britischen Delegierten Bradbury
zustande. Daß die Entscheidung der RepKo eine Alibifunktion hatte, läßt sich
daran erkennen, daß der Wert der nichtgeleisteten Lieferungen (es handelt sich
um die berühmt-berüchtigten Telegrafenmasten und Holzlieferungen) lediglich zwei Millionen GM ausmachte, also nur einen Bruchteil des Gesamtvolumens der Sachlieferungen für das Jahr 1922, das 274 Millionen GM umfaßt
hatte45.
Auf angloamerikanischer Seite setzte nun ein reges diplomatisches Treiben
ein, um eine französisch-belgische Ruhrbesetzung - die belgische Regierung
hatte Ende November 1922 nicht ohne Bedenken und unter nicht unerheblichem französischen Druck einer gemeinsamen Aktion zugestimmt46 - noch in
letzter Minute zu verhindern. In einer Rede in New Haven am 29. Dezember 1922 schlug der amerikanische Außenminister Hughes, im Rückgriff auf
die nicht zur Ausführung gekommenen amerikanischen Pläne vom Sommer,
die Einsetzung einer unabhängigen Sachverständigenkommission zur Untersuchung der deutschen Zahlungsfähigkeit vor47 . Allerdings lehnte Hughes erneut
die Verknüpfung von Kriegsschulden und Reparationen ab und bot auch keinerlei Unterstützung der amerikanischen Regierung an48. Für Frankreich war
der Vorschlag in dieser Form deshalb wertlos. Die Engländer versuchten,
durch ein weiteres Treffen und neue Vorschläge Paris von seinen Ruhrplänen
abzuhalten. Auf der Konferenz von Paris (2.-4. Januar 1923) stellte Bonar
Law sein Programm vor49: Großbritannien werde die Kriegsschulden Frankreichs streichen, wenn Frankreich im Gegenzug einer Verringerung seines
Anteils an den deutschen Reparationszahlungen zustimme. Die Kriegsschulden, die die osteuropäischen Staaten in Frankreich hatten, sollten auf
43
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 120.
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 64.
45
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 127. Lee und Michalka kommen zu anderen, in der Tendenz aber ähnlichen Ergebnissen, siehe LEE, German Foreign Policy, S. 44.
46
Siehe Francis ROTH, La Belgique dans les rapports franco-allemands au moment de
1'affaire de la Ruhr, in: Christian BAECHLER, Klaus-Jürgen MÜLLER (Hg.), Les tiers dans les
relations franco-allemandes - Dritte in den deutsch-französischen Beziehungen, München
1996, S. 127-137, hier S. 132.
47
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 44.
48
Text von Hughes New Haven Rede in: »Hughes Discloses Policy in Speech«, New York
Times (20.12.1922). Nach dem Scheitern der Konferenz in Paris bekräftigte die USRegierung ihre Ablehnung, direkt involviert zu werden: »We Stand on Hughes's Hint«, New
York Times (5.1.1923).
49
Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 122f.
44
100
3. Die Anfange der modernen Auίenpolitik
Großbritannien übertragen werden. Ferner sollten Frankreich und die anderen
Alliierten auf die Goldreserven, die sie während des Krieges in England hinterlegt hatten, verzichten. Die deutsche Reparationsschuld sollte zunächst um
50 Mrd. GM, später eventuell um weitere 17 Mrd. GM gesenkt und das deutsche Finanzgebaren durch einen von der RepKo unabhängigen Rat ausländischer Experten überwacht werden. Der Plan sah weiterhin ein zweijähriges
Moratorium für deutsche Reparationen, ausschließlich der Sachlieferungen,
vor. Pfander waren in dem Programm nicht vorgesehen, nur für den Fall deutscher Nichterfüllung hielt London eine Pfandnahme für möglich.
Im Gegensatz dazu sah der französische Vorschlag50 vor, daß die deutsche
Reparationsbelastung nur in dem Umfang reduziert werden sollte, in dem auch
die interalliierten Schulden verringert würden. Die Mark sollte stabilisiert und
der Haushalt des Deutschen Reiches einer strikten Kontrolle durch den der
RepKo angegliederten comite des garanties unterworfen werden. Ein zweijähriges Moratorium, das nicht für Sachlieferungen gelten sollte, sollte durch
Pfänder abgesichert werden, die sich an dem von Coste Ende Dezember 1922
ausgearbeiteten Plan orientierten. Eine militärische Besetzung sollte also weitgehend vermieden werden. Nur im Falle deutschen Widerstandes sollte die
Okkupation auf das ganze Ruhrgebiet ausgeweitet und eine innerdeutsche
Zollgrenze errichtet werden.
Obwohl die französischen Vorschläge große Zugeständnisse an die englische Position bedeuteten, blieb der grundsätzliche Widerspruch zwischen
London und Paris bestehen. Die französische Kritik bestand dabei vor allem in
den folgenden Punkten51: die Unabhängigkeit des von England ins Spiel gebrachten Kontrollrats für die deutschen Finanzen von der RepKo, die Nichteinbeziehung der alliierten Kriegsschulden bei den USA und die Übertragung
der französischen Gläubigerrechte auf Großbritannien, weil Paris dahinter vor
allem die Absicht vermutete, daß London den wirtschaftlichen Einfluß Frankreichs in Osteuropa zurückdrängen wollte. Wichtigster Konfliktpunkt blieb
aber die Frage der Pfänder, für die England inakzeptabel strikte Bedingungen
forderte. Allerdings hatte sich im Laufe des Jahres 1922 innerhalb der französischen Position eine gewisse Radikalisierung - im Sinne einer stärkeren Zuwendung zu politischen Zielen anstelle von rein wirtschaftlichen Pressionen eingestellt. Dieser Wandel erklärt zum Teil, weshalb die deutschen und britischen Vorschläge zur Lösung der Reparationsfrage, die sich im gleichen Zeitraum den weniger radikalen Wünschen der französischen Regierung aus der
ersten Hälfte des Jahres 1922 annäherten, in Paris weitgehend ungehört verhallten52. Da die Vorschläge Bonar Laws auch die Interessen Belgiens und Ita-
50
51
52
Siehe ibid. S. 121f.
Siehe ibid. S. 122124.
Siehe ibid. S. 113f.
3.1. Der Ruhrkampf
101
liens weitgehend außer acht gelassen hatten, rückten Rom und Brüssel enger
an Frankreich heran.
Obwohl auf der Konferenz keine inhaltliche Annäherung erzielt worden
war, ging die französische Regierung mit dem durchaus richtigen Gefühl aus
den Gesprächen, daß England sich zwar an einer Ruhraktion nicht beteiligen,
aber auch nichts dagegen unternehmen würde53. Die Motive für dieses nachsichtige Verhalten Londons lagen darin, daß bei den anstehenden Verhandlungen in Lausanne über die Zukunft Griechenlands und der Türkei Großbritannien von Frankreich Verständnis für den Standpunkt Griechenlands
erwartete. Die neue britische Regierung brachte außerdem dem französischen
Sicherheitsverlangen mehr Verständnis (oder vielleicht besser: weniger Unverständnis) entgegen als ihre Vorgängerin und befürchtete, daß ein offener
Bruch die Lage nur noch verschlimmern würde: Ihre Einflußmöglichkeiten
würden weiter sinken und der deutsche Widerstand bei einer offenen englischen Ablehnung der Aktion nur noch angeheizt werden. Einige englische
Regierungsmitglieder waren auch fest vom Scheitern der französischen Ruhraktion überzeugt; danach, so die Einschätzung, werde es einfacher sein, mit
den Franzosen zu reden54. Folgerichtig beschloß das englische Kabinett am
13. Januar 1923, daß sich die britischen Vertreter in allen interalliierten Gremien, vor allem also der Botschafterkonferenz, der Reparationskommission
und der Rheinlandkommission, bei Fragen, die die Besetzung weiterer Teile
Deutschlands betrafen, der Stimme enthalten sollten. Diese Entscheidung erlaubte es Frankreich, in den neu zu besetzenden Gebieten fast ungehindert zu
schalten und zu walten55.
Poincare setzte nun die lange vorbereiteten Pläne zum Einmarsch in das
Ruhrgebiet in die Tat um: Noch während der Pariser Konferenz hatte der französische Ministerrat beschlossen, einen Plan Fochs, der eine schrittweise Besetzung des Ruhrgebiets in verschiedenen Zonen vorsah, durchzuführen56. Die
RepKo stellte am 9. Januar 1923 - wiederum gegen die Stimme Bradburys fest, daß Deutschland auch mit der Lieferung von Reparationskohlen in Verzug sei57, und am Tag darauf überreichten der französische Botschafter in
Berlin, Pierre de Margerie, und sein belgischer Kollege, Adrien Nieuwenhuys,
dem deutschen Außenminister Rosenberg eine Note ihrer Regierungen, in der
die Entsendung einer alliierten Ingenieursmission zur Überwachung der Arbeit
des Kohlensyndikats angekündigt wurde58. Französische und belgische Truppen sollten diese Mission beschützen. Begründet wurde die Aktion mit Para53
Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 61f.
Siehe FISCHER, Ruhr Crisis, S. 30.
55
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 124.
56
Siehe ibid. S. 127.
57
Siehe ibid.
58
Siehe CORNEBISE, Ruhrbesetzung, S. 179.
54
102
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
graph 18 der Anlage II des Teils VIII des Versailler Vertrags59. Am 11. Januar 1923 rückte die alliierte Kommission, die die deutschen Kohlenlieferungen
sicherstellen soll, die Mission Interalliee de Contröle des Usines et des Mines
(M.I.C.U.M.), begleitet von einem belgisch-französischen Expeditionskorps,
ins Ruhrgebiet ein60.
Die M.I.C.U.M.61 war ein interalliiertes Organ unter französischer, belgischer und italienischer Beteiligung und bestand aus 72 Ingenieuren (64 Franzosen, 6 Belgier und 2 Italiener), die entweder von der H.C.I.T.R., von Ministerien oder der Privatwirtschaft abgestellt worden waren. Die Kommission
war unabhängig von der H.C.I.T.R. und eigens für den Zweck der Ruhrbesetzung geschaffen worden. Ihre Aufgaben bestanden darin, die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Gruben und Fabriken im Ruhrgebiet festzustellen, die Programme des Kohlensyndikats, welches die Reparationslasten auf die einzelnen
Gruben verteilte, zu überprüfen und gegebenenfalls neue Reparationspläne
aufzustellen.
Die Ruhrbesetzung begann mit einem Fehlschlag. Das Kohlensyndikat,
Hauptziel der Nachforschungen der M.I.C.U.M., hatte zwei Tage vor Beginn
der Ruhraktion seine gesamten Unterlagen nach Hamburg geschafft62, und der
passive Widerstand, den die Reichsregierung kurz nach der Besetzung erklärt
hatte, traf die belgischen und französischen Stellen weitgehend unvorbereitet.
Man hatte zwar mit symbolischem Widerstand und Einzelaktionen gerechnet,
eine Massenbewegung aber nicht erwartet63.
Auf die Verkündung des passiven Widerstands reagierte die französische
Regierung auf zweifache Weise. Zum einen mit Zwangsmaßnahmen, wie die
Ausweisung von Beamten und Eisenbahnpersonal, die am 30. Januar 1923 in
59
Es ist für den Zusammenhang dieser Arbeit relativ unerheblich, ob die Ruhrbesetzung
rechtmäßig war oder nicht. Ich schließe mich dennoch der Auffassung Weill-Raynals an, daß
sie es nicht war. Er argumentierte wie folgt: 1. § 18 würde die Klauseln des Versailler Vertrags, die die Verlängerung eines Besatzungsregimes im Falle deutscher Nichterfüllung ermöglichen (Artikel 430 des Versailler Vertrags) überflüssig machen; 2. Bei der ersten Fassung des § 18 auf der Friedenskonferenz wurden die Sanktionsmöglichkeiten noch einzeln
aufgeführt. Die Forderung Klotz', auch territoriale Sanktionen aufzunehmen, wurde bei der
Diskussion des § 18 jedoch ausdrücklich abgelehnt; 3. Die Interpretation des § 18 liegt bei
der RepKo, nicht bei der französischen Regierung. In Fragen, die die Interpretation des Versailler Vertrags betreffen, mußte die RepKo einstimmig entscheiden, nicht, wie bei der
Ruhrbesetzung geschehen, mit einer belgisch-französischen Mehrheit; 4. Frankreich hatte
sich nach einem Alleingang bei der Besetzung einiger rechtsrheinischer Gebiete 1920 Großbritannien gegenüber verpflichtet, nur noch gemeinsam mit den Alliierten weitere Gebietsbesetzungen vorzunehmen. Siehe W E I L L - R A Y N A L , Reparations, Bd. 1, S. 544 und D E R S . , Reparations, Bd. 2, S. 368-375.
60
61
Siehe GlRAULT, Europe, S. 133.
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 157f.; BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 109f.
62
Siehe Pierre JOLLY, Dossier inedit... de la guerre de la Ruhr ... de ses consequences, Paris 1974, S. 172.
63
Siehe C O R N E B I S E , Ruhrbesetzung, S. 181.
3.1. Der Ruhrkampf
103
großem Umfang begann und besonders solche Personen betraf, die nicht aus
dem Rheinland stammten oder sich beim passiven Widerstand besonders exponiert hatten. Zwischen Januar und November 1923 wurden 147 000 Deutsche aus dem Rheinland ausgewiesen64. Zum anderen begannen die französischen und belgischen Besatzer mit der wirtschaftlichen Abschnürung des
besetzten Gebiets vom Restreich65. Damit beabsichtigten sie, die Bevölkerung
im Rheinland gefügig zu machen und Deutschland, das den passiven Widerstand finanzierte, der Mittel dazu zu berauben. Darüber hinaus diente diese
Politik dem Zweck, das Ruhrpfand produktiv zu machen, indem die Steuerund Zolleinnahmen sowie die Gewinne aus den staatlichen Domänen (vor allem Forste und Bergwerke) als Reparationen gepfändet wurden. Folgerichtig
wurde erneut eine innerdeutsche Zollgrenze errichtet und zahlreiche Verbote
erlassen, die die Ausfuhr bestimmter Güter (besonders Kohlen) aus dem besetzten Gebiet in das unbesetzte Deutschland betrafen. Ausgenommen waren
jedoch Lebensmittellieferungen, da sich die Besatzer nicht des Vorwurfs
schuldig machen wollten, das Ruhrgebiet auszuhungern66. Ein weiteres Ziel
der französischen Seite war, durch die wirtschaftliche Abtrennung der besetzten Gebiete vom Reich auch deren politische Abspaltung vorzubereiten. Diesem Zweck dienten die Errichtung der Eisenbahnregie, die die Strecken im
Rheinland verwaltete, und die Versuche zur Schaffung einer rheinischen Währung.
Die Schaffung einer rheinischen Währung war schon seit langem von Tirard
geplant worden67. Der Verfall der Mark konnte dabei als guter Vorwand dienen, ökonomische Notwendigkeit mit politischen Absichten zu verknüpfen,
und am 22. Januar 1923 erhielt Tirard von Poincare den Auftrag, sich um die
Währungsfrage zu kümmern68. Parallel dazu gab es Vorüberlegungen einiger
interessierter Privatbanken, vor allem von der Societe generale alsacienne de
Banque und von Lazard freres69, die sich vor allem an den in Ägypten und Syrien geschaffenen Kolonialbanken orientierten70. Im Grunde genommen drehte
sich die Diskussion um die Schaffung einer rheinischen Währung um drei Pro64
Siehe BARlfiTY, Relations francoallemandes, S. 114. Nach anderen Quellen wurden mehr
als 187 000 Personen ausgewiesen, siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (15.1.1924),
B A r c h R 3101, 20436.
65
Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 194; BARIETY, Relations francoallemandes, S. 114.
Durch die französischen Besatzungstruppen wurden sogar 77 neue öffentliche Suppenküchen eingerichtet, siehe JEANNESSON, Poincare, S. 207. Soziale Maßnahmen im Zusammenhang mit der französischen Rheinlandpolitik gehen bereits auf die Zeit Napoleons I. zurück,
siehe TIRARD, Rhin, S. 279.
67
Siehe BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 114.
68
Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 218f.
69
Siehe Debrix an Atthalin (1.2.1923), Banque de Paris et de Pays-Bas (BPPB), 1 Cabet
66
1, 187.
70
Namentlich der Banque Nationale d'Egypte und der Banque de la Syrie, siehe Berard an
Atthalin (29.1.1923), BPPB, 1 Cabet 1, 187.
104
3. Die Anfange der modernen Auίenpolitik
jekte, die das Jahr 1923 hindurch mit unterschiedlichen Akzentuierungen und
Abwandlungen diskutiert wurden: Das erste Projekt wurde vom Generaldirek
tor der Societe generale alsacienne de Banque, Rene Debrix, und Vertretern
von Lazard freres vorgelegt. Darin wurde vorgeschlagen, eine stabile rheini
sche Wδhrung zu schaffen, deren Banknoten durch franzφsische Schatzwech
sel gedeckt sein sollten71. Ein weiterer Plan, der auf den Generalsekretδr der
H.C.I.T.R., Hermant, zur٧ckging, bestand aus einer rheinischen Wδhrung, die
durch Gold gedeckt sein sollte und erregte, wie auch der erste Vorschlag, so
fort den Widerspruch des Finanzministeriums72. Ein anderes Projekt, vorgelegt
von Edmond Giscard D'Estaing und Poisson, die beide im Stab Tirards tδtig
waren, sah die Schaffung einer privaten Bank vor, in die zunδchst franzφsi
sche, spδter aber auch Kreditinstitute aus anderen Lδndern Kapital einbringen
sollten. Als weitere Variante dieses Plans schlug der Direktor der im
Mδrz 1923 geschaffenen Eisenbahnregie, Henri Breaud, vor, die rheinischen
Eisenbahnen als Deckung fur eine neue rheinische Wδhrung zu verwenden73.
Letztendlich scheiterten die franzφsischen Versuche zur Einfuhrung einer
rheinischen Wδhrung daran, daß einige Privatbanken, vor allem einige Pariser
Großbanken, dem Projekt skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden74. Eine
Ansicht, die von der Banque der France geteilt wurde, die Gefahren fur die
Stabilität und Konvertibilität des Franc sah75. Vor allem aber wollte der französische Staat, besonders Finanzminister de Lasteyrie, angesichts der schwierigen Lage, in denen sich die öffentlichen Finanzen in Frankreich befanden,
keine staatlichen Garantien übernehmen76. Es waren aber nicht nur finanzielle,
sondern auch politische Probleme, die die Einfuhrung einer rheinischen
Währung scheitern ließen. Belgien, das Poincare, um dem Unternehmen einen
interalliierten Anstrich zu geben, unbedingt im Boot haben wollte, war zwar
durch die Banque Nationale de Belgique an den Verhandlungen beteiligt, verschleppte diese aber, weil es hinter den französischen Plänen - nicht zu unrecht - politische Hintergedanken vermutete77. Aber auch auf französischer
Seite machte man sich Gedanken über die politischen Vorbedingungen einer
rheinischen Währung. In einem »Plan d'action monetaire en pays occupe«78
vom 24. September 1923 - zwei Tage, bevor die Reichsregierung mehr oder
weniger bedingungslos den passiven Widerstand beenden mußte, zu einem
Zeitpunkt also, als der französische Triumph im Ruhrkampf total zu sein
71
Siehe Debrix an Atthalin (1.2.1923), BPPB 1 Cabet 1,187.
Siehe BARiiTY, Relations francoallemandes, S. 115.
73
Siehe Breaud an Tirard und Degoutte (5./6.9.1923), Banque de France (BdF) 1370200008/76.
74
So z.B. Atthalin [?] an B6rard (31.1.1923), BPPB 1 Cabet 1, 187.
75
Vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum, BdF, 1370200008/76.
76
Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 317.
77
Siehe ibid. S.221.
78
O.V. (24.9.1923), BdF 1370200008/76.
72
3.1. Der Ruhrkampf
105
schien wurde festgestellt, daß die Einfuhrung einer rheinischen Währung
zwei Bedingungen genügen müsse: Erstens müsse die finanzielle und administrative Autonomie der besetzten Gebiete von Deutschland bzw. den deutschen Ländern erreicht werden und zweitens müsse der Anstoß zur Lösung der
Währungsfrage von der dortigen Bevölkerung kommen. In der Tat verschärfte
sich die wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten bald so weit, daß von
Seiten der Rheinländer Ende Oktober/Anfang November 1923 der Wunsch
nach einer eigenen Währung vorgetragen wurde79. Als Gründe für die Errichtung einer »Rheinischen Goldnotenbank« führten die Befürworter, vor allem
der Kölner Bankier Louis Hagen, aber auch andere Wirtschaftsführer und Politiker aus dem Rheinland, wie Robert Pferdmenges und Hugo Stinnes, an, daß
die Wirtschaft in den besetzten Gebieten wegen der desolaten Lage unbedingt
ausländisches Kapital brauche (welches durch die Beteiligung ausländischer
Teilhaber an der Goldnotenbank eingebracht würde)80. Außerdem sei bei einer
deutschen Weigerung zu befürchten, daß Franzosen und Belgier eine Notenbank ganz ohne deutsche bzw. rheinische Beteiligung gründen würden81. Die
wirtschaftliche Not in den besetzten Gebieten spiele zudem den Separatisten in
die Hände82. Die französische Regierung war diesen Plänen gegenüber zwar
prinzipiell positiv eingestellt, es entbrannte aber mit den rheinischen Bankiers
eine Auseinandersetzung darüber, wer die Kontrolle über das neu einzurichtende Institut haben sollte83. Die Reichsregierang hatte jedoch schwere Bedenken bezüglich der Bankpläne84: Das Projekt bedrohe die Währungseinheit
des Reiches und damit auch die wirtschaftliche und politische Einheit
Deutschlands. Allerdings bestand für die geplante gesamtdeutsche Währungssanierung die Gefahr, daß, falls das neue Geld auch in den besetzten Reichsgebieten eingeführt würde, die Besatzungsbehörden durch ihre Praxis, Gelder
für den Unterhalt der Besatzungstruppen zu beschlagnahmen, die Stabilität der
neuen Währung sofort wieder unterminieren würden85. Deswegen und unter
dem Druck der vereinigten rheinisch-westfälischen Wirtschaftinteressen
stimmte die Reichsregierung dem am 1. Dezember 1923 vorgelegten Statut für
eine Rheinisch-Westfälische Goldnotenbank widerwillig und unter strengen
79
Auf einer »Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete« (25.10.1923) hatte
Louis Hagen darauf hingewiesen, »daß es unbedingt notwendig sei, mit einer Währungsreform im Rheinland schnellstens vorzugehen«, AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 179.
80
»Besprechung des Kabinetts mit Interessenten der Rheinisch-Westfälischen Goldnotenbank« (17.12.1923), AdR MarxzxutsrponmlihgedcbaVSRPNMKIHGBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 29.
81
Siehe Hagen an Marx (31.12.1923), AdR Marx Ι/Π Bd. l,Nr. 44.
82
Siehe Kabinettssitzung (9.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 233.
83
SieheSONJEA
JEANNESSON, Poincar6, S. 353355.
84
Siehe Kabinettssitzung (17.12.1923), AdR Marx Ι/Π Bd. 1, Nr. 28.
85
Vgl. Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemann
I/II Bd. 2, Nr. 179.
106
3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik
Auflagen zu86. Letztendlich scheiterte die rheinische Wδhrung an der erfolg
reichen Einf٧hrung der Rentenmark, die eine Sonderregelung f٧r das Rhein
land obsolet machte. Großbritannien stützte die Rentenbank in der kritischen
Anfangsphase durch einen 100 Mio. GM Kredit der Bank of England und
machte damit deutlich, daß ein wirtschaftlich und währungspolitisch an Frankreich gebundenes Rheinland nicht englischen Interessen entsprach87.
Das zweite Instrument, das Frankreich zur Durchsetzung seiner politischen
Rheinlandpläne nutzen wollte, war die Eisenbahnregie. Sie war zunächst aus
der Not geboren, denn der passive Widerstand hatte den Eisenbahnverkehr im
ganzen Ruhrgebiet und Rheinland lahmgelegt. Formell wurde die Regie, also
der Betrieb der Eisenbahnen in den besetzten Gebieten unter Aufsicht der Alliierten und zum Teil mit Personal aus Frankreich und Belgien, am
12. März 1923 eingerichtet. Im Sommer 1923 stellten sich Erfolge ein, die die
Politik des passiven Widerstands der Berliner Regierung zunehmend schwächten88. Die Eisenbahnregie war aber auch sicherheitspolitisch wichtig, denn die
dauerhafte Kontrolle über die Eisenbahnen würde einen deutschen Truppenaufmarsch im Rheinland unmöglich machen89. Getragen von diesen Überlegungen, legte der Direktor der Regieeisenbahnen, Breaud, am 15. Juni 1923
einen weitreichenden Plan zur Umgestaltung der Eisenbahn in den besetzten
Gebieten vor90. Sein Projekt beinhaltete die Umwandlung der rheinischen Eisenbahnen in eine internationale Gesellschaft nach französischem Recht mit
Sitz in Paris. Der Generaldirektor sollte seinen Sitz bei der H.C.I.T.R. in Koblenz haben, der harte Kern der Angestellten sollte aus 15-20 000 französischen und belgischen Arbeitern bestehen, zu denen weitere 80-100 000 aus
dem Rheinland kommen sollten. Das Kapital von 50 Mio. Francs sollte zu
15 Prozent von den Rheinländern selbst gezeichnet werden, die übrigen
85 Prozent nach dem in Spa vereinbarten Schlüssel für die Reparationen auf
die Alliierten verteilt werden. Wie auch bei den Plänen zur Schaffung einer
rheinischen Währung scheiterte Frankreich letztendlich an der Errichtung einer selbständigen rheinischen Eisenbahngesellschaft91. Neben juristische Probleme - das Reich hätte als Eigentümer der Eisenbahnen der Besitzübertragung zustimmen müssen - traten wiederum vom französischen Finanzministerium vorgebrachte Vorbehalte: Es lehnte staatliche Zuschüsse und Garantien ab, was das Projekt für mögliche private Anleger unattraktiv machen
mußte. Selbst in Frankreich setzte sich außerdem während und nach den VerVgl. Marx an Hagen (22.12.1923), AdR MarxzyvutronmlkihgedcbaXTSPNKIFDCBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 36.
Siehe Curzon an Kilmarnock (3.12.1923), in: DBFP 1 XXI, Nr. 485; Tyrell an Saint
Aulaire (12.12.1923), ibid. Nr. 491; vgl. SCHΦTZ, Deutschlandpolitik, S. 140f.
88
Siehe BARlfeTY, Relations francoallemandes, S. 117.
89
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 231.
90
Siehe ibid. S. 308.
91
Siehe ibid. S. 365f.
86
87
3.1. Der Ruhrkampf
107
handlungen des DawesKomitees die Auffassung durch, daß Deutschland nur
dann seine Reparationsverpflichtungen würde leisten können, wenn es über
sein ganzes Eisenbahnnetz verfugte.
Im Zusammenhang mit den Maßnahmen, die Frankreich ergriff, um
Deutschland einerseits zum Nachgeben zu zwingen und um andererseits das
Ruhrpfand »produktiv« zu machen, sind auch die Versuche zu sehen, Bergwerke und Kokereien im Ruhrgebiet direkt auszubeuten. Ab September 1923
wurden sukzessive ausgewählte Bergwerke und Kokereien besetzt, um vor allem die Koksversorgung der französischen Schwerindustrie sicherzustellen.
Bis Dezember 1923 konnte aus den besetzten Gruben und Kokereien Kohlen
und Koks nach Frankreich geliefert werden, die etwa einem Drittel der festgelegten Sachlieferungen entsprachen92. Diese Aktionen standen im Zusammenhang mit Fühlungnahmen zwischen dem Verband der französischen Eisenindustriellen, dem Comite des forges, und den an der Ruhraktion beteiligten
Ministerien, vor allem dem Quai d'Orsay und dem Ministerium für öffentliche
Arbeiten93. Bereits Anfang des Jahres 1923 hatte der Comite des forges seinen
Generalsekretär Robert Pinot beauftragt, einen Bericht über die Schwierigkeiten der französischen Schwerindustrie zu verfassen, der am 16. April 1923
übergeben wurde. Dieser Bericht, der den entsprechenden Ministerien vorlag,
von dort aber wohl keine offizielle Antwort erfuhr, bezeichnete als das Kernproblem der französischen Industrie die Abhängigkeit der Eisenproduktion
von deutschem und englischem Koks. Aufgrund der Ausfalle der deutschen
Sachlieferungen nach der Ruhrbesetzung habe die Produktion der lothringischen Eisenwerke auf die Hälfte zurückgefahren werden müssen. Als Abhilfe
forderte der Comite des forges, der allerdings erst am 29. Oktober 1923 den
Bericht Pinots zu seiner offiziellen Linie machte94, von den politischen Stellen, Vorzugslieferungen von 1,5 Mio. t Koks bei der deutschen Industrie
durchzusetzen, die alten Absatzgebiete der lothringischen Schwerindustrie,
vor allem das Ruhrgebiet und den süddeutschen Raum, wiederherzustellen und
die Übertragung der Eigentumsrechte deijenigen Ruhrbergwerke, die vor dem
Krieg die lothringischen Eisenwerke versorgt hatten, auf deren neue französi92
Siehe ibid. S.310f.
Zur Einflußnahme des Comite des forges siehe ibid. S. 366-369.
94
Als Grund für diese lange Phase der Passivität zwischen der Vorlage des Pinot-Berichts
und den Vorstößen des Comite des forges bei den politischen Stellen dürften wohl Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Industrie eine Rolle gespielt haben: Der französische Kohlenproduzentenverband, der Comite central des houilleres de France (C.C.H.F.),
lehnte die Pläne des Comite des forges ab, weil es eine Schwächung der französischen Bergwerksbesitzer gegenüber den Eisenindustriellen befürchtete, falls diese auch noch ihre eigene
Koksversorgung, zumindest teilweise, sicherstellen konnten. Aber auch innerhalb des Comite des forges gab es Widerstände, vor allem von den de Wendeis: Sie besaßen bereits Bergwerke in Deutschland und fürchteten um ihren Vorsprüng gegenüber den Konkurrenten, sollten diese nun auch Bergwerke oder zumindest Beteiligungen in Deutschland erhalten, siehe
ibid.
93
108
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
sehe Besitzer, die jetzt diese Werke betrieben. Der Quai d'Orsay, die
H.C.I.T.R. und die M.I.C.U.M. machten sich nun die Vorstellungen des Comite zu eigen, und in einem gemeinsamen Bericht vom 20. Dezember 1923 forderten Guillaume und der neue Chef der M.I.C.U.M., Paul Frantzen95, eine
Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Bergwerken. Eine Übertragung der vollen Eigentumsrechte wurde jedoch verworfen, weil man in diesem Fall eine Diskriminierung der Bergwerke in französischem Besitz, z.B.
beim Transport, befürchtete, und weil man in Frankreich nur an Koks interessiert war; um die nicht verkokbare Kohlen aus diesen Bergwerken sollten sich
dann die deutschen Anteilseigner kümmern.
Im Sommer des Jahres 1923 begannen die französischen Pressionen Wirkung zu zeigen: Der passive Widerstand bröckelte, und das Ruhrpfand wurde
durch die Eisenbahnregie und die Konfiszierung von Kohlen und Geld nun
tatsächlich produktiv.
Die Reichsregierung hatte schon recht bald nach der Ausrufung des passiven
Widerstandes erkannt, daß sie diese Abwehrmaßnahme gegen Frankreich nur
begrenzte Zeit würde aufrechterhalten können96. Trotz aller öffentlichen
Durchhalteparolen hatte Cuno bereits frühzeitig über Mittelsmänner Kontakt
mit den Alliierten aufnehmen lassen, um zu einer Lösung für das Ruhrproblem
zu kommen. Zum einen bemühte man sich, direkt mit Frankreich ins Gespräch
zu kommen: Stinnes versuchte Ende März 1923 über seinen Emissär in Paris,
Alfred Schmidt, und den Pariser Korrespondenten der Stinnes nahestehenden
»Deutschen Allgemeinen Zeitung« (DAZ), Werner Sinn, Kontakt zu verschiedenen französischen Politikern wie beispielsweise Millerand, Loucheur oder
Herriot aufzunehmen, allerdings ohne Erfolg97. Erfolglos blieb auch die Fühlungnahme Maltzans Mitte April mit Oswald Hesnard98, um zu einer Übereinkunft auf Basis der Vorschläge von Hughes' New Haven-Rede und dem Angebot eines Sicherheitspakts zu kommen, der sowohl die westlichen wie auch
die östlichen Grenzen einschloß. Gleichzeitig bemühte sich die Reichsregierung, über Frankreichs ehemalige Verbündete Paris zum Einlenken zu bewegen. Einer Demarche des deutschen Botschafters in London, Friedrich Sthamer, beim Foreign Office in London war aber ebenso wenig Erfolg beschieden
95
imile Coste, der als zu weich galt, wurde im März 1923 durch Frantzen an der Spitze der
M.I.C.U.M. abgelöst, siehe ibid. S. 427.
96
Zum folgenden siehe ibid. S. 176-178.
97
Zu Einzelheiten vgl. Peter W U L F , Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 1918-1924, Stuttgart 1979 (Kieler Historische Studien, 28), S. 356-379.
98
Die Rolle, die Hesnard in der französischen Botschaft in Berlin spielte, ist etwas diffus: Er
war kein Botschaftsmitglied, aber an die Botschaft angegliedert, vgl. T. D E M O R E M B E R T , art.
»Hesnard (Oswald)«, in: Roman D ' A M A T , R. L L M O U Z I N - L A M O T H E (Hg.), Dictionnaire de
biographie franfaise, Bd. 17, Paris 1989, Sp. 1164; Jacques B A R I 6 T Y , Finances et relations
internationales: Ä propos du »plan du Thoiiy« (septembre 1926), in: Relations internationales 21 (1980), S. 51-70, hier S. 51, 55f.
3.1. Der Ruhrkampf
109
wie den Gesprδchen des deutschen Botschafters in Rom, Konstantin von Neu
rath, mit Mussolini.
Durch den R٧cktritt des amtsm٧den Cunφ und den Regierungsantritt Stre
semanns am 13. August 1923" kam neuer Schwung in die Vermittlungsbem٧
hungen' 00 . Das Ziel Stresemanns war zunδchst einmal die Beendigung des
passiven Widerstandes. Erst wenn dieses Faß ohne Boden gestopft war, konnte
die deutsche Währung saniert und eine erträgliche Reparationsregelung gefunden werden. Diesen Überlegungen lag das Kalkül zugrunde, daß vor allem die
USA und England nicht mehr länger dem wirtschaftlichen Verfall Deutschlands - und somit dem Verlust eines wichtigen Exportmarktes und potentiellen
Kreditnehmers - zusehen wollten. Auch für Frankreich war nach Ansicht Stresemanns die Ruhrbesetzung nur die zweitbeste Lösung: Die Kosten für Frankreich waren politisch wie wirtschaftlich hoch, und Paris mußte ein Interesse an
dauerhaft gesicherten Reparationen haben. Jedoch: Stresemann wollte, solange
der passive Widerstand noch leidlich funktionierte, diese letzte verbliebene
Trumpfkarte nicht ohne Gegenleistungen ausspielen, zumal seine Position,
sollte er den Ruhrkampf bedingungslos abbrechen, nicht nur politisch höchst
gefährdet gewesen wäre: »Falls die Regierung eine bedingungslose Aufgabe
des passiven Widerstandes vertreten wolle, würde, wie mir der Führer der
Deutschnationalen Exzellenz Hergt gesagt habe, der Reichskanzler ein - mindestens politisch - toter Mann sein«101.
Zur gleichen Zeit mehrten sich die Anzeichen dafür, daß vor allem England
und die USA das Vorgehen Frankreichs nicht mehr weiter hinnehmen wollten.
England stellte in einer Note vom 11. August 1923 erstmals die Rechtmäßigkeit der Ruhraktion in Frage102, und Präsident Harding schlug erneut die Einsetzung einer Expertenkommission oder einer Regierungskonferenz zur Lösung der Reparationsfrage vor103. Trotz dieser für Deutschland positiven
Signale scheiterten zunächst die Versuche Stresemanns, die englische Regierung zu einer aktiveren Haltung gegenüber Frankreich zu bewegen104. Die
Reichsregierung setzte nun auf Brüssel, das man für konzilianter als Paris
hielt. Gegenüber dem belgischen Gesandten «in Berlin, dem Comte Deila Faille, schlug Stresemann am 1. September 1923 · als Gegenleistung für das Ende
99
Zur Entstehung des Kabinetts Stresemann siehe BAECHLER, Stresemann, S. 341 f.
Zu den Zielen und Vermittlungsbemühungen Stresemanns siehe Karl Dietrich ERDMANN,
Alternativen der deutschen Politik im Ruhrkampf, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Die Ruhrkrise
1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn
1984, S. 29-38, hier S. 31-33.
101
Besprechung des Reichskanzlers mit dem belgischen Gesandten (16.9.1923), AdR Stresemann I/II Bd. l , N r . 61.
102
Siehe Jonathan WRIGHT, Stresemann and Locarno, in: Contemporary European History 4
(1995), S. 109-131, hier S. 114. Text der Note: DBFP 1 XXI, Nr. 330.
103
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 67.
104
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 354.
100
110
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
der Ruhrbesetzung den Abbruch des passiven Widerstandes und einen Sicherheitspakt ähnlich des später in Locarno zustande gekommenen vor. Als Pfand
für die Reparationen bot er die Belastung der deutschen Industrie und Landwirtschaft sowie der Eisenbahnen durch eine Hypothek zugunsten der Alliierten an105. Eine Beteiligung belgischer und französischer Industrieller an deutschen Unternehmen stellte er ebenfalls in Aussicht. Einen Tag später, bei einer
Rede in Stuttgart, unterstrich Stresemann zwar die Forderung nach einem Moratorium und einer Anleihe für Deutschland, gleichzeitig bekundete er aber
auch den Willen zur deutsch-französischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet106. Am Tag darauf übermittelte er die Vorschläge, die er bereits Deila Faille gemacht hatte, dem französischen Botschafter in
Berlin, de Margerie107. Zwei Wochen später kam es zu einem neuerlichen Gespräch mit dem belgischen Gesandten, in dem Stresemann nochmals die Bedingungen für den Abbruch des passiven Widerstands nannte: die Freilassung
der politischen Gefangenen und Rückkehr der Ausgewiesenen sowie Garantien für die Einheit des Reiches108, womit vor allem die Rückkehr zum Rheinlandstatut und zum Status quo ante des 11. Januar 1923 sowie die Rückgabe
der Regieeisenbahnen unter deutsche Verwaltung gemeint waren109.
Allerdings: Poincare lehnte die deutschen Vorschläge rundheraus ab und instruierte seinen Botschafter sogar, sich nicht einmal auf offiziöse Gespräche
diesbezüglich einzulassen110: Jetzt auf Verhandlungen einzugehen, hieße, einen wichtigen Trumpf aus der Hand zu geben, wo der passive Widerstand sowieso nur noch für wenige Tage oder Wochen aufrechterhalten werden könne111.
Das Treffen zwischen dem neuen englischen Premier Baldwin und Poincare
am 19. September 1923 dämpfte den deutschen Optimismus weiter. Zwar kam
es bezüglich der Ruhrfrage zu keiner einheitlichen Position, doch wurden die
Irritationen, die durch die englische Note vom 11. August ausgelöst worden
waren, beigelegt112. Die Hoffnungen Deutschlands, durch eine Intervention
Englands doch noch einige Vorteile aus der Aufgabe des passiven Widerstands ziehen zu können, schwanden zusehends113. Da Poincare zwischenzeit105
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 294.
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 356.
Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 294.
108
Siehe Unterredung des Reichskanzlers mit dem belgischen Gesandten (16.9.1923), AdR
StresemannzutsronmlkihgfedcbaYVUTSRPONKJIHEDBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 61.
109
Siehe Kabinettssitzung (18.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 64.
110
Siehe Unterredung des Reichskanzlers mit dem französischen Botschafter (17.9.1923),
AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 62 und Aufzeichnung Stresemann (18.9.1923), ADAP A
Vin, Nr. 152.
111
Siehe BARJfiTY, Relations francoallemandes, S. 226f.
112
Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 192f.
113
Siehe Hoesch an AA (21.9.1923), ADAP A VIII, Nr. 158.
104
107
3.1. Der Ruhrkampf
111
lieh durch Zugestδndnisse an Italien in der Korfufrage sich auch der Unter
st٧tzung Roms in der Ruhrpolitik versichern konnte, sah sich Deutschland
weiterhin isoliert114.
Intern liefen bei der Reichsregierung derweil die Vorbereitungen, den passi
ven Widerstand bedingungslos abzubrechen. Bei einer Besprechung mit Par
teivertretern aus den besetzten Gebieten am 24. September 1923 sprachen sich
bis auf den Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) alle fur einen
Abbruch des passiven Widerstandes aus115. Am gleichen Tag traf Stresemann
mit Wirtschaftsvertretern zusammen, die ebenfalls f٧r die Beendigung des
Ruhrkampfs waren116. Auch die Ministerprδsidenten der Lδnder votierten
mehrheitlich daf٧r117.
Am 26. September 1923 verk٧ndete die Regierung Stresemann die Beendi
gimg des passiven Widerstandes118. Tags darauf wurden per Dekret alle im
Zusammenhang damit erlassenen Verordnungen und Gesetze aufgehoben119.
Warum und woran scheiterte der passive Widerstand letztlich? Der Ruhr
kampf wurde zunehmend unfinanzierbar, und, so stellte Maltzan fest, »[d]iese
Tatsache ist von entscheidender Bedeutung«120. Der passive Widerstand ver
schlang tδglich 40 Mio. GM121, denen keinerlei Einnahmen aus dem besetzten
Gebiet gegen٧berstanden. So f٧hrte dieses immer größer werdende Ungleichgewicht der öffentlichen Finanzen auch zur immer dramatischeren Entwertung
der Mark, nachdem die letzten verzweifelten Stabilisierungsversuche im April
1923 gescheitert waren122. Der Verfall der Währung und die wirtschaftlichen
Repressalien führten außerdem zu sozialen Spannungen. Bereits im Juni 1923
lag die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet bei über vier Prozent, acht Mal so hoch
wie noch im Voijahresmonat, und da die Währung schneller an Wert verlor als
die Löhne stiegen, wurde auch die Versorgung deqenigen Arbeiter, die noch
in Lohn und Brot standen, immer schwieriger123. Voraussetzung für die Sanierung der Währung war aber wiederum die Beendigung des passiven Widerstands124. Die wirtschaftliche Not und die aus ihr resultierenden Unruhen führten darüber hinaus zu einer politischen Radikalisierung besonders bei
114
Schubert an Stresemann (20.9.1923), ADAP A VIH, Nr. 157.
Siehe Besprechung mit Vertretern der 5 Parteien und Vertretern des besetzten Gebiets
(24.9.1923), AdR StresemannzutsrponmlihgedcbaVUTSRPONLKJGEBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 76.
116
Siehe Besprechung mit Vertretern der Wirtschaftsverbände und Beamtenorganisationen
des besetzten Gebiets (24.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 77.
117
Besprechung mit den Ministerpräsidenten (25.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1,
Nr. 79.
118
Siehe GlRAULT, Europe, S. 134.
119
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 296.
120
Runderlaß MaltzanmV
(10.9.1923), ADAP A Vm, Nr. 138.
121
Siehe ibid.
115
122
123
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 274.
Siehe Leipart an Walker (29.8.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 32.
124
Siehe Kabinettssitzung (7.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 47.
112
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Kommunisten und extremen Nationalisten. Der passive Widerstand wurde
gewalttätiger und richtete sich zunehmend nicht nur gegen die Besatzer, sondern auch gegen die verhaßte Regierung in Berlin125. Außerdem entfremdete
der kommunistische und nationalistische Terror auch die Bevölkerung des
besetzten Gebiets vom Reich126. Im Zusammenhang mit diesen politischen
Auflösungserscheinungen waren auch die monarchistischen Umtriebe in Bayern und die kommunistischen Unruhen in Thüringen und Sachsen zu sehen,
die den Bestand des Reiches und seiner republikanischen Institutionen zunehmend bedrohten127. Besonders augenscheinlich wurde dies aber an den im
Herbst 1923 wieder aufbrechenden separatistischen Unruhen im Rheinland128.
Der Erfolg Frankreichs bei der Nutzbarmachung des Ruhrpfandes mußte den
deutschen Durchhaltewillen weiter erschüttern129. So wurde der passive Widerstand schließlich nur noch weitergeführt, um einige Zugeständnisse zu erhalten und um nicht das Gesicht zu verlieren. Doch die Lage wurde immer
verzweifelter: »Allgemeine Überzeugung: Sofort Verhandlungen mit Frankreich - passiven Widerstand aufrechterhalten, damit Zeit zu Verhandlungen«130. Aber Ende September war der deutsche Spielraum völlig erschöpft131
und fast alle politischen Kräfte waren zur Aufgabe bereit132.
Auch außenpolitisch stand das Reich mit dem Rücken an der Wand, denn so
sehr begrüßenswert die englische Note vom 11. August 1923 auch war, »so
muß gleichwohl eine nüchterne Beurteilung der ganzen englischen Haltung
während der Ruhrkrisis zu dem Schluß gelangen, daß die Haltung Englands in
dem Ruhrkonflikt nicht als aktiver Faktor für die deutsche Politik betrachtet
und eingesetzt werden könne. Dasselbe mußte von der Haltung der italienischen Politik gelten«133. Poincare hatte also gewonnen, auf der ganzen Linie:
Deutschland lag wirtschaftlich und politisch am Boden. Langsam, aber stetig
steigend, strömte Koks über Eisenbahnen, die fest in französisch-belgischer
Hand waren, zu den lothringischen Hochöfen, und man hatte weder den Deut-
125
Siehe JEANNESSON, Poincari, S. 262.
Siehe ibid. S. 264.
127
Siehe BARIÄTY, Relations firanco-allemandes, S. 237f.
128
Vgl. Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Aufzeichnung Dinger]
(15.9.1923), AdR StresemannzutsrponmihgedcbaVSRPONJGEBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 60 und Bericht über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der politischen Parteien des alt- und neubesetzten Gebiets in Elberfeld [Aufzeichnung Rausch] (19.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 70.
129
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 268.
130
Besprechung mit rheinischen Abgeordneten (6.9.1926), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1,
Nr. 43.
131
Besprechung mit Vertretern der 5 Parteien und Vertretern des besetzten Gebiets
(24.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 76.
132
Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Aufzeichnung Dinger] (15.9.1923)
AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 60.
133
Runderlaß MaltzanmVPDA
(10.9.1923), ADAP A Vm, Nr. 138.
126
3.1. Der Ruhrkampf
113
sehen noch den Englδndern oder Belgiern irgendwelche Zugestδndnisse ma
chen m٧ssen.
Allerdings, so eindeutig und total wie der franzφsische Sieg Ende Septem
ber 1923 schien, war er keinesfalls. F٧nf große Entwicklungslinien, zum Teil
eng miteinander verwoben, sorgten dafür, daß sich bis Ende 1923 eine grundlegende Änderung der Situation, in der sich Deutschland und Frankreich befanden, einstellen sollte. Diese fünf Faktoren waren die grundlegende Änderung des außenpolitischen Umfelds, die Privatverhandlungen zwischen den
Besatzungsbehörden und der deutschen Wirtschaft, die Vorarbeiten zum Dawes-Plan sowie das Aufflammen des Separatismus im Rheinland und die Verschiebungen in den innenpolitischen Kräfteverhältnissen beider Länder.
Bereits im Sommer des Jahres 1923 deutete sich an, daß weder die USA
noch Großbritannien bereit waren, die französische Politik im Rheinland und
im Ruhrgebiet langfristig zu dulden. In beiden Ländern mehrten sich Befürchtungen, daß die Auflösungserscheinungen Deutschlands zu einer Destabilisierung ganz Europas beitragen und der kommunistischen Bewegung neuen Auftrieb geben würden134. Der dauerhafte Ausfall Deutschlands als wichtigem
Absatzmarkt und Auffangbecken für Investitionen sowie die Sorge einer sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Hegemonie Frankreichs in Europa
verstärkten die Befürchtungen in London und Washington135.
Die Vereinigten Staaten hatten sich nach der Rede Hughes in New Haven
Ende des Jahres 1922 zunächst passiv verhalten. Erst im Sommer des Jahres
1923 kam erneut Bewegung in die amerikanische Politik. Zum einen waren
die USA jetzt stärker an einer Lösung der Reparationsfrage interessiert136:
Durch das Wadsworth-Abkommen137 vom 25. Mai 1923, das beinhaltete, daß
die amerikanischen Besatzungskosten nicht mehr durch konfisziertes deutsches Eigentum, sondern aus den deutschen Reparationszahlungen geleistet
werden sollten, und durch das Schuldenabkommen zwischen England und den
Vereinigten Staaten vom 18. Juni 1923138 entstand ein noch engerer Nexus
zwischen Reparations- und Schuldenfrage, obwohl das offizielle Washington
stets diesen Zusammenhang leugnete. Da der Ruhrkampf aber die deutschen
Leistungen so gut wie zum Erliegen gebracht hatte, mußte es auch im ameri134
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 219; GlRAULT, Europe, S. 135.
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 46; KR٢GER, Auίenpolitik, S. 219.
136
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45.
137
Text des Abkommens: Wadsworth an Hughes (26.5.1923), Papers Relating to the Foreign
Relations of the United States, hg. v. Department of State [FRUS], 1923, II, Washington
D.C. 1938, S. 180186.
138
Bereits seit Anfang Februar hatte man sich jedoch auf die Grundprinzipien eines Ab
kommens geeinigt, siehe Combined Annual Reports of the World War Foreign Debt Com
mission. With additional Information regarding Foreign Debts due to the United States Fiscal
Years 1922, 1923, 1924, 1925 and 1926, hg. v. World War Foreign Debt Commission,
Washington D.C. 1927, S. l l f .
135
114
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
kanischen Interesse sein, zu einer Lösung des Reparationsproblems zu kommen. Außerdem mehrten sich in den Sommermonaten die negativen Folgen
des Ruhrkampfs für die US-Wirtschaft: Die Agrar- und Kapitalexporte gingen
zurück, und die Stimmen, die vor einer wirtschaftlichen Balkanisierung Europas warnten - eine Befürchtung, die durch die völlig aus dem Ruder laufende
Inflation nicht nur in Deutschland noch verstärkt wurde - mehrten sich139. Der
plötzliche Tod Präsident Hardings am 2. August 1923140 und die Amtsübernahme durch Calvin Coolidge bewirkten eine Änderung der Haltung Washingtons, weil der neue Präsident vor allem in Frankreich den »stumbling block«141
für die Reparationsfrage erblickte. Die Verhandlungen zum deutschamerikanischen Handelsvertrag, die im Sommer 1923 begannen, machten dabei das wirtschaftliche Interesse der USA an Deutschland deutlich. Dieser
Vertrag hatte Modellcharakter, weil er die Ziele der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik in Europa definierte: Die USA wollten den möglichst ungehinderten Zugang zu allen europäischen Märkten, was durch Handelsverträge,
die auf der Meistbegünstigung basierten, erreicht werden sollte. Eine in Washington befürchtete wirtschaftliche Hegemonie Frankreichs in Europa hatte in
diesem Konzept keinen Platz142.
Ähnlich wie die USA hatte sich auch Großbritannien zunächst abwartend
gegenüber der französischen Politik verhalten und wohlwollende Neutralität
gegenüber den belgischen und französischen Aktionen gezeigt. Ein Grund für
diesen Attentismus war die bereits angesprochene Befürchtung, in Paris vollends an Einfluß zu verlieren, sollte es zum endgültigen Bruch mit Frankreich
kommen143. Auch innenpolitische Überlegungen ließen London zunächst von
einer eindeutigen Positionsbestimmung zurückschrecken, denn neben der Ablehnung der Ruhrbesetzung durch die oppositionelle Labour Party144 gab es
insbesondere am rechten Rand der regierenden konservativen Partei starke
frankophile Strömungen145. Außerdem verdiente Großbritannien anfangs sehr
gut am Ruhrkampf und konnte seine Kohlenexporte, da die deutsche Förderung infolge des passiven Widerstands daniederlag, kräftig ausweiten, bei
gleichzeitig steigenden Kohlenpreisen. Auch andere Wirtschaftszweige profitierten zunächst vom Ausfall der deutschen Konkurrenz146. Allerdings endete
diese Katastrophenkonjunktur bereits im August, und die negativen wirtschafit139
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45f.
Siehe William A. DEGREGORIO, The Complete Book of U.S. Presidents, New York
3
1991, S. 442.
141
Dieckhoff an AA (13.10.1923), ADAP A DC, Nr. 189.
142
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 45.
143
Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 62f.
144
Siehe Leipart an Walker (29.8.1923), AdR StresemannzutsronmkihgfedcaWSRPONJIHECBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 32.
145
Siehe Aufzeichnung Stresemann (17.8.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 1, Nr. 8, siehe
auch SCHWABE, Ruhrkrise, S. 63.
146
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 240f.
140
3.1. Der Ruhrkampf
115
lichen Folgen des Ruhreinbruchs machten sich auch in England immer stδrker
bemerkbar: Der deutsche Markt war weitgehend zusammengebrochen, und die
Hausse der Kohlepreise ließ in dem Maße nach, in dem es Frankreich gelang,
das Ruhrpfand in den Griff zu bekommen147. Außerdem setzte sich in der
Presse wie im Parlament eine zunehmend kritischere Haltung gegenüber
Frankreich durch, die ihre Grundlagen vor allem darin hatte, daß das Ruhrpfand nun tatsächlich Gewinn abzuwerfen schien und mit der französischen
Herrschaft über die Ruhr ein deutsch-französischer Wirtschaftsblock entstehen
könnte, der die britischen Wirtschaftsinteressen bedrohte148. Entscheidend für
die Änderung der englischen Politik gegenüber Frankreich war, daß Paris,
nachdem Deutschland den passiven Widerstand aufgegeben hatte, weiter an
seiner unnachgiebigen Politik gegenüber Berlin festhielt149. Für London wurde
damit endgültig klar, daß Frankreich eben keine Lösung für das Reparationsproblem suchte, sondern weitreichende (sicherheits-)politische Interessen an
Rhein und Ruhr verfolgte. Zunehmende Verbitterung erfuhr auch, daß Frankreich weiterhin seine osteuropäischen Verbündeten mit Rüstungskrediten versorgte, sich aber gleichzeitig weigerte, seine Kriegsschulden in England zu bezahlen150. Die zweideutige Haltung Frankreichs bei den separatistischen
Unruhen ab Ende Oktober 1923, der französische Widerstand bei der Einsetzung des Dawes-Komitees, die Pläne für die Eisenbahnregie und eine rheinische Notenbank verstärkten dieses Mißtrauen gegenüber der französischen Politik nur noch weiter151. Nachdem die Labour Party bei den Wahlen im
November starke Zugewinne erzielen konnte, gewannen die Frankreichkritischen Kräfte weiter an Gewicht152.
Auch in Belgien, das aufgrund seiner Position als Zünglein an der Waage in
vielen alliierten Gremien, wie z.B. der H.C.I.T.R. oder der RepKo, eine wichtige Rolle spielte, fand eine außenpolitische Reorientierung statt. Brüssel hatte
von Anfang an in der Ruhraktion ein Mittel zum Zweck - in diesem Falle: zur
Lösung des leidigen Reparationsproblems - gesehen153. Zur Teilnahme der
Ruhraktion hatte sich die belgische Regierung auch erst dann entschlossen, als
London den Wünschen der Belgier nicht entgegengekommen war154. Die sich
zunehmend manifestierenden politischen Ambitionen Frankreichs im Rheinland beunruhigten dagegen Brüssel. Stand nicht zu befürchten, daß, wenn im
147
Siehe ibid. S. 241.
148
S i e h e SCHWABE, R u h r k r i s e , S. 67f.
149
Zum folgenden siehe ibid. S. 76-78.
150
Siehe Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP A DC, Nr. 10. Ausführlich hierzu vgl.
WURM, Sicherheitspolitik, S. 30-54.
151
Siehe JulesROLHECA
LAROCHE, Au Quai d'Orsay avec Briand et Poincare, 19131926, Paris 1957,
S. 182.
152
Siehe KRÜGER, Versailles, S. 122.
153
Siehe ROTH, Belgique, S. 132.
154
Siehe ibid. S. 131.
116
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Rheinland ein profranzösischer Satellitenstaat entstünde, Belgien gewissermaßen von Frankreich umzingelt sei? Und könnte die französische Unterstützung
für den rheinischen Separatismus nicht auch den flämischen Separatisten als
Vorwand zu neuerlicher Aktivität dienen155? Als man sich in London nun gemüßigt sah, eine aktivere Politik gegenüber Frankreich zu betreiben, war dies
nur im belgischen Interesse156.
Auch das ebenfalls in verschiedenen alliierten Gremien vertretene Italien157
war, was die französischen Ziele in der Ruhr anging, skeptisch. Mussolini
fürchtete ebenfalls einen deutsch-französischen Wirtschaftsblock. Italiens
Teilnahme am Ruhrkampf war in erster Linie dadurch motiviert, dies zu verhindern. Als sich der Wind gegen Frankreich zu drehen begann, nahm auch
die italienische Regierung zunehmend Abstand zu Frankreich.
Betrachtet man diese außenpolitischen Veränderungen, so hatte Frankreich,
im Vergleich zum Sommer, im Herbst 1923 mit wesentlich stärkerem Widerstand zu rechnen, während die deutsche Lage sich etwas rosiger darstellte,
auch wenn eine substantielle Unterstützung nach wie vor kaum erfolgte.
Eng im Zusammenhang mit den Verschiebungen auf außenpolitischem Gebiet sind die Entwicklungen zu sehen, die zur Einberufung eines Expertenkomitees zur Feststellung der deutschen Zahlungsfähigkeit, dem späteren Dawes-Komitee, führten. In vielerlei Hinsicht verlief die Entwicklung parallel zu
den außenpolitischen Ereignissen. Die Initiative zu einer Kommission, die die
deutsche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit - und somit die Fähigkeit
Deutschlands, Reparationen zu zahlen - feststellen sollte, ging, wie gesagt,
von den USA aus: Hughes hatte bereits im Sommer 1922 und erneut in seiner
New Haven-Rede ein solches Gremium ins Spiel gebracht. Am 20. Juli 1923
sandte die britische Regierung eine Note an Frankreich158, in der der HughesPlan zur Lösung der Reparationsfrage erneut aufgegriffen wurde und die »im
Kontext intensiver diplomatischer Beratungen zwischen der britischen und
amerikanischen Führung zu sehen ist«159. Durch den Tod Präsident Hardings
wurden die Bemühungen zunächst unterbrochen160. Am 12. Oktober 1923 unternahm London einen erneuten Versuch, die USA zur Teilnahme an der Lösung der Reparationsfrage zu bewegen, da die britischen Versuche bei den eu155
Die Haltung Belgiens bei den separatistischen Unruhen im Rheinland ist ebenfalls nicht
ganz eindeutig; zu Einzelheiten s.u. Zur Frage des flämischen Separatismus im Zusammenhang mit den Unruhen im Rheinland siehe Bericht des Reichspostministers über Lage und
Aussichten der separatistischen Bewegung in Düsseldorf (28.9.1923), AdR Stresemannzyvutsrqponm
Ι/Π
Bd. 1, Nr. 89.
156
Siehe ROTH, Belgique, S. 134.
157
Zur Haltung Italiens siehe JEANNESSON, Poincard, S. 246f.
158
Siehe Curzon an SaintAulaire (20.7.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 306.
159
LINK, Ruhrkonflikt, S. 47. Zum folgenden siehe ibid. S. 47f.
160
Siehe Melvyn P. LEFFLER, The Elusive Quest. America's Pursuit of European Stability
and French Security, 19191933, Chapel Hill 1979, S. 87.
3.1. Der Ruhrkampf
117
ropδischen Alliierten nichts bewirkt hδtten, aber »without such action, not me
rely Germany, but Europe appears to be drifting into economic disaster«161.
Am 15. Oktober 1923 stimmten die USA dem endlich zu162, und am
19. Oktober 1923 beauftragte die britische Regierung ihren Botschafter in Pa
ris, Crewe, der franzφsischen Regierung mitzuteilen, daß die USA bereit seien,
sich an einer Regierungskonferenz oder einem Expertengremium zur Bestimmung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands zu beteiligen163.
Auslöser für diesen Stimmungswandel in Washington waren die Verhandlungen zwischen der M.I.C.U.M. und den Ruhrindustriellen, die in den USA und
in Großbritannien die Furcht vor einem deutsch-französischen Wirtschaftsblock nährten. Hughes' Andeutung gegenüber dem französischen Geschäftsträger in Washington am 22. Oktober 1923, die eine mögliche Verbindung des
Reparations- mit dem Kriegsschuldenproblem erkennen ließ164, bewegte wohl
Poincare dazu, am 25. Oktober 1923 den angloamerikanischen Vorschlägen
zur Einsetzung eines Expertenkomitees (eine Regierungskonferenz lehnte er
ab) zuzustimmen165, allerdings unter Auflagen166: Die Experten sollten im
Auftrag der RepKo arbeiten, und ihre Expertise sollte sich lediglich auf die
Feststellung der Leistungsfähigkeit Deutschlands zur Zahlung der Reparationen (einschließlich des deutschen Kapitals, das ins Ausland verschoben worden war) beschränken. Über die Höhe der von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen - die in Spa festgelegten 132 Mrd. GM - sollten nicht
verhandelt werden. Auch die Ruhrbesetzung und die M.I.C.U.M.-Verträge
sollten ausdrücklich ausgeklammert bleiben und die Räumung des Ruhrgebiets
nur nach Maßgabe der deutschen Zahlungen erfolgen.
Die deutsche Reparationsnote vom 24. Oktober 1923167 hatte die Entscheidung der französischen Regierung sicherlich erleichtert, denn Deutschland
hatte sich mit der Berufung auf Art. 234 des Versailler Vertrags, der die
161
Curzon an Chilton (12.10.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 392.
Siehe Hughes an Chilton (15.10.1923), FRUS 1923,zyxwvutsrponmlkjihgfedcbaYXWVUTSRPN
Π, S. 7073.
163
Siehe Curzon an Crewe (19.10.1923), DBFP 1 XXI, Nr. 403.
164
Die Aussage war jedoch sehr vage gehalten: »If, instead of attempting the futile task of
obtaining the cancellation of debts, the European Governments were to proceed to settle their
financial matters and to adjust the reparation problem and to give reason to believe that there
would be European cooperation in the interest of peace and the reduction of expenses which
were unnecessary, a different feeling would be likely to exist in this country; although it was
unlikely that there would be any willingness to cancel the debts, yet terms, conditions and
time of payment could be considered in such a way that consideration would be taken of the
actual conditions of the European debtors in the light of what settlements were made. For the
reasons he stated, the secretary said, he could give no definite assurance in the matter«,
Hughes an Whitehouse (24.10.1923), FRUS 1923, Π, S. 7983.
165
Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 33; BARIETY, Relations francoallemandes, S. 263
265. Die entsprechende Verbalnote an die britische Regierung ist abgedruckt in: DBFP 1
XXI, Nr. 415, Anm. 1.
166
Hierzu siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 272f.
167
Text der Note: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1249.
162
118
3. Die Anfange der modernen Außenpolitik
Überprüfung der Reparationszahlungen durch die RepKo vorsah, auch für
Poincare eindeutig wieder auf die Grundlage des Friedensvertrags gestellt.
Zwar dauerte es noch bis zum 13. November 1923, bis Frankreich endgültig
dem Verfahren der Expertenkommission zustimmte, die Würfel waren jedoch
schon seit dem 25. Oktober 1923 gefallen. Am 30. November schließlich setzte die RepKo offiziell die Experten-Kommissionen ein168. Ebenso wie die vergrößerte Bereitschaft vor allem der angelsächsischen Mächte, an der Lösung
des Ruhrproblems mitzuwirken, trug auch die Einsetzung des DawesKomitees - eine direkte Folge dieser Bemühungen - dazu bei, die Positionen
Frankreichs und Deutschlands zu modifizieren. Durch das Eingehen auf die
internationale Lösung verringerte sich Frankreichs Spielraum in der Ruhr- und
Reparationspolitik, während Deutschland weniger stark vom Wohlwollen der
Pariser Regierung abhängig wurde.
Wie gesagt, die veränderte außenpolitische Lage war nur ein Aspekt der
Entwicklung. Wie wirkten sich die Verhandlungen zwischen den Besatzungsbehörden und der deutschen Wirtschaft auf die Situation beider Staaten aus169?
Im Mittelpunkt der französischen Aktivitäten, das Ruhrpfand produktiv zu
machen, standen die Verhandlungen zwischen der M.I.C.U.M. und den deutschen Schwerindustriellen, die zu den sogenannten M.I.C.U.M.-Verträgen
führten. Bereits im Juni 1923 war der Kölner Stahlgroßhändler Otto Wolf? 70 ,
der Cunos Politik des passiven Widerstandes ablehnte, in Kontakt zu den französischen Besatzungsbehörden getreten. In einem Gespräch zwischen ihm und
dem Direktor des Phoenix-Konzerns (der ebenfalls Wolff gehörte), Werner
Carp, mit General Denvignes von der französischen Besatzungsarmee schlug
Wolff eine weitgehende politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich vor. Poincare blieb jedoch zunächst skeptisch. Er sah in dem Vorhaben Wolffs einen Versuch, ihn um die Früchte des
bevorstehenden Sieges im Ruhrkampf zu bringen. Erst Ende August, als sich
die Anzeichen mehrten, daß der passive Widerstand mehr und mehr zerfaserte
und die Reichsregierung bald würde aufgeben müssen, stimmte der französische Ratspräsident schließlich Gesprächen mit deutschen Industriellen zu. Bereits Anfang Oktober kam es zu einem Abkommen171 zwischen Wolffund den
französischen Besatzungsbehörden, in dem sich Wolff verpflichtete, rückwirkend die seit dem Einmarsch der französischen und belgischen Truppen nicht
mehr abgeführte Kohlensteuer nachzuzahlen und auch künftig die Zahlungen
Der Text der Entscheidung der RepKo ist abgedruckt in: Rufus C. DWSONJEA
AWES, The Dawes
Plan in the Making, Indianapolis 1925, S. 297f.
169
In diesem Zusammenhang stehen natürlich auch die Verhandlungen über eine rheinische
Goldnotenbank, die bereits oben dargestellt wurden, und auf die im folgenden nur kursorisch
eingegangen werden soll.
170
Zu den Gesprächen Otto Wolffs siehe JEANNESSON, Poincari, S. 312f.
171
Siehe Besprechungen über Verhandlungen der Phoenix- und Rheinstahlgruppe mit den
zivilen Besatzungsbehörden (10.10.1923), AdR StresemannrdNB
Ι/Π Bd. 2, Nr. 123.
168
3.1. Der Ruhrkampf
119
wieder vorzunehmen, kostenlos Reparationskohlen zu liefern, den Besatzungs
truppen unentgeltlich Kohlen zur Verfugung zu stellen, und der Eisenbahnre
gie zu festgelegten Preisen Kohlen zu verkaufen. Im Gegenzug wurden die
von den Besatzungsbehφrden blockierten Stahlwaren freigegeben und Export
lizenzen ausgestellt.
Das Abkommen zwischen Wolff und der M.I.C.U.M. hatte eine zweifache
Bedeutung: Erstens stellte es den Prδzedenzfall fur die spδteren M.I.C.U.M.
Abkommen dar und setzte die anderen Schwerindustriellen unter Zugzwang.
Wolff hatte auf eigene Faust mit den Franzosen verhandelt und nun als erster
die Freigabe seiner Produktion erreicht. Derart unter Druck gesetzt, mußte nun
auch der Bergbauliche Verein, dessen Interessen durch die sogenannte »Sechserkommission«172 vertreten wurden, mit den Besatzungsbehörden zu einer
Einigung kommen. Die Industrievertreter versuchten, durch die Verhandlungen mit der M.I.C.U.M. aber nicht nur gegenüber dem Konkurrenten Wolff
gleichzuziehen, sie bemühten sich auch darum, die Gespräche zu nutzen,
wichtige sozialpolitische Errungenschaften der Weimarer Republik, allen voran den 8-Stunden-Tag, wieder rückgängig zu machen173. Weitere Forderungen
umfaßten das Ende der von den Besatzungsbehörden verhängten Zwangsmaßnahmen, vor allem die Freigabe der Lagerbestände an Roh- und Fertigprodukten, die Freigabe des Eisenbahnverkehrs, ein Ende der Beschlagnahme von
Geld, die Einstellung von Ausweisungen usw. sowie den Zugang zu Auslandskrediten und die Verringerung der Kohlensteuer174. Zweitens wurde
durch die Gespräche Wolffs mit den Besatzungsbehörden die Position der
Reichsregierung erheblich geschwächt, die ja stets die Unrechtmäßigkeit der
französischen Ruhrbesetzung betont hatte, welche jedoch nun durch die privaten Abkommen mit den Besatzungsbehörden quasi legitimiert wurde175. Die
Autorität Berlins, die nach der Aufgabe des Ruhrkampfs, den Querelen in
Sachsen, Thüringen und Bayern und der separatistischen Bedrohung im
Rheinland schon stark gelitten hatte, wurde dadurch weiter untergraben. Allerdings war die wirtschaftliche Lage so desolat176, daß die Produktion im
172
Die Sechserkommission bestand aus Albert Vogler (deutsch-luxemburgische Bergwerksund Hütten A.G.), Albert Janus (Vorsitzender des rheinisch-westfälischen Kohlensyndikats),
Georg Liibsen (Direktor der Gutehoffhungshütte), Otto von Velsen (Generaldirektor der Hibernia), Peter Klöckner (Klöckner Werke A.G.) uhd Hugo Stinnes (u.a. Dortmunder Union,
deutsch-luxemburgische Bergwerks- und Hütten A.G., Stinnes Zechen, Essen), siehe Besprechung der Sechserkommission mit General Degoutte in Düsseldorf (5.10.1923), AdR
Stresemann I/II Bd. 1, Nr. 111.
173
Siehe ibid.
174
Siehe ibid.
175
Siehe Besprechungen über Verhandlungen der Phoenix- und Rheinstahlgruppe mit den
zivilen Besatzungsbehörden (10.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 123.
176
Allein im besetzten Gebiet war etwa die Hälfte der Bevölkerung von Arbeitslosigkeit betroffen und die Währungslage blieb prekär, vgl. StS Fischer vor der RepKo (23.11.1923),
120
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Ruhrgebiet unbedingt wieder aufgenommen werden mußte. Auch die geplante
Währungsstabilisierung konnte nur dann glücken wenn die Wirtschaft wieder
in Gang kam und die Sozialleistungen, die infolge der hohen Arbeitslosigkeit
explodiert waren, reduziert werden konnten. Besonders an dem Punkt der Sozialleistungen offenbarte sich das Dilemma der Reichsregierung. Um die neue
Währung erfolgreich einzuführen, mußten die Zahlungen an das besetzte Gebiet aufhören. Hörten aber die Zahlungen auf, verringerte sich der ohnehin
geringe Einfluß der Reichsregierung dort weiter. Die Ingangsetzung der Wirtschaft, die nach Lage der Dinge ganz von den Franzosen abhing, würde zwar
die Finanzlage des Reiches verbessern, aber ebenfalls zu einem weiteren Einflußverlust führen.
In dieser Situation traten die Industriellen von Rhein und Ruhr an die
Reichsregierung heran. Sie forderten177, daß Berlin die von Frankreich rückwirkend verlangte Kohlensteuer übernehmen und die Kohlensteuer ganz abschaffen solle. Außerdem sollte sich die Regierung bereit erklären, die von der
Industrie an Frankreich zu leistenden Reparationszahlungen zu erstatten, Anlaufkredite zur Verfügung zu stellen und die Arbeitszeit zu verlängern. Die
Reichsregierung lehnte die Forderungen der Industrie zunächst ab, mußte aber,
nachdem die Industriellen erklärt hatten, andernfalls könne die Produktion
nicht wieder aufgenommen werden, zustimmen, zumindest die Kosten für die
Reparationskohlen und die rückwirkend erhobene Kohlensteuer zu tragen178.
Trotz dieser Zugeständnisse der Reichsregierung gestalteten sich die Verhandlungen zwischen Wirtschaftsvertretern und Besatzungsbehörden schwierig179. Bis zum 25. Oktober 1923 hatten zwar 24 Firmen, die etwa 20 Prozent
der Produktion des besetzten Gebiets ausmachten, Verträge mit der
M.I.C.U.M. abgeschlossen180. Erst am 23. November 1923 kam es jedoch zur
Unterzeichnung eines allgemeinen Rahmenvertrags, der alle davor geschlos-
ADAP A IX, Nr. 16 und Bezirkssekretär Heinrich Meyer an den Vorstand des ADGB
AdR StresemannvutsrponmlkihgfedcbaZVSRPONMKIHFCBA
Ι/Π Bd.SRONMJEDA
2, Nr. 177.
177
Zu den Forderungen der Industrie siehe Besprechung mit Ruhrindustriellen im
Reichstagsgebäude ( 9 . 1 0 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 121.
178
Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 32 und Stresemann an die Sechserkommission des
Bergbaulichen Vereins ( 1 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 2 1 3 .
179
Zum Verhandlungsverlauf s. Besprechung mit Hugo Stinnes und anschließende Ministerbesprechung ( 3 1 . 1 0 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 2 0 8 ; Vermerk Ministerialrats
Kiep über den Stand der Verhandlungen zwischen Sechserkommission und Micum
( 8 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 2 2 9 ; Besprechung betreffend Verhandlungen
der Sechserkommission ( 1 3 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2 , Nr. 2 4 6 ; Sechserkommis
sion des Bergbaulichen Vereins an die Micum ( 1 4 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2,
Nr. 2 5 8 , Chefbesprechung ( 1 6 . 1 1 . 1 9 2 3 ) , AdR Stresemann VO. Bd. 2, Nr. 2 6 2 .
180
Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 3 1 5 .
(25.10.1923),
3.1. Der Ruhrkampf
121
senen Vertrδge ersetzte bzw. ergδnzte und bis zum 15. April 1924 g٧ltig sein
sollte181.
Durch die M.I.C.U.M.Vertrδge konnte Frankreich also das Ruhrpfand end
lich voll funktionsfδhig machen und erreichen, daß die Schornsteine an Rhein
und Ruhr wieder rauchten. »Im Endergebnis erlangten die Franzosen durch die
M.I.C.U.M.-Verträge eine vollkommene Kontrolle der Ruhrwirtschaft«182.
War es tatsächlich so? Die M.I.C.U.M.-Verträge hatten einige Schönheitsfehler. Einer davon war, daß sie zeitlich begrenzt waren, und eine Verlängerung mit den gleichen für Frankreich vorteilhaften Bedingungen nur dann gelingen konnte, wenn Paris eine ähnlich starke wirtschaftliche und politische
Pression auf die Ruhrindustrie bzw. auf die deutsche Politik würde ausüben
können. Der zweite Schönheitsfehler bestand paradoxerweise darin, daß es
gerade die M.I.C.U.M.-Verträge waren, die die französische Position im
Ruhrgebiet schwächten. Gewiß, die M.I.C.U.M.-Verträge waren sehr vorteilhaft im französischen Sinne und sehr restriktiv für die deutsche Industrie. Aber
dennoch stellten sie für Deutschland eine erhebliche Verbesserung der Lage
dar und erlaubten es dem Reich, sich langsam aus den französischen Fesseln
zu befreien: Sie ermöglichten es, daß die deutsche Produktion wieder anlief
und trugen so dazu bei, daß die Währungsreform erfolgreich durchgeführt
werden konnte. Indem die Wirtschaft sich erholte und der Wohlstand zumindest nicht mehr weiter schrumpfte, wurde die Grundlage auch für die Stabilisierung der politischen Lage in Deutschland geschaffen. Insofern konnten die
M.I.C.U.M.-Verträge also auch durchaus zum Eigentor für die französische
Politik werden, zumal es Frankreich nicht gelang, die Wirtschaftsabkommen
in einen politischen (etwa durch die Schaffung eines wie auch immer gestalteten Rheinstaats) oder wirtschaftlichen Kontext (etwa durch die Gründung einer rheinischen Notenbank) zu stellen. Auch der weitere Ausbau des französischen Einflusses auf die deutsche Privatwirtschaft - durch die Beteiligung
französischer Unternehmen an der deutschen Industrie - gelang nicht, obwohl
es Ansätze dazu gegeben hatte.
Von einem gewissen Interesse und bezeichnend für den Fehlschlag dieses
Ansatzes sind die Aktivitäten des Industriellen, Publizisten und Bildhauers
181
SiehetsronmlifedcaSRD
ΒΑΚίέΤΥ, Relations francoallemandes, S. 276. Die Vertrδge der M.I.C.U.M. betra
fen jedoch nicht nur die Schwerindustrie und die chemische Industrie, sondern so gut wie
jeden Industriezweig, wie die Zuckerindustrie, den Holzhandel, die Lederwaren und Textil
industrie usw. Siehe Aufzeichnung des Reichsministers f٧r Wiederaufbau ٧ber die Reparati
onsvertrδge der Besatzungsbehörden mit den Wirtschaftsverbänden (ohne Unterschrift)
(18.1.1924), BArch R 3101, 14769. Zusammenfassend zu den M.I.C.U.M.-Verträgen: Was
bedeuten die Micum-Verträge? (Richtlinie Nr. 85), hg. v. Reichszentrale für Heimatdienst,
Berlin 1924.
182
ERDMANN, Alternativen, S. 33.
122
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Arnold Rechberg183, die dieser Ende des Jahres 1923 entfaltete184. Rechberg
hatte vorgeschlagen, daß die französische Wirtschaft zu 30 Prozent an der
deutschen Industrie beteiligt werden sollte. Dafür sollten im Gegenzug das
Ruhrgebiet und das Rheinland geräumt werden. Ziel seines Plans war, sowohl
das Reparationsproblem als auch das Sicherheitsproblem zu lösen. In Frankreich war die Resonanz - zumindest in politischen Kreisen185 - auf die Vorschläge Rechbergs groß186. Deutscherseits stießen die rechbergschen Pläne
dagegen auf erheblichen Widerstand. Viele Industrielle lehnten die Pläne ab
und die Politik Schloß sich dieser Haltung an187. Auch in Großbritannien sah
man die Vorschläge »mit Besorgnis«188, schien sich doch hier der befürchtete
deutsch-französische Wirtschaftsblock anzudeuten. Interessanter ist aber, daß
die französische Regierung trotz der guten Ausgangslage nicht versuchte, diese sich bietende Chance als Ergänzung, ja als Perpetuierung der durch die
M.I.C.U.M.-Verträge geschaffenen wirtschaftlichen Vorteile zu nutzen: »Herr
Poincare hat mir bekanntlich mitgeteilt, daß eine große Anzahl von deutschen
Industriellen aus den besetzten Gebieten dauernd in Frankreich Gespräche mit
der französischen Industrie anzuknüpfen suchte und daß er bisher die französischen Industriellen gebremst habe, damit einer Gesamtverständigung nicht
vorgegriffen werde«189. Dadurch verschlechterte sich die französische Position
nicht nur auf internationalem Parkett, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet - und das paradoxerweise gerade durch die M.I.C.U.M.-Verträge.
Ein weiterer Faktor, der die Lage Deutschlands und Frankreichs in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 verändern sollte, waren die separatistischen Umtriebe im Rheinland. Bereits im Sommer und Frühherbst hatte es in den besetzten Gebieten verschiedentlich separatistische Manifestationen gegeben190.
183
Zur Person siehe Werner BÜHRER, art. »Rechberg, Arnold«, in: Wolfgang BENZ, Hermann GRAML (Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988,
S. 265f.
184
Zum folgenden vgl. Kabinettssitzung (31.12.1923), AdR MarxzutsrponmlkihgfedcbaWSR
Ι/Π Bd. 1, Nr. 43,
Anm. 12, Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP Α Di, Nr. 77, und Auszug aus dem Journal
Officiel Chambre des Deputes 2e s6ance du 28 decembre 1923 aus BArch R 3101, 20437
und Karl Dietrich ERDMANN, Adenauer in der Rheinlandpolitik nach dem Ersten Weltkrieg,
Stuttgart 1966, S. 161f.
185
Die französische Wirtschaft war dagegen skeptischer, sie fürchtete von der deutschen
Seite übervorteilt zu werden, siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.1.1924), BArch R
3101, 14767.
186
Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP AIX, Nr. 77.
187
Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 161f.
188
Sthamer an AA (10.1.1924), ADAP Α Di, Nr. 90.
189
Hoesch an AA (29.12.1923), ADAP Α Di, Nr. 77.
190
Siehe Bericht über die Haltung der Parteien im Ruhrgebiet [Dinger] (15.9.1923), AdR
Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 60; Bericht über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der politischen Parteien des alt- und neubesetzten Gebiets [Rausch] (19.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π
Bd. 1, Nr. 70; Bericht des Reichspostministers [Höfle] über Lage und Aussichten der separatistischen Bewegung in Düsseldorf (28.9.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 1, Nr. 89.
3.1. Der Ruhrkampf
123
Zu einer Bedrohung wurde der rheinische Separatismus jedoch erst mit den
Unruhen, die am 21. Oktober 1921 in Aachen ausbrachen und die sich dann
auf weitere Stδdte im besetzten Gebiet ausweiteten191. Aachen lag in der belgi
schen Besatzungszone, und die Beteiligung der verschiedenen belgischen Stel
len am Putsch war etwas dubios: Involviert in die Putschvorbereitungen war
vor allem der Comite de politique nationale beige192, der die Schaffung eines
»Großbelgiens« unter Einschluß niederländisch-Flanderns, Luxemburgs und
Limburgs forderte. Abgesichert werden sollte dieses Großbelgien nach Osten
durch einen von Belgien abhängigen Pufferstaat im nördlichen Teil des besetzten Rheinlands, während im südlichen Teil ein französisch dominiertes Gebilde entstehen sollte. Dieser Comite de politique nationale erfuhr zwar eine gewisse Unterstützung durch einige Offiziere der belgischen Besatzungsarmee,
nicht jedoch durch die von Henri Jaspar geführte Regierung, die in der Ruhraktion lediglich ein Mittel dazu sah, Deutschland zum Zahlen der Reparationen zu zwingen, und die sich im Laufe des Herbstes mehr und mehr von der
intransigenten Politik Frankreichs abzuwenden begann.
Paris indes war von den Vorgängen in Aachen - obwohl es natürlich Kontakt zu diversen separatistischen Grüppchen unterhielt - völlig überrascht, und
es herrschte eine gewisse Konfusion, wie mit der neuen Lage umzugehen sei:
Zunächst wies die Regierung die Truppen an, sich den Separatisten gegenüber
neutral zu verhalten193, am 24. Oktober jedoch beauftragte Poincare Tirard, die
Separatisten zu unterstützen194. Diese Anweisung war für viele in Paris unverständlich: Seydoux und Laroche, zu diesem Zeitpunkt directeur-adjoint des
affaires politiques et commerciales im Quai d'Orsay, bemerkten, daß die Separatisten nur dann Erfolg haben könnten, wenn sie die Unterstützung des Zentrums, der weitaus stärksten politischen Kraft im Rheinland, erhielten, dies
aber höchst unwahrscheinlich sei - eine Einschätzung, der sich selbst Tirard
anschloß195.
Das Verhalten Poincares in der Separatistenfrage hat zu vielerlei Spekulationen Anlaß gegeben196. War es Folge eines Kommunikationsproblems, das
den französischen Ratspräsidenten dazu veranlaßte, die Stärke der Bewegung
zu überschätzen? Tirard hatte in diesem Zusammenhang auf den Übereifer von
General Mangin hingewiesen, der den Einfluß der Separatisten zu hoch eingeschätzt und so eine richtige Beurteilung der Ereignisse in Paris behindert habe197. War die ganze Aktion gar eine belgische Finte, durch die Poincare ge191
Siehe JOLLY, Ruhr, S. 242f.
Siehe hierzu B A R I Δ T Y , Relations francoallemandes, S. 251.
,93
Siehe ibid. S. 253.
194
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 333.
195
Siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 254f.
196
Zusammenfassend siehe J E A N N E S S O N , Poincare, S. 336; R O T H , Poincare, S. 443445.
197
Siehe T I R A R D , Rhin, S. 287f. Die Ausf٧hrungen Tirards waren wahrscheinlich aber auch
dazu gedacht, seine eigene Rolle in den separatistischen Unruhen zu relativieren. Allerdings
192
124
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
zwungen werden sollte, die wahren Motive seiner Rheinlandpolitik offenzule
gen 198 ? Wollte Peretti de la Rocca, Directeur des Affaires Politiques et Com
merciales, der ein Anhδnger eines separaten Rheinstaates war, versuchen,
Poincare in seinem Sinne zu beeinflussen? Oder hatte der französische Ratspräsident nicht vielmehr die Absicht, die Separatistenunruhen als Hebel zu
einer Lösung der Reparationsfrage, sowohl gegenüber London als auch gegenüber Berlin zu nutzen?
In Berlin, w o die Lage im Angesicht der Hyperinflation, die das Wirtschaftsleben mehr und mehr lähmte, und der politischen Probleme schon
schwierig genug war, brach die Nachricht von den Aufständen im Rheinland
als weitere Katastrophe über die Regierung herein. Zwischen Berlin und Köln
wurden verschiedene Lösungsmöglichkeiten diskutiert, die, überspitzt gesagt,
alle nur die Wahl zwischen Pest und Cholera waren.
Der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer sah die einzige Lösung in
der Schaffung eines eigenen rheinischen Bundesstaates, »äußersten Falles
auch eine Loslösung vom Reiche im Wege der Verständigung« 199 :
Die Lage in Deutschland sei so trostlos, daß mit dem Auseinanderfallen des Reichs gerechnet werden müsse. Ein Eingreifen Englands sei in den nächsten Jahren nicht zu erwarten, es
sei vorläufig ohnmächtig und dränge auf eine Einigung mit Frankreich. Die Schaffung eines
Bundesstaates wäre für Frankreich günstig. Die Besorgnis, Kriegsschauplatz zu sein, würde
diesen Bundesstaat, der eine maßgebende Stelle im Reiche einnehme, veranlassen, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Die Verbindung mit der französischen Industrie, die
früher nach Lothringen bestanden hätte, würde wieder aufleben. Ein Pufferstaat dagegen
wäre für Frankreich durchaus ungünstig, er würde so bestehen und einen Revanchekrieg nur
beschleunigen. Trotz vielfacher Kritik erblicke er in der Zersetzung Preußens und in der
Schwächung der Präsidialmacht eine schwere Gefahr. Immerhin bedeute die Loslösung von
Preußen nach seiner Meinung das kleinere Übel, wenn dann der dauernde Friede zwischen
Deutschland und Frankreich erreicht werden könne. Das Opfer, das mit der Schaffung eines
Bundesstaates gebracht würde, hätte aber nur einen Zweck, wenn erreicht würde: 1) die Lösung der Reparationsfrage, 2) die Errichtung eines wirklichen Bundesstaates, nicht einer
französischen Kolonie. Dies setze voraus die Beseitigung der Interalliierten Rheinlandkommission und der Besetzung. Daß man in dieser Voraussetzung weiterkomme, sei zwar wenig
aussichtsvoll, er schätze die Aussicht auf vielleicht 1%200.
Nach Auffassung von Finanzminister Luther 201 , der vor allem die gerade begonnene Währungsstabilisierung im Auge hatte (am 15. Oktober 1924 war die
stand Mangin bereits seit Beginn der französischen Besetzung im Rheinland mit den Separatisten in Kontakt, vgl. Charles MANGIN, Lettres de Rhinanie, in: Revue de Paris, 43/7
(1936), S. 4 8 1 - 5 2 6 .
198
Jeannesson selbst stellt dazu fest: »Rien [...] dans les archives beiges, ne permet de
conclure au double jeu de Bruxelles«, JEANNESSON, Poincari, S. 340.
199
Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemannvutsrnmlihed
Ι/Π
Bd. 2, Nr. 179.
200
MinR. Adelmann an RMbesGeb. [Fuchs] (26.11.1923), ADAP A IX, Nr. 20. Andere
Zahlen bei JOLLY, Ruhr, S. 263.
201
Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 34.
3.1. Der Ruhrkampf
125
Rentenmarkverordnung in Kraft getreten, und einen Monat spδter sollte mit
der Ausgabe der Rentenbanknoten begonnen werden), sollte das besetzte Ge
biet sich selbst ٧berlassen werden. Das Reich sollte seine Zahlungen an die
besetzten Gebiete einstellen und die dortige Bevφlkerung selbst zu einem mo
dus vivendi mit Frankreich kommen. Nur so konnte seiner Ansicht nach die
Wδhrungsstabilisierung gelingen, denn eine weitere Finanzierung der besetz
ten Gebiete war vor dem Hintergrund, daß dort aufgrund der französischen
Beschlagnahme von Geldern und der daniederliegenden Wirtschaft keine
Steuern eingenommen wurden bei weiter laufenden Kosten - völlig unkalkulierbar. In eine ähnliche Richtung gingen auch die Überlegungen des
Reichstagsabgeordneten der Deutschen Volkspartei (DVP) Moldenhauer, der
keine de jure, sondern nur eine faktische Übertragung von einigen Befugnissen auf das besetzte Gebiet wollte, »um die wichtigsten wirtschaftlichen Bedürfnisse des besetzten Gebiets zu erfüllen, namentlich auch eine eigene Währung und ein eigenes Budget, ein eigenes Steuerrecht einzuführen«202, ohne
jedoch die französisch-belgischen Maßnahmen dadurch explizit zu sanktionieren. Auch die Überlegungen des Duisburger Oberbürgermeisters Karl Jarres
gingen in Richtung einer »Versackungspolitik« ä la Luther und Moldenhauer,
jedoch wollte Jarres die faktische Ablösung des Rheinlands mit einer »große[n] außenpolitischefn] Handlung«203 verbinden, wobei er an eine Aussetzung des Versailler Vertrags dachte, bis die Franzosen den Status quo ante
vom 11. Januar 1923 wiederhergestellt hatten.
Stresemann unterdessen war sowohl gegen die Rheinlandpläne Adenauers
wie auch die Versackungspolitik. Besonders die »große außenpolitische Handlung« seines Parteifreundes Jarres - die Kündigung oder Aussetzung des Versailler Vertrags - lehnte er ab, »[d]enn wie die Dinge heute liegen, gibt uns der
[Versailler, R.B.] Vertrag auch Rechte. Der Vertrag gibt uns zum mindesten
das Recht, daß das Ruhrgebiet rechtswidrig besetzt ist, daß für das Rheinland
nur das Rheinlandabkommen gilt, aber nicht die Vergewaltigungen, die heute
dort bestehen«204. Allerdings mußte er - in Ermangelung anderer Machtmittel
und angesichts der bevorstehenden Währungsreform - den Rheinländern zugestehen, zunächst selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Stresemann
verfolgte dabei eine doppelte Strategie. Innenpolitisch blieb ihm wenig übrig,
als abzuwarten und es den Rheinländern selbst zu überlassen, zu einer Regelung mit Frankreich zu kommen, bzw. die Lage so lange offenzuhalten, bis
sich für die Berliner Regierung neue Eingriffsmöglichkeiten ergaben. Die
Aussichten dafür waren nicht schlecht. Die separatistische Bewegung war in
202
Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR StresemannridbNIB
Ι/Π
Bd. 2, Nr. 179.
203
Ibid.
204
Ibid.
126
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
sich gespalten, hatte kein geeignetes Führungspersonal205 und der Rückhalt in
der Bevölkerung war gering206 - keine der etablierten Parteien oder andere
gesellschaftliche Gruppen, seien es Gewerkschaften oder Kirchen, unterstützten die Separatisten, die durch die vermeintliche oder tatsächliche Kollaboration mit den französischen Besatzern diskreditiert wurden207. Außenpolitisch
setzte Stresemann vor allem auf die englische Karte. Über Oswald Spengler
hatte er sich mit Jan Smuts, dem südafrikanischen Premierminister, in Verbindung gesetzt. Smuts hatte während der Imperial Conference, die vom
1. Oktober bis zum 9. November 1923 in London stattfand, die Pfänderpolitik
und die Unterstützung des Separatismus durch Frankreich scharf kritisiert,
eine Reparationskonferenz gefordert und seiner Sorge über den Zerfall
Deutschlands Ausdruck gegeben208. Die übrigen Teilnehmer machten sich diese Haltung zu eigen und so wurde »Deutschland gegenüber [...] als fundamentaler Grundsatz festgestellt, daß der Zerfall des Deutschen Reiches auf keinen
Fall zugelassen werden dürfe«209. Diese härtere Haltung gegenüber Frankreich
machte die englische Regierung auch in einer Note vom 31. Oktober 1923 an
die französische Regierung deutlich, in der sie ankündigte, daß sie den Versailler Vertrag als gegenstandslos betrachten würde, zerfiele das Reich in einzelne Gliedstaaten, denn der Vertrag sei ja mit dem Deutschen Reich als ganzem abgeschlossen worden210.
Auch für Paris wurden die Separatisten immer mehr zum Klotz am Bein.
Das angeschlagene Renommee Frankreichs wurde durch die Unterstützung für
die Separatisten nur noch weiter geschädigt und nährte bei Amerikanern, Belgiern und Briten nur die Furcht vor einer französischen Vorherrschaft auf dem
Kontinent211, wie Hoesch feststellte: »Gerade augenblicklich, wo Frankreich
Vorteile aus Aufgabe passiven Widerstands sicherstellen will, kann es weitere
Belastung französischen Rufs schwer ertragen«212. Tirard machte aus seiner
Skepsis keinen Hehl, was die Erfolgsausichten anging213.
205
Siehe JEANNESSON, Pomcard, S. 285f.
206
Siehe Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR StresemannzywutsronmlkihgfedcbaYWVTSRQPONMKJIHEDCBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 179 und Kabinettssitzung (9.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2,
Nr. 233.
207
208
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 287f.
Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 104.
Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP A DC, Nr. 10.
210
Siehe BARI£TY, Relations francoallemandes, S. 268.
209
211
212
Siehe SCHWABE, Ruhrkrise, S. 74.
Hoesch an AA (5.11.1923), ADAP Α V E , Nr. 229.
213
Siehe Tirard an Quai d'Orsay (4.11.1923), AdR Stresemann Ι/Π Bd. 2, Nr. 199, Anm. 4.
Es gilt allerdings zu unterscheiden zwischen den pfälzischen Separatisten, die im Gegensatz
zu den Gruppierungen andernorts anfänglich durchaus die Sympathie der Bevölkerung auf
ihrer Seite hatten. Sie waren weniger radikal, und die Situation in der Pfalz, die ja zu Bayern
gehörte, das gerade im Strudel rechter Putsche zu versinken drohte, eine besondere. Von die-
3.1. Der Ruhrkampf
127
Anfang November mehrten sich zudem die beunruhigenden Nachrichten aus
Berlin, Nationalisten und Schwerindustrielle wollten die Regierung Strese
mann st٧rzen und durch eine Rechtsdiktatur ersetzen214, was keinesfalls im
Sinne der franzφsischen Regierung sein konnte. Peu a peu zog sich die franzφ
sische Regierung deshalb aus dem separatistischen Abenteuer zur٧ck und
machte dies im Februar 1924 auch offiziell deutlich215. Allerdings gelang es
ihr auch nicht, den Gesprδchsfaden mit den Anhδngern einer begrenzten Au
tonomie des Rheinlandes innerhalb des Deutschen Reiches also der Politik,
die von Adenauer vertreten wurde wieder aufzunehmen. Am 26. Okto
ber 1923 versuchte ein Komitee, bestehend aus rheinischen W٧rdentrδgern aus
Wirtschaft und Politik, mit Adenauer an der Spitze, zu einer Lφsung der Pro
bleme im Rheinland zu kommen. Tirard lehnte es ab, dieses Komitee, das Plδ
nen f٧r einen rheinischen Bundesstaat durchaus wohlgesonnen war, ٧berhaupt
zu empfangen216. Er hatte strikte Anweisungen von seiner Regierung erhalten,
die sich, wenige Tage nach Ausbruch der separatistischen Unruhen, auf die
Unterst٧tzung der Putschisten festgelegt hatte. Auch wenn nicht anzunehmen
ist, daß die Ablehnung Tirards, am 26. Oktober 1923 mit Adenauer zu verhandeln, der zentrale Fehler war, den die französische Politik begangen
hatte217, so mußte sich doch die französische Position um so mehr verschlechtern, je länger es ihr nicht gelang, die momentane Schwäche Deutschlands auszunutzen. Als die deutsche Wirtschaft wieder Tritt faßte und im November endlich die Währung stabilisiert wurde, schmolz die deutsche
Bereitschaft, zu einer autonomistischen Lösung der Rheinlandfrage in Form
eines von Preußen abgetrennten Bundesstaates zu kommen, dahin. Am
23. Januar 1924 mußte auch Adenauer seine Pläne bezüglich des Rheinlandes
auf zunehmenden Druck der Reichsregierung und vor allem Stresemanns aufgeben218.
Im Januar 1924 war im Vergleich zum Spätsommer des Voijahres eine deutliche Verschlechterang der Position Frankreichs eingetreten. Durch die wirtschaftliche und politische Stabilisierung, die nicht zuletzt durch die
M.I.C.U.M.-Verträge eingeleitet wurde, verloren die Autonomie- oder gar Abtrennungspläne für das Rheinland rasant an Boden219. Frankreich befand sich
in einem Zustand der fast vollständigen diplomatischen Isolation220. Auch in-
sen Gruppierungen sagte sich die französische Regierung erst im Januar 1924 los, vgl.
JEANNESSON, Pomcard, S. 385-387.
214
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (4.11.1923), MAE 19181929mV
ΖzutsrponmlihgfedcaYTSRPONM
(Europe) Allemagne,
482; Aufzeichnung Stresemann (9.11.1923), ADAP A Vm, Nr. 240.
215
Siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 295.
216
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 341.
217
In diesem Sinne BARlfiTY, Relations francoallemandes, S. 261.
218
Siehe ERDMANN, Adenauer, S. 180.
219
Siehe JEANNESSON, Poincard, S. 358.
220
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 447.
128
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
nenpolitisch schwand der R٧ckhalt f٧r Poincares Ruhrpolitik221. Ursachen
hierf٧r waren jedoch nicht nur die zunehmende internationale Isolierung und
die aufkeimenden Zweifel an Sinn und Nutzen des Ruhrunternehmens, son
dern auch der Verfall des französischen Franc, der im Dezember und vor allem im Januar verstärkt einsetzte, die außenpolitische Handlungsfreiheit
Frankreichs wesentlich einschränkte und die französischen Bürger beunruhigte222, zumal offensichtlich gezielt gegen den Franc spekuliert wurde223.
Nach den politischen Veränderungen im Herbst 1923, die den Abbruch des
Ruhrkampfs und eine Intensivierung der internationalen Vermittlungsbemühungen gebracht hatte, erscheint es sinnvoll, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Was hat der Ruhrkampf gekostet? Was hat er gebracht? Der Schaden für die
deutsche Wirtschaft betrug etwa 3,6 Mrd. GM224.
Seit Beginn der Ruhraktion bis Ende des Monats September wurden
132
Personen getötet,
II
"
zum Tode verurteilt,
5
" z u lebenslänglichem Zuchthaus oder lebenslänglicher
Zwangsarbeit verurteilt,
1 454
Jahre Freiheitsstrafen (Zuchthaus, Gefängnis, Zwangsarbeit)
1 659
Milliarden Papiermark)
22 070 Goldmark
) (Geldstrafen verhängt
I I I 874 Frs
)
187 617 Personen von Haus und Hof vertrieben, davon
172 006
"
aus ihrer Heimat ausgewiesen,
ferner allein im preußischen [sie] Einbruchs- und Sanktionsgebiet:
165
Zeitungsverbote erlassen
209
Schulen mit 2 313 Klassen für 127 900 Schüler und Schülerinnen beschlagnahmt.
Die Drangsalierung der Bevölkerung, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt, ist ohne
Zweifel eine Quelle wirtschaftlicher Schädigung. Alles in allem werden die materiellen und
ideellen Folgen der Ruhrbesetzung noch lange Zeit wie eine Krankheit nachwirken, von der
sich der Körper erst allmählich erholen kann225.
Frankreich226 kostete die Ruhrbesetzung 153,7 Mio. GM. Durch Beschlagnahme und die »Produktivmachung« des Ruhrpfandes ab ungefähr April 1923
wurden Einnahmen von ca. 1 050 Mio. GM erzielt, also ein »Gewinn« von
895,7 Mio. GM, der auf die beteiligten Alliierten verteilt wurde. Darin sind al-
221
Dazu siehe Hoesch an AA (16.11.1923),sronihecaSRPNHDCA
ΡAAA R, 23233.
Siehe Hoesch an AA (25.12.1923), ADAP A DC, Nr. 73.
223
Hauptsächlich jedoch nicht als Teil einer ausländischen Verschwörung gegen Frankreich,
sondern von den französischen Industriellen. Zu den Hintergründen vgl. JEANNENEY,
L'argent cach6, S. 169-199.
224
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (15.1.1924), BArch R 3101,20436.
225
Ibid.
226
Zu den französischen Kosten siehe JEANNESSON, Poincare, S. 405f.
222
3.1. Der Ruhrkampf
129
lerdings nicht die Produktionsausfδlle eingerechnet, die der franzφsischen In
dustrie dadurch entstanden waren, daß die Kohlenlieferungen aus dem Ruhrgebiet nach dem Einmarsch ins Ruhrgebiet zunächst ausgefallen waren und
teurere Kohlen aus England gekauft werden mußten.
Die Bedeutung des Ruhrkampfs ging aber weit über diese unmittelbaren
Folgen hinaus und hatte tiefgreifende Konsequenzen für die deutschfranzösischen Beziehungen ebenso wie für das gesamte europäische Staatensystem. Inwiefern aber wurde der Ruhrkampf zu einem Wendepunkt in den
deutsch-französischen Beziehungen der 1920er Jahre und welchen Einfluß
hatten diese Ereignisse auf die Modernisierung der Außenpolitik? Bevor diese
Frage beantwortet werden kann, muß man sich darüber klar werden, was
Frankreich mit dem Ruhrkampf beabsichtigte und welche Position Deutschland während des Ruhrkampfs vertrat.
Die deutschen Ziele sind schnell zusammengefaßt: Erhaltung der Reichseinheit, Wiederherstellung des Status quo ante vom 11. Januar 1923 bzw. soweit
als möglich die Vermeidung eines Verzichts auf deutsche Rechte. Voraussetzung dafür war die Stabilisierung der Währung und der wirtschaftlichen Lage.
Außenpolitisch versuchte Deutschland, nachdem Frankreich bilaterale Verhandlungen mit Berlin abgelehnt hatte, vor allem Großbritannien und die USA
zu mobilisieren. Zwischenzeitlich versuchte die Reichsregierung, so wenige
Zugeständnisse wie möglich an Frankreich zu machen, um die französische
Position nicht noch weiter zu stärken oder zu sanktionieren. Die deutsche Taktik bestand also aus der Sicherung internationaler Unterstützung, nationaler
Wiederaufrichtung durch Ingangsetzung der Wirtschaft und Sanierung der
Währung (als Voraussetzung dafür mußte wiederum der passive Widerstand
aufgegeben werden) und der Vermeidung langfristig bindender Abmachungen
mit Frankreich, die den Status der besetzten Gebiete kompromittiert hätten.
Allerdings war der Spielraum der Reichsregierung sehr eng, so daß sie oft nur
reagieren konnte. Insgesamt gesehen war die deutsche Politik erfolgreich, oder
- was vielleicht der Wahrheit näher kommt - Deutschland hatte Glück gehabt:
Die Reichseinheit blieb erhalten, die Währung konnte saniert werden, in der
Reparationsfrage deutete sich nach Einberufung der Sachverständigenkonferenz eine erträgliche Lösung an.
Was aber wollte Frankreich? Es ist eine nach wie vor umstrittene - und
wohl auch nie völlig lösbare227 - Frage, welchen Zweck die französische Regierung und allen voran Poincare mit dem Ruhrkampf erreichen wollten. Eine
These ist, daß Frankreich den im August sicher geglaubten Sieg im Ruhrkampf leichtfertig verspielt habe und letztendlich aus dem Ruhrabenteuer sicherheitspolitisch genauso wenig abgesichert wie zuvor hervorgegangen sei,
dabei aber seine Währung ruiniert, die Welt gegen sich aufgebracht und auch
227
Dies ergibt sich teilweise aus dem Mangel an Quellen: »il n'y a pas de documentation sur
la pens6e profonde de Poincar6 ä cette date«,tsronmlifedcaSR
ΒΛΉέΤΥ, Relations francoallemandes, S. 249.
130
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
in der Reparationsfrage keinen wirklichen Durchbruch erreicht hatte228. Es
gibt zwei Komplexe, die die Interpretationsfreude der historischen Zunft besonders angefacht haben. Warum hat Poincare, nachdem Deutschland am
26. September 1923 den passiven Widerstand aufgeben hatte, über einen Monat nicht auf deutsche Gesprächsangebote reagiert und die Situation zur
Durchsetzung weitreichender Ziele, z.B. zur Schaffung eines autonomen
Rheinlandstaates genutzt? Und wieso hatte er die angelsächsischen Vorschläge
für eine Expertenkonferenz zur Lösung der Reparationsfrage zuerst abgelehnt
(am 20. Oktober 1923) und dann, nur fünf Tage später, doch zugestimmt? Die
abwartende Haltung Poincares hatte meines Erachtens eine Ursache darin, daß
er Deutschland im besonderen, jedem anderen im allgemeinen mit tiefem Mißtrauen begegnete, wie Schubert feststellte: »Poincare ist von grenzenlosem
Mißtrauen erfüllt: Sein Mißtrauen allein würde genügen, ihn zu seiner jetzigen
Haltung zu bringen, ganz abgesehen davon, welche finsteren Pläne er sonst
noch verfolgt«229.
Poincare mußte also erst davon überzeugt sein, daß der passive Widerstand
tatsächlich beendet war230. Die deutsche Weigerung, französische Offiziere an
den Kontrollen durch die IMKK teilnehmen zu lassen231 und die Sachlieferungen wiederaufzunehmen232, ließen ihn vermuten, daß die deutschen Erklärungen vom 26. September 1926 nur ein Bluff gewesen waren233. In Poincares
Augen war die Ruhrbesetzung außerdem nicht nur gegen Deutschland gerichtet, sondern in vielleicht genauso großem Maße gegen die ehemaligen Alliierten, also vor allem England und die USA. Bereits die ganze Vorgeschichte der
Ruhrbesetzung hatte gezeigt, daß Frankreich darin den letzten Ausweg sah,
mit den Verbündeten doch noch zu einer funktionierenden und zu einer für
Frankreich befriedigenden Reparationsregelung zu gelangen. Der Einwand
Jeannessons, daß Poincare an der Einbeziehung der Alliierten gar nicht mehr
interessiert gewesen sei, weil ja diese seit Monaten Vorschläge gemacht hätten, die Frankreich stets abgelehnt hätte, und er durch die M.I.C.U.M.Verhandlungen deutlich gemacht habe, daß er statt dessen direkt mit Deutschland zu einer Einigung kommen wolle234, halte ich in diesem Zusammenhang
für nicht plausibel. Poincare wollte die Amerikaner und Briten sehr wohl im
Boot haben, aber zu seinen Bedingungen. Zu Recht ist deshalb auf die Bedeu228
229
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 16.
Aufzeichnung Schubert (5.10.1923), ADAP A VID, Nr. 177.
230
Siehe JOLLY, Ruhr, S. 237.
231
Siehe Aufzeichnung KöpkemV
(6.10.1923), ADAP A Vm, Nr. 180.
232
Siehe Kabinettssitzung (20.10.1923), AdR StresemannutsrqponmlihgfedcbaSRPONMKJIGED
Ι/Π Bd. 2, Nr. 156.
233
In diesem Sinne sah Poincare das deutsche Angebot, über die Wiederaufnahme der Arbeit
der Eisenbahn in den besetzten Gebieten zu verhandeln, siehe Poincare an Brüssel
(16.10.1923), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 482.
234
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 302. Andere Auffassung sind u.a. KEIGER, Pomcard,
S. 305 und Daniel AMSON, Poincare, l'acharne de la politique, Paris 1997, S. 332.
3.1. Der Ruhrkampf
131
tung der Gesprδche zwischen dem franzφsischen Botschafter in Washington
und Hughes im Oktober 1923 hingewiesen worden, in denen der amerikani
sche Außenminister erstmals die Bereitschaft angedeutet hatte, das Schuldenund Reparationsproblem - eine der zentralen französischen Forderungen - im
Zusammenhang zu betrachten235. Die französische Regierung mußte deshalb
den Druck auf Deutschland aufrechterhalten, nicht nur bis Deutschland selbst
nachgab, sondern bis endlich auch die USA und England den französischen
Bedingungen zustimmten. Denn nur eine internationale und dauerhafte Lösung des Reparations- und Schuldenproblems kam für Frankreich in Frage. Es
war ja gerade das Grundaxiom der französischen Politik, daß Frankreich langfristig Deutschland wirtschaftlich wie demographisch unterlegen sein würde
und es deshalb auf Dauer abgesicherte internationale Regelungen brauchte. Es
ist deshalb nicht ganz glaubhaft, daß Frankreich, im Augenblick eines nur bitter errungenen Sieges im Ruhrkampf, diese Urangst einfach abstreifte und nun
meinte, die zweitgrößte Industrienation der damaligen Zeit, deren Bevölkerung ein Drittel größer war als die eigene und die unaufhörlich weiterzuwachsen schien, auf einmal beherrschen zu können; Grundlage für diese französische Politik war der Versailler Vertrag und seine Interpretation durch
Poincare. Poincare war zwar während • der Friedensvertragsverhandlungen
1919 ein Gegner des Versailler Vertrags gewesen. Er war aber auch Jurist, und
als Jurist wußte er, daß auch ein schlechter Vertrag die Unterzeichnenden
band 236 und besser war als gar nichts. Darüber hinaus war er sich natürlich
klar, daß jeder Gesetzestext Interpretationen zuließ. Für Poincare könnte sich
die Lage folgendermaßen dargestellt haben: Sowohl Deutschland, weil es seinen Reparations- und anderen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag
nicht nachgekommen war, als auch Großbritannien und die USA, weil sie beide schon vor dem Ruhrkampf eine Revision der Reparationsbestimmungen
angedeutet hatten und den Beistandsverpflichtungen gegenüber Frankreich
nicht nachgekommen waren, waren Frankreich gegenüber vertragsbrüchig. Es
mußte also Ziel des französischen Ratspräsidenten sein, das Deutsche Reich
wie auch die angelsächsischen Mächte wieder auf die Grundlage des Versailler Vertrags zu zwingen. Deutschland kam dieser Forderung erst mit der Note
vom 24. Oktober 1923 nach - und nicht schon mit dem Abbruch des passiven
Widerstandes
in der es die Überprüfung der Zahlungsfähigkeit gemäß Artikel 234 des Versailler Vertrags durch die RepKo beantragte. Die USA und
England ließen ihre Bereitschaft zur Rückkehr zum Versailler Vertrag erkennen, als sie erklärten, die Reparations- und Kriegsschuldenfrage zusammen zu
diskutieren. Dies erklärt auch, daß Poincare sich beständig weigerte, in Verhandlungen mit der Reichsregierung einzutreten, selbst als der passive Wider235
236
Siehe ERDMANN, Alternativen, S. 33; BARIETY, Ruhrkrise, S. 23.
Zur Bedeutung der LegalitätrlfUQMLE
f٧r Poincare siehe Pierre MlQUEL, Poincare, Paris 1 9 8 4 ,
S. 4 7 2 .
132
3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik
stand abgebrochen wurde237. F٧r Poincare war er es nδmlich mindestens bis
zum 24. Oktober 1923 nicht. Es erklδrt auch, weshalb er sich penibel an die
Trennung zwischen den M.I.C.U.M.Verhandlungen und den offiziellen Ge
sprδchen hielt. F٧r ihn galt der Versailler Vertrag. Der Friedensvertrag war
zwischen Staaten und zwar zwischen allen ehemals alliierten und assoziier
ten Lδndern und Deutschland geschlossen worden, nicht zwischen Privatleu
ten. Wenn also die M.I.C.U.M. mit den Industriellen auf privater Basis ver
handelte, so war das durchaus legitim und stand nicht im Widerspruch zum
Versailler Vertrag. Deutsche Zugestδndnisse, die auf diesem Wege zustande
kamen, konnten so bedenkenlos genutzt werden, um die eigene Interpretation
des Versailler Vertrags durchzusetzen oder auch um des eigenen Vorteils wil
len. Das franzφsische Verhalten ist nur dann zu verstehen, wenn von diesen
zwei Ebenen ausgegangen wird: Auf der Ebene der Regierungen f٧hlte sich
Frankreich voll dem Versailler Vertrag verpflichtet. Auf dem Niveau von Pri
vatverhandlungen galten diese Restriktionen zwar nicht, im Falle von Konflik
ten zwischen privaten Abmachungen und Regelungen, die auf Regierungsebe
ne getroffen werden mußten, entschied sich die französische Führung jedoch
stets zugunsten der geltenden internationalen Abmachungen. Die M.I.C.U.M.Verträge waren nicht deshalb zeitlich beschränkt, weil Frankreich seine Interessen gegenüber Deutschland nicht hätte durchsetzen können, sondern, um
eine international abgesicherte Reparationsregelung nicht zu präjudizieren238,
ohne allerdings den Druck, der durch die M.I.C.U.M.-Verträge zur Unterstützung der französischen Position ausgeübt werden konnte, aufzugeben.
Schwierig ist in diesem Zusammenhang allerdings die Interpretation der Unterstützung der rheinischen Separatisten durch die französische Regierung,
zumindest in der Zeit unmittelbar nach dem Ausbruch der Unruhen. Hoffte
Poincare tatsächlich, in Unklarheit über den Rückhalt der Separatisten in der
Bevölkerung, daß Deutschland dadurch in Gliedstaaten zerfallen würde und
damit die deutsche Gefahr ausgeschaltet wäre239? War diese Option, die sich
im Oktober 1923 zu eröffnen schien, so verlockend, daß sich die französische
Regierung davon hinreißen ließ, ihre bis dahin verfolgte Politik derart zu
kompromittieren? Vielleicht ist es tatsächlich der Fall, daß diese unerwartete
Chance der Geschichte kurzzeitig zu einer Abweichung des bis dahin verfolgten Kurses führte. Die Uneinheitlichkeit der französischen Reaktion spricht
dafür, daß die Regierung in Paris nicht planvoll handelte240. Vielleicht haben
erst die scharfen englischen Forderungen nach Erhaltung der Reichseinheit
und die Gefahr drohender nationalistischer Putschversuche in Deutschland Pa237
Siehe ARTAUD, Reparations, S. 99.
Siehe BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 304.
239
So sehen Bariety und Jeannesson die Motivation Poincares, siehe
franco-allemandes, S. 249; J E A N N E S S O N , Poincare, S. 303.
240
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 253, 332.
238
BARIETY,
Relations
3.1. Der Ruhrkampf
133
ris dazu bewegt, auf die alte Linie der Politik zur٧ckzukehren. Politik folgt
eben nicht nur einem festgesetzten Plan, sondern ist eine Mischung aus
bewußt verfolgten Zielen und der Reaktion auf mehr oder weniger unvorhersehbare externe Ereignisse. Vielleicht hat die französische Regierung in den
separatistischen Unruhen nur ein weiteres Pfund gesehen, mit dem man
gegenüber Deutschland und den vormals Alliierten wuchern konnte: Die
M.I.C.U.M.-Verträge und das vermeintliche amerikanische Zugeständnis,
Schulden und Reparationen gleich zu behandeln, kamen erst nach dem Aufstand im Rheinland zustande, der am 21. Oktober in Aachen losbrach.
Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dem Ruhrkampfund aus diesen
Überlegungen für die Frage nach der Modernisierung der Außenpolitik? Ich
denke, man kann zu zwei Interpretationen kommen, einer »schwachen« und
einer »starken« Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs.
Die »schwache« Modernisierungswirkung bestünde darin, daß der Ruhrkampf per se zunächst einen Rückschritt für die Modernisierung der Außenpolitik darstellte. Statt multilateraler Diplomatie kehrte Frankreich zum Bilateralismus zurück (in diesem Sinne wäre die Beteiligung Belgiens und Italiens am
Ruhreinmarsch nichts weiter als ein diplomatisches Feigenblatt). Die friedliche Konfliktlösung wurde aufgegeben, statt dessen erfolgte die Rückkehr zur
Machtpolitik. Folglich strebte Frankreich keine Politik des Interessenausgleichs, sondern die Durchsetzung von Maximalzielen an, wobei militärischpolitische Ziele, also vor allem die Rheingrenze, im Mittelpunkt standen. Dabei waren sowohl der Versailler Vertrag als auch das Rheinlandstatut verletzt
worden. Folgt man dieser Interpretation, war die französische Politik des
Ruhrkampfs also ein klarer Rückfall in die Machtpolitik der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Modernisierungswirkung für die Außenpolitik ergab sich
nun daraus, daß Frankreich sich nicht hatte durchsetzten können und deshalb
gezwungen war, auf das von Briten und Amerikanern angebotene Modell der
modernen Außenpolitik einzuschwenken. Somit wäre der Ausgang des Ruhrkampfs das Ereignis gewesen, welches die Pattsituation, die zwischen modernen und klassischen Konzeptionen der französischen Deutschlandpolitik vor
dem Ruhrkampf bestanden hatte, zugunsten der modernen Ansätze aufgelöst
hätte, weil die Machtpolitik scheiterte und diskreditiert wurde.
Auch in Deutschland führte die Existenzkrise des Ruhrkampfs zur bereits zitierten Erkenntnis Stresemanns, daß der Versailler Vertrag zwar schlecht sei,
besser jedoch als ein vollkommen rechtloser Zustand, weil die Rechte aus dem
Friedensvertrag wenigstens einklagbar seien241. Dies bedeutete, daß Deutschland den Versailler Vertrag nun als Grundlage seiner Beziehungen mit dem
Westen anerkannte und zu einer Außenpolitik fand, die auf Einhaltung international festgesetzter Normen beruhte - im Sinne dieser Arbeit also eine mo241
Siehe Besprechung mit den Vertretern der besetzten Gebiete (25.10.1923), AdR Stresemann I/II Bd. 2, Nr. 179.
134
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
derne, weil an Recht gebundene Außenpolitik - und auf Obstruktionsversuche
verzichtete. Im Rahmen dieser Interpretation war es also die Schwäche auf
wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet, die sowohl Deutschland als auch
Frankreich zur »Vernunft« brachten, sich dem liberalen Modell der Friedenssicherung, wie es von den USA und Großbritannien propagiert wurde, anzuschließen. Im Hinblick auf Frankreich läßt diese Interpretation aber außer acht,
daß Paris während des gesamten Verlaufs der Ruhrkrise nie eine eindeutige
Politik der Stärke betrieb und vielen, auch den vergleichsweise modernen, außenpolitischen Prinzipien der Zeit vor der Ruhrbesetzung treu blieb.
Die »starke« Interpretation der Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs
geht von der These aus, daß Frankreich - und vor allem Poincare - mit der
Ruhraktion gar nichts anderes bezweckte als den Versailler Vertrag endlich
zur umfassenden Anwendung bzw. Durchsetzung zu bringen. Die Rückkehr
zum Versailler Vertrag wäre also kein Nebenprodukt, weil sich Frankreich mit
der Ruhraktion schlicht übernommen hatte, sondern von Anfang an Ziel des
Unterfangens gewesen. Insofern wäre also der Ruhrkampf selbst ein überaus
modernes Instrument der Außenpolitik gewesen, nämlich ein Mittel, um zu der
völkerrechtlich legitimierten Grundlage von Außenpolitik, wie sie durch den
Versailler Vertrag bestand, zurückzukehren.
Für diese Interpretation spricht einiges. Aus französischer Sicht bestand Ende des Jahres 1922 durchaus eine Notwehrsituation. Sowohl Deutschland wie
auch England waren bereit, vom Versailler Vertrag, der die einzige dauerhafte
Grundlage für Frankreichs Reparationsansprüche war, abzugehen. Poincare
konnte sich, wenn auch vielleicht nicht juristisch einwandfrei, doch immerhin
moralisch zu einer Aktion legitimiert sehen. Auch war der Einmarsch durchaus keine blanke, unilaterale Aktion der Machtpolitik: Frankreich war stets um
die zumindest stillschweigende Zustimmung Großbritanniens bemüht. Vielleicht wäre Frankreich nie ins Ruhrgebiet einmarschiert, hätte es nicht mit dieser wohlwollenden Neutralität Englands rechnen können242. Von französischem Unilateralismus konnte also keine Rede sein. Auch war es so, daß die
Ruhraktion unter den Auspizien einer zivilen Behörde stattfand, der
M.I.C.U.M. nämlich. Sie war also keine militärische Aktion im eigentlichen
Sinne. Frankreich hätte, um den Vorwand zu entkräften, die M.I.C.U.M. sei
nur legitimistisches Blendwerk gewesen, durchaus eine möglichst »unsichtbare« Form der Besetzung bevorzugt. Es war erst die Ausrufung des passiven
Widerstands durch die Reichsregierung, mit dem am wenigstens die französischen Stellen gerechnet hatten, der die entsprechenden französischen Gegenreaktionen hervorrief. Auch im Moment des totalen Sieges über Deutschland
242
In diesem Sinne Sally Marks, die Großbritannien für hauptverantwortlich für den Ruhrkampf hält, weil London nicht eindeutig gegen Paris Position bezogen habe, siehe Sally SRMK
MARKS, The Myths of Reparations, in: Central European History 11 (1978), S. 231-255,
hier S. 241-245.
3.1. Der Ruhrkampf
135
hatte Frankreich dar٧ber hinaus keine Maßnahmen unternommen, um ambitioniertere politische Ziele zu verfolgen, z.B. weitere Gebiete zu besetzen,
oder zu versuchen, Deutschland entlang der Mainlinie zu spalten. Weitergehende Sicherheits- und Wirtschaftsprogramme ä la Tirard, Degoutte, Foch
oder anderer standen bei der politischen Führung nicht auf der Agenda. Frankreich hatte Deutschland und die Alliierten zurück zum Versailler Vertrag gezwungen, und damit war das Ziel erreicht. In zwei Aufzeichnungen, vom August und Oktober 1923243, also in dem Zeitraum, als der französische Sieg im
Ruhrkampf absehbar war, bzw. kurz nachdem er manifest geworden war,
nahmen sich die französischen Forderungen moderat aus und bewegten sich
durchaus im Rahmen des Versailler Vertrags, obwohl es sich sicherlich um
französische Maximalforderungen handelte. Im einzelnen bestanden die französischen Forderungen darin, daß Deutschland den passiven Widerstand aufgeben müsse, der im Widerspruch zum Versailler Vertrag stehe und Deutschland selbst am meisten schade. Die Aufgabe des passiven Widerstands werde
zu einer Entspannung fuhren und es der M.I.C.U.M. ermöglichen, ihre Arbeit
wieder aufzunehmen und die Kohlensteuer und die Exportabgabe wieder zu
erheben. Die Sachlieferungen sollten gemäß der Abkommen von Spa und
Wiesbaden geleistet werden. Frankreich erkenne an, daß Deutschland momentan keine Reparationszahlungen tätigen könne. Die Währung, die von
Deutschland bewußt in den letzten Jahren zerstört worden sei, müsse schnell
wiederhergestellt werden. Die Währungsstabilisierung könne zügig geschehen,
da die Substanz der deutschen Wirtschaft nicht angegriffen sei. Um sie zu erleichtern, solle ein Moratorium zugestanden werden. Auf Finanzkontrollen
könne weitgehend verzichtet werden, es seien aber Pfänder dazu notwendig.
Gedacht wurde vor allem an die Eisenbahnen in den besetzten Gebieten, die in
eine Gesellschaft unter französischer, belgischer, englischer und rheinischer
Beteiligung umgewandelt werden sollte. Auch die Saarbergwerke, Zölle und
Deviseneinnahmen aus Exporten könnten als Sicherheit für ein Moratorium
dienen. Als weiteres Pfand könne die Beteiligung alliierten Kapitals an deutschen Bergwerken dienen, um die französische Kohlenversorgung sicherzustellen. Im Gegenzug sollte Deutschland Erz und Halbwaren aus Lothringen
zu Vorkriegskonditionen beziehen können. Zur Sicherheit solle das Ruhrgebiet nur in dem Umfang freigegeben werden, in dem Deutschland seine Reparationsleistungen zahlte. Allerdings stand fur Frankreich die Höhe der Reparationen - die 132 Mrd. GM von Spa - außer Frage, nur im Falle einer
Reduktion der französischen Kriegsschulden sei auch eine Verringerung der
Reparationszahlungen möglich.
243
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.8.1923), MAE PAAP 261, 3; Aufzeichnung
ohne Unterschrift (22.10.1923), MAE PAAP 261, 3.
136
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
In diesen beiden Aufzeichnungen, die auf einem französischen Gelbbuch244
basierten, in dem verschiedene Dokumente zur Reparationsfrage zusammengetragen worden waren und die den Dreh- und Angelpunkt der französischen
Haltung bildeten, war nichts zu finden, was als langfristiges politisches Ziel
französischer Politik im Rheinland hätte aufgefaßt werden können: keine Rede
von einer militärischen Rheingrenze oder einem - in welcher konkreten Form
auch immer - von Preußen oder gar vom Reich abgetrennten rheinischen
Staat. Poincare selbst machte dies auch gegenüber MacDonald, der seit dem
22. Januar 1924 neuer britischer Premier war, deutlich. Vielmehr sollte die
Lösung des Sicherheitsproblems im Rahmen des Völkerbunds gefunden werden245. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich die französische Regierung im
Sommer 1923 verstärkt für den Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen
im Rahmen des Völkerbunds einsetzte246. Ganz in diesem Sinne stellte auch
Seydoux im April 1924 fest, die Ruhrbesetzung sei ein Erfolg gewesen, weil
dadurch die Reparationsfrage gelöst worden und durch den Zusammenbrach
der deutschen Währung der währungspolitische Neuanfang geschaffen worden
sei, durch den auf Dauer die deutschen Zahlungen an Frankreich sichergestellt
würden247. Im Lichte dieser Interpretation wäre der Ruhrkampf also eine legitime Sanktion gewesen, die sowohl gegen Deutschland als auch gegen Großbritannien gerichtet war, um diejenigen Parteien, die sich immer mehr vom
Versailler Vertrag zu entfernen drohten, wieder zu einer den im Friedensvertrag festgelegten Prinzipien entsprechenden Politik zu zwingen. Somit würde
der Ausgang des Ruhrkampfs ziemlich genau dem entsprechen, was Frankreich davon erwartet hatte. Er würde auch nicht das Ende der französischen
>.Λ
Α 1Λ
Vorherrschaft in Europa und den Sieg der »Dollardiplomatie« bedeuten,
die, nachdem Deutschland von Frankreich zu Boden gedrückt worden war und
Frankreich sich an der Ruhr zu Tode gesiegt hatte, erfolgreich ihre eigenen
reparations- und finanzpolitischen Vorstellungen durchgesetzt hätte250. Der
Ruhrkampf würde in dieser Interpretation auch nicht das Scheitern kollektiver
244
Die offiziell vom Quai d'Orsay herausgegebenen Dokumentensammlungen waren aufgrund ihres Einbandes allgemein als livre jaune (analog zu den Weißbüchern der deutschen
und den Blaubüchern der englischen Regierung) bekannt. In den beiden Aufzeichnungen
wird das Gelbbuch nicht weiter spezifiziert, es könnte sich jedoch um den Band: Documents
relatifs aux röparations, hg. v. Ministere des affaires 6trangeres, Paris 1922, handeln.
245
Siehe BARJ6TY, Relations franco-allemandes, S. 297.
246
Siehe Antwort der französischen Regierung an den Völkerbund zum gegenseitigen Beistandspakt (15.6.1923), in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nögociations concemant les garanties de s6curit6 1924, Nr. 44, Anhang 12. Zu Einzelheiten siehe
Kap. 4.1.3.
247
Aufzeichnung Seydoux (22.4.1924), MAE PAAP 261, 31.
Siehe SCHUKER, French Predominance, S. 385.
249
GIRAULT, Europe, S. 137.
250
In diesem Sinne LINK, Ruhrkonflikt, S. 40f.; SCHULZE, Weimar, S. 25; KEIGER, Poincar6,
248
S. 3 1 0 - 3 1 2 ; GIRAULT, E u r o p e , S. 137.
3.1. Der Ruhrkampf
137
und friedlicher Konfliktlφsungsmechanismen im Rahmen des Vφlkerbunds
darstellen251, sondern gerade den Versuch, die Mechanismen des Versailler
Vertrags vor ihrer Aushφhlung zu bewahren. Insofern wurde Poincare tatsδch
lich derjenige, der mit seiner Politik die deutschfranzφsische Verstδndigung
ermφglichte und den Weg nach Locarno ebnete252, dies allerdings nicht un
absichtlich, indem er letztlich scheiterte, sondern in einer aktiven Art und
Weise.
Wie gesagt, es spricht einiges fur die letzte Interpretation, die Indizien daf٧r
wurden benannt. Es wδre aber, so meine ich, falsch, dem Poincare, der viel
wagte und letztlich verlor, den Poincare entgegenzusetzen, der mit quasi sehe
rischen Fδhigkeiten nicht nur den DawesPlan, sondern auch die Mφglich
keiten einer deutschfranzφsischen Verstδndigungspolitik der spδteren 1920er
Jahre vorhergesehen und zielstrebig darauf zugearbeitet hδtte. Eine Ansicht,
die im ٧brigen so gar nicht dem vielfach auch in der Forschung wieder
gegebenen, eher negativen Bild Poincares entsprδche253. Auch wenn Poincares
Einfluß in dieser Phase der französischen Politikgestaltung sicherlich groß
war, war er eben nicht der einzige, der auf die Rheinland- und Ruhrpolitik
Einfluß nahm. Viele Widersprüche im französischen Handeln lassen sich
daraus erklären, daß es in der französischen Politik die zwei genannten, grundsätzlich verschiedenen Ansätze der »Ökonomen«, zu denen Seydoux,
Loucheur und vielleicht auch Poincare gehörten, und der »Rheinländer« um
Foch, Tirard und Degoutte gab. Allein auf die zweite Interpretation zu setzen
hieße, in unzulässiger Weise die Dinge zu vereinfachen und zu verfälschen.
Die Wahrheit - ohne sie genauer spezifizieren zu können oder auch nur zu
wollen - dürfte irgendwo zwischen der »starken« und der »schwachen« Interpretation der Modernisierungswirkung des Ruhrkampfs liegen. Die beiden
Optionen gegenüberzustellen und voneinander abzugrenzen, diente vor allem
der analytischen Klarheit.
Bedeutend erscheint mir im Zusammenhang mit dem Ruhrkampfund dessen
Einfluß auf die Modernisierung der Außenpolitik aber vor allem eines: Sowohl
in Frankreich als auch in Deutschland bewirkte der Konflikt, sich eindeutiger
auf die Spielregeln der modernen Außenpolitik, als dies in der Zeit unmittelbar
nach dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war, einzulassen, als verschiedene, moderne und klassische Politikkonzepte nebeneinanderstanden. Nach dem
Ruhrkampf war für die Regierungen in Deutschland und Frankreich klar, daß
SieheWTRNMLKIHGEDA
LEE, German Foreign Policy, S. 47.
Siehe K E I G E R , Poincar6, S. 3 1 1 .
253
»Poincar6 had three defects: a cold, shy withdrawn manner; an inability to delegate and to
listen to advice; thirdly a lack of judgement«, Anthony A D A M T H W A I T E , France, Germany
and the Treaty of Versailles: France's bid for Power in Europe, in: Karl Otmar Freiherr v.
A R E T I N u.a. (Hg.), Das deutsche Problem in der neueren Geschichte, München 1 9 9 7 , S. 7 5
88, hier S. 82.
251
252
138
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
im Rahmen multilateraler diplomatischer Anstrengungen innerhalb eines festgelegten Rechtssystems (dem Versailler Vertrag) eine für alle erträgliche Lösung für das Reparationsproblem (und die anderen offenen Fragen) gefunden
werden sollte.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
War der Ruhrkampf das reinigende Gewitter, das die deutsch-französischen
Beziehungen, im weitesten Sinne aber auch das internationale System erfaßt
hatte, so erfolgte mit dem Dawes-Plan das Aufräumen nach dem großen
Sturm. Im folgenden wird es weniger darum gehen, die einzelnen Verhandlungsetappen des Dawes-Plans und der Londoner Konferenz nachzuzeichnen254, sondern vor allem darum, welche Auswirkungen die Arbeit der Expertenkommission auf die Modernisierung der Außenpolitik hatte.
Hauptproblem Anfang des Jahres 1924 waren sicherlich die Reparationen255,
zu dessen Lösung die beiden von der RepKo eingesetzten Expertenkommissionen beitragen sollten. Eng mit dieser Frage verknüpft war ein Komplex, der
sich für Frankreich unter dem Stichwort der Sicherheit, fur Deutschland unter
dem Schlagwort Rheinlandfrage zusammenfassen läßt: Für Paris war das
Rheinland ein wichtiges strategisches Glacis, das seine Verteidigungsfähigkeit
gegenüber Deutschland erhöhen sollte, indem es das Reich militärisch und
wirtschaftlich in seiner Bewegungsfreiheit einengte. Das Ziel der deutschen
Politik war es, diese strategische Überlegenheit Frankreichs auf militärischem
und wirtschaftlichem Gebiet im Rheinland zurückzudrängen und wieder »Herr
im Haus« zu werden256. Andererseits war Frankreich an zuverlässigen, geregelten Reparationszahlungen von Deutschland interessiert, um so mehr, als es
mit dem Franc immer bedrohlicher bergab ging257.
In dieser Situation eröffnete sich für die deutsche Politik die Möglichkeit,
die wirtschaftliche Befreiung der besetzten Gebiete durch eine erträgliche Regelung der Reparationsfrage zu erreichen258. Die Reichsregierung bemühte
254
Dazu liegen bereits umfangreiche Studien vor. An erster Stelle ist dabei natürlich die Darstellung Barietys zu nennen (BARIGTY, Relations franco-allemandes), aber auch andere Publikationen, siehe D A W E S , Dawes-Plan; Die Londoner Konferenz Juli-August 1924. Amtliches deutsches Weißbuch über die gesamten Verhandlungen der Londoner Konferenz, Sitzungsprotokolle, Aktenstücke, Briefwechsel, hg. v. Auswärtiges Amt, Berlin 1925; Tagebuch
der Reichskanzlei über die Londoner Konferenz (4.-18.8.1924), AdR MarxnihgedaSBA
Ι/Π Bd. 2, An
hang 1.
255
Siehe K R Ü G E R , Versailles, S. 1 2 2 .
256
Siehe D E R S . , Außenpolitik, S. 232f.
257
Siehe GlRAULT, Europe, S. 136.
258
Zur Ausrichtung der deutschen Politik siehe K R Ü G E R , Außenpolitik, S. 233-236.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
139
sich deshalb, guten Willen zu zeigen, und suchte besonders die Nδhe zu Großbritannien und den USA, bei denen man in Berlin richtigerweise vermutete,
daß sie den deutschen Forderungen nach Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit des Reiches - aus Furcht vor einer französischen Wirtschaftshegemonie auf dem Kontinent - wohlgesonnen waren.
In Paris stellte man sich unterdessen die Frage, wie man in der Deutschlandpolitik fortfahren sollte. Die Reparationsfrage lag wegen der Überweisung an
die Experten zunächst auf Eis. Hier blieb wenig übrig, als den begrenzten Einfluß auf die Sachverständigen zu nutzen und ansonsten der Dinge zu harren,
die da kommen mochten. Gewiß, Frankreich hatte seine Armee fest im Ruhrgebiet etabliert, die Eisenbahnregie arbeitete und die M.I.C.U.M.-Verträge
lieferten Ergebnisse. Wie sollte es aber weitergehen? Eine Regelung fur die
Bezahlung der Kriegsschulden bei den USA und England war nicht in Sicht,
und langfristig würde es ohne die Unterstützung der USA und Großbritanniens
weder bei den wirtschaftlichen Problemen noch bei der Sicherheitsfrage zu
Fortschritten kommen. Außerdem bereitete der Wertverfall des Franc der französischen Führung zunehmend Kopfzerbrechen. Die Pariser Presse argwöhnte,
eine konzertierte Aktion deutscher und englischer Banken stände hinter dem
rasanten Verfall der französischen Währung, um Druck auf die französische
Regierung auszuüben259. Allerdings wurde bald klar, daß die Spekulation gegen den Franc vor allem von französischen Industriellen ausgelöst wurde260.
Allerdings gelang es der französischen Regierung, einen 100 Mio. Dollar Kredit des amerikanischen Bankhauses Morgan zu erhalten und so einerseits die
Spekulationswelle zu stoppen und andererseits den eigenen politischen Spielraum wieder zu vergrößern261. Poincare mußte aber im Gegenzug für die Anleihe zustimmen, »daß die Französische Regierung im Falle der Durchführung
der Stützungsaktion die [Dawes-, R.B.] Gutachten anzunehmen und auszuführen sich verpflichte«262.
Angesichts der vor allem wirtschaftlichen Probleme einerseits und der immer noch intakten politischen Druckmittel andererseits galt es also, die Karten,
die man in der Hand hielt, im Sinne einer langfristigen, für Frankreich vorteilhaften Politik auszuspielen. Als erster erkannte wieder einmal Seydoux die
Notwendigkeiten der Neuorientierung der französischen Außenpolitik und
legte seine Gedanken Anfang Februar 1924 in einer Aufzeichnung nieder, die
Siehe Hoesch an AA (5.1.1924),xvutsrponmlihgfedcaYUSRNLJIEDCBA
Ρ AAA R, 28234.
Siehe Bendix an AA (14.1.1924), BArch R 3101, 14553, vgl. auch JEANNENEY, L'argent
cach6, S. 169199; JeanClaude DEBEIR, La crise du franc de 1924. Un exemple de specula
tion »internationale«, in: Relations internationales 13 (1978), S. 2949. Anders Roth, der
holländische und österreichische Bankhäuser fur die Spekulation verantwortlich macht, siehe
259
260
ROTH, Poincare, S. 453.
261
262
Siehe LEFFLER, Quest, S. 100.
Sthamer an AA (3.5.1925), BArch R 3101, 14554.
140
3. Die Anfδge der modernen Auίenpolitik
im großen und ganzen auch auf die Zustimmung Poincares stieß263. Zunächst
betonte Seydoux den Wert der Ruhrbesetzung, deren eigentlicher Nutzen vor
allem darin bestehe, daß sie Großbritannien zur Zusammenarbeit mit Frankreich gedrängt habe. Allerdings sei die direkte wirtschaftliche Ausbeutung des
Ruhrpfandes weniger ertragreich als eine gütliche Lösung mit Deutschland,
was die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit mit einschließe. Um
die französischen Forderungen bezüglich der Reparationen und der Sicherheit
durchzusetzen, müsse versucht werden, zu einer Annäherung an Großbritannien zu kommen und den Völkerbund auszubauen, denn letztlich sei es nur
durch England und die USA möglich, Europa zu befrieden, indem die Wirtschaft wiederaufgebaut werde. Was die französische Regierung also hier versuchte, war, das Ruhrpfand für langfristige wirtschafts- und sicherheitspolitische Zwecke einzusetzen. Die Verbesserung der Beziehungen gegenüber
Großbritannien stand dabei im Mittelpunkt der Bemühungen, und es kam Anfang des Jahres 1924 zu einer deutlichen Annäherung zwischen London und
Paris: Die Abkehr Frankreichs von der Unterstützung der pfälzischen Separatisten und insgesamt die Aufgabe einer prononcierten Rheinlandpolitik, eine
nachgiebigere Haltung Frankreichs in der Frage der Wiederaufnahme der Militärkontrolle durch die IMKK und der anglo-französische Kompromiß über
die gemeinsame Ausbeutung der Erdölvorkommen im Irak trugen Früchte264.
Auch in der Ruhrfrage ging man aufeinander zu. Frankreich stellte zwar nicht
die militärische Räumung in Aussicht, kündigte aber an, auf wirtschaftliche
Pressionen zu verzichten und die Besetzung für die Deutschen so »unsichtbar«
wie möglich zu gestalten265.
Neben der Verbesserung der Beziehungen zu Großbritannien mußte Frankreich aber auch versuchen, die politisch-militärischen und wirtschaftlichen
Druckmittel gegenüber Deutschland aufrechtzuerhalten. Die Annäherung an
England konnte also in dieser Phase, wo weder über die Zukunft der Reparationen und Kriegsschulden noch die der Sicherheit und der anderen schwebenden Probleme entschieden worden war, nicht soweit gehen, daß französischerseits die militärische Ruhrräumung oder die M.I.C.U.M.-Verträge zur
Disposition gestellt werden durften.
Die Frage der militärischen Besetzung war zunächst nicht akut. Sie war ausdrücklich aus dem Programm der Expertenkommission ausgeklammert worden. Drängender war hingegen das Problem der M.I.C.U.M.-Absprachen. Sie
waren zunächst bis zum 15. April 1924 befristet, einem Zeitpunkt also, zu dem
eine endgültige Regelung der Reparationsfrage noch nicht zu erwarten war. In
bezug auf die Frage nach der Verzahnung von wirtschaftlichen und politischen
Zu dieser Aufzeichnung siehetsronmlihfedcaYTSRPONJIEBA
ΒΑΚίέτγ, Relations francoallemandes, S. 293295;
JEANNESSON, Poincare, S. 391393.
264
Siehe BARISTY, Relations francoallemandes, S. 298f., 307.
265
Siehe JEANNESSON, Poincarf, S. 393f.
263
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
141
Problemen lohnt es sich, auf die Frage der Verlδngerung der M.I.C.U.M.
Vertrδge etwas genauer einzugehen, denn hier trafen die unterschiedlichen
Interessen von deutscher und franzφsischer Außenpolitik sowie die der Wirtschaft beider Länder zusammen. Was also verbanden diese verschiedenen Akteure mit den M.I.C.U.M.-Verträgen?
Die deutsche Wirtschaft wollte eine Änderung des gegenwärtigen Wirtschaftsregimes in den besetzten Gebieten. Die Belastungen, die der Industrie
durch die Abkommen mit der M.I.C.U.M. auferlegt wurden, seien auf Dauer
nicht zu verkraften, außerdem strömten durch die offene Zollgrenze im Westen ungebremst und durch den Francverfall verbilligte französische Waren in
das Rheinland266. Für eine Verringerung der Lasten aus den M.I.C.U.M.Verträgen war man deshalb bereit, langfristige Verträge mit der französischen
Industrie z.B. in bezug auf die Koksversorgung abzuschließen267. Mit diesem
Ziel verhandelten Vertreter Stinnes' im Januar und Februar 1924 mit Pinot,
dem Chef des Comite des forges, und mit Seydoux.
Die Haltung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie korrespondierte,
gelinde gesagt, kaum mit der Stresemanns:
Der Minister Ritter und der Botschaftsrat von Hoesch hätten darauf in seinem, des Ministers
Auftrage Herrn Stinnes um die Mitteilung seines Reparationsplanes gebeten. Hierbei habe
sich wenig Positives ergeben; der Gedanke der Stinnesgruppe laufe im wesentlichen auf eine
Fortsetzung der Micum-Verträge unter Zuhilfenahme einer internationalen Anleihe hinaus.
Dieser Gedanke sei unbedingt zu verurteilen, denn er nehme den gegenwärtigen Zustand an
Rhein und Ruhr zum Ausgangspunkt und bedeute hierdurch gewissermaßen eine Anerkennung des französisch-belgischen Regimes in seiner heutigen Gestalt. Er stehe somit im unmittelbaren Widerspruch zu der Generalpfandidee der Reichsregierung und bedeute eine
Sabotierung dieser Idee und somit auch der Arbeiten des Sachverständigenkomitees, das
nach den vorliegenden Orientierungen ebenfalls eine Lösung im Sinne des Generalpfandes
anstrebe. Er halte es daher für erforderlich, die Gedankengänge der Stinnes-Gruppe seitens
der Reichsregierung zurückzuweisen268.
Es war also im Interesse der Reichsregierung, die M.I.C.U.M.-Frage offenzuhalten bzw. diese von der Ebene der quasi privaten Absprachen zwischen
deutscher Wirtschaft einerseits und M.I.C.U.M. andererseits auf die Regierungsebene zu heben. Kämen Deutsche und Franzosen zu langfristigen wirtschaftlichen Verträgen bezüglich der wirtschaftlichen Kooperation, würde es
unendlich viel schwieriger fur die deutsche Regierung werden, den Abzug der
französischen Besatzungstruppen aus dem Ruhrgebiet zu erreichen. Deshalb
forderte Stresemann Hoesch auf, statt über eine Verlängerung der M.I.C.U.M.Verträge über ein provisorisches Abkommen zwischen den Regierungen zu
266
Siehe Vögler an Ritter (24.1.1924), BArch R 3101, 14767.
Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 302.
268
Kabinettssitzung (29.1.1924), AdR MarxrdNB
Ι/Π Bd. 1, Nr. 79
267
142
3. Die Anfφge der modernen Außenpolitik
verhandeln, um die Zeit bis zum Inkrafttreten der neuen Reparationsregelungen zu überbrücken269.
Die Franzosen hingegen lehnten dies ab. Als sich abzeichnete, daß sie im
Falle einer NichtVerlängerung der M.I.C.U.M.-Absprachen zu den Repressalien der Vor-M.I.C.U.M.-Zeit zurückkehren würden270, gab die Reichsregierung
schließlich doch nach, weil sonst das wirtschaftliche Chaos gedroht hätte271.
Außerdem war für Deutschland die befristete Verlängerung der M.I.C.U.M.Verträge immer noch erträglicher als dauerhafte Abkommen zwischen den
Industriellen, die den deutschen Spielraum in der Frage der militärischen Räumung langfristig eingeengt hätten. Die dringende Bitte Englands, durch die
drohende NichtVerlängerung der Verträge mit der M.I.C.U.M. die Lösung des
Reparationsproblems nicht zu gefährden, tat ihr übriges, um die Reichsregierung zum Nachgeben zu bewegen. Am 14. April 1924, also einen Tag vor ihrem Ablauf, einigten sich die Sechserkommission und die M.I.C.U.M. auf die
Verlängerung der Absprachen bis zum 15. Juni 1924. Frankreich hatte so zwar
noch alle Druckmittel in der Hand, als über den Dawes-Plan verhandelt wurde,
allerdings hatte Deutschland auch vermeiden können, daß die Verträge unbefristet verlängert worden waren272.
Frankreich wollte also die Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge. Zu welchem Zweck? Wäre es für Frankreich nicht besser gewesen, jetzt, im Moment
der Stärke, mit den deutschen Industriellen zu langfristigen Absprachen zu
kommen, um dauerhaft den französischen Einfluß auf die rheinischwestfälische Schwerindustrie zu sichern? Ein Problem in diesem Zusammenhang waren die Konflikte innerhalb der französischen Schwerindustrie. Der
Comite des forges war zwar an einer teilweisen oder vollständigen Besitzübertragung von Bergwerken im Ruhrrevier auf die französische Eisenindustrie
interessiert, stieß damit aber auf den Widerstand des Kohlenverbandes, dem
Comite central des houilleres de France (C.C.H.F.)273. In dieser innerwirtschaftlichen Auseinandersetzung boten die M.I.C.U.M.-Verträge eine sowohl
für den Comit£ des forges wie auch für den C.C.H.F. erträgliche Übergangslösung, wähnte man doch die deutsche Konkurrenz wirksam ausgeschaltet274.
Allerdings entspann sich innerhalb der französischen Regierung bald ein
Konflikt über die Vorgehensweise. Seydoux war zwar auch der Meinung, daß
eine endgültige Regelung für die langfristige Zusammenarbeit zwischen deutscher und französischer Schwerindustrie erst dann zustande kommen könne,
269
Siehe Stresemann an Paris und Brüssel (2.4.1924), ADAP A DC, Nr. 243.
Siehe Vögler an Ritter (3.4.1924), BArch R 3101, 14769.
271
Zu den Motiven der deutschen Regierung, der Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge
zuzustimmen, siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 306.
272
Siehe Runderlaß Ritter (30.4.1924), ADAP A X, Nr. 52.
273
Siehe Aufzeichnung Seydoux [?] (8.1.1924), MAE PAAP 261, 30.
274
Siehe Hoesch an Schubert (1.3.1924), ADAPriND
Α Di, Nr. 177.
270
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
143
den Deutschen, um in dem Moment, in dem die Experten ihr Ergebnis vorleg
ten, z٧gig zu einem Abschluß mit den deutschen Industriellen kommen zu
können. Er wollte außerdem den Deutschen eine Perspektive aufzeigen, damit
sie ihren Widerstand gegen die Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge aufgäben275. Gleichzeitig sollte das Thema mit London erörtert werden, um die englische Zustimmung für diese Pläne zu sichern276. Staatspräsident Millerand
und der Minister für öffentliche Arbeiten, Le Trocquer unterstützten den Vorstoß Seydoux', nicht aber Poincare, der Pinot lediglich erlaubte, dilatorisch
mit den deutschen Industriellen zu verhandeln, und Gespräche mit Hoesch
über dieses Thema ablehnte277. Über die Haltung Poincares in dieser Frage
läßt sich nur spekulieren. Wollte er vermeiden, daß das gerade wieder mühsam
verbesserte Verhältnis zu England durch deutsch-französische Sonderverhandlungen Schaden nahm? Vielleicht steht seine Weigerung im Zusammenhang
mit der Sicherheitsfrage, die Anfang März 1924 wieder stärker die französische Politik bestimmte278. Käme man jetzt auf wirtschaftlicher Ebene mit
Deutschland zu einer Regelung, würde das Ruhrpfand für die Sicherheitsfrage
wertlos. Vielleicht stand seine Haltung aber auch im Zusammenhang mit den
Verhandlungen für den 100 Mio. Dollar Kredit von Morgan, der bereits erwähnt wurde. Dabei hatte sich die französische Regierung verpflichtet, den
neuen Reparationsplan zu unterstützen, und Poincare wollte vielleicht verhindern, daß das von den Experten erarbeitete Reparationsschema durch deutschfranzösische Sonderabsprachen kompromittiert wurde.
Bezüglich der M.I.C.ILM.-Verhandlungen und des Einflusses der Wirtschaftskräfte auf deren Ausgang läßt sich feststellen, daß die deutsche Industrie ihre Vorstellungen nicht hatte durchsetzen können. Sie war auf nur mäßiges Interesse bei ihren französischen Partnern gestoßen und sah sich der Opposition der deutschen wie der französischen Politik ausgesetzt. Obwohl zwar
beide Regierungen bezüglich der M.I.C.U.M. »diametral entgegengesetzte«279
Zielsetzungen verfolgten, war keine der beiden Seiten zu diesem Zeitpunkt an
einer langfristigen Bindung der französischen und deutschen Industrie interessiert: Die Reichsregierung wollte die Lage offenhalten, um auch die militärische Besetzung in einem günstigen Augenblick abzuschütteln, Frankreich war
an einer Regelung der Frage im Gesamtzusammenhang mit den Reparationen
und der Sicherheitsfrage interessiert. So entsprach die befristete Verlängerung
der M.I.C.U.M.-Verträge den Zielen der französischen Politik. Verglichen mit
275
Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.3.1924), MAE PAAP 261,40.
Seydoux zog hier offensichtlich die Konsequenz aus dem Miίerfolg seines Reparations
plans von 1920, der vor allem am englischen Widerstand gescheitert war.
277
Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.3.1924), MAE PAAP 261,40.
278
Hoesch an AA (4.3.1924),tsronmlifedcaSRA
ΡAAA R, 70096.
279
ΒΑΜέτγ, Relations francoallemandes, S. 305.
276
144
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
der Alternative langfristiger deutsch-französischer Wirtschaftsabkommen war
sie für Deutschland das kleinere Übel.
In diesem Umfeld begannen die Dawes-Plan Verhandlungen, nachdem die
RepKo am 30. November 1923 beschlossen hatte, zwei Expertenkommissionen zur Lösung der Reparationsfrage einzusetzen. Die erste Kommission sollte
Maßnahmen erarbeiten, wie das deutsche Budget ins Gleichgewicht gebracht
und die neue deutsche Währung langfristig stabil gehalten werden konnte. Die
zweite sollte Ausmaß und Bedeutung der Kapitalflucht aus Deutschland während der Inflationszeit untersuchen280. Die erste Kommission - betreffend das
deutsche Budget und die Währungsstabilisierung - unter Vorsitz des Amerikaners Charles G. Dawes bestand aus zehn Mitgliedern (je zwei aus den USA,
Großbritannien, Frankreich, Belgien und Italien). Sie war die bei weitem
wichtigere der beiden Arbeitsgruppen: Ihr oblag es letztendlich zu bestimmen,
welche Reparationsbelastung sowohl mit dem budgetären Gleichgewicht als
auch der Stabilität der deutschen Währung zu vereinbaren war. Die zweite
Kommission, unter Vorsitz des britischen Bankiers McKenna, bestand aus
fünf Mitgliedern (je einem aus den genannten Ländern) und war vor allem
»ein sachlich belangloses Lockmittel für die französische Seite, das der britische Reparationsbeaufitragte Bradbury erdacht hatte, um Frankreich die Zustimmung zum ersten Mandat zu erleichtern«281.
Wie bereits im vorherigen Kapitel zu sehen war, hatte sich Frankreich bemüht, die Rolle der Expertenkommissionen möglichst stark auf die technischen Aspekte des Reparationsproblems zu beschränken und konnte immerhin
durchsetzen, daß weder die Ruhrbesetzung noch die M.I.C.U.M.-Verträge Bestandteil der Erörterungen der Experten sein durfiten. Auch das 1921 in Spa
festgelegte Gesamtvolumen der deutschen Reparationsschuld von 132 Mrd. GM
stand nicht zur Disposition282. Allerdings konnte Frankreich sich nicht mit seinen Forderungen durchsetzen, die Fragen der Eisenbahnregie und der innerdeutschen Zollgrenze aus den Expertendiskussionen herauszuhalten283.
Die Ergebnisse, zu denen die Experten in ihrem Abschlußbericht vom
9. April 1924 kamen, sind schnell zusammengefaßt284. Voraussetzung für das
Funktionieren des Planes, so die Fachleute, sei die Wiederherstellung der wirt-
280
Zur Organisation der Arbeit der Sachverständigenkommissionen vgl. SCHWABE, Ruhrkrise,
S. 70; JEANNESSON, Poincar6, S. 389f.; BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 275, 301.
281
SCHWABE, Ruhrkrise, S. 70.
282
Siehe JEANNESSON, Poincarö, S. 389.
283
Siehe ibid. Zur Entwicklung des Auftrages des Expertenkomitees, der sogenanntentsronmfec
terms
of reference, siehe auch DAWES, Dawes Plan, S. 285-296.
284
Der Text des Expertenberichts ist u.a. abgedruckt in: DAWES, Dawes Plan, S. 299-509.
Die folgende Zusammenfassung der Ergebnisse des Dawes-Plans beruht auf WEILLRAYNAL, R6parations, Bd. 2, S. 562f.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
145
schaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands285 und die Unteilbarkeit
des gesamten Gutachtens. Der Plan sah vor, daß die deutschen Reparationszahlungen stufenweise von 1 Mrd. GM pro Jahr im ersten auf 2,5 Mrd. GM im
fünften Jahr steigen sollten, um dann auf diesem Niveau zu bleiben. Die Laufzeit der deutschen Zahlungen wurde nicht festgelegt. Die weitere Erhöhung
der Annuitäten war aufgrund eines Wohlstandsindex' möglich, eine Revision
der Zahlungen in dem Fall, daß sich der Goldwert dramatisch verändern würde. Als Pfänder fiir die deutschen Reparationszahlungen wurden Hypotheken
auf die Reichsbahn und die deutsche Industrie vorgesehen, außerdem wurden
bestimmte Staatseinnahmen verpfändet. Das betraf vor allem Zölle sowie die
Monopolgewinne und Steuereinnahmen auf Alkohol, Bier, Tabak und Zucker.
Die Pfänder wurden durch je einen Kommissar für die Reichsbahn und die
verpfändeten Staatseinnahmen überwacht, außerdem durch den Generalagenten. Der Generalagent hatte auch dafür zu sorgen, daß der Wechselkurs
der neuen deutschen Währung durch die Transferierung großer Geldwerte ins
Ausland nicht zu stark belastet wurde und konnte unter Umständen Überweisungen in das Ausland verzögern. Durch die Anrechnung von Sachlieferungen und die Einführung des Recovery Act286 sollte darüber hinaus der
Transfer von Devisen verringert werden. Um neben dem Transferschutz die
Stabilität der neuen deutschen Währung zu gewährleisten, wurde die Golddeckung wieder eingeführt287. Der Reichsbank wurde verboten, dem Reich
Kredite zu gewähren, und sie wurde einer internationalen Kontrolle unterworfen. Um der deutschen Wirtschaft nach dem Ruhrkampf und der völligen
Entwertung der Mark unter die Arme zu greifen, erhielt das Deutsche Reich
darüber hinaus einen Kredit von 800 Mio. GM.
Eine wesentliche Frage ist, warum die Experten mit ihrem Gutachten den
Erfolg hatten, der den verschiedenen Reparationskonferenzen zuvor versagt
geblieben war, obwohl vieles, was die Experten zu Papier gebracht hatten -
285
Nach deutscher Auffassung bedeutete das: Aufhebung der Binnenzollinie und der Derogationsämter, die den Austausch zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet regelten,
Wiederherstellung der deutschen Zollhoheit auch an der Westgrenze, Abschaffimg des
Lizenzsystems fiir die deutsche Ausfuhr an der Westgrenze, Aufhebung der Eisenbahnregie,
freier Personenverkehr zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet, Freiheit der Schiffahrt
und des Kfz-Verkehrs, Zulassung von Rundfunk und Luftverkehr, Reduzierung der Besatzungstruppen, Rückgabe aller enteigneten Pfänder, Ende der Beschlagnahmungen, Ende
der Unterstützung der Separatisten, Ende der Eingriffe in das Steuerwesen, Aufhebung der
M.I.C.U.M.-Verträge und Wiederherstellung der deutschen Verwaltungshoheit. Außerdem
mußte gewährleistet sein, daß im besetzten Gebiet Gesetze gleichzeitig wie im Rest Deutschlands in Kraft treten konnten, siehe Miller an AA (6.5.1924), ADAP A X, Nr. 69.
286
Der Recovery Act war eine 26prozentige Abgabe, die auf den deutschen Export in die
Reparationsgläubigerländer erhoben wurde. Die so abgeführten Devisen wurden den
deutschen Exporteuren in Markbeständen erstattet.
287
Die Deckungsquote betrug 40%, von denen % durch Gold aufgebracht werden mußten.
146
3. Die Anfage der modernen Außenpolitik
wie beispielsweise die Idee einer internationalen Anleihe zur Stabilisierung
der deutschen Währung - , bereits zuvor erörtert worden war.
Was das Dawes-Komitee von seinen Vorgängern, seien es nun Expertenoder Regierungsgremien, unterschied, war, daß sein Auftrag einerseits nicht zu
eng gefaßt - die Verhandlungen der Bankiers über die Anleihe zur Währungssanierung in Deutschland waren bekanntlich an der Pfandfrage gescheitert, die
jedoch nicht Inhalt der Bankiersverhandlungen gewesen war - , andererseits
aber auch nicht zu weit gefaßt war, weil andere Problembereiche, wie die der
Sicherheit Frankreichs, ausgeklammert blieben. Die Reduzierung der Agenda
auf den rein wirtschaftlichen Aspekt machte es möglich, daß ein gemeinsamer
Standpunkt leichter gefunden werden konnte. Alle Staaten, einschließlich der
USA, hatten letztlich ein Interesse daran, die Reparationsfrage zu lösen, während in der Beurteilung der Sicherheitslage doch erhebliche Differenzen bestanden. Die vorangegangenen Versuche zur Lösung des Reparationsproblems
waren dagegen vor allem an der unseligen Verkopplung von Reparations- und
Sicherheitsfrage gescheitert, wie besonders der Mißerfolg der Weltwirtschaftskonferenz von Genua gezeigt hatte. Stresemanns Einschätzung, die
Einsetzung des Dawes-Komitees sei ein Sieg der französischen Regierung
gewesen, durch den es Paris gelungen sei, »den englischen Versuch der Einberufung einer Weltkonferenz zum Zwecke der Gesamtlösung der Reparationsfrage und der Rhein- und Ruhrfrage wenigstens vorläufig zu paralysieren«288, erwies sich insofern im Nachhinein als falsch, als durch den
Versuch, eine »Gesamtlösung« anzustreben, sich das ganze Spiel der Vorruhrkampfzeit mit seinen erfolglosen Regierungskonferenzen vermutlich
wiederholt hätte.
Die Nichtbeteiligung Deutschlands an den Expertengesprächen erwies sich
als weiterer außerordentlicher Glücksfall. In der Konstellation, in der verhandelt wurde, bestanden ausreichend Gemeinsamkeiten zwischen den
Experten, um zu einem konstruktiven Ergebnis zu gelangen. Trotzdem waren
aber auch die deutschen Interessen indirekt vertreten, weil diese sich vielfach
mit denen der USA und Großbritanniens deckten, und es gab informelle
Kontakte zwischen deutschen Wirtschaftsvertretern und den britischen und
amerikanischen Sachverständigen289. Im Grunde genommen waren die angelsächsischen Mächte bessere Anwälte der deutschen Sache als es die Deutschen
selbst je hätten sein können. Wie schwierig die Regelung des Problems der
Reparationen unter deutscher Einbeziehung hätte sein können, läßt sich an den
Verhandlungen zum Young-Plan erahnen, die vor allem an der Haltung
Schachts fast gescheitert wären.
Die Beteiligung der Vereinigten Staaten an der Expertenkommission war ein
weiterer zusätzlicher Faktor, der letztlich zum Erfolg des Dawes-Gutachtens
288
289
Stresemann an Sthamer (21.1.1924), ADAP AIX, Nr. 106.
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 501f.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
147
f٧hrte, denn nur sie verfugten ٧ber die finanzielle Manφvriermasse und saßen
an der entscheidenden Stelle im Gesamtkomplex aus Reparationen und interalliierten Kriegsschulden, um den Plan zum Erfolg zu fuhren.
Auch die Auswahl der Experten sollte sich als außerordentlich günstig erweisen. Betrachtet man deren Biographien, so fällt auf, daß sie vielfach eben
keine unabhängigen Wirtschaftsfachleute waren, sondern oftmals einer »Grauzone« zwischen Wirtschaft und Politik entstammten und mit beiden Sphären
vertraut waren. Der Vorsitzende und Namensgeber der Expertenkommission,
Charles Gates Dawes, war nicht nur Bankier, sondern auch Jurist und »one of
the nation's most able statesmen«290. Er organisierte teilweise den Präsidentschaftswahlkampf McKinleys, in dessen Administration er tätig war, und war
als General im Ersten Weltkrieg für die gesamte Materialversorgung der Alliierten zuständig gewesen. Er war später außerdem Vizepräsident unter Coolidge und Botschafter seines Landes in Großbritannien. Auch Owen D. Young
als weiterer amerikanischer Fachmann und einflußreiches Mitglied der Expertenkommission war keinesfalls nur in der Welt der Wirtschaft zu Hause: Neben seiner Tätigkeit als Chairman of the Board fur General Electric war er unter anderem Direktor der Federal Reserve Bank of New York, Mitglied
diverser Delegationen auf vielen internationalen Wirtschaftskonferenzen und
Experte in verschiedenen Gremien, die den US-Präsidenten in Wirtschaftsund Sozialfragen berieten291. Die französischen Experten waren ebenfalls keineswegs reine Wirtschaftsfachleute: Der französische Hauptdelegierte, Jean
Parmentier, war als Directeur du mouvement general des fonds einer der höchsten Beamten im französischen Finanzministerium292. Ähnliches galt für den
zweiten französischen Delegierten, Edgar Allix. Als Professor für Finanzwissenschaft an der Sorbonne galt er »als Größe auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts und der Nationalökonomie«293 und sammelte politische Erfahrungen als
chef du cabinet von Paul Doumer, dem Finanzminister im vierten Kabinett
Briand294. Für die Experten aus den übrigen Ländern läßt sich Analoges sagen:
Emile Francqui, einer der belgischen Delegierten, machte in der Societe
generale Karriere, war aber auch Minister unter Jaspar und einer der Hauptverantwortlichen für die Währungssanierung in Belgien im Jahre 1926295. Sein
290
Steven G. O'BRIEN, American Political Leaders. From Colonial Times to Present, Santa
Barbara, Denver, Oxford 1991, S. 102.
291
Siehe O.V., Who was Who in America, Bd. 4, Chicago 1968, S. 1043. Zur Rolle Youngs
bei den Dawes-Plan-Verhandlungen siehe COSHGLIOLA, Awkward Dominion, S. 116-118.
292
Siehe Robert BURNAUD, Qui etes-vous? Annuaire des contemporains, notices biographiques, Paris 1924, S. 587.
293
Siehe Aufzeichnung ohne Datum und Unterschrift, BArchR 3101, 20436.
294
Das vierte Kabinett Briand war vom 16.1.1921 bis 15.1.1922 im Amt.
295
Siehe Fernand BAUDHUIN, art. »Francqui«, in: Biographie Nationale, hg. v. Acad6mie
royale des sciences, des lettres et des beaux-arts de Belgique, Bd. 31, Brüssel 1962,
Sp. 3 6 2 - 3 7 0 .
148
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Mitdelegierter Albert Janssen war Präsident der belgischen Nationalbank296.
Der britische Vertreter Robert Kindersley war neben seinen Aufgaben bei der
Bank Lazard Brothers auch Präsident des War Savings Committee und des
National Savings Committee297. Sein Kollege im Dawes-Komitee, Josiah
Stamp, begann seine Karriere in der britischen Finanzverwaltung und wechselte später in die Privatwirtschaft298. Die Liste ließe sich fortsetzen, auch wenn
bei einigen Delegierten das privatwirtschaftliche Element stärker ausgeprägt
zu sein schien, so z.B. bei dem dritten französischen Delegierten, Andre Laurent· Atthalin, Generaldirektor der Banque de Paris et des Pays-Bas, deren Präsident er später werden sollte299, oder bei den italienischen Delegierten Alberto
Pirelli und Mario Alberti300, die in der Industrie bzw. dem Bankwesen tätig
waren. Der Erfolg der Experten dürfte also einerseits darin begründet liegen,
daß sie ausgewiesene Wirtschaftsexperten waren und somit den nötigen Sachverstand für ihre Aufgabe mitbrachten und trotzdem weitgehend unabhängig
vom politischen Prozeß waren. Andererseits Wären sie aber auch soweit in das
politische System ihrer Länder integriert, daß sie dort den notwendigen Einfluß hatten, um dem Expertengutachten das notwendige Gewicht zu verleihen.
Ein weiterer, schwer zu bestimmender, nichtsdestotrotz aber nicht zu unterschätzender Faktor dürfte gewesen sein, daß sich gewisse Gemeinsamkeiten in
den Biographien ergaben, die dem Erfolg der Arbeit dienlich gewesen sein
dürften: Es handelte sich eben in der Tat um Männer, die in der Politik ebenso
beheimatet waren wie in der Wirtschaft, mit zum Teil sehr ähnlichen Karrieren, so daß folglich Wert- und Zielvorstellungen und die Art des Denkens einen hohen Grad an Übereinstimmung gezeigt haben dürften.
Das letztlich entscheidende Kriterium dafür, daß für das Reparationsproblem - nach den Irrungen und Wirrungen der Jahre unmittelbar nach dem
Krieg vielleicht überraschend - eine für alle erträgliche Lösung gefunden
wurde, war die Bereitschaft aller Beteiligten aus Regierungen oder der Wirtschaft, überhaupt zu einer Lösung kommen zu wollen. Diese Bereitschaft war
vor dem Ruhrkampf nicht vorhanden gewesen, sei es, weil die Reparationen
als solche abgelehnt wurden oder die Reparationsfrage lediglich als Mittel zur
Lösung anderer Probleme gesehen wurde. Der Ruhrkampf hatte jedoch bei
296
Siehe Aufzeichnung ohne Datum und Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1,187.
Siehe Robert H. BRAND, art. »Kindersley, Robert Molesworth«, in: L. G. WlCKHAM
LEGG,yxvutsrponmlihgfedcbaWVUTSRQONMLJIHGEDCBA
Ε . T. WILLIAMS (Hg.), The Dictionary of National Biography, 19411950, Oxford
u.a. 1959, S. 585.
298
Siehe William H. BEVERIDGE, art. »Stamp, Josiah Charles«, in: ibid. S. 817820.
299
Siehe BURNAUD, Qui etesvous 1924, S. 21; Eric BüSSlfeRE, Paribas 1872-1992, l'Europe
et le monde, Antwerpen 1992, S. 310.
300
Alberti war stellvertretender Generaldirektor bei Credito Italiano, siehe Aufzeichnung
ohne Datum und Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1, 187, Pirelli Direktor eines Industriekonzerns,
in dem nicht nur die besagten Pirelli-Reifen produziert wurden, Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum, BArch R 3101,20436.
2,7
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
149
jedermann die Erkenntnis zutage gefφrdert, daß eine schnelle, erträgliche Lösung für das Reparationsproblem gefunden werden mußte, um aus der Sackgasse, in der sich die Politik seit dem Ende des Ersten Weltkriegs befunden
hatte, herauszukommen, oder, wie Seydoux gegenüber Hoesch erklärt hatte:
»Sachverständigengutachten gefalle ihm zwar in vielen Punkten nicht. Er halte
es aber für einzig möglichen Ausweg. [...] Gutachten vorkomme ihm wie vorbeifahrendes Schiff, in das alle einsteigen müßten, wenn nicht jede Hoffnung
auf Weiterkommen verloren sein solle«301.
Der Ruhrkampf hatte außerdem zu einer inhaltlichen Annäherung zwischen
den Konfliktparteien geführt. Vergleicht man die Positionen der deutschen302
und französischen303 Regierung Anfang des Jahres 1924 mit den Ergebnissen
des Dawes-Plans, so ergibt sich eine erstaunliche Nähe der Vorstellungen. Gegensätze bestanden zwischen Deutschland und Frankreich allerdings noch in
der Währungs- und Eisenbahnfrage. Frankreich forderte die Schaffung nicht
einer, sondern mehrerer Länder-Notenbanken und die Errichtung mehrerer
Landeseisenbahngesellschaften, die nur locker koordiniert werden sollten,
während Deutschland auf eine zentrale Lenkung sowohl des Geld- wie des
Eisenbahnwesens bestand. Frankreich wich jedoch nach und nach von seinen
Forderungen in diesen beiden Bereichen zurück304. Aus deutschlandpolitischer
Sicht ist an diesen Überlegungen bemerkenswert, daß zumindest Teile der
französischen Führung Anfang des Jahres zwar eine weitreichende Föderalisierung des Reiches anstrebten, aber von den Plänen zur Zerstückelung des
Reiches Abschied genommen hatten. Auch bezüglich der Beteiligung französischer Unternehmen an der deutschen Industrie herrschte weiterhin Dissens.
Während die Reichsregierung dies noch immer ablehnte305, hielt Frankreich
daran fest. Allerdings sah man in Paris diese Frage weniger als ein Reparationsproblem, sondern vielmehr als einen Teil der notwendigen Neuordnung der
deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen, die durch langfristige Verträge
zwischen der deutschen und französischen Montan- und chemischen Industrie
und durch einen Handelsvertrag abgesichert werden sollten306.
Nach dem bereits Gesagten ist es wenig verwunderlich, daß die Reichsregierung am 16. April 1924 trotz der hohen finanziellen Belastungen und des erheblichen innenpolitischen Widerstandes von rechts dem Dawes-Plan ihre Zu^ΛΤ
inn
S t i m m u n g gab . Für die Annahme sprachen vor allem folgende Gründe
301
Hoesch an AA (6.5.1924), ADAP A X, Nr. 68.
Siehe »Richtlinien für die Verhandlungen mit dem Sachverständigen-Komitee [25.1.
1924]« (ohne Unterschrift), AdR Marx HI Bd. 1, Nr. 72.
303
Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.1.1924), MAE PAAP 261, 30.
302
304
305
Siehe BARlßTV, Relations franco-allemandes, S. 308.
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 237.
306
Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.1.1924), MAE PAAP 261, 30.
307
308
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 68.
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 238; Hoesch an AA (25.4.1924), ADAP A X, Nr. 42.
150
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Der Expertenplan machte die Reparationszahlungen kalkulierbar und ermöglichte dadurch den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands. Durch die
Eröffnung einer wirtschaftlichen Perspektive für Deutschland und den Transferschutz würde zukünftig eine Überlastung der deutschen Wirtschaft vermieden und damit endlich die Stabilität geschaffen, die die Voraussetzung für die
dringend benötigten Kredite aus den USA bildete. Es ist deshalb wenig erstaunlich, daß vor allem die Wirtschaft nachdrücklich auf die Annahme des
Expertenplans drängte309.
Doch nicht nur wirtschaftlich, auch politisch hatte der Plan Vorteile für
Deutschland. Die Experten forderten nämlich ausdrücklich die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands, was langfristig auch die Grundlage für die militärische Besetzung des Ruhrgebiets unterminieren mußte. Da die Sachverständigen außerdem vorgeschlagen hatten, daß
die Kosten für die Besetzung des Ruhrgebiets aus dem französisch-belgischen
Reparationsanteil bezahlt werden sollte, ergab sich hier ein weiteres Druckmittel, Paris zur militärischen Räumung des Ruhrgebiets zu bewegen.
Frankreich tat sich etwas schwerer mit der Zustimmung, erklärte als letzter
der beteiligten Staaten am 25. April 1924 seine grundsätzliche Zustimmung
zum Dawes-Gutachten310 und machte die endgültige Inkraftsetzung des Expertenplans von diversen Bedingungen abhängig3". Sie sollte erst erfolgen, wenn
Deutschland alle notwendigen Vorbedingungen erfüllt haben würde, also beispielsweise die Gesetze verabschiedet sein würden, die notwendig waren, um
die Reichsbahn und die Reichsbank im Sinne der Dawes-Plans umzugestalten.
Auch forderte Poincarö die Aufrechterhaltung der militärischen Ruhrbesetzung bis zu dem Zeitpunkt, an dem Deutschland seine Reparationsschulden
vollständig bezahlt haben würde. Für den Fall, daß Berlin seinen Verpflichtungen nicht nachkäme, sollten wieder wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen in
Kraft treten, und diesmal sollte sich Großbritannien daran beteiligen. Zwar
wollte Frankreich auf die wirtschaftlichen Pfander und Druckmittel, die es seit
der Ruhrbesetzung hatte, verzichten, jedoch sollte französisches und belgisches Personal die Ausführung der Bestimmungen des Dawes-Plans kontrollieren. Abgerundet wurde das Programm Poincares durch Forderungen, die die
Kohlenversorgung Frankreichs und die Kontrolle der Eisenbahnen im Rheinland, oder zumindest einiger wichtiger Linien, sicher stellen sollten.
Es ist viel darüber spekuliert worden, ob Poincare unter dem Druck der immensen Besatzungskosten, der Franc-Krise, der wachsenden Kritik der Öffent309
Zur Zustimmung der Wirtschaft siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.4.1924),
PAAAR, 28939, Resolution des Wirtschaftsausschusses für die besetzten Gebiete
(1.5.1924), BArch R 3101, 14913, Resolution der Industrie- und Handelskammer Berlin
(2.5.1924) BArch R 3101,14913.
3,0
Siehe Poincare an Barthou(25.4.1924), BArch R 3101, 14913.
311
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 398.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
151
lichkeit oder des franzφsischen Delegierten in der RepKo, Barthou, dem Sach
verstδndigengutachten seine Zustimmung hat geben m٧ssen312. άbereinstim
mend mit Bariety313 bin ich nicht der Ansicht, daß Poincare nachgegeben hat.
Wie bereits oben zu sehen war, lag die französische Linie in der Reparationspolitik nicht allzu weit von dem entfernt, was die Experten letztendlich vorgeschlagen hatten. Dies deckt sich auch mit den Beobachtungen zu den Absichten, die Poincare vor und während des Ruhrkampfs verfolgt hat. Klar ist allerdings auch, daß er versuchte, den Atout, den er mit der Ruhr gegenüber
Deutschland und den westlichen Mächten in der Hand hielt, möglichst lange
zu behalten und für seine Politik, die ja nicht nur die Reparationen, sondern
auch die Sicherheit Frankreichs betraf, zu nutzen314. Für Poincard kam es nun
darauf an, seine Bedingungen, die er mit der Inkraftsetzung des Dawes-Plans
verknüpfte, durchzusetzen. Hauptadressat dafür war aber nicht Berlin, sondern
vor allem London.
Nachdem sich alle beteiligten Regierungen zur prinzipiellen Annahme des
Dawes-Gutachtens bereit erklärt hatten, traten in Deutschland wie in Frankreich die außenpolitischen Fragen wegen der stattfindenden Wahlen zunächst
ein wenig in den Hintergrund.
Die Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 führten zu einer Schwächung der
bürgerlichen Regierungsparteien und der Sozialdemokraten, also der Parteien
der sogenannten Weimarer Koalition und der DVP, während die Rechte - die
DNVP und die erstmals im Reichstag vertretene Nationalsozialistische Freiheitsbewegung - deutliche Zugewinne erzielen konnten315. Angesichts der
prekären Mehrheitsverhältnisse wuchs also der Einfluß der DNVP, die hinter
der SPD knapp zweitstärkste Partei geworden war316. Marx bildete erneut ein
Minderheitskabinett, da weder eine große Koalition (unter Einschluß der SPD)
noch eine bürgerliche Rechtskoalition (mit Beteiligung der DNVP) zustande
kam. Allerdings scheiterten die Koalitionsverhandlungen mit der DNVP nicht,
wie man annehmen könnte317, an außenpolitischen Differenzen, sondern an der
Forderung der Deutschnationalen, daß die bürgerlichen Parteien die große Koalition in Preußen verlassen sollten318. Die DNVP, so war sich Stresemann
312
Siehe GIRAULT, Europe, S. 137; WEILL-RAYNAL, R6parations, Bd. 2 , S. 5 9 8 - 6 0 3 .
Siehe BARIÄTY, Relations franco-allemandes, S. 313.
Siehe Hoesch an AA (18.4.1924), ADAP A X, Nr. 18.
315
Zu Einzelheiten siehe Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/25, hg. v. Statistisches Reichsamt, Berlin 1926, S. 389; BAECHLER, Stresemann, S. 514.
316
Zu Anfang der Legislaturperiode hatte die SPD 100, die DNVP 95 Sitze, aufgrund von
Fraktionsaus- und Übertritten erhöhte sich die Zahl der DNVP-Abgeordneten bis zum Ende
der Legislaturperiode auf 106, die der SPD-Abgeordneten blieb bei 100, siehe Statistisches
Jahrbuch 1924/25, S. 389.
3 7
' Siehe z.B. BARlßTY, Relations franco-allemandes, S. 319.
3
" Siehe Runderlaß Maltzan (4.6.1924), ADAP A X, Nr. 123.
313
314
152
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
sicher, werde seine Außenpolitik und den Dawes-Plan dennoch stützen müssen:
Die finanziellen und wirtschaftlichen Bestimmungen des Sachverständigengutachtens würden nach meiner Auffassung im Reichstage eine Mehrheit finden, da die Deutschnationalen
es kaum wagen könnten, den Bericht abzulehnen, ohne die weitesten Kreise der Industrie
und der Landwirtschaft, von denen sie doch wesentlich unterstützt würden, vor den Kopf zu
stoßen319.
Trotz der Schwächung der bestehenden Regierung drohte also fur die Außenpolitik von rechts, zumindest für den Augenblick, wenig Gefahr, so daß die
unmittelbaren Auswirkungen der Reichstagswahlen für die deutsche Außenpolitik relativ gering waren.
Die Wahlen zur französischen Kammer führten zur Abwahl des Nationalen
Blocks und der Regierung Poincare und zum Sieg des Linkskartells unter Führung von Edouard Herriot. Der Wahlsieg des Linkskartells hatte jedoch einige
Schönheitsfehler. Es gewann zwar - aufgrund des Wahlrechts, das Wahlbündnisse bevorzugte320 - die Mehrheit der Sitze im Parlament, nicht jedoch die
Mehrheit der Stimmen321. Für die parlamentarische Arbeit mochte das unmittelbar kaum von Bedeutung sein, es machte aber deutlich, daß der Rückhalt
des Kartells in der Öffentlichkeit weniger groß war als die Sitzverteilung vermuten ließ: »The election result was more a protest vote about taxes and the
financial situation than an expression of confidence in the cartel«322. Zudem
hatten die Linksparteien zwar die Mehrheit in der Kammer, nicht jedoch im
Senat. Nachdem die Linke zwar erfolgreich Millerand aus dem Präsidentenamt
hatte vertreiben können, gelang es ihr nicht, ihren Wunschkandidaten, Paul
Painleve, durch den Senat zu bringen, so daß als Kompromißkandidat Gaston
Doumergue zum französischen Staatsoberhaupt gewählt wurde323. Als eigentliche Achillesferse für die neue Regierung sollte sich jedoch erweisen, daß das
Wahlbündnis zwischen den Sozialisten, der Section fran9aise de l'intemationale ouvriere (S.F.I.O.), und Herriots Radicaux nicht in eine Regierungskoalition umgewandelt werden konnte: Die S.F.I.O. erklärte zwar, sie wolle Herriot tolerieren, verweigerte aber die Mitarbeit in der Regierung324. Dies zeigt,
daß das Linkskartell weniger homogen war, als es sein Name vermuten ließ:
Zwischen dem rechten Rand des Kartells, den die republicains socialistes bil319
Aufzeichnung Stresemann (4.6.1924), ADAP A X, Nr. 122.
Nach dem Wahlgesetz von 1919 gewann die Partei bzw. das Wahlbündnis alle Sitze eines
Departments, welches die absolute Mehrheit in einem Departement erhielt. Konnte kein
Bündnis die absolute Mehrheit erzielen, wurden die Sitze proportional zum Wahlergebnis
vergeben, siehe RÜMOND, Röpublique souveraine, S. 72f.
321
Siehe KEIGER, Pomcard, S. 309.
322
Ibid.
323
Siehe RiMOND, Frankreich, S. 103.
324
Siehe Jean Denis BREDIN, Joseph Caillaux, Paris 1980, S. 315.
320
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
153
deten, und dem äußersten linken Rand der Sozialisten lagen - ideologisch gesehen - Welten, vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik325. Selbst innerhalb der wichtigsten Gruppierung des Kartells, den Radicaux, war die
Spannbreite der politischen Ansichten enorm. In der Außenpolitik beispielsweise stand der verständigungsbereiten Haltung Caillaux'326, der den Ausgleich mit Deutschland suchte, der Chauvinismus Franklin-Bouillons gegenüber327.
Bleiben wir zunächst bei der Frage nach der außenpolitischen Position des
Linkskartells. Während des Wahlkampfs hatten sich die Radikalen und die
Sozialisten lediglich zu Allgemeinplätzen wie Frieden, Entspannung, Gerechtigkeit und Kooperation bekannt, ein gemeinsames außenpolitisches Programm war aber nicht zustande gekommen328. Das Bekenntnis zu den gemeinsamen Idealen verdeckte nur mühsam den tiefen Widerspruch zwischen den
Positionen der beiden Parteien. Während die S.F.I.O. den Versailler Vertrag
und die Ruhrpolitik Poincares grundsätzlich ablehnte, fand beides in den Reihen der Radikalen Zustimmung329. Der Dissens zwischen den beiden Parteien
in außenpolitischen Fragen wird an einer kleinen Episode deutlich, die sich
Ende Juni 1924 in der Kammer abspielte. Anläßlich einer Debatte zur Verlängerung der Kredite zur Finanzierung der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet
geriet Herriot in eine »peinliche Lage«330, weil die S.F.I.O. ihm nicht folgte.
Letztlich konnte er nur mit Hilfe der Opposition eine Verlängerung der Kredite erreichen. Herriots Lage war also selbst für die Verhältnisse der Dritten Republik recht schwierig.
Was waren nun aber die außenpolitischen Ziele der neuen französischen
Regierung? In einem Schreiben an Leon Blum erläuterte Herriot die Ziele seiner Außenpolitik331: Langfristig sei der Frieden nur durch die Kooperation der
Völker zu erreichen. Gewährleistet werden könne dies durch den Ausbau und
die Verstärkung der internationalen Institutionen, wie den Völkerbund, den
Internationalen Gerichtshof in Den Haag oder das Internationale Arbeitsamt.
Er bekannte sich weiterhin zur Aufnahme von Beziehungen zur Sowjetunion
und zur Annahme des Expertengutachtens »sans aucune arriöre pensee«332.
Bezüglich Deutschlands stellte er jedoch fest, daß als Schutz vor dem »pan325
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 134136.
Caillaux war sogar unter Clemenceau am 15.10.1918 wegen angeblicher Kollaboration
mit den Deutschen wδhrend des Kriegs angeklagt und am 23.4.1920 wegen Hochverrats zu
drei Jahren Haft verurteilt worden. Erst Anfang 1925 wurde Caillaux rehabilitiert, siehe
BREDIN, Caillaux, S. 270, 304f., 315319.
327
Siehe BARlίTY, Relations francoallemandes, S. 330.
328
Siehe ibid. S. 324.
329
Siehe Michel SOULIΔ, La vie politique d'Edouard Herriot, Paris 1962, S. 126128.
330
Hoesch an AA (29.6.1924),zwtsrnlifeRDBA
Ρ AAA R, 28235.
331
Der Brief ist teilweise zitiert in: Köpke an RWiM (7.6.1924), BArch R 3101,14913.
332
Ibid.
326
154
3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik
germanisme nationaliste«333 die Ruhr erst dann evakuiert werden kφnne, wenn
entsprechende Pfδnder und die Institutionen zu deren Umsetzung geschaffen
worden seien. Die Sicherheitsfrage kφnne nur durch Sicherheitsabkommen im
Rahmen des Vφlkerbunds gelφst werden.
Es wird also deutlich, daß Herriot die außenpolitischen Alleingänge Poincares zwar ablehnte und eine internationale Lösung anstrebte, die Berechtigung
des französischen Sicherheitsinteresses sah er aber fur voll und ganz gegeben.
Diese Überlegung stand in engem Zusammenhang mit seinem Deutschlandbild, in dem sich das in Frankreich weit verbreitete Bild der »deux Allemagnes« widerspiegelte: das eine, geprägt durch den »nationalistischen Pangermanismus« der Militärs, der Junker und der Schwerindustrie und das »gute«
Deutschland der Republikaner und Demokraten334. Erst wenn das nationalistische Deutschland endgültig der Vergangenheit angehören würde, sei Frankreich sicher, und so lange seien die französischen Sicherheitsmaßnahmen gegenüber Deutschland durchaus gerechtfertigt.
In seiner Regierungserklärung vor der Kammer am 17. Juni 1924 wiederholte Herriot nochmals seine Position335: Internationale Zusammenarbeit, Ausbau
des Völkerbunds, Garantien und Überwachung Deutschlands. Gegenüber
Margerie machte er deutlich: »Je constate avec satisfaction l'impression cause wvutsrpo
έ Berlin par la constitution du nouveau Gouvernement [...] Mais on ne doit en
effet pas se meprendre sur notre resolution de maintenir les droits de la
France«336.
Verglichen mit der Politik Poincares, besonders, wenn man von der Inter
pretation ausgeht, daß er mit der Ruhraktion vor allem bezweckte, sowohl
Deutschland als auch die ehemals Verbündeten wieder in das Versailler System zurück zu zwingen, ist der Unterschied zu Herriots Politik relativ gering.
Ein größerer Unterschied scheint mir jedoch zu sein, daß der Völkerbund in
Herriots Konzept einen größeren Raum einnahm als bei Poincare und
Deutschland dabei gleichberechtigt mit einbezogen werden sollte. Hoesch gegenüber machte der neue französische Ratspräsident deutlich, »ganze Tendenz
seiner Politik in Reparations- undutsrigecaF
securite-Frage hinausgehe auf schließliche
Einschaltung Völkerbunds. Bis dahin schienen ihm die französischen Interessen nicht recht gesichert«337.
Außerdem forderte er die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, da
der »Völkerbund erst nach Aufnahme Deutschlands wahren Bund darstelle«338. In Deutschland wurde, wie wir gesehen haben, die Wahl Herriots über333
334
335
336
337
338
Ibid.
Siehe BARIΔTY, Relations francoallemandes, S. 332.
Wiedergegeben in: Hoesch an AA (17.6.1927),utsrponmlihgecaXRPNMHEDA
Ρ AAA R, 97144.
Herriot an Margerie (17.6.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 388.
Hoesch an AA (20.6.1924), AD AP A X, Nr. 147.
Hoesch an AA (17.6.1924), AD AP A X, Nr. 137.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
155
wiegend positiv, ja vielleicht zu positiv aufgenommen, wenngleich Hoesch
vor zuviel Optimismus warnte339. Der Wahlsieg der Linken ließe die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen Einheit Deutschlands wahrscheinlicher werden und die Chancen für die Räumung des Ruhrgebiets und
des Rheinlands steigen. Auch ergäben sich »Möglichkeiten, Sicherheitsfrage
unter Heranziehung Völkerbunds vielleicht in für uns tragbarer Weise zu lösen«340, wobei deutscherseits durchaus erkannt wurde, daß dies ein für Frankreich wesentliches Problem war341.
Wie Poincare auch mußte Herriot, um seine Politik durchzusetzen, den
Schulterschluß mit England suchen. In Whitehall, nicht in der Wilhelmstraße,
lag der Schlüssel zur Erfüllung der französischen Forderungen nach Sicherheit, nach Reparationen und nach einer Regelung der interalliierten Schuldenfrage342. Die Bedeutung Londons für die französische Politik wurde dadurch
deutlich, daß Herriot gleich nach seinem Regierungsantritt den Kontakt mit
der englischen Regierung suchte. Das Ergebnis dieser Bemühungen waren die
französisch-britischen Gespräche, die am 21. und 22. Juni 1924 auf dem Landsitz des britischen Premierministers in Chequers stattfanden. Chequers, das ist
in der Geschichtsschreibung zum Synonym für den Sündenfall des Linkskartells in der Außenpolitik geworden. Herriot erscheint dabei als außenpolitischer Amateur ohne genaue Kenntnis der Akten und von schwacher Durchsetzungskraft, der sich von einem gewieften MacDonald in allen wesentlichen
Punkten hat über den Tisch ziehen lassen343.
War Herriots Außenpolitik tatsächlich so unrealistisch und dumm? Zunächst: Herriot war kein Greenhorn. Seit 1905 Bürgermeister von Lyon, der
drittgrößten Stadt Frankreichs, war er Senator, Deputierter und Minister, bevor
er 1924 Ratspräsident wurde344. In einer geschickten Wahlkampagne345 hatte
er es nicht nur geschafft, die widerwilligen Sozialisten hinter sich zu vereinen,
sondern auch Poincare - den man schwerlich als politisches Leichtgewicht
bezeichnen kann - zu besiegen. Unterschätzt wird vor allem seine schwierige
parlamentarische Situation. Er mußte stets taktieren, um die eigene Partei aber auch die Sozialisten und andere Gruppen, deren Unterstützung er für seine Politik benötigte - hinter sich zu vereinigen. Selbst in seiner Regierung war
der Kurs der Deutschlandpolitik nicht unumstritten, standen doch die Positio-
339
Zum folgenden siehe Hoesch an AA (14.5.1924), ADAP A X, Nr. 81.
Ibid.
341
Siehe Hoesch an AA (17.6.1924), ADAP A X, Nr. 137.
342
SieheUTSRNLIEDBA
ARTAUD, Dettes interalliies, S. 638.
343
Siehe BARIETY, Relations franco-allemandes, S. 379; ARTAUD, Dettes interalliees, S. 646;
340
MONIER, Ann6es 20, S. 123; ADAMTHWAITE, Grandeur, S. 104.
344
Siehe L. TRENARD, art. »Herriot, Marie-Edouard«, in: biographie fran9aise, Bd. 17,
Sp. 1 1 2 5 1 1 2 7 .
345
Vgl. Serge BERSTEIN, ßdouard Heniot ou la Ripublique en personne, Paris 1985, S. 96102.
156
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
nen von Kriegsminister Nollet, der unbedingt die militärische Besetzung der
Ruhr aufrechterhalten wollte, und die von Herriots Kabinettschef Bergery, der
die Abkehr von der militärischen Besetzung forderte, einander unversöhnlich
gegenüber346.
Auch hatte Herriot durchaus ein außenpolitisches Konzept, wie selbst Bariety einräumt: »le plan est structure, logique, et il pose tous les problemes qui se
posent ä la politique etrangere de la France d'alors«347. Dieser Plan sah im
einzelnen vor348: die Gewährung gewisser Garantien fur die Ausführung des
Dawes-Plans, namentlich die Kontrolle der deutschen Eisenbahnen, die militärische Räumung nur in dem Maße, in dem die deutsche Reparationsschuld
kommerzialisiert wurde, und eine Schlichtung durch die USA, falls es zu
Streitigkeiten darüber kommen sollte, ob Deutschland seinen Verpflichtungen
willentlich nicht nachkommt. Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik sah der
Plan Herriots die Aufrechterhaltung der militärischen Besetzung des Ruhrgebiets vor, ebenso die Fortsetzung der Besetzung der sogenannten »Kölner Zone« und der rechtsrheinischen Brückenköpfe sowie die Fortführung der Militärkontrollen durch die IMKK, bis durch den Völkerbund ein geeignetes
Gremium zur Überwachung der deutschen Entwaffnung geschaffen würde.
Außerdem forderte er einen Sicherheitspakt im Rahmen des Völkerbunds, der
später auch auf Deutschland ausgeweitet werden sollte. Untergeordnete Probleme bildeten für Herriot dagegen die interalliierten Schulden, die Verteilung
der Einnahmen, die durch die Ruhrbesetzung erzielt worden waren und die
Frage der Kohlenversorgung. Die Grundideen dieses Plans tauchten bereits in
dem angesprochenen Schreiben Herriots an Blum auf. Auch in fünf Aufzeichnungen Seydoux' vom 19. Juni 1924 wurden Grundgedanken des »HerriotPlans« niedergelegt349, die wiederum die seit Anfang des Jahres festgelegte
französische Politik widerspiegelten. Im Verlauf des Sommers und des Herbstes 1924 blieb Herriot diesem Programm durchaus treu, und die Ursachen für
sein Scheitern lagen, wie weiter unten zu sehen sein wird, nicht ausschließlich
bei ihm.
Vergleichen wir die Position Herriots nun mit der MacDonalds: Für MacDonald stand der Völkerbund im Zentrum der neuen internationalen Ordnung350. Die Außenpolitik des britischen Premiers ließ sich zusammenfassen
mit »Völkerbund, Abrüstung, internationale Konferenz«351, während er von
bilateralen Abkommen, also auch von einem englisch-französischen Bündnis,
346
Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 374.
Ibid. S. 378.
348
Das Dokument ist abgedruckt ibid. S. 377.
349
Die Aufzeichnungen Seydoux' - alle datiert vom 19.6.1924 - finden sich in MAE PAAP
261,31.
350
Siehe Sthamer an AA (24.1.1924), ADAPzusronmihfedcaPNHDA
Α D(, Nr. 110.
351
Hoesch an AA (14.2.1924), ADAP Α Di, Nr. 154; zusammenfassend zur Außenpolitik
MacDonalds siehe COHRS, Peace Settlements, S. 12-14.
347
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
157
wenig hielt, da er gerade solche B٧ndnisse f٧r den Ausbruch des Krieges ver
antwortlich machte352.
Ein echter Unterschied zwischen den Positionen Herriots und MacDonalds,
was das Fernziel der angestrebten internationalen Ordnung angeht, war dabei
nicht auszumachen. F٧r beide stand der Vφlkerbund, und zwar in einer erwei
terten und verstδrkten Form, im Zentrum des zuk٧nftigen Systems der euro
pδischen Sicherheit. Der große Unterschied bestand aber darin, wie dieses Ziel
zu erreichen sei: Frankreich versuchte, den Weg dorthin durch ein System
wirtschaftlicher und militärischer Garantien abzusichern, wie sie im HerriotPlan festgelegt wurden. Eine Abschwächung der bilateralen Sicherheitsgarantien für Frankreich konnte also nur in dem Maße erfolgen, in dem die multilateralen Garantien im Rahmen des Völkerbunds ausgebaut wurden. England
hingegen versuchte, durch einen Vertrauensvorschuß an Deutschland - durch
eine zügige Umsetzung des Dawes-Plans und das Dringen auch auf die militärische Räumung des Ruhrgebiets - die Stärkung des Völkerbunds zu erreichen.
Nach diesen allgemeineren Überlegungen und Positionsbestimmungen wollen wir uns nun konkret dem zuwenden, was in Chequers besprochen und beschlossen wurde und welche Bedeutung diese Gespräche hatten353.
Am ersten Tag der Unterredungen (am 21. Juni 1924) standen vor allem die
Umsetzung des Dawes-Plans und die notwendigen Garantien hierfür auf dem
Programm. MacDonald forderte, daß ein verbindlicher Zeitplan für die wirtschaftliche und die militärische Räumung des Ruhrgebiets festgelegt werden
müsse, während Herriot darauf beharrte, die Implementierung des Plans davon
abhängig zu machen, welche konkreten Maßnahmen Deutschland einleite.
Dissens bestand auch in der Frage der militärischen Räumung: Herriot verlangte, sie zumindest von der teilweisen Kommerzialisierung der Reparationsschuld abhängig zu machen. MacDonald dagegen argumentierte, daß die wirtschaftliche und militärische Räumung des Ruhrgebiets schon deshalb
zeitgleich erfolgen müßte, weil die amerikanischen und englischen Bankiers
andernfalls die Sicherheit ihrer Anleihe an Deutschland gefährdet sähen. Auch
den französischen Vorschlag, konkrete Maßnahmen für den Fall festzuschreiben, daß Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Dawes-Plan nicht
nachkäme, lehnte die englische Seite ab.
Am zweiten Tag der Konsultationen ging es wiederum um Reparationsfragen, aber auch um die Sicherheitsproblematik. Die Engländer forderten die
352
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 61.
Die zwei offiziellen Gespräche zwischen der französischen und der englischen Delegation
am 21. und 22.6.1924 sind abgedruckt bei: Georges SUAREZ, Une nuit chez Cromwell.yutsrqponmihedca
Ρτέ
ced6 d'un important recit historique de Raymond Poincare, Paris 1930, S. 3484, 99174.
Ein Gesprächsprotokoll (ohne Unterschrift) vom 22.6.1924 findet sich u.a. in: MAEtsronmlihfebaPMHA
Ρ AAP
217, 105. Herriot hat in seinen Memoiren ebenfalls wörtlich die Gespräche wiedergegeben:
idouard HERRIOT, Jadis, Bd. 2: D'une guerre ä l'autre 1914-1939, Paris 1952, S. 139-145.
353
158
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
Aufgabe der Eisenbahnregie, die im Widerspruch zu den Schlußfolgerungen
der Experten stehe, während die Franzosen diese, vor allem aus Sicherheitsgründen, weiterhin für notwendig erachteten. Bezüglich des Modus, wie der
Dawes-Plan umgesetzt werden könnte, schlug MacDonald eine Regierungskonferenz vor, wobei sich die Frage stellte, ob und wie Deutschland an der
Konferenz beteiligt werden sollte. Großbritannien wünschte die gleichberechtigte Teilnahme Deutschlands, Herriot dagegen schlug eine Zweiteilung der
Konferenz vor: Im ersten Abschnitt sollten die Alliierten unter AussChluß
Deutschlands über die grundsätzlichen Rahmenbedingungen für die Inkraftsetzung des Plans entscheiden, also beispielsweise festlegen, welche Vorleistungen Deutschland zu erbringen hätte, die Modalitäten der Räumung und
eventuelle Sanktionsmaßnahmen. Im zweiten Teil der Konferenz sollte mit
Deutschland nur noch die Umsetzung der Maßnahmen besprochen werden.
Der französischen Delegation ging es also hauptsächlich um die Festlegung
von Sicherheiten für den Fall der deutschen Nichterfüllung, was Großbritannien jedoch ablehnte.
Ein weiteres Gesprächsthema war die Verknüpfung von interalliierten
Schulden und Reparationen. MacDonald konnte sich mit seiner Auffassung
durchsetzen, die Schuldenfrage erst nach der Inkraftsetzung des Dawes-Plans
zu besprechen.
In der Sicherheitsfrage drängte Herriot erneut auf einen europäischen Sicherheitspakt, dem MacDonald - unter Hinweis auf die kritische Haltung der
Dominions, innenpolitische Widerstände und die ablehnende Haltung der neutralen Länder - allerdings wenig Chancen einräumte. Der englische Premier
befürwortete statt dessen eine Regelung der Sicherheitsfrage im Rahmen des
Völkerbunds durch allgemeine Abrüstung und Entspannung und schlug eine
Reihenfolge der zu lösenden Probleme vor: Dawes-Plan, Schulden, Sicherheit.
Es bestanden also große Differenzen zwischen der britischen und der französischen Position. Die einzig greifbare Entscheidung der beiden Regierungschefs war eine an Deutschland gerichtete Note mit der Forderung, die Militärkontrolle wieder zuzulassen354. Das gemeinsame Kommunique355 enthielt darüber hinaus wenig Konkretes: Den Verweis auf die Entwaffnungsnote an die
deutsche Regierung, die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Inkraftsetzung des Dawes-Plans und die Zweiteilung dieser Konferenz, wobei der
erste Teil der Diskussion der Siegermächte untereinander dienen und die deutsche Seite erst im zweiten Teil hinzugezogen werden sollte. Außerdem enthielt die Erklärung der beiden Regierungschefs ein Bekenntnis zu einem »pacte moral de cooperation continue«356.
354
Text der Note in: DBFP 1 XXVI, Nr. 670f.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (22.6.1924), MAE PAAP 217, 105.
356
Ibid.
355
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
159
Wie sind die Gesprδche von Chequers und deren Ergebnisse zu deuten? Ba
riety hδlt sie fur eine wichtige Vorentscheidung bez٧glich der Londoner Kon
ferenz357, wobei sich die englische Auffassung hinsichtlich der anzustrebenden
internationalen Ordnung weitgehend durchgesetzt habe. MacDonald habe sich
mit seinen Forderungen nach einer internationalen Konferenz unter Beteili
gung Deutschlands, der Trennung von Schulden und Reparationsfrage sowie
einer Ausklammerung der Sicherheitsfrage behaupten kφnnen, wδhrend Herri
ot mit seinen Vorschlδgen zu einem Sicherheits und Garantiepakt gescheitert
sei. Die prinzipielle Zustimmung Herriots zur φkonomischen Rδumung enthal
te implizit den Verzicht auf die M.I.C.U.M.Vertrδge und die wirtschaftlichen
Pfδnder. Mit der Ausklammerung der Sicherheitsfrage »Herriot a accepte une
negociation o٧ Ton ne traitera que d'un domaine o٧ la France a δ donner et o٧
l'on ne traitera pas de domaines o٧ la France a δ demander«358, weshalb die
Londoner Konferenz von vornherein richtige Verhandlungen im Sinne eines
Interessensausgleichs ausgeschlossen habe. Dies wiederum habe die Aufgabe
einer unabhδngigen franzφsischen Außenpolitik zur Folge gehabt, wobei
Großbritannien nun die Maßstäbe setzte. Chequers war demnach die Konfrontation »entre la conception de la paix par l'apaisement general et international
et celle de la paix par la construction d'un systeme de securite dont une etroite
entente franco-anglaise aurait ete la premiere pierre«359, wobei sich die englische Auffassung durchgesetzt habe.
Die deutsche Seite hingegen stufte die Ergebnisse des französisch-britischen
Gipfels weniger spektakulär ein. Der deutsche Botschafter in London, Stimmer, berichtete,
daß die Unterhaltungen zwischen den Herren MacDonald und Herriot nicht so befriedigend
verlaufen seien, wie der englische Staatsmann erhofft zu haben scheint. [...] Tatsächlich
glaube ich, daß etwas bindendes in Chequers nicht vereinbart ist, daß man sich hauptsächlich
höchstens auf eine breite Linie verständigt haben wird [...] Es geht aber aus diesen Erklärungen vor - und ich habe keinen Grund, an der Zuverlässigkeit des als ehrlich bekannten Norman Angell3®0 zu zweifeln - , daß Herr Herriot wie Herr MacDonald die Absicht haben, sich
des Völkerbunds zu bedienen, um ihn als Instrument zur Regelung der Sicherheits- und allgemeinen Abrüstungspläne zu benutzen361.
Die Bewertung Sthamers ist wohl die plausiblere. Das Kommunique und auch
die vorliegenden Gesprächsprotokolle liefern keine Hinweise, daß Herriot sich
unvorsichtigerweise und voreilig auf Positionen festgelegt hätte, die die Position Frankreichs kompromittiert hätten (ebenso wenig übrigens wie MacDo357
Zum folgenden siehe BARliTY, Relations franco-allemandes, S. 409-413.
Ibid. S. 411.
359
Ibid. S. 41 lf.
360
Angell hatte zu diesem Thema ein Interview mit Herriot für den »New Leader« gefuhrt,
siehe Sthamer an AA (20.6.1924), ADAP A X, Nr. 157.
361
Ibid.
358
160
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
nald). Das hieße auch, den Charakter der Gespräche zu überschätzen, die wohl
doch eher dem gegenseitigen Kennenlernen und der Positionsbestimmung
dienten als der tatsächlichen Formulierung von gemeinsamen Zielen. Für Herriot ging es in erster Linie darum, das Einvernehmen mit der englischen Seite
wiederherzustellen, denn das französisch-britische Verhältnis hatte unter Poincare den ein oder anderen Schlag hinnehmen müssen. Insofern ist der symbolische Wert des Treffens nicht zu unterschätzen. Sicherlich bedeutete die Zurückstellung der Kriegsschulden- und Sicherheitsfrage hinter die Reparationsfrage eine Schwächung der französischen Position fur die Londoner
Konferenz. Es bleibt aber die Frage zu stellen, ob solch eine Einbeziehung
realistisch gewesen wäre: Der Dawes-Plan war nun mal ein Reparationsplan
und kein Schulden- und Sicherheitsplan. Mit der prinzipiellen Annahme des
Expertengutachtens - durch Poincare, wohlgemerkt - hatte Frankreich implizit
die Gesamtlösung der schwebenden Probleme aufgegeben. Es sprachen insbesondere praktische Erwägungen dafür, sich zunächst ganz auf die Reparationsfrage zu konzentrieren: Waren nicht alle vorangegangenen Konferenzen an der
Verquickung von Reparationen, Schulden und Sicherheit gescheitert und
machte es nicht Sinn, erst ein Problem zu lösen, um dann die übrigen anzugehen? Konnte die Lösung der Reparationsfrage nicht die Lösung der anderen
Fragen erleichtern? Trotz des von angelsächsischer Seite geleugneten Zusammenhangs von Kriegsschulden und Reparationen war es doch so: War erst
einmal eine verbindliche Lösung für das Reparationsproblem gefunden, konnte ausgehend von dieser Regelung ein Ausgleich über die Schulden erzielt
werden. Für Herriot, wir haben es in seinem Plan gesehen, war das Schuldenproblem außerdem nur ein sekundäres, es war also ein Zugeständnis, was ihm
vergleichsweise leichtgefallen sein dürfte. Wichtiger, vielleicht am wichtigsten, war fur ihn die Sicherheitsfrage362. Hier konnte er von MacDonald die zugegebenermaßen vage - Zusage erhalten, den Völkerbund zu einem funktionierenden Instrument der Friedenssicherung auszubauen. Der Weg dorthin
war zwischen London und Paris zwar umstritten, aber das Ziel war ein gemeinsames.
Auch den Engländern dürfte das Treffen vor allem zur Positionsbestimmung
gedient haben. Dabei galt es für London, nicht nur die eigene Haltung festzulegen, sondern auch die Positionen von Deutschland und Frankreich abzugleichen: In einem Treffen zwischen Ruppel und Bradbury kam es im Vorfeld des
Treffens von Chequers zu Gesprächen über einen Zeitplan für die Ruhrräumung363. Einen Tag vor dem französisch-britischen Gipfel legte Sthamer Crowe, der an den Gesprächen in Chequers teilnahm, die deutschen Forderungen
in bezug auf den Reparationsplan vor, nämlich die Räumung von Düsseldorf,
362
363
Siehe HERRIOT, Jadis, S. 143.
Siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 385f.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
161
Duisburg und Ruhrort, die bereits 1921 als Sanktion besetzt und zwischenzeit
lich nicht gerδumt worden waren, eine verbindliche Erklδrung Frankreichs zur
Ruhrrδumung, die Wiederherstellung der administrativen, wirtschaftlichen und
fiskalischen Einheit Deutschlands sowie eine generelle Amnestie f٧r alle Aus
gewiesenen364. F٧r die englische Regierung, die sich viele der deutschen For
derungen zu eigen machte, waren die Gesprδche in Chequers also auch eine
Mφglichkeit, die deutsche und die franzφsische Position zu eruieren.
Wie wenig sich Frankreich in Chequers festgelegt hatte, zeigte auch der Be
such Herriots in Br٧ssel, wo er auf seiner R٧ckkehr aus England Halt machte,
um den belgischen Verb٧ndeten ٧ber die Gesprδche mit MacDonald zu infor
mieren365. Dort erklδrte der franzφsische Ratsprδsident, er habe vom engli
schen Premierminister die Zusicherung f٧r ein Defensivb٧ndnis erhalten
eine Aussage, die sich mit den Gesprδchen in Chequers, soweit sie uns be
kannt sind, kaum in Einklang zu bringen sind. War es das, was Herriot unter
dem »moralischen Pakt« verstand? MacDonald jedenfalls war anderer Ansicht
und erklδrte am 26. Juni 1924 vor dem Unterhaus, daß es keinerlei Absprachen bezüglich eines militärischen Bündnisses zwischen Frankreich und dem
Vereinigten Königreich gebe366.
Für die These, daß die Gespräche von Chequers, bis auf die im Kommunique festgelegten Punkte, wenig bindenden Charakter hatten, spricht der
»Wirrwarr«367 in den französisch-britischen Beziehungen, der nach den englisch-französischen Konsultationen herrschte. Neben der stark unterschiedlichen Interpretation der Ergebnisse von Chequers trug dazu auch das einseitige
Vorgehen Londons bei der Vorbereitung der Londoner Konferenz bei: Die
englische Regierung hatte - ohne Paris davon zu informieren - Einladungen
an die Siegermächte des Krieges verschickt und dieser Einladung ein Memorandum bezüglich der Deutschlandpolitik beigefugt, das in keiner Weise dem
französischen Standpunkt entsprach368. Herriot mußte davon aus dem »Echo
de Paris« erfahren - ein dem Linkskartell nicht gerade wohlgesonnenes Blatt und war außer sich über das englische Vorgehen.
Die Verworrenheit der Lage machte - der Beginn der Londoner Konferenz
rückte immer näher - eine Klärung der zwischen England und Frankreich umstrittenen Punkte notwendig. Am 8. Juli 1924 reiste MacDonald deswegen
nach Paris, um mit der französischen Regierung zumindest den Rahmen einer
gemeinsamen Haltung gegenüber Deutschland zu finden. Die französische
Haltung war diesmal weniger unverbindlich als in Chequers369. Frankreich
364
Siehe Stresemann an Botschaft London (18.6.1924), AD AP A X, Nr. 140 und Sthamer an
AA (20.6.1924), AD AP A X, Nr. 146.
365
Zu Herriots BelgienReise siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 416422.
366
Siehe SoULlί, Herriot, S. 163.
367
Stresemann an Hoesch (13.7.1924), AD AP A X, Nr. 202.
368
Siehe SOULlfi, Herriot, S. 163.
369
Hierzu BARLFITY, Relations francoallemandes, S. 475477; HERRIOT, Jadis, S. 147.
162
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
forderte, die militärische Ruhrbesetzung nicht zum Gegenstand der Londoner
Konferenz zu machen, da für das Funktionieren des Expertenplans nur die
wirtschaftliche Räumung notwendig sei. Außerdem müßten die Entscheidungen der Konferenz im Rahmen des Versailler Vertrags bleiben, dürften also
nicht den Status der RepKo antasten oder die Möglichkeiten zu Sanktionen
einschränken. Statt dessen sollten genaue Maßnahmen festgelegt werden, die
in Kraft treten würden, falls Deutschland sich weigern sollte, den Bedingungen des Dawes-Plans nachzukommen, und diese Maßnahmen müßten formell
vor dem französischen Parlament verkündet werden. Weiterhin stellte die
französische Seite fest, daß sowohl die Kriegsschulden- wie auch die Sicherheitsfrage Teile des Reparationsproblems seien und mahnte eine baldige Lösung dieser beiden Komplexe an.
In den Gesprächen zwischen der französischen und der britischen Regierung
mußte Paris jedoch einige Abstriche an seiner Position hinnehmen. In dem
gemeinsamen Memorandum vom 9. Juli 1924370 wurde zwar die militärische
Räumung nicht erwähnt und der Versailler Vertrag nicht in Frage gestellt, allerdings sollte die RepKo um ein amerikanisches Mitglied erweitert werden,
was zwar den Status der RepKo selbst nicht beeinträchtigte, aber das Gewicht
Frankreichs darin verringerte. Der Zusammenhang zwischen interalliierten
Schulden, dem Sicherheitsproblem und den Reparationen wurde abgeschwächt
und die Frage an die Experten übergeben371. Wie wirkte sich die französischbritische Erklärung auf die Verhandlungsposition Frankreichs aus? Eine
Schwächung der französischen Position trat sicherlich dadurch ein, daß die
Schulden- und Sicherheitsproblematik durch ihre Überweisung an die Experten explizit aus den Londoner Gesprächen ausgeklammert wurde, aber das war
ja auch vorher schon faktisch der Fall gewesen372. Auch ist festzustellen, daß
die eigentlich kritischen Fragen im Kommunique keine Erwähnung fanden,
weil eine Einigung darüber wohl kaum zu erreichen gewesen wäre: Die Fragen
der militärischen Räumung, der Zukunft der Eisenbahnregie, der deutschen
Beteiligung an der Londoner Konferenz oder die Frage der Kommerzialisierung der Reparationsschuld wurden nicht thematisiert373. Eine gemeinsame
englisch-französische Haltung war also nur oberflächlich gegeben.
In Deutschland traf die französisch-britischen Erklärung auf Ablehnung: Sie
stelle einen »starken Rückschritt gegenüber dem nach der Konferenz in Chequers aufgestellten englischen Memorandum«374 dar, denn die Befugnisse der
RepKo seien weiterhin zu groß, und sie habe nach wie vor darüber zu entscheiden, ob Deutschland seinen Reparationsveipflichtungen nachkomme oder
370
Abgedruckt als Dokument Nr. 9 in: Weißbuch Londoner Konferenz.
Siehe ibid.
372
Siehe BARlfeTY, Relations franco-allemandes, S. 484.
373
Siehe ibid.
374
Siehe Runderlaß Maltzan (10.7.1924), ADAP A X, Nr. 194, siehe auch zum folgenden.
371
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
163
nicht. Außerdem sei aus der Erklärung nicht erkennbar, nach welchen deutschen Vorleistungen der Dawes-Plan in Kraft treten solle. Einzig die Erklärung, daß Sanktionen nur einstimmig verhängt werden könnten, sei in diesem
Zusammenhang positiv zu bewerten, auch wenn die vorgesehenen Schlichtungsgremien unzureichend seien. Allerdings stellte Maltzan fest, daß viele
offene Punkte durch das Kommunique nicht geregelt seien, so daß es deshalb
noch gelingen könne, »die vitalen deutschen Interessen mehr als bisher zu berücksichtigen«375. Auch Hoesch kam zu dem Schluß: »Sachlich scheint mir
durch franko-englische Presseverständigung nicht viel für uns verdorben«376.
Sicherlich, die Verständigung mit Großbritannien hatte für Frankreich im
Vorfeld der Londoner Konferenz Priorität. Dennoch hatte natürlich auch die
deutsch-französische Perspektive Auswirkungen darauf, welches Land in welchem Umfang seine Interessen auf der Londoner Konferenz würde durchsetzen können. Die Reichsregierung forderte die wirtschaftliche Räumung der
Ruhr und die Rücknahme aller Maßnahmen der Franzosen und Belgier zur
Ausbeutung des Ruhrpfandes, also vor allem die Aufhebung der M.I.C.U.M.Verträge und das Ende der Eisenbahnregie, während besonders letztere für
Frankreich einen besonderen sicherheitspolitischen Wert hatte377. Ein zweiter
großer Streitpunkt zwischen Deutschland und Frankreich betraf die militärische Räumung des Ruhrgebiets und die damit zusammenhängende Frage der
Kommerzialisierung der Reparationsschuld. Frankreich wünschte, die militärische Räumung des Ruhrgebiets davon abhängig zu machen, in welchem Umfang die Reparationsschuld kommerzialisiert würde, was Stresemann jedoch
ablehnte378. Er forderte statt dessen einen festgelegten Zeitplan, der nicht an
die Kommerzialisierung gebunden sein sollte, denn er befürchtete, daß andernfalls der Dawes-Plan nicht durch den Reichstag zu bringen sei379.
Die Kommerzialisierung der Reparationsschuld war aus mehreren Gründen
ein heikles Thema. Dahinter verbarg sich die Ausgabe staatlicher Schuldverschreibungen für einen Teil oder die Gesamtheit der Reparationsschuld auf
den privaten Kapitalmärkten, ähnlich anderen staatlichen Anleihen, Rentenbriefen etc., und die Bedienung der privaten Gläubiger durch den Staat. Was
trivial klingt, hatte erhebliche Konsequenzen auf den ganzen Charakter der
Reparationen: Sie waren bislang in ihrer Höhe und den Zahlungsmodalitäten,
trotz der in Spa festgelegten Zahlen, in höchstem Maße fiktiv. Ihre Streichung
hätte theoretisch nur des Federstrichs der beteiligten Regierungen bedurft. Waren die Schuldtitel aber in den Händen privater Anleger, hätte die deutsche
Regierung, die diese ja hätte bedienen müssen, so gut wie keinen Spielraum
375
Ibid.
Hoesch an AA (10.7.1924), ADAP A X, Nr. 195.
377
Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 438.
378
Siehe Saint-Quentin an Quai d'Orsay (9.7.1924), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 23.
379
Siehe Stresemann an Botschaft London (30.6.1924), ADAP A X, Nr. 167.
376
164
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
gehabt, die Reparationsschuld zu verringern380: Denn dies hätte ja bedeutet,
daß ein Teil der Schuldtitel wertlos geworden wäre. Das Vertrauen in
Deutschland auf den internationalen Kapitalmärkten wäre ruiniert, ausländische Kredite würden abgezogen und an neue wäre nicht mehr zu denken.
Frankreich hatte also deshalb ein Interesse daran, die Reparationen so schnell
wie möglich in größtmöglichem Umfang zu kommerzialisieren, weil dadurch
langfristig die Reparationszahlungen abgesichert und kurzfristig große Zahlungen, die dringend zum Wiederaufbau und zur Sanierung der französischen
Währung notwendig waren, in den leeren französischen Staatssäckel gespült
worden wären.
Deutschland hingegen wollte aus genau diesen Gründen die Kommerzialisierung verhindern, zumindest aber hinausschieben, um sich nicht längerfristig
der Möglichkeiten einer Reduzierung der Reparationen zu berauben. Kalkül
Stresemanns war es vielmehr, privates englisches und amerikanisches Kapital
nach Deutschland zu holen. Sollte Deutschland in Zahlungsschwierigkeiten
geraten, würden die amerikanischen und englischen Anleger darauf drängen,
daß ihre Kredite Priorität vor den (nicht kommerzialisierten) Reparationen
hätten und eine Senkung der Reparationen fordern381. Wären die Reparationen
aber kommerzialisiert, hätten sie die gleiche Qualität wie die anderen Kredite
auch, und Deutschland müßte wohl oder übel beide zahlen.
Ganz abgesehen von dem Wunsch Frankreichs nach schneller Kommerzialisierung und dem deutschen Widerwillen dagegen, bestand aber in diesem Zusammenhang noch ein anderes Problem: Es mußte erst einmal das Kapital
vorhanden sein, eine derart große Anleihe auf den internationalen Finanzmärkten unterzubringen. Als Anleger kamen nach Lage der Dinge vorwiegend
Amerikaner und Engländer in Betracht, so daß die Frage der Kommerzialisierung eben nicht nur ein deutsch-französisches Problem war, sondern in erster
Linie vom Wohlwollen der amerikanischen und englischen Bankiers abhängig
war. Der französische Wunsch, die Räumung des Ruhrgebiets vom Fortschritt
der Kommerzialisierung abhängig zu machen, hätte deshalb bedeutet, daß über
den Abzug der Besatzungstruppen letztlich in der Wall Street und der City
entschieden worden wäre, auf deren Haltung Berlin keinen Einfluß hatte.
Dissens bestand zwischen Berlin und Paris auch in der Frage der deutschen
Beteiligung an der Londoner Konferenz: Die Reichsregierung war daran interessiert, möglichst von Anfang an mit am Verhandlungstisch zu sitzen, da andernfalls ein erneutes alliiertes »Ultimatum«382 zu befürchten sei. Außerdem
stieß in Deutschland die französische Forderung auf Widerstand, die zur Umsetzung des Dawes-Plans notwendigen Änderungen in den deutschen Gesetzen
380
381
382
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 402.
Siehe BARJETY, Relations franco-allemandes, S. 452.
Aufzeichnung Schubert (30.6.1924), AD AP A X, Nr. 165.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
165
bereits vor Beginn der Londoner Konferenz zu verabschieden383. Stresemann
lehnte dies ab, weil dies bedeutet hδtte,
daί wir uns unsererseits endg٧ltig binden, bevor sich Frankreich zu den von ihm zu treffen
den Maίnahmen verpflichtet hat, daί wir uns hinsichtlich der Wiederherstellung unserer
wirtschaftlichen und finanziellen Souverδnitδt in den besetzten Gebieten auf den guten Wil
len der französischen Regierung verlassen, daß wir also ohne jede Gewähr der Gegenleistung
schlichtweg vorleisten384.
Um die franzφsische Seite dennoch zu einer weicheren Haltung zu bewegen
und wegen der »augenscheinlich außerordentlich schwachefn] Stellung Herriots«385, demonstrierte die Reichsregierung ihren guten Willen in der Frage der
Militärkontrolle386 und antwortete auf die gemeinsame Note MacDonalds und
Herriots zur Entwaffnungsfrage vom 22. Juni 1924 bereits am 30. Juni positiv387. Trotz der Bedingungen, die die Reichsregierung in ihrer Note stellte nämlich daß die IMKK so schnell wie möglich nach Ende der Entwaffnungskontrolle aufgelöst werden sollte, die Bedingungen der Inspektion mit
Deutschland abgestimmt werden sollten und die Inspektion bis spätestens Ende September 1924 abgeschlossen sein sollte - , war »die Note als ein uneingeschränktes und ehrliches Ja zu werten«388. Die erwähnten Einschränkungen
dienten vor allem der Beruhigung der Opposition im Reichstag, aber auch seitens von Seeckts und Reichswehrminister Geßlers389.
Außerdem versuchte die deutsche Regierung, die zum 15. Juni 1924 anstehende Verlängerung der M.I.C.U.M.-Abkommen zu benutzen, von Frankreich
wenn schon nicht die Aufgabe, so doch die Modifikation der Verträge im
deutschen Sinne zu erreichen, damit Paris dieses Druckmittel vor den Verhandlungen in London aus der Hand geschlagen wurde. Aufgrund des hartnäckigen französischen Widerstands mußte die Reichsregierung jedoch der
Verlängerung der M.I.C.U.M.-Verträge bis zunächst Ende Juli zustimmen.
Vor dem Zusammentritt der Londoner Konferenz waren also noch folgende
Fragen zwischen London, Berlin und Paris umstritten: Frankreich lehnte die
Diskussion der militärischen Räumung ab, Berlin dagegen sah einen verbindlichen Zeitplan für den Truppenabzug als Voraussetzung fur das Inkraftsetzen
des Dawes-Plans als notwendig an. London neigte in dieser Frage tendenziell
der Haltung Berlins zu. Frankreich forderte die Kommerzialisierung der Reparationen als Bedingung für die militärische Räumung, was wiederum von
383
Siehe Saint-Quentin an Quai d'Orsay (9.7.1924), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 23.
Stresemann an Botschaft London (30.6.1924), ADAP A X, Nr. 167.
385
Aufzeichnung Schubert (7.7.1924), ADAP A X, Nr. 184.
386
Siehe Hoesch an AA (4.6.1924), AD AP A X, Nr. 118.
387
Siehe Schubert an Hoesch (28.6.1924), ADAP A X, Nr. 163.
388
Ibid.
389
Siehe ibid. und Aufzeichnung Schubert (25.6.1925), ADAP A X, Nr. 154 sowie Ministerbesprechung (25.6.1924), AdR MarxrdNB
Ι/Π Bd. 2, Nr. 234.
384
166
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
Deutschland und England abgelehnt wurde. Paris wünschte, daß die RepKo
ihre Befugnisse in Reparationsangelegenheiten behielt, besonders hinsichtlich
der Verhängung der Sanktionen, während Berlin und London die Sanktionsmöglichkeiten und die Rolle der RepKo beschränken, vor allem aber französische Alleingänge verhindern wollten. Strittig war außerdem die Frage, ob
Deutschland die für den Dawes-Plan notwendigen Gesetzesänderungen bereits
vor der Londoner Konferenz verabschieden sollte - was sowohl die deutsche
wie auch die englische Regierung ablehnten. Auch die Teilnahme Deutschlands an der Reparationskonferenz war umstritten, wobei Berlin stärker noch
als London auf eine möglichst frühe Einbeziehung Deutschlands drängte, was
Paris jedoch zurückwies. Frankreich hatte sich nicht mit seinem Wunsch
durchsetzen können, die Schulden- und Sicherheitsproblematik mit dem Reparationsproblem zu verknüpfen. An der Aufzählung der strittigen Punkte wird
deutlich, daß die Gemeinsamkeiten zwischen Berlin und London größer waren
als die zwischen London und Paris, so daß die französische Verhandlungsposition deshalb schon im Vorfeld eingeschränkt war.
Bei allen offenen Problemen war jedoch unstrittig, daß alle drei Regierungen am Erfolg des Dawes-Plans interessiert waren und Einigkeit darin bestand, daß das Ruhrgebiet wirtschaftlich geräumt und die wirtschaftliche, fiskalische und administrative Einheit Deutschlands wiederhergestellt werden
sollte, auch wenn es in Einzelfragen - wie der Eisenbahnregie - unterschiedliche Auffassungen gab. In London mußte sich erweisen, welche Bedeutung die
strittig gebliebenen Fragen für die einzelnen Akteure hatten, und ob sie bereit
waren, deswegen die Konferenz scheitern zu lassen: Das schwierigste Problem
war die militärische Ruhrräumung. Sie war der »Kardinalpunkt«390. Stresemann mußte »dem deutschen Volk sagen können, daß in absehbarer Zeit diese
Gebiete frei werden, sonst wirft man mir den ganzen Sachverständigenplan
vor die Füße«391. Frankreich dagegen beharrte auf seiner Truppenpräsenz392.
Die Londoner Konferenz begann wie geplant zunächst unter Ausschluß
Deutschlands am 16. Juli 1924. Drei Problemkreise standen im Mittelpunkt
der Verhandlungen: Erstens die Implementierung des Dawes-Plans, das war
der offizielle Grund des Zusammentreffens. Zweitens, eng mit dem ExpertenPlan im Zusammenhang stehend, die Frage der militärischen Ruhrräumung
und drittens ein deutsch-französischer Handelsvertrag, der als Kompensationsobjekt fur die militärische Räumung des Ruhrgebiets ins Spiel gebracht
worden war. Dabei verliefen die Konfliktlinien nicht nur zwischen den ehemals Alliierten und Deutschland, sondern auch zwischen Frankreich und
Großbritannien, während zwischen den Deutschen und Engländern in vielen
Fragen Übereinstimmung herrschte. Es gab aber noch eine weitere Frontlinie,
390
391
392
Stresemann an Hoesch (13.7.1924), ADAP A X, Nr. 202.
Ibid.
Maltzan an Sthamer und Dufour (15.7.1924), ADAP A X, Nr. 107.
3.2. Der DawesPIan und die Londoner Konferenz
167
nδmlich zwischen der franzφsischen Delegation und den Interessen der ameri
kanischen und englischen Bankiers. Diese hatten der englischen Regierung
wenige Tage vor Beginn der Londoner Konferenz ihre Bedingungen fur die
Gewδhrung der 800 Mio. GM Anleihe fur Deutschland einem Kernst٧ck des
DawesPlans ٧bermittelt, die sich weitgehend mit der deutschen und engli
schen Position deckten und im Gegensatz zur franzφsischen Position stan
den393. In ihrem Schreiben hatten die Bankiers gefordert, daß das Ruhrgebiet
unverzüglich, auch militärisch, geräumt und alle Institutionen, die das Wirtschaftsleben in den besetzten Gebieten einschränkten (also vor allem die Eisenbahnregie und die M.I.C.U.M.), abgeschafft werden müßten. Außerdem
sollten sich die europäischen Bankiers an der 800 Mio. GM-Anleihe beteiligen
und deren Bedienung Priorität vor den Reparationsleistungen haben. Sie verlangten zudem, daß Sanktionen nur einstimmig von allen Alliierten verhängt
werden sollten und die Kompetenz zur Feststellung der deutschen Nichterfüllung nicht in die Hände der RepKo, sondern des Transferkomitees gelegt würde. Für die französische Delegation waren die Forderungen der Bankiers deshalb nicht leicht zu ignorieren, weil man wegen der französischen Währungsprobleme ebenfalls auf ausländisches Kapital hoffte.
Die Arbeit der Konferenz, deren Vorsitzender auf Vorschlag Herriots MacDonald wurde, war auf drei Kommissionen verteilt394. Die erste Kommission
unter Vorsitz des englischen Schatzkanzlers Snowden hatte die Aufgabe, die
Garantien für die 800 Mio. GM Anleihe auszuarbeiten. Die zweite sollte die
Bedingungen für die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und fiskalischen
Einheit Deutschlands ausarbeiten und wurde von James Henry Thomas geleitet. Kindersley, der auch schon Mitglied des Dawes-Komitees gewesen war,
saß der dritten Kommission vor, die beauftragt wurde, die Bedingungen für
die Transferzahlungen und die Sachlieferungen auszuarbeiten.
Am schnellsten kamen die Verhandlungen der zweiten Kommission über die
Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Räumung voran, und bereits am
24. Juli 1924 konnten sich die Delegationen prinzipiell einigen395.
Am schwierigsten stellten sich die Verhandlungen in der ersten Kommission
dar396. Hier verhärteten sich bald die Positionen von Franzosen und Engländern: Während die französische Delegation auf den Kompetenzen der RepKo
und den Sanktionsmöglichkeiten beharrte, versuchte Snowden - zusammen
mit den amerikanischen und englischen Bankiers — genau dies zu verhindern.
Die französische Verhandlungsposition verschlechterte sich dadurch, daß Bel393
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 401.
Zur Organisation der Londoner Konferenz siehe Protokoll der ersten (interalliierten) Voll
sitzung (16.7.1924), Weiίbuch Londoner Konferenz, Nr. 1; BARIETY, Relations franco
allemandes, S. 522f.
395
Siehe Weiίbuch Londoner Konferenz, Nr. 16.
396
Vgl. BARliTY, Relations francoallemandes, S. 557f.
354
168
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
gien während des Konferenzverlaufs ankündigte, seine Truppen aus dem
Ruhrgebiet zurückzuziehen. Herriot sah sich nun der gemeinsamen Front von
Engländern, Belgiern und Bankiers gegenüber. Außerdem hatte die englische
Delegation die Arbeit der ersten Kommission in der Frage der Sachlieferungen
blockiert, ein Problem, daß für Frankreich außerordentlich wichtig war, weil
es durch diese langfristig die Sicherung der Rohstoffversorgung der französischen Industrie, besonders in bezug auf Koks und chemische Grundstoffe, sichern wollte397.
In dieser Situation brachte MacDonald die militärische Räumung des Ruhrgebiets ins Spiel, über die zu sprechen Herriot sich nicht weigern konnte: Herriots Ablehnung hätte das Ende der Konferenz bedeutet, den Bruch mit England, die Schwächung seiner politischen Basis daheim und das Ende der
dringend erhofften finanziellen Unterstützung der Amerikaner und Engländer
bei der Stabilisierung des Franc. Derart in die Ecke gedrängt, stimmte die
französische Regierung am 28. Juli 1924 auch der militärischen Räumung des
Ruhrgebiets, zumindest im Prinzip, zu398. Seydoux schlug allerdings vor, die
Ruhrräumung als Hebel fur die Mobilisierung der Reparationsanleihen zu nutzen, indem sie nur in dem Maße erfolgen sollte, in dem die Anleihen mobilisiert würden. Außerdem sollte direkt mit den Deutschen verhandelt werden,
um zu einer Lösung in der Kohlenfrage (durch die französische Beteiligung an
deutschen Bergwerken) zu kommen399.
Als am 2. August 1924 die Einladung an die deutsche Delegation zur Teilnahme an der Londoner Konferenz erfolgte400, waren drei Problembereiche
noch nicht gelöst: Die zukünftige Rolle der RepKo und die alliierten Sanktionsmöglichkeiten, die Bedingungen für die militärische Räumung des Ruhrgebiets sowie die Zukunft der Eisenbahnregie401.
Am gleichen Tag legte die Reichsregierung die Marschrichtung für die Londoner Verhandlungen fest402. Die wichtigste deutsche Forderung bestand in einem festen Datum für die Räumung des Ruhrgebiets, da andernfalls der DawesPlan nicht durch den Reichstag zu bringen sei. Außerdem müsse der Begriff
des »manquement flagrant« bei der Reparationserfüllung präzisiert werden
und die Rechte und Pflichten des Transferkomitees und des Generalagenten
gegenüber der RepKo, wie im Expertenplan vorgesehen, erhalten bleiben.
Auch die dauerhafte Präsenz französischer und belgischer Eisenbahner im
Rheinland sei unbedingt zu verhindern. Als eventuelle Kompensations-
397
Siehe ibid. S. 529.
Siehe ibid. S. 568.
399
Siehe ibid. S. 568-570.
400
Siehe Weißbuch Londoner Konferenz, Nr. 26.
401
Siehe BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 591.
402
Siehe Ministerrat (2.8.1924), AdR Marx VU. Bd. 2, Nr. 269.
398
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
169
objekte fur die deutschen Forderungen kδmen Zugestδndnisse bei den Sachlie
ferungen und bei den Handelsvertragsverhandlungen in Betracht.
Wδhrend die Verhandlungen zu den offiziellen Punkten der Londoner Kon
ferenz also Fragen im Zusammenhang mit der Implementierung des Dawes
Plans bis zum 13. Juli 1924 im großen und ganzen abgeschlossen waren,
blieb die militärische Ruhrräumung weiterhin problematisch403.
Die französische Seite versuchte, durch Ausweitung der Themen ihren Verhandlungsspielraum zu vergrößern. So brachte sie erneut die Sicherheitsfrage
ins Gespräch und konnte von MacDonald das Zugeständnis erhalten, daß die
Kölner Zone erst dann geräumt würde, wenn die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei festgestellt worden sei. Außerdem einigte man sich darauf, daß die
deutsche Entwaffnung nach dem Ende der IMKK durch ein noch näher zu bestimmendes Völkerbundsgremium überwacht werden sollte404. Allerdings
stieß die französische Note vom 11. August 1924, in der Herriot ein französisch-britisches Defensivbündnis - eventuell unter Einschluß Belgiens - im
Rahmen des Völkerbunds vorschlug, das gegebenenfalls durch einen Nichtangriffspakt mit Deutschland ergänzt werden sollte, in London auf keine Zustimmung405. Auch in der Schuldenfrage konnte sich Frankreich eine gewisse
Entlastung schaffen, nachdem Clementel erreicht hatte, daß im November 1924 eine Konferenz zur Regelung der interalliierten Schulden stattfinden
sollte406.
Außerdem versuchte die französische Regierung, die Verhandlungen zur
Ruhrräumung zu nutzen, um Gespräche über einen deutsch-französischen
Handelsvertrag in Gang zu bringen407. Im Vorfeld der Londoner Konferenz
hatte es die Reichsregierung, besonders das AA, durchaus erwogen, die Handelsvertragsverhandlungen als Kompensationsobjekt für die militärische Ruhrräumung zu nutzen. Allerdings stieß dies bei der deutschen Industrie auf Widerstand. Besonders die Verlängerung der zollfreien Einfuhrkontingente für
Elsaß-Lothringen als Gegenleistung für eine militärische Räumung des Ruhrgebiets wurden abgelehnt: »Unter keinen Umständen dürfe die Frage des
Ruhrgebiets zu einem Kuhhandel gemacht werden«408, lediglich für das Saargebiet sollte eine Sonderregelung gelten. Der Reichsverband der Deutschen
Industrie (RDI) forderte, erst nach dem Abschluß der Reparationsgespräche
mit Handelsvertragsverhandlungen zu beginnen, um eine Vermengung von
Reparations- und Handelsfragen zu vermeiden, damit die Interessen der deut-
403
Siehe BARlfiTY, Relations francoallemandes, S. 662.
Siehe ibid. S. 638.
405
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 197.
406
Siehe B a r i 6 t y , Relations francoallemandes, S. 638f.
407
Siehe Aufzeichnung Seydoux f٧r Cldmentel (8.8.1924), MAE PAAP 261,1.
408
Protokoll der 3. Sitzung der Handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924), BArch
R 3101, 20458.
404
170
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
sehen Industrie besser geschützt würden. Dieser Ansicht Schloß sich die
Landwirtschaft grosso modo an409.
Nachdem aber ein Zeitplan für die Ruhrräumung festgelegt worden war,
sank von deutscher Seite - wohl auch wegen des Drucks der Wirtschaftsverbände - das Interesse an Handelsvertragsverhandlungen rapide. Einziges greifbares Ergebnis diesbezüglich war, daß offizielle Handelsgespräche zwischen
Deutschland und Frankreich am 1. Oktober 1924 beginnen sollten410. Nachdem schließlich eine Einigung darüber erzielt werden konnte, daß die belgischen und französischen Truppen binnen Jahresfrist das Ruhrgebiet verlassen
sollten, konnte am 16. August 1924 die Londoner Konferenz beendet werden.
Gemäß den Verhandlungsschwerpunkten - Umsetzung des Dawes-Plans,
Ruhrräumung und deutsch-französischer Handelsvertrag - lassen sich auch die
Ergebnisse der Londoner Konferenz wie folgt zusammenfassen. Wichtigstes
Ergebnis bezüglich des Dawes-Plans und der Reparationsfrage war sicherlich
die wirtschaftliche Räumung des Ruhrgebiets und der besetzten Gebiete und
die Widerherstellung der wirtschaftlichen, fiskalischen und administrativen
Einheit des Deutschen Reiches411: Bereits bevor der Dawes-Plan offiziell am
20. Oktober 1924 in Kraft trat, erließ die französische Regierung am 6. September 1924 eine Amnestie für alle Deutschen, die im Zusammenhang mit
dem Ruhrkampf aus den besetzten Gebieten ausgewiesen worden waren. Ab
dem 13. September konnten sie wieder auf ihren ursprünglichen Posten ihrer
Arbeit nachgehen. Gleichzeitig begann die französische Regierung, dasjenige
Personal bei den Streitkräften und der H.C.I.T.R. zu ersetzen, welches sich im
Ruhrkampf und der Unterstützung der Separatisten besonders exponiert hatte.
Am 20. September 1924 wurde die Erhebung der Kohlensteuer durch die französischen Besatzungsbehörden eingestellt, und tags darauf fiel die innerdeutsche Zollgrenze.
Kurz nach dem Inkrafittreten des Dawes-Plans stellte die M.I.C.U.M. am
21. Oktober 1924 ihre Arbeit ein, ab dem 28. Oktober wurden die beschlagnahmten Bergwerke zurückgegeben, die Zollverwaltung und die staatlichen
Forste auf das Reich zurückübertragen. Die Eisenbahnregie wurde offiziell am
16. November 1924 aufgelöst.
Zweites wichtiges Ergebnis hinsichtlich der Reparationen war, daß der Einfluß der RepKo ebenso wie die Sanktionsmöglichkeiten im Falle der deutschen Nichterfüllung stark eingeschränkt wurden412. Besonders der französische Einfluß in Reparationsangelegenheiten wurde merklich begrenzt: Die
USA erhielten, durch die Person des Transferagenten, ein faktisches Veto gegenüber der RepKo in der Frage der vorsätzlichen Nichterfüllung des Dawes409
Siehe REM Kanitz an deutsche Delegation London (11.8.1924),zyxurponihgfedcaSRPONMKJE
ΡAAA R, 105604.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (20.8.1924), MAE PAAP 261, 1. Siehe auch Kap. 4.2.2.
411
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 404f.
4,2
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 245.
410
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
171
Plans und sicherten sich so die Schl٧sselrolle im neuen Reparationssystem,
ohne sich selbst allzusehr politisch zu binden413. Ansonsten orientierte sich die
in London verabschiedete Reparationsregelung an den bereits dargelegten
Empfehlungen des DawesGutachtens.
Aus franzφsischer Perspektive stellten sich die Reparationsregelungen wie
folgt dar: Man hatte zwar auf die in ihrer Legalitδt zweifelhaften wirtschaft
lichen Druckmittel, wie die M.I.C.U.M., die Eisenbahnregie oder die direkte
Ausbeutung von staatlichen Domδnen usw. verzichten m٧ssen, hatte diese
Instrumente aber durch ein rechtlich einwandfreies System von Kontrollen
und Pfδndern, die sich nicht nur auf das besetzte Gebiet, sondern auf ganz
Deutschland bezogen, ersetzen kφnnen. Obwohl die Kommerzialisierung der
Obligationen vorerst ausblieb, waren die Reparationszahlungen an Frankreich
verläßlicher geworden. Auch hinsichtlich der Sachlieferungen hatte Frankreich
einige sehr vorteilhafte Regelungen erzielen können - dies galt vor allem für
Kohlen und die Lieferung chemischer Grundstoffe - , die teilweise sogar über
die Bestimmungen des Versailler Vertrags hinausgingen414. Zwar hatte Paris
in bezug auf die RepKo und die Sanktionsmöglichkeiten einen deutlichen Einflußverlust hinnehmen müssen, doch war jetzt ein System etabliert worden, in
das auch die USA, zumindest mittelbar, einbezogen worden waren415. In der
Frage der interalliierten Schulden waren zumindest Gespräche vereinbart worden.
Wichtigstes Ergebnis bezüglich der Ruhrräumung war, daß ein verbindlicher
Zeitplan vereinbart wurde416. Am 22. Oktober 1924 begann der Abzug der
Besatzungstruppen, der am 25. August 1925 abgeschlossen war417. Neben den
bereits angesprochenen reparationspolitischen Vorteilen hatte das Ende der
Besetzung für Frankreich auch weitere Vorzüge: Es konnte seine Ausgaben
für die Besatzungstruppen reduzieren und hatte von Großbritannien die Zusicherung erhalten, die Kölner Zone erst dann zu räumen, wenn die Entwaffnung Deutschlands durch die IMKK bestätigt würde. Daneben standen
allgemeine Zusagen über die Fortfuhrung der Entwaffnungskontrolle durch
den Völkerbund und ein Ausbau desselben im Sinne der Gewährleistung von
kollektiver Sicherheit.
Die Bewertung des Dawes-Plans soll aus vier Blickwinkeln vorgenommen
werden: Aus der Sicht Frankreichs, aus deutscher Perspektive - wobei die
Frage nach den Begrenzungen, die der Dawes-Plan für die Revisionspolitik
mit sich brachte, besonders erörtert werden wird - und hinsichtlich der Ein413
Siehe LINK, Ruhrkonflikt, S. 48f.
Siehe BARlfiTY, Relations francoallemandes, S. 708.
415
Siehe HERRIOT, Jadis, S. 162.
416
Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen der deutschen, französischen und belgischen Regierung, Weißbuch Londoner Konferenz, Nr. 54-58.
417
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 405.
414
172
3. Die Anfδnge der modernen Auίenpolitik
flußmöglichkeiten der englischen und amerikanischen Bankiers auf die Verhandlungsmöglichkeiten, also die sogenannte »Dollardiplomatie«. Last but not
least soll gefragt werden, welche Bedeutung der Dawes-Plan für den Prozeß
der Modernisierung der Außenpolitik hatte.
Beginnen wir mit Frankreich. Herriot und seiner Politik wurde von Bariety418, Artaud419 und anderen ein ziemlich schlechtes Zeugnis ausgestellt. »[Iis]
ont souligne Tamateurisme d'Herriot, son manque de connaissance des dossiers et sa faible pugnacite«420. Andere, wie Girault421 und Jeannesson422, haben darauf hingewiesen, daß Herriot zumindest hinsichtlich der Kohlenversorgung gute und wichtige Ergebnisse fur Frankreich erzielt habe423. Berstein424
betont zudem, daß Herriots Politik zu oft lediglich aus der Perspektive Poincares beurteilt wurde, zumal, wie wir im vorherigen Kapitel festgestellt haben,
Poincare vielleicht weniger poincareistisch war als allgemein angenommen.
Die Aufgabe der französischen Pressionsmittel sei eben auch deshalb erfolgt,
weil Herriot diese teilweise fur moralisch bedenklich hielt, und er der Überzeugung war, daß sich Frankreich auf Dauer eine unilaterale Politik der Pression nicht würde leisten können, ohne die existentiell wichtigen französischbritischen Beziehungen zu gefährden425.
Zur etwas positiveren Beurteilung der Politik Herriots trug auch bei, daß die
schwierigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und die
relativ kurze Einarbeitungszeit seiner Regierung hervorgehoben wurden426.
Auf die beiden wichtigsten Aspekte, die parlamentarische Schwäche der Regierung Herriot und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die vor allem durch
die Franc-Krise hervorgerufen wurden, wurde bereits mehrfach hingewiesen.
Sicherlich sind handwerkliche Fehler gemacht worden: Die Zusammensetzung
der französischen Delegation war sehr heterogen427. Neben Militärs wie Desticker und Kriegsminister Nollet, die die militärische Besetzung unbedingt
aufrechterhalten wollten, traten halboffizielle Mitglieder der S.F.I.O., die die
Delegation nach London begleitet hatten und die den Abzug der französischen
Truppen forderten. Es bleibt allerdings zu fragen, ob aufgrund der schwierigen
parlamentarischen Lage die Heterogenität der Delegation überhaupt vermeidbar war. Allerdings war die Schwäche von Herriots Position in London nicht
4 8
' Siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 378f.
" Siehe ARTAUD, Dettes interalliies, S. 666668.
MONIER, Annees 20, S. 123.
421
GIRAULT, Europe, S. 139f.
422
Siehe JEANNESSON, Poincart, S. 403f. Selbst Bariety zollt Herriot in dieser Frage Zu
stimmung: BARLFITY, Relations francoallemandes, S. 708.
423
Siehe MONIER, A n n i e s 20, S. 123.
424
Siehe BERSTEIN, Herriot, S. 118.
425
Siehe GIRAULT, Europe, S. 139.
426
Siehe JEANNESSON, Poincar6, S. 405.
427
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 194.
4
420
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
173
nur von Nachteil f٧r seine Politik, wie sich bereits im Vorfeld des Dawes
Plans gezeigt hatte: Die deutsche Regierung sich durchaus der prekδren La
ge Herriots zu Hause bewußt - machte beispielsweise in ihrer Note vom
30. Juni 1924 in der Frage der Militärkontrolle Zugeständnisse, weil sie ein
Interesse daran hatte, Herriot zumindest bis zur Annahme des Dawes-Plans im
Amt zu halten. Stresemann führte vor dem Kabinett aus: »Wichtig sei die Frage, ob MacDonald und Herriot sich halten werden. Herriot sei nach den Mitteilungen von Herrn Hoesch ein ideologisch denkender Radikaler428. Mit seinem Sturz im Oktober sei zu rechnen, darum müßten wir bis dahin alles, was
wir könnten, herausholen«429. Die Bewertung der Ergebnisse der Londoner
Konferenz für Frankreich läßt es meines Erachtens nicht angezeigt erscheinen,
von einem Mißerfolg für Frankreich zu sprechen430. Dies gilt nicht nur für die
bereits erwähnten Sachlieferungen. Erstmals seit dem Krieg konnte Frankreich
auf regelmäßig eintreffende Reparationszahlungen in erheblichem Umfang
nicht nur hoffen, sondern zählen. Die in ihrer Legalität doch recht zweifelhaften Pfänder und Garantien Frankreichs aus dem Ruhrkampf - also die
M.I.C.U.M., die Eisenbahnregie, die Zolleinnahmen im besetzten Gebiet, die
direkte Ausbeutung von Bergwerken, Forsten usw. - wurden durch ein rechtlich einwandfreies, von allen Beteiligten einschließlich der USA und Deutschlands akzeptiertes Generalpfand ersetzt, das aus der Verpfandung von
Staatseinnahmen, vor allem aber aus den Eisenbahn- und Industrieobligationen bestand. Es wurden Kontrollorgane etabliert, in denen Frankreich zwar
nicht mehr ein so drückendes Übergewicht hatte wie beispielsweise in der
RepKo, und auch die Möglichkeit der Sanktionen wurde stark eingeschränkt,
aber auch hier galt, daß ein System geschaffen wurde, das die USA und
Deutschland einbezog, dessen Legalität zweifelsfrei war, das allgemein akzeptiert wurde und sich nicht nur auf die besetzten Gebiete, sondern die gesamte
deutsche Volkswirtschaft bezog. Angesichts dieser Vorteile ist die Abgabe
von individuellem Handlungsspielraum durch die französische Regierung, der
sich selbst im Ruhrkampf als relativ begrenzt erwies, wohl zu verschmerzen.
Dabei soll jedoch nicht unterschlagen werden, daß die ganze Reparationsregelung so lange unvollständig blieb, bis die Obligationen nicht mobilisiert würden. In der damaligen Situation, im August 1924, stellte das Dawes-
428
Hier natürlich gemeint im Sinne des Programms der radikalen Partei.
Ministerbesprechung (25.6.1924), AdR Marx I/H Bd. 2, Nr. 234.
430
Anders wiederum Bariety: »Die historische Bedeutung des Dawes-Plans ist nach unserer
Auffassung dies: er schafft eine faktische wirtschaftliche Solidarität zwischen Deutschland,
England und Amerika, um die politischen Ambitionen Frankreichs zurückzudrängen«,
Jacques BARIETY, Der Platz Frankreichs in der Westorientierung der Weimarer Republik
während ihrer Stabilisationsphase (1924-1929), in: Wolfgang MlCHALKA, Marshall M. LEE
(Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege der Forschung, 539), S. 304-323, hier
S. 315.
429
174
3. D i e An fδ n g e der m o dernen Auί e n po litik
Abkommen also f٧r Frankreich einen großen wirtschaftlichen, aber auch politischen Fortschritt dar431.
Für die Bewertung der Ruhrräumung gilt ebenfalls, daß ein in seiner Rechtmäßigkeit umstrittenes Instrument in ein legales umgewandelt wurde, das den
Vorteil hatte, auch von den Engländern getragen zu werden. Die Fortsetzung
der Besetzung hätte Frankreich weiterhin von den angelsächsischen Mächten
isoliert. Herriot stellt dazu fest: »Toute mon action exterieure, de quelque fa90η zvutsrqponmljihgfedcbaMFEB
on la juge, a ete domine par le souvenir de concours dont la France avait
eu besoin, entre 1914 et 1918, et par cette idee que, si eile etait attaquee de
nouveau, eile ne pourrait pas triompher seule d'un ennemi superieur en nom
bre et feroce«432.
Meiner Meinung nach ist das Ergebnis, die Besetzung der Kölner Zone so
lange aufrechtzuerhalten, bis die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei festgestellt wurde, wesentlich wertvoller als die stillschweigende Hinnahme der in
ihrer Rechtmäßigkeit nicht nur von England angezweifelten Ruhrbesetzung433.
Zum Zeitpunkt, als der Dawes-Plan in Kraft trat, paßte die Ruhrbesetzung einfach nicht mehr in die Zeit, ihre Aufgabe durch Herriot war kein Zeichen der
Schwäche, sondern nur logisch434, zumal Poincare selbst mit der prinzipiellen
Annahme des Dawes-Plans im April 1924 »die Rechtsgrundlage fur seine Politik der produktiven Pfänder an der Ruhr aufgegeben [hatte] - auch wenn
Poincare dies vielleicht auch nicht wahrhaben wollte«435. Vielleicht ist gerade
das der Grund, weshalb er selbst die Außenpolitik Herriots nicht kritisierte436.
Auch ist fraglich, ob der Verzicht Herriots auf die Verknüpfung von Reparations-, Schulden- und Sicherheitsfrage eine entscheidende Schwächung der
französischen Position in London bedeutet hat und falls ja, ob diese Schwächung nicht unausweichlich war. Die Ausklammerung der Schulden- und Sicherheitsproblematik lag in der Logik des Dawes-Plans. Poincare selbst hatte
bei der Formulierung des Arbeitsauftrages fur die Dawes-Kommission dafür
gesorgt, daß diese nicht Thema wurden. Zwar war seine Intention dabei, die
anderen Pfänder in der Hinterhand zu behalten, er konnte aber nicht verhindern, daß der Dawes-Plan - inklusive der Beschränkung auf die Reparationsfrage - eine Eigendynamik entwickelte, die eine Einbeziehung der Sicher4 31
Wa s im R W i M ٧brige ns ge n auso ge se he n wurde , sie he Au fz e i ch n u n g Lau te n bach
( 1 9 . 7 . 1 9 2 4 ) , BArc h R 3 1 0 1 , 2 0 4 3 7 . Sie h e auch BERSTEIN, He rrio t, S. 119.
432
HERRIOT, Jadis, Bd. 2, S. 164.
4 33
N o c h am 1 6 . 8 . 1 9 2 4 hatte die britische Re gie ru n g de r be lgisch e n und französischen Re g i e ru n g m itge te ilt, daß »[d]ie britische Re gie ru n g [...] die Re ch tm äß igke it der Ruh rbe se tzun g
o de r die Au s l e gu n g de s Ve rs aille r Ve rtrags , auf die ihre Alliie rte n ihr Vo rge h e n ge stützt
h abe n , n ie m als anerkannt [hat]«, MacD o n al d an Marx, We iß bu ch Lo n do n e r Ko n fe re n z ,
Nr. 59.
4 34
435
4 36
So auch MONIER, An n e e s 20, S. 123 und JEANNESSON, Po in care , S. 4 0 3 .
SCH W A BE , Ruh rkrise , S. 7 6 .
Sie h e BARlfiTY, Re latio n s fran co -alle m an de s, S. 4 9 0 .
slifdaY
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
175
heitsprobleme und der Kriegsschulden schwierig machte. Der DawesPlan war
eben nicht nur ein unteilbares Ganzes man konnte auch nicht ohne weiteres
draufsatteln, ohne ihn zu gefδhrden. Ich bin durchaus der Ansicht, daß - neben
anderen Gründen - eine wesentliche Ursache dafür, daß die Reparationsfrage
bis zum Dawes-Plan nicht geregelt werden konnte, darin lag, daß die Frage der
Reparationen im Zusammenhang mit zu vielen anderen Fragen, vor allem denen der Sicherheit, betrachtet wurde. Es waren einfach zu viele Bälle in der
Luft, die die Beteiligten unmöglich alle gleichzeitig jonglieren konnten. Es
mag sein, daß durch den Verzicht auf die Verknüpfung von Dawes-Plan, Sicherheit und Schulden die französische Verhandlungsposition geschwächt
worden ist. Ein Scheitern der Londoner Konferenz infolge der Überfrachtung
durch alle diese Probleme wäre jedoch noch weniger im französischen Interesse gewesen, zumal Paris in der Frage der Entwaffnung und Räumung der Kölner Zone wichtige Zugeständnisse erreichen konnte und für andere Probleme,
wie die Schuldenfrage und die Sicherheit, zumindest Zusagen erhalten hatte.
Daß beispielsweise das Genfer Protokoll, das die Sicherheitslage Frankreichs
erheblich verbessert hätte und im September 1924 im Völkerbund diskutiert
wurde, scheitern würde, war am 16. August 1924, dem letzten Tag der Londoner Konferenz, beim besten Willen nicht vorhersehbar.
Die Vorteile, die die Londoner Konferenz Deutschland bescherte, waren
evident437: Im Ruhrgebiet und den übrigen besetzten Gebieten wurde die deutsche Wirtschafts-, Finanz- und Verwaltungshoheit wiederhergestellt und die
Ausgewiesenen konnten zurückkehren. Für die Räumung des Ruhrgebiets lag
ein verbindlicher Plan vor - sie sollte innerhalb eines Jahres abgeschlossen
werden - , und die Sanktionsmöglichkeiten Frankreichs wurden erheblich eingeschränkt. Durch die 800 Mio. GM Anleihe wurde die wirtschaftliche Konsolidierung und die Währungsstabilisierung abgesichert und Deutschland als
Anlageplatz für ausländische Investitionen geöffnet. Allerdings ging mit dieser Anleihe auch ein verstärkter Einfluß der USA und Großbritannien auf die
deutsche Wirtschaft und Politik einher438. Dies war zwar - als Gegengewicht
zu Frankreich - durchaus erwünscht, stellte aber nichtsdestotrotz einen Verlust
an eigener Manövrierfähigkeit dar, der durch die internationale Kontrolle von
Reichsbahn und Reichsbank verstärkt wurde. Die schwebende Kommerzialisierung der Eisenbahn- und Industrieobligationen konnte darüber hinaus zu
einer weiteren, wenn auch zunächst nur potentiell schweren Belastung für die
deutsche Reparationspolitik werden. Auch durch den Dawes-Plan blieb die
Reparationsbelastung hoch. Der schwerwiegendste Fehler des Reparationssystems bestand darin, daß es sich nicht an der Handelsbilanz, sondern an der
Zahlungsbilanz orientierte439, die aufgrund der nach Deutschland strömenden
437
438
43
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 60.
Siehe JEANNESSON, P o i n c a r e , S. 78.
' S i e h e J o h a n n e s HOUWINK TEN CATE, H j a l m a r Schacht als Reparationspolitiker ( 1 9 2 6 -
176
3. Die Anfδge der modernen Außenpolitik
Auslandskredite künstlich geschönt war. Geflissentlich übersehen wurde dabei, daß für Deutschland langfristig der einzige Weg, die Reparationen zahlen
zu können, nur darin bestehen konnte, Außenhandelsüberschüsse zu erzielen.
Hier rächte sich, daß die Sachverständigen des Dawes-Plans weitaus stärker
Finanz-, nicht aber unbedingt Wirtschaftsexperten waren und deshalb sehr viel
stärker auf monetäre Größen achteten als auf realwirtschaftliche. Außerdem
bezogen sie deshalb natürlich auch stärker die Interessen der Bankiers - und
nicht die der Gesamtwirtschaft - in ihre Betrachtungen ein. Die volkswirtschaftlichen Folgen dieser Perspektive sind bekannt: Hohe Zinsen und beständiger Devisenabfluß verlangsamten die Investitionstätigkeit in Deutschland
und verzögerten den Abbau der durch Kriegswirtschaft und Inflation geschaffenen Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft - mit auch sozial und gesellschaftlich ernsten Konsequenzen, da die Verteilungsspielräume klein waren
und die Verteilungskämpfe entsprechend größer wurden. Auch die Rolle des
Reparationsagenten war fur die deutsche Politik und Wirtschaft nicht unproblematisch. Qua Amt sollte er dafür sorgen, daß der Wert der deutschen Währung stabil blieb und konnte, falls er das nicht gewährleistet sah, ein Moratorium bewirken. Dies bedeutete aber auch den permanenten Appell an eine
sparsame Haushaltspolitik (und somit tendenziell eine Verringerung der öffentlichen Investitionen) und eine restriktive Geldpolitik (also wiederum hohe
Zinsen). Außerdem war die Möglichkeit eines Moratoriums für Reparationszahlungen in der Realität stark eingeschränkt und - paradoxerweise - nicht in
deutschem Interesse. Das Signal eines solchen Schrittes hätte auf ausländische
Anleger verheerend gewirkt und vermutlich zu einem Abzug ausländischen
Kapitals aus Deutschland gefuhrt - wo Geld sowieso knapp war.
Für eine Außenpolitik, die sich vor allem auf wirtschaftliche Macht stützte,
hatte diese Reparationsregelung also mehrere wichtige Konsequenzen. Wegen
der Beschränkungen in der Geldpolitik - Geld ist und bleibt nun mal das
Schmiermittel der Wirtschaft - konnte das deutsche wirtschaftliche Potential
nicht voll genutzt werden. Die dadurch erzeugten strukturellen Probleme (relativ hohe Arbeitslosigkeit, geringe Verteilungsspielräume in der Sozialpolitik)
förderten tendenziell die bereits vorhandene Instabilität des politischen Systems und schadeten damit wiederum auch der Außenpolitik. Die Reparationen zementierten zumindest die Ungleichgewichte im Welthandelssystem und
erschwerten dadurch die von Deutschland verfolgte Politik des wirtschaftlichen Interessenausgleichs, die durch eine liberale Handelspolitik befördert
werden sollte. So sehr viel besser das vom Dawes-Plan etablierte System der
Reparationszahlungen auch sein mochte als alles vorherige: Das Problem bestand eben nicht darin, einen austarierten Mechanismus für die Aufbringung
und Transferierung der Reparationen zu erdenken, das Problem waren und
1930), in: VSWG 74/2 (1987), S. 186-228, hier S. 191.
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
177
blieben die Reparationen selbst, ganz abgesehen einmal von dem politisch
moralischen Komplex, der an dieser Frage hing.
Auch in einer anderen Hinsicht bedeutete der DawesPlan eine Ein
schrδnkung der Wirkungsmφglichkeiten deutscher Außenpolitik. Mit der Anerkennung des Dawes-Plans und dem erklärten Willen zu seiner Durchsetzung
hatte Deutschland auch die Regeln des Versailler Vertrags akzeptiert.
Natürlich stand es Deutschland immer noch frei, den Versailler Vertrag zu
umgehen, nach den Erfahrungen des Ruhrkampfs, des wirtschaftlichen Ruins
und des drohenden Zerfalls der Reichseinheit war das allerdings eine wenig
verlockende Aussicht. Dadurch beschränkte sich der deutsche Spielraum in
der Frage der Revision des Versailler Vertrags nur noch auf Mittel, die im
Vertrag selbst vorgesehen waren oder mit den Vertragspartnern verhandelt
werden konnten.
Verglichen mit der geradezu verzweifelten Lage Deutschlands im Ruhrkampf bedeutete der Dawes-Plan natürlich eine entscheidende Verbesserung
lind Konsolidierung der deutschen Situation und der Verhandlungserfolg der
deutschen Delegation war unbestreitbar. Die politischen Vorteile der Wiederherstellung der wirtschaftlichen, fiskalischen und administrativen Souveränität
und der Abzug der Besatzungstruppen aus der Ruhr lagen auf der Hand, und
auch wirtschaftlich bedeutete das Ende der Zwangsmaßnahmen eine wesentliche Verbesserung der Lage, so daß selbst Teile der DNVP den Ergebnissen
der Londoner Konferenz nicht ihre Zustimmung verweigern konnten440.
Andererseits war diese Konsolidierung durch die genannten Faktoren stark
beschränkt und bedeutete keinesfalls den Anfang vom Ende des Versailler
Vertrags. Im Grunde genommen stand das durch den Versailler Vertrag entworfene System niemals so nahe an seiner Vollendung wie nach der Londoner
Konferenz: Die Reparationen flössen, der Wirtschaftsriese Deutschland lag
gefesselt, der territoriale Status quo war fur den Moment wenigstens anerkannt, die ehemals mächtige deutsche Armee war weitgehend entwaffnet und
in der Sicherheitsfrage schien sich eine Lösung im Rahmen des Völkerbunds
440
Otto Hoetzsch, selbst MdR für die DNVP, begründete seine Zustimmung wie folgt: Die
Beteiligung der USA bedeute die »Drehungen in der Weltkonstellation zu Deutschlands
Gunsten«, die erst die Revision des Versailler Vertrags ermögliche. Erst durch den Druck der
DNVP sei die militärische Räumung des Ruhrgebiets erreicht worden, eine Ablehnung des
Dawes-Plans hätte dagegen schwere Schäden für die deutsche Wirtschaft und die besetzten
Gebiete bedeutet; außerdem hätte eine Ablehnung des Dawes-Plans die Auflösung des
Reichstags zur Folge gehabt mit der wahrscheinlichen Konsequenz einer großen Koalition,
die es zu verhindern gelte. Das Wiederaufflammen des Separatismus im Rheinland, die Möglichkeit der Regierungsbeteiligung der DNVP und das Entgegenkommen der Reichsregierung bzgl. der Forderungen der DNVP, besonders in der Kriegsschuldfrage, seien
weitere Gründe fur die Annahme der Ergebnisse der Londoner Konferenz gewesen. »Die
äußere Politik der Woche (das deutschnationale Ja zum Londoner Pakt)«, Kreuz-Zeitung
(3.9.1924). Ausführlich zur Kampagne zur Annahme der Dawes-Gesetze: BAECHLER, Stresemann, S. 551-556.
178
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
anzudeuten, die eine wirksame und dauerhafte Integration Deutschlands bewirken konnte. Außerdem waren die USA, nachdem sie den Versailler Vertrag
nicht ratifiziert hatten, durch die Reparationsfrage zumindest teilweise wieder
in Europa engagiert.
Einige Worte noch zum Einfluß der Bankiers und generell zum Einfluß von
wirtschaftlichen Interessen auf die Gestaltung des Dawes-Plans und den Verlauf der Londoner Konferenz. Es ergibt sich in der Tat der Eindruck, daß »[l]a
diplomatic du dollar et des banquiers veut reussir lä ou celle des gouvernements et des conferences internationales a echoue« 44 '.
Ganz so einfach war es jedoch nicht. Die Entscheidung, eine Kommission
von Wirtschaftsexperten einzusetzen und deren Empfehlungen anzunehmen,
war eine überaus politische. Auch die Auswahl der Experten erfolgte nach politischen Kriterien. Es handelte sich deshalb zwar nicht um die Unterordnung
der Wirtschaft und speziell der Bankiers unter die Politik, denn nachdem sich
die Regierungen darauf verständigt hatten, den Wirtschaftsexperten die Lösung der Reparationsfrage zu übertragen, erlangten letztere natürlich eine gewisse Autorität in dieser Frage, die ihnen in letzter Konsequenz allerdings
wiederum von der Politik zuvor zugewiesen worden war. Bariety stellt treffend fest, daß
le recours aux experts juridiques, comme aux experts economistes ou banquiers d'ailleurs,
apparait comme un moyen, pour les politiques, de sortir d'une difficulte et d'un dilemme, en
leur permettant de se retrancher derriere un avis qui, puisqu'il est emis par des experts, ne
saurait etre fonde, et doit done correspondre ä une necessite ineluctable devant laquelle les
politiques, quoi qu'ils aient, ne peuvent que s'incliner. C'est le recours ä la technique pour
empörter, ou couvrir, une decision politique; [...] L'mtermede jundique prend place dans
Γ operation politique d'ensemble442.
Die Einbeziehung von Experten ist also ein politisches Mittel, durch das die
Notwendigkeit bestimmter (besonders: unliebsamer) Maßnahmen der Öffentlichkeit dadurch schmackhaft gemacht werden soll, daß die scheinbare objektive Richtigkeit einer Politik demonstriert wird. Bei allem Sachverstand der
Experten ist dies natürlich zum Gutteil Fiktion. Auch für Fachleute stellen sich
Bewertungs- und Interpretationsprobleme, so daß auch ihre Entscheidungen
letztendlich nicht völlig objektiv sind und sein können. Allerdings kann auch
die nur scheinbare Objektivierung eines Problems zu dessen Lösung beitragen.
Von daher ist der Rückgriff auf Experten eben nur zum Teil ein Manöver, aber
eben auch eine Problemlösungsstrategie.
Im Falle des Dawes-Plans haben wir außerdem gesehen, daß die Einbeziehung der Experten die Lösung des Reparationsproblems nicht nur deshalb
leichter gemacht hat, weil es scheinbar oder tatsächlich objektiver betrachtet
441
442
JEANNESSON, Poincare, S. 396.
BARI6TY, Relations franco-allemandes, S. 593.
zxwvuts
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
179
wurde. Die Einsetzung der Fachleute bewirkte auch eine deutliche Eingren
zung des Themas, indem die Schulden und die Sicherheitsfrage explizit von
den Reparationen getrennt wurde. Durch diese Beschrδnkung wurde es erst
mals mφglich, einheitliche Maßstäbe an die Beurteilung des Reparationsproblems anzulegen. Die Übertragung des Themas Reparationen an Wirtschaftsexperten bedeutete: Der Maßstab zur Bewertung des Problems war nun ein
ökonomischer, und die Methode zur Lösung des Problems war eine ökonomische. Da die Experten alle einen recht vergleichbaren professionellen und intellektuellen Hintergrund hatten, fiel es ihnen außerdem natürlich leichter, zu
einer Lösung zu kommen. Wie gesagt, die internationalen Konferenzen zwischen 1919 und 1922 krankten eben auch daran, daß sie sich stets mit zu vielen Themen befaßten, und es zu viele unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe
gab. Natürlich hatten die Reparationen auch einen sicherheitspolitischen Aspekt. Wenn aber die eine Seite die Reparationen aus sicherheitspolitischer
Sicht beurteilt und die andere aus ökonomischer, ist eine Einigung nur schwer
möglich, denn unter Umständen besteht zwischen Sicherheit einerseits und
Wohlstandsmaximierung andererseits ein nicht unerheblicher Zielkonflikt.
Die Einbeziehung von Experten trug also deshalb zum Erfolg des DawesPlans und der Londoner Konferenz bei, weil alle Beteiligten die Fiktion der
Objektivität der Experten anerkannten, und das Problem auf eine einheitliche
- das heißt in diesem Fall wirtschaftliche - Betrachtungsweise eingeschränkt
wurde.
Die Einbeziehung von Experten ist selbstverständlich nicht unproblematisch. Neben dem philosophischen Aspekt der Objektivierbarkeit von Problemen und der Frage, ob Fachleute nicht bloß ein Teil des politischen Spiels
sind, stellt sich natürlich auch das Problem der Legitimität. Sie sind nicht gewählt, sie werden ernannt, und zwar in der Regel von Regierungen, die nur
einen Teil der politischen Öffentlichkeit, nämlich in der Regel deren Mehrheit,
repräsentieren. Indem Aufgaben an Experten übertragen werden, entziehen sie
sich außerdem der politischen Kontrolle, die Politik gibt Einflußmöglichkeiten
zumindest teilweise auf und begibt sich in ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis zu den Fachleuten. Die Politik wiederum kann unter dem Verweis auf
die Expertenmeinung Verantwortung und Schuldzuweisungen abwälzen. Zu
einem Gutteil sind diese Probleme - bei komplexer werdenden politischen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragestellungen - sicherlich unvermeidbar. Die Frage, ob die Einsetzung einer Expertenkommission gerechtfertigt und legitim war, oder inwieweit sie ein politisches Verschleierungsmanöver darstellte, muß also stets für den Einzelfall beantwortet werden.
Dies gilt auch für das Problem, ob und inwieweit die Beschränkung des Arbeitsauftrages für die Experten zulässig ist oder nicht. Wie dargestellt, lag eine
Ursache des Erfolges des Dawes-Plans darin begründet, daß die Experten einen genau definierten Arbeitsauftrag hatten und andere schwebende Probleme
180
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
ausgeklammert worden waren. Diese Einschränkung hatte aber auch zur Folge, daß das Kardinalproblem der Reparationen - ihr wirtschaftlicher Sinn oder
Unsinn - nicht behandelt wurde. Ihr Auftrag lautete lediglich, die geeigneten
Mittel für die Reparationsleistung und -Übertragung zu finden, nicht zu untersuchen, welchen Einfluß die Reparationen auf das Welthandels- und Währungssystem hatten - wie Keynes das getan hatte. Der schädliche Einfluß der
Reparationen generell war es jedoch, der die wirtschaftliche Erholung vor allem in Deutschland - mit seinen negativen sozialen und politischen Konsequenzen - beschränkte. Da half es wenig, daß die Methoden zur Aufbringung
und Übertragung der Reparationen verbessert wurden. Andererseits - das zeigte die unterschiedliche Diskussion um Keynes' »The Economic Consequences
of the Peace« in Frankreich und in Deutschland - war die Zeit noch nicht gekommen, um die Reparationen als solche in Frage zu stellen. Dies hatte
Deutschland im Ruhrkampf bitter erfahren müssen. Insofern stellte der DawesPlan unter den gegebenen Umständen eine tragbare Zwischenlösung fur das
Problem der Reparationen und den Wiederaufbau der weltwirtschaftlichen
Strukturen dar, vor allem im Hinblick auf die schwierige Nachkriegszeit, mehr
aber auch nicht.
Welche Folgen hatten Ruhrkampf, Dawes-Plan und Londoner Konferenz für
die Modernisierung der Außenpolitik? Orientieren wir uns an den drei Hauptlinien des liberalen Modells der Friedenssicherung - kollektive Sicherheit,
wirtschaftliche Liberalisierung und Demokratisierung - , so ist die Bilanz relativ ernüchternd.
Bezüglich der Gewährleistung von Sicherheit hatte der Dawes-Plan zu kaum
greifbaren Ergebnissen gefuhrt: Es gab eine vage Zusicherung der englischen
Regierung, die Sicherheitsfrage im Rahmen des Völkerbunds unter Einbeziehung Deutschlands zu erörtern. Außerdem war die Sicherheitslage in Europa
durch die konstruktive Atmosphäre, in der die Londoner Konferenz stattgefunden hatte, und infolge der Erkenntnis, daß die Machtpolitik des Ruhrkampfs nichts eingebracht hatte und die Lösung durch Verhandlungen erreicht
werden mußte, verbessert worden. Auch das stärkere Engagement der USA
und Großbritanniens, das aber weitgehend ökonomisch blieb, dürfte die Sicherheitslage in Europa konsolidiert haben. Diesem Mehr an Sicherheit in
Westeuropa stand ein Weniger an Sicherheit fur Frankreich gegenüber: Paris
hatte auf wichtige Druckmittel ökonomischer und militärischer Art freiwillig
verzichtet oder verzichten müssen, dies galt vor allem für die im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung ergriffenen Maßnahmen. Auch führte der DawesPlan zu einem Wiedererstarken Deutschlands - was die Position Frankreichs
relativ schwächte. Der Dawes-Plan führte jedoch auch dazu, daß die Bündnisse Frankreichs mit den Staaten Osteuropas und das deutsche Verhältnis zur
Sowjetunion abgeschwächt wurden: Sowohl für Frankreich als auch für
Deutschland bedeutete der Dawes-Plan eine stärkere Orientierung nach We-
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
181
sten, ohne daß dadurch jedoch die Beziehungen zur Kleinen Entente bzw. zur
Sowjetunion nachhaltig belastet wurden. Im Sinne unseres Modells der Friedenssicherung ist diese Entwicklung der Relativierung der jeweiligen Partner
im Osten insofern als positiv zu werten, als zwei potentiell gegeneinander gerichtete Staatenverbände (Frankreich und Polen und in geringerem Maße auch
die Kleine Entente gegen Deutschland und die Sowjetunion, die wiederum
ihren Hauptgegner in Polen sahen) geschwächt wurden. Ein kollektives Sicherheitssystem, das dauerhaften Frieden in Europa in Aussicht hätte stellen
können, war mit dem Dawes-Plan aber noch nicht in Sicht, auch wenn sich die
Grundlagen dafür verbessert hatten.
Bezüglich der Sicherheit kann man also zusammenfassend sagen, daß es
durch den Dawes-Plan zwar gesamteuropäisch eine gewisse Konsolidierung
gegeben hatte, daß die Sicherheitslage Frankreichs sich aber - verglichen mit
dem Jahr 1923 - eher verschlechtert hatte. Bezüglich des Aufbaus von kollektiven Sicherheitsstrukturen bedeutete der Dawes-Plan keinen Fortschritt, weil
dadurch die Sicherheitsfrage weitgehend ausgeklammert wurde, und diese erst
im Anschluß daran erörtert werden sollte.
Auch bezüglich der zweiten Säule des liberalen Friedensmodells blieben die
Ergebnisse der Londoner Konferenz bruchstückhaft: Die wirtschaftliche Erholung Europas und die Wiederherstellung eines relativ freien Welthandels erfolgte nur zögerlich. Zwar hatte der Expertenplan die Aufbringung der Reparationen leichter gemacht und zu Entlastungen geführt. Mit dem Amt des
Generalagenten wurde zudem versucht, die negativen Aspekte der Transfers
einzudämmen. Dies änderte jedoch nur wenig an der Tatsache, daß die Reparationen (und auch die Kriegsschulden) selbst ein zentrales Hindernis für die
wirtschaftliche Gesundung Deutschlands und Europas bildeten. Ein gewisser
Hoffnungsschimmer ließ sich immerhin erkennen, und zwar in Form der Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und den westlichen Mächten: Zwischen Deutschland und den USA war es bereits Ende 1923 zu einem
Handelsvertrag gekommen, zwischen Deutschland und Großbritannien wurde
bis zum Ende des Jahres 1924 ein Abschluß erreicht. Auch zwischen Deutschland und Frankreich sollten, wie in London vereinbart, im Oktober 1924 Handelsgespräche beginnen443. Auch in diesem Bereich der Modernisierung der
Außenpolitik blieben die Ergebnisse der Londoner Konferenz also spärlich.
Der Einfluß der Ereignisse der Jahre 1923 und 1924 auf die Demokratie in
Deutschland, die man zu Recht als einen wesentlichen Faktor der Friedenssicherung für ganz Europa sehen muß, waren gemischt: Zwar hatte die Demokratie in Deutschland den Ruhrkampf gerade noch überlebt, und durch die ausländischen Finanzspritzen im Zuge des Dawes-Plans wurde zweifelsohne eine
gewisse Erholung der deutschen Wirtschaft erreicht, die wiederum stabilisie443
Einzelheiten hierzu siehe Kap. 4.2.2.
182
3. Die Anfδnge der modernen Außenpolitik
rend auf die deutsche Gesellschaft gewirkt haben dürfte. Allerdings darf auch
nicht vergessen werden, daß der Ruhrkampf und seine Folgen das demokratische System in Deutschland nachhaltig geschädigt haben dürften. Die Folgen
der Hyperinflation des Jahres 1923 für die deutsche Gesellschaft und das republikanische System waren verheerend. Die Praxis der Regierung Stresemann, mittels Notverordnung zu regieren, deutete darüber hinaus an, wie wenig krisenfest die demokratischen Institutionen in Deutschland waren. In den
Reichstagswahlen vom Mai 1924 profitierten dann auch nicht die Regierungsparteien, sondern vor allem die rechte DNVP. Der Dawes-Plan selbst wiederum trug dazu bei, daß sich, wegen der hohen budgetären Belastungen durch
die Reparationen und ihre Auswirkungen auf die Geldpolitik des Deutschen
Reiches, die wirtschaftliche Erholung des Reiches und damit auch die gesellschaftliche Konsolidierung verzögerte.
Für die Modernisierung der Außenpolitik waren die Ergebnisse des DawesPlans also sehr begrenzt, teilweise widersprüchlich und bedeuteten lediglich
einen Anfang für einen weitergehenden Modernisierungsprozeß. Der eigentliche Wert des Dawes-Plans bestand denn auch nicht so sehr im konkret Erreichten, sondern vielmehr im Methodischen. Nach dem Ruhrkampf und den
einseitigen Maßnahmen vor allem Frankreichs und Belgiens gegenüber
Deutschland bedeutete der Dawes-Plan den eigentlichen Beginn der multilateralen Konferenzdiplomatie nach dem Ersten Weltkrieg. Warum nur den Beginn? Natürlich war Deutschland zu den Verhandlungen eingeladen, aber die
Zweiteilung der Konferenz machte deutlich, daß Deutschland eben noch keine
gleichrangige Macht war.
Die Londoner Konferenz verfestigte zudem eine Tendenz, die bereits mit
der Einberufung des Expertenkomitees begonnen hatte: die Rückkehr zur Legalität und zur Rechtsgebundenheit der zwischenstaatlichen Beziehungen.
Durch die Rücknahme der in ihrer Legalität zumindest zweifelhaften französischen und belgischen Maßnahmen - so legitim diese auch Anfang 1923 ihren
Führern erschienen waren - kehrte das Recht in die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den Westmächten zurück, so wie es im
Versailler Vertrag festgeschrieben worden war. Eine wesentliche Neuerung
dabei war, daß Deutschland nun erstmals seit dem Krieg den Versailler Vertrag auch faktisch anerkannte. In Berlin liebte man den Versailler Vertrag
deswegen nicht mehr als vor dem Ruhrkampf, es hatte sich aber die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Pflichten (aber auch die Rechte), die sich für
Deutschland aus dem Friedensvertrag von Versailles ergaben, besser waren,
als quasi rechtlos dem Recht des Stärkeren, wie es sich durch die französischen Besatzungstruppen im Januar 1923 manifestiert hatte, ausgeliefert zu
sein. Der deutschen Außenpolitik wurde zudem klar, daß die Revision des
Versailler Vertrags nur in dem rechtlichen Rahmen möglich sein würde, den
der Vertrag selbst lieferte. Auch Frankreich hatte sich wieder auf den rechtli-
3.2. Der DawesPlan und die Londoner Konferenz
183
chen Rahmen des Friedensvertrags zur٧ckgezogen. Dies war einerseits notwen
dig geworden, weil das einseitige Vorgehen Frankreichs seine bereits vom
Krieg geschwδchten Ressourcen ٧berdehnt hatte. Ohne aber den zumindest
teilweise bei der franzφsischen F٧hrung vorhandenen Willen, zum Zustand ei
nes rechtlich geregelten zwischenstaatlichen Lebens zur٧ckzukehren, ist die auf
der Londoner Konferenz gefundene Lφsung meines Erachtens jedoch nicht zu
erklδren. Dieser Wille, der Herrschaft des Rechts den Vorzug gegen٧ber dem
Unilateralismus zu geben, ist, bei allen Unterschieden und Gemeinsamkeiten,
nicht nur in der Außenpolitik Herriots, sondern auch bei Poincare erkennbar.
Der vorsichtige Neuanfang in der Außenpolitik, wie er durch die Londoner
Konferenz eingeleitet wurde, fand ihren Niederschlag übrigens auch bei wichtigen personellen Umbesetzungen in den auswärtigen Diensten Deutschlands und
Frankreichs. In Deutschland räumte Ende 1924 der für den Rapallo-Vertrag
verantwortlich zeichnende Staatssekretär Maltzan seinen Platz für den stärker
nach Westen orientierten Schubert, um als Botschafter nach Washington zu gehen444. Auch in Frankreich deutete sich ab Oktober 1924 ein »mouvement diplomatique«445 an, indem viele wichtige Posten in der Zentrale und in einigen
Auslandsvertretungen umbesetzt wurden: »Im allgemeinen kann man als Richtlinie, die die Regierung bei dem Revirement leitet, feststellen, daß sie bestrebt
war, insbesondere die hochtrabenden Auslandsvertreter der Poincare'schen Gewaltpolitik bezw. [sie] solche Persönlichkeiten zu beseitigen, von denen es ihr
schien, daß sie den neuen Männern der Linken nicht genügend Achtung entgegenbrachten«446. So wurden Saint-Aulaire in London und Jusserand in Washington durch die verständigungsbereiteren Fleuriau und Berenger ersetzt, und
auch die Beförderung Seydoux' zum directeur-adjoint des affaires politiques et
commerciales wurde deutscherseits begrüßt447.
Die Beschlüsse der Londoner Konferenz wurden so zu einer wichtigen methodischen Grundlage für die moderne Entwicklung der Außenpolitik. Sie transformierten die im Ruhrkampf erwachsene Erkenntnis in Politik, daß Konfliktlösung durch Verhandlungen und nicht durch Gewalt erfolgen muß und bewirkten, daß der Versailler Vertrag die nun auch allgemein anerkannte Grundlage
dieser Konfliktlösung war. Die Londoner Konferenz war aber nur ein erster
Schritt hin zu einem modernen europäischen System. Das Sicherheitsproblem
und die Frage der Reetablierung einer liberalen Wirtschaftsordnung, in der die
Reparationen einen zentralen Störfaktor bildeten, waren nach wie vor ungelöst,
und die im Versailler Vertrag festgeschriebene Asymmetrie zwischen Siegern
und Besiegten bestand fort. Aber immerhin, ein Anfang war gemacht.
444
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 270f.
Hoesch an AA (18.10.1924),ihedbSRIA
ΡAAA R, 28235.
446
Ibid.
447
Siehe ibid.
445
4. KOLLEKTIVE SICHERHEIT UND HANDELS
LIBERALISIERUNG IN DEN DEUTSCH
FRANZΦSISCHEN BEZIEHUNGEN, 19241929
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
Kollektive Sicherheitsstrukturen bilden neben der Etablierung eines freien
Welthandels und der Demokratie eines der drei zentralen Elemente des libe
ralen Modells der Friedenssicherung. In diesem Abschnitt wird untersucht, ob
zwischen Deutschland und Frankreich in den Jahren 1924 bis 1929 kollektive
Sicherheitsstrukturen geschaffen wurden und wenn ja, wie umfassend und
funktionsfδhig diese Strukturen waren. Es geht im Kern also um die Vertrδge
von Locarno, den deutschen Beitritt zum Vφlkerbund und den Kriegs
δchtungspakt, der auch unter dem Namen BriandKelloggPakt Eingang in die
Geschichtsschreibung gefunden hat. Im nδchsten Abschnitt werden einige
Aspekte der Handelsliberalisierung betrachtet.
Zuvor erscheinen aber noch zwei Punkte klδrenswert: Was genau ist erstens
unter »kollektiver Sicherheit« zu verstehen und was sind die Stδrken und
Schwδchen dieses Konzepts? Und zweitens, welche Ansδtze zur kollektiven
Sicherheit bestanden bereits vor dem LocarnoPakt und inwieweit konnte auf
diese Grundlagen aufgebaut werden?
4.1.1. Sicherheit und kollektive Sicherheit
Sicherheit und Unsicherheit sind eine Folge von Macht und deren mφglichem
Mißbrauch. Macht soll dabei verstanden werden als »>la capacite d'imposer sa
volonte aux autres<. Une [Herv. i.O.] puissance est un Etat qui est capable, en
certaines circonstances, >de modifier la volonte d'individus, groupes, ou Etats
etrangers<«'. Eine Großmacht ist »tout Etat qui, ä lui seul, >assure sa securite
contre tout autre puissance prise isolement<«2. Die Macht eines Staates wird
nicht nur von demographischen Faktoren - Größe, Altersaufbau, Bildung usw.
der Bevölkerung - und einem »große[n] und verwickelte[n] Komplex von
Sachfaktoren«3 - zu denen u.a. die Größe und der Naturraum des Landes, sei-
1
GlRAULT, Europe, S. 94.
2
Ibid.
3
Wilhelm FUCKS, Formeln zur Macht. Prognosen über Völker, Wirtschaft, Potentiale, Stuttgart "1965, S.7.
186
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
ne Wirtschaftskraft und sein militδrisches Potential gehφren4 bestimmt, son
dern auch durch »weiche« Faktoren wie die kulturelle Ausstrahlung, die sozia
le Kohδsion, den nationalen Konsens, den Willen der Regierenden, eine Rolle
in den internationalen Beziehungen zu spielen, oder die Wahrnehmung der
Kapazitδten eines Staates durch die anderen5.
Das Sicherheitsproblem entsteht nun daraus, daß die Macht eines Staates objektiv oder subjektiv zur Bedrohung eines anderen Staates fuhren kann. Sicherheit wird so zur »ability of a nation to protect its internal values from external threats«6. Zur Gewährleistung der Sicherheit eines Landes gibt es
verschiedene Möglichkeiten: Einmal durch die eigene militärische Macht und
durch Militärbündnisse, die aber, wenn sie von dem potentiellen Gegner wiederum als Bedrohung der eigenen Sicherheit aufgefaßt werden, zu einem gefährlichen Wettrüsten führen können und so die Sicherheitslage eher verschlechtern denn verbessern7. Neutralität ist eine andere Möglichkeit,
Sicherheit zu gewährleisten8, eine Möglichkeit jedoch, die - wie das Schicksal
Belgiens im Ersten Weltkrieg zeigte - ebenfalls nicht ohne Risiken ist. Eine
weitere Möglichkeit besteht darin, kollektive Sicherheitssysteme aufzubauen.
Dabei soll kollektive Sicherheit im Rahmen dieser Arbeit verstanden werden
als
ein System mit universeller oder regionaler Reichweite, das jedem seiner Mitgliedsstaaten
Schutz vor jeder zwischenstaatl. Aggression verspricht. Bei k. S. in diesem Sinne handelt es
sich um eine durch multilaterale Prinzipien gekennzeichnete Institution mit gleichen Rechten
und Pflichten für die Mitgliedsstaaten. K.S. beruht auf der Annahme, daß Frieden unteilbar
ist und jedes Mitglied jedem anderen zu Hilfe kommen muß - mit diplomatischen Mitteln,
durch Wirtschaftssanktionen und im Extremfall durch militärische Mittel. Ein potentieller
Aggressor soll somit durch die Aussicht auf eine überlegene Gegenmacht abgeschreckt
werden9.
»Regional« in der oben gebrauchten Form soll dabei so verstanden werden,
daß ein System der kollektiven Sicherheit zwar nicht alle Staaten der Erde umfassen muß, daß aber zumindest die potentiellen Gegner Mitglieder der jeweiligen Sicherheitsstruktur sein müssen10. Ansonsten wäre kollektive Sicherheit
nichts weiter als eine spezielle Form eines Bündnisses. In der Tat wurde bei4
Siehe ibid. S. 7-9.
5
Siehe GlRAULT, Europe, S. 94.
6
WURM, Sicherheitspolitik, S. 2.
7
Siehe ibid. S. 3f.
8
Siehe ibid.
9
Peter RUDOLF, art. »Kollektive Sicherheit«, in: Dieter NOHLEN, Rainer-Olaf SCHULTZE
(Hg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Bd. I, München 2002,
S. 412f.
10
Siehe Sabine JABERG, Systeme kollektiver Sicherheit in und für Europa in Theorie, Praxis
und Entwurf. Ein systemwissenschaftlicher Versuch, Baden-Baden 1998 (Demokratie, Sicherheit, Frieden, 112), S. 16.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
187
spielsweise im OstWestKonflikt die NATO als ein System der kollektiven
Sicherheit bezeichnet. Im Sinne der hier gebrauchten Definition war sie es
aber nicht, sondern eben nur eine spezielle Art von B٧ndnis, weshalb es rich
tiger ist, bei der NATO von »kollektiver Verteidigung« anstelle von »kollekti
ver Sicherheit« zu sprechen11.
»Kollektive Sicherheit« ist eine Weiterentwicklung des δlteren Konzeptes
der »Balance of Power«, und in der Tat sind sich beide Modelle in vielen As
pekten nicht unδhnlich. Um zu verstehen, was die wesentlichen Merkmale der
kollektiven Sicherheit sind, ist es deshalb sinnvoll, zunδchst die Gemeinsam
keiten zwischen diesen beiden verwandten Sicherheitsdoktrinen zu betrach
ten12. Beide Modelle beruhen auf dem Prinzip der Abschreckung, wobei die
Grundannahme der kollektiven Sicherheit sogar noch pessimistischer ist als
die der Balance of Power: Wδhrend im letztgenannten Konzept das Gleichge
wicht der Krδfte als ausreichend erachtet wird, um einen potentiellen Gegner
abzuschrecken, soll dies im System der kollektiven Sicherheit durch eine in
jedem Fall ٧berlegene Macht aller gegen den potentiellen Aggressor erfolgen.
In beiden Konzepten schließt dies allerdings aus, daß es einen Staat gibt, dessen Macht allein das ganze System zu Fall bringen kann: Eine »Supermacht«
kann weder das System der kollektiven Sicherheit noch das der Balance of
Power verkraften. Auch Bündnisse, die das Gleichgewicht oder die Übermacht
der Verteidiger gefährden, müssen in beiden Systemen verhindert werden. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, daß in beiden Modellen sich die Führer eines potentiell aggressiven Staates in dem Sinne rational verhalten müssen, daß sie sich von der Gegenmacht abschrecken lassen. Voraussetzung
hierfür ist wiederum, daß der defensive Part bereit ist, zur Not den Status quo
auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Außerdem muß ein klares, vorhersagbares Eskalationsschema vorhanden sein, das die negativen Folgen eines Angriffs für den potentiellen Aggressor absehbar macht. Eine Funktionsbedingung beider Systeme besteht außerdem darin, daß bei allen Staaten der Wille
vorhanden sein muß, auch dann gegen einen Aggressor zu Felde zu ziehen,
wenn eigene Interessen nicht direkt bedroht sind oder diese Aktion sogar im
Gegensatz zu den eigenen Zielsetzungen steht.
Was sind - bei so vielen Gemeinsamkeiten - dann eigentlich die Unterschiede zwischen Balance of Power und kollektiver Sicherheit?
Der wesentliche Gegensatz besteht darin, daß kollektive Sicherheit ein allgemeines Bündnis und keine Allianz konkurrierender Blöcke ist13. Im System
der kollektiven Sicherheit gibt es kein Außen mehr, keinen Gegner im eigentlichen Sinne: »Balance of power postulates two or more worlds in jealous
11
Siehe CLAUDE, Power, S. 122.
Zum folgenden siehe ibid. S. 123-129.
13
Zu den Unterschieden zwischen kollektiver Sicherheit und Balance of Power siehe ibid.
S. 144-149.
12
188
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
confrontation, while collective security postulates one world, organized for the
cooperative maintenance of order within its bounds«14. Frieden ist also das
absolute Oberziel des Systems kollektiver Sicherheit im Gegensatz zur Ba
lance of Power. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Kooperation, nicht auf Kon
frontation. Dies wiederum setzt die Schaffung von Institutionen voraus, eine
gewisse Systematisierung der internationalen Beziehungen, die eine prinzipiel
le Lφsung des Sicherheitsproblems ermφglichen, anstatt wie beim System
der Balance of Power zu ad hoc Lφsungen f٧r auftretende Bedrohungen des
Gleichgewichts zu kommen15.
F٧r die Untersuchung der Versuche zur Umsetzung des Systems der kollek
tiven Sicherheit als einem zentralen Bestandteil der Modernisierung der Au
ßenpolitik - ist es aber nicht nur wichtig zu wissen, wie und unter welchen
Voraussetzungen kollektive Sicherheit funktioniert. Für eine adäquate Bewertung müssen auch die prinzipiellen Schwächen eines Systems bekannt sein,
um die Ursachen seines Scheiterns festzustellen. Denn das Versagen einer sicherheitspolitischen Strategie kann zwei grundsätzliche Ursachen haben: Erstens, die unvollständige Implementierung oder zweitens, Fehler in den
Grundannahmen des Systems.
Die Schwächen des Systems der kollektiven Sicherheit ergeben sich zum
Gutteil aus seinen Prämissen. Wie dargestellt, ist eine der Grundvoraussetzungen der kollektiven Sicherheit, daß es keine Macht gibt, die stark genug ist,
das gesamte System in Frage zu stellen. Dieser Aspekt ist für diese Untersuchung deshalb relevant, weil Deutschland vielleicht potentiell so stark war,
daß es beispielsweise das System der Locarno-Verträge von sich aus hätte zu
Fall bringen können. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hatte (und der Zweite mit freilich veränderten Bündniskonstellationen - wieder zeigen sollte), waren
Frankreich, England, Belgien und Italien - allesamt Mitglieder bzw. Garantiemächte von Locarno - allein nicht in der Lage gewesen, Deutschland zu
besiegen. Anders gesagt, das System der kollektiven Sicherheit setzt voraus,
daß der potentielle Aggressor so schwach ist, daß das Prinzip der Abschrekkung durch eine überwältigende Übermacht funktioniert16.
Andere Probleme im Zusammenhang mit der kollektiven Sicherheit sind bereits von den Zeitgenossen erörtert worden17: Auf eine Bedrohung könne nicht
schnell und effizient genug reagiert werden, weil die Symptome, die einer Ag14
Ibid. S. 145.
Siehe ibid. S. 132f.
16
Siehe ibid. S. 195f.
17
Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den
Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds (22.4.1923), Documents
diplomatiques. Documents relatifs aux n6gociations concernant les garanties de söcuritd
1924, 44, Anhang 11. Es handelte sich dabei um die Stellungnahme der Delegationen Belgiens, Brasiliens, Frankreichs und Schwedens; die englische Delegation hatte sich nicht an der
Stellungnahme beteiligt, siehe ibid.; Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vm, Nr. 121.
15
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
189
gression vorausgingen, nicht eindeutig bestimmbar seien. Daraus folge, daß
auch die Verpflichtungen, die die Staaten eingehen mtlßten, um im Bedarfsfall
eine schnelle Reaktion zu gewährleisten, nicht klar genug definiert werden
könnten. Erschwert werde dies durch die unterschiedlichen Interessen der
Staaten, die unter Umständen nur bedingt zur Unterstützung des angegriffenen
Staates bereit seien. Es waren also vor allem Fragen der Militärdoktrin, die erörtert wurden, und die einige wichtige Schwachpunkte im System der kollektiven Sicherheit aufzeigten18: Die Verteidiger sind in einer strukturell schwächeren Position als der Angreifer, weil dieser mehr Zeit hat sich vorzubereiten
und über integrierte Kommandostrukturen verfügt, während die Verteidiger
mit den Problemen eines Koalitionskrieges zu kämpfen haben: die Koordination der Streitkräfte, die schwierige Heranführung von Truppen - unter Umständen aus Übersee - , die Möglichkeit einer Regierung, sich der gemeinsamen Verteidigungsanstrengung trotz Zusage zu entziehen usw. Unter
Umständen - das ist bei der sich ständig wandelnden Militärtechnologie noch
schwerer zu prognostizieren - wäre der Krieg schon zu Ende, bevor überhaupt
die Mechanismen der kollektiven Sicherheit greifen könnten. Da sich das kollektive Sicherheitssystem außerdem gegen jeden potentiellen Angreifer richtet,
müßten für jeden denkbaren Fall Pläne erarbeitet werden - was allein schon an
der Geheimhaltung scheitern würde. Am Beispiel von Locarno bedeutete dies:
Großbritannien garantierte den Bestand der deutsch-französischen Grenze.
Folglich hätte der englische Generalstab zusammen mit Frankreich Pläne gegen eine deutsche, mit Deutschland Pläne gegen eine französische Invasion
ausarbeiten müssen. Ein Verfahren, das schlechterdings praktikabel ist, einmal
ganz abgesehen von der Frage, ob Großbritannien tatsächlich bereit gewesen
wäre, gegen Frankreich zu kämpfen und so die englische Garantie tatsächlich
eine Garantie im Sinne der kollektiven Sicherheit darstellte.
Eng mit diesen Problemen hängen - wie bereits der Völkerbund feststellen
mußte - die Fragen zusammen, was eigentlich »Aggression«, wer »Täter« und
wer »Opfer« ist. Die Commission permanente consultative des Völkerbunds
stellte fest, daß die Definition, eine Aggression sei die Verletzung einer Grenze durch Truppen, keinesfalls ausreiche19: Der Begriff der Grenze habe an
Klarheit verloren, weil durch den Versailler Vertrag - durch die Schaffung
demilitarisierter und neutraler Zonen - die militärischen Grenzen nicht mehr
unbedingt den politischen Grenzen eines Landes entsprächen. Zudem sei es
immer schwieriger zu definieren, was unter Truppen zu verstehen sei, weil die
Unterscheidung zwischen regulärer Armee, bewaffneten Polizeiverbänden und
" SieheULEDCA
CLAUDE, Power, S. 1 9 2 1 9 4 .
19
Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds ( 2 2 . 4 . 1 9 2 3 ) , Documents
diplomatiques. Documents relatifs aux ndgociations concernant les garanties de s6curit6
1924, Nr. 44, Anhang 11.
190
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Freikorps immer schwieriger werde. Zudem lasse diese Definition diejenigen
Fδlle außer acht, die sich in internationalen Gewässern oder im internationalen
Luftraum ereigneten. Darüber hinaus läßt sich fragen, ob wirtschaftliche
Zwangsmaßnahmen eines Landes gegen ein anderes nicht ebenso eine Aggression darstellen wie die Unterstützung von Unabhängigkeitsbewegungen
oder terroristischen Gruppierungen durch das Ausland. Ergreift ein Land dann
Gegenmaßnahmen gegen eine vermeintliche oder tatsächliche Aggression,
wird es in der Tat fast unmöglich zu entscheiden, wer »Aggressor« und wer
»Verteidiger« ist. Diese Ambivalenz stört aber eine weitere Voraussetzung des
Systems der kollektiven Sicherheit, nämlich die Vorhersagbarkeit von Eskalation und Gegenmaßnahmen: Selbst wenn es ein klar festgelegtes Muster von
zu ergreifenden Maßnahmen gäbe, gegen wen soll die Staatengemeinschaft
vorgehen, wenn gar nicht genau auszumachen ist, wer der Übeltäter ist?
Kollektive Sicherheit ist dann tatsächlich nur »a generalized notion of all nations banding together in undertaking a vague obligation to perform unspecified actions in response to hypothetical events brought on by some unidentifiable state«20.
Allerdings muß festgehalten werden, daß der Einsatz militärischer Gewalt
und der dadurch entstehenden Probleme durch ein System der kollektiven Sicherheit gerade verhindert werden soll. Der Rückgriff auf Gewalt bedeutet das
Versagen der kollektiven Sicherheit, deren Kernpunkt die friedliche Streitschlichtung ist. Im liberalen Friedenskonzept bildet kollektive Sicherheit außerdem nur eines von drei wesentlichen Elementen zur Friedenssicherung.
Nicht zuletzt wegen dieser Schwachpunkte sahen Wilson und andere die Sicherung des Friedens nicht ausschließlich abhängig von der Etablierung kollektiver Sicherheitsstrukturen, sondern auch von den beiden anderen zentralen
Elementen, der Demokratie und dem Wirtschaftsliberalismus. Demokratische
Strukturen sollten Konflikte im Innern der Staaten minimieren, so daß den
Außenbeziehungen die Funktion des »Blitzableiters« für innere Probleme genommen würde. Sie sollen außerdem die Bereitschaft fördern, sich auf friedliche Streitschlichtungsmechanismen auch im internationalen Rahmen einzulassen. Gleiches gilt für den Wirtschaftsliberalismus, der im Sinne des liberalen
Modells einerseits Wohlstand für alle schaffen soll - und so soziale Konflikte
verringert - , andererseits wirtschaftliche Abhängigkeiten zwischen den Staaten erzeugt, die konfliktverhindemd wirken sollen.
Insofern darf die Kritik an der kollektiven Sicherheit nicht an den ihr inhärenten Problemen in der Anwendung militärischer Gewalt als letztem Mittel
enden. Es muß vielmehr auch untersucht werden, inwieweit sich durch politische oder wirtschaftliche Maßnahmen das Verhältnis zwischen den Staaten
verbessert - und somit die Gefahr eines Konfliktes verringert wird. Kollektive
20
CLAUDE, Power, S. 200.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
191
Sicherheitsstrukturen allein, das soll hier nochmals ausdr٧cklich festgehalten
werden, sind nach Maßgabe des liberalen Modells der Friedenssicherung nur
eines von drei wesentlichen Elementen zur Friedenssicherung.
4.1.2. Französische Sicherheits- und deutsche Revisionspolitik
als Problem der deutsch-französischen Beziehungen
Das europäische Sicherheitsproblem in den 1920er Jahren hatte - abstrahiert
man von den Störungen, die von kleineren Staaten ausgingen (z.B. Konflikte
zwischen den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, zwischen der Türkei und Griechenland usw.) - zwei wesentliche Ursachen: Den deutschen Revisionismus einerseits und den weltweiten Anspruch des Bolschewismus andererseits. Viele Ursachen für die Spannungen im europäischen Staatensystem
lagen in dieser Konstellation begründet: der deutsch-französische Gegensatz
ebenso wie der deutsch-polnische oder der polnisch-russische.
Inwiefern kamen Ideen der kollektiven Sicherheit zum Tragen, um das
deutsch-französische Sicherheitsproblem - als wesentlichen Teil des europäischen Sicherheitsproblems - zu lösen?
Interessanterweise hatte gerade das Land ein Sicherheitsproblem, das siegreich aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen war, nämlich Frankreich.
Dies ist um so erstaunlicher, weil Frankreich den Krieg (wenngleich mit fremder Hilfe) nicht nur gewonnen hatte, sondern sich durch den Versailler Vertrag
auch als überragende europäische Militärmacht etablieren konnte. Dem deutschen 100 000-Mann-Heer standen 1922 355 000 französische Soldaten im
Mutterland und weitere 92 000 als Besatzungstruppen im Rheinland gegenüber21, dazu kamen die Truppen der Verbündeten.
Überraschenderweise schien Deutschland trotz dieses Mißverhältnisses kein
nennenswertes Sicherheitsproblem zu haben. Trotz der militärischen Impotenz
des Reiches, trotz der Tatsache, daß alliierte Truppen wesentliche Teile des
deutschen Staatsgebiets militärisch besetzt hielten und die Alliierten - wie der
Ruhrkampf gezeigt hatte - bereit waren, ihre militärische Macht auch einzusetzen: Sicherheit war kein deutsches Problem. Sie wurde für Deutschland nur
deshalb zum Thema, weil ihr Frankreich überragende Bedeutung zumaß: »Die
Frage der deutschen Sicherheit [Herv. i.O.] ergibt sich aus der allzu einseiti-
21
Nicht eingerechnet sind die Truppen in den Kolonien und Mandatsgebieten sowie in anderen Gebieten (Saargebiet, Schutztruppe im Memelgebiet und Oberschlesien), die weitere
298 000 Mann ausmachten, siehe »Exposi des consid6rations relatives aux exigences de la
söcuritö nationale de la France, ä ses obligations internationales, ä sa situation gdographique
et ä ses conditions speciales« (30.6.1922), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux
nögociations concemant les garanties de s6curit£ 1924, Nr. 44, Anhang 5.
192
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gen Behandlung des Sicherheitsproblems als einer franzφsischen Frage«22.
Trotz der eigenen militδrischen Machtlosigkeit war f٧r Deutschland die Si
cherheitsfrage und zwar die franzφsische Sicherheit also lediglich ein tak
tischer Stolperstein auf dem Weg zur Revision.
F٧r Frankreich dagegen war dieutsriec
securite ein großes, im wahrsten Sinne des
Wortes existentielles Problem:
One inescapable fact dominated the French vision of international politics: forty million
Frenchmen faced sixty million Germans, and the demographic gap was clearly widening.
The disparity of population, taken together with Germany's unquestioned military genius
and capacity for organization, meant that in the natural course of things Germany would
overwhelm France - of the German will to domination most Frenchmen had little doubt23.
Erschwerend kam für Frankreich hinzu, daß die strukturelle Übermacht
Deutschlands von seinen ehemaligen Verbündeten nicht wahrgenommen wurde24. Frankreich sah sich nicht nur einem wirtschaftlich wie demographisch
überlegenen und dazu auch noch revanchistischen Nachbarn gegenüber, sondern war darüber hinaus auch noch allein, ohne substantielle Bündnispartner,
die man potentiell vor allem in den USA und in Großbritannien sah. Die osteuropäischen Verbündeten waren dagegen nur ein schwacher Ersatz für die nach
dem Ende des Krieges geplatzten Bündnisse mit den angelsächsischen Mächten25.
Die grundlegend unterschiedliche Bedeutung, welche die Sicherheitsfrage
für Deutschland und Frankreich hatte - für Berlin eine Klippe, die es taktisch
geschickt zu umschiffen galt, für Paris ein Problem von essentieller, ja existentieller Bedeutung - , mußte die Lösung der Aufgabe natürlich ungemein
erschweren. Dies begann schon bei der Wahrnehmung des Problems: Da in
Berlin die securite vor allem als französisches Instrument zur Niederhaltung
Deutschlands gesehen wurde (was sie zum Teil auch war), dauerte es nämlich
bis Anfang 1925, bis die wahre Dimension der Pariser Befindlichkeiten in der
Sicherheitsfrage richtig erkannt wurde und ein tragfähiges Konzept zur Lösung des Problems entwickelt werden konnte. Da Sicherheit für beide Seiten
aber eine unterschiedliche Bedeutung hatte, konnte eine Lösung nicht durch
ein gemeinsames Interesse erreicht, sondern nur in dem relativ schmalen Be22
Materialien zur Sicherheitsfrage [Manuskript o. Verf., 1924?],nedSRIA
ΡAAA R, 70103, S. 107. In
den Beständen des AA befinden sich mehrere Versionen der »Materialien zur Sicherheitsfrage«. Aus der hier zitierten Fassung geht hervor, daß sie im Vorfeld der Londoner Konferenz
erarbeitet wurde. Eine im Jahr 1925 im Zusammenhang mit der Konferenz von Locamo vom
AA herausgegebene, veröffentlichte Fassung enthält lediglich offizielle Dokumente der beteiligten Regierungen.
23
TRACHTENBERG, Reparation, S. 99. Im gleichen Sinne auch: David CHUTER, Humanity's
Soldier. France and International Security, 1919-2001, Providence, Oxford 1996, S. 54-57.
24
25
Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 30.
Siehe o. Kap. 2.1. und CHUTER, Humanity's Soldier, S. 77.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
193
reich erzielt werden, in dem deutschem Revisionsstreben nicht das franzφsi
sche Sicherheitsempfinden entgegenstand.
Die Lφsung des deutschfranzφsischen Sicherheitsproblems wurde aber auch
dadurch erschwert, daß es in Frankreich verschiedene Konzepte zur Erlangung
derutsriec
securite gab. Das internationale System der Nachkriegszeit hatte Frankreich durch den Versailler Vertrag und das aus dem Krieg hervorgegangene
Beziehungsgeflecht zwischen den Staaten verschiedene Instrumente zur Lösung des Sicherheitsproblems an die Hand gegeben, die sich teilweise ergänzten, zum Teil aber auch im Widerspruch zueinander standen26. Neben den rudimentär angelegten Möglichkeiten der Völkerbundssatzung zur friedlichen
Streitschlichtung (also vor allem die Artikel 10-17) standen die Deutschland
auferlegten Zwangsmaßnahmen des Versailler Vertrags: Die weitgehende Entwaffnung des Reiches, die Besetzung und Demilitarisierung des Rheinlandes
und wirtschaftliche Bestimmungen, die ergänzend das ökonomische Potential
Deutschlands schwächen und das der ehemaligen Kriegsgegner stärken sollten. Daneben hatte der Versailler Vertrag auch eine französisch-amerikanischbritische Militärallianz vorgesehen, die jedoch am amerikanischen Widerstand
gescheitert war. Ferner hatten der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und
des Zarenreichs und die Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten im mittelund osteuropäischen Raum eine Reihe potentieller Bundesgenossen für Frankreich geschaffen.
Aus den teils widersprüchlichen, teils mehrdeutigen außenpolitischen Instrumenten, die Frankreich zur Verfugung standen, konnten drei grundsätzlich
mögliche außenpolitische Strategien entwickelt werden27: erstens eine mehr
oder weniger unilaterale Politik der Stärke, zweitens eine Bündnispolitik im
klassischen Sinne und drittens eine Politik der kollektiven Sicherheit. Die
Strategien eins (Politik der Stärke) und zwei (Bündnispolitik) schließen einander natürlich nicht aus, doch ist anzunehmen, daß beim Rückgriff auf die Politik der Stärke im Falle des Scheiterns der Bündnispolitik die Instrumente verschieden gewichtet werden: Clemenceau hatte sich 1919 erst dann zur
Aufgabe des Rheins als militärischer Grenze Frankreichs bereit erklärt, als er
entsprechende Bündniszusagen aus Washington und London erhalten hatte.
Umgekehrt mußte die Rheingrenze für Frankreich natürlich wieder an Bedeutung gewinnen, als sich diese Bündniszusagen nicht materialisierten. Eine unilaterale Politik der Stärke entsprach allerdings nur bedingt der französischen
Bedrohungslage: Gegen die langfristig drohende deutsche Übermacht konnte
26
Siehe o. Kap. 2.1. und BAECHLER, Stresemann, S. 583.
Knipping dagegen spricht lediglich von »im Prinzip zwei Möglichkeiten« (KNIPPING,
Locamo-Ära, S. 14), durch die Frankreich seine nationale Sicherheit durchsetzen konnte: die
nationale und die internationale Option (s. ibid. S. 15). Da in dieser Studie die internationale
Option Knippings in die »klassische« Bündnispolitik und die Politik der kollektiven Sicherheit aufgespalten wurde, komme ich zu drei verschiedenen Konzeptionen.
27
194
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
letztendlich nur ein B٧ndnis helfen. Wδre Frankreich in der Wahrnehmung
der politischen und militδrischen F٧hrung fδhig gewesen, seine Sicherheit
allein, mit eigenen Ressourcen, durchzusetzen, hδtte es kein Sicherheitspro
blem gehabt. In Paris jedoch war man sich dar٧ber klar, daß die militärischen
Sicherheitsgarantien und die territorialen Änderungen, die der Versailler Vertrag geschaffen hatte, allesamt »inefficace«28 waren.
In den Jahren 1919 bis 1924 oszillierte die französische Sicherheitspolitik,
wie in den vorausgehenden Kapiteln zu sehen war, vor allem zwischen der
Politik der Stärke einerseits und der Anlehnung an die Alliierten andererseits,
wobei, wie gesagt, die eine Politik nicht im Gegensatz zur anderen stand, sondern vielmehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bedeuteten. Allerdings,
das wird im folgenden noch ausfuhrlicher zu zeigen sein, spielte auch die Politik der kollektiven Sicherheit schon eine, wenn auch bescheidene, Rolle. Das
Schwanken zwischen den verschiedenen politischen Konzepten vermittelte oft
den Endruck, die französische Politik sei inkonsistent gewesen. Diese Wahrnehmung wurde verstärkt durch die Interferenzen zwischen den verschiedenen, sich teilweise ergänzenden, teilweise widersprechenden Instrumenten, die
der französischen Sicherheitspolitik durch den Versailler Vertrag an die Hand
gegeben wurden. Ursächlich für die Schwankungen dürfte jedoch gewesen
sein, daß die französische Politik - gerade wegen ihrer starken Ausrichtung
auf Bündnisgarantien - sehr stark von der Politik der USA und Großbritannien
abhängig war. Auch das Verhalten Deutschlands spielte natürlich eine Rolle
dabei, wie Frankreich seine Politik gegenüber dem großen Nachbarn im Osten
definierte. Andere Einflüsse, die nicht genuin außenpolitischer Art waren, aber
dennoch den Handlungsspielraum der französischen Regierung beeinflußten,
taten ihr übriges, daß der französischen Politik oft etwas Unstetes anhaftete.
Ein wichtiges Beispiel für einen solchen exogenen Faktor bildete die FrancKrise29, die bis 1926 die französische Politik beschränkte: Sie erschwerte die
Unterstützung der Bündnispartner in Osteuropa ebenso, wie sie die finanzielle
Abhängigkeit Frankreichs von den angelsächsischen Ländern verstärkte. Die
andauernden innenpolitischen Querelen um die Währungssanierung und die
immer häufigeren Regierungswechsel in Paris führten schließlich auch zu einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit der Exekutive.
Unbeeinflußt von den innen- und außenpolitischen Wechsellagen blieb jedoch das Ziel der französischen Außenpolitik, die Sicherheit Frankreichs langfristig zu gewähren. Die Politik Briands unterschied sich hinsichtlich dieses
Ziels nicht von der seiner Amtsvorgänger, sondern vor allem in bezug auf die
Methoden30. Aus dem Scheitern der Ruhrpolitik und der Analyse der langfri28
Aufzeichnung ohne Unterschrift und Datum [Seydoux?], MAE PAAP 261, 1.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 170.
30
Zur Außenpolitik Briands siehe KR٢GER, Außenpolitik, S. 33 8f.; WURM, Sicherheitspolitik, S. 393-395.
29
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
195
stigen deutschen άberlegenheit heraus kam er zu dem Schluß, daß die Sicherheit Frankreichs nur durch den Ausgleich mit Deutschland und durch ein
Bündnis mit Großbritannien dauerhaft würde erreicht werden können. Die
Priorität Briands lag dabei, wie im AA völlig zu Recht erkannt wurde, auf einem Bündnis mit Großbritannien, in dem der Ausgleich mit Deutschland lediglich instrumentalen Charakter hatte: Im »System Briand« wird
nie ein deutsch-französisches unmittelbares Zusammengehen die Grundlage der französischen Politik sein [...], sondern vielmehr das englisch-französische Zusammengehen mit einem ruhigen Deutschland an der Peripherie. Der Gedanke, daß irgendeines der bisherigen
französischen Bündnisse in Mittel- oder Osteuropa den deutsch-französischen Beziehungen
geopfert werden könnte, liegt dem französischen System völlig fern. Es basiert auf Achtung
des Vertrages, Sicherung Frankreichs, äußere Besserung der Beziehungen zu Deutschland,
Erhaltung des Friedens durch Konsolidierung der gegenwärtigen Verhältnisse, aber nicht
durch Revision31.
Auch im »System Briand« sollten Frieden und Sicherheit also vor allem durch
die Anerkennung der Rechte Frankreichs aus dem Versailler Vertrag und der
französischen Rolle in Europa gesichert werden. Der Ausgleich mit Deutschland hatte dabei zwei Funktionen: Einerseits wollte Briand den deutschen Revanchismus dämpfen. Sein Kalkül war, daß die außenpolitischen Erfolge des
republikanischen Deutschlands das demokratische System dort stärken würden, während die Sanktionspolitik ä la Poincarö nur den revanchistischen
Kräften zugute käme. Das deutsch-französische Verhältnis sollte zu diesem
Zweck auf allen Ebenen verbessert werden. Besonders wichtig war Briand die
wirtschaftliche Verflechtung beider Länder, da er hoffte, daß sich durch gemeinsame ökonomische Anstrengungen auch die politischen Probleme leichter
würden lösen lassen. Politische Konzessionen gegenüber Deutschland blieben
allerdings auch bei Briand den französischen Interessen untergeordnet. Auch
dieses Konzept war nicht frei von Widersprüchen und Problemen32: Die Wirtschaftsbeziehungen ließen sich nur bedingt für den politischen Klimawechsel
instrumentalisieren. Außerdem war diese Politik hochgradig von der Zustimmung anderer, in diesem Falle von Großbritannien und den USA, abhängig.
Innenpolitisch stieß der Verständigungskurs Briands ebenfalls auf nicht unerheblichen Widerstand. Andererseits hatte Briand festgestellt, daß eine Politik
der Härte gegenüber Deutschland Frankreich von seinem potentiell wichtigsten Bündnispartner, Großbritannien, isolierte. Ausgleich mit Deutschland bedeutete deshalb auch Annäherung an Großbritannien. Briand strebte deshalb
die »Internationalisierung«33 des Sicherheitsproblems an - in Analogie zur Internationalisierung des Schuldenproblems durch den Dawes-Plan.
31
Bülow an Hoesch (4.5.1925), ADAP A XUI, Nr. 21.
Vgl.WURM
WURM, Sicherheitspolitik, S. 396-398.
33
Ibid. S. 394.
32
196
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
War »Sicherheit« das Mantra der franzφsischen Außenpolitik, so war »Revision« das der deutschen34, wobei den einzelnen Revisionszielen verschiedene
Bedeutung zukam. Für Stresemann hatten kurzfristig die Räumung der Kölner
Zone, die Regelung der Entwaffnungsfrage und die Auflösung der IMKK, die
Vermeidung der Investigation (also die Ersetzung der IMKK durch ein Kontrollorgan des Völkerbunds) sowie die Verkürzung der Besatzungsfristen für
die übrigen Besatzungszonen im Rheinland Priorität35. Es folgten die Rückgabe des Saargebiets und die endgültige Regelung der Reparationsfrage36. Die
wichtigsten langfristigen Revisionsziele waren die militärische Gleichberechtigung Deutschlands und die territoriale Revision im Osten, vor allem die
Rückgabe des Korridors, der Ostpreußen vom Reich trennte37. Die Rückgabe
der Kolonien und der »Anschluß« Österreichs scheinen Stresemann dagegen
weniger wichtig gewesen zu sein. Elsaß-Lothringen und Eupen-Malmedy
spielten für ihn keine wesentliche Rolle mehr38.
Ebenso wie in Frankreich war in Deutschland nicht das außenpolitische Ziel,
sondern der Weg dorthin umstritten39: Die Anhänger einer Ost-Politik, also
beispielsweise Seeckt, Brockdorff-Rantzau und anfänglich auch Maltzan,
wollten durch das enge Zusammengehen mit der Sowjetunion versuchen, den
Westen zur Revision des Versailler Vertrags zu zwingen, und der Vertrag von
Rapallo bildete den Auftakt zu dieser Politik. Die Erfullungspolitiker um
Wirth wollten dagegen die Revision dadurch erreichen, daß sie den Alliierten
durch die versuchte Erfüllung der Lasten gleichzeitig deren Undurchfuhrbarkeit demonstrierten. Und schließlich bildete das von Stresemann und seinen
Mitarbeitern entwickelte Konzept der Verständigung eine weitere Methode
deutscher Revisionspolitik. Verständigungspolitik bedeutete den Verzicht auf
kriegerische Mittel und den Versuch, die deutschen Revisionsansprüche nicht
gegen, sondern zusammen mit den anderen Staaten in vertrauensvoller Zusammenarbeit durchzusetzen40. Wichtigstes Instrument hierzu war der Einsatz
der deutschen Wirtschaftsmacht - das einzige Machtmittel, das Deutschland
nach der Kriegsniederlage erhalten geblieben war41. Besonders wichtig war
dabei die Einbindung der USA, die, wie Stresemann richtig vermutete, viel-
34
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 26f.
35
S i e h e SCHULZE, W e i m a r , S. 2 7 2 ; KRÜGER, A u ß e n p o l i t i k , S. 2 1 4 ; W U R M , S i c h e r h e i t s p o l i -
tik, S. 397; POST, Diplomatie, S. 250.
36
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 214.
37
Siehe POST, Diplomatie, S. 250; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 29f.
38
Siehe BARLßTY, Relations franco-allemandes, S. 22f. Zu Elsaß-Lothringen speziell siehe
Christian BAECHLER, Stresemann, Locamo et l'Alsace-Lorraine, in: Revue d'Alsace 122
(1996), S. 329-342.
39
Vgl. Kap. 2.3.
40
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 217.
41
Siehe NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, S. 418.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
197
fach δhnliche φkonomische Zielsetzungen wie Deutschland verfolgten, und
deshalb einen wichtigen Platz in seinem Kalk٧l einnahmen.
Stresemanns Politik ist sehr unterschiedlich bewertet worden. Ist er fur die
einen der Verstδndigungspolitiker, der auch langfristig bereit gewesen wδre,
die Revision hinter die Friedenssicherung zu stellen42, so erscheint er anderen
als »Bismarck redivivus, konservativ bis in die Fingerspitzen, der eine an den
Grenzen des politisch Mφglichen orientierte aufgeklδrte Machtpolitik be
trieb«43. Von einigen Autoren wird zudem betont, daß das stresemannsche
Konzept der Revision durch wirtschaftliche Macht vor allem im Falle der territorialen Revision an seine Grenzen gestoßen wäre und er das wirtschaftliche
Potential Deutschlands überschätzt habe44. Außerdem habe er verkannt, daß
die deutschen Revisionsforderungen in letzter Konsequenz für Frankreich
nicht tragbar gewesen wären45. Zudem standen die verschiedenen Revisionsziele zueinander im Widerspruch: Damit Deutschland wieder den ihm gebührenden Platz in der Weltwirtschaft - Voraussetzung fur jeden weiteren Revisionsschritt - einnehmen und letztlich auch seine territorialen Ziele erreichen
konnte, mußte es ihm wirtschaftlich gut gehen. Ging es dem Reich jedoch
wirtschaftlich zu gut, würde das die Neigung der anderen Staaten verringern,
Deutschland in Revisionsfragen entgegenzukommen. Andererseits mußte es
Deutschland, wollte es das Revisionsziel »Verringerung der Reparationen«
verwirklichen, ökonomisch schlecht gehen. Allerdings durfte es Deutschland
wiederum nicht zu schlecht gehen, denn das hätte die innenpolitische Lage
destabilisiert und den mühsam wiederhergestellten deutschen Auslandskredit der wiederum Voraussetzung für die Revisionspolitik war - gefährdet. Diese
ökonomische Brinkmanship war allein technisch schon kaum zu meistern.
Deutsches Revisions- und französisches Sicherheitsstreben schlossen sich
zwar per se nicht aus, allerdings war die Vereinbarkeit beider Politikkonzepte
sehr begrenzt. Revision war nämlich nur dann mit der französischen Sicherheit
vereinbar, wenn sie diese nicht gefährdete. Dies bedeutete, daß die Revision
entweder auf der Ebene des Symbolischen bleiben mußte, es also zu keiner
realen Machtverschiebung zugunsten Deutschlands kommen durfte. Käme es
aber durch die Revision zu einem (tatsächlichen oder vermeintlichen) Machtzuwachs für Deutschland, dann mußte Frankreich dafür durch zusätzliche Sicherheitsgarantien kompensiert werden. Umgekehrt war Deutschland nur dann
bereit, französischen Sicherheitsforderungen entgegenzukommen, wenn dadurch die Durchsetzung von Revisionsansprüchen nicht erschwert wurde. Der
42
Siehe K R Ü G E R , Außenpolitik, S. 2 1 7 ; B E R G , Vereinigte Staaten, S. 4 2 6 .
S C H U L Z E , Weimar, S . 273. Im gleichen Sinne auch Karl Heinrich P O H L , Die »Stresemannsche Außenpolitik« und das westeuropäische Eisenkartell 1926. »Europäische Politik«
oder nationales Interesse?, in: VSWG 65 (1978), S. 511-534, hier S. 514 u. 526.
44
Siehe B E R G , Vereinigte Staaten, S. 427; N I E D H A R T , Stresemanns Außenpolitik, S. 419.
45
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 539.
43
198
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Ruhrkampf hatte jedoch gezeigt, daß weder Deutschland noch Frankreich ihre
jeweilige Politik gegen das andere Land durchsetzen konnten. Dies schränkte
die Möglichkeiten beider Seiten zur Verfolgung ihrer eigenen Politik nicht
unerheblich ein. Beide Länder waren in der Erlangung ihrer außenpolitischen
Ziele nicht autonom, sondern mußten sich mit Dritten, vor allem den USA und
Großbritannien, arrangieren. Da Frankreich aus eigener Sicht machtpolitisch
an den Grenzen des Möglichen angekommen war, war ein Mehr an Sicherheit
nur durch Dritte möglich. Konnten keine zusätzlichen Sicherheitsgarantien
erreicht werden, war der französische Handlungsspielraum, Deutschland Zugeständnisse bei der Revision zu machen, stark eingeschränkt. Der Erste
Weltkrieg hatte außerdem gezeigt, daß Sicherheit nicht ausschließlich machtpolitisch gewährleistet werden konnte. Es kam nicht nur darauf an, den
Machtzuwachs des einen durch die Stärkung des anderen zu kompensieren,
sondern Macht generell zu kontrollieren. An dieser Stelle konnte das liberale
Modell der Friedenssicherung ansetzen: Es paßte zu den Bedingungen, denen
das Verhältnis zwischen Revisionspolitik und Sicherheitspolitik unterworfen
war, und es bot die Möglichkeit, das Problem der Macht an sich zu lösen. Allerdings herrschte nur sehr bedingt Klarheit darüber, wie und unter welchen
Bedingungen dieses Modell - und besonders die kollektive Sicherheit - konkret aussehen und funktionieren sollte. Schon vor Locarno unternahm Frankreich allerdings vorsichtige Versuche, kollektive Sicherheitsstrukturen - oder
vielleicht besser gesagt: die dazu vorhandenen Ansätze - auszubauen.
4.1.3. Ansätze zur kollektiven Sicherheit: Von den ersten Versuchen
im Völkerbund zur deutschen Sicherheitsinitiative vom Februar 1925
Die Bemühungen Frankreichs, die embryonalen kollektiven Sicherheitsstrukturen - wie sie in der Völkerbundssatzung angelegt waren - weiterzuentwikkeln, können mit gewissem Recht als Versuche gewertet werden, den Völkerbund in ein verkapptes Bündnis gegen Deutschland umzuwandeln. In Paris
war man bemüht, sich einerseits durch den Völkerbund die Sicherheitsgarantien zu holen, die von den USA und Großbritannien verweigert worden waren,
und andererseits vor allem England - unter dem Dach des Völkerbunds - doch
noch fur die Sicherheit Frankreichs zu engagieren. Solange Deutschland als
der eigentliche Adressat der französischen Sicherheitspolitik nicht Mitglied
des Bunds sein würde, wäre der Völkerbund in der Tat keine kollektive Sicherheitsstruktur im Sinne der Definition, sondern - wäre es zur Durchsetzung
der französischen Vorschläge gekommen - ein System der kollektiven Verteidigung geworden. Allerdings war der Ausschluß Deutschlands aus dem Bund
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
199
nicht endg٧ltig46. Das System der kollektiven Verteidigung im Rahmen des
Vφlkerbunds, das Frankreich Anfang der 1920er Jahre vorschlug, mußten sich
also nach einem möglichen deutschen Beitritt relativ problemlos in ein kollektives Sicherheitssystem umwandeln lassen können. Insofern sind die Bemühungen Frankreichs für den Ausbau der Völkerbundsorgane auch vor dem
deutschen Beitritt für das Thema von Interesse.
Die Bemühungen der französischen Regierung zum Ausbau der kollektiven
Verteidigungs- und Sicherheitsstrukturen im Rahmen des Völkerbunds, die im
ersten Teil dieses Abschnitts dargestellt werden, bildeten den »französischen
Weg« zur kollektiven Sicherheit. Die Politik der kollektiven Sicherheit in den
1920er Jahren hatte allerdings noch eine weitere Quelle, die hier kurz als der
»deutsche Weg« zur kollektiven Sicherheit bezeichnet werden soll. Dieser
»deutsche Weg« bestand vor allem aus einem System von Schieds- und gegenseitigen Garantieverträgen und begann mit dem Vorschlag Cunos zur
Schaffung eines Rheinpakts Ende des Jahres 1922. Diese Vorschläge werden
anschließend genauer untersucht.
Die französischen Bemühungen zum Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen des Völkerbunds hatten ihren Ausgangspunkt in den Artikeln 10 bis
17 der Völkerbundssatzung47. Artikel 10 verpflichtete die Mitglieder des Bundes, die territoriale Unversehrtheit der anderen Staaten zu wahren. Artikel 11
besagte, »daß jeder Krieg oder jede Kriegsdrohung, möge dadurch eines der
Bundesmitglieder unmittelbar bedroht werden oder nicht, den ganzen Bund
angeht und daß dieser alle Maßregeln zur wirksamen Erhaltung des Völkerfriedens treffen muß«48. Artikel 11 bildete somit den Eckstein der kollektiven
Sicherheit. In den Artikeln 12 bis 15 wurde ein Schiedsmechanismus für zwischenstaatliche Konflikte etabliert, der den Krieg zwar nicht generell verbot,
bewaffnete Auseinandersetzungen aber nur noch dann erlaubte, wenn ein
vorangegangenes Schlichtungsverfahren gescheitert war. Hielt sich ein Bundesmitglied nicht an diese Bestimmungen, so wurden gegen dieses die Sanktionen des Artikels 16 verhängt. Sämtliche Bundesmitglieder verpflichteten
sich darin, gegenüber dem Vertragsbrüchigen Staat
unverzüglich [...] alle Handels- und finanziellen Beziehungen abzubrechen, ihren Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Angehörigen des Vertragsbrüchigen Staates zu verbieten
und alle finanziellen, handels- oder persönlichen Verbindungen zwischen den Angehörigen
46
Bereits in Versailles hatte die deutsche Delegation die Aufnahme in den Völkerbund gefordert, was von den Alliierten jedoch abgelehnt wurde mit der Begründung, daß die Haltung
Deutschlands zum Frieden und zum Gewaltverzicht noch nicht klar sei, siehe Mantelnote.
47
Siehe NicoSRKIHC
KRISCH, Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit, Berlin u.a. 2001 (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, 151), S. 31.
48
Art. 11 der Völkerbundssatzung.
200
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
des Staates und denjenigen jedes anderen Staates abzubrechen, gleichviel ob er dem Bunde
angehφrt oder nicht49.
Bez٧glich der militδrischen Sanktionen war die Satzung jedoch weniger kate
gorisch. Der Vφlkerbundsrat war lediglich in der Pflicht, »den verschiedenen
beteiligten Staaten vorzuschlagen, mit welchen Land, See oder Luftstreit
krδften die Mitglieder des Bunds f٧r ihr Teil zu der bewaffneten Macht beizu
tragen haben, die zur Wahrung der Bundespflichten bestimmt ist«50. Artikel 17
regelte die άbertragung der Mechanismen aus den Artikeln 1016 auf diejeni
gen Konflikte, die zwischen Mitgliedern und NichtMitgliedern des Bunds
auftreten konnten. In der Satzung des Vφlkerbunds waren also lediglich die
Prinzipien der kollektiven Sicherheit festgelegt, kaum jedoch die Mechanis
men (eine Ausnahme bildeten die relativ ausfuhrlichen Bestimmungen des
Schiedsverfahrens der Artikel 1215). Es wurden keinerlei Institutionen ge
schaffen, die die Sanktionen des Artikels 16 in die Tat hδtten umsetzen kφn
nen, zumal die Teilnahme der Mitgliedsstaaten an den militδrischen Sanktio
nen nicht automatisch, sondern nur nach dem Willen der jeweiligen Staaten
erfolgen sollte. Außerdem ließ die Satzung des Völkerbunds offen, wann der
Bündnisfall eintrat. Auch die Definition des Aggressors blieb weitgehend unverbindlich: Letztlich war deijenige Staat der Aggressor, der sich nicht dem
Schlichtungsverfahren des Völkerbunds beugte. Die Völkerbundssatzung hatte
also, was die kollektive Sicherheit betraf, nur einen weiten Rahmen geschaffen. Ein wirksames System zur Sicherung des Friedens auf Grundlage der kollektiven Sicherheit war dadurch nicht entstanden51.
Die Frage der kollektiven Sicherheit erfuhr im Völkerbund erst durch das
Problem der Abrüstung wieder verstärkte Aufmerksamkeit52. Artikel 8 der
Satzung forderte zwar, »daß die Aufrechterhaltung des Friedens es nötig
macht, die nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß herabzusetzen«53, doch
wurde die Abrüstung durch zwei wesentliche Bestimmungen im gleichen Artikel wieder relativiert. Die Abrüstung war der »nationalen Sicherheit« und
»den mit der Durchführung der durch ein gemeinsames Handeln auferlegten
internationalen Verpflichtungen«54 untergeordnet. Die Resolution XTV der
Vollversammlung etablierte eine noch engere Verbindung zwischen Abrüstung und Sicherheit. Hier wurde festgestellt, daß »[d]ans l'6tat actuel du
monde, un grand nombre de Gouvernements ne pourraient assumer la respon49
Art. 16 der Völkerbundssatzung.
Ibid.
51
Siehe JABERG, Systeme, S. 446.
52
Zur Frühphase der Abrüstungsverhandlungen im Völkerbund siehe den Artikel von Chr. L.
LANGE, La Soci6t6 des Nations et le probteme des armements, in: P. MUNCH (Hg.), Les
origines et l'ceuvre de la Soci6t6 des Nations, Bd. 2, Kopenhagen u.a. 1924, S. 416-452.
53
Art. 8 der Völkerbundssatzung.
54
Ibid.
50
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
201
sabilite d'une serieuse reduction des armements, δ moins de recevoir en
echange une garantie satisfaisante pour la securite de leur pays«55. Gemδß dieser Resolution sollten diese Sicherheitsgarantien vor allem durch ein System
der kollektiven Sicherheit erreicht werden, bestehend aus »un accord defensif,
accessible a tous le pays, qui engagerait les parties a porter assistance effective
et imm6diate, et suivant un plan preetabli«56. Die Resolution forderte zudem
die Mitgliedsstaaten und die Commission temporaire mixte57 des Völkerbunds
auf, Vorschläge zur Lösung des Sicherheitsproblems zu unterbreiten58.
Auch die Commission permanente consultative59 kommentierte die Resolution XTV60, woran sich allerdings die englische Regierung nicht und die italienische nur teilweise beteiligt hatten. Hauptaussage der Stellungnahme, die vor
allem von den Delegierten Belgiens, Brasiliens, Frankreichs und Schwedens
formuliert worden war, war, daß ein »traite general d'assistance mutuelle«61 die zeitgenössische Formulierung fur ein System der kollektiven Sicherheit nur bedingt wirksam sei und deshalb durch ein System regionaler Beistandspakte ergänzt werden solle. Die Funktion eines kollektiven Sicherheitssystems
bestand laut Commission permanente darin, dem potentiellen Angreifer zur
Abschreckung klar überlegene Kräfte entgegenzustellen, »d'empecher la guerre, et non pas de mettre progressivement en ceuvre des forces destinees ä la
gagner«62. Es müsse ferner durch schnelle Hilfe der Paktmitglieder erreicht
werden, daß das angegriffene Land nicht Opfer einer Invasion werde, und der
Beistand habe militärische Unterstützung ebenso zu umfassen wie finanzielle
und wirtschaftliche Hilfe. Um dies zu gewährleisten, müsse im Vorfeld ein
55
Resolution XIV der 3. Vollversammlung des Völkerbunds (27.9.1922), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux n6gociations concemant les gafanties de s6curit6 1924, Nr.
44, Anhang 8.
"Ibid.
57
Die Commission temporaire mixte war eine Enquete-Kommission des Völkerbunds, deren
Mitglieder nicht an Weisungen ihrer Regierungen gebunden waren. Ihre Aufgabe war es,
Studien und Vorschläge in Sachen Abrüstung für den Völkerbundsrat auszuarbeiten, vgl.
Resolution der 1. Vollversammlung des Völkerbunds (14.12.1920), teilw. abgedruckt in:
ibid. Nr. 44, Anhang 1.
58
Siehe Resolution XIV der 3. Vollversammlung des Völkerbunds (27.9.1922), ibid. Nr. 44,
Anhang 8, und Rundschreiben des Präsidenten des Völkerbundsrates (da Gama) an die Regierungen der Mitgliedsländer des Völkerbunds (o.D.), ibid. Nr. 44, Anhang 9.
59
Im Gegensatz zur Commission temporaire mixte war die Commission permanente consultative eine ständige Kommission der Bundesversammlung des Völkerbunds, in der die Mitgliedsstaaten durch weisungsgebundene Mitglieder vertreten waren. Die Aufgabe der Commission permanente war ebenfalls die Untersuchung der Abrüstungsfrage, vgl. Duroselle,
Histoire, S. 52f.
60
Zum folgenden siehe Stellungnahme der Commission permanente consultative zu den
Resolutionen XIV und XV der Vollversammlung des Völkerbunds (22.4.1923), Documents
diplomatiques. Documents relatifs aux ndgociations concemant les garanties de s£curit6
1924, Nr. 44, Anhang 11.
61
Ibid.
62
Ibid.
202
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
genauer Plan ausgearbeitet werden, damit die Sicherheitsgarantien umgehend
und effektiv griffen, und die R٧stungen aller Staaten müßten präventiv durch
Kontrollen überwacht werden, wobei diese Rüstungsbestimmungen periodisch
auf ihre Wirksamkeit überprüft werden müßten. Ein allgemeines, gegenseitiges Bündnis könne diese Bedingungen aber nicht erfüllen. Die Hauptschwächen dieser Lösung, so die Commission permanente, bestünden vor
allem darin, daß nicht schnell und effizient auf eine Bedrohung reagiert
werden könne, weil keine Einigkeit über die Definition von Aggression bestehe, und auch die »Symptome« einer Aggression nicht eindeutig interpretierbar seien. Deshalb sei es auch nicht möglich, die Verpflichtungen der
einzelnen Staaten im vornherein genau festzulegen, was wiederum die Grundlage für eine schnelle Hilfeleistung im Konfliktfall wäre. Außerdem sei davon
auszugehen, daß einzelnen Staaten gemäß ihrer unterschiedlichen Interessen
und Möglichkeiten nur bedingt zur Unterstützung bereit und fähig seien.
Weiteres Hindernis für ein effektives System der kollektiven Sicherheit sei,
daß die Mechanismen des Völkerbunds zu langsam arbeiteten, insbesondere,
weil die ersten Monate eines Konflikts entscheidend sein würden. Die Vorteile
eines allgemeinen Bündnissystems lägen lediglich auf langfristigen, vor allem
wirtschaftlichen und finanziellen Hilfeleistungen für den angegriffenen Staat.
Zur Behebung der Schwächen eines allgemeinen Bündnissystems schlug die
Commission permanente Einzel- bzw. Regionalverträge vor, die für andere
Staaten offenstehen und in Ergänzung und unter dem Dach eines allgemeinen
Vertrags abgeschlossen werden sollten. Durch solche regionale Bündnisse
würden konkrete Planungen möglich und die Verpflichtungen der einzelnen
Vertragspartner könnten genau bestimmt werden. Außerdem könne für spezifische Situationen die Aggression und die drohende Aggression genauer definiert und entsprechende Gegenmaßnahmen festgelegt werden. Konkret sollte
durch diese Regionalverträge ein gemeinsamer Generalstab gegründet und der
Umfang und die Zusammensetzung der von jedem Land zu entsendenden
Truppen, die Pläne zu deren Transport, Versorgung und Einsatz sowie wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen festgelegt werden. Nach dem Abschluß solcherlei Verträge könnten dann auch konkrete Abrüstungsschritte
festgelegt werden.
Der Vorschlag der Commission permanente war sicherlich sehr stark von
französischen Interessen inspiriert. Ziel der französischen Regierung war dabei ein europäisches Bündnissystem mit englischer Beteiligung im Rahmen
des Völkerbunds. Im Antwortschreiben der französischen Regierung zur Resolution XIV des Völkerbunds63 wiederholte Poincare die Vorbehalte gegen einen allgemeinen Vertrag und forderte ebenfalls die Ergänzung durch regionale
Abkommen, denn erst diese würden eine substantielle Sicherheitsgarantie dar-
63
Siehe Poincare an den Völkerbund (15.6.1923), ibid. Nr. 44, Anhang 12.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
203
stellen, die letztlich auch konkrete Abr٧stungsschritte erlaubten. Als weitere
Bedingung stellte der franzφsische Ratsprδsident auf, daß die neu abzuschließenden Sicherheitspakte bestehende Verpflichtungen - also vor allem den
Versailler Vertrag - nicht antasten dürften. Er präzisierte, daß der Aggressor
derjenige Staat sei, der sich nicht an die Friedensverträge hielte und die militärische oder wirtschaftliche Mobilmachung auf eigenem Territorium oder eine
heimliche Aufrüstung betreibe, wozu Poincare namentlich die »corps francs«64
zählte.
Der Völkerbund untersuchte daraufhin zwei konkrete Paktvorschläge, von
Lord Robert Cecil65 und einen weiteren, der vom französischen Oberstleutnant
Edouard Requin ausgearbeitet worden war66. In den Entwürfen wurden die
grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen der britischen und der französischen Regierung in der Sicherheitspolitik deutlich. Cecil schlug vor, erst mit
der Abrüstung zu beginnen und danach konkrete Sicherheitsgarantien zu erarbeiten. Er forderte zudem den Beitritt Deutschlands zu einem allgemeinen Sicherheitsvertrag. Er lag damit ganz auf der Linie der britischen Regierung, die
ein allzu großes und direktes Engagement vermeiden wollte, nichtsdestotrotz
jedoch an Ruhe auf dem europäischen Kontinent interessiert war.
Requin dagegen bewegte sich ganz auf der Linie der Vorschläge der Commission permanente und Poincares. Sein Entwurf befaßte sich hauptsächlich
mit der Ausgestaltung der Einzelverträge im Sinne der beiden vorgenannten
Stellungnahmen und spiegelte auch die Auffassung des französischen Militärs
wider67.
Die französische Position faßte sicherlich die Schwächen des Systems der
kollektiven Sicherheit zutreffend zusammen, vor allem, was seine Effizienz
und Reaktionsfähigkeit anging. Allerdings ist zu fragen, ob die Änderungen,
die Frankreich vorschlug, nicht die Grundannahmen der kollektiven Sicherheit
auf den Kopf stellten. Die von Frankreich geforderten regionalen Bündnisse
wären nur dann mit den Prinzipien der kollektiven Sicherheit vereinbar gewesen, wenn alle Staaten, zwischen denen ein gewisses Konfliktpotential bestand, Mitglied eines solchen Regionalpakts geworden wären. Allerdings kann
man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Regionalpakt, den Frankreich
im Sinne hatte, den eigentlichen Unruheherd - Deutschland - nicht miteinbeziehen sollte. Dies wird zwar an keiner Stelle explizit gesagt, doch gibt es
deutliche Anhaltspunkte: Der Verweis Poincares auf die »Freikorps« als Methode der heimlichen Aufrüstung und sein Beharren auf die Einhaltung des
64
Ibid.
Text des Paktvorschlags in: ibid. Nr. 44, Anhang 13.
66
Text dieses Entwurfs in: MAE 1918-1940 Y (Internationale), 506.
67
»Note au sujet de l'examen technique du projet de Convention gfe6rale d'assistance mutuelle present6 par le Lt. Colonel Requin« (ohne Unterschrift) (28.6.1923), MAE 1918-1940
Y (Internationale), 506.
65
204
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Versailler Friedensvertrags machen deutlich, daß sich die Vorschläge vor allem gegen Deutschland richteten, zumal die Aufnahme Deutschlands in das zu
schaffende System der Regionalverträge von Frankreich nicht einmal erwähnt
wurde. Die Maßnahmen, die innerhalb der Regionalbündnisse ergriffen werden sollten, wie z.B. die Schaffung eines gemeinsamen Generalstabes und eine
enge militärische Zusammenarbeit sowie die Überwachung der Abrüstungsund Entwaffnungsbedingungen, waren außerdem bereits Bestandteile eines
britisch-französischen Bündnisprojekts gewesen, das Briand am 8. Januar
1922 Lloyd George auf der Konferenz von Cannes unterbreitet hatte68. Nach
dem Regierungswechsel hatte Poincare diese Linie weiter vertreten69, während
Lloyd George weiterhin nicht bereit gewesen war, mehr als ein Defensivbündnis mit Frankreich einzugehen70.
Auf deutscher Seite wurde das Projekt Requins ebenfalls mit äußerster
Skepsis bewertet. Generalmajor Otto Hasse, Chef des Truppenamtes im
Reichswehrministerium, analysierte, das Ziel Frankreichs sei es, »Deutschland
von dem allgemeinen Garantievertrag auszuschließen, um unter Vortäuschung
einer dauernden bestehenden deutschen Gefahr die französischen Rüstungen
aufrechterhalten zu können«71 und um Deutschland weiterhin zu isolieren.
Außerdem sei die Forderung, erst Garantien zu schaffen und dann abzurüsten,
ein Manöver, um die Abrüstungsvorschläge Englands faktisch zu unterlaufen.
Deutschland, so Hasse weiter, könne nur dann einem Garantiepakt beitreten,
wenn es eine Kompensation erhielte, die »die schweren Nachteile des Beitrittes zum Garantiepakt wert wäre: Revision des Versailler Vertrags. Minimum
unserer Bedingungen« seien Garantien gegen die »französische Gewalt- und
Sanktionspolitik«72, Sicherheiten für Deutschland bezüglich des Durchmarschrechts im Falle der Anwendung von Sanktionen des Völkerbunds (Artikel 16)
und keine einseitigen, nur Deutschland betreffenden demilitarisierten Zonen.
Hasse lehnte jede Form von regionalen Garantieabkommen ab, nur ein allgemeiner Pakt sei - unter den genannten Bedingungen - akzeptabel. Es müsse
aber vermieden werden, daß Deutschland fur das Scheitern des Pakts verantwortlich gemacht würde, weil Frankreich dies als Beweis für den deutschen
schlechten Willen sehen und so die Abrüstung weiter verhindern würde: »Sache gewandter Diplomatie würde sein, unsere Bedingungen so mit der Bereit68
Siehe »Expos6 des vues du Gouvernement fran^ais sur les relations francobritanniques.
Remis δ M. Lloyd George parxutsrqponmlifedcaDB
Μ. Briand« (8.1.1922), Documents diplomatiques. Documents
relatifs aux nögociations concemant les garanties de sicurite 1924, Nr. 21.
69
Siehe Poincari an Saint-Aulaire (23.1.1922), ibid. Nr. 23.
70
Vgl. ibid. und Aide-Mimoire Lloyd Georges an Briand (4.1.1922), ibid. Nr. 20, Britischer
Bündnisentwurf, abgedruckt als Anhang zu: Briand an die französischen Botschafter in London, Rom, Washington, Brüssel, Berlin und die Gesandtschaft in Warschau (13.1.1922),
ibid. Nr. 22.
71
Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A VIE, Nr. 121, siehe auch zum folgenden.
72
Ibid.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
205
Willigkeit zu einem idealen Garantievertrag und zu einem idealen Vφlkerbund
zu verbinden, daß wenigstens in den Augen aller Neutralen den Westmächten
Stoff zu zugkräftiger Propaganda gegen uns genommen ist«73.
Ausgehend von den Paktvorschlägen Cecils und Riquins legte die Commission temporaire mixte einen Entwurf vor, der vor allem auf dem Entwurf
Requins fußte, aber auch Elemente des Cecil-Plans inkorporierte74. Die dritte
Kommission der Bundesversammlung - unter Vorsitz des polnischen Außenministers Skirmunt mit seinem tschechoslowakischen Kollegen Beneä als Berichterstatter, die beide aufgrund der engen Verbindungen ihrer Länder zu
Frankreich den französischen Vorstellungen sicherlich recht nahe gestanden
haben dürften - überarbeitete diesen Entwurf75 leicht. Er wurde schließlich
einstimmig am 19. September 1923 von der Bundesversammlung angenommen76. Allerdings fand der Entwurf Beneä und Skirmunts nicht die Unterstützung der einzelnen Mitgliedsstaaten und wurde nicht weiter verfolgt77. Vor
allem die englische Regierung verweigerte ihre Zustimmung78.
Damit war aber die Idee, den Völkerbund zu einem Organ kollektiver Sicherheit auszubauen, nicht tot. Im Gegenteil, durch den Regierungsantritt
MacDonalds Anfang 1924 kam Bewegung in die bis dahin skeptische und
vorsichtige Haltung der britischen Regierung. MacDonald sah in sich antagonistisch gegenüberstehenden Bündnissen die größte Gefahr für den Frieden,
und nur eine kollektive Sicherheitsstruktur im Rahmen des Völkerbunds konnte seiner Ansicht nach zu einer wirklichen und dauerhaften Befriedung Europas führen79. In einem auch veröffentlichten Briefwechsel zwischen ihm selbst
und Poincarö legte er die Ziele seiner Politik dar: Ausgehend von der Überzeugung, daß »das Problem der Sicherheit nicht allein ein französisches Problem ist«, sondern ein »europäisches«80, müsse als Fernziel die allgemeine
Abrüstung und Schiedsgerichtsbarkeit angestrebt werden. Bis dies erreicht sei,
solle versucht werden, die Lage in Europa durch Entwaffnung und die Schaffung neutraler Zonen zu stabilisieren. Dem Völkerbund maß er bei allen Maß73
Ibid.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift für den Minister (1.10.1923), Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nigociations concernant les garanties de söcuritö 1924,
Nr. 44.
75
Siehe »Extrait du rapport de la troisifeme Commission ä la quatri&ne Assemblöe« [o.D.],
ibid. Nr. 44, Anhang 17.
76
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift fiir den Minister (1.10.1923), ibid. Nr. 44; Auszug
aus dem Protokoll der 19. Sitzung der Bundesversammlung (29.9.1923), ibid. Nr. 44, Anhang 18.
77
Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.195), ADAPrN
Α ΧΠ, Nr. 137; Marie-Renöe MOUTON, La
Soci6t6 des Nations et les intörets de la France, Bern u.a. 1995 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3, 628), S. 309-312.
78
Siehe TOWLE, British Security Policy, S. 137f.
79
Siehe Sthamer an AA (24.1.1924), ADAP A I X , Nr. 110; WURM, Sicherheitspolitik, S. 61.
80
MacDonald an PoincarS (21.2.1924), MAE PAAP 261, 3.
74
206
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
nahmen eine zentrale Rolle zu81. Poincare stand diesen Vorschlδgen positiv
gegen٧ber, wobei er jedoch besonders betonte, daß durch diese Vorschläge
eine substantielle Verbesserung der Sicherheitslage erreicht werden müsse82.
Am 22. Februar 1924 unternahm der französische Botschafter in London,
Saint-Aulaire, eine entsprechende Demarche bei der britischen Regierung83.
Zu weitergehenden Schritten kam es jedoch zunächst nicht. Der Dawes-Plan
bestimmte die Diplomatie und ein geplantes Treffen zwischen MacDonald und
Poincare am 19. Mai 1924 kam nicht mehr zustande, nachdem Poincare zuvor
in den Kammerwahlen dem Linkskartell unterlegen war84.
Der neue französische Ministerpräsident Herriot versuchte, stärker noch als
sein Vorgänger, durch eine internationale Lösung im Rahmen des Völkerbunds zu einer Verbesserung der französischen Sicherheitslage zu kommen,
wobei er sich zunächst vor allem auf das Requin-Projekt stützte, dem die englische Seite jedoch mit Vorbehalten begegnete85. In den Gesprächen in Chequers am 21. und 22. Juni 1924 zwischen Herriot und MacDonald spielte die
Sicherheit ebenfalls eine wichtige Rolle86. Allerdings kamen die beiden Regierungschefs zu keinen konkreten Absprachen in dieser Frage: Man beschloß
lediglich, die anstehenden Probleme nacheinander zu lösen, wobei zuerst eine
Lösung für die Reparationen, anschließend fur die Kriegsschulden und erst
danach für die Sicherheitsfrage gefunden werden sollte87. Auch beim englischfranzösischen Gipfel vom 9. Juli 1924, der der Vorbereitung der Londoner
Konferenz dienen sollte, kam es zu keinen wesentlichen Fortschritten88.
Neuerliche Versuche der französischen Regierung, auf der Londoner Konferenz im August 1924 die Sicherheitsfrage ins Gespräch zu bringen, waren
ebenfalls ohne durchschlagenden Erfolg geblieben: Am 11. August 1924 legte
die französische Delegation in London der englischen Regierung ein Memorandum zur Sicherheitsfrage vor89. Darin stellte die französische Regierung
fest, daß der Versailler Vertrag nicht ausreiche, um die Sicherheit Frankreichs
zu gewährleisten und Frankreich zudem einen Anspruch auf zusätzliche Sicherheitsgarantien habe, da die amerikanischen und englischen Bestandspakte
im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag nicht zustande gekommen seien. Frankreich forderte außerdem die strikte Durchführung des Versailler Vertrags, also vor allem die Beibehaltung der Besetzung des Rheinlands und die
81
Siehe ibid.
SiehezvutsrponmlkihgfedcbaZYWVUTSRPONMKJECBA
ΒΑΚίέΤΥ, Relations francoallemandes, S. 296.
83
Vgl. SaintAulaire an Poincare (22.2.1924), BPPB 1 Cabet 1,187.
82
84
85
Siehe JEANNESSON, Poincare, S. 400.
Siehe BARlfiTY, Relations francoallemandes, S. 596f.
86
Zu Einzelheiten vgl. Kap. 3.2.
87
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 200.
88
Siehe gemeinsames französisch-britisches Memorandum (9.7.1924), Weißbuch Londoner
Konferenz, Nr. 9.
89
Zum folgenden siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 200-202.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
207
άberwachung der entmilitarisierten Zonen in Deutschland durch den Vφlker
bund. Außerdem wünschte Frankreich den Abschluß eines Defensivbündnisses zwischen Frankreich und England, eventuell erweitert durch Belgien und
andere Nachbarstaaten Deutschlands. Komplettiert werden sollte dieses Sicherheitsprogramm durch einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und
den Alliierten, wobei alle diese Verträge unter das Dach des Völkerbunds gestellt werden sollten. Die Absicht, die Frankreich mit dem Sicherheitsmemorandum verfolgte, war jedoch nicht in erster Linie, einen neuen Plan zur Lösimg des Sicherheitsproblems vorzulegen90. Paris wollte vor allem erreichen,
daß London, nach vagen Zusagen und der Überweisung des Problems an Experten, endlich konkret seine Position zur Sicherheitsfrage darlegte. Außerdem
versuchte die französische Regierung zu verhindern, daß England sich einseitig aus der Kölner Zone zurückzog, deren Räumung am 10. Januar 1925 anstand. In dieser Hinsicht war der Vorstoß der französischen Delegation durchaus erfolgreich: England stimmte zu, die Kölner Zone erst dann zu räumen,
wenn die deutsche Entwaffnung zweifelsfrei feststand, und daß diese nach der
Auflösung der IMKK durch ein Völkerbundsorgan überwacht werden sollte91.
Auf der Bundesversammlung des Völkerbunds kam wieder Bewegung in die
Sicherheitsfrage. In seiner Rede vor der Vollversammlung forderte MacDonald am 4. September 1924 den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, was
jedoch bei Frankreich und seinen Verbündeten nur auf mäßige Resonanz
stieß92. Am folgenden Tag legte Herriot die französischen Forderungen dar: Er
verlangte, daß Deutschland erst dann dem Völkerbund beitreten könne, wenn
es die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags erfüllt habe und
lehnte eine Änderung der Völkerbundssatzung besonders im Hinblick auf einen deutschen Ratssitz ab93. Am Ende der Bundesversammlung kam es mit
dem Genfer Protokoll vom 26. September 192494 in der Sicherheitsfrage jedoch zu einer wichtigen Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien. Das Protokoll stellte eine bedeutende Konkretisierung und Erweiterung der
in der Völkerbundssatzung nur rudimentär angelegten Organe und Maßnahmen der kollektiven Sicherheit dar. Es sah die obligatorische und lückenlose
Schlichtung durch den Völkerbundsrat vor95. Die Mobilisierung von Truppen
90
Hierzu siehe ibid. S. 202.
" Siehe BARlfiTY, Relations franco-allemandes, S. 638; Hoesch an AA (24.8.1924), ADAP
A XI, Nr. 51.
92
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 561.
93
Siehe ibid.
94
Der endgültige Text des Protokolls wurde am 26.9.1924 vorgelegt. Eine Resolution, in der
die Mitgliedsstaaten zur Annahme des Protokolls aufgefordert wurden, wurde am 2.10.1924
einstimmig verabschiedet, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg.
(1924), S. 462f. Der Text des Protokolls ist abgedruckt in: ibid. S. 464-470.
95
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPzutsronihgfecXUPNIDA
Α ΧΠ, Nr. 137; Aufzeich
nung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228.
208
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
sollte f٧r den Zeitraum der Schlichtungsverhandlungen untersagt und dies
durch den Vφlkerbund ٧berwacht werden. Die Einrichtung demilitarisierter
Zonen sollte der Krisenprδvention dienen. Auch die Definition des Aggressors
wurde verbessert: Der Aggressor war nun diejenige Partei, die den Schieds
spruch des Vφlkerbunds nicht akzeptierte, wobei die Aggression bereits dann
eintrat, wenn eine bestehende demilitarisierte Zonen verletzt wurde. Außerdem wurden die Sanktionen und die Hilfeleistungen, die der angegriffenen
Nation im Konfliktfall zukommen sollten, konkretisiert. Die Sanktionen gegen
den Aggressor und die Hilfeleistung für das Opfer sollten außerdem nicht
mehr nur einstimmig, sondern mit Zweidrittel-Mehrheit vom Völkerbundsrat
beschlossen werden können. Allerdings sollte das Protokoll erst nach erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen in Kraft treten.
Das Genfer Protokoll bedeutete einen Kompromiß zwischen der französischen und der englischen Position96: Während die Engländer der Abrüstung
Priorität einräumten, bestanden die Franzosen weiterhin darauf, daß zuerst die
Sicherheitslage verbessert werden müsse, der dann die Abrüstung folgen könne. Die im Genfer Protokoll gefundene Formel lautete: Schlichtung schafft
Sicherheit und ermöglicht so Abrüstung.
Deutschland, das als Nichtmitglied des Völkerbunds natürlich nicht an der
Ausarbeitung des Genfer Protokolls beteiligt, aber zu dessen Unterzeichnung
eingeladen worden war, lehnte das Projekt weitgehend ab. In einer Aufzeichnung aus dem Reichswehrministerium hieß es:
Als Gesamturteil ٧ber die Bestimmungen des >Protokolls< ergibt sich sonach, daί aus einer
Annahme sich f٧r Deutschland keinerlei Vorteile ergeben w٧rden. [...] Was Frankreich sucht
und durch den Völkerbund erreichen will, sind nicht Schiedsgerichte, die der Starke nicht
braucht, sondern Sicherung gegen Deutschland. Der Beistand, den ihm seine Vasallenstaaten
leisten können, genügt ihm nicht; es will ein Bündnis mit England [...] [S]ein97 eigentliches
Ziel ist die Niederhaltung Deutschlands im französischen und englischen Interesse98.
Im einzelnen wurde kritisiert, daß der Völkerbundsrat, dem eine Schlüsselposition in dem neuen Sicherheitssystem zukam, keineswegs unparteiisch, sondern einseitig zugunsten der Sieger eingenommen sei. Außerdem müsse
Deutschland unerträgliche Zugeständnisse bezüglich des Durchmarschrechts
machen, und die für das Reich inakzeptable dauerhafte Überwachung der demilitarisierten Zonen durch den Völkerbund würde endgültig anerkannt. In die
gleiche Kerbe schlug Gaus in seiner Stellungnahme zum Genfer Protokoll":
Er hob hervor, Deutschland könne dem Protokoll erst dann beitreten, wenn es
96
Siehe GlRAULT, Europe, S. 141.
Gemeint ist das Genfer Protokoll, R.B.
98
Aufzeichnung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228. Zum folgenden siehe
ibid.
99
Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPrN
Α ΧΠ, Nr. 137.
97
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
209
selbst einen Ratssitz erhalte, weil die Stellung des Rates durch das Protokoll
enorm aufgewertet w٧rde. Selbst in diesem Falle aber sei das Protokoll f٧r
Deutschland von Nachteil, weil es keine territoriale Revision mehr zuließe und
die bereits bestehenden demilitarisierten Zonen, vor allem auf deutschem Boden, sanktioniere.
Nach der Bundesversammlung des Völkerbunds im September 1924 hatte
Frankreich in der Sicherheitspolitik also wichtige Erfolge errungen: Es hatte
erreicht, daß das Junktim zwischen deutscher Entwaffnung und Überwachung
der Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags einerseits und
Räumung der Kölner Zone andererseits von Großbritannien anerkannt wurde.
Mit dem Genfer Protokoll schien außerdem ein langgehegter französischer
Wunsch in Erfüllung zu gehen: die weitgehende Garantie seiner Sicherheit
durch den Völkerbund unter Beteiligung Englands. So konnte Hoesch der
Aussage der »Neuen Zürcher Zeitung«, die Bundesversammlung in Genf habe
»dem außenpolitischen PrestigetsroieH
Herriots [Herv. i.O.] neuen Zuwachs gebracht«100, nur beipflichten:
Die Verhandlungen in Genf haben zu einem unbestreitbaren Triumph der französischen Thesen gefuhrt. Die außerordentlich glänzend und geschickt zusammengesetzte französische
Delegation hat die geistige und moralische Leitung der Versammlung bald an sich gerissen
und es damit verstanden, Frankreich nach einer langen Periode moralischer Isolierung wieder an die Spitze der europäischen Nationen zu führen101.
Allerdings: Noch war das Genfer Protokoll nicht verabschiedet. Vor allem in
England war das Unbehagen über die weitreichenden Verpflichtungen des
Protokolls groß102, so daß selbst unter einer von Labour geführten Regierung
die Annahme fragwürdig schien103. Nach dem Regierungswechsel in Großbritannien im November 1924104, der die Konservativen mit Baldwin als Premierminister an die Macht brachte, wurde die Annahme des Protokolls durch
London immer unwahrscheinlicher. Bereits Anfang Dezember 1924 befürchtete die französische Regierung, daß der neue britische Außenminister Austen
Chamberlain die Vereinbarung ablehnen würde und versuchte nun verstärkt,
auf dessen Durchsetzung zu drängen105. Am 4. Dezember 1924 beschloß das
Committee of Imperial Defense, das Protokoll zu verwerfen, machte diese Ablehnung aber noch nicht publik, weil englischerseits vermieden werden sollte,
als Bremser in der Sicherheitsfrage dazustehen, zumal kein schlüssiges Alter100
»Frankreich und Genf«, Neue Zürcher Zeitung (9./10.10.1924).
Hoesch an AA (6.11.1924), ADAP A XI, Nr. 146.
102
Siehe ibid.
103
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 208.
104
Zu den Hintergründen siehe Kurt KLUXEN, Geschichte Englands. Von den Anfängen bis
zur Gegenwart, Stuttgart 41991, S. 767f.
105
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.12.1924), MAE PAAP 89, 19.
101
210
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
nativkonzept vorgelegt werden konnte106. Damit war das Protokoll »>dead as
mutton or dead as nuts<«107, schon lange bevor Chamberlain φffentlich die Ab
lehnung der englischen Regierung am 12. Mδrz 1925 bekannt gab108. Gr٧nde
hierf٧r waren, wie bereits erwδhnt, die zu weitgehenden Verpflichtungen, die
das Protokoll f٧r England bedeutet hδtte, denn letztendlich hδtte England da
mit auch die Grenzen in Osteuropa sanktioniert. Außerdem sprachen sich die
Dominions gegen das Protokoll aus und man befürchtete in London, die USA
im Falle einer Annahme zu verstimmen109.
In der Forschung wurde das Genfer Protokoll weitgehend positiv gewürdigt110. Der Biograph Herriots, Berstein, sieht darin »le sommet d'action
d'Edouard Herriot«111, dem es gelungen sei, pazifistische Ideale mit den Bedürfnissen der Sicherheitspolitik zu vereinen: »l'idee du Protocole represente
l'avancee la plus concrete des principes wilsoniens de securite collective et la
seule tentative s6rieuse pour les faire sortir du domaine de la phraseologie officielle«112. Das weitere Schicksal des Genfer Protokolls war aber auch kennzeichnend für das Dilemma der französischen Sicherheitspolitik in den 1920er
Jahren: Sicherheit ließ sich nur zusammen mit England erreichen, England
jedoch widersetzte sich den französischen Bündnisavancen hartnäckig. An der
britischen Verweigerung scheiterten letztendlich alle Versuche, den Völkerbund als Organ der kollektiven Sicherheit auszubauen.
Bezüglich der Sicherheitspolitik versuchte Frankreich, zum Teil parallel,
zum Teil in Ergänzung und zum Teil im Widerspruch zu den anderen beiden
möglichen Strategien - die Politik der Stärke und der Bündnispolitik - , am
Ausbau der kollektiven Sicherheit im Rahmen des Völkerbunds mitzuwirken.
Dies geschah nicht aus Uneigennutz: Da sich Frankreich langfristig nicht in
der Lage sah, Deutschland im Zaum zu halten - und eine Politik der Stärke
somit dauerhaft scheitern mußte - und vor allem Großbritannien sich nicht bereit fand, Bündnisverpflichtungen einzugehen, versuchte es, durch den Ausbau
der kollektiven Sicherheit die als notwendig empfundenen Garantien für seine utsriec
securite zu schaffen. Auch hierbei ging es Frankreich weniger um das Prinzip
der kollektiven Sicherheit selbst als um die Verwirklichung nationaler Ziele:
Die Vorschläge Frankreichs, ob es sich nun um das Projekt Requins oder das
Genfer Protokoll handelte, hatten zumindest implizit eine antideutsche Spitze.
106
Siehe Jon JACOBSON, Locarno Diplomacy. Germany and the West, 19251929, Princeton
1972, S. 14f.
107
Dufour an Schubert (22.1.1925),zyutsrqponmlkihgfedcbaWUTSRPNMLIHGEDBA
ΡAAA R, 19304.
108
Siehe Hoesch an AA (13.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 164.
109
Siehe Gaiffier an Hymans (10.3.1925), Documents diplomatiques beiges 19201940. La
politique de s6curit6 extöieure, Bd. Π: 19251931.
110
Siehe z.B. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 62; BERSTEIN, Herriot, S. 121;
GIRAULT, Europe, S. 124f.; WURM, Sicherheitspolitik, S. 204f.
111
BERSTEIN, Herriot, S. 120.
1,2
Ibid. S. 121.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
211
Die franzφsische Politik konnte sich also nicht ganz dem Vorwurf entziehen,
sie habe die kollektive Sicherheit benutzt, um letztendlich doch herkφmmliche
B٧ndnispolitik die Politik der kollektiven Verteidigung zu betreiben. Diese
Kritik ist meines Erachtens nicht vφllig haltlos, greift aber zu kurz: Deutsch
land war aus den Plδnen Frankreichs nie explizit ausgeschlossen, so daß das
Genfer Protokoll, wäre es verabschiedet worden, nach dem möglichen Beitritt
Deutschlands zum Völkerbund durchaus zu einem System kollektiver Sicherheit hätte werden können. Natürlich hatte Frankreich versucht, dieses System
nach seinen Gunsten und Vorstellungen zu gestalten: Die demilitarisierten
Zonen hätten vor allem Deutschland betroffen, und die territoriale Revisionspolitik wäre ein für alle Mal vom Tisch gewesen.
Letztendlich jedoch scheiterte der Ausbau des Völkerbunds zu einem Organ
der kollektiven Sicherheit - der französische Weg zur kollektiven Sicherheit nicht an Deutschland, sondern vor allem an Großbritannien, das sich zu weitgehenden Verpflichtungen nicht in der Lage sah. Da Frankreich aber außerstande war, seine Sicherheit allein zu gewährleisten und Großbritannien neue
Sicherheitsgarantien verweigerte, war die französische Sicherheitspolitik Ende
des Jahres 1924 in eine Sackgasse geraten. Alle drei möglichen Sicherheitspolitiken waren blockiert: Kollektive Sicherheit und Bündnispolitik scheiterten
an der mangelnden Bereitschaft des potentiell wichtigsten Verbündeten, England. Die Politik der Stärke, die langfristig wegen des gewaltigen wirtschaftlichen Potentials Deutschlands keinen Erfolg haben konnte, war ebensowenig
erfolgversprechend - zumal sich Paris nach dem Ruhrkampf auch international verpflichtet hatte, diese Politik nicht mehr weiter zu verfolgen. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom 9. Februar 1925, die zu den Verträgen von Locarno führte und im nächsten Kapitel dargestellt wird, war vor allem auch
deshalb erfolgreich, weil alle anderen französischen Sicherheitsstrategien
blockiert waren.
Anders als die französische Strategie zur kollektiven Sicherheit, die vor allem auf den Völkerbund setzte, bestand die deutsche Sicherheitspolitik nach
dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich darin, ein Netz bilateraler Schiedsverträge - im Westen später ergänzt um einen »Rheinpakt« - aufzubauen. Die Konzentration der deutschen Politik auf die Schiedsgerichtsbarkeit war deshalb
erstaunlich - und dies ist als eine große methodische Neuerung der Diplomatie
des AA zu sehen —, weil sich das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg
auf den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 »konsequent
abweisend gegenüber jeder Einschränkung der selbstherrlichen Souveränität
bei der Entscheidung über Krieg und Frieden und über die Anwendung
schiedsgerichtlichen Verfahrens«113 gezeigt hatte.
113
Peter KRÜGER, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt, in: VfZG 22 (1974), S. 227-257, hier S.
233. Zu den Haager Friedenskonferenzen siehe auch: Jost DÜLFFER, Frieden als Herausfor-
212
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Die deutsche Politik schlug nach dem Weltkrieg den Weg zum Ausbau der
Schiedsgerichtsbarkeit vor allem deshalb ein, weil sie generell dem Vφlker
bund wenig Vertrauen entgegenbrachte und ihn vor allem als Organ der Sieger
betrachtete, durch das diese Deutschland ihre Politik aufzwingen wollten114.
Durch die Schiedsvertragspolitik konnte man dagegen Friedenswillen demon
strieren und trotzdem Abstand zum Vφlkerbund wahren. Da Sicherheitspolitik
an sich kein Imperativ deutscher Außenpolitik, sondern nur eine Funktion der
Revisionspolitik war, durfte sie das Hauptziel deutscher Politik, die Revision,
so wenig wie möglich behindern bzw. sollte die Erreichung dieses Zieles erst
ermöglichen115. Anders als das französische Sicherheitskonzept ermöglichte
die Schiedsgerichtsbarkeit eine Politik des friedlichen Wandels, aus deutscher
Perspektive also Revision. Aus Sicht des AA mußte sie deshalb notwendigerweise auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen, was vor allem die Aufhebung einseitiger Bestimmungen des Versailler Vertrags zu Deutschlands Ungunsten, wie z.B. die Demilitarisierung des Rheinlandes und einiger
Grenzgebiete - wiederum ein Revisionsziel! - beinhaltete116.
Die zweite Komponente deutscher Sicherheitspolitik, der Rheinpakt, wurde
Ende des Jahres 1922 erstmals ernsthaft von der Reichsregierung ins Auge
gefaßt. Dadurch sollte die Politik des friedlichen Wandels, die in der Schiedsvertragspolitik zum Ausdruck kam, abgesichert werden, indem auf das französische Sicherheitsbedürfnis stärker Rücksicht genommen wurde. Das AA forderte in einem Telegramm vom 13. Dezember 1922 den deutschen Botschafter in Washington, Wiedfeldt, auf, bei der amerikanischen Regierung
eine Demarche folgenden Inhalts zu unternehmen117: Die USA sollten den am
Rhein interessierten Mächten Deutschland, Frankreich, England und Italien
(Belgien wurde nicht genannt) vorschlagen, daß diese sich »gegenseitig zu
treuen Händen der Regierung der Vereinigten Staaten« für »ein Menschenalter
ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung keinen Krieg gegeneinander [zu] führen«118 verpflichteten. Um die Akzeptanz des Vorschlags vor
allem bei Frankreich zu erhöhen, versuchte die Reichsregierung, die amerikanische Regierung dazu zu bewegen, die Initiative zu übernehmen. Der amerikanische Außenminister Hughes unterbreitete dem französischen Botschafter
derung. Die Instrumentalisierung der Haager Friedenskonferenzen in der Großmächtepolitik,
in: Jacques BARliTY, Antoine F l e ur y (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern
u.a. 1987, S. 201-221. Zur deutschen Position siehe insbes. ibid. S. 208-212.
114
So zmVBA
.B. Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vm, Nr. 121; Aufzeichnung ohne Unterschrift [12.12.1924], ADAP A XI, Nr. 228.
115
Siehe Aufzeichnung Gaus (5.3.1925), ADAPzutsronmlihgfedcbaSRNMCA
Α ΧΠ, Nr. 137.
116
Siehe Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, ΡAAA R, 70103, S. 108.
117
Siehe ibid. S. 67f.; AdR Cuno, Nr. 42, Anm. 9.
118
Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, ΡAAA R, 70103, S. 67f.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
213
in Washington Jusserand das Projekt jedoch als deutschen Vorschlag119. Poin
care reagierte skeptisch auf die Initiative120: Er lehnte es ab, das Volk ٧ber
Krieg und Frieden abstimmen zu lassen, was im Gegensatz zur franzφsischen
Verfassung st٧nde. Außerdem könne man den Deutschen nicht trauen - wenn
sie Krieg wollten, würden sie ihn führen, mit oder ohne Volksabstimmung.
Allerdings erkundigte sich Jusserand, wie sich die USA konkret an einem solchen Vertrag beteiligen würden, also ob die Vereinigten Staaten bereit wären,
als Garantiemacht aufzutreten. Hughes stellte jedoch umgehend klar, daß die
USA nicht an eine Garantie dächten, sondern nur als moralische Instanz einbezogen werden wollten. Dadurch hatte der deutsche Vorschlag für Frankreich
jeden Charme verloren:zwvutsrponmlkihgfedcbaWVSRLFD
»Der deutsche Versuch, Frankreich von einer aggressiven Wendung seiner Reparationspolitik durch eine sensationelle Lösung der
Sicherheitsfrage abzulenken [!], war misslungen [Herv. i.O.]«121.
In der Analyse der Sicherheitsinitiative und ihres Scheitems122 kam die
deutsche Seite außerdem zu dem Schluß, daß es ein Fehler gewesen sei, die
Dauer des Vertrags auf ein »Menschenalter« festzulegen. Diese Formulierung
war deutscherseits zwar als dehn- und verhandelbarer Begriff gedacht, wurde
jedoch von Poincard sofort als zeitlich zu eng begrenzt interpretiert. Auch die
Volksabstimmung, die von der Reichsregierung als Verstärkung der Sicherheitsgarantie ins Spiel gebracht worden war, wurde in Paris im Gegenteil als
Aufweichung des Vorschlags gesehen. Die Geheimhaltung des Vorschlags vor
England und Italien, die zwar beide Vertragspartner werden sollten, aber nicht
von der deutschen Initiative informiert worden waren, wurde deutscherseits
ebenfalls selbstkritisch für das Scheitern verantwortlich gemacht, denn so sei
es Frankreich leichter gefallen, den Plan abzulehnen. Die fehlende amerikanische Garantie (und wohl auch das fehlende amerikanische Interesse an dem
Vorschlag) wurden auf deutscher Seite jedoch nicht ausdrücklich als Ursache
für den mißglückten Versuch genannt.
Obwohl der Sicherheitspakt also faktisch schon Ende 1922 gestorben war,
versuchte Cuno am 31. Dezember 1922 in einer Rede in Hamburg, dem Projekt neues Leben einzuhauchen, indem er seinen zuvor geheim gehaltenen
Paktvorschlag nun öffentlich wiederholte123. Dies scheiterte jedoch, weil die
Lage sich nicht grundsätzlich geändert hatte. Der englische Botschafter
119
Siehe ibid. S. 68. Aus der Aufzeichnung Hughes über das Gespräch mit Wiedfeldt am
15.12.1922 geht jedoch nicht hervor, daß Wiedfeldt Hughes davon überzeugen wollte, es
solle so aussehen, daß der Sicherheitspaktvorschlag amerikanischen Ursprungs sei, siehe
Aufzeichnung Hughes (15.12.1922), FRUS 1922,zutsronmlihgfedcbaZUSRPNMHFCA
Π, S. 203f.
120
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Hughes (21.12.1922), FRUS 1922, Π, S. 206f.
121
Materialien zur Sicherheitsfrage 1924, PAAAR, 70103, S. 70.
122
Zum folgenden siehe ibid.
123
Siehe Rede Cunos in Hamburg (31.12.1922), AdR Cuno, Nr. 32.
214
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
D'Abernon hatte die Rede Cunos »abfδllig kritisiert«124, wobei er sich beson
ders an dem Teil ٧ber die Volksabstimmung stieß.
Trotz des gescheiterten Versuchs, durch einen Rheinpakt die Lage an der
deutschen Westgrenze und besonders im Rheinland zu konsolidieren, gingen
im AA die Überlegungen in diese Richtung weiter. Die Reichsregierung hatte
durch ihren Vorschlag zwar nicht die Besetzung des Ruhrgebiets verhindern
können, jetzt wollte sie aber vermeiden, daß Frankreich in den besetzten Gebieten Maßnahmen ergriff, »die unsere Hoheitsrechte über die Rheinlande
weiter beeinträchtigen und deren Befreiung von der Besetzung hinausschieben«125. Außerdem befürchtete der deutsche Außenminister Rosenberg, London könnte gegenüber der französischen Machtpolitik einknicken, so daß es
den Franzosen gelänge, »die Engländer, besonders in der Frage der politischen
Sicherheiten, auf Lösungen festzulegen, die für uns unannehmbar sind«126.
In internen Überlegungen machte die deutsche Seite bedeutende Modifikationen an ihrem ursprünglichen Vorschlag127. Sie war jetzt bereit, die Vertragsdauer zu verlängern und den Passus über die Volksabstimmungen fallen
zu lassen. Ein gänzlich neues Element war ein zusätzlicher deutschfranzösischer Schiedsvertrag, so daß man zu diesem Zeitpunkt - im
März 1923 - davon sprechen kann, daß Pakt- und Schiedsvertragspolitik, die
bis dahin nebeneinander existiert hatten, zu einem Sicherheitskonzept verschmolzen wurden. Damit waren zwei wesentliche Elemente der deutschen
Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 konstituiert: Rheinpakt und Schiedsvertrag.
Am 2. Mai 1923 unternahm Cuno einen erneuten Vorstoß in der Sicherheitsfrage128, in der sich wesentliche Elemente eines Vorschlags für einen Sicherheitspakt aus der Feder Schuberts129 wiederfanden: Darin sollten sich Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, die Schweiz »und vielleicht
auch Luxemburg«130 (Belgien fehlte wiederum) verpflichten, den gegenwärtigen Besitzstand zu garantieren, wobei die Verletzung der Grenzen »als eine
Angelegenheit gemeinsamen Interesses«131 gelten sollte. Das Projekt sah außerdem die Garantie der Entmilitarisierungsbestimmungen (Art. 42 und 43 des
Versailler Vertrags) sowie einen deutsch-französischen Schiedsvertrag vor.
Der Pakt sollte auf 99 Jahre geschlossen werden. Damit waren die Volksabstimmung und die Begrenzung des Abkommens auf 30 Jahre endgültig vom
124
Rosenberg an Botschaft London (2.1.1923), ADAP A VII, Nr. 3.
Rosenberg an Botschaft London (20.3.1923), ADAP A VII, Nr. 153.
126
Ibid.
127
Siehe ibid.
128
Siehe Materialien zur Sicherheitsfrage 1924,zutrnmihgfecbVSRPNIDA
ΡAAA R, 70103, S. 70; ADAP A VII,
Nr. 213, Anm. 1.
129
Siehe Aufzeichnung Schubert (25.4.1923), ADAP Α Vü, Nr. 203.
130
Ibid.
131
Ibid.
125
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
215
Tisch. Auch schien man erkannt zu haben, daß die Vereinigten Staaten nicht
bereit waren, sich politisch oder sogar militärisch zu engagieren, weshalb auch
dieses Element fortfiel.
Allerdings, in der damaligen politischen Lage hatte der Paktvorschlag wenig
Chancen auf Verwirklichung: Frankreich fing gerade an, das Ruhrpfand in den
Griff zu bekommen, und in Deutschland zeichnete sich zunehmend die Aussichtslosigkeit des passiven Widerstandes ab. In einer Phase, in der Poincare
im Ruhrkampf dem totalen Sieg immer näher zu kommen schien, war es recht
unwahrscheinlich, daß Frankreich Deutschland entgegenkommen würde. Der
deutsche Vorstoß war ein verzweifelter Versuch, vielleicht doch noch die
USA und Großbritannien zu einer stärkeren Frontstellung gegenüber Paris zu
bewegen, was jedoch weitgehend erfolglos blieb.
Wie sehr die deutsche Politik im Spätsommer des Jahres 1923 angesichts ihrer eigenen Machtlosigkeit zu einer Politik der bloßen Gesten verurteilt war,
zeigte auch die Rede Stresemanns - inzwischen Reichskanzler und Außenminister - , die er am 2. September 1923 in Stuttgart hielt132. Er erneuerte zwar
das Paktangebot Cunos, allerdings kam es erst gar nicht zu einem »diplomatisch formulierte[n] Angebot [...] des Rheinpakts«133.
Vergleicht man die französische Strategie zur kollektiven Sicherheit (Ausbau des Völkerbunds als kollektives Sicherheitsinstrument) mit der deutschen
(kollektive Sicherheit durch Schiedsgerichtsbarkeit und [Rhein-]Pakt), so fallen zunächst folgende wichtige Unterschiede auf: In den deutschen Überlegungen spielte der Völkerbund, vor allem wahrgenommen als Bund der
»Feindstaaten«134, keine Rolle. Außerdem bezogen sich die deutschen Vorschläge lediglich auf die deutsche Westgrenze, während die französischen Projekte auf eine universellere Anwendung, einschließlich der Grenzen in Osteuropa, abzielten. Dies hatte damit zu tun, daß Deutschland vor allem im Osten
langfristig eine Revision der Grenzen beabsichtigte - was Frankreich gerade
vermeiden wollte - , während es sich mit dem Status quo im Westen abgefunden hatte.
Dennoch gab es in den deutschen und französischen Konzepten zur kollektiven Sicherheit auch Gemeinsamkeiten, die es trotz dieser Unterschiede erlaubten, 1925 in Locarno zu einer Einigung zu kommen. Beide Strategien enthielten den Ausbau und die Institutionalisierung der Schiedsgerichtsbarkeit als
wesentliches Element. Dadurch sollten von vornherein Konflikte vermieden
werden. Beide Ansätze enthielten außerdem wesentliche Merkmale der kollektiven Sicherheit, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Auf
die unterschiedliche Reichweite wurde bereits hingewiesen: Frankreich wollte
132
Der entsprechende Passus ist abgedruckt in: Henry BERNHARD (Hg.), Gustav Stresemann:
Vermδchtnis. Der Nachlaί in drei Bδnden, Bd. 1, Berlin 1932, S. lOOf.
133
Materialien zur Sicherheitsfrage 1924,srnlfeaVSRPNHDA
ΡAAA R, 70103, S. 72.
134
Hasse an AA (27.8.1923), ADAP A Vffl, Nr. 121.
216
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
ein universelles, zumindest ganz Europa umfassendes Sicherheitssystem
schaffen, wδhrend Deutschland nur an der Garantie seiner Westgrenze interes
siert war. Wδhrend in den franzφsischen Vorschlδgen die genaue Festlegung
von Maßnahmen und Verpflichtungen für den »Ernstfall« eine Rolle spielten,
blieben diese Aspekte in den deutschen Vorschlägen weitgehend ausgeklammert. Beide Strategien zielten aber letztendlich darauf ab, ein Sicherheitssystem zu installieren, das den potentiellen Aggressor miteinbezog und ihn im
Falle einer Aggression der Sanktion aller übrigen Mächte unterwarf, wenn
auch Frankreich erst dieses System nach seinen Vorstellungen zu installieren
wünschte, bevor der potentielle Aggressor - Deutschland - zum Beitritt eingeladen werden sollte.
Wenn also die wichtigsten Elemente der Locaino-Politik schon im Jahre
1923 feststanden, wieso ist es nicht schon zu diesem Zeitpunkt, sondern erst
zwei Jahre später zu entsprechenden Verträgen gekommen? Ein Grund hierfür
wurde bereits genannt: Kollektive Sicherheit war für Frankreich nur eine von
(mindestens) zwei weiteren Strategien135, seine Sicherheit zu gewährleisten.
Dabei war sie, hinter einer soliden Bündniszusage Englands, nur die zweitbeste Lösung. In der konkreten Lage des Jahres 1923 - mit französischen Truppen an Rhein und Ruhr und Deutschland am Boden - bestand immer noch die
Option zwischen Bündnis und kollektiver Sicherheit, und die französische Präferenz lag sicherlich auf einer Allianz. Als zweiter wesentlicher Grund dafür,
daß die Politik der kollektiven Sicherheit 1923 nicht umgesetzt wurde, muß
sicherlich die fehlende angelsächsische, vor allem englische Unterstützung
genannt werden. London und Washington verweigerten sich dabei nicht nur
den Sicherheitsvorschlägen aus Paris, sondern ließen auch die Initiative aus
Berlin - den Cuno-Plan - ins Leere laufen. Selbstverständlich wirkte sich auch
die noch fehlende Regelung für die schwierige Frage der Reparationen negativ
auf die Lösung des Sicherheitsproblems aus. Ein weiterer wichtiger Grund für
das Scheitern der Sicherheitspolitik im Jahre 1923 dürfte sicherlich psychologischer Natur gewesen sein. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich war durch den Krieg und den Ruhrkampf derart gespannt, daß eine Einigung schlechterdings möglich erschien. Waren die deutschen Vorschläge in
der Sicherheitsfrage ernstgemeint oder nur ein Versuch, Schlimmeres zu vermeiden und sich Verpflichtungen zu entziehen (was zum Teil ja tatsächlich
auch die deutsche Absicht war)? Zeigte der passive Widerstand nicht gerade
erst den schlechten Willen und den Revanchismus der Deutschen? Und warum
sollte Frankreich für derart vage Zusicherungen die sicher geglaubten Pfander
an Rhein und Ruhr überhaupt aufgeben? Außerdem war ein Poincare an der
135
Gemäß meinen Überlegungen in den vorangegangenen Ausführungen war eine völlig
autonome Politik der eigenen Stärke keine wirkliche Option der französischen Politik, selbst
im Ruhrkampf nicht.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
217
Spitze der franzφsischen Außenpolitik wahrscheinlich sehr viel vorsichtiger,
als es ein Herriot und ein Briand später sein sollten.
4.1.4. Die deutsche Sicherheitsinitiative vom Februar 1925 und Locarno
Trotz der bis 1922/1923 sowohl in Deutschland als auch in Frankreich angestellten Überlegungen zur Sicherheitsfrage kam es zunächst kaum zu konkreten Fortschritten. Auch das Jahr 1924 brachte zunächst wenig Bewegung hinsichtlich der sicuriti: Bis zur Londoner Konferenz standen die internationalen
Beziehungen unter dem Eindruck der Reparationsverhandlungen und des Dawes-Plans, trotz der bereits erwähnten Versuche der französischen Regierung,
die Sicherheitsproblematik anzusprechen. MacDonald und die englische Regierung konnten sich mit ihrer Position durchsetzen, das Sicherheitsproblem
bis auf die Zeit nach der Londoner Konferenz zu verschieben.
Das französische Sicherheitsmemorandum vom 11. August 1924 und das
Genfer Protokoll vom September desselben Jahres machten jedoch deutlich,
daß die Sicherheitsfrage weiterhin akut, vielleicht sogar akuter denn je war:
Der Dawes-Plan hatte zur wirtschaftlichen und politischen Konsolidierung
Deutschlands geführt und gleichzeitig die Interventionsmöglichkeiten Frankreichs geschwächt136. Die nachlassende wirtschaftliche Dynamik in Frankreich
und der Wegfall der einseitig Deutschland diskriminierenden Wirtschaftsbestimmungen des Versailler Vertrags zum 10. Januar 1925 nährten in Frankreich die Befürchtungen vor dem deutschen Wirtschaftskoloß, den Frankreich
auf Dauer nicht würde niederhalten können137.
Gleichzeitig befand sich die französische Sicherheitspolitik Ende 1924 in
einer Sackgasse: Die Machtpolitik - sowieso nie wirklich eine realistische Option - verbot sich nach dem Dawes-Plan; die BUndnisvorschläge an Großbritannien waren gescheitert; der Ausbau der kollektiven Sicherheit durch das
Genfer Protokoll war, besonders nach dem Regierungswechsel in Großbritannien im November 1924, mehr als fraglich. Wie sehr die französische Regierung in der Sicherheitsfrage mit ihrem Latein am Ende war, zeigte sich daran,
daß sie zwar seit Anfang Dezember 1924 damit rechnete, daß das Genfer Protokoll scheitern würde, ihr jedoch keine bessere Strategie einfiel, als in England weiterhin auf dessen Umsetzung zu drängen138. Weil der französischen
Politik aber neue Ideen fehlten, beharrte sie um so verbissener auf den verbliebenen Sicherheitsgarantien - also vor allem dem besetzten Rheinland. Es
war Konzeptionslosigkeit - oder vielleicht besser: die Nichtdurchführbarkeit
der bestehenden Sicherheitskonzepte - , die Paris zäh an der genauen Durch136
137
Siehe LEFFLER, Quest, S. 113.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 228f., 248.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.12.1924), MAE PAAP 89, 19.
218
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
fuhrung der deutschen Entwaffnung und an der Verzφgerung der Rδumung der
Kφlner Zone festhalten ließ139.
Neue Ideen in der Sicherheitsfrage waren allerdings auch nicht von Großbritannien zu erwarten. Einigkeit bestand in der englischen Regierung vor allem
darüber, was man nicht wollte, nämlich allzusehr auf Seiten Frankreichs in
Europa involviert zu werden, zumal Paris keine attraktiven Gegenleistungen
bieten konnte140. Ein Teil der neuen konservativen britischen Führung um
Winston Churchill, Curzon, Birkenhead und Balfour war grundsätzlich gegen
neue Zugeständnisse in der Sicherheitsfrage an Frankreich:
Almost no one outside the General Staff took the French concern for their immediate security seriously. The French, contended Lord Balfour, now the Tory elder statesman, were
>impossible people<, psychologically upset<, and indeed >rather insane<. They were >so
dreadfully afraid of being swallowed up by the tigen, he complained to the Committee of
Imperial Defence, >but yet they spend all their time poking it<141.
Andererseits erkannte der britische Außenminister Austen Chamberlain den
Nutzen, den die Stillung des französischen Sicherheitsbedürfnisses auch für
Großbritannien haben konnte, durchaus an: Solange sich Frankreich bedroht
fühle, bestehe die Gefahr, daß es durch unilaterale Aktionen den Frieden in
Europa und somit die britischen Wirtschaftsinteressen gefährde142. Im englischen Kabinett war er deshalb einer der wenigen Befürworter einer Dreierallianz zwischen Frankreich, Großbritannien und Belgien143.
Auch andere britische Vorschläge waren wenig erfolgversprechend und
gangbar: Der englische General Spears hatte vorgeschlagen, das Rheinland
und das Ruhrgebiet zu demilitarisieren und die Eisenbahnen dort dem Völkerbund zu unterstellen144, was in Deutschland, aber auch beim britischen Botschafter in Berlin, D'Abernon, auf vehemente Ablehnung stieß145. D'Abernon
selbst hatte dagegen die Neutralisierung des Rheinlandes vorgeschlagen146, die
jedoch für Deutschland nur unter ganz bestimmten Bedingungen akzeptabel
gewesen wäre147: Die Grenze des Erträglichen sei für Deutschland dann erreicht, wenn seine Souveränität über das Rheinland oder andere deutsche Gebiete eingeschränkt worden wäre: »Werde diese Grenzlinie anerkannt, so lasse
139
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 219.
Siehe Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAPzywutsrponmlkihgfedcbaYWVUTSRPONL
Α Di, Nr. 135.
141
SCHUKER, French Predominance, S. 388.
142
Siehe COHRS, Peace Settlements, S. 24.
143
Siehe WRIGHT, Stresemann and Locamo, S. 120.
144
Siehe Sthamer an AA (17.3.1923), ADAP A Vn, Nr. 149.
145
Siehe Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAP A DC, Nr. 135.
146
Siehe F. G. STAMBROOK, »Das Kind« Lord D'Abernon and the Origins of the Locarno
Pact, in: Central European History 1/3 (1968), S. 233263, hier S. 240243; Gaynor JOHN
SON, The Berlin Embassy of Lord D'Abernon, 19201926, New York 2002, S. 110.
147
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.2.1924), ADAP A DC, Nr. 146.
140
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
219
sich unschwer die Form f٧r eine Regelung finden, die eine durchaus reale
Friedensgarantie in sich schließe«148. Ein Sicherheitspakt, wie ihn Cuno 1922
und 1923 vorgeschlagen hatte, stand auf englischer Seite dagegen nicht zur
Debatte. Gerade D'Abernon, der zusammen mit Schubert Ende 1924/Anfang
1925 einer der Motoren des Loearno-Prozesses werden sollte149, sprach sich
Anfang des Jahres 1924 noch gegen die Idee eines Garantiepakts aus:
Von Garantiepakten aller möglichen Art hält er [D'Abernon, R.B.] recht wenig. Er meint
vielmehr, daß ein Abkommen, abgeschlossen allein zwischen Frankreich und Deutschland,
der von ihm oben skizzierten Art150 viel substantieller sei. Auch von einer Garantie dieses
Abkommens durch England wollte er nichts wissen, England dürfe sich an einem solchen
Abkommen nicht beteiligen. Wohl aber müsse dieses Abkommen beim Völkerbund registriert werden. Den Schlußstein würde der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund als vollberechtigter Partner bilden. Wenn überhaupt eine politische Garantie f&r Frankreich denkbar
sei, so erhalte sie Frankreich auf diesem Wege1".
Die Blockade der französischen und britischen Sicherheitspolitik drohte nun
aber zunehmend zu einem Problem für die deutsche Außenpolitik zu werden,
denn die Verzögerung der Räumung der Kölner Zone mußte die Verständigungspolitik der Reichsregierung in den Augen der rechten Opposition und
der Bevölkerung weiter diskreditieren.
Wie bereits oben dargestellt wurde, war sicherheitspolitisch als einzig greifbares Ergebnis auf der Londoner Konferenz von MacDonald und Herriot eine
Erklärung abgegeben worden, wonach die Kölner Zone erst nach einer erfolgreichen Generalinspektion durch die Interalliierte Militärkontrollkommission
geräumt werden sollte152. Am 8. September 1924 begann denn auch die Inspektion der IMKK zur Überprüfung der deutschen Entwaffnung153. Allerdings verlief sie schleppend. Hoesch beurteilte die Aussichten für die fristgerechte Räumung der Kölner Zone »nicht optimistisch«154, weil die
französische Regierung zuerst die englische Entscheidimg über das Genfer
Protokoll abwarten wollte, denn das Junktim zwischen Entwaffnung und
Rheinlandräumung war der letzte Trumpf in der Sicherheitsfrage, den Paris
hatte. Der Interimsbericht der IMKK von Mitte Dezember 1924 stellte
Deutschland dann auch, was die Entwaffnungsbemühungen anging, erwartungs- oder befürchtungsgemäß ein schlechtes Zeugnis aus. Die Botschafter148
Stresemann an Sthamer (10.3.1924), ADAP AIX, Nr. 194.
Zusammenfassend: STAMBROOK, D'Abernon.
150
R.B.: Damit sind D'Abernons eigene Vorschläge zur Neutralisierung des Rheinlands gemeint.
151
Aufzeichnung Schubert (5.2.1924), ADAP A DC, Nr. 135.
149
152
153
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 8.
Siehe ibid. S. 7. Ausführlich zur Generalinspektion vgl. Michael SALEWSKI, Entwaffnung
und Militärkontrolle in Deutschland 1919-1927, München 1966 (Schriften des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft fllr Auswärtige Politik, 24), S. 271-299.
154
Hoesch an AA (6.11.1924), ADAP A XI, Nr. 146.
220
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
konferenz lehnte am 27. Dezember 1924 folgerichtig die Rδumung der Kφlner
Zone zum 10. Januar 1925 ab und unterrichtete in einer Note vom 5. Janu
ar 1925 die deutsche Regierung davon155.
Auf diesen sicherlich nicht ٧berraschenden Schritt antwortete die Reichsre
gierung am 6. Januar 1925 mit einer Note, worin sie feststellte, daß Deutschland bereits so weit abgerüstet sei, daß es keine militärische Gefahr mehr darstelle, und das Vorgehen der Alliierten das während der Londoner Konferenz
geschaffene Klima der Kooperation schwer belaste. Zunächst versuchte Stresemann auf diese Weise, die Räumung doch noch zu erreichen und war bereit,
eine Verzögerung bis Mai 1925 hinzunehmen, wenn nur eine offizielle Erklärung über den Beginn der Räumung erfolgte156.
Im AA wurde man sich allerdings schnell klar, daß die Räumung nicht dadurch würde erreicht werden können, daß man in der Entwaffnungsfrage Entgegenkommen zeigte und man auf die Belastung der Beziehungen verwies.
Das Problem der Sicherheit war für Frankreich zu ernst und zu tiefgreifend,
als daß dadurch eine Lösung hätte erreicht werden können: »Es liegt auf der
Hand, daß Räumungs- und Entwaffnungsfrage integrierenden Bestandteil des
Sicherheitsproblems bilden und deshalb ihre endgültige Lösung wohl nur im
Rahmen dieses allgemeinen Problems finden werden«157.
Die unbefristete Verschiebung der Rheinlandräumung war jedoch für die
Reichsregierung nur der unmittelbare Anlaß, in der Sicherheitsfrage aktiv zu
werden. Für die deutsche Führung spielten auch andere Motive eine wichtige
Rolle. Stresemann sah in der Herstellung der vollständigen Souveränität
Deutschlands über sein Staatsgebiet ein wesentliches Revisionsziel und die
Räumung der Kölner Zone als den ersten Schritt hierzu158. Würde eine prinzipielle Lösung der Sicherheitsfrage erreicht werden können, könnte sich vielleicht auch ein schnelleres Ende für die Besetzung der übrigen Zonen ergeben159. Weiteres wichtiges Moment war, daß man sich von einem deutschfranzösischen Ausgleich weitere amerikanische Kredite erhoffte: Würde die
Gefahr eines deutsch-französischen Konflikts verringert, so würden sich die
amerikanischen Kapitalgeber bereit finden, mehr und zu besseren Konditionen
in Deutschland zu investieren160. Außerdem wäre das Ruhrgebiet dann besser
vor einer neuerlichen (nach dem Dawes-Plan allerdings relativ unwahrscheinlichen) französischen Militäraktion geschützt161. Aus deutscher Sicht mehrten
sich im Januar 1925 außerdem die Anzeichen dafür, daß es zu einer franzöSieheTSRPONJIHEDCBA
J A C O B S O N , Locarno Diplomacy, S. Ii.
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 585.
157
Stresemann an Hoesch (15.1.1925), ADAP A XII, Nr. 24.
158
Siehe BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 2, S. 445.
159
Siehe Gaines P O S T jr., The Civil-Military Fabric of Weimar Foreign Policy, Princeton
1973, S. 59.
160
Siehe N I E D H A R T , Stresemanns Außenpolitik, S. 4 1 7 .
161
Siehe J A C O B S O N , Locamo Diplomacy, S. 5 .
155
156
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen
221
sischbritischen Militδrallianz kommen kφnnte162. Um eine Sicherheitslφsung
auf Kosten Deutschlands zu vermeiden, mußte deshalb Deutschland die Initiative in der Sicherheitsfrage übernehmen163. Die Verzögerung der Räumung
bedeutete außerdem einen schweren Schlag für Stresemanns Westpolitik und
den drohenden Bankrott für seine seit 1923 verfolgte Politik, so daß eine Initiative in dieser Sache auch zur Frage seines politischen Überlebens und das
des ganzen Kabinetts wurde164.
Zudem waren zum Jahreswechsel 1924/25 die Rahmenbedingungen für einen Vorstoß in der Sicherheitsfrage - anders etwa als bei Cunos Paktvorschlag
Ende 1922 - wesentlich besser. In Frankreich gab es deutliche Anzeichen für
eine verständigungsbereitere Politik165, und Paris befand sich in einer schwierigen Lage: In den Schuldenverhandlungen mit England und den USA stand es
unter Druck, der Franc fiel weiter und ein Aufstand in Marokko band die französische Armee166.
Allerdings bedeutete die Sicherheitsinitiative für Deutschland nicht nur Vorteile, sondern auch viele Probleme und Unwägbarkeiten: Die beiden Vorstöße
Cunos und der Versuch Stresemanns vom September 1923 waren erfolglos
geblieben. Würde eine neue Initiative, die ja inhaltlich kaum anders aussehen
würde als die zuvor gescheiterten, überhaupt erfolgreich sein? Die Sicherheitsinitiative würde sich außerdem - das sollte sich im Laufe des Jahres 1925 bestätigen - innenpolitisch nur schwer durchsetzen lassen und beinhaltete mancherlei Risiko167: Würde sich z.B. das deutsche Vorhaben realisieren lassen,
die Revision der Ostgrenzen offenzuhalten? Welche zusätzlichen Forderungen
würde Frankreich stellen und inwieweit würde es dabei die Unterstützung
Großbritanniens finden? Diese Überlegungen spielten eine Rolle dabei, daß
die Sicherheitsinitiative erst dann eingeleitet wurde, als für die Reichsregierung definitiv feststand, daß die Kölner Zone nicht geräumt wurde.
Wie gesagt, konnte das AA bei seinem Vorstoß in der Sicherheitsfrage auf
die Überlegungen anläßlich der beiden Initiativen Cunos und auch auf die Erfahrungen, die man dabei gemacht hatte, zurückgreifen. Deshalb wurden die
USA nicht mehr direkt involviert168, was jedoch die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die deutsche Initiative paradoxerweise eher verstärkte. Wa-
Siehe Gaiffier an Hymans (4.2.1925), DDBzywvutsrponmlkihgfedcbaXVUTSRPNLIHEDC
Π, Nr. 9; BERNHARD, Stresemann: Ver
mδchtnis, Bd. 2, S. 112.
163
Siehe Stresemann an Hoesch (5.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 67.
164
SiehefSONJICBA
JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 1 If.
165
Siehe Dufour an Schubert (22.1.1925), Ρ AAA R, 29304.
166
Siehe Aufzeichnung Schubert (9.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 55.
167
Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 62.
168
Schubert hatte sich beim amerikanischen Botschafter in Berlin, Houghton, erkundigt, ob
die USA bereit seien, eine Rolle, wie sie im CunoPakt vorgesehen war, zu ٧bernehmen
(Aufzeichnung Schubert [28.1.1925], ADAP Α ΧΠ, Nr. 56). »Herr Houghton erwiderte
diesmal sehr bestimmt, das glaube er sicher nicht«, ibid. Anm. 9.
162
222
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
shington war zwar an mehr Sicherheit in Europa interessiert, f٧r ein direktes
Engagement aber nicht zu haben169. Statt dessen wurde zunδchst vor allem der
Kontakt zu Großbritannien gesucht, nachdem D'Abernon gegenüber Schubert
am 29. Dezember 1924 die Neuauflage des Cuno-Plans ins Gespräch gebracht
hatte170. Außer bei D'Abernon fand die Initiative auch bei Crowe, dem Permanent Under Secretary of State im Foreign Office, Unterstützung und die vertrauliche Behandlung, die der Cuno-Initiative in den Vereinigten Staaten verweigert geblieben war: Bereits am 20. Januar 1925 übergab Schubert
D'Abernon das deutsche Sicherheitsmemorandum171. Darin wurden die friedlichen Absichten Deutschlands beteuert und - in Anlehnung an die Vorschläge
Cunos - ein Rheinpakt vorgeschlagen, in dem sich
die am Rhein interessierten Staaten gegenseitig verpflichten, die Unversehrtheit des gegenwärtigen Gebietsstandes am Rhein als unverbrüchlich zu achten, daß sie ferner, und zwar
sowohl gemeinsam als auch jeder Staat für sich [...], die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren und daß sie endlich jede Handlung, die der Verpflichtung zuwiderläuft, als eine
gemeinsame und eigene Angelegenheit ansehen werden172.
Eine ähnliche Garantie wurde auch für die Entwaffnungsbestimmungen, also
die Artikel 42 und 43 des Versailler Vertrags, vorgeschlagen. Zusammen mit
dem Rheinpakt - so das deutsche Projekt weiter - könne ein Schiedsvertrag
abgeschlossen werden. Die Ostgrenzen wurden nur indirekt erwähnt. Hier
stellte das Memorandum, ohne explizit irgendwelche Staaten zu nennen, in
Aussicht, mit anderen Regierungen Schiedsverträge abzuschließen.
Das AA erhielt hinsichtlich seiner Initiative vorsichtig positive Signale aus
England173 und auch ein vertrauliches Gespräch zwischen Hoesch mit Painleve
in dieser Angelegenheit verlief ermutigend174.
Als jedoch Pressemeldungen die vertrauliche Behandlung der Sicherheitsinitiative bedrohten und Hinweise, daß vor allem Chamberlain die Franzosen
über die deutsche Initiative unterrichtet hatte, bekannt wurden, geriet das AA
unter Zugzwang, seinen Vorschlag auch Frankreich offiziell bekanntzumachen175. Wegen eines Autounfalls Hoeschs verzögerte sich die Ubergabe des
Siehe ManfredUTRNMKJIHGEDCBA
BERG, Die deutsche Locamopolitik und das amerikanische Interesse an
einer europäischen Friedensordnung. Implikationen für den historischen Konstellationsvergleich, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.), Deutschland in
Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert, Mannheim
1997, S. 259-270, hier S. 260.
170
Siehe Christoph M. KIMMICH, Germany and the League of Nations, Chicago 1976, S. 63.
171
Der Text des Memorandums ist abgedruckt in: Aufzeichnung Schubert (20.1.1925),
ADAPzutsronmlihgfedcbaSPNIHDCA
Α ΧΠ, Nr. 37.
172
Ibid.
173
Siehe Aufzeichnung Schubert (23.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 44. Chamberlain äußerte
sich jedoch zurückhaltend, siehe Schubert an Hoesch (31.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 60.
174
Siehe Hoesch an Schubert (24.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 48.
175
Siehe Schubert an Hoesch (31.1.1925), ADAP ΑΧΠ, Nr. 60.
169
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
223
Memorandums aber weiter177, weshalb sich das AA entschloß, die Denkschrift
am 9. Februar 1925 durch Gesandtschaftsrat Forster, anstelle des immer noch
angeschlagenen deutschen Botschafters, an Herriot zu übermitteln178. Im Gegensatz zu der ursprünglich an D'Abemon übergebenen Fassung fällt bei der
Herriot überreichten Version auf179, daß der Hinweis auf die Verknüpfung von
Entwaffhungs- und Räumungsfrage mit der Sicherheitsfrage weggelassen
wurde, während der Schlußabsatz eine wichtige Ergänzung enthielt. Dort hieß
es:
Im übrigen wird zu erwägen sein, ob es nicht ratsam ist, den Sicherheitspakt so zu gestalten,
daß er eine alle Staaten umfassende Weltkonvention nach der Art des vom Völkerbund aufgestellten >Protocole pour le riglement pacifique des diff6rends international«/180 vorbereitet
und daß er im Falle des Zustandekommens einer solchen Weltkonvention von ihr absorbiert
oder in sie hineingearbeitet wird181.
Der Fortfall des Hinweises auf den Zusammenhang zwischen Sicherheits- und
Räumungsfrage sollte natürlich bewirken, daß Frankreich den Paktvorschlag
als eine Art Kuhhandel auffassen und sofort ablehnen würde. Der Hinweis auf
die mögliche Verknüpfung mit dem Genfer Protokoll bzw. dem Völkerbund
sollte den Vorschlag für die französische Seite - die ja in den Ausbau des
Völkerbunds große Hoffnungen für mehr Sicherheit setzte - noch attraktiver
machen. Er war außerdem ein Novum in der deutschen Sicherheitspolitik: Der
Völkerbund oder das Genfer Protokoll hatten in den vorherigen Paktvorschlägen keine Rolle gespielt. Insofern stellte die deutsche Sicherheitsinitiative
nicht nur eine Wiederauflage der cunoschen Pläne von 1922/23 dar, sondern
eine bedeutende Erweiterung und Neuerung der deutschen Sicherheitspolitik182.
Welche Aufnahme fand nun die deutsche Sicherheitsinitiative in Paris? Die
französische Regierung hielt zunächst weiterhin am Genfer Protokoll fest183.
Die Idealvorstellung Herriots war eine Kombination aus dem Protokoll und
einem Beistandspakt mit Großbritannien. Für Frankreich hätte dies zwei Probleme gelöst: Auf der einen Seite hätte der Beistandspakt mit England die unmittelbare Hilfeleistung Londons im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich bedeutet. Durch das Genfer Protokoll wäre es Frankreich aber immer
noch möglich gewesen, den östlichen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Da176
Siehe ADAPzxutsronmlkihgfedcbaZXUTSRPNMKHGFEDCBA
Α XU, Nr. 73, Anm. 8.
Bereits am 4.2.1925 hatte Schubert das Memorandum an die Botschaft in Paris gesandt,
siehe ADAP Α ΧΠ, Nr. 64, Arnn. 1.
178
Siehe Forster an Schubert (9.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 81.
179
Text dieser Fassung: Aufzeichnung Schubert (20.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 37.
180
Dies ist das Genfer Protokoll, R.B.
181
Aufzeichnung Stresemann [4.2.1925], AD AP Α ΧΠ, Nr. 64.
182
Anders SCHUKER, French Predominance, S. 388.
183
Zum folgenden siehe Herriot an Fleuriau (25.1.1925), MAE PAAP 89, 15.
177
224
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
mit wδre vermieden worden, daß Großbritannien gegen seinen Willen unmittelbar in einen Konflikt in Osteuropa hineingezogen würde. Herriot wußte allerdings auch, wie unwahrscheinlich es war, daß England das Genfer Protokoll
verabschieden würde, und forderte seinen Botschafter in London, Fleuriau auf,
die englische Seite in dieser Frage nicht allzusehr zu bedrängen184. Aus diesem
Grund wirkte der letzte Satz des deutschen Memorandums, in dem die Verbindung zwischen Sicherheitspakt und Völkerbund bzw. Genfer Protokoll angedeutet wurde, sicherlich sehr positiv auf Frankreich. Eine erste Aussprache
zwischen Herriot und Hoesch über den Sicherheitspakt am 17. Februar 1925
war denn auch »über Erwarten günstig«185. Selbst bezüglich des deutschen
Vorschlags, mit Polen nur einen Schiedsvertrag abzuschließen, erhob Herriot
»ohne ausdrücklich einer derartigen Lösung zuzustimmen, keine Einwendungen«186. In einer internen »Note sur les propositions allemandes« vom
26. Februar 1926187 kam man im Quai d'Orsay zu dem Schluß, daß der deutsche Vorschlag eine gewissenhafte Prüfung verdiene: Wie der Fall Belgiens
im Ersten Weltkrieg gezeigt hätte, habe die internationale Garantie für die belgische Neutralität zwar nicht den deutschen Überfall auf Belgien verhindert,
jedoch den Kriegseintritt Englands aufgrund der übernommenen Verpflichtungen bewirkt. »[C]'est une le9on que l'Allemagne n'a pas oublie«188. Der
von Deutschland vorgeschlagene Garantiepakt bedeute also eine ernsthafte
Sicherheitsgarantie. Außerdem erleichtere der Pakt ein weitergehendes Bündnis zwischen Frankreich und Großbritannien: Erscheine es der englische Regierung weniger riskant, in einen deutsch-französischen Konflikt hineingezogen zu werden, stiege dort sicherlich auch die Bereitschaft, ein entsprechendes
Bündnis mit Frankreich abzuschließen. Lehne Paris aber die deutschen Vorschläge ab, so würde dies zu einer dramatischen Verschlechterung der französisch-britischen Beziehungen führen und ein Bündnis unmöglich machen. Allerdings müßten, so die französischen Überlegungen weiter, flankierend zu
dem deutschen Vorschlag, bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden,
um die französischen Interessen zu wahren: Bevor der Schiedsvertrag und der
Rheinpakt unterzeichnet werden könnten, müsse zunächst ein französischbelgisch-britisches Abkommen geschlossen werden. Erst dadurch würde die
Sicherheitslage Frankreichs substantiell verbessert. Die Rechte der Alliierten
aus dem Versailler Vertrag - beispielsweise das Rheinland wieder zu besetzen, falls Deutschland nicht seinen Reparations- bzw. Entwaffnungsverpflichtungen nachkäme - müßten gewahrt bleiben. Außerdem müsse Deutschland
184
Ibid.
Hoesch an Schubert (17.2.1925), ADAPutsrponmlihgfedcbaZUPNMIEA
Α ΧΠ, Nr. 99.
186
Ibid.
187
Zum folgenden siehe »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift
(26.2.1926), MAE PAAP 217, 7.
188
Ibid.
185
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen
225
vor dem Abschluß des Garantievertrags dem Völkerbund beitreten, damit
Deutschland in das ganze System der Sanktionsmechanismen, besonders des
Artikels 16 eingebunden werde. Dadurch könnten auch die Bündnisverpflichtungen Frankreichs gegenüber Polen und der Tschechoslowakei in das
Völkerbundssystem integriert werden. Ebenfalls müsse verhindert werden, daß
Deutschland die Anschlußfrage neu aufrolle.
Auffällig an der Aufzeichnung ist dreierlei: Erstens, außer der genannten
Vorbehalte entwickelte die französische Regierung keine grundsätzlich anderen Ideen in der Sicherheitsfrage. Zweitens, das Problem der Ostgrenzen nahm
in den französischen Regierungen nur eine untergeordnete Rolle ein und sollte
im Rahmen des Völkerbunds gelöst werden. Drittens, das englischfranzösische Bündnis im Quai d'Orsay stand nach wie vor im Mittelpunkt der
Überlegungen. Das deutsche Sicherheitsmemorandum wurde in erster Linie
als ein Weg gesehen, doch noch einen Beistandspakt mit Großbritannien abzuschließen, und hatte diesbezüglich also einen instrumentalen Charakter.
Wie kam es zu der vergleichsweise positiven Aufnahme der deutschen Vorschläge, obwohl der Quai d'Orsay die Intentionen, die Deutschland mit der
Sicherheitsinitiative hinsichtlich der Revisionspolitik verfolgte, weitgehend
richtig analysiert hatte189? Eine Ursache hierfür wurde bereits dargestellt: Die
französische Diplomatie war mit ihrem Latein, was die Sicherheitsfrage betraf,
am Ende. Sie klammerte sich an die vage Hoffnung, Großbritannien werde das
Genfer Protokoll- obwohl alle Anzeichen dagegen sprachen - doch noch akzeptieren. Auch die zweite Strategie der französischen Politik, das Bündnis
mit Großbritannien, schien, wie aus oben genannter Aufzeichnung deutlich
wurde, durch die Sicherheitsinitiative eher erleichtert denn erschwert zu werden. Insofern war der deutsche Vorschlag für Frankreich durchaus attraktiv. Es
gab jedoch auch noch weitere Gründe, die die Initiative der Reichsregierung
für Frankreich jetzt, Anfang 1925, interessanter machten als noch zwei Jahre
zuvor: Zeitgleich zur Sicherheitsfrage befand sich Frankreich in Verhandlungen mit den USA und Großbritannien zur Regelung der interalliierten
Kriegsschulden190. Um dort zu günstigen Ergebnissen zu kommen, mußte die
französische Regierung auch in ihrer Deutschlandpolitik stärker auf die nachgiebigere Haltung der Amerikaner und Engländer schwenken. Da aufgrund
des Verfalls des Franc Frankreich zudem dringend auf angelsächsisches
Kapital angewiesen war, verstärkte sich der Druck auf Frankreich, sich konstruktiv mit der deutschen Sicherheitsinitiative zu befassen. Eng mit der Finanzkrise hing auch ein anderes Problem zusammen, das Frankreich zu einer
kompromißbereiteren Politik gegenüber dem Deutschen Reich veranlaßte:
189
190
Vgl. ibid.
Hierzu vgl. WURM, Sicherheitspolitik, S. 237248.
226
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Frankreich plante eine umfassende Militδrreform191, um die Militδrausgaben
zu senken, seine Wirtschaft zu entlasten und den Vorw٧rfen des Auslands ge
gen einen ٧berbordenden franzφsischen Militarismus entgegenzutreten. Da
»[d]as Spannungsverhδltnis von finanziellen Mφglichkeiten und Erfordernis
sen der nationalen Verteidigung [...] somit zugunsten der Staatsfinanzen ent
schieden«192 wurde, was vor allem zu einer Verk٧rzung des Wehrdienste f٧hr
te, wurden die franzφsischen Mφglichkeiten, aus eigener Kraft eine Politik der
Stδrke gegen٧ber Deutschland durchzusetzen, weiter verringert. Diese Schwδ
chung der franzφsischen Position bedeutete aber auch, daß das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs auf andere Weise gestillt werden mußte. Die Annäherung
an Deutschland und die Verringerung potentieller Konflikte mit dem großen
Nachbarn im Osten mußten für die französische Politik deshalb zunehmend an
Bedeutung gewinnen.
Entscheidend für die französische Haltung blieb jedoch die Stellungnahme
Englands zum Sicherheitspakt. Die deutsche Sicherheitsinitiative war zunächst
für Frankreich eine nützliche Ergänzung, keinesfalls aber die erste Wahl in der
Sicherheitspolitik. Die Präferenz lag, wie gesagt, auf dem Genfer Protokoll in
Verbindung mit einem französisch-britischen Bündnis. Beidem jedoch mußte
London erst noch zustimmen. Die Signale, die der Quai d'Orsay aus England
erhielt, waren bis März 1925 vieldeutig und spiegelten die verschiedenen Auffassungen innerhalb der englischen Regierung wider: Chamberlain befürwortete zunächst ein Bündnis mit Frankreich, gerade weil das Genfer Protokoll
abgelehnt werden sollte193. In der deutschen Sicherheitsinitiative sah er vor
allem den Versuch Berlins, einen Keil in das französisch-britische Verhältnis
zu treiben194. Andere Regierungsmitglieder bzw. Parteigrößen wie Balfour,
Birkenhead oder Churchill195 und hohe Diplomaten wie D'Abernon196 und
Crowe197 wiederum lehnten ein Bündnis mit Frankreich ab und befürworteten
den deutschen Vorstoß. Die Labour-Opposition hingegen lehnte die deutsche
Sicherheitsinitiative ab und befürwortete nach wie vor das Genfer Protokoll198.
Erst die offizielle Ankündigung der britischen Regierung am 12. März 1925,
das Genfer Protokoll nicht umzusetzen, brachte Klarheit in die englische und
damit auch in die französische Politik. Die deutsche Sicherheitsinitiative wur191
Zur Militärreform siehe Henri DUTAILLY, Les illusions de la victoire, 1918-1930, in:
Andr6 CORVISIER (Hg.), Histoire militaire de la France, Bd. 3: De 1871 ä 1940, 1. Taschenbuchaufl., Paris 1997 [Erstauflage Paris 1992], S. 327-345, hier S. 339-345; WURM, Sicherheitspolitik, S. 298-342.
192
WURM, Sicherheitspolitik, S. 317.
193
Siehe Fleuriau an Herriot (16.3.1925), MAE PAAP 89, 19.
194
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 13f.
195
Siehe ibid. S. 15f.
196
Siehe STAMBROOK, D'Abernon, S. 237, 245f.
197
Siehe Dufour an Schubert (22.1.1925),utsrnlihecbaSRPNKDA
ΡAAA R, 29304.
198
Siehe Kessler an Schubert (19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 181.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
227
de f٧r die englische Regierung zu einem passablen Weg, die internen Konflik
te bez٧glich der gegen٧ber Frankreich einzuschlagenden Politik zu lφsen199.
Mittels des Sicherheitsangebotes konnte London sowohl das Genfer Protokoll
zur٧ckweisen als auch sich des Drucks aus Paris, ein B٧ndnis mit Frankreich
einzugehen, entziehen200. Die deutsche Sicherheitsinitiative hatte f٧r die engli
sche Regierung aber auch noch andere Vorteile: In London hatte man stets
befurchtet, daß ein französisch-britisches Bündnis zu einer Annäherung zwischen Berlin und Moskau fuhren könnte und so die Spaltung des Kontinents
vertiefen würde. Durch die Sicherheitsinitiative jedoch würde die Kriegsgefahr auf dem Kontinent nicht nur dadurch verringert, daß das deutschfranzösische Verhältnis verbessert, sondern auch, indem die weitere Annäherung Deutschlands an die Sowjetunion verhindert würde. Gleichzeitig konnte
die Rolle, die England im deutschen Sicherheitsvorschlag zugedacht war, englischerseits so genutzt werden, daß man als ehrlicher Makler zwischen
Deutschland und Frankreich sich das Vertrauen Frankreichs erhielt, ohne sich
zu sehr an Paris zu binden und ohne die Feindschaft Deutschlands auf sich zu
ziehen201.
Die Ablehnung des Genfer Protokolls am 12. März 1925 - und damit zusammenhängend des von Paris gewünschten trilateralen Pakts zwischen
Frankreich, Großbritannien und Belgien - löste in französischen Regierungskreisen tiefe Bestürzung aus202. Das deutsche Sicherheitsmemorandum, mit
dem man sich bis dahin in Paris eher unter dem Gesichtspunkt einer passenden
Ergänzung zum Genfer Protokoll und dem erwünschten Bündnis mit England
befaßt hatte, gewann nun eine wesentlich größere Bedeutung. Im diplomatischen Verkehr mit England hatte es bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle gespielt, vielmehr ging es - auch, weil England sich noch nicht klar zu seiner
Politik geäußert hatte und Frankreich nicht zu sehr drängen wollte - vor allem
um die Behandlung der Entwaffnungsfrage203. War in der oben erwähnten
Aufzeichnung die Rede davon, daß die deutschen Vorschläge zwar beachtenswert seien, aber einer eingehenden, nicht übereilten Prüfung bedürften,
wurde in einem »projet d'instructions« vom 12. März 1925, in dem im übrigen
die französischen Vorsichtsmaßnahmen aus der Aufzeichnung vom 26. Febru199
Ein offizieller Kabinettsbeschluß zur Unterstützung der deutschen Sicherheitsinitiative ytsrpomljih
erfolgte jedoch erst am 20.3.1925, siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 21.
200
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 276.
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 26.
202
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 262.
203
Vgl. die Aufzeichnungen aus der Hand Herriots [?] vom 4.2. und 11.2.1925 über Gespräche mit dem britischen Botschafter in Paris, Crewe, in: MAE PAAP 89, 15. Auch in den
Telegrammen von Fleuriau an Herriot vom 14.2.1925, von Herriot an Fleuriau vom selben
Tag und von Herriot an die französischen Auslandsvertretungen in London Brüssel, Rom
und Berlin (20.2.1925) fand die deutsche Sicherheitsinitiative keine Erwähnung (alle Telegramme in: MAE PAAP 89, 15).
201
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
228
ar 1925 wiederholt wurden, festgestellt, daß man sich nun ausfuhrlich mit dem
deutschen Projekt befassen müsse, weil es sonst endgültig keine Chancen
mehr für das Bündnis mit England gebe204.
In der Tat war das Sicherheitsmemorandum fur sich allein genommen für
Frankreich nur von geringem Wert. Seydoux analysierte ganz richtig, daß
Frankreich, ginge es den Garantiepakt ein, unweigerlich gefragt würde, warum
es die Besetzung des Rheinlands trotz Deutschlands freiwilliger Verpflichtungen fortsetze, warum es weiterhin auf der Überwachung der deutschen Entwaffnung bestehe und warum es sich weiterhin den Luxus einer großen Armee
erlaube, die das Budget und die Beziehungen mit dem Ausland belaste205. Gehe Frankreich allerdings nicht auf das deutsche Paktangebot ein, bemerkte
Seydoux, sei eine angloamerikanisch-deutsche Kampagne gegen Frankreich
zu befurchten, die dazu fuhren könnte, daß Frankreich seine letzten Trümpfe er dachte wohl vor allem an das besetzte Rheinland - ohne Gegenleistung
werde aufgeben müssen. Würde zudem versäumt werden, die deutschen Ostgrenzen in den Pakt einzubeziehen, werde man sich bald deutschen Revisionsansprüchen bezüglich des Korridors, Danzigs, Posens und Oberschlesiens gegenüber sehen, und auch der Anschluß werde dann bald auf der Tagesordnung
stehen206. Ähnlich wie Seydoux argumentierten Foch und Loucheur. Sie kritisierten den deutschen Vorschlag, »car il donne liberie aux Allemands de se
jeter ä l'Est. S'ils triomphent, ils retourneront contre nous et nous seront ecra,
207
ses« .
Nachdem am 12. März 1925 mit der englischen Erklärung also ein wesentliches Element der französischen Sicherheitspolitik, das Genfer Protokoll, weggebrochen war, kam es nun darauf an, die deutsche Sicherheitsinitiative so zu
modifizieren, daß sie den französischen Vorbehalten und Interessen entsprach.
Hoesch stellte hierzu fest:
Frankreich hält grundsätzlich am Genfer Protokoll fest, wäre aber bereit, inzwischen auf den
Gedanken des Abschlusses eines begrenzten Garantiepaktes einzugehen, vorausgesetzt daß
einerseits französisch-englisch-belgische Sonderabmachungen, insbesondere militärischer
Art, gleichzeitig getroffen werden, andererseits daß bezüglich deutscher Ostgrenzen eine für
Polen annehmbare Garantie gefunden wird208.
Auch der bedingungslose Beitritt Deutschlands zum Völkerbund gehörte zu
den Forderungen Frankreichs209. Um diesen Forderungen Gehör zu verschaf204
Siehe »projet d'instructions« (ohne Unterschrift) (12.3.1925), MAE PAAP 217, 7. Der
projet ist weitgehend identisch mit einem Telegramm Herriots an Fleuriau (16.3.1925), MAE
PAAP 89, 19.
205
Siehe Aufzeichnung Seydoux (28.2.1925), MAE PAAP 261, 32.
206
Siehe ibid.
207
Aufzeichnung Hymans (11.3.1925), DDBsronihecaSPNHDA
Π, Nr. 33.
208
Hoesch an AA (13.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 164.
209
Siehe Hoesch an AA (19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 180.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
229
fen, hatte Frankreich, wie gesagt, noch einen Trumpf in der Hand: die besetz
ten Rheinlande210. Was die Position Frankreichs jedoch erschwerte, war, daß
England auf den deutschen Sicherheitspakt weit weniger angewiesen war als
Frankreich. Der Trumpf der besetzten deutschen Gebiete stach - besonders in
bezug auf ein von Frankreich gewünschtes flankierendes französischbritisches Bündnis - also nur sehr bedingt211.
Im März 1925 befand sich Frankreich also hinsichtlich seiner Sicherheitspolitik in einer sehr schwierigen Situation: Außenpolitisch war der Spielraum
wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und des Drucks, den die USA und
Großbritanniens bei den Kriegsschuldenverhandlungen ausübten, gering. Dazu
kam die Angst vor internationaler Isolierung und vor dem »Verpassen« einer
letzten Chance zur Etablierung eines Sicherheitssystems, solange Deutschland
noch relativ schwach war und Frankreich noch über die - schwächer werdenden - Druckmittel aus dem Versailler Vertrag verfugte212. In der Tat ließ sich
Frankreich vor allem deshalb auf die Sicherheitsinitiative ein, weil »etwas
besser war als nichts«213.
In den folgenden Gesprächen ging es nun der französischen Seite darum, die
Vorbehalte, die bezüglich der deutschen Sicherheitsinitiative gemacht worden
waren, in die Paktverhandlungen einzubeziehen. In einem Treffen zwischen
Herriot und Chamberlain am 16. März 1925 in Paris214 standen dabei vier
Punkte im Mittelpunkt, die alle unmittelbar oder mittelbar mit der deutschen
Sicherheitsinitiative zu tun hatten215. Beide Politiker konnten sich schnell darauf verständigen, daß der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund eine Bedingung für die Unterzeichnung des Sicherheitspakts sein müsse. Einigkeit bestand auch darin, daß die Abrüstungs- und Entwaffnungsfrage nicht in den
Sicherheitspakt miteinbezogen werden dürfe. Auf den erneuten Vorschlag
Herriots, ein Bündnis zwischen Frankreich, Großbritannien und Belgien zu
schließen, antwortete Chamberlain dagegen ausweichend. Keine Einigung
konnte außerdem bezüglich der Abrüstungskonferenz erzielt werden, die der
neue amerikanische Außenminister Kellogg vorgeschlagen hatte. Hier beharrte
Frankreich weiterhin auf dem Standpunkt, daß zuerst die Sicherheitsfrage gelöst werden müsse.
Nach den französisch-britischen Konsultationen drehten sich die französischen Überlegungen vor allem um zwei Problemkreise: Die Verknüpfung von
Sicherheitspakt und Völkerbund sowie die von Deutschland angebotenen
210
Siehe Hoesch an AA (13.3.1925), ADAPutsrponmlkihedcbaWUSRPNMKHFEDCA
Α ΧΠ, Nr. 164.
" Siehe ibid.
212
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 271.
213
SCHUKER, French Predominance, S. 390; in diesem Sinne auch Hoesch an AA
(19.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 180.
214
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 274.
215
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Herriot (16.3.1925), MAE PAAP 89, 19.
2
230
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Schiedsvertrδge mit den osteuropδischen Lδndern. Nachdem das Genfer Pro
tokoll gescheitert war, gewannen letztere vor allem deshalb an Bedeutung,
weil sie einen Ersatz f٧r die verlorengegangenen Sicherheitsgarantien des Pro
tokolls bieten sollten und nahmen deshalb in den Planungen des Quai d'Orsay
ab Mδrz größeren Raum ein. So forderte Margerie von Stresemann vor allem
zweierlei von Deutschland: Erstens, die Ausweitung des Schiedsvertrags mit
Polen über den bis dahin gemachten deutschen Vorschlag hinaus und zweitens
die Ergänzung der Schiedsverträge mit den osteuropäischen Staaten durch einen Nichtangriffspakt216. Für Schubert aber waren »[b]eide Erweiterungen aus
allgemeinen politischen Gründen unmöglich«217. Auch in einem französischen
Memorandumsentwurf vom 17. April 1925 spielten diese beiden Aspekte,
Völkerbund und Ostschiedsverträge, die Hauptrolle218. Interessant an dieser
Aufzeichnung war jedoch, daß die Einbeziehung der USA, wie sie z.B. in den
Cuno-Vorschlägen und auch im Sicherheitsmemorandum angedeutet worden
war, dort von Frankreich explizit abgelehnt wurde. Die Begründung hierfür
lautete, daß eine Einbeziehung der USA den Völkerbund schwächen könnte.
Dieser Aspekt tauchte jedoch in einem späteren Entwurf nicht wieder auf219.
Eine offizielle französische Antwort auf das deutsche Sicherheitsmemorandum verzögerte sich jedoch weiter. Ein Grund hierfür war der Regierungswechsel in Frankreich. Nachdem Herriot über die Franc-Krise gestürzt war220,
wurde Aristide Briand Außenminister in der Regierung Painleve, die am
17. April 1925 ihr Amt antrat. Im AA wurde die Politik Briands skeptisch bewertet. Es sei zwar nicht anzunehmen, daß Briand versuchen werde, seine
1922 verfolgte Politik eines engen englisch-französischen Bündnisses wiederaufzunehmen, doch werde er versuchen, dem Garantiepakt »einen ausgesprochen gegen Deutschland gerichteten Charakter zu geben«221, was die Verhandlungen verlangsamen würde. Der neue französische Außenminister werde
versuchen, die Forderung nach dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund
zur Vorbedingung für den Garantiepakt zu machen222. In der Tat hatte Briand
in einem Gespräch gegenüber Hoesch am 18. April 1925 mehrfach seinen
Wunsch nach einem deutschen Beitritt zum Völkerbund wiederholt223.
216
Siehe Schubert an Botschaft Paris (21.3.1925), AD AP A XII, Nr. 191.
Ibid.
218
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (17.4.1925), MAE PAAP 217, 7.
219
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [Laroche?] (12.5.1925), MAE PAAP 261, 1. Eine
deutsche ٢bersetzung dieses Memorandums findet sich in: Materialien zur Sicherheitsfrage.
Vorlδufiger Abdruck, hg. v. Auswδrtiges Amt, Berlin 1925, Nr. 3,zutsrqponlihgfedcbaVUSRPNH
ΡAAA R, 70097.
220
Vgl. Delporte, ΠΓ Republique, S. 125f.
221
Aufzeichnung ohne Unterschrift (29.4.1924), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 6.
222
Siehe ibid.
223
Siehe Hoesch an AA (18.4.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 263.
2,7
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
231
Erst Ende Mai sah sich Hoesch in der Lage, ein »ungefδhres Bild«224 ٧ber
die zu erwartenden Antworten Frankreichs und Großbritanniens auf das deutsche Sicherheitsmemorandum zu geben. Der deutsche Botschafter in Paris
glaubte, daß Frankreich zwar dem Rheinpakt prinzipiell zustimmen, es aber
weitere Zusicherungen für den Schutz der polnischen Westgrenzen fordern
werde. Außerdem wolle die französische Regierung erreichen, daß es im Falle
eines deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen Konflikts zugunsten der
Verbündeten würde eingreifen können225. Das verstärkte Beharren Frankreichs
vor allem auf Garantien im Osten hatte dabei nicht nur seine Ursache darin,
daß das Genfer Protokoll als Eckpfeiler der französischen Sicherheitspolitik
im Osten weggefallen war, sondern auch darin, daß die französischen Verbündeten in Osteuropa verstärkt auf Sicherheitsgarantien drängten: Am
24. April 1925 wurden zwischen Polen und der Tschechoslowakei verschiedene Abkommen (u.a. ein Handels- und Schiedsvertrag sowie Rechts- und Finanzabkommen) unterzeichnet226, daneben soll es jedoch auch Geheimabsprachen gegeben haben, in denen beide Regierungen die Änderung des
territorialen Status quo und den Anschluß Österreichs an Deutschland ablehnten und die Tschechoslowakei zusagte, die polnischen Bemühungen um einen
ständigen Sitz im Völkerbundsrat zu unterstützen227. Auch die Regierungen
der Kleinen Entente formulierten auf einem Gipfeltreffen vom 9. bis
11. Mai 1925 ihre Befürchtung, daß Deutschland mit dem Sicherheitspakt die
Revision seiner Ostgrenzen beabsichtige und forderten deshalb, daß die Entwaffnung Deutschlands vollständig durchgesetzt, der territoriale Status quo in
Europa unbedingt erhalten und der Anschluß Österreichs verhindert werden
müsse228.
Die englische Position zum Sicherheitspakt faßte Hoesch wie folgt zusammen: London sei zwar bereit, den Rheinpakt zu garantieren, lehne aber eine
solche Zusage auch für die deutsche Ostgrenze ab. Allerdings, so der deutsche
Botschafter weiter, solle es Zugeständnisse dahingehend gegeben haben, daß
die englische Regierung Frankreich nicht an »einer durch die Rechtslage gedeckten Intervention«229 zugunsten der osteuropäischen Bundesgenossen hindern werde.
Die französische Antwortnote vom 16. Juni 1925230 bestätigte die Befürchtungen des AA. Zwar akzeptierte Paris grundsätzlich den deutschen Sicherheitspakt, doch wurden hinsichtlich der Ostschiedsverträge Nachbesserungen
Hoesch an AA (31.5.1925), ADAPzxutsronmlihgfedcbaXUTSRPNMIHDA
Α ΧΙΠ, Nr. 75.
Siehe ibid.
226
Siehe ADAP A XIII, Nr. 27, Anm. 1.
227
Siehe ibid. Anm. 2.
228
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [30.5.1925], ADAP A XIII, Nr. 73.
229
Hoesch an AA (31.5.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 75.
230
Text in: Materialien zur Sicherheitsfrage. Vorläufiger Abdruck, hg. v. Auswärtiges Amt,
Berlin 1925, Nr. IV, ΡAAA R, 70097.
224
225
232
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gefordert, die das AA besonders beunruhigten231, schienen sie doch die Grund
gedanken des Genfer Protokolls wiederaufzunehmen232. Neben den substanti
ellen Sicherheitsinteressen spielte dieser Aspekt auch in der φffentlichen Dis
kussion des Sicherheitspakts in Frankreich und Belgien eine wichtige Rolle.
Dort waren die Ostschiedsvertrδge das zentrale Kriterium, ob Deutschland der
RapalloPolitik abschwφren w٧rde oder nicht: gehe Deutschland nicht auf die
franzφsischen Forderungen ein, so zeige dies, »daß sich Deutschland jenen
dem Westen feindlichen Hintergedanken hingebe«233. Neben der Frage der
Ostschiedsverträge war der bedingungslose Beitritt Deutschlands in den Völkerbund - also der Verzicht Deutschlands auf die Vorbehalte hinsichtlich des
Artikels 16 der Völkerbundssatzung - die wichtigste Forderung der französischen Note234. Dies stieß in Deutschland im Hinblick auf die Beziehungen zur
Sowjetunion auf die bekannten Befürchtungen: Die Sowjetunion sah im Sicherheitspakt und Völkerbundsbeitritt einen Versuch der englischen Regierung, einen antibolschewistischen Pakt unter Einschluß Deutschlands zu
schmieden. Um dies zu verhindern, drohte Moskau im Falle eines deutschen
Nachgebens in der Frage des Artikels 16 mit einer Annäherung an Frankreich
und Polen235. Durch eine Mischung aus Drohung und Entgegenkommen versuchte die sowjetische Führung, den Aufbau einer vermeintlichen antisowjetischen Einheitsfront zu verhindern236. In ihrer Note lehnte die französische Regierung außerdem eine Änderung des Versailler Vertrags (besonders im
Hinblick auf eine vorzeitige Rheinlandräumung) ab237.
Für die deutsche Regierung war durch die französische Note eine schwierige
Lage entstanden: Die Vorbehalte Frankreichs betrafen vitale Punkte der deutschen Außenpolitik. Die Nachbesserung der Ostschiedsverträge im französischen Sinne würde eine Verringerung der Revisionsmöglichkeiten im Osten
bedeuten. Die Forderung, vorbehaltlos dem Völkerbund beizutreten, belaste
das deutsch-sowjetische Verhältnis - wiederum ein wichtiges Element der
deutschen Revisionspolitik238. Außerdem sah sich das AA zunehmender innenpolitischer Kritik an seiner Sicherheitspolitik ausgesetzt. Sogar Teile des
Kabinetts, so die Reichsminister Frenken (Z), Brauns (Z), Neuhaus (DNVP),
Schiele (DNVP) und von Kanitz (DNVP), lehnten die Politik Stresemanns
Siehe Runderlaß Stresemann (20.6.1925), ADAPzywutsrponmlihgfedcbaSRPONLKJIHEDCB
Α ΧΠΙ, Nr. 136.
Siehe Aufzeichnung Rintelen (25.6.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 159.
233
Keller an AA (4.7.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 192.
234
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 600.
235
Siehe Aufzeichnung Schubert (27.6.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 168. Inwieweit dies tatsächlich eine Option der sowjetischen Außenpolitik war, muß, da die Interessen Polens und der
Sowjetunion diametral entgegengesetzt waren, jedoch fraglich bleiben.
236
Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 110.
237
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 52.
238
Siehe ibid.
231
232
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
233
ab239. Nur Reichskanzler Luther und Verkehrsminister Rudolf Krohne unter
st٧tzten zunδchst die Politik des Auίenministers240. Kritik δuίerte auch die
Reichswehrfuhrung, namentlich von Seeckt241. Besonders die Rechte, unter
Einschluί der an der Regierung beteiligten Deutschnationalen242, entfesselte
eine Kampagne gegen die Politik Stresemanns243.
Trotz der französischen Vorbehalte und des Gegenwinds von rechts ließ die
französische Note nach Stresemanns Auffassung die »Weiterfuhrung [der]
Verhandlungen nicht völlig aussichtslos erscheinen«244. Er betonte, daß der
Wert der Sicherheitsinitiative nicht so sehr darin liege, was durch den deutschen Vorstoß an außenpolitischen Zugeständnissen erreicht werden könne,
sondern vielmehr darin, welche Gefahren dadurch von Deutschland abgewendet worden seien:
Es sei schwer, in der Φffentlichkeit zu sagen, warum unsere Aktion [die Sicherheitsinitiative,
R.B.] gut war. Die Lage war die, daß der Völkerbund im Begriff stand, die Rheinlandkontrolle zu verewigen. England mußte vom Genfer Protokoll loskommen und Chamberlain
hätte wohl nötigenfalls, um dies zu erreichen, den Franzosen zugebilligt, sich die nötigen
Garantien im Rheinland zu beschaffen. In dieser Situation hatte unser Angebot die Bedeutung, daß England von dieser Lage loskam, unsere Anregung gern ergriff und von einer drohenden starken Entente mit Frankreich losgesprengt wurde. Auf diese Weise würden wir
wahrscheinlich von den 61ements stables245 frei kommen. All dies könne man aber Frankreichs wegen in der Öffentlichkeit nicht aussprechen246.
An dieser Äußerung wird deutlich, daß die deutsche Diplomatie - und dies gilt
sicherlich nicht nur für die Sicherheitsinitiative, sondern auch für andere Teile
der Außenpolitik - ein Problem mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit hatte. Aus
Rücksichtnahme auf die schwebenden Verhandlungen zum Sicherheitspakt
konnte das AA nur bedingt auf die Angriffe vor allem aus dem rechten Spektrum reagieren. Zudem waren die Ziele der deutschen Politik vor allem defensiv - im Sinne der Verhinderung von Schlimmeren - , was die Verteidigung
der Politik noch erschwerte.
239
Siehe Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR LutherzwvutsrponmlkihgfedcbaZUSRPONMLIHGE
Ι/Π Bd. 1, Nr. 110.
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 60 lf.
241
Siehe Ministerbesprechung (24.6.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 110.
242
Siehe Aufzeichnung Stresemann (28.6.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 171; Aufzeichnung
Schubert (8.7.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 197.
243
In den Aktenbänden ΡAAA R, 70097 bis ΡAAA R, 70100 sind meist kritische Zuschrif
ten an das AA zum Sicherheitspakt gesammelt. Diese kommen von Einzelpersonen ebenso
wie von Gruppierungen, wie zum Beispiel dem Stahlhelm oder verschiedenen Vaterländischen Verbänden.
244
Runderlaß Stresemann (20.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 136.
245
Untertsnmleba
elements stables wurden dauerhafte Organe zur Überwachung der Demilitarisierung des Rheinlandes - voraussichtlich unter Aufsicht des Völkerbunds - auch nach Abzug
der Besatzungstruppen verstanden, R.B.
246
Besprechung zwischen Luther, Stresemann und Schiele (17.3.1925), AdR Luther I/II
Bd. 1, Nr. 50.
240
234
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Bei der Beantwortung der franzφsischen Note mußte die Reichsregierung also auf verschiedenste, zum Teil gegensätzliche Faktoren Rücksicht nehmen:
Den französischen Vorbehalten mußte entgegengekommen werden, ohne bei
den eigenen Ziele zurückzustecken. Dies galt vor allem in Hinblick auf die
Ostschiedsverträge und den Artikel 16 der Völkerbundssatzung, die beide im
Kontext der Revisionspolitik gesehen werden müssen. Andererseits mußte der
deutschen Öffentlichkeit und vor allem der Rechten vermittelt werden, daß der
Sicherheitspakt sehr wohl deutschen Interessen entsprach. Die deutsche Regierung mußte auf die Interessen und Befindlichkeiten der Sowjetunion ebenso
Rücksicht nehmen wie auf die Großbritanniens und der USA, und zwar nicht
nur auf die politischen, sondern auch auf die wirtschaftlichen. In der Diskussion um die Beantwortung der französischen Note legte Stresemann dar, daß
Montagu Norman, Governor der Bank of England, und Benjamin Strong, Governor der Federal Reserve Bank of New York, erklärt hätten, daß Deutschland keine US-Kredite mehr erhalten würde, falls die Sicherheitsinitiative an
den Deutschen scheitern würde247. Strong und Norman machten dies auch gegenüber Reichskanzler Luther in einer »extrem energischen Sprache«248 deutlich. Die deutsche Antwortnote vom 20. Juli 1925249 war vor allem ein Versuch, die verschiedenen Interessen, die an das AA herangetragen wurden und
die man selbst verfolgte, abzugleichen.
In der deutschen Note wurde zwar vor allem der Wille zur Einigung betont die DNVP hatte sich im Kabinett also mit der Forderung nach einer strikten
Ablehnung der für Deutschland inakzeptablen Punkte nicht durchsetzen können250 - , im Grunde genommen aber an der deutschen Position festgehalten:
Dem Beitritt zum Völkerbund wurde zwar prinzipiell zugestimmt, allerdings
wurde wieder auf das Problem des Artikels 16 verwiesen251. Auch in der Frage
der Ostschiedsverträge blieb die Kluft zwischen der französischen und der
deutschen Position bestehen, wenngleich sie sich verringerte. Zwar lehnte die
deutsche Seite nach wie vor das französische System der Schiedsverträge ab,
das eine obligatorische Schlichtung aller Streitfragen einschloß252, war aber zu
Zugeständnissen in dieser Frage bereit, die den französischen Forderungen
recht nahe kamen253. Außerdem wurden in der Note unverzügliche militärsche Sanktionen abgelehnt, falls Deutschland nicht den Demilitarisie-
247
248
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 608.
Aufzeichnung Seydoux (4.8.1925), MAE PAAP 261, 34.
Text der Note in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, hg.v. Ministerium f. Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost)
1962, Nr. 16.
250
Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1925), ADAPtsrnmihfedbaSRNLHECBA
Α ΧΠΙ, Nr. 203.
251
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 609f.
252
Siehe ibid.
253
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 294.
249
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
235
rungsbestimmungen hinsichtlich des Rheinlands nachkam254. Auch wurde
und dies war sicherlich ein Zugestδndnis gegen٧ber der an der Regierung be
teiligten DNVP der Wunsch nach einer baldigen Rδumung des Rheinlands
geäußert. Es war vor allem dieses letzte Anliegen, das auf englische und französische Ablehnung stieß255.
Insgesamt war in England allerdings bezüglich der deutschen Note eine »zufriedenstellende Wirkung zu konstatieren«256, wenngleich Chamberlain jedoch
Sthamer gegenüber äußerte, er habe »über die deutsche Antwort Enttäuschung
empfunden«257.
Auch aus Paris berichtete Hoesch zunächst Positives: »Mein Gesamteindruck aus Unterhaltung [mit Briand, R.B.] war der denkbar beste. Wie ich
schon mehrfach betont habe, besteht kein Zweifel, daß Briand Abschluß Pakt
aufrichtig wünscht«258. Allerdings, so der deutsche Botschafter weiter, sei zu
erwarten, daß bei näherer Prüfung weitere Vorbehalte französischerseits vorgebracht würden259. Zwar zeigte sich Berthelot grundsätzlich überzeugt, daß
man zu einem Ergebnis kommen werde, er kritisierte jedoch an der deutschen
Note die Stellungnahme zum Artikel 16, die Forderung nach Modifizierung
des Rheinlandregimes und das deutsche Schiedsvertragssystem260. Auch die
französische Presse reagierte skeptisch und wies auf die großen Differenzen
zwischen der deutschen und der französischen Position hin261.
Ziel der deutschen Note war es jedoch weniger, konkrete neue Vorschläge
zur Sicherheitsinitiative zu unterbreiten, sondern endlich eine Konferenz einzuberufen, um den im AA zunehmend als unbefriedigend empfundenen Notenwechsel zu beenden262. In der Frage der Ostschiedsverträge und des Artikels 16 drehten sich die Verhandlungen im Kreis und die anhaltende
öffentliche Kritik in Deutschland wurde immer lauter. Außerdem befürchtete
das AA, daß England und Frankreich sich ohne deutsche Beteiligung auf einen
Vertragsentwurf einigen könnten, der den Interessen des Reiches schaden würde263.
In der Folgezeit ging es deshalb vor allem darum, das Datum und die Rahmenbedingungen für eine sich abzeichnende Konferenz festzulegen. Die etwas
früher als vereinbarte Räumung des Ruhrgebiets zum 31. Juli 1925264 und die
254
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 609.
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 56.
Sthamer an AA (23.7.1925), AD APzutsronmihgfedcbaXSRPNLIHEDCBA
Α ΧΠΙ, Nr. 225.
257
Ibid. Anm. 7.
251
Hoesch an AA (20.7.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 219.
259
Siehe ibid.
260
Siehe Hoesch an AA (23.7.1925), ΡAAA R, 28238.
261
Siehe Hoesch an AA (22.7.1925), PAAA R, 28238.
262
Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1925), ADAP A XIII, Nr. 203.
263
Siehe Aufzeichnung Schubert (28.7.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 234.
264
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 611.
255
256
236
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Ank٧ndigung Frankreichs, auch die 1921 von den Alliierten besetzten Stδdte
D٧sseldorf, Duisburg und Ruhrort zu rδumen265, stellten dabei ein Zeichen des
guten Willens der Westmδchte, vor allem aber der Franzosen, dar, um das
Klima zu verbessern. Die Erklδrung Briands gegen٧ber von Hoesch, daß
Frankreich zwar gegenwärtig eine friedliche Änderung der polnischen Westgrenze für ausgeschlossen halte, in der Zukunft dafür aber durchaus Chancen
sehe266, dürfte in Berlin ebenfalls positiv bewertet worden sein. Der finanzielle
Druck der USA und Großbritanniens auf Deutschland und Frankreich erhöhte
zudem den Handlungszwang auf die Regierungen in Berlin und Paris: In einem Gespräch zwischen Hoesch und Briand am 6. August 1925 hatte letzterer
darauf hingewiesen, daß weder Frankreich noch Deutschland weitere Kredite
aus dem Ausland erhalten würden, wenn sie zu keiner Einigung in der Sicherheitsfrage kämen267. Als der französische Außenminister anläßlich der Vorbereitung der Regierungskonferenz vom 8. bis 10. August 1925 in London weilte, bedeutete ihm der amerikanische Botschafter in England, Houghton, daß
nur ein allgemein akzeptierter Sicherheitspakt dazu führen würde, daß die
amerikanischen Finanzleute das nötige Vertrauen haben würden, weiterhin in
Europa zu investieren268. Der Reparationsagent Parker Gilbert machte dies
auch gegenüber Seydoux deutlich269.
Da eine Konferenz immer wahrscheinlicher wurde, enthielt die neue französische Note vom 24. August 1925 zwar »keinerlei konkrete Zugeständnisse,
bringt alliierten Standpunkt aber doch in viel weniger starrer Form«270. Wichtigster Punkt war sicherlich das offizielle Angebot, in direkte Verhandlungen
über den Sicherheitspakt einzutreten271.
Um die Regierungskonferenz vorzubereiten, schlug die englische Regierung
ein Treffen zwischen Juristen aus den Außenministerien Großbritanniens,
Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Belgiens vor272, was die deutsche Seite zunächst jedoch ablehnte, da die Probleme im Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt nicht juristischer, sondern »hochpolitischer«273 Natur seien.
Nachdem sich Briand und Chamberlain auf ihrem bereits erwähnten Treffen
jedoch auf eine gemeinsame Position verständigt hatten, blieb der Reichsregie265
Siehe Schubert an Hoesch (19.7.1925), ADAPzyxwutsrponmlkihgfedcbaZXSQPNMLIEDA
Α ΧΠΙ, Nr. 214. Ein offizieller Beschluß
der Botschafterkonferenz zur Räumung der Sanktionsstädte erfolgte am 5.8.1925, siehe Stresemann an Hoesch (7.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 261; zum 25.8.1925 war die Räumung
abgeschlossen, sieheRLHECBA
BAECHLER, Stresemann, S. 611.
266
Siehe Hoesch an Stresemann (6.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 258.
267
Siehe ibid.
268
Dufour an AA (11.8.1925), ADAP A Xffl, Nr. 275. Zu den amerikanischen Interessen an
Locarno sieheRLGFEB
BERG, deutsche Locarnopolitik, S. 260f.; LEFFLER, Quest, S. 115f.
269
Siehe Aufzeichnung Seydoux (12.8.1925), MAE PAAP 261, 34.
270
Runderlaß Schubert (28.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 36.
271
Siehe ibid.
272
Siehe Stresemann an Botschaft Paris (4.8.1925), ADAP Α ΧΠΙ, Nr. 249.
273
Ibid.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
237
rung nichts anderes ٧brig, als der Juristenkonferenz zuzustimmen. Vom
31. August bis 4. September 1925 trafen sich die leitenden Juristen des AA
(Friedrich Gaus), des Quai d'Orsay (Henri Fromageot), des englischen (Cecil
Hurst), belgischen (Henri Rolin) und italienischen Außenministeriums (Massimo Pilotti) in London zu Gesprächen274. Zwar lediglich als Treffen von »rein
informatorischefm] Charakter«275 eingestuft, kam es doch hinsichtlich der Ostschiedsverträge zu einer wichtigen Einigung: Hier konnte man sich auf den
erweiterten deutschen Vorschlag verständigen276. Keine Einigung jedoch
konnte hinsichtlich des Artikels 16 der Völkerbundssatzung gefunden werden.
Hier beharrten die Deutschen weiterhin auf ihren Vorbehalten, um nicht im
Falle eines polnisch-sowjetischen Konfliktes vom Völkerbund zu einer gegen
die Sowjetunion gerichteten Intervention gezwungen werden zu können277.
Gleichzeitig erklärte die Reichsregierung gegenüber Moskau, daß es auf keinen Fall die polnischen Grenzen anerkennen werde und seine Vorbehalte gegen den besagten Artikel 16 aufrechterhalten werde, um das deutschsowjetische Verhältnis nicht zu belasten278. Ungemach drohte der deutschen
Politik aber nicht nur von den sowjetischen Interventionen und Störmanövern,
sondern wiederum vor allem aus dem rechten Spektrum. Seit Juli 1925 startete
die Rechte eine regelrechte Kampagne gegen Stresemann und seine Politik279.
Dieser versuchte u.a. mit dem berühmten »Kronprinzenbrief«280 die Kritik von
rechts zu entschärfen, was ihm aber nur mit mäßigem Erfolg gelang: In einer
Kabinettssitzung am 22. September 1925281, in der über die Antwort auf die
französische Note und den Vorschlag Briands, die Konferenz zur Sicherheitsfrage am 5. Oktober 1925 beginnen zu lassen, beraten wurde, kam es wiederum zu einem Zusammenstoß zwischen den DNVP-Ministern und Stresemann.
Während der Außenminister durch eine Verbalnote vor allem die Teilnahme
an der Konferenz bestätigen wollte, forderte Schiele (DNVP) die Übergabe
einer Note, in der die deutschen Forderungen - namentlich eine Erklärung zur
Ablehnung der deutschen Kriegsschuld, zur Entwaffnungsfrage und sofortigen
Räumung der Kölner Zone - dargelegt werden sollten. Außerdem stellten die
DNVP-Minister vier Bedingungen im Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt: Erstens sollte ein Ergebnis über die Räumung der Kölner Zone vor der
Unterzeichnung des Sicherheitspakts erreicht werden. Zweitens sollten alle
274
Siehe undatierte Aufzeichnung Gaus [2.9.1925], ADAP A XIV, Nr. 47.
Runderlaß Schubert (28.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 36.
276
SieheSRMLIHECBA
B A E C H L E R , Stresemann, S. 5 7 .
277
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 294.
278
Siehe ibid. S. 295.
279
Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S. 613f.
280
Text: Stresemann an den ehemaligen Kronprinzen Wilhelm (7.9.1925), ADAP A XIV,
Nr. 52. Der »Kronprinzenbrief« ist eine Antwort auf ein Schreiben Wilhelms an Stresemann
vom 28.8.1925 (Text in: M I C H A E L I S u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1375a).
281
Zum folgenden siehe Ministerbesprechung (22.9.1925), AdR Luther VII Bd. 1, Nr. 158.
275
238
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Formulierungen, die implizit als eine Anerkennung des territorialen Status quo
ausgelegt werden konnten, entfallen und erreicht werden, daß der Sicherheitspakt einseitig gekündigt werden könne. Drittens sollten die Ostschiedsverträge
auf rein juristische Fragen beschränkt werden, und viertens sollte an den Vorbehalten des deutschen Völkerbundsmemorandums vom September 1924, besonders bezüglich des Artikels 16, festgehalten werden. Außerdem bemühte
sich die DNVP nachdrücklich, eine Teilnahme Reichskanzler Luthers an der
Sicherheitskonferenz zu verhindern, um Stresemann anschließend allein für
die Ergebnisse verantwortlich machen zu können282.
Ganz konnte sich das AA den Forderungen der DNVP nicht entziehen, und
so warf die deutsche Note vom 26. September 1926, in der die Teilnahme an
der Locamo-Konferenz bestätigt wurde, in einer Erklärung die Kriegsschuldfrage und die Räumung der Kölner Zone auf283. Diese Erklärung stieß sowohl
bei Berthelot als auch beim englischen Außenminister Chamberlain und
dessen belgischen Kollegen Emile Vandervelde286 auf wenig Verständnis. Briand drohte sogar damit, die Konferenz platzen zu lassen, würde die deutsche
Erklärung veröffentlicht287. Letztlich konnte das Problem mit Frankreich aber
doch noch geregelt werden. Die Deutschen sollten ihre Erklärung abgeben, auf
die eine französische Erwiderung folgte288.
Nachdem diese letzten diplomatischen Hürden aus dem Weg geräumt worden waren, konnten die Regierungsdelegationen aus Deutschland, Frankreich,
Großbritannien, Belgien und Italien am 5. Oktober 1925 im Schweizer Kurort
Locarno mit den Verhandlungen zum Sicherheitspakt beginnen. Für die Ostschiedsverträge wurden auch Delegationen aus der Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen289.
Wie nach den vorangegangenen Notenwechseln zu erwarten war, waren besonders der Artikel 16290 und die Ostschiedsverträge - und hierbei besonders
der Wunsch Frankreichs, als Garantiemacht dieser Verträge einbezogen zu
werden291 - umstritten. Zunehmend rückten jedoch auch die sogenannten Nebenpunkte in die Diskussion292. Diese Nebenpunkte bzw. von Deutschland erwartete »Rückwirkungen« des Sicherheitspakts umfaßten zum einen die mög282
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 618.
Siehe Hoesch an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 90.
284
Siehe ibid.
285
Siehe Sthamer an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 88.
286
Siehe Keller an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 89.
287
Siehe Hoesch an AA (26.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 90.
288
Vgl. Hoesch an AA (29.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 100; Hoesch an Schubert (29.9.
1925), ADAP A XIV, Nr. 104.
289
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 295.
290
Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (8.10.1925), MAE PAAP 217, 105.
291
Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (11.10.1925), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 27.
292
Zu den Nebenpunkten siehe Aufzeichnung Schubert (9.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 132;
Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138.
283
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
239
liehst baldige Rδumung der Kφlner Zone, die vorzeitige Rδumung der beiden
٧brigen Besatzungszonen und die R٧ckgabe des Saargebiets. Yum anderen
verlangte Deutschland, daß die Westmächte sich bei den Entwaffhungsbestimmungen hinsichtlich der verbliebenen Restpunkte großzügig zeigen und
bei der Investigationsfrage Deutschland entgegenkommen sollten. Dabei dachte die deutsche Seite insbesondere an die Aufgabe der französischen Forderung nachtsnmleba
elements stables, also einer internationalen Organisation, die die
Demilitarisierung des Rheinlandes nach dem Ende der Besetzung Uberwachen
sollte. Auch bei der Durchführung der Rheinlandbesetzung erwartete die
Reichsregierung Erleichterungen: Die Alliierten sollten ihre Truppen reduzieren und die Besatzungsbehörden ihre Eingriffe in die Tätigkeit der deutschen
Verwaltung auf ein Minimum beschränken. Ein weiterer Nebenpunkt waren
Zugeständnisse fur Deutschland im Bereich der Zivilluftfahrt.
Erwartungsgemäß trafen diese Forderungen bei der französischen Delegation auf wenig Begeisterung: »Hierauf ergriff Herr Briand das Wort und sagte,
Herr Stresemann habe ja eine recht große Liste vorgetragen, und zwar mit dem
Mut, der an Tollkühnheit grenze«293, und betonte, daß die Regelung dieser
Fragen Zeit beanspruchen würde. Es sei unmöglich, diese Probleme auf der
Konferenz zu regeln. Chamberlain schloß sich dieser Auffassimg weitgehend
an. Stresemann, der sich um die innenpolitische Durchsetzung des Sicherheitspakts sorgte, machte gegenüber dem Westen deutlich, daß besonders hinsichtlich der Räumung der Kölner Zone und des Besatzungsregimes etwas geschehen müsse, konnte von Briand aber zunächst nur eine Zusage über
Gespräche zur Ausgestaltung des Besatzungsregimes erhalten294.
Trotz der Gegensätze zwischen den Positionen der Deutschen und der
Westmächte standen Berlin, Paris und London, wie Hoesch analysierte, unter
erheblichem Erfolgsdruck295. Zwar würde ein Scheitern der Konferenz Frankreichs Position in der Sicherheitsfrage gegenüber Großbritannien stärken, weil
es den moralischen Druck auf London, sich um die Sicherheit des ehemaligen
Verbündeten zu kümmern, erhöhen würde, doch war es mehr als fraglich, so
Hoesch, ob sich England wieder auf das Genfer Protokoll einlassen würde.
Frankreichs Kredit würde überdies, wie auch der Deutschlands, durch einen
Abbruch der Konferenz Schaden nehmen, und die französische Währungskrise
weiter verschärfen. England hingegen würde durch ein Scheitern von Locarno
»in sehr peinliche Lage nach innen und außen kommen«296, weil es sich als
Pate des guten deutschen Willens exponiert hatte. Auch würde sich London
neuen französischen Sicherheitswünschen dann kaum widersetzen können.
Die deutsche Regierung könne zwar, so der Botschafter weiter, innenpolitisch
293
Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138.
Siehe ibid.
295
Siehe Hoesch an AA (13.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 144.
296
Ibid.
254
240
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Kapital aus dem Scheitern der Sicherheitsverhandlungen ziehen, dem st٧nde
jedoch die neuerliche außenpolitische Isolierung entgegen, die auch eine Lösung der schwebenden Fragen (Rheinlandräumung, Entwaffnung usw.) erschweren würde. Im Westen würde zudem wieder die Furcht vor einem
deutsch-russischem Bündnis akut, was dessen Haltung gegenüber Deutschland
verhärten würde. Nicht zuletzt wegen dieses Erfolgszwanges kamen die beteiligten Regierungen doch noch zu einer Übereinkunft in den strittigen Fragen,
die am 16. Oktober 1925 paraphiert wurde.
Bei dem Vertragswerk von Locarno297 handelte es sich um den Garantiepakt
(Anhang A) und die Schiedsverträge zwischen Deutschland einerseits und
Belgien, Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei andererseits (Anlagenzwvutsrpnl
Β
bis E). Anlage F umfaßte eine Auslegung des Artikels 16 der Völkerbundssatzung, auf die sich Deutschland und die übrigen Mächte geeinigt hatten. Inhaltlich brachte Locarno folgende Ergebnisse: Im Rheinpakt, der Anlage Α des
Vertragswerkes, verpflichteten sich Deutschland, Frankreich und Belgien ge
genseitig, die Unversehrtheit ihrer Grenzen zu wahren. Italien und Großbritannien waren die Garantiemächte dieses Abkommens, das faktisch die Anerkennung der deutschen Westgrenze und die endgültige Abtretung ElsaßLothringens und Eupen-Malmedys durch das Reich bedeutete298. Auch die
Einhaltung der Demilitarisierungsbestimmungen bezüglich des Rheinlandes
(Artikel 42 und 43 des Versailler Vertrags) wurden ausdrücklich bestätigt299.
Gemäß dem Rheinpakt trat der Fall der Aggression dann ein, wenn ein Land
das andere angriff, einmarschierte oder den Krieg erklärte300. Auch eine »contravention flagrante«301 der Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler
Vertrags302, dessen uneingeschränkte Gültigkeit nochmals ausdrücklich festgestellt wurde303, und des Schiedsobligatoriums304 stellten eine Verletzung des
Pakts dar. Ausnahmen bildeten nur das Recht auf Selbstverteidigung und die
Teilnahme an Aktionen im Rahmen der Artikel 15 und 16 der Völkerbundssatzung305. Die Schiedsverträge zwischen Frankreich und Belgien einerseits
und Deutschland andererseits bildeten einen integralen Bestandteil des Rheinpakts306.
297
Text des Abkommens in: G. Fr. MARTENS, Nouveau recueil geniral de traites et autres
actes relatifs aux rapports de droit international. Continuation du grand recueil de G. Fr.
Martens par Heinrich Treipel. Troisieme sdrie, Bd. XVI, Leipzig 1927, S. 7-32.
298
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 64.
299
Siehe Locarno-Verträge, Anhang A, Art. 1.
300
Siehe ibid. Art. 2.
301
Ibid.
302
Siehe ibid.
303
Siehe ibid. Art. 6.
304
Siehe ibid. Art. 3 und 5.
305
Siehe ibid. Art. 2.
306
Siehe ibid. Art. 3.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
241
Dies galt jedoch nicht f٧r das deutschpolnische und das deutsch
tschechoslowakische Schiedsabkommen, die im Rheinpakt keine Erwδhnung
fanden. Der entscheidende Unterschied zwischen den Schiedsvertrδgen, die
Deutschland mit seinen westlichen und seinen φstlichen Nachbarn abschloß,
bestand denn auch darin, daß erstere mit den Garantien des Rheinpakts verknüpft wurden und letztere keine entsprechenden Garantien besaßen307. Allerdings wurde im Artikel 21 des polnisch-deutschen und des tschechoslowakisch-deutschen Schiedsvertrags festgestellt: »Le present Traite [...] ne portera
aucune atteinte aux droits et obligations des Hautes Parties Contractantes en
tant que membres de la Societe des Nations«308. Insofern bestand also eine
Verknüpfung mit den Sanktions- und Schlichtungsmechanismen des Völkerbunds. Dieser Artikel fehlte in den ansonsten - bis auf die Präambel - so gut
wie identischen Schiedsverträgen zwischen Deutschland und Frankreich bzw.
Belgien. Allerdings bestand bereits durch den Rheinpakt eine Verknüpfung
mit den entsprechenden Völkerbundsmechanismen309. Eine ausdrückliche
Aufforderung an Deutschland, dem Völkerbund beizutreten, erfolgte zwar
nicht, doch legte die Interpretation des Artikels 16, die weitgehend den deutschen Vorstellungen entsprach und als Anlage F dem Vertragswerk beilag, in
der Tat den Eintritt Deutschlands nahe. Da außerdem sowohl der Rheinpakt
als auch die Schiedsverträge vielfach mit Völkerbundsmechanismen verknüpft
waren, bestand auch darin eine implizite Forderung nach einer deutschen Mitgliedschaft im Genfer Bund.
Welche Konsequenzen ergaben sich aber aus den Locarno-Verträgen für die
deutsche und die französische Außenpolitik? Eine Bewertung des Sicherheitspakts muß auf drei Ebenen erfolgen: Zunächst muß gefragt werden, welche
der Vertragsparteien ihre Interessen durchsetzen konnte oder auf zentrale
Wünsche verzichten mußte. Gemäß der Fragestellung dieser Studie soll sich
dies jedoch hauptsächlich auf Deutschland und Frankreich beschränken. Zweitens muß untersucht werden, welche Folgen die Verträge für die deutsche und
französische Außenpolitik hatten. Anschließend wird drittens die Frage zu
klären sein, ob und inwieweit Locarno ein Betrag zur kollektiven Sicherheit
und somit zur modernen Außenpolitik war.
Bezüglich des ersten Punkts ist zunächst zu fragen, ob die deutsche Regierung die Ziele, die sie sich gesetzt hatte, mit Locarno erreichte. Ein wichtiges
Motiv für die Sicherheitsinitiative war die Verhinderung eines gegen Deutschland gerichteten Bündnisses zwischen Paris und London gewesen. Dieses Ziel
konnte Deutschland partiell durchsetzen, indem es den Rheinpakt zu einem
gegenseitigen Garantiepakt gemacht hatte. Allerdings dürfte die Verhinderung
eines englisch-französischen Bündnisses weniger Erfolg dieses Sicherheits307
Vgl. die Präambeln in den Locarno-Verträgen, Anhang B-E.
Locamo-Verträge, Anhang D und E, jeweils Art. 21.
309
Siehe v.a. Art. 7 des Rheinpakts, Locamo-Verträge, Anhang A.
308
242
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
pakts gewesen sein, sondern vielmehr eine Erklδrung darin finden, daß Großbritannien dem Bündnis sowieso skeptisch bis ablehnend gegenüberstand und
so den Rheinpakt als eine gute Möglichkeit sah, sich aus der Affäre zu ziehen.
Sicherlich trugen die Abkommen von Locarno auch dazu bei, die deutsche
Sicherheitslage allgemein zu verbessern, also einen neuerlichen Ruhreinbruch
der Franzosen etwa noch unwahrscheinlicher zu machen. Auch der Fluß amerikanischen Kapitals nach Deutschland wurde durch den Rheinpakt gefördert.
Allerdings waren die einseitigen Sanktionsmöglichkeiten Frankreichs ohnehin
schon durch den Dawes-Plan erheblich eingeschränkt, so daß Sicherheitsbedenken wohl kaum Einfluß auf amerikanische Investitionen hatten. Außerdem
war für die Kapitalzufuhr aus den USA die Sicherheitslage zwar ein wichtiger,
aber nicht der einzige Faktor: entscheidend war letztlich, wie lukrativ eine Investition war.
Auf den unmittelbaren Anlaß für die deutsche Sicherheitsinitiative - die
Räumung der Kölner Zone und das Ende der Militärkontrolle - hatte Locarno
keinen direkten, wohl aber indirekten Einfluß. Zwar wurde in Locamo keine
Vereinbarung über die Räumung der Kölner Zone getroffen, doch war der Beschluß der Botschafterkonferenz vom 16. November 1925, die Kölner Zone
auch ohne vorherige vollständige Lösung der Entwaffnungsfrage ab dem
1. Dezember 1925 zu räumen310, nicht ohne die Ergebnisse von Locarno denkbar. Bis zur Auflösung der Interalliierten Militärkontrollkommissionen sollte
allerdings noch mehr als ein Jahr vergehen, sie verließen Deutschland erst am
31. Januar 1927311.
Ein weiteres Ziel deutscher Außenpolitik, gleichberechtigt im Konzert der
europäischen Mächte mitzuspielen, wurde ebenfalls nur teilweise erreicht.
Zwar konnte Deutschland in der Tat nicht mehr ohne weiteres ein Opfer von
Diktaten werden312, allerdings wurde durch die neuerliche indirekte Anerkennung des Versailler Vertrags und speziell der Demilitarisierungsbestimmungen der Artikel 42 und 43 eine wirkliche Emanzipation gerade verhindert und
die Sonderrechte der Sieger bestätigt. An der militärischen Machtlosigkeit
Deutschlands änderte Locarno zunächst wenig. Das Mehr an Mitsprache wurde außerdem durch die Verpflichtungen aus den Schiedsverträgen in Ost und
West eingeschränkt. Obwohl die Reichsregierung durch ihre Vorbehalte hinsichtlich des Artikels 16 und der Betonung der Offenhaltung der Revision der
Ostgrenzen des Reiches versuchte, ihre guten Beziehungen zur Sowjetunion
310
Die Räumung der Kölner Zone wurde im Januar 1926 abgeschlossen, siehe JACOBSON,
Locamo Diplomacy, S. 64.
311
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 363.
312
Siehe ibid. S. 296f.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
243
zu erhalten, mußte der »Westruck«, den der Locamovertrag eingeleitet hatte,
letztendlich auch die deutsch-sowjetische Kooperation schwächen313.
Wenn aber Stresemanns Fem- und Hauptziel die Revision der deutschen
Ostgrenze, besonders hinsichtlich des Korridors und Oberschlesiens war314,
welche Auswirkungen hatten die Verträge von Locarno darauf? Durch die
Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei hatte Deutschland gegenüber diesen beiden Ländern auf eine gewaltsame Revision der Grenzen
verzichtet. Gleichzeitig wurden diese Verträge - über den Artikel 21 - mit den
Sanktionsmechanismen des Völkerbunds gekoppelt, die ein Eingreifen Frankreichs zugunsten dieser Staaten gemäß den in der Völkerbundssatzung festgelegten Bestimmungen erlaubten.
Der deutsche Botschafter in Warschau, Ulrich Rauscher, hatte, ganz zu Beginn der Sicherheitsverhandlungen, rein machtpolitisch argumentiert: Um
kurzfristig im Westen - in der Räumungs-, Entwaffhungs- und Sicherheitsfrage - Erleichterung zu erzielen, könnte formal auch die polnische Westgrenze
garantiert werden315. Wenn allerdings
die Frage von Oberschlesien und dem Korridor einmal wirklich akut wird, so wird sie es auf
Grund der tatsächlich vorhandenen Machtverhältnisse, denen gegenüber jeder Garantiepakt
zu dem wird, was alle internationalen Verträge in solchen Augenblicken sind, zu einem
Stück Papier. Bestände die Aussicht, auf friedlichem, schiedlichem Weg sich mit Polen zu
verständigen, so wäre ein Garantiepakt ein wesentliches Hindernis. Da aber nach meiner festen Überzeugung die Polen eher über irgendwelche östlichen Gebiete mit sich reden ließen,
ganz sicher aber nicht über den Korridor, ein geordnetes Verfahren also niemals zu erhoffen
sein wird, könnte uns der Garantiepakt im entscheidenden Moment niemals schaden und insbesondere nicht an der Entfaltung von Machtmitteln verhindern, wenn die Weltkonstellation
dies im übrigen zuläßt 316 .
In diesem Falle würden die Verträge von Locarno in der Tat »zu einem Stück
Papier«.
Wie aber sah das deutsche Revisionskonzept gegenüber Polen tatsächlich
aus? Stand es im Einklang mit den Verträgen von Locarno, oder waren der
Rheinpakt und die Schiedsverträge tatsächlich nur ein taktisches Manöver der
Deutschen, um die militärischen Voraussetzungen für eine gewaltsame Revision der Ostgrenzen zu schaffen?
313
Zu den Belastungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach Locarno vgl. Martin
WALSDORFF, Der Berliner Vertrag und Stresemanns Ostpolitik in der Locarno-Ära, in:
Wolfgang MLCHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 (Wege
der Forschung, 539), S. 118-133.
314
Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 59; WANDYCZ, Twilight, S. 20. Zu den deutschen
Revisionszielen im Osten im einzelnen siehe Aufzeichnung Dirksen (21.3.1925), ADAP A
ΧΠ,ΝΓ. 189.
315
Siehe Rauscher an AA (12.2.1925), ADAP A XII, Nr. 92.
3,6
Ibid.
usrnihedcba
244
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Zunδchst einmal war die Frage nach der Revision der Ostgrenze nicht
akut317. Auch sollte die Revision ging es nach Stresemann nur einen Teil
der 1918 abgetretenen Gebiete umfassen, vor allem Danzig, den Korridor und
Oberschlesien, um keine allzu große polnische Minderheit im Reich zu haben:
»Eine neue Aufteilung Polens wie 1793 oder 95 wird nie ein Ziel deutscher
Politik sein können. Die territorialen Ansprüche Deutschlands an Polen werden sich, abgesehen von dem hier behandelten Gebiet318 und abgesehen von
Oberschlesien, im übrigen auf Grenzkorrekturen beschränken«319. Posen hingegen sei unzweifelhaft polnisch und müsse deswegen auch bei Polen bleiben.
Die Schaffung eines neutralen Staates, bestehend aus dem Korridorgebiet und
Danzig sei ebenfalls abzulehnen, da durch die seit Kriegsende eingeleiteten
Maßnahmen zur Polonifizierung dieses Gebilde zweifelsohne nach Polen gravitieren würde. Da aber Warschau nie freiwillig auf die Gebiete verzichten
würde, war nach deutscher Auffassung eine Revision nur »unter starkem
Druck«320 auf Polen möglich: »Er wird in erster Linie von Rußland kommen
können«321. In zweiter Linie sollte er durch wirtschaftlichen und finanziellen
Zwang von Seiten der USA und Großbritanniens aufgebaut werden: »Deutschland hat an einem wirtschaftlichen Niedergang Polens nur insoweit ein Interesse, als Polen dadurch zu territorialen Opfern geneigter gemacht werden
kann; darüber hinaus geht das deutsche Interesse an einer ungünstigen Entwicklung Polens nicht«322. Selbst dann aber müsse sich Polen in einem »Verwesungszustande«323 befinden, um dem Druck nachzugeben, und es müßten
Kompensationen an Warschau erfolgen, vor allem weitreichende Zugeständnisse für den Verkehr nach Danzig und auf Kosten Litauens und des Memelgebiets324. Nach diesen Grenzkorrekturen stünde guten deutsch-polnischen
Beziehungen und dem Frieden in Europa nichts mehr entgegen325.
Formal stand dieses zweite, in Stresemanns Runderlaß entwickelte Revisionskonzept nicht im Widerspruch zu den Verträgen zu Locarno, wiewohl man
sich jedoch fragen kann, ob der deutsch-polnische Wirtschaftskrieg326 mit dem
317
Siehe Aufzeichnung Schubert (16.3.1925), ADAPzutsrponmlkihgfedcbaYWTSRPONKIHG
Α ΧΠ, Nr. 168; Schubert an Dufour
(23.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 195.
318
Gemeint ist der Korridor, R.B.
319
Runderlaß Stresemann mit Anlage (30.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 177, siehe auch zum
folgenden.
320
Ibid.
321
Ibid.
322
Ibid.
323
Aufzeichnung Dirksen (21.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 189.
324
Siehe Runderlaß Stresemann mit Anlage (30.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 177.
325
Siehe ibid.
326
Siehe Ralph SCHATTKOWSKY, Die Verträge von Locamo und die polnische Perzeption
Deutschlands, in: Gottfried NIEDHART, Detlef JUNKER, Michael W. RICHTER (Hg.),
Deutschland in Europa. Nationale Interessen und internationale Ordnung im 20. Jahrhundert,
Mannheim 1997, S. 119-130, hierS. 128; SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 136-140.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
245
Geist des gerade abgeschlossenen Schiedsvertrags vereinbar war327. Auch ist
fraglich, inwieweit dieses Konzept realistisch und in sich stimmig war. Wie
sollte beispielsweise die finanzielle und wirtschaftliche Einheitsfront mit den
USA und Großbritannien gegen Polen hergestellt werden, zumal die Einflußmöglichkeiten der Diplomatie auf die Privatwirtschaft ja durchaus beschränkt
waren? Wäre es nicht vielmehr so, daß die anderen Mächte von einem
deutsch-polnischen Wirtschaftskrieg328, wie er in der zweiten Hälfte der
1920er Jahre tatsächlich entstand, profitierten und deshalb gar kein Interesse
an einem gemeinsamen, gegen Polen gerichteten wirtschaftlichen Vorgehen
haben würden? Auch aus Gründen der politischen Stabilisierung Osteuropas
hatte Großbritannien nach Locarno in der Tat ein zunehmendes Interesse an
einer wirtschaftlichen Sanierung Polens »[o]hne große Sympathien für Polen
zu hegen«329. Der Kredit, den Warschau 1927 zur Stabilisierung seiner Wirtschaft von den USA und Großbritannien erhielt330, bestätigt diese Überlegungen.
Zwar wurde in den deutschen Überlegungen konzediert, daß wirtschaftliche
Zwangsmaßnahmen allein wohl zu keinem Ergebnis in der Frage der territorialen Revision geführt hätten, sondern es wohl vor allem des »Drucks«
(höchstwahrscheinlich militärischer Art) von Seiten der Sowjetunion bedurft
hätte, um zu einer für Deutschland zufriedenstellenden Lösung zu kommen.
Das Verhältnis Berlins zu Moskau blieb dabei jedoch unklar: Wie hätte sich
Deutschland im Falle eines sowjetisch-polnischen Konflikts verhalten? Wäre
das Deutsche Reich - im Stile des Hitler-Stalin-Pakts - über Polen hergefallen, um sich zu holen, was es beanspruchte, wäre es wohl zur Intervention
Frankreichs und Großbritanniens gekommen. Wie 1939 wäre Polen für den
Westen vermutlich der Casus belli gewesen. Die Folgen für ein weitgehend
entwaffnetes Deutschland wären dramatisch gewesen. Konnte das demokratische, republikanische Deutschland außerdem ein Interesse an einer direkten
Nachbarschaft zur Sowjetunion haben? Wäre es nach Polen nicht das nächste
Opfer der bolschewistischen Expansion geworden?
Eine andere Möglichkeit hätte für Deutschland darin bestanden, von Polen
territoriale Zugeständnisse im Gegenzug für eine militärische Unterstützung
gegen die Sowjetunion zu erhalten. Nun aber hatte Deutschland mit seinem
100 000-Mann-Heer kein Pfund, mit dem es wuchern konnte. Auch dies war
keine wirkliche Option, zumindest solange Deutschland militärisch schwach
327
In der Präambel des deutsch-polnischen Schiedsvertrags hieß es, der Vertrag werde abgeschlossen, »ä maintenir la paix entre l'AUemagne et la Pologne en assurant le riglement
pacifique des difförends qui viendraienti i surgir entre les deux pays«, Locarno-Verträge,
AnhangWTRIHGD
D. Ähnlich argumentiert WRIGHT, Stresemann and Locarno, S. 127.
328
Siehe Roman DEBICKI, The Foreign Policy of Poland, 1919-1939. From the Rebirth of
the Polish Republic to World WarzwutsronmkihgfecaYXVSPNIDA
Π, New York 1962, S. 6163.
329
AufzeichnungDirksen(16.11.1925), ADAP AXIV.Nr. 241.
330
SieheWTRIHG
WRIGHT, Stresemann, S. 361.
246
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
war. Außerdem schien die Zeit für Polen zu spielen: In der zweiten Hälfte der
1920er Jahre verbesserte sich die wirtschaftliche Lage Polens, und innenpolitisch kam es nach dem Putsch Pilsudskis zu einer Konsolidierung331. Während
die polnische Bevölkerung stark zunahm, nahm die deutsche in Ostpreußen
und dem Korridorgebiet deutlich ab, weshalb der französische General Le
Rond nach seiner Rückkehr von einer Rundreise durch die baltischen Staaten
glaubte, daß die Frage des Korridors »n'existe qu'au point de vue sentimental
et qu'au point de vue economique, eile a completement disparu«332. Immerhin
sind die deutschen Überlegungen insofern erhellend, als daß sie den Charakter
des deutsch-sowjetischen Verhältnisses offenbaren: Es handelte sich hierbei
vor allem um eine strategische Allianz, die nur dann eine Berechtigung hatte,
wenn dadurch nicht das deutsche Hauptziel, die Revision besonders im Osten,
gefährdet wurde. Ließe sich die Revision auch ohne oder gegen Moskau
durchführen, so hätten in Berlin vermutlich nur wenige Bedenken bestanden,
das Bündnis mit der Sowjetunion aufzugeben.
Interessanterweise wurde Frankreich - immerhin Polens wichtigster Verbündeter und Retter im polnisch-sowjetischen Konflikt von 1920 - kaum als
Faktor in den deutschen Revisionsplänen berücksichtigt. Es ist jedoch davon
auszugehen, daß man im AA von Frankreich keinen ernsthaften Widerstand in
der Frage einer begrenzten Revision der Ostgrenze erwartete: Margerie hatte
im März 1925 gegenüber Schubert erklärt, daß Herriot ihm gegenüber mehrmals gesagt habe: »>Wegen der polnischen Grenze werden wir ganz gewiß
niemals Krieg fuhren<«333. Später stellte auch Briand gegenüber Hoesch die
Revision der deutschen Ostgrenze in Aussicht334.
Man muß allerdings den deutschen Plänen zugestehen, daß sie sich auf eine
fernere Zukunft bezogen335, was so manche Unstimmigkeit verständlich
macht, die vielleicht später gelöst worden wäre. Dies verdeutlicht jedoch, das
die Priorität zunächst einmal auf der Lösung der Probleme mit den Westmächten (Rheinland, Reparationen usw.) lag, erst anschließend sollten die Probleme
im Osten in Angriff genommen werden336. Dennoch sind die langfristigen
Strategien, die Deutschland in Osteuropa verfolgte, ein wichtiger Hinweis darauf, »that the Locarno policy was more than mere tactic«337.
Hinsichtlich der deutschen Revisionspolitik gegenüber Polen bleibt festzuhalten, daß es eine - freilich unausgereifte - Strategie zur friedlichen Revision
331
Siehe Aufzeichnung Seydoux [?] (27.1.1928), MAE PAAP 261, 37.
Ibid. siehe auch zum folgenden.
333
Aufzeichnung Schubert (16.3.1925), ADAP A XII, Nr. 168.
334
Siehe Hoesch an Stresemann (6.8.1925), ADAPzutsronmlkihgfedcaWTSRPNLIHGDA
Α ΧΠΙ, Nr. 258.
335
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 346.
336
Siehe Aufzeichnung Planck [2.12.1926], ADAP Β I, 2, Nr. 225.
337
WRIGHT, Stresemann and Locarno, S. 129.
332
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
247
gab, die im Einklang mit den Vertrδgen von Locarno stand338. Allerdings exi
stierte neben diesem Konzept auch ein weiteres, machtpolitisches, das, folgt
man den oben skizzierten άberlegungen Rauschers, in Locarno lediglich ein
taktisches Mittel sah, um die Revisionsziele letztlich militδrisch durchzuset
zen.
Inwiefern war nun aber die franzφsische LocarnoPolitik erfolgreich gewe
sen? Gemessen an dem franzφsischen Idealziel der Sicherheitspolitik, ein
B٧ndnis mit Großbritannien und die Umsetzung des Genfer Protokolls, waren
die Verträge von Locarno sicherlich nur ein kleiner Schritt, aber immerhin einer in die richtige Richtung. Die größte Schwäche von Locarno war aus französischer Sicht, daß Locarno keine substantiellen Sicherheitsgarantien von
Seiten Großbritanniens vorsah339. Allerdings bedeutete Locarno auch die Anerkennung der französischen Sicherheitsinteressen durch Großbritannien. Weil
Frankreich sich zudem stets gegenüber Deutschland in der Defensive sah und
das Reich ja der potentielle Aggressor war, konnte die französische Führung
faktisch den Garantiepakt als Bündniszusage bewerten340. Außerdem war Locarno für Frankreich nur der erste Schritt zur Etablierung eines Bündnisses mit
Großbritannien: Vom Rheinpakt erwartete man in Paris vor allem, daß die
englischen Widerstände gegen eine Allianz verringert würden341. Ein wichtiger Erfolg aus französischer Sicht waren sicherlich auch die Schiedsverträge
Deutschlands mit seinen östlichen Nachbarn, vor allem mit Polen. Zwar hatte
Frankreich sich nicht mit seiner Maximalforderung durchsetzen können, in die
Ostschiedsverträge eine Garantie wie für die deutsche Westgrenze einzubauen.
Durch den bereits erwähnten Artikel 21 der Ostschiedsverträge und die daraus
resultierende Verknüpfung dieser Abkommen mit dem Völkerbund war für
Frankreich aber aufgrund des Artikels 16 der Völkerbundssatzung weiterhin
die Unterstützung seiner östlichen Verbündeten möglich. Die durch Locarno
erreichte Verbindung des französischen Bündnissystems in Osteuropa mit den
Mechanismen des Völkerbunds ist bislang vor allem als eine Aushöhlung und
Schwächung dieses Systems (sofern es denn überhaupt bestand)342 interpretiert
worden343. Dies ist insofern richtig, als jetzt die französisch-polnische Militär-
338
Anders Post, der in Locarno keine Abkehr Stresemanns von der Gewaltpolitik sieht und
sie vor allem als taktisches Manöver interpretiert, siehe POST, Diplomatie, S. 264-266.
339
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 351.
340
Vgl. »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift (26.2.1926), MAE PAAP
217, 7; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 38f.
341
Siehe »Note sur les propositions allemandes«, ohne Unterschrift (26.2.1926), MAE PAAP
217,7.
342
Meines Erachtens zu Recht kommt Wurm zu dem Schluß, daß es in Osteuropa, v.a. auch
infolge der fehlenden französischen Mittel, kein ausgebildetes französisches Sicherheitssystem gab, siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 56, 356f.
343
Siehe Rauscher an AA (31.8.1925), ADAP A XIV, Nr. 44; WANDYCZ, Twilight, S. 14;
WURM, Sicherheitspolitik, S. 353; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 30.
248
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
konvention von 1921344 faktisch durch die Schiedsvertrδge außer Kraft gesetzt
wurde und französische Hilfe nur dann möglich war, wenn durch den mitunter
langwierigen und schwerfälligen Entscheidungsprozeß im Völkerbund ein
entsprechendes Mandat bestand345. Andererseits wurde die Verletzung der
polnischen Westgrenze durch den Artikel 21 des deutsch-polnischen Schiedsvertrags jetzt ausdrücklich auch zur Angelegenheit des Völkerbunds und erhöhte so deren Bestandsgarantie. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß das
französisch-polnische Bündnis ja kein Selbstzweck war, sondern dem Ziel der
französischen Sicherheit untergeordnet war. Ließ sich die französische Sicherheit auch ohne dieses Bündnis erhöhen oder stand dieses Bündnis sogar einer
Erhöhung der französischen Sicherheit im Weg, so war der Quai d'Orsay im
Rahmen bestimmter Grenzen bereit, dieses Bündnis auch zu relativieren346.
Ein Ausgleich mit Deutschland, wie er in Locarno erreicht worden war, rechtfertigte eine Auflockerung des französisch-polnischen Bündnisses zumindest
in dem Maße, in dem die französische Sicherheit an seiner Westgrenze gewahrt blieb oder erhöht wurde. Nur so ist auch die sicherlich überspitzte Äußerung des englischen Botschafters in Berlin, D'Abemon, zu verstehen, der
gegenüber Schubert erklärt hatte, »das Verhältnis zwischen Frankreich und
Polen sei doch schließlich dasjenige eines Mannes, der sich in eleganter Weise
von seiner Maitresse trennen wolle«347.
Es ist weiter argumentiert worden, daß die neue Interpretation des Artikels 16 - gemäß Anlage F des Abkommens von Locarno - zu einer weiteren
Aufweichung dieses Artikels gefuhrt, und damit die ohnehin nur rudimentär in
der Völkerbundssatzung angelegten Ansätze zur kollektiven Sicherheit weiter
geschwächt habe348. Diese Interpretation muß meines Erachtens jedoch ergänzt werden: Richtig ist, daß die in Anlage F dargelegte Formulierung, die
Hilfeleistung eines Bundesmitglieds aufgrund des Artikels 16 könne nur »in
dem Maße, das mit seiner militärischen Situation kompatibel ist und das seiner
geographischen Lage Rechnung trägt« erfolgen, es der Reichsregierung beispielsweise im Falle eines polnisch-sowjetischen Konflikts erlaubt hätte, faktisch neutral zu bleiben. Allerdings erlaubte auch diese neue Interpretation des
Artikels 16 der französischen Regierung, im Falle eines deutsch-polnischen
Konflikts mit Zustimmung des Völkerbunds Polen zu Hilfe zu kommen. Auf
Grund der Bestimmungen des Artikels 15 der Völkerbundssatzung war für
eine französische Hilfeleistung - wie Wright richtig feststellt - sogar nicht
einmal ein einstimmiger Beschluß des Völkerbundsrates notwendig, so daß
der Spielraum Frankreichs, dem Verbündeten zu Hilfe zu kommen, durch die
344
Vgl. BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 159.
So JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 30.
346
Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 14.
347
Aufzeichnung Schubert (8.7.1925), ADAPzutronlihgeaTSRNIHEDBA
Α ΧΙΠ, Nr. 197.
348
So NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76; KRÜGER, Außenpolitik, S. 300.
345
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
249
Vφlkerbundssatzung nicht allzusehr eingeschrδnkt wurde349. Bestδtigung fin
det diese Interpretation des Artikels 16 durch Frankreich durch die Unter
zeichnung der Beistandsabkommen zwischen Frankreich und Polen bzw.
Frankreich und der Tschechoslowakei, ebenfalls am 16. Oktober 1925. Mit
diesen Vertrδgen erneuerte Frankreich seine Beistandsverpflichtungen gegen
٧ber diesen Staaten350. Schubert stellte klar, daß auch schon vor der Begriffsbestimmung der Anlage F »jeder Staat bei der Durchführung seiner Verpflichtungen aus Art. 16 völlig souverän darüber entscheidet, was er zu tun hat und
was er tun will. [...] Nach diesem unbestrittenen Grundsatze wäre rein sachlich
und juristisch genommen irgendeine Zusicherung an Deutschland wegen dieser Verpflichtungen aus Artikel 16 überhaupt nicht nötig gewesen«351. Es handelte sich also lediglich um eine Klarstellung. Im übrigen ist der Wortlaut der
Anlage F fast identisch mit dem des Artikels 11 des Genfer Protokolls, weshalb die Anlage F per se keinerlei Zugeständnis von Seiten der Westmächte an
die Reichsregierung bedeutete352. Außerdem waren der Schweiz und Irland im
Zusammenhang mit deren Beitrittverhandlungen zum Völkerbund schon lange
vor Locarno ähnliche Zusagen gemacht worden353. Aus der Anlage F generell
eine Schwächung des Völkerbunds zu folgern, wie dies beispielsweise Niedhart getan hat354, greift deshalb zu kurz. Aus französischer Sicht stellte Locarno in der Tat eine Ergänzung zum bisherigen französischen Sicherheitssystem
dar355. Da im Rheinpakt auch endlich eine international anerkannte Definition
von Aggression gefunden wurde356, was den verschiedenen Studienkommissionen des Völkerbunds bislang nicht geglückt war, ist zu fragen, ob Locarno
die kollektiven Sicherheitsstrukturen nicht sogar verbesserte. Aus französi-
349
SieheWUTSRONMLKIHGEC
WRIGHT, Stresemann, S. 344. Die entsprechende Formulierung in Artikel 15 der
Völkerbundssatzung lautet: »Wird der Bericht des Rates [zur Lösung eines Konfliktes, R.B.]
nicht von allen Mitgliedern angenommen, die nicht Partei sind, so behalten sich die Bundesmitglieder das Recht vor, diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihnen für die Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit erforderlich erscheinen«. Im gleichen Sinne auch:
Georges-Henri SOUTOU, La France et la problematique de la securite collective ä partir de
Locarno. Dialectique juridique et impasse göostrategique, in: Gabriele CLEMENS (Hg.), Nation und Europa. Studien zum internationalen Staatensystem im 19. und 20. Jahrhundert
(Festschrift Peter Krüger), Stuttgart 2001, S. 131-152, hier S. 136.
350
Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 90f.
351
Schubert an Kempner (14.10.1925), AdR LutherzyutsrqponmlkihgfedcbaVUSRPNKJIHFEDCBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 188.
352
Anders Bariity: JacquesYTRNLIHEDBA
BARLITY, Aristide Briand et la sicuriti de la France en Europe,
19191932, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur
Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit 1914-1963, München 2000
(Schriften des historischen Kollegs, Kolloquien, 46), S. 117-134, hier S. 129.
353
Siehe Aufzeichnung Stresemann (9.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 145; Aufzeichnung Schu
bert (10.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 149.
354
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 76. Eine ähnliche Argumentation findet
sich bei KR٢GER, Außenpolitik, S. 300.
355
Siehe SOUTOU, Securit6 collective, S. 136f.
356
Vgl. o.; Locamo-Verträge, Anhang A, Art. 2, 3, 5, 6; KRISCH, Selbstverteidigung, S. 35.
250
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiening
scher Sicht war dies sicherlich der Fall. Paris hδtte andernfalls wohl kaum der
neuen Interpretation des Artikels 16 seine Zustimmung gegeben.
Aus franzφsischer Sicht der Dinge waren mit den Vertrδgen von Locarno al
so drei wichtige Ergebnisse erreicht worden: Man hatte erstens eine per se
schon wichtige Sicherheitsgarantie von Großbritannien im Falle einer deutschen Aggression gewonnen. Zweitens würde - so sah man dies zumindest zu
diesem Zeitpunkt in Paris - der Abschluß des Rheinpakts ein Bündnis mit
Großbritannien eher erleichtern denn erschweren. Drittens wurden in Locarno
die Ostschiedsverträge mit den Völkerbundsmechanismen gekoppelt, wodurch
Frankreich ein wichtiges Ziel, das es schon mit dem Genfer Protokoll verfolgt
hatte, erreichte. Dies bedeutete, daß das französische Sicherheitsprogramm,
mit seinen Kernpunkten französisch-britisches Bündnis und Ausbau des Völkerbunds zu einem Organ der kollektiven Sicherheit (Genfer Protokoll), durch
Locarno nicht nur nicht beschädigt worden war, sondern im Gegenteil wichtige Grundlagen davon erst umgesetzt werden konnten. Eine französische Aufzeichnung vom November des Jahres 1925 kommt denn auch zu dem Schluß:
»La Societe des Nations est renforcee non seulement par ce que l'Allemagne
va y entrer, mais aussi parce que tous les accords sont domines par l'esprit du
Pacte [gemeint: der Völkerbundspakt, R.B.] et celui du Protocole [von Genf,
R.B.]«357. Während aber das 1919 geplante (und gescheiterte) Sicherheitssystem mit den Allianzen zwischen Frankreich einerseits und den USA und England andererseits lediglich die Fortsetzung einer Kriegsallianz gewesen sei, so
bedeutete Locarno einen beträchtlichen Fortschritt:
En 1925, la s6cunte apparait resider dans une organisation du continent europ6en pour le
reglement pacifique des dift£rends, dans le cadre de la Socidte des Nations et dans une garantie donnee äzwvutsrponmlkihgfedcbaZRKIGDA
Γ observation d'accords librement consentis. D'un cot£ des rapports de force,
de l'autre la notion de l'harmonie, au sein de l'organisme europ6en, de nations solidaires et
non plus de puissances opposees358.
Allerdings, und das soll hier mit aller Deutlichkeit gesagt werden, handelte es
sich eben nur um Grundlagen, die einer umfassenden Konkretisierung bedurf
ten. In diesem Zusammenhang nahm das besetzte Rheinland eine Schlüsselstellung ein: Bis zum Ausbau des Völkerbunds zu einem wirklich funktionierenden Sicherheitssystem bilde es die »garanties immediates de securite«359.
Ob diese Konkretisierungen aber überhaupt Erfolg haben würden, war zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise absehbar.
In Locarno konnte Frankreich sein sicherheitspolitisches Maximalziel - ein
Bündnis mit England und die Etablierung kollektiver Sicherheitsstrukturen vor
allem in Osteuropa - zwar nur sehr begrenzt verwirklichen, allerdings war die
357
Aufzeichnung ohne Unterschrift [Massigli?] (9.11.1925), MAE PAAP 217, 7.
Ibid.
359
Ibid.
358
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
251
Erlangung dieses Ziels, so wurde es zumindest in Paris wahrgenommen, durch
Locarno eher erleichtert worden. Insofern hat Frankreich vielleicht von Locar
no stδrker profitiert als Deutschland, das zumindest, wenn es ernsthaft an
den friedlichen Konfliktregelungsmechanismen interessiert war, denen es in
Locarno zugestimmt hatte in vielen Bereichen an Spielraum in der Revisi
onspolitik eingebüßt hatte. Dies betraf vor allem die Sanktionierung der Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland und die Unterwerfung des Prozesses
der territorialen Revision letzten Endes unter die Mechanismen des Völkerbunds.
Größter Gewinner von Locarno war wahrscheinlich Großbritannien. Es hatte
keine neuen Verpflichtungen in Europa übernommen, die es erfordert hätten,
seine heimischen und imperialen Interessen zu vernachlässigen360. Durch die
stärkere Einbindung Deutschlands in den Westen hatte London außerdem erreichen können, den sowjetischen Einfluß in Europa einzudämmen, ja sogar
etwas zurückzudrängen361. Folglich stand die Sowjetunion - trotz des behutsamen Vorgehens der Reichsregierung besonders in der Frage des Artikels 16
- eher auf der Seite der Verlierer der Locarno-Verträge.
Welche Konsequenzen aber hatten die Abkommen von Locarno für die zukünftige Politik Deutschlands und Frankreichs?
Frankreich hatte sein Ziel, die dauerhafte Gewährung von Sicherheit gegenüber Deutschland, durch Locarno nicht erreicht. Locarno bedeutete zwar einen
Fortschritt, beileibe aber noch nicht das angestrebte Ende der französischen
Sicherheitspolitik. Frankreich mußte also daran gelegen sein, die Grundlagen,
die in Locarno gelegt worden waren, durch wirksame Mechanismen zu ergänzen. Konkret bedeutete dies: Ausbau der Sicherheitsgarantie des Rheinpakts
vorzugsweise durch ein französisch-britisches Bündnis (oder eine trilaterale
Allianz unter Einschluß Belgiens) und den Ausbau des Schiedssystems in Osteuropa unter Völkerbundsägide, quasi also doch noch die Umsetzung des Genfer Protokolls.
Für Deutschland waren die Erfolge von Locarno revisionspolitisch bescheiden. Die Reichsregierung war danach verstärkt an der Durchsetzung der sogenannten Rückwirkungen interessiert.
Das grundsätzliche Dilemma der deutsch-französischen Beziehungen, daß
nämlich Revision nur dann erfolgen konnte, wenn damit eine Erhöhung der
Sicherheit einherging, blieb aber auch nach Locarno bestehen. So war Frankreich zwar nicht grundsätzlich gegen die Rückkehr Danzigs und des Korridors
an Deutschland, aber nur bei weitreichenden deutschen Konzessionen in der
Sicherheitsfrage362. Zusätzliche Sicherheitsgarantien, die die Erfüllung der
deutschen Revisionsforderungen abfedern könnten, mußten zwangsläufig
360
361
362
Siehe WANDYCZ, Twilight, S. 19.
Siehe NIEDHART, Stresemanns Außenpolitik, S. 420.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 349.
252
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
durch Dritte, also vor allem durch Großbritannien und die USA erfolgen. Locarno hatte jedoch die englische Bereitschaft, sich weiter zugunsten der französischen Sicherheit zu engagieren - entgegen der französischen Wahrnehmung - stark gedämpft. Nach dem Abschluß des Rheinpakts war es deshalb
eher schwieriger geworden, einen Ausgleich zwischen den Zielen der französischen und der deutschen Außenpolitik zu erreichen. Dem System von Locarno fehlte der Moderator, eine Kraft, die durch sanften Druck oder durch
Konzessionen an die eine oder andere Seite hätte helfen können, die Widersprüche zwischen Sicherheitsstreben und Revisionsverlangen abzugleichen363. Aber selbst wenn England zu einem stärkeren Engagement bereit gewesen wäre, stellt sich die Frage, ob es dazu noch die Kraft gehabt hätte364.
Die USA, aufgrund ihrer im Weltkrieg gewonnenen Stellung und ihrer überlegenen Wirtschaftskraft die geeignetste Macht, vermittelnd in das deutschfranzösische Verhältnis einzugreifen, um das zarte Pflänzchen der Kooperation zu hegen, blieb, vor allem was den politischen Bereich anging, passiv und
glänzte vielmehr durch wohlwollendes Desinteresse365: Washington war der
Meinung, daß mit dem Vertrag von Locarno das französische Sicherheitsproblem weitgehend gelöst wurde366.
Locarno bedeutete deshalb fur die deutsch-französischen Beziehungen also
zweierlei: Zentrale außenpolitische Ziele hatten weder Paris noch Berlin
durchsetzen können. Das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs war nach wie vor
nicht gestillt, die deutschen Revisionsforderungen ebensowenig, wobei der
grundsätzliche Widerspruch zwischen beiden Politiken bestehenblieb. Hinsichtlich der Sicherheitspolitik wurde dies dadurch deutlich, daß Frankreich
Locamo erst als Anfang einer umfassenden europäischen Sicherheitsordnung
sah, während Deutschland darin bereits den Endpunkt seiner Zugeständnisse
in dieser Frage erblickte367. Da für Großbritannien und die USA die wichtigsten Ziele erreicht worden waren - also vor allem die Stabilisierung des europäischen Kontinents, um sich dort gefahrlos wirtschaftlich betätigen zu können - war von diesen beiden Mächten in Zukunft keine aktive Rolle in den
deutsch-französischen Beziehungen zu erwarten, was dazu führte, daß sich die
außenpolitischen Handlungsspielräume Frankreichs und Deutschlands, trotz
der Verbesserung der Beziehungen durch Locarno, paradoxerweise eher verengten. Es kann also nicht davon die Rede sein, daß Locarno »Wege für eine
friedliche Revision des Versailler Vertrags eröffnet«368 hat. Die zähen Verhandlungen um die sogenannten »Rückwirkungen« von Locarno - also die
363
Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 74.
Siehe BERG, deutsche Locarnopolitik, S. 266.
365
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 73.
366
Siehe LEFFLER, Quest, S. 119.
367
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 352, 539.
368
POST, Diplomatie, S. 258. Siehe auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 297.
364
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
253
von Deutschland erwarteten Zugestδndnisse in der Entwaffhungsfrage, der
Vφlkerbundskontrolle oder der vorzeitigen Rδumung des Rheinlandes bele
gen dies. Insofern trug Locarno tendenziell auch dazu bei, die Versailler Ord
nung zu zementieren: Explizit dadurch, daß Deutschland seine Westgrenze
akzeptierte und die Demilitarisierung des Rheinlandes anerkannte, implizit
dadurch, daß es sich friedliche Konfliktregelungsmechanismen - wie sie in der
Völkerbundssatzung (die ja wiederum integraler Bestandteil des Versailler
Vertrags war) festgelegt waren - zu eigen machte.
Welche Auswirkungen hatten die Verträge von Locarno nun aber auf die
Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen, inwiefern trugen sie also zu einer
Modernisierung der Außenpolitik bei?
Zunächst bleibt festzustellen, daß der Rheinpakt ein System kollektiver Sicherheit konstituierte: Die gegenseitige Garantie des territorialen Besitzstandes Frankreichs, Belgiens und Deutschlands durch alle Unterzeichnerstaaten
unter Einschluß des potentiellen Aggressors, aus französischer Sicht also
Deutschland. Allerdings wurden durch Locarno keine Sicherheitsstrukturen
gebildet369, die den potentiellen Aggressor im Ernstfall hätten abschrecken
können und schnelle Hilfe für das Opfer der Aggression bedeutet hätten. Dies
lag einerseits darin begründet, daß Großbritannien als wichtigste Garantiemacht nicht zu weiteren Bündnisverpflichtungen bereit war, andererseits aber
auch in der Logik des Systems, in dem jeder Staat potentiell sowohl Aggressor
als auch Opfer sein konnte.
Frankreich erkannte durchaus dieses Problem und sah Locarno deshalb eben
nur als eine flankierende Sicherheitsgarantie, neben einem immer noch erhofften und erstrebten Bündnis mit Großbritannien, um die aus Pariser Sicht bestehenden Defizite des Systems der kollektiven Sicherheit zu beheben. Außerdem war Locarno für Frankreich eine willkommene Atempause, um seine
eigenen finanziellen Probleme zu lösen und damit auch seine militärische
Handlungsfähigkeit zu erhöhen370. Deutschland und Großbritannien dagegen
hielten die Verpflichtungen und Sicherungen der Locarno-Verträge - aus unterschiedlichen Gründen - fur ausreichend, was die Ergänzung von Locarno
durch konkrete Sicherheitsstrukturen behindern, wenn nicht gar unmöglich
machen sollte. Sicherheitspolitisch blieb Locarno also eine Dame ohne Unterleib: Ein Bündnis der kollektiven Sicherheit war vereinbart und Regeln zur
Definition eines Aggressors festgelegt worden, aber das Instrumentarium zu
dessen Durchsetzung wurde nicht geschaffen. Gerade die fehlenden Sicherheitsstrukturen entwerteten die Garantie371.
369
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 352.
Siehe ibid. S. 346f.
371
Siehe George A. GRÜN, Locarno. Idea and Reality, in: International Affairs 31 (1955),
S. 477-485, hier S. 485.
370
254
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Allerdings, und dies wurde weiter oben bereits dargelegt, darf der rein mili
tδrische Aspekt nicht ٧berbewertet werden. Mit dem Ausbau kollektiver Si
cherheitsstrukturen sollte letztlich erreicht werden, daß es gar nicht mehr zu
einer militärischen Auseinandersetzung kommt. Insofern ist bedeutsam, daß
die Sicherheitslage durch Schiedsverfahren und die allgemeine Entspannung
insgesamt verbessert wurde.
Eine weitere Kritik an den Verträgen von Locarno war, daß sie zu einer sicherheitspolitischen Zweiteilung Europas gefuhrt hätten: Während im Westen
Europas mit dem Rheinpakt das liberale Modell der Friedenssicherung zumindest teilweise etabliert worden sei, sei im Osten Europas die instabile Lage
erhalten geblieben372. Dies ist sicherlich zum Teil richtig. Allerdings bestanden im Westen Europas wesentliche Konfliktpunkte nicht, die die Lage in Osteuropa komplizierten. So war im Westen die Grenzziehung weitgehend unumstritten. Deutschland und der Westen hatten darüber hinaus ein gemeinsames
Interesse, den Zustrom amerikanischen Geldes zu sichern, während auf den
osteuropäischen Märkten alle Staaten als Konkurrenten um wirtschaftlichen
und politischen Einfluß kämpften. Außerdem ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, daß in Regionen, in denen es einfacher ist, zu Sicherheitsabsprachen zu kommen, schneller mit dem Aufbau von Sicherheitsstrukturen vorangegangen wird und Problemfälle, wie die deutsch-polnischen Beziehungen,
zunächst ausgeklammert bleiben. Selbst in Osteuropa wurde durch die
Schiedsverträge zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn die Sicherheitslage verbessert. Die Verknüpfung dieser Schiedsverträge mit dem
Völkerbund konsolidierte die Situation weiter. Durch den immer wahrscheinlicher werdenden Beitritt Deutschlands zum Völkerbund nahm die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konfliktes in dieser Region weiter ab. Trotz
der unleugbaren Ungleichbehandlung von Ost- und Westeuropa und des noch
lückenhaften und stark verbesserungsfähigen Systems der kollektiven Sicherheit nahm die Sicherheit in ganz Europa durch Locarno zu.
Eng im Zusammenhang mit dem Vorwurf der sicherheitspolitischen
Zweiteilung Europas steht die Kritik, Locarno hätte den Völkerbund geschwächt, indem die ohnehin wenig bindende Aussage des Artikels 16 weiter
verwässert worden sei373. Wie oben dargelegt, war dies nicht der Fall. Durch
die Kopplung der Schiedsverträge in Ost und West an die Völkerbundmechanismen und die Verknüpfung des Rheinpakts mit dem Völkerbund dürfte umgekehrt eher eine Stärkung des Völkerbunds als friedensbewahrendes Element
und seiner Prinzipien eingetreten sein. Die im Rheinpakt erfolgte Definition
der Aggression dürfte darüber hinaus, obwohl sie natürlich nicht Bestandteil
der Völkerbundssatzung wurde, die Diskussion um kollektive Sicherheit im
Bund positiv beeinflußt haben. Es kann durchaus davon ausgegangen werden,
372
373
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 64.
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 300.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen
255
daß von Locarno, vom Rheinpakt ebenso wie von den Schiedsverträgen, positive Impulse für die Schaffung kollektiver Sicherheit ausgegangen sind.
Aus dem Blickwinkel der kollektiven Sicherheit ist auch die Schwächung
der Bündnisse Frankreichs mit seinen östlichen Verbündeten positiv zu bewerten. Wie in der Definition von kollektiver Sicherheit festgestellt wurde, sind
Bündnisse, die sich gegen einen oder mehrere andere Staaten richten, potentiell für die kollektive Sicherheit gefährlich, weil sie die Gefahr von Konflikten
erhöhen374. Insofern war die Abschwächung des Bündnisses Frankreichs vor
allem mit Polen, aber auch mit seinen anderen Verbündeten in Osteuropa, die
durch Locarno zweifelsohne eintrat375, gut für die kollektive Sicherheit. Man
mag einwenden, daß die Auflösung der Bündnisstrukturen in Osteuropa zu
einer größeren Instabilität und damit zu einer allgemeinen Verringerung der
Sicherheit geführt habe; dies ist meines Erachtens aber nur bedingt der Fall:
Der Rückgang der Bedeutung der Bündnisse Frankreichs mit seinen östlichen
Alliierten wurde deshalb zu keinem wachsenden Sicherheitsdefizit, weil durch
die Schiedsverträge und die gestiegene Relevanz von kollektiver Sicherheit
neue Sicherheiten geschaffen wurden. Außerdem korrelierte der Rückgang der
Bedeutung der französischen Bündnisse mit dem Bedeutungsverlust der
deutsch-sowjetischen Allianz durch den »Westruck« Deutschlands376. Der stabilisierende Einfluß von Locarno auf Osteuropa zeigte sich schon bald darin,
daß Stresemann und die deutsche Diplomatie in der Doppelkrise um den Abbruch der britisch-sowjetischen Beziehungen im Mai 1927 und den litauischpolnischen Konflikt, der ganz Osteuropa zu destabilisieren drohte, den Versuchungen widerstanden, zusammen mit der Sowjetunion zu kurzfristigen
politischen Erfolgen zu gelangen377. Locamo legte somit den Grundstein
dafür, daß traditionelle Bündnisse in Europa langsam an Gewicht verloren und
kollektive Sicherheitsstrukturen an Bedeutung gewannen, wenngleich dies
natürlich nur die bescheidenen Anfänge und nicht den Endpunkt einer Entwicklung darstellte. Allerdings wurde die kollektive Sicherheit nicht um ihrer
selbst Willen implementiert, sondern blieb, besonders was die deutsche Seite
anging, taktischen Überlegungen (Erleichterung der Revision und die sogenannten »Rückwirkungen«) untergeordnet. Um aber tatsächlich zu dauerhaften und tragfähigen Fortschritten in der Sicherheitsfrage mit Hilfe des
Systems der kollektiven Sicherheit zu kommen, war es nötig, Locarno und den
Völkerbund durch funktionierende Strukturen zu ergänzen. Voraussetzung
dafür war wiederum, daß kollektive Sicherheit allgemein akzeptiert wurde und
nicht nur ein vor allem taktisches Moment zur Durchsetzung anderer politischer Konzepte blieb.
Vgl.RNG
GR٢N, Locamo, S. 479.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 346.
376
Vgl. hierzu Aufzeichnung Wallroth (16.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 240.
377
Vgl. WRIGHT, Stresemann, S. 396-400,404.
374
375
256
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Nichtsdestotrotz bildete Locamo einen entscheidenden Einschnitt und mφg
lichen Ausgangspunkt f٧r eine neue Politik. Ob sich dadurch die nach wie vor
großen Gegensätze zwischen deutschen und französischen außenpolitischen
Zielen würden überbrücken lassen, mußte die Zukunft entscheiden. Begreift
man Locarno als den Anfang und nicht als das Ende der kollektiven Sicherheit, so kann man der positiven Einschätzung des Generalsekretariats des Völkerbunds von 1930 durchaus zustimmen: »Les accords de Locarno presentent
un caractere eminemment nouveau, celui de combiner les 61ements les plus
interessante des traites de divers genres anterieurement conclus: d'arbitrage, de
conciliation, de non-agression et de garantie, elements qui se trouvaient dejä
reunis dans le pacte«378.
Wie gesagt, Locarno war ein Anfang. Wie entwickelte sich die Sicherheitsfrage danach weiter?
Für Deutschland gewann die Frage der oben bereits kurz angedeuteten
»Rückwirkungen« an Gewicht. Bereits im Sommer des Jahres 1925 hatte die
Reichsregierung angedeutet, daß sie im Falle eines Abschlusses des Sicherheitspakts Gegenleistungen von den Alliierten erwarten würde. In der bereits
erwähnten deutschen Note vom 20. Juli 1925 wurde vor allem die Räumung
des Rheinlandes gefordert379. Das AA mußte dabei einen schwierigen Kurs
steuern: Um an der Heimatfront vor allem den Vorwürfen von Rechts entgegenzuwirken, mußten die Rückwirkungen ins Spiel gebracht werden. Andererseits war es verhandlungstaktisch unklug, die Westmächte noch vor Beginn
der Locamo-Konferenz mit neuen Forderungen zu konfrontieren380. Im Vorfeld der Konferenz von Locarno wurde deshalb versucht, die Frage der Rückwirkungen möglichst behutsam zu behandeln. Erst in Locarno, und auch erst
in der Endphase der Konferenz ab dem 12. Oktober 1925 brachten Stresemann
und Luther die Rückwirkungen oder auch »Nebenpunkte« gegenüber den
Westmächten zur Sprache381. Diese umfaßten eine Amnestie für die Gefangenen des Ruhrkampfs382 ebenso wie die Aufhebung der Beschränkungen für die
deutsche Zivilluftfahrt, wobei diese Frage zunächst wegen anderer, wichtigerer Probleme zurückgestellt wurde383. Zudem erwartete die Reichsregierung
eine entgegenkommende Behandlung der noch offenen Punkte in der Entwaffnungsfrage und lehnte die Etablierung dauerhafter Überwachungsorgane
378
Dix ans de cooperation internationale, hg. v. Secritariat de la S.D.N., Genf 1930, zitiert
nach: BAILLOU, Affaires itrang£res, S. 512.
379
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 56
380
Siehe Stresemann an die Botschaften in London, Paris, Rom und die Gesandtschaft in
Br٧ssel (24.9.1925), AD AP A XIV, Nr. 80.
381
Vgl. hierzu Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138; Aufzeichnung
Schubert (15.10.1925), AdR LutherzyutsrponmlihgfedcbaXVSRPONLJIHDCBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 195a; Aufzeichnung Luther (15.10.1925),
AdR Luther Ι/Π Bd. 2, Nr. 195b.
382
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 60.
383
Schubert an Hoesch (26.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 183.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
257
im Rheinland zur Kontrolle der Demilitarisierungsbestimmungen, die soge
nanntentsnmleba
elements stables, ab384. Die wichtigsten Forderungen bezogen sich
aber auf das besetzte Rheinland. Hier erwartete Deutschland die Rδumung der
Kφlner Zone und die Erleichterung des Besatzungsregimes, unter anderem den
Abzug der farbigen Besatzungstruppen385. Auch die vorzeitige Rδumung der
beiden ٧brigen Besatzungszonen, deren Rδumung im Versailler Vertrag f٧r
1930 bzw. 1935 vorgesehen war, wurde von deutscher Seite zur Sprache ge
bracht. Die R٧ckgabe des unter Vφlkerbundsverwaltung stehenden Saargebiets
war eine weitere von Deutschland erhobene R٧ckwirkung, schien jedoch eine
geringere Prioritδt als die Rheinlandrδumung gehabt zu haben. Wie erwδhnt,
trafen die deutschen Forderungen auf starken Widerstand bei den Westmδch
ten386. Chamberlain und Briand lehnten es ab, sich in Locarno in irgendeiner
Weise zu binden387. Sie sicherten allerdings zu, im Anschluß an die Konferenz
ein festes Datum für die Räumung der Kölner Zone zu setzen, auch wenn die
Entwaffnungsbestimmungen noch nicht vollständig erfüllt sein sollten388.
Die Reichsregierung beabsichtigte, die Zeit unmittelbar nach der Konferenz
von Locarno zu nutzen, um Fortschritte bei der Erfüllung der Rückwirkungen
zu erzielen. Sie hatte dabei einen wichtigen Trumpf im Ärmel. Da der Rheinpakt und die Schiedsverträge in Locarno am 16. Oktober 1925 lediglich paraphiert worden waren, und die Unterzeichnung nach erfolgter Ratifikation
durch die nationalen Parlamente erst für den 1. Dezember 1925 in London
vorgesehen war, hatte die deutsche Regierung innerhalb dieses Zeitraums unter Hinweis auf die schwierige innenpolitische Lage und den Widerstand
gegen Locarno - die Möglichkeit, Zugeständnisse in der Rückwirkungsfrage
zu erzielen389.
Zwar war, wie Schubert gegenüber Margerie bereits im Januar 1925 festgestellt hatte, die Entwaffnungsfrage und die eng damit verknüpfte Rheinlandbesetzung »immerhin doch nur ein technisches Detail«390, während die Sicherheitsfrage das zentrale Problem war, doch gab die Behandlung dieser (und der
anderen) Rückwirkungen Auskunft darüber, inwieweit durch Locarno das Sicherheitsproblem tatsächlich gelöst worden war. Obwohl »[i]m Frühjahr 1921
[...] die Entwaffnung Deutschlands zum größten Teil durchgeführt«391 war,
blieb das Thema weiterhin akut: Für Frankreich bestand darin ein zentraler
384
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 61; Aufzeichnung Schubert (12.10.1925),
ADAP A XIV, Nr. 138.
385
Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138. Siehe auch zum
folgenden.
386
Siehe Schubert an Köpke (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 140.
387
Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138.
388
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 338.
389
Siehe Runderlaß Stresemann (20.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 160.
390
Siehe Aufzeichnung Schubert (23.1.1925), AD APrN
Α ΧΠ, Nr. 45.
391
KRÜGER, Außenpolitik, S. 137.
258
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Punkt seines Sicherheitsprogramms, bei dem es nicht nur darauf ankam,
Deutschland zu entwaffnen, sondern auch langfristig die Wiederaufr٧stung
Deutschlands zu unterbinden. Nachdem durch den Ruhrkampf die Arbeit der
Interalliierten Militδrkontrollkommissionen (IMKK) zum Erliegen gekommen
war, hatte die Botschafterkonferenz am 3. Oktober 1923, also kurz nachdem
die Reichsregierung das Ende des passiven Widerstandes verk٧ndet hatte, eine
Note an Berlin gerichtet, in der die Wiederaufnahme der Kontrollen durch die
IMKK angek٧ndigt wurde392. Allerdings verzφgerten Divergenzen zwischen
Frankreich und Großbritannien über die Modalitäten der Kontrolle den Beginn
der Inspektionen. Erst am 5. März 1924 kam es zu einer Einigung. In der alliierten Note, die am folgenden Tag der Reichsregierung übergeben wurde,
wurde eine Generalinspektion gefordert, um sicherzustellen, daß Deutschland
seit dem Ende der Kontrollen im Januar 1923 keine heimliche Aufrüstung betrieben habe. Dabei ging es vor allem um die Klärung von fünf Punkten393:
Erstens, die Reorganisation der Polizei und vor allem das Ende der Kasernierung einiger Polizeieinheiten, zweitens, die Umwandlung von Rüstungsfabriken und das Ende unerlaubter Rüstungslieferungen, drittens, Informationen
über den Zustand und die Produktion von Kriegsmaterial, viertens, die Annahme der von den Westmächten geforderten Gesetze über das Verbot des Imund Exports von Kriegsmaterial durch Deutschland und, fünftens, die Anpassimg der Heeresorganisation und der Rekrutierung an die Bestimmungen des
Versailler Vertrags. Nach erfolgter und zufriedenstellender Generalinspektion
stellte die Botschafterkonferenz in Aussicht, die von Deutschland abgelehnte
und auch von Frankreich zunehmend kritisch beurteilte394 IMKK aufzulösen.
Allerdings sollte sie durch ein an den Völkerbund gebundenes »Comite de
garantie« ersetzt werde.
Die Reichsregierung akzeptierte in ihrer Note vom 31. März 1924395 prinzipiell die Generalinspektion und die Berechtigung der fünf Punkte. Allerdings
forderte Deutschland, daß die Generalinspektion nicht durch die IMKK, sondern durch den Völkerbund vorgenommen werden solle, und wies darauf hin,
daß die deutsche Abrüstung gemäß dem Versailler Vertrag den Auftakt für
eine allgemeine Abrüstung bilden müsse. Außerdem verlangte die deutsche
Regierung, daß es sich um die letzte Kontrolle dieser Art handeln, eine Einigung über die Modalitäten der Inspektion erzielt und die Inspektion vor dem
30. September 1924 abgeschlossen sein müsse.
Die Generalinspektion begann schließlich am 8. September 1924, und ihr
negativer Zwischenbericht vom Dezember 1924 lieferte, wie bereits darge-
392
Zum folgenden siehe BARI6TY, Relations francoallemandes, S. 298f.
Dazu siehe BAECHLER, Stresemann, S. 497.
394
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 198.
395
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 497.
393
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
259
stellt, den Westmδchten die Begr٧ndung, die Rδumung der Kφlner Zone zum
10. Januar 1925 abzulehnen.
Aus deutscher Sicht bedenklich war außerdem das sogenannte »Investigationsprotokoll«, das der Völkerbundsrat am 27. September 1924 verabschiedet
hatte396. In diesem Protokoll wurden die Befugnisse und die Organisation jener
Völkerbundsorgane festgelegt, die nach dem Abzug der IMKK die Entwaffnungsbestimmungen, die den Verlierern des Ersten Weltkriegs in den Friedensverträgen auferlegt worden waren397, überwachen sollten. Gemäß des Investigationsprotokolls sollte die Commission permanente consultative des
Völkerbundsrates, ausgehend von Anzeigen der Mitgliedsstaaten, Untersuchungskommissionen einsetzen, die einen möglichen Verstoß gegen die Entwaffnungsbestimmungen untersuchen sollten, wobei das Untersuchungsfeld
recht weit gespannt war: Neben der Überwachung der zulässigen Bewaffnung
und der Einhaltung der Personalstärken gehörte zum Aufgabengebiet der
Kommissionen auch die Kontrolle der Ausbildung, der Militärgesetze und des
Wehretats. Nicht zu verwechseln mit diesen ad hoc einzuberufenden Überwachungskommissionen sind jedoch die ebenfalls von Frankreich geforderten tsnmleba
elements stables, die als dauerhafte Kontrollorgane zur Überwachung der Demilitarisierungsbestimmungen (Artikel 42f.) des Versailler Vertrags dienen
sollten. Das Investigationsprotokoll, ebenso wie die elements stables, waren
für Deutschland »unannehmbar«398. Für die Reichsregierung gehörte zu ihrem
Kampf für die militärische Gleichberechtigung deshalb nicht nur die Abschaffung der IMKK, sondern auch die Verhinderung des Investigationsprotokolls
und der elements stables.
Vordringlichstes Problem blieb aber zunächst die Arbeit der IMKK, deren
Zwischenbericht der Anlaß für die verzögerte Räumimg der Kölner Zone war.
Nachdem die Generalinspektion am 15. Februar 1925 abgeschlossen war399,
wurde ihr Bericht an die Botschafterkonferenz übergeben, die die politischen
Konsequenzen aus der Arbeit der IMKK ziehen mußte. Gemäß den Absprachen zwischen Herriot und MacDonald auf der Londoner Konferenz, die sich
auch die neue konservative englische Regierung zu eigen machte, war die
Räumung der Kölner Zone zwar an die Erfüllung der Entwaffnungsbestimmungen, nicht jedoch an eine Lösung der Sicherheitsfrage gebunden400. Die
französische Regierung versuchte jetzt aber, als die englische Ablehnung des
Genfer Protokolls immer klarer wurde, die Räumung der Kölner Zone mit der
zufriedenstellenden Lösung der Sicherheitsfrage zu verknüpfen. Chamberlain
396
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Seeckt (31.10.1924), ADAP A XI, Nr. 135.
Für Deutschland waren dies die Bestimmungen des Teils V des Versailler Vertrags, speziell Art. 213.
398
Aufzeichnung Seeckt (31.10.1924), ADAP A XI, Nr. 135.
399
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 51. Auszüge des Berichts wurden veröffentlicht, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 404-408.
400
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 48.
397
260
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
wehrte sich zwar zunδchst gegen diese Auffassung, faktisch konnte Herriot
jedoch seinen Standpunkt durchsetzen401. Wegen dieser Differenzen ver
zφgerte sich auch die Note der Botschafterkonferenz402 an die Reichs
regierung, in der diese die Ergebnisse der Generalinspektion und die daraus
gezogenen Konsequenzen mitteilte, bis 4. Juni 1925. Die Note w٧rdigte zwar
die loyale Erf٧llung der Reparationsverpflichtungen durch die Deutschen,
gleichzeitig stellte sie aber auch einige Verstöße gegen die Entwaffhungsbestimmungen fest, die die kasernierte Polizei, die Zerstörung von Waffen und
militärischen Einrichtungen, die Führungsstruktur der Armee und die paramilitärischen Organisationen betrafen, so daß die Räumung der Kölner Zone
in den Augen der Westmächte weiterhin nicht gerechtfertigt erschien403.
Wegen des engen Zusammenhangs von Sicherheits- und Entwaffnungsfrage
lag letztere, während um den Sicherheitspakt und die Schiedsverträge gerungen wurde, zunächst auf Eis404. Erst in Locarno kam wieder Bewegung in
die Entwaffnungsfrage, nachdem sich die Westmächte bereit erklärt hatten, die
Räumung der Kölner Zone zu prüfen, auch wenn die beanstandeten Punkte der
Generalinspektion noch nicht vollständig gelöst waren. Allerdings sollte ein
entsprechender Vorstoß erst nach der Konferenz und von deutscher Seite stattfinden405. Diese Initiative erfolgte schließlich in Form der deutschen Note vom
23. Oktober 1925406. Die Reichsregierung legte darin dar, daß sie die überwiegende Anzahl der Forderungen der alliierten Note vom 4. Juni 1925 - es
handelte sich dabei um die oben erwähnten »Fünf Punkte« - erfüllt habe und
»die weit überwiegende Mehrzahl der übrigen Forderungen so weit gefördert
worden ist, daß ihre restlose Erledigung bis zum 15. Nov. d.J. in sichere Aussicht gestellt werden kann«407. Zwar gebe es noch einige wenige Punkte, die
nicht bis zu diesem Termin erledigt werden könnten, doch seien die Fortschritte auf dem Gebiet der Entwaffnung insgesamt so weit gediehen, daß eine
Räumung nach deutscher Auffassung veranlaßt werden könne.
Die Westmächte bewerteten die Fortschritte bezüglich der deutschen Entwaffnungsanstrengungen zwar weniger optimistisch, konzedierten in ihrer
Antwort vom 6. November 1925408 jedoch große Fortschritte und lobten die
konstruktive Mitarbeit der deutschen Behörden. Bevor sie allerdings die Räu401
Siehe ibid. S. 50.
Text der Note siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925),
S. 402-404.
403
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 5 9 8 .
404
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 5 1 .
405
Siehe Aufzeichnung Schubert (12.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 138; Stresemann an Botschaft London (22.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 166.
406
Text der Note siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925),
S. 409f.
407
Ibid.
408
Text der Note siehe ibid. S. 410f.
402
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstukturen
261
mung des Rheinlandes zusagen wollten, forderten sie von der Reichsregierung
konkrete Plδne besonders zu Punkt eins der F٧nf Punkte, die Reorganisation
der Polizei, die »zum Ziele haben müßte, die Polizei des Charakters einer militärischen Organisation zu entkleiden«409, sowie Vorschläge zum Verbot paramilitärischer Organisationen und zur Reorganisation der deutschen Armee. In
den folgenden Tagen fanden in Paris Verhandlungen zu den alliierten Forderungen statt, und bereits am 11. November 1925 konnte Hoesch den Westmächten eine Note übergeben, in der die Lösung der strittigen Punkte in Aussicht gestellt wurde410. Am 13. November 1925 verkündete die Reichsregierung einen Erlaß, in dem die Gründung paramilitärischer Einheiten untersagt wurde411. Am 14. November 1925 schließlich erklärte der Generalsekretär
der Botschafterkonferenz, Rene Massigli gegenüber Hoesch, daß die Räumung
der Kölner Zone am 1. Dezember 1925 beginnen werde412. Eine entsprechende
Note wurde Hoesch von der Botschafterkonferenz am 16. November 1926
überreicht: Der Termin für den Beginn der Räumung wurde bestätigt, der Abzug der Truppen aus der Kölner Zone sollte spätestens bis zum 20. Februar 1926
abgeschlossen sein413.
Bezüglich der Entwaffhungsfrage und der Räumung der Kölner Zone traten
nach Locarno also in der Tat die erhofften Rückwirkungen ein: Viele Punkte
der Entwaffhungsfrage wurden gelöst, die Räumung der Kölner Zone begann.
Allerdings konnte Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreichen, daß
die Interalliierten Militärkontrollkommissionen aus Deutschland abgezogen
wurden. Erst am 12. Dezember 1926 konnten die Westmächte und Deutschland eine Einigung erzielen, daß die IMKK zum 31. Januar 1927 Deutschland
verließen und die Kontrollen zur Überprüfung der Entwaffnungsbestimmungen aufhörten414. Der letzte strittige Punkt - die Zerstörung von Befestigungsanlagen, die die Deutschen in Ostpreußen errichtet hatten - war zuvor dahingehend gelöst worden, daß die Reichsregierung der Schleifung einiger dieser
Anlagen zugestimmt hatte415. Allerdings ist festzustellen, daß Deutschland in
der Frage der Entwaffnung dem Westen sehr weit entgegengekommen war, so
daß die Bereitschaft der Alliierten, die Kölner Zone zu räumen, vielleicht weniger als Rückwirkung von Locarno, sondern vielmehr als Ergebnis konkreter
Fortschritte in der Entwaffhungsfrage gesehen werden muß, wenngleich natür409
Ibid.
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 63.
411
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 638.
412
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 412.
413
Siehe POULAIN, Vorgeschichte, S. 90. Text der Note siehe MICHAELIS u.a., Ursachen und
Folgen, Bd. 6, Nr. 1350. Nachdem die Locarno-Gesetze vom Reichstag am 27.11.1925 angenommen worden waren, begann die Räumung schon am 30.11.1925 und war bereits zum
31.1.1926 abgeschlossen, siehe BAECHLER, Stresemann, S. 647.
414
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 362.
415
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 96.
410
262
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
lieh durch Locarno g٧nstige politische Rahmenbedingungen hierf٧r geschaf
fen werden konnten416.
Auch in einem weiteren Bereich f٧hrte Locarno zu R٧ckwirkungen, nδmlich
hinsichtlich der Umgestaltung des Besatzungsregimes. Bereits am 3. Novem
ber 1925 also noch bevor in Paris eine endg٧ltige Einigung hinsichtlich der
Entwaffnungsfrage erzielt worden war hatte Briand an Margerie telegrafiert,
daß die Besatzungstruppen in den übrigen Besatzungszonen verringert werden
würden und das Besatzungsregime in wesentlichen Punkten geändert würde417.
Diese Änderungen bezogen sich in erster Linie auf die Abschaffung der Delegierten der Westmächte bei den deutschen Behörden, die Aufhebung von Ordonnanzen - also alliierten Sondergesetzen im Rheinland - , eine Amnestie
und die Wiedereinsetzung eines Reichskommissars als Verbindungsglied zwischen den Besatzungsbehörden und der Reichsregierung. Ferner kündigte Briand an, daß sich die Besatzungsmächte von nun an nicht mehr in Verwaltungs-, Schul- und Sportfragen einmischen und requiriertes Eigentum - es
ging dabei vor allem um Wohnungen für die alliierten Truppen - zurückgegeben würde. Die Westmächte kamen damit vielen Forderungen eines deutschen
Memorandums nach, das Schubert am 14. Oktober 1925 in Locarno inoffiziell
Lampson, Berthelot und Vandervelde übergeben hatte418. Allerdings liefen
auch diese Verhandlungen nicht reibungslos. Zum einen sperrte sich der Chef
der Rheinlandkommission (H.C.I.T.R.), Tirard, gegen die Beschneidung seiner
Befugnisse, so daß es zwischen ihm und Hoesch zu einer »teilweise sehr bewegten Auseinandersetzung«419 in dieser Frage kam. Erst auf Druck von Briand und Berthelot420 und sogar von Chamberlain421 gab Tirard schließlich
nach. Ein weiteres Problem stellte der Umfang der alliierten Truppenreduzierung im Rheinland dar. Briand, der sich vor allem von seiten der französischen Militärs unter Druck gesetzt sah, wollte wenn überhaupt nur in geringem Maße Soldaten abziehen422. Die Reichsregierung dagegen forderte eine
Reduzierung auf 46 000 Mann, was dem Bestand an deutschen Truppen im
besetzten Gebiet vor dem Ersten Weltkrieg entsprach423. Frankreich hingegen
bestand auf 75 000 Mann (davon 60 000 Franzosen, der Rest Engländer und
Belgier). Der Konflikt über die Höhe der Besatzungstruppen schwelte bis zum
August 1926, als die französische Armee schließlich eine Verringerung der
416
Siehe ibid. S. 136.
Zum folgenden siehe Briand an Margerie (3.11.1925), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcba
Ζ (Europe) Al
lemagne, 388.
418
Text des Memorandums siehe Aufzeichnung Schubert (14.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 146,
Anlage I.
419
Hoesch an AA (24.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 179.
420
Siehe ibid.
421
Siehe Aufzeichnung Schubert (29.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 195.
422
Siehe Hoesch an AA (23.10.1925), AD AP A XIV, Nr. 172.
423
Hierzu uund zum folgenden siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 76f., 134136.
417
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
263
Besatzungstruppen um 6 000 Mann bekanntgab. Die Frage nach der Reduzie
rung der Besatzungstruppen war damit aber noch nicht erledigt. Nachdem die
deutschen Vorstöße zur Räumung des gesamten Rheinlands von französischer
und britischer Seite Anfang 1927 abgeschmettert worden waren, forderte Stresemann eine weitere Truppenreduzierung. Erst im September 1927 kam es zu
einer Einigung, die Besatzungstruppen auf 60 000 Mann zu reduzieren.
Keinen Erfolg hatte die Reichsregierung bei einer weiteren Rückwirkung,
die ebenfalls das Rheinland betraf, nämlich die vorzeitige Räumung der übrigen beiden Besatzungszonen um Koblenz und Mainz. Bereits im Juni 1925
hatte Stresemann entsprechende Wünsche gegenüber D'Abernon geäußert,
allerdings hatte letzterer stets daraufhingewiesen, daß es in London, vor allem
aber in Paris, keine Bereitschaft gebe, diese Frage zu diskutieren424. Nach Locarno blieben die Westmächte bei ihrer Position: Eine vorzeitige Räumung der
übrigen Besatzungszonen im Rheinland stand nicht zu Diskussion, was Briand
Anfang November 1925 nochmals deutlich machte425. Für diese Haltung gab
es vor allem zwei Gründe. Der erste waren Sicherheitserwägungen. Da Locarno nach französischer Auffassung nur der Anfang, keinesfalls aber das Ende
einer umfassenden europäischen Sicherheitsarchitektur mit dem Völkerbund
im Zentrum sein konnte, mußten Sicherheitsgarantien wie die des besetzten
Rheinlands so lange aufrechterhalten werden, bis effektive Völkerbundsmechanismen geschaffen werden konnten426. Der zweite Grund waren die Reparationen. Da der Dawes-Plan nur eine vorläufige Lösung des Reparationsproblems darstellte, mußte aus französischer Sicht die Räumung des Rheinlandes
so lange herausgezögert werden, bis ein endgültiger Zahlungsplan aufgestellt
würde427. Erfolgte die Räumung jedoch vor einer endgültigen Lösung, hätte
Frankreich in den anstehenden Reparationsverhandlungen keinerlei Druckmittel mehr. Für Frankreich konnte die Devise deshalb nur lauten: Die Räumung
kann erst dann erfolgen, wenn die Reparationen vollständig bezahlt oder
kommerzialisiert sind428.
Die Behandlung der Rückwirkungen, auf der Konferenz von Locarno selbst
und unmittelbar danach, bestätigen die Interpretation der Bedeutung des Vertragswerkes von Locarno, nämlich daß dieses lediglich einen Anfang zur dauerhaften Stabilisierung Europas und zur Umsetzung kollektiver Sicherheitsstrukturen bilden konnte. Die Rückwirkungen verdeutlichten aber auch, daß
der Grundwiderspruch zwischen der französischen Außenpolitik, mit ihrem
Hauptziel, der Gewährleistung vonutsriec
securite für Frankreich selbst, aber auch
424
Siehe ibid. S. 55-57.
Siehe Briand an Margerie (3.11.1925), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcaUSPMEA
Ζ (Europe) Allemagne, 388.
426
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.11.1925), MAE PAAP 217, 7.
427
Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.11.1925), MAE PAAP 261, 3.
428
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.11.1925), MAE PAAP 217, 7.
425
264
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
f٧r Europa, und der deutschen Außenpolitik, der (friedlichen) Revision des
Versailler Vertrags, fortbestand.
Eine Ursache dafür, daß Locamo zu keiner umfassenden Änderung der außenpolitischen Koordinaten sowohl in Frankreich als auch in Deutschland führen konnte, lag darin begründet, daß der Rheinpakt und die Schiedsverträge in Deutschland stärker noch als in Frankreich - innenpolitisch umstritten waren. In Deutschland führte die Ratifizierung der Verträge von Locarno zu einer
veritablen Regierungskrise. Nachdem das Kabinett am 22. Oktober 1925 einstimmig - also mit Zustimmung der DNVP-Minister Schiele, Neuhaus und
von Schlieben - den Rheinpakt und die Schiedsverträge verabschiedet hatte,
wobei das Kabinett allerdings von der »festen Erwartung [ausgeht], daß die
logischen Auswirkungen des Werks von Locarno besonders in den Rheinlandfragen sich alsbald verwirkliche«429, mußten die Kabinettsmitglieder der
DNVP auf Druck der eigenen Reichstagsfraktion und der Landesdelegierten
am 26. Oktober 1925 zurücktreten430. Allerdings traten auch andere Gruppen
mit besonderen Erwartungen an die Reichsregierung heran: So forderte eine
Delegation von Rheinländern jeder politischer Couleur Erleichterungen besonders hinsichtlich des Rheinlandregimes431. Nachdem die von Luther und
Stresemann öffentlich eingeforderten Rückwirkungen von Locarno nur unvollständig erreicht werden konnten, waren auch die übrigen Parteien - einschließlich der oppositionellen SPD432, mit deren Zustimmung der Rheinpakt
und die Schiedsverträge schließlich ratifiziert werden konnten - nur wenig enthusiastisch433. Die in den Augen der Westmächten überzogenen Forderungen
der Reichsregierung und die wenig begeisterte Aufnahme der Locarnoverträge
in Deutschland ließen wiederum bei den Alliierten das Gefühl entstehen, die
Deutschen seien maßlos und undankbar434. In Frankreich wurde Locarno zwar
weitestgehend positiv aufgenommen435, doch gab es auch hier Kritik vor allem
Siehe Kabinettsrat (22.10.1925), AdR LutherzutsrpnmkihgfedcbaZXVSRPNMLKIDBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 203.
Siehe Aufzeichnung Schubert (24.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 176, Vermerk Kempner
(23.10.1925), AdR LutherYVL
VYL Bd. 2, Nr. 205 und Ministerrat (26.10.1925), AdR Luther Ι/Π
Bd. 2, Nr. 208. Zur Auseinandersetzung um die Ratifizierung der Locarno-Verträge und die
Regierungskrise siehe auch: Hans LUTHER, Politiker ohne Partei. Erinnerungen, Stuttgart
1960, S. 386-389.
429
430
431
Siehe Meissner an AA (21.10.1925), ADAP A XIV, Nr. 161.
Zur Haltung der SPD siehe Rede Wels (24.11.1925), in: MICHAELIS u.a., Ursachen und
Folgen, Bd. 6, Nr. 1353a.
433
S. WRIGHT, Stresemann, S. 340f. Zu den oppositionellen Stimmen zu Locarno siehe MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1346a-1346f, 1353b, 1353e. Bei prinzipieller
Zustimmung verwies Fehienbach (Z) auf die erwartete Räumung des gesamten Rheinlandes
(MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1353c) und Scholz (DVP) stellt zusammenfassend fest: »Das in den Verträge von Locarno Erreichte stimmt uns nicht zu lautem
Jubel«, MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1353d.
434
Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 240.
435
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 345.
432
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
265
von rechts. Der Comite de la rive gauche du Rhin bemδngelte die »R٧ck
wirkungen« insgesamt und die seiner Ansicht nach ٧bereilte Rδumung der
Kφlner Zone436. Pertinax437 f٧hrte im rechtsgerichteten und nicht gerade
deutschfreundlichen Echo de Paris einen Generalangriff auf die Locarno
Politik Briands438.
Die gegensδtzlichen außenpolitischen Zielsetzungen Frankreichs und
Deutschlands und die mangelnde innenpolitischen Bereitschaft, positiv am
Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen mitzuwirken, hatten zur Folge, daß
Fortschritte bei der Modernisierung der Außenpolitik nur langsam erfolgten.
Nichtsdestotrotz wurde die kollektive Sicherheitspolitik Schritt für Schritt weiterentwickelt. Die nächste Etappe auf dem Weg der Modernisierung der Außenpolitik war der deutsche Beitritt zum Völkerbund im Herbst 1926.
4.1.5. Die Weiterentwicklung
der kollektiven Sicherheit im Völkerbund
In gewisser Weise war der deutsche Beitritt zum Völkerbund ebenfalls eine
Rückwirkung von Locarno. Die Bedeutung dieses Ereignisses lag dabei auf
verschiedenen Ebenen: Mit dem Deutschen Reich trat der größte der im Ersten
Weltkrieg unterlegenen Staaten dem Genfer Bund bei. Dieser verlor dadurch
einerseits seinen Charakter als Instrument der Siegerstaaten, andererseits wurde ein großer Schritt hin zur Universalität des neuen Bunds getan, wenngleich
die USA und die Sowjetunion weiterhin abseits standen. Darüber hinaus bedeutete der deutsche Eintritt auch die Anerkennung der Prinzipien des neuen,
durch den Völkerbund geschaffenen Völkerrechts durch Deutschland.
Die Weiterentwicklung der kollektiven Sicherheitsstrukturen im Völkerbund
war nach Locarno von zwei Faktoren abhängig: erstens natürlich von den bereits vorhandenen Ansätzen der kollektiven Sicherheit, also vor allem von der
durch die Haager Friedenskonferenzen begonnenen Schiedspolitik und der
Völkerbundssatzung, wobei die Satzung selbst das Ergebnis eines langen historischen Prozesses war. Zweitens wurde die Sicherheitsdiskussion in Genf
aber auch durch den deutschen Beitritt in den Völkerbund beeinflußt, weil wie im vorangegangenen zu sehen war - die Reichsregierung keineswegs glühende Anhängerin des vom Völkerbund vertretenen Modells der kollektiven
Sicherheit war.
436
437
Siehe Comiti de la rive gauche du Rhin an Pamlevd (19.11.1925), AN 313 AP, 224.
Pertinax war das Pseudonym des französischen Journalisten Andre G£raud, siehe CHAL-
LENER, E r a , S. 6 6 f .
438
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift für Briand (3.2.1926), MAE PAAP 261,2.
266
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Der durch die Pariser Vorortvertrδge geschaffene Vφlkerbund439 konnte auf
lange diskutierte theoretische Grundlagen aufbauen. Bereits im Mittelalter
hatte es erste Vor٧berlegungen zu einem allgemeinen Staatenbund gegeben440,
die jedoch kaum praktische Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen zwi
schen den Staaten gehabt hatten. Insofern stellten sie also nur eine Phase der
Innovation dar, der eine modernisierende Wirkung, im Sinne der Umsetzung
von Innovation, zunδchst nicht folgte. Erst im 19. Jahrhundert kam es zu ei
nem zaghaften Aufbau internationaler Organisationen, die aber anfangs ledig
lich den Charakter von Zweckverbδnden hatten, wie z.B. der 1874 gegr٧ndete
Weltpostverein441. Eine wichtige Neuerung stellte die Schaffung des interna
tionalen Schiedsgerichtshofes durch die erste Haager Friedenskonferenz von
1899 dar442. Dies war der erste Versuch, friedliche Streitschlichtungsmecha
nismen f٧r internationale Konflikte zu etablieren443. Zwar blieb die Schiedsge
richtsbarkeit durch »unbefriedigende Halbheit«444 noch sehr beschrδnkt, doch
d٧rfte ihr Einfluß auf die weitere Entwicklung der friedlichen Konfliktregelung nicht zu unterschätzen sein. Wie oben zu sehen war, war ja die deutsche
Politik der kollektiven Sicherheit nach dem Ersten Weltkrieg sehr stark vom
Schiedsgerichtsgedanken durchdrungen445. In der Präambel zur Konvention
der zweiten Haager Friedenskonferenz (1907) tauchte zwar erstmals der Begriff des Völkerbunds (»Societe des Nations«) auf446, doch waren die praktischen Erfolge der Konferenz - zu einer Zeit, in der sich die Konflikte zwischen den europäischen Großmächten zuspitzten - minimal447. Leon Bourgeois, der nicht nur Leiter der französischen Delegation bei den Haager Friedenskonferenzen, sondern auch als Delegierter bei der Pariser Friedenskonferenz von 1919 an den Verhandlungen über die Völkerbundssatzung beteiligt
439
Literatur zum Thema Völkerbund: Das Heft 75 (1993) der Relations internationales ist
ganz dem Völkerbund gewidmet. Antoine FLEURY, The League of Nations: Toward a New
Appreciation of Its History, in: Manfred F. BOEMEKE, Gerald D. FELDMAN, Elisabeth
GLASER (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge u.a
1998, S. 507-522; Felix MORLEY, The Society of Nations. Its Organization and Constitutional Development, London 1932; Francis Paul WALTERS, A History of the League of Nations, 2 Bde., Oxford u.a. 1952; PFEIL, Völkerbund; Albert KRUSE, Der Völkerbund. Ziele,
Organisation und Tätigkeit, Frankfurt a. M. 1928; KIMMICH, League of Nations; MOUTON,
intdrets de la France, wobei die letztgenannte Untersuchung nur die Jahre von 1919-1924
umfaßt. Ebenfalls nur einen Teilbereich umfaßt die Studie von Haas: Christa HAAS, Die
französische Völkerbundspolitik 1917-1926, Dortmund 1996.
440
Zur Vorgeschichte des Völkerbunds siehe PFEIL, Völkerbund, S. 32- 45.
441
Siehe ibid. S. 33.
442
Ein ausfuhrlicher Oberblick zu den beiden Haager Friedenskonferenzen findet sich bei:
Leon BOURGEOIS, Pour la Sociöte des Nations, Paris 1910, Teil I undurpoiheUTSRPLIGFEA
Π.
443
Siehe GIRAULT, Europe, S. 107.
444
PFEIL, Völkerbund, S. 34.
445
Siehe Kap. 4.1.3.
446
Siehe GlRAULT, Europe, S. 107.
447
Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 35.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
267
und bei der franzφsischen Vertretung beim Vφlkerbund in den 1920er Jahren
tδtig war448, legte in seinem 1910 erschienen Werk »Pour la Societe des Nati
ons«449, wichtige Prinzipien des neuen Vφlkerrechts dar: »II n'y a de paix veri
table que sous le r£gne du droit«450, weshalb die Diplomatie der Gewalt durch
die des Rechts ersetzt werden m٧sse451.
Die katastrophalen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs stδrkten vor allem
im Westen die Vφlkerbundsidee452, wδhrend sie in Deutschland erst nach der
Niederlage größere Verbreitung fand453. Wilson, der bald der prominenteste
Fürsprecher des Völkerbundsgedanken werden sollte, reihte sich erst 1916 in
die Reihe der Völkerbundsbefürworter ein454, während Lloyd George zögerte
und Clemenceau kaum daran interessiert war455. Vielleicht auch wegen des
geringen Interesses der europäischen Staatsmänner gelang es Wilson, in der
Vollversammlung der Friedenskonferenz am 25. Januar 1919 durchzusetzen,
daß die Völkerbundssatzung integraler Bestandteil der Friedensverträge werden sollte. Gleichzeitig wurde eine Kommission eingesetzt, die sich unter Vorsitz des amerikanischen Präsidenten mit der Ausarbeitung der Völkerbundssatzung befassen sollte456. Am 28. April 1919 nahm die Vollversammlung
einstimmig die Satzung an, nachdem Frankreich und Italien sich zuvor nicht
mir ihrer Forderung hatten durchsetzen können, daß gegen einen Angreifer
automatisch Sanktionen verhängt würden. Auch der Vorschlag Bourgeois' zur
Schaffung einer »internationalen Armee« wurde abgelehnt, wohl weil die angelsächsischen Mächte eine Vormacht Fochs in dieser Institution befürchteten457. Bereits hier erfuhr die Idee der kollektiven Sicherheit mit ihrem zentralen Organ, dem Völkerbund, also eine deutliche Schwächung. Nach der
Ratifikation des Versailler Vertrags durch Deutschland und die wichtigsten
Alliierten wurde der Völkerbund am 10. Januar 1920 offiziell gegründet.
448
Ein kurzer Überblick über die Arbeit Bourgeois' findet sich in: Adolf WILD, Leon Bourgeois - der Vater des Völkerbunds, in: Michael NEUMANN (Hg.), Der Friedens-Nobelpreis
von 1917-1925, Zug 1988, S. 70-77.
449
BOURGEOIS, Societd des Nations.
450
Ibid. S. 7
451
Siehe ibid. S. 13.
452
Siehe GlRAULT, Europe, S. 107.
453
Siehe Hans WEHBERG, Das deutsche Volk und der Völkerbund, in: P. MUNCH (Hg.), Les
Origines et l'oeuvre de la Socidti des Nations, Bd. 1, Kopenhagen u.a. 1923, S. 440-500, hier
S. 440.
454
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 50.
455
Siehe Scott G. BLAIR, Les origines en France de la S.D.N. La Commission interministerielle d'Etudes pour la Societe des Nations, in: Relations internationales 75 (1993), S. 301313, hier S. 291.
456
Siehe DUROSELLE, Histoire. S. 51.
457
Siehe WILD, Leon Bourgeois, S. 76. Zum französischen Völkerbundsprojekt siehe BLAIR,
Origines, S. 290f., zur Ablehnung ibid. S. 291f.
268
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
In der Vφlkerbundssatzung waren die Ziele des Bunds, sein institutioneller
Aufbau und die Instrumente zur Erreichung dieser Ziele aufgef٧hrt. Die
Hauptaufgabe der neuen Organisation war die »Fφrderung der Zusammen
arbeit der Nationen [...] zur Gewδhrleistung von Frieden und Sicherheit zwi
schen ihnen«458. Zu deren Durchf٧hrung standen dem Bund drei Haupt
organe459 zur Verf٧gung, die Vollversammlung, der Rat und das Sekretariat.
Die Vollversammlung460 bestand aus je drei Delegierten pro Mitgliedsland,
wobei jedes Land eine Stimme hatte. Ihre ordentlichen Sitzungen fanden jedes
Jahr im September in Genf statt. Zu den Aufgaben der Vollversammlung ge
hφrte es, ٧ber Resolutionen und Empfehlungen abzustimmen, sowie die nicht
stδndigen Mitglieder des Vφlkerbundsrates und die Mitglieder des Inter
nationalen Gerichtshofes in Den Haag zu wδhlen. Außer in prozeduralen
Fragen war in der Regel Einstimmigkeit für die Entscheidungen der Vollversammlung erforderlich.
Dem Völkerbundsrat461 gehörten zunächst fünf permanente Mitglieder (nach
der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch die USA nur noch vier462)
und nichtständige Mitglieder (seit 1922 sechs und seit 1926 neun) an, die zunächst nach dem Rotationsprinzip gewählt wurden. Der Präsident des Rates
wurde ebenfalls nach dem Rotationsprinzip bestimmt. Zunächst war nur eine
Sitzung pro Jahr vorgesehen, bald jedoch fanden vier Sitzungen im Jahr statt.
Auch hier herrschte das Prinzip der Einstimmigkeit. Die Aufgaben des Rates
umfaßten alle Fragen, die mit der Friedenssicherung zu tun hatten, einschließlich der Abrüstung und der Vermittlung im Fall drohender Konflikte. Daneben
hatte er auch technische Aufgaben, wie die Bestimmung der hohen Beamten
des Völkerbundssekretariats oder die Nominierung von Kandidaten für die
verschiedenen Völkerbundsgremien, wie die Regierungskommission für das
Saargebiet, den hohen Kommissar für Danzig oder die Mandatskommission.
Das Sekretariat463 des Völkerbunds hatte vor allem technische und administrative Aufgaben. Dort wurden die Dokumente und Berichte für den
Völkerbundsrat und die Vollversammlung verfaßt und deren Veröffentlichung
organisiert464. Das Sekretariat bestand aus bis zu 600 Mitarbeitern aus 50 Län458
Präambel zur Völkeibundssatzung.
Art. 2-6 der Völkerbundssatzung. Ein kurzer Überblick zum Aufbau des Völkerbunds
findet sich in: PFEIL, Völkerbund, S. 45-62; DUROSELLE, Histoire, S. 52f.; Zara STEINER,
The League of Nations and the Quest for Security, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of West European Security 1918—
1957, Oxford u.a. 1993, S. 35-70, hier S. 38-41.
460
Zu Einzelheiten vgl. MORLEY, Society of Nations, Kap.wutsrpnmlihgedcbaXVKIDB
ΧΠΙ und XV.
461
Vgl. ibid. Kap. Χ, XI.
462
Deutschland wurde nach seinem Beitritt 1926 ständiges Mitglied, die Sowjetunion nach
ihrem Beitritt 1934 ebenfalls, siehe GLRAULT, Europe, S. 108f.
463
Vgl. MORLEY, Society of Nations, Kap. Vffl, IX.
459
464
Vgl. PFEIL, Völkerbund, S. 7 - 3 1 .
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
269
dem465. Der Generalsekretδr berief den Vφlkerbundsrat ein, falls dies von
einem Mitgliedsland gew٧nscht wurde, und bereitete die Tagesordnung der
Vollversammlung vor.
Neben diesen drei Hauptorganen gab es zahlreiche weitere Gremien und
Kommissionen466 und dem Vφlkerbund angegliederte, autonome Organisatio
nen, wie z.B. das Internationale Arbeitsamt und den Internationalen Gerichts
hof in Den Haag467. F٧r den hier besonders interessierenden Aspekt der kol
lektiven Sicherheit waren vor allem die bereits erwδhnten Commission
permanente consultative und die Commission temporaire mixte von Be
deutung. Weitere wichtige Gremien, die weiter unten ausfuhrlicher dargestellt
werden, waren außerdem die Vorbereitende Abrüstungskommission und der
Ausschuß für Schiedsgerichtsbarkeit und Sicherheit (Comite d'arbitrage et de
securite) - als ein Ausschuß der Vorbereitenden Abrüstungskommission.
Mitglieder des Völkerbunds waren anfangs die Siegerstaaten des Ersten
Weltkrieges und 13 neutrale Staaten, die dem Völkerbund kurz nach Kriegsende beigetreten waren. Insgesamt waren bei Ende des Ersten Weltkrieges
42 Staaten Mitglied, die etwa Dreiviertel der Weltbevölkerung umfaßten,
wobei natürlich ein Großteil auf die Kolonialreiche der europäischen Mitgliedsstaaten entfiel468. Die höchste Mitgliederzahl erreichte der Bund 1934,
kurz vor dem Austritt Deutschlands und nach dem Beitritt der Sowjetunion,
als 60 Staaten in Genf vertreten waren. Zunächst waren die Verliererstaaten
des Weltkrieges ausgeschlossen, jedoch konnte der Beitritt zum Bund auf Antrag erfolgen, wenn zwei Drittel der Bundesmitglieder zustimmten. Staaten
konnten aber auch auf Beschluß des Rates ausgeschlossen werden oder - mit
einer Kündigungsfrist von zwei Jahren - aus dem Bund ausscheiden.
In der Historiographie wurde der Völkerbund bis vor kurzem vor allem negativ bewertet. Dabei wurde insbesondere auf sein Versagen bei der Friedenssicherung - wie im sino-japanischen Krieg und dem italienischen Einfall in
Äthiopien - verwiesen469. In letzter Zeit dagegen wird in einer differenzierteren Betrachtung hervorgehoben, welche große Bedeutung der Bund dabei hatte, die internationale Zusammenarbeit nicht nur auf politischem Gebiet, sondern auch im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich zu etablieren470.
Dadurch wurde der Völkerbund zum Vorgänger für viele der heutigen internationalen Organisationen wie die UNO und die daran angeschlossenen Institutionen, aber auch für das GATT und die Welthandelsorganisation (WTO).
465
466
Siehe DUROSELLE, Histoire, S. 52f.
Eine Übersicht über die Komitees auf dem Stand von 1931 bietet MORLEY, Society of
Nations, S. 651-657.
447
Ein Organigramm mit den wichtigsten Institutionen findet sich bei PFEIL, Völkerbund,
S. 152f.
468
469
Siehe GlRAULT, Europe, S. 108.
Siehe FLEURY, League of Nations, S. 517.
470
Siehe ibid. S. 509.
270
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Dar٧ber hinaus trug die Arbeit der Genfer Organisation zu einer bedeutenden
Verbesserung des Klimas bei (besonders in der Zeit zwischen 1925 und 1929)
und schuf einen neuen Typ Diplomat, der aufgeschlossener gegen٧ber interna
tionalen Organisationen und multilateralen Problemlφsungen war47'. Auch
werden zunehmend die kleineren Erfolge der Unterorganisationen und techni
schen Kommissionen, z.B. des Hochkommissariats f٧r Fl٧chtlinge und beson
ders der »Organisation economique et financiere«, die die Stabilisierung eini
ger mittel und osteuropδischer Wδhrungen erreichte, gew٧rdigt472. In der Tat
wurde der Vφlkerbund so zu »[l]'un des aspects les plus originaux et les plus
nouveaux des traites de paix«473 und war nach dem Ersten Weltkrieg ein »ma
jor step forward in international affairs«474, vor allem auch wegen der neuen
Idee der kollektiven Sicherheit.
Dennoch darf dabei nat٧rlich nicht ٧bersehen werden, daß die Erfolge des
Völkerbunds, vor allem bei seiner Hauptaufgabe, der Friedenssicherung, bescheiden blieben. Dies lag zum einen daran, daß wichtige Länder zumindest
zeitweise (wie z.B. Deutschland, Japan und die Sowjetunion) oder dauerhaft
(wie die Vereinigten Staaten) außerhalb des Bunds blieben475. Sie konnten so
weder in internationalen Konflikten ihr Gewicht in die Waagschale werfen,
noch verhalfen sie den Prinzipien der friedlichen Konfliktregelung und der
kollektiven Sicherheit zu universeller Gültigkeit. Auch auf ein anderes Problem wurde bereits mehrfach hingewiesen: Das Einstimmigkeitsprinzip in Rat
und Vollversammlung verhinderte die Beschlußfassung und erlaubte oft nur
Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Schicksal des
Genfer Protokolls und anderer Maßnahmen zum Ausbau der Sanktionsmechanismen geben beredt Auskunft über diese Mängel. Verstärkt wurden diese Defizite dadurch, daß die Mechanismen der kollektiven Sicherheit (im Kern also
die Bestimmungen der Artikel 10-16) unzureichend waren und vor allem die
Sanktionen des Artikels 16 fakultativ blieben476. In der Regel stellten die Mitgliedsländer ihre eigenen Interessen letztendlich über die des Bunds: Auch die
von Frankreich verfolgte Politik der kollektiven Sicherheit war keineswegs
uneigennützig, sondern diente hauptsächlich der Verwirklichung des eigenen,
vor allem gegen Deutschland gerichteten Sicherheitsprogramms, während
England den Bund vor allem dazu nutzte, seine Gleichgewichtspolitik zu verfolgen und sich vor konkreten Verpflichtungen scheute477. Diese unterschied471
Siehe GIRAULT, Europe, S. 110.
Siehe ibid.
473
DUROSELLE, Histoire, S. 50.
474
FLEURY, League of Nations, S. 509.
475
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 26.
476
Siehe STEINER, League of Nations, S. 43; CLAUDE, Power, S. 174.
477
S. KOLB, Weimarer Republik, S. 26; Jürgen SPENZ, Die diplomatische Vorgeschichte des
Beitritts Deutschlands zum Völkerbund 1924-1926. Ein Beitrag zur Außenpolitik der Weimarer Republik, Göttingen u.a. 1966, S. 15.
472
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
271
liehen Zielsetzungen zu denen sich nach dem deutschen Beitritt noch eine
dritte Vφlkerbundspolitik gesellte, nδmlich der Versuch Deutschlands, den
Vφlkerbund f٧r seine Revisionspolitik zu nutzen behinderten die Arbeit des
Bunds und wirkten verstδrkend auf seine strukturellen Defizite. Zu Recht stellt
Claude deshalb fest: »Collective security was defeated more by the nature of
national policy than by the nature of international organization«478.
Was aber genau erwarteten Deutschland und Frankreich von ihrer Mitglied
schaft im Vφlkerbund, und wie versuchten sie, den Bund f٧r ihre jeweiligen
politischen Ziele zu nutzen?
Die Pariser Vφlkerbundspolitik war vor allem eine Funktion der Sicher
heitspolitik, was die zum Teil »ausgeprδgte antideutsche Spitze«479 der franzφ
sischen Politik in Genf erklδrte. Obwohl sich Paris gerne als Vorreiter der
Vφlkerbundsidee stilisierte, war es nur dann bereit, Befugnisse an den Bund
abzugeben, wenn dies im Interesse der eigenen Sicherheit lag und wenn si
chergestellt war, daß die französische Auffassung sich würde durchsetzen
können480. Dies wurde beispielsweise an der oben dargestellten Diskussion um
die SicherheitsVorschläge von Lord Cecil und Oberst Requin deutlich481: An
den cecilschen Vorschlägen hatte Frankreich kein Interesse, weil sie das Sicherheitsproblem nicht im französischen Sinne zu lösen vermochten. Mit Hilfe
seiner Verbündeten Polen und Tschechoslowakei versuchte Paris deshalb letztlich erfolglos - die essentiellen Punkte des Requin-Plans durchzusetzen.
Dabei dachte die französische Regierung keineswegs daran, Deutschland dauerhaft aus dem Völkerbund fernzuhalten. Die französische Strategie war vielmehr folgende: Zuerst sollte der Bund im französischen Sinne umgebaut werden - durch die Stärkung der kollektiven Sicherheitsstrukturen, wie dies im
Genfer Protokoll vorgesehen war, und den Aufbau einer Völkerbundskontrolle
zur Überwachung der deutschen Entwaffnung und des demilitarisierten Rheinlandes. Anschließend sollte »der deutsche Beitritt in den Bund den krönenden
Abschluß der französischen Sicherheitspolitik [bilden], durch den Deutschland
das ganze gegen sich selbst gerichtete System freiwillig sanktionierte«482. Die
französische Völkerbundspolitik stand damit ganz auf der Linie der allgemeinen Deutschlandpolitik: Einbindung Deutschlands in bilaterale und multilaterale Strukturen, um dadurch den deutschen Revisionismus zu bremsen und
Deutschland dazu zu bringen, die Versailler Ordnung endgültig zu akzeptieren
- der Völkerbund selbst war ja ein bedeutender Teil dieser neuen Ordnung483.
Gleichzeitig war Briand »parfaitement conscient des insuffisances de Locarno
478
CLAUDE, Power, S. 153.
479
SPENZ, Vorgeschichte, S. 14.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 384.
Siehe Kap. 4.1.3.
SPENZ, Vorgeschichte, S. 14.
Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 153.
480
481
482
483
272
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
pour assurer la securite a l'ensemble de l'Europe«484. Nach Locarno sollte der
Beitritt Deutschlands in den Vφlkerbund eine Bedingung Frankreichs im
Zusammenhang mit dem Sicherheitspakt deshalb dazu dienen, dieses Si
cherheitsdefizit weiter zu verringern, wobei Frankreich weiterhin versuchte,
den Bund in seinem Sinne zu gestalten. Die Bem٧hungen Frankreichs, f٧r sei
nen polnischen Verb٧ndeten einen stδndigen Sitz im Vφlkerbundsrat zu si
chern, waren Ausfluß dieser Überlegungen485. Allerdings blieb die französische Völkerbundspolitik - als Politik der Einbindung Deutschlands in
internationale Strukturen und des Ausbaus der kollektiven Sicherheitsstrukturen - weiterhin nur eine von grundsätzlich drei Optionen: Zwar hatten der
Dawes-Plan und Locarno dazu geführt, daß die beiden anderen Sicherheitspolitiken - Bündnispolitik und Politik der Stärke - etwas in den Hintergrund traten, erledigt waren diese Optionen damit jedoch nicht. Gerade nach Locarno
und nach der Stabilisierung des Franc verstärkte Frankreich sein wirtschaftliches und finanzielles Engagement in Mittel- und Osteuropa: Es half tatkräftig
bei der Sanierung der Währungen Polens (1926), Rumäniens (1929) und Jugoslawiens (1931) - allesamt Verbündete Frankreichs - und etwa ein Viertel
aller französischen Auslandsinvestitionen flössen in diesen Raum486. Berthelot
und das französische Kriegsministerium arbeiteten parallel dazu an der Reorganisation der Armeen der Kleinen Entente und boten dazu logistische und
finanzielle Hilfe an, um diese besser gegen den potentiellen Gegner Deutschland zu rüsten487. Gleichzeitig kam es auch zu einer Annäherung zwischen
Großbritannien und Frankreich. Bei einem Treffen zwischen dem französischen Staatspräsident Gaston Doumergue und dem englischen König George V.
am 16. Mai 1927 und einer Zusammenkunft zwischen den Außenministern
Chamberlain und Briand zwei Tage später wurde die Entente cordiale von
1904 beschworen488. Zwar bestritten beide Regierungen, daß es eine Vereinbarung gab, durch die Frankreich die Politik Londons gegenüber der Sowjetunion unterstützte - nach einem Spionageskandal hatte Großbritannien am
27. Mai 1927 die diplomatischen Beziehungen zu Moskau abgebrochen, nachdem sich das bilaterale Verhältnis zuvor schon dramatisch verschlechtert hatte
- und England im Gegenzug die französische Rheinlandpolitik, das heißt vor
allem die Weigerung Frankreichs, das Rheinland vorzeitig zu räumen, guthieß489. Faktisch stießen jedoch alle deutschen Vorstöße in der Frage der besetzten Gebiete auf den Widerstand sowohl Paris' als auch Londons. Auch der
484
BARlfiTY, Briand, S. 129.
Sieheu.
486
Siehe WURM, Rolle Deutschlands, S. 167.
487
Siehe ibid.
488
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 119f. Einen Überblick über die »Entstehung
und Tragweite der jüngsten französisch-englischen entente cordiale« findet sich in: Rieth an
AA (19.10.1928),ypomlihfecaSRONLJDCBA
ΡAAA R, 70500.
489
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 120f., 125.
485
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
273
franzφsischbritische Abr٧stungskompromiß vom 30. Juli 1928490, in dem
London die französische Position in der Landrüstung anerkannte und Paris im
Gegenzug die englische Position in der Marineabrüstung, führte zur Verstärkung dieser Quasientente. Es gab aber noch weitere Gründe, welche die ehemals Verbündeten näher zusammenrücken ließen. Chamberlain selbst galt als
frankophil und gewann nach Locarno zunehmend den Eindruck, die Deutschen gäben sich mit nichts zufrieden und seien undankbar491. Der Austausch
von Teilen des Personals im Foreign Office stärkte dort eher die Fraktion derjenigen, die zu einer engeren Kooperation mit Frankreich tendierten, zumal
Deutschland - nachdem man in London meinte, mit Locarno die Lage in Europa weitgehend stabilisiert zu haben - nicht mehr allzu hoch auf der britischen Agenda stand492: Für England waren ab 1927 die Sowjetunion, China
und die USA (wegen der Frage der Seerüstung) das Problem, nicht aber Berlin, und bei keinem dieser Probleme konnte Deutschland Großbritannien etwas
bieten493. Allerdings schlug sich die französisch-britische Annäherung nicht in
konkreten Bündnisabsprachen nieder, und nach dem Wahlsieg von Labour
Ende Mai 1929 war es mit der Harmonie zwischen Paris und London auch
schon wieder vorbei494.
Jedoch schien sich der Charakter der französischen Bündnispolitik nach Locarno verändert zu haben. Gegenüber England wurde das Werben um eine
militärische Allianz weniger aufdringlich, sei es, weil man die Sinnlosigkeit
des Unterfangens eingesehen hatte, sei es, daß Locarno als Bündnisgarantie zumal bei den allgemein verbesserten französisch-britischen Beziehungen und
der geringeren »deutschen Gefahr« - als ausreichend erkannt wurde. Auch
gegenüber den mittel- und osteuropäischen Verbündeten änderte Paris seine
Methoden495. Die direkte militärische Unterstützung verlor an Bedeutung,
nachdem sich in der französischen Militärdoktrin in der Mitte der 1920er Jahre
zunehmend die Befürworter einer defensiven Strategie durchsetzten496. Vielleicht inspiriert durch das amerikanische Beispiel und aufgrund der neugewonnenen finanzpolitischen Freiheit nach der Stabilisierung des Franc setzte
Paris nun verstärkt auf die Finanzdiplomatie497. Für Frankreich waren die Vorteile498 offensichtlich: Vermeintlich genauso effektiv, waren die Investitionen
490
Zu Einzelheiten siehe u.
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 126; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 188;
WURM, Rolle Deutschlands, S. 157.
491
492
493
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 126-128.
Siehe ibid. S. 131.
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 50.
495
Siehe Hovi, Security, S. 121-123.
496
Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 148f.
497
Siehe Seydoux [?] an Laroche (27.5.1927), MAE PAAP 261,42.
498
Zu den Grenzen der französischen Finanzdiplomatie siehe Robert BOYCE, Business as
Usual. The Limits of French Economic Diplomacy, 1926-1933, in: DERS. (Hg.), French
494
274
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
in Osteuropa gewinnbringender, als zu Hause eine große, offensiv ausgerichtete Armee unterhalten zu müssen. Zudem war die französische Finanzdiplomatie kompatibel mit der gleichzeitig praktizierten Verständigungspolitik: Anstatt durch militärische Zusagen an Polen die sich verbessernden Beziehungen
zu Deutschland (aber auch zu Großbritannien!) zu gefährden, konnte man
durch Geldspritzen in Osteuropa die Wirtschaft dort stabilisieren und gleichzeitig die innenpolitische Situation dieser Staaten verbessern. Beides, mehr
Wohlstand und größere innenpolitische Stabilität, erhöhten aber auch den militärischen Wert dieser Länder gegenüber Deutschland. Allerdings blieben die
Möglichkeiten der französischen Finanzdiplomatie auch nach der Währungsstabilisierung begrenzt, und ihr fehlte eine einheitliche Linie499: Die einzelnen
Politikbereiche blieben unkoordiniert, die französischen Kriegsschulden in den
USA und Großbritannien behinderten den finanziellen Spielraum der französischen Regierung und in Osteuropa traf Frankreich auch auf die Konkurrenz
der anderen Westmächte, Italiens und Deutschlands, wobei letzteres vor allem
im Osteuropahandel seine starke Stellung behaupten konnte.
Aber auch die dritte Strategie französischer Sicherheitspolitik, die Politik
der eigenen Stärke, wurde nach dem Ruhrkampf und Locarno keineswegs aufgegeben, erfuhr jedoch ebenfalls eine wesentlich Änderung. Der Rückzug
Frankreichs aus dem Ruhrgebiet nach der Londoner Konferenz und der Abzug
aus der Kölner Zone nach Locarno hatten mehr als deutlich werden lassen, daß
Frankreich sich des besetzten deutschen Gebiets als strategischen Glacis nicht
auf Dauer würde bedienen können500. Anstatt zu versuchen, eine befürchtete
deutsche Invasion bereits auf deutschem Boden abzuwehren, trat nun die Sicherung der französische Grenze - vor allem auch im Hinblick auf die großen
Industriestandorte Nord- und Nordostfrankreichs - in den Vordergrund. Zwar
hatte es schon unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges Überlegungen
zum Aufbau von Grenzbefestigungen im Nordosten gegeben, doch kam es erst
ab November 1925 - der zeitliche Zusammenhang mit Locarno ist frappant zu konkreteren Planungen501. Im Dezember 1927 und im Januar des Folgejahres beschloß der Conseil superieure de la döfense nationale schließlich ein
Projekt von Grenzfestungen, das in den folgenden Jahren als »Maginot-Linie«
bekannt werden sollte502. Die konkrete Beschlußfassung wiederum stand im
Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a Great Power, London,
New York 1998, S. 107-131, insbes. S. 108-110.
499
SieheYXWUSRONMLJHGEDCBA
WURM, Rolle Deutschlands, S. 109,167f.
500
Siehe Judith M. HUGHES, To the Maginot Line. The Politics of French Military Preparation in the 1920's, Cambridge 1971 (Harvard Historical Monographs, 64), S. 189.
501
Siehe ibid. S. 198f. Zusammenfassend: Martin S. ALEXANDER, In Defence of the Maginot
Line. Security Policy, Domestic Politics and the Economic Depression in France, in: Robert
BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940. The Decline and Fall of a
Great Power, London, New York 1998, S. 164-194, hier S. 170-172.
502
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 105f. siehe auch zum folgenden.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
275
Zusammenhang mit einigen anderen Maßnahmen der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Um die strukturellen Schwächen der
französischen Armee abzugleichen und gleichzeitig die Kosten für die Verteidigung zu senken, wurden zwischen Januar 1927 und März 1928 verschiedene Gesetze diskutiert und verabschiedet, die unter anderem die Verkürzung
des Wehrdienstes auf ein Jahr und die Reorganisation der Armee zum Inhalt
hatten. Da aber gleichzeitig für die Jahre 1935 bis 1942 - aufgrund des Geburtenausfalls infolge des Ersten Weltkrieg - ein Rückgang der Männer im wehrfähigen Alter zu erwarten war und das Rheinland nicht über die im Versailler
Vertrag festgelegten Fristen hinaus würde besetzt gehalten werden können,
forderte vor allem die französische Armee den Bau von Grenzsicherungen und
die volle Ausnutzung der Besatzungsfristen des Versailler Vertrags, um die
»couverture« Frankreichs zu erhalten. Nachdem erste Bauarbeiten bereits
1928 begonnen hatten, stimmte die Regierung Poincare am 17. Januar 1929
dem Bau der Maginot-Linie zu, und am 28. Dezember 1929 wurde schließlich
das entsprechende Finanzierungsgesetz verabschiedet503.
Die Existenz zweier weiterer außen- und sicherheitspolitischer Strategien,
nämlich der Bündnis- und der »Sicherheit-durch-eigene-Stärke«-Politik,
machte deutlich, daß die Politik der kollektiven Sicherheit nach Locarno zwar
an Boden gewonnen hatte, ja sogar dazu führte, daß sich der Charakter der
beiden anderen Strategien erheblich veränderte (stärkeres Gewicht der Finanzdiplomatie, Aufgabe der Rheinlandpolitik), aber immer noch nicht unumstritten war. Das Vorhandensein mehrerer paralleler Strategien behinderte jedoch
den Ausbau der kollektiven Sicherheit, weil es immer noch Alternativen gab.
Andererseits verhinderte die kollektive Sicherheit auch die konsequente Umsetzung anderer Sicherheitskonzepte: Zwischen Briand, der im Ausgleich mit
Deutschland, in der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes und der Etablierung von Völkerbundgremien zur Überwachung der deutschen Entwaffnung
die bessere Sicherheitsgarantie sah, und den Militärs um Foch, Joffre, Petain
und Debeney, die die Maginot-Linie befürworteten und nach deren Willen das
Rheinland erst dann freigegeben werden sollte, wenn die neuen Grenzbefestigungen einsatzbereit waren, schwelte ein ständiger Konflikt.
War die französische Völkerbundspolitik dem Ziel der Sicherheit untergeordnet, so war die deutsche ein Element der Revisionspolitik. Von einer deutschen Mitgliedschaft erhoffte man, daß sie sich bezüglich der Revision der
Ostgrenze vorteilhaft auswirken würde, weil man vor allem die Probleme der
deutschen Minderheiten in Genf wirkungsvoll würde vertreten und auf die
503
Siehe Marc SORLOT, Andrd Maginot (18771932). L'homme politique et sa tegende,
Metz 1995, S. 210f.
276
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Sinnlosigkeit der Nachkriegsgrenzziehung w٧rde hinweisen kφnnen504. Insge
samt sollte der Vφlkerbund als Podium genutzt werden, um auf die Be
nachteiligung Deutschlands durch den Versailler Vertrag hinzuweisen und um
auf Gleichberechtigung, z.B. in der Abr٧stungsfrage, zu drδngen505. Genauso
wie Frankreich versuchte, den Vφlkerbund im Sinne seiner eignen Sicher
heitspolitik auszubauen, versuchte Deutschland, die »Neugr٧ndung des
Vφlkerbundes«506 voranzutreiben, um dadurch den Vφlkerbund endg٧ltig
seines Charakters als »Bund der Sieger« zu entkleiden und die starke Stellung
Frankreichs darin zu brechen. Dabei bef٧rwortete man im AA durchaus auch
den Ausbau der Zusammenarbeit der europδischen Staaten innerhalb des
Bunds vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, denn »[i]n vielen Fδllen wird
auch Deutschlands Gewicht in einem europδischen Gremium mehr ausmachen
als in einer Weltvereinigung, zumal wenn es gelingt, uns den russischen
Schatten zu erhalten«507.
Allerdings war die deutsche Vφlkerbundspolitik nicht ohne Alternative. Wie
die franzφsische Politik blieb sie zweigleisig: Auch wenn Stresemann selbst
kein doppeltes Spiel betrieb, so machte die geheime deutsche Aufr٧stung und
die Kooperation mit der Sowjetunion in R٧stungsfragen doch deutlich, daß es
neben der friedlichen Revisionspolitik noch andere politische Szenarien
gab508. So betrieb beispielsweise das Truppenamt unter Leitung Blombergs
weiterhin Pläne, gemeinsam mit der Sowjetunion gegen Polen zu kämpfen509.
Allerdings kam es nach dem Ausscheiden von Seeckts als Chef der Heeresleitung im Reichswehrministerium (RWM) - der ein Exponent der deutschsowjetischen Militärkooperation war und nötigenfalls bereit gewesen wäre,
einen »Befreiungskrieg« zur Umkehrung der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs
zu führen - unter dessen Nachfolger Wilhelm Heye zu einer Verbesserung des
Verhältnisses zwischen Militär und Zivilbehörden510. Heye und der zunehmend an Einfluß gewinnende Leiter der Wehrmachtsabteilung im RWM,
Oberst Kurt von Schleicher, akzeptierten mit ihrem »neuen Kurs« nicht nur
prinzipiell die Republik, sondern waren auch weniger kritisch gegenüber der
Verständigungspolitik eingestellt511. Insgesamt zog sich die Reichswehrfuh504
Siehe Marshall M. LEE, Gustav Stresemann und die deutsche Völkerbundspolitik 19251930, in: Wolfgang MICHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt
1982 (Wege der Forschung, 539), S. 350-374, hier S. 350f.; KIMMICH, League of Nations,
S. 135.
505
Siehe Aufzeichnung Poensgen (12.12.1925), ADAPzyvutsrponmlkihgfedcbaWTSRPNKIHFE
Β 1,1, Nr. 22.
506
Ibid.
507
Ibid.
508
509
SiehefWTSRPOIHG
WRIGHT, Stresemann, S. 385f., 438.
Siehe ibid. S. 438f.
Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 92.
511
Die Revisionsziele Heyes decken sich in der Tat sehr stark mit denen Stresemanns: Kor
ridor, Reparationen und Rheinlandräumung, siehe Toumis an 2feme Bureau (30.11.1928),
MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392.
510
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
277
rung aus der Außenpolitik stärker zurück, was der geänderten Einstellung gegenüber der Republik und der Verständigungspolitik ebenso geschuldet war
wie der Reform der Reichswehrfuhrung, die nicht zuletzt auch auf alliierte
Forderungen im Zusammenhang mit der deutschen Entwaffnung zurückging512·
Dennoch blieb in Deutschland die Verständigungs- und Völkerbundspolitik
eine Politik unter Vorbehalt: Trotz der verbesserten Beziehungen mit dem
Westen, trotz der Gefährdung des Verhältnisses zwischen Deutschland und
dem Westen - falls die Rüstungskooperation mit der Sowjetunion publik würde - und der Erpreßbarkeit, die sich daraus für die deutsche Politik ergab,
wurde diese Zusammenarbeit nicht aufgegeben513. Die Sowjetunion wurde
weiterhin als wichtiger Trumpf in der Revisionspolitik gesehen - zumal das
AA befürchtete, daß es im Falle einer allzu starken deutschen Umorientierung
nach Westen zu einer Annäherung zwischen der Sowjetunion und Frankreich
bzw. Polen kommen würde. Auch der militärische Wert der Kooperation - die
Entwicklung und Erprobung neuer (und aufgrund des Versailler Vertrags verbotener) Waffen - wurde so hoch eingeschätzt, daß sie nicht der Verständigung mit dem Westen geopfert werden sollte514.
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß sowohl die deutsche als auch die
französische Völkerbundspolitik den allgemeinen außenpolitischen Zielen
beider Länder - also der Sicherheits- bzw. Revisionspolitik - untergeordnet
war und es in beiden Ländern neben der kollektiven Sicherheit alternative
Strategien zur Umsetzung der außenpolitischen Ziele gab. Die Existenz dieser
politischen Alternativen schränkte die Umsetzung moderner, auf Kooperation
und kollektiver Sicherheit beruhender politischer Strategien ein, wodurch die
strukturellen Mängel der bestehenden kollektiven Sicherheitsstrukturen - als
Beispiele seien hier nur die Abstimmungsmodalitäten im Völkerbund und die
unvollkommenen Sanktionsmechanismen des Artikels 16 genannt - noch verstärkt wurden.
Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zur deutschen und französischen
Völkerbundspolitik soll nun das konkrete Zusammenspiel beider Länder im
Völkerbund genauer untersucht werden. Am Anfang dieser Betrachtungen soll
dabei der deutsche Beitritt zum Völkerbund stehen, denn daran werden die
Prioritäten und Interessen der deutschen und französischen Völkerbundspolitik
in besonders plastischer Weise deutlich.
Nachdem der deutsche Beitritt in den Völkerbund 1919 am alliierten - und
vor allem französischen - Widerstand gescheitert war515, trat der Völkerbund
in der deutschen Politik zunächst in den Hintergrund. Erst im Februar 1923
512
Vgl. POST, Weimar Foreign Policy, S. 9397.
Siehe ibid. S. 116.
514
Siehe ibid. S. 120f.
515
Siehe Aufzeichnung Poensgen (12.12.1925), AD APrN
Β 1,1, Nr. 22.
513
278
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
kam es zur Gr٧ndung des Vφlkerbundsreferats im AA516, wobei der deutsche
Beitritt selbst noch nicht akut war517. Das deutsche Interesse am Vφlkerbund
wurde vielmehr dadurch geweckt, daß die konservative britische Regierung
versuchte, durch den Ausbau des Bunds Paris von seiner unilateralen Politik
im Rheinland und im Ruhrgebiet abzubringen. Mit dem Regierungsantritt
MacDonalds wurden auch die englischen Forderungen nach einem deutschen
Beitritt lauter: Der neue englische Premier sah den Völkerbund vor allem als
»clearing house« fur internationale Dispute, weshalb er die Einbeziehimg
Deutschlands, aber auch der Sowjetunion, befürwortete518. Die Reichsregierung war deswegen, nachdem vor allem Frankreich bisher die deutsche Mitgliedschaft stets abgelehnt hatte, gezwungen, sich mit dem Eintritt in den Genfer Bund zu befassen519. Zwar stand »[d]ie deutsche Regierung [...] durchaus
auf dem Boden der dem Völkerbund zu Grunde liegenden [sie] Idee der internationalen Solidarität«520, doch stellte sie fur den Beitritt eine Reihe von Bedingungen521, die die Beitrittverhandlungen mit den Westmächten und dem
Völkerbund weiterhin bestimmen sollten: Deutschland wollte als gleichberechtigtes Mitglied in den Bund aufgenommen werden und verlangte deshalb
einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat. Außerdem forderte die Reichsregierung, daß die Sowjetunion ebenfalls Mitglied des Völkerbunds werden oder
zumindest gewährleistet sein müsse, daß Deutschland nicht eine gegen Rußland gerichtete Völkerbundspolitik würde unterstützen müssen. Auch mußte
gewährleistet sein, daß dem Völkerbund keine Souveränitätsrechte in bezug
auf die besetzten deutschen Gebiete übertragen wurden.
MacDonald übernahm erneut die Initiative ftir einen deutschen Beitritt, den
er in einer Rede vor der Vollversammlung des Völkerbunds am 4. September 1924 forderte522. Herriot hingegen äußerte sich in seiner Ansprache an
gleicher Stelle am folgenden Tag wesentlich vorsichtiger: Ein deutscher Beitritt könne nur dann erfolgen, wenn Deutschland zuvor die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags erfülle und die Satzung des Völkerbunds ohne Abstriche akzeptiere523. Nachdem auf der kurz zuvor zu Ende
gegangenen Londoner Konferenz das Reparationsproblem durch den DawesPlan vorläufig geregelt worden war, machte Herriot deutlich, daß für Paris die
Sicherheitsfrage nach wie vor das größte Problem der deutsch-französischen
Beziehungen war. Seine Forderung nach vollständiger Entwaffnung Deutsch516
Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S . 5 6 0 .
Siehe Aufzeichnung Schubert (21.11.1923), ADAP AIX, Nr. 10.
518
Siehe K I M M I C H , League of Nations, S. 52.
519
Siehe Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [11.2.1924], ADAPzutsrnmihedbaSRNLIHED
Α Di, Nr. 146.
520
Ibid.
521
Hierzu siehe ibid.
522
Siehe B A E C H L E R , Stresemann, S. 561. Auszüge von MacDonalds Rede in: Schulthess'
Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 455f.
523
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 456f.
5,7
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
279
lands unterstrich die von England auf der Londoner Konferenz abgerungene
Zusage, die Kφlner Zone erst dann zu rδumen, wenn die Arbeit der IMKK zu
einem erfolgreichen Abschluß gekommen sein würde. Die Bedeutung der Sicherheitsfrage wurde auf der Vollversammlung aber auch daran deutlich, daß
sich die Mitgliedsstaaten am 2. Oktober 1924 in einer Resolution verpflichteten, das während der Tagung ausgearbeitete Genfer Protokoll anzunehmen.
Durch den neuerlichen Vorstoß MacDonalds veranlaßt, fand innerhalb des
AA und der Reichsregierung im September 1924 erneut eine Diskussion über
die Vor- und Nachteile eines deutschen Beitritts in den Völkerbund statt524.
Als Nutzen einer deutschen Mitgliedschaft wurde vor allem betrachtet, daß
Deutschland dann aktiv Einfluß auf alle Fragen nehmen könnte, die innerhalb
des Völkerbunds behandelt wurden und Deutschland direkt betrafen. Dabei
dachte man vor allem an die kollektive Sicherheit, die Abrüstung, die Minderheitenfrage und die Verwaltung des Saargebiets, Danzigs und der ehemals
deutschen Kolonien, die jetzt als Mandate des Völkerbunds von den Siegermächten verwaltet wurden525. Auch hinsichtlich der Räumung des Rheinlands
erhoffte man sich Vorteile: Da durch die deutsche Mitarbeit in Genf ganz allgemein die Sicherheit Frankreichs erhöht würde, würde dadurch auch die
Räumung der Kölner Zone erleichtert526.
Allerdings erblickte man in einem deutschen Beitritt zum Völkerbund
durchaus auch Nachteile: So könnte der deutsche Eintritt in den Genfer Bund
den Eindruck erwecken, Deutschland würde nun doch noch den Versailler
Vertrag - und vor allem die deutsche Kriegsschuld - anerkennen, und auch die
mögliche Beeinträchtigung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses wurde als
problematisch angesehen527. Das deutsche Völkerbundsmemorandum vom
24. September 1924 machte deshalb, trotz der prinzipiellen Bereitschaft, dem
Bund beizutreten, folgende Vorbehalte528: Deutschland forderte nach wie vor
einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat und machte die bekannten Einschränkungen zum Artikel 16 der Völkerbundssatzung, vor allem, um nicht an Völkerbundsaktionen gegen die Sowjetunion teilnehmen zu müssen. Außerdem
bestand die Reichsregierung nochmals darauf, bei einem Beitritt zum Völkerbund nicht öffentlich die Bestimmungen des Versailler Vertrags sanktionieren
zu müssen und forderte eine Beteiligung an der Verwaltung der Kolonialman-
524
Vgl. v.a. Ministerrat (23.9.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 304a. Eine besonders pointierte Zusammenfassung findet sich auch in einer undatierten Aufzeichnung von Gaus [Ende
September 1925], ADAP A XIV, Nr. 108.
525
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563.
526
Siehe Ministerrat (23.9.1924), AdR MarxxutsronmlihgedcbaUTSRNMLIHFECBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 304a.
527
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563.
528
Text des Memorandums in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1371b.
Siehe auch KRÜGER, Außenpolitik, S. 264f.; KIMMICH, League of Nations, S. 57-59.
280
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
date. Allerdings waren nur die Punkte hinsichtlich des Ratssitzes und des
Artikels 16 von substantieller Bedeutung529.
Die Antworten, die Deutschland auf sein Memorandum erhielt, waren zwar
grundsδtzlich positiv, blieben aber weitgehend unverbindlich530. Ende des Jah
res 1924 war die internationale Lage so kompliziert geworden, daß sich die
Westmächte und vor allem Frankreich nicht festlegen wollten. Die Zustimmung Großbritanniens zum Genfer Protokoll stand noch aus, und davon
würde abhängen, wie sich Frankreich in der Frage der deutschen Entwaffnung
und der Militärkontrolle verhalten würde. Letztere war schließlich die Voraussetzung dafür, welche Haltung Paris bezüglich der anstehenden Räumung der
Kölner Zone einnehmen würde.
Da die Antworten der im Völkerbundsrat vertretenen Länder besonders hinsichtlich des Artikels 16 »noch keinerlei Klärung brachten«531, richtete die
Reichsregierung am 12. Dezember 1924 erneut ein Memorandum an den Völkerbund, um Auskunft in dieser Frage zu erhalten532. Die Antwort des Völkerbundsrates erfolgte am 13. März 1925533, war aus deutscher Sicht aber wenig
erfreulich. Zwar wurden die militärischen Verpflichtungen des Artikels 16
etwas relativiert, doch hinsichtlich der Teilnahme an den im selben Artikel
vorgesehenen Wirtschafitssanktionen wurde jede Sonderstellung eines Mitgliedsstaates abgelehnt. Nachdem aber bereits im Februar die deutsche Sicherheitsinitiative eingeleitet worden war, verlor die Frage des deutschen Beitritts
zum Völkerbund zunächst an Bedeutung, weil jetzt die Verhandlungen um das
deutsche Sicherheitsmemorandum im Vordergrund standen, wenngleich die
prinzipiellen Vorbehalte beibehalten wurden534. In Locarno schließlich kam es
zu dem bereits dargestellten Kompromiß in der Frage des Artikels 16: Die
Westmächte erklärten, daß jedes Mitgliedsland nur insofern den Bestimmungen dieses Artikels Rechnung tragen müsse, wie es mit seiner politischen und
geographischen Lage in Einklang zu bringen sei. Dadurch war ein wichtiges
Hindernis ausgeräumt, und fiir Deutschland bestand nun die Verpflichtung
zum Beitritt in den Völkerbund als Teil des »Locarno bargain«535.
Allerdings, leicht tat sich Deutschland mit diesem Schritt noch immer nicht:
Die DNVP, die in diesem Punkt auf die Unterstützung von Reichspräsident
Hindenburg setzen konnte, versuchte, das De-facto-Junktim zwischen Locarno
und dem Völkerbundsbeitritt aufzubrechen536, konnte diese Forderung aber
nur teilweise durchsetzen. Die Reichsregierung beschloß am 8. Februar 1926,
529
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 265.
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 563f.
531
Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 40. Jg. (1924), S. 115.
532
Zur Note vgl. ibid.
533
Text der Note in: MICHAELIS u.a., Ursachen und Folgen, Bd. 6, Nr. 1372b.
534
Siehe Aufzeichnung Schubert (21.3.1925), AdR Luther I/II Bd. 1, Nr. 54.
535
JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68.
536
Siehe MinisterTat [8.2.1926], ADAPsrnmebNA
Β 1,1, Nr. 87, bes. Anm. 9.
530
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
281
einen formellen Antrag zur Aufnahme in den Vφlkerbund zu stellen537, aller
dings sollte das Beitrittsgesuch zur٧ckgezogen werden, falls eine der Locarno
Mδchte die LocarnoVertrδge nicht ratifizieren, Deutschland keinen stδndigen
Ratssitz erhalten oder erneut zur Anerkennung der Kriegsschuld gezwungen
werden sollte538. Der Antrag sollte auch dann zur٧ckgezogen werden, wenn
bei den Pariser Luftfahrtverhandlungen, in denen es um die Rechte der deut
schen Zivilluftfahrt ging, keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielt w٧r
den539.
Als schwierigstes Problem sollte sich in der Folgezeit die Frage des deut
schen Ratssitzes erweisen. Zwar stand außer Frage, daß Deutschland als ständiges Mitglied in den Völkerbundsrat einziehen sollte, doch lehnte Deutschland die Aufnahme anderer ständiger Mitglieder in den Rat - Polen, Spanien
und Brasilien hatten entsprechende Ansprüche gestellt - ab540. Dies war zum
einen eine Frage des Prestiges. Eine Mitgliedschaft im Rat wurde von
Deutschland als wichtiger Teil der wiedergewonnenen Großmachtstellung
begriffen, die durch den Beitritt »sekundärer« Staaten entwertet würde. Besonders richtete sich die Ablehnung aber gegen Polen541, dessen Eintritt in den
Rat »einen außerordentlich schweren Schlag für die deutsche Politik bedeuten«542 würde. Dadurch werde die Revision der deutschen Ostgrenze erschwert, denn »[i]ndem Polen in dieser Weise als Großmacht anerkannt wird,
liegt darin auch eine gewisse Verpflichtung, es in seinen jetzigen Grenzen aufrechtzuerhalten«543, und die Fundamente der deutschen Locarno-Politik an
sich würden erschüttert: Anstatt, wie beabsichtigt, das französisch-polnische
Verhältnis durch Locarno aufzuweichen, würde dieses durch einen polnischen
Ratssitz gestärkt. Da es außerdem Anzeichen fur eine Annäherung zwischen
Polen und der Sowjetunion gab, stand zu befürchten, daß »Polen - wenigstens
für einige Zeit - die umworbene Macht Mitteleuropas werden«544 würde, eine
Rolle, die man im AA eigentlich Deutschland zugedacht hatte. In deutschen
Regierungskreisen herrschte deshalb Einigkeit: »Ein polnischer Ratssitz sei für
Deutschland unerträglich«545.
Andererseits hatte Frankreich ein großes Interesse an einem ständigen polnischen Ratssitz. In Locarno hatte Briand seinem polnischen Kollegen Alexander Skrzynski eine entsprechende Zusage gegeben, um Warschau dafür zu ent537
Text des Beitrittsgesuchs: AdR LutherzywutsrponmlkihgfedcbaSRPONMLJIEDCBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 284, Anm. 6.
Siehe Ministerrat (8.2.1926) AdR Luther Ι/Π, Nr. 284.
539
Siehe ibid.
540
S. JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68.
541
Einen spanischen Ratssitz wollte die Reichsregierung nötigenfalls hinnehmen, siehe Ministerbesprechung (11.2.1926), AdR Luther Ι/Π, Nr. 288.
542
Aufzeichnung Dirksen (9.2.1925), ADAP Β 1,1, Nr. 90.
543
Ibid. siehe auch zum folgenden.
544
Ibid.
545
Ministerbesprechung (11.2.1926), AdR Luther Ι/Π, Nr. 288.
538
282
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
schδdigen, daß in den Locarno-Verträgen keine substantiellen Garantien für
die polnische Westgrenze verankert worden waren546. Außerdem hätte der
Eintritt Polens in den Rat Frankreichs Position in diesem Gremium, gerade
angesichts des deutschen Beitritts, gestärkt547. Da der Völkerbund außerdem
die Klammer war, die in den Augen der französischen Politik den Garantiepakt für die deutsche Westgrenze mit den Ostschiedsverträgen zu einem europäischen Sicherheitssystem verknüpfte, mußte es Paris natürlich daran gelegen
sein, seine Position im Völkerbund auszubauen. Bei Gesprächen in Paris am
27. und 28. Januar 1926 konnte Briand auch Chamberlain für einen polnischen
Ratssitz gewinnen, falls Frankreich die spanische Kandidatur stützte548.
Um noch im Vorfeld der Ratstagung, die im März 1926 stattfinden sollte,
eine Lösung für das Problem der Ratssitze zu finden, reiste der Generalsekretär des Völkerbunds, Drummond, am 16. und 17. Februar 1926 zu Gesprächen
nach Berlin. Die Reichsregierung wiederholte gegenüber dem Generalsekretär
ihre Vorbehalte hinsichtlich des polnischen Ratssitzes: Ein Sitz für Polen entspräche nicht den Absprachen von Locarno, außerdem sei Polen keine Großmacht, die einen ständigen Sitz beanspruchen könne549. Die deutschen Vertreter betonten außerdem, daß der deutsche Beitritt nicht durch den Reichstag zu
bringen sei, falls Polen ständiges Ratsmitglied werde. Drummond jedoch äußerte sich, wie dessen französischer Stellvertreter Avenol550 erleichtert nach
Paris melden konnte, ausweichend zu dieser Frage. Nachdem dieser Vermittlungsversuch gescheitert war, mußte also auf der Ratstagung in Genf, die für
den 7. bis 17. März 1926 angesetzt war, eine Lösung gefunden werden. Nachdem zwischen den Großmächten nach zähen Verhandlungen doch noch ein
Kompromiß gefunden werden konnte, der darin bestand, daß Polen und Spanien zwar keinen ständigen Ratssitz erhalten sollten, sondern einen nichtständigen, für den sie jedoch wiedergewählt werden konnten551, und Deutschland in
der Kommission zur Reform des Völkerbundsrates mitarbeiten sollte552, scheiterte die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund letztlich am Widerstand
Brasiliens. Das südamerikanische Land ließ sich nicht von seiner Forderung
nach einem ständigen Ratssitz abbringen, woraufhin die Großmächte die Frage
vertagten553. Erst zur Septembertagung des Völkerbunds wurden die Probleme
546
547
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 312.
Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 79.
Siehe ibid.
549
Siehe Avenol an Berthelot (19.2.1926), MAE PAAP 261,2. Siehe auch zum folgenden.
550
Zur Person Avenols vgl. MichelsrnifaUSRONMJECBA
MARBEAU, Reflexions sur un haut fonctionnaire fran5ais
devenu secrdtaire gindral de la Societe des Nations: le cas de Joseph Avenol, in: Relations
internationales 75 (1993), S. 345-361.
551
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 68.
548
552
553
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 314.
Siehe Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [16.3.1926] ADAPrN
Β 1,1, Nr. 166.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
283
bez٧glich des deutschen Beitritts endg٧ltig beigelegt, und am 10. Septem
ber 1926 trat Deutschland in »feierlicher Sitzung«554 in den Vφlkerbund ein.
Allerdings wurde der deutsche Beitritt in den Vφlkerbund durch den am
24. April 1926 zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion geschlos
senen Berliner Vertrag teilweise wieder entwertet. Welche άberlegungen lie
ßen die Reichsregierung, trotz der vorhersehbaren Auswirkungen auf das Verhältnis zu den westlichen Staaten, diesen Vertrag abschließen? Das AA
verfolgte mit seiner Politik gegenüber der Sowjetunion verschiedene Ziele:
Die Sowjetunion wurde vor allem als Druckmittel gesehen, Revisionsforderungen gegenüber Polen durchzusetzen555. Daneben spielte auch die verdeckte
militärische Zusammenarbeit eine wichtige Rolle, allerdings sah das AA diese
»more as a means of maintaining the relationship with the Soviet Union than
as of value in themselves«556. Auch wirtschaftlich versprach man sich Vorteile
von einer Kooperation, allerdings wurden die hochgesteckten Erwartungen
diesbezüglich weitgehend enttäuscht557. Mit Sorge betrachtete man in Berlin
auch die Anzeichen einer Annäherung zwischen Paris und Moskau, die wiederum die Revision der Ostgrenze erschwert hätte, so daß man dem sowjetisch-französischen Ausgleich von Vornherein einen Riegel vorschieben wollte558. Umgekehrt betrachtete die Sowjetunion die Annäherung zwischen
Deutschland und dem Westen seit dem Dawes-Plan - und erst recht natürlich
seit Locarno - mit Sorge, drohte doch nun auch Deutschland aus Moskauer
Sicht in eine westliche, antisowjetische Allianz abzudriften559. Um Moskau
diesbezüglich zu beruhigen, schien also eine Geste notwendig. Aber auch aus
innenpolitischen Überlegungen heraus - weil viele Gegner der LocarnoPolitik, besonders die DNVP, aber auch Seeckt und Brockdorff-Rantzau starke
Befürworter einer Kooperation mit der Sowjetunion waren - schien die Erhaltung guter Beziehungen zur Sowjetunion angebracht560. Materiell war der Inhalt des Berliner Vertrags wenig bedeutsam und blieb weit hinter den Erwartungen der Sowjetunion zurück, die ein Bündnis zwischen beiden Ländern
gefordert hatte561. Der Vertrag562 bestätigte den Inhalt des Rapallo-Abkommens von 1922 (Art. 1) und sicherte dem jeweils anderen Land die Neutralität
für den Fall zu, in dem das jeweils andere Land Opfer eines Angriffs würde
554
Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 474. Dort auch
Ausz٧ge aus den Reden Stresemanns und Briands anlδίlich des deutschen Beitritts.
555
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 621.
556
WRIGHT, Stresemann, S. 359.
557
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 269.
558
Siehe BAECHLER, Stresemann, S. 621.
559
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 266268.
560
Siehe Ministerbesprechung (24.2.1926), AdR LutherrihedSNB
Ι/Π Bd. 2, Nr. 299.
561
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 283f.
562
Der Vertragstext und der Notenwechsel sind abgedruckt in: Schulthess' Europδischer
Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 8789.
284
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
(Art. 2). F٧r diesen Fall verpflichteten sich beide Regierungen auch dazu,
nicht an gegen das andere Land gerichtete Wirtschaftssanktionen teilzu
nehmen (Art. 3).
In Paris und London war man ٧ber den Berliner Vertrag naturgemδß nur
wenig erbaut563. Da aber sowohl Chamberlain als auch Briand ihr politisches
Schicksal an den Ausgleich mit Deutschland gebunden hatten, wagten sie
nicht, allzu hart gegen die deutsch-russischen Verhandlungen vorzugehen und
als Konsequenz daraus z.B. die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund zu
verhindern564. Die Uneindeutigkeit der deutschen Haltung mußte aber wiederum auch den Spielraum Chamberlains und vor allem Briands in ihrer Deutschlandpolitik einengen565. Deshalb lehnten Paris und London - infolge auch des
Berliner Vertrags - zunächst weitere Truppenreduzierungen im Rheinland ab.
Insgesamt machte der Berliner Vertrag deutlich, daß die deutsche Politik gegenüber dem Westen nach wie vor ambivalent war, und so die Wirkung des
Locamo-Pakts begrenzte566.
An den Auseinandersetzungen um den deutschen Beitritt zum Völkerbund,
die sich an den Problemen des Artikels 16 der Satzung und der Frage des deutschen bzw. polnischen Ratssitzes entzündeten, läßt sich besonders klar zeigen,
daß die Politik, die Berlin und Paris im Völkerbund verfolgten, den großen
außenpolitischen Leitlinien beider Länder untergeordnet blieb. Deutschland
konnte in der Frage des Artikels 16 nicht nachgeben, weil dies das Verhältnis
zur Sowjetunion beeinträchtigt und somit die Revisionschancen in Osteuropa
verringert hätte. Auch in der Frage des Ratssitzes spielten revisionspolitische
Gesichtspunkte eine herausragende Rolle: Der polnische Ratssitz wurde abgelehnt, weil er die neuerrungene Gleichberechtigung Deutschlands als Großmacht - ein wesentliches Revisionsziel - eingeschränkt hätte. Durch die zu
erwartende Aufwertung Polens für den Fall, daß es einen ständigen Ratssitz
erhalten hätte, wäre außerdem die Revision der deutschen Ostgrenze erschwert
worden.
Die französische Politik in der Frage des deutschen Völkerbundsbeitritts
folgte ebenfalls den Leitlinien der allgemeinen Politik, also vor allem sicherheitspolitischen Überlegungen. Da für Frankreich Locarno mit seinem
Schieds- und Garantiepakt nur der erste Schritt zur Erhöhung der Sicherheit
war, sollten durch den Völkerbund weitere Garantien geschaffen werden. Der
ständige polnische Ratssitz hätte die Position Frankreichs im Völkerbundsrat
gestärkt und die Deutschlands relativiert. Darüber hinaus wäre die Verklam-
563
Zu einigen Reaktionen siehe Hoesch an AA (9.4.1926),zyutsrponmlihgfedcbaZWTSRPONM
ΡAAA R, 28239; Hoesch an AA
(3.4.1926), ADAP Β Π,Ι, Nr. 104; Aufzeichnung Schubert (6.4.1926), ADAP Β Π,2,
Nr. 108.
564
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 81. Siehe auch zum folgenden.
565
566
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 359.
Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 243.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
285
merung, die zwischen den Ostschiedsvertrδgen des Locarnopakts mit dem
Vφlkerbund bestand, verstδrkt worden. Daß sich Frankreich schließlich doch
darauf einließ, Polen nicht in den Rat aufzunehmen, dürfte vor allem zwei
Gründe gehabt haben: Hätte Deutschland den Beitritt in den Völkerbund wegen der Ratsfrage abgelehnt, wäre das ganze mit Locarno verbundene Sicherheitskonzept ins Wanken geraten. Insofern war es besser, den deutschen Forderungen bezüglich des Ratssitzes nachzugeben. Außerdem war mit dem
deutschen Beitritt zum Völkerbund in den Augen Frankreichs schon viel erreicht: Indem Deutschland den Artikel 10 der Satzung anerkannte, verzichtete
es implizit erneut auf eine gewaltsame Revision seiner Ostgrenze und war jetzt
außerdem in die Sanktionsmechanismen des Völkerbunds eingebunden. Dafür
war es für Frankreich, wie oben festgestellt wurde, weniger wichtig, daß
Deutschland selbst aktiv an Sanktionen, z.B. gegen die Sowjetunion, teilnahm,
sondern daß Deutschland damit anerkannte, daß es, im Falle einer Aggression
gegen Polen, den Sanktionen des Völkerbunds unterworfen werden konnte.
Damit hatte Frankreich eine rechtlich einwandfreie, von Deutschland anerkannte Handhabe zur Verhängung von Sanktionen.
Die deutsche Mitgliedschaft im Völkerbund war also weder von Frankreich
noch von Deutschland in erster Linie angestrebt worden, um den Prinzipien
des Völkerbunds nach Friedenssicherung durch kollektive Sicherheit zum
Durchbruch zu verhelfen. Er war vielmehr taktisch-strategischer Natur und
stand unter dem Vorbehalt der Sicherheits- bzw. Revisionspolitik.
Wie bereits vor Locarno und dem deutschen Beitritt zum Völkerbund blieb
die Sicherheitsfrage auch danach eng mit der Abrüstung verbunden. Für
Frankreich galt noch immer der von Herriot geprägte Dreisatz, daß der
Schiedsgerichtsbarkeit die Sicherheit folge, die erst dann die Abrüstung ermöglichen würde567, mit anderen Worten: Für Frankreich war Abrüstung nur
in dem Maße möglich, in dem die französische Sicherheit erhöht wurde568. Im
Grunde genommen blieben die für die Abrüstungsverhandlungen bestehenden
Probleme der ersten Hälfte der 1920er Jahre auch die der zweiten: das Verhältnis von Abrüstung und Sicherheit. Bereits die erste Vollversammlung des
Völkerbunds hatte in ihrer Resolution vom 14. Dezember 1920 festgestellt,
daß die allgemeine und endgültige Abrüstung von verschiedenen Bedingungen
abhinge569: Vor allem müsse sichergestellt werden, daß die Abrüstungs- und
Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags vollständig durchgeführt
567
Siehe BERSTEIN, Herriot, S. 120f.
Siehe Marshall M. LEE, Disarmament and Security: The German Security Proposals in
the League of Nations, 1926-1930. A Study in Revisionist Aims in an International Organizsation, in: MGM 25 (1979), S. 35-45, hier S. 35f.
569
Der Text der Resolution der 1. Vollversammlung des Völkerbunds vom 14.12.1920 ist
teilweise abgedruckt in: Documents diplomatiques. Documents relatifs aux nigociations
concemant les garanties de sicurite 1924, Nr. 44, Anhang 1.
568
286
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
und Kontrollorgane zu deren dauerhaften άberwachung errichtet w٧rden. Eine
weitere Bedingung war »la collaboration des autres grands Etats militaires qui,
jusqu'ici, sont restes en dehors de la Societe«570, wobei vor allem an die USA
gedacht gewesen sein d٧rfte. Um dennoch den guten Willen in der Ab
r٧stungsfrage zu unterstreichen, beschloß die Vollversammlung, daß die Commission permanente consultative ihre technischen Studien zum aktuellen Stand
der Bewaffnung schnell zum Abschluß bringen sollte und setzte die Commission temporaire mixte als Enquete-Kommission ein, deren Aufgaben es sein
sollte, Studien und Vorschläge zur Abrüstung für den Völkerbundsrat auszuarbeiten. Dieser Resolution fügte die Vollversammlung den »voeu«571 an die
Regierungen der Mitgliedsstaaten bei, die Militärausgaben in den folgenden
zwei Jahren einzufrieren.
Im folgenden Jahr erneuerte die Vollversammlung diesen Wunsch und beauftragte die Commission temporaire mixte, einen Vorschlag - in Form eines
Vertrags - zur Abrüstung vorzulegen572. Eine weitere Resolution der Vollversammlung zur Abrüstung forderte die Mitgliedsstaaten auf, so schnell wie
möglich der Commission temporaire Auskunft über ihre Verteidigungsausgaben, ihre internationalen Verpflichtungen und die spezifischen Schwierigkeiten der nationalen Verteidigung, wie beispielsweise die geographische
Lage eines Landes, zu geben573.
Im September 1922 legte die Commission temporaire einen Bericht vor, der
die Antworten der Regierungen zusammenfaßte574, und veröffentlichte eine
Zusammenstellung über die Verteidigungsausgaben der Mitgliedsländer575.
Ebenfalls 1922 kam die Vollversammlung in ihrer bereits erwähnten Resolution XTV zu dem Schluß, daß für besonders exponierte Staaten eine Abrüstung
nur dann erfolgen könne, wenn gleichzeitig durch zusätzliche internationale
Sicherheitsgarantien die Gefährdung dieser Länder reduziert würde576. Damit
hatte die französische Abrüstungsdoktrin (erst Sicherheit - dann Abrüstung)
auch ihren Niederschlag in der Abrüstungspolitik des Völkerbunds gefunden.
Nach der Vorstellung Berthelots sollte die Sicherheit vor allem dadurch erhöht
werden, daß ein umfassendes Schiedssystem (»systeme de reglements pacifi570
Ibid.
»Vceu adopte par la 1" Assemble de la soci6t6 des Nations« (14.12.1920), ibid. Nr. 44,
Anhang 2.
572
Siehe »Extrait de la rösolutionleda
Π de la 2e Assemblöe de la Societd des Nations, relative
aux Armements« (1.10.1921), ibid. Nr. 44, Anhang 3.
573
Siehe Rundschreiben des Generalsekretärs des Völkerbunds [Anzilotti], (29.11.1921),
ibid. Nr. 44, Anhang 4.
574
Siehe »Extrait du rapport de la Commission temporaire mixte pour la räduction des armements« (6.9.1922), ibid. Nr. 44, Anhang 6.
575
Siehe »Extrait du document concemant les dipenses budgitaires pour la difense nationale
(1913 et 1920-1922) «, [o.D.], ibid. Nr. 44, Anhang 7.
576
Die Resolution XIV vom 27.9.1922 ist abgedruckt in: ibid. Nr. 44, Anhang 8.
571
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
287
ques des differends«) etabliert w٧rde, und der Artikel 16 der Vφlkerbundssat
zung durch verbindliche Zusagen f٧r den Fall ausgebaut werden sollte, in dem
ein Mitglied Opfer einer Aggression w٧rde577. Die Erweiterung des Arti
kels 16 sollte entweder in Form eines allgemeinen Abkommens, wie z.B. dem
Genfer Protokoll, oder in Form von regionalen Vertrδgen, wie sie der Vor
schlag Requins beinhaltete, erfolgen578. Ausfluß dieser Überlegungen waren
die Sicherheitsprojekte von Oberst Requin und Lord Robert Cecil sowie das
Genfer Protokoll, die bereits oben näher beleuchtet wurden579.
Ein neuer Impuls in der Abrüstungsfrage - nach dem Scheitern des Genfer
Protokolls standen zunächst die deutsche Sicherheitsinitiative und die Locarno-Verträge im Mittelpunkt der diplomatischen Bemühungen - kam erst Ende
1925 zustande: Der Völkerbundsrat beschloß am 12. Dezember580, eine vorbereitende Kommission fur eine zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt einzuberufende Abrüstungskonferenz einzusetzen. Die Kommission, zu der neben den Völkerbundsmächten auch Deutschland, die Vereinigten Staaten und
die Sowjetunion eingeladen wurden, sollte bereits zum 15. Februar 1926 zusammentreten, doch fand die erste Sitzung nach der Klärung verschiedener
inhaltlicher und organisatorischer Fragen erst am 18. Mai 1926 statt581. Die
Aufgaben582 dieser Vorbereitenden Kommission waren die Definition der Rüstung (in Krieg und Frieden, Rekrutierung und Ausbildung usw.) und der Umfang der anzustrebenden Abrüstung. Außerdem sollte sie Standards zum Vergleich des Rüstungsstandes verschiedener Länder und eine Bestimmung der
Begriffe der »Offensiv- und der Defensivrüstung«583 erarbeiten. Auch sollte
die Kommission feststellen, ob eine allgemeine oder regionale Abrüstung anzustreben sei. Des weiteren sollte sie die Zusammenhänge zwischen militärischer und ziviler Luftfahrt erhellen und den militärischen Wert der Handelsflotten untersuchen. In diesen beiden letzten Fragen spiegelte sich die
französische Ansicht wider, daß für die Bewertung der Stärke eines Landes in
einem möglichen Konflikt nicht nur die militärischen Machtmittel an sich also vor allem Truppenstärke und Bewaffnung - entscheidend waren, sondern
auch andere Faktoren, die als das »Kriegspotential«utrponliged
{potentiel de guerre) eines
Landes zusammengefaßt wurden. Der potentiel de guerre umfaßte dabei
l'ensemble des forces militaires, 6conomiques et industrielles qu'elle [gemeint: une nation]
est susceptible de mettre en jeu en cas de conflit. Ainsi un grand pays industriel, bien que ne
poss6dant pas beaucoup d'hommes sous les drapeaux, peut fort bien etre considdri comme
577
Siehe Berthelot an Seirigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7.
Siehe ibid.
579
Siehe Kap. 4.1.3.
580
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 41. Jg. (1925), S. 454.
581
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 463.
582
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925),idbRIA
ΡAAA R, 29194.
583
Ibid.
578
288
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
plus arme qu'un pays agricole, puisque ses usines sont capables de lui procurer tres rapide
ment une sup6rioriti matörielle 6crasante584.
Um denutrponliged
potentiel de guerre sollte sich eine der zentralen Auseinandersetzun
gen der Abr٧stungsverhandlungen entwickeln, weil sowohl Deutschland als
auch Großbritannien dieses Konzept ablehnten. Deutschland kritisierte die
Einbeziehung des Kriegspotentials deshalb, weil es die Definition des großen
Industrielandes, das zwar nicht über eine große Armee verfüge, aber aufgrund
seiner Industrie schnell eine materielle Übermacht erzielen könne, auf sich
gemünzt und als französischen Versuch sah, die deutsche Entwaffnung und
Abrüstung zu perpetuieren und weitere französische Sicherheitsforderungen
zu rechtfertigen585. England widersetzte sich dem Begriff des potentiel de
guerre, weil es eine Verschleppung der Abrüstungsverhandlungen befürchtete
- ähnlich wie bei der umstrittenen Definition der »Aggression« war bei der
Diskussion um das Kriegspotential eine nicht enden wollende Auseinandersetzung zu erwarten, die auch den kleinsten Abrüstungserfolg unwahrscheinlich
machen würde. Außerdem dürfte auch in Großbritannien das Kriegspotential
als Instrument angesehen worden sein, die militärische Vormachtstellung
Frankreichs in Europa abzusichern. Folglich war dieser Aspekt schon bei der
Festlegung des Arbeitsauftrages für die Vorbereitende Abrüstungskommission
zwischen Paris und London umstritten586. Ein weiterer Konfliktpunkt zwischen den beiden Ländern war - schon bevor die Vorbereitende Abrüstungskommission überhaupt zusammentrat - das Problem, ob im Vorfeld einer
möglichen Aggression Pläne aufgestellt werden sollten, die dem angegriffenen
Staat eine wirtschaftliche und finanzielle Übermacht gegenüber dem angreifenden Staat garantieren sollten. Hier schien der französische Wunsch nach
einem Ausbau der Sanktionsmechanismen des Artikels 16 durch, was die englische Regierung aber weiterhin ablehnte587. Uneinigkeit herrschte zudem in
der Frage, ob die Rüstung eines Landes so beschränkt werden sollte, daß sie
geringer war als die eines anderen Landes einschließlich der zu erwartenden
Völkerbundshilfe, falls letzteres Opfer einer Aggression werden sollte. Dieser
Punkt, der die kollektive Sicherheit - bei allen Schwierigkeiten der Umsetzung - eindeutig gestärkt hätte, weil jeder potentielle Angreifer dann sicher
von seiner eigenen Unterlegenheit hätte ausgehen müssen, konnte aber nur
dann umgesetzt werden, wenn wiederum die Sanktionen des Artikels 16 nicht
fakultativ blieben, sondern verpflichtend wurden. Selbst zwischen den Westmächten bestanden also in der Abrüstungsfrage fundamentale Unterschiede.
584
Hoesch zitiert hier aus den Instruktionen für die französische Delegation bei der Vorbereitenden Abrüstungskommission, wie sie im »Petit Parisien« abgedruckt worden waren,
Hoesch an AA (30.4.1926),zusronmlihgfedcaSRPNIHDA
ΡAAA R, 29194.
585
Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAP Β I, 1, Nr. 23.
586
Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925), ΡAAA R, 29194. Siehe auch zum folgenden.
587
Siehe Bülow und Aschmann an AA (8.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 242.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
289
Die deutsche Position in der Abr٧stungsfrage ist kurz zusammengefaίt: Ber
lin wollte die »Nivellierung allgemeinen R٧stungsstandes«588, mit anderen
Worten, die militδrische Gleichberechtigung mit seinen Nachbarlδndern589.
Deutschland wollte sich deshalb positiv an den Abr٧stungsverhandlungen be
teiligen, um eine Abr٧stung seiner Nachbarn zu erreichen, und um dadurch
das Machtgefδlle zwischen Deutschland und den Siegermδchten zu verrin
gern590. Folgerichtig hatte die Reichsregierung am 25. Januar 1926 in einer
Note an das Völkerbundssekretariat die Teilnahme an der Abrüstungskommission erklärt591. Allerdings gab es in der Abrüstungsfrage unterschiedliche Auffassungen zwischen der Reichswehr einerseits und dem AA andererseits:
Während die Reichswehr davon ausging, daß ein Scheitern der Abrüstungsverhandlungen eine zumindest begrenzte Wiederaufrüstung Deutschlands
rechtfertigen würde592, ging das AA davon aus, daß eine auch nur minimale
Aufrüstung zumindest mittelfristig unmöglich und inopportun war593. Nach
Ansicht des AA ergab sich aus der militärischen Machtlosigkeit für die deutsche Außenpolitik,
daß diese eine Politik der militärischen Ohnmacht, d.h. des grundsätzlichen Verzichtes auf
die Anwendung kriegerischer Mittel sein muß. Damit ist keineswegs gesagt, daß die deutsche Politik eine der Großmachtstellung Deutschlands unwürdige und schwächliche Politik
sein müsse. Die militärische Ohnmacht kann vielmehr bei richtiger Führung der Außenpolitik zu einem Moment der Stärke und der wertvollen Trümpfe gegenüber den sich auf starke
Waffenmacht stützenden Staaten werden594.
Dem französischen Programm von Schiedsgerichtsbarkeit, Sicherheit und Abrüstung sollte deshalb in den ersten beiden Punkten entgegengekommen werden, um den dritten Punkt zu erreichen. Darin hatte auch schon eine wichtige
Motivation für die Locarno-Politik gelegen:
In diesem Rahmen gesehen, erscheint die deutsche Politik in der Frage des Garantiepaktes
nicht nur als vollauf gerechtfertigt, sondern als geradezu zwangsläufig vorgeschrieben. Sie
ist dazu angetan der deutschen Außenpolitik einen Weg zu eröffnen, der Deutschland machtpolitisch wieder auf gleichen Nenner mit seinen Nachbarstaaten bringt oder vielmehr die
Nachbarstaaten Deutschlands nötigt, ihren Kriegsapparat auf den Nenner herabzuschrauben,
den sie im Versailler Vertrage Deutschland aufgezwungen haben. Erst wenn dieses Ziel er-
588
Aufzeichnung ohne Unterschrift [19.1.1926], ADAPutsrponlkihedcbaZWSRNMLKIEA
Β 1,1, Nr. 45.
Siehe Michael SALEWSKI, Zur deutschen Sicherheitspolitik in der Spätzeit der Weimarer
Republik, in: VfZG 22 (1974), S. 121-147, hier S. 123.
590
Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925), ΡAAA R, 29194.
591
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 452.
592
Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 163; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 134.
593
Siehe Aufzeichnung Rintelen (4.7.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 190.
594
Ibid.
589
290
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
reicht ist, steht Deutschland wieder als völlig ebenbürtiger Partner inmitten der europäischen
Völkergemeinschaft5'5.
Nach den LocarnoVertrδgen sah sich Deutschland durchaus in der Position,
konkrete Abr٧stungsschritte zu fordern, da die Reichsregierung der Ansicht
war, das Sicherheitsproblem sei gelφst. Diese Auffassung wurde gestδrkt
durch Teil V des Versailler Vertrags. Aus dem Text der Prδambel dieses Ab
schnittes, in dem die Entwaffhungsbestimmungen und militδrischen Auflagen,
denen sich Deutschland zu unterwerfen hatte, festgelegt waren, folgerte die
deutsche Regierang, daß nach Erfüllung der Entwaffhungsbestimmungen
durch Deutschland nun ebenfalls eine Verpflichtung der Siegermächte zur Abrüstung bestand596. Ganz abgesehen davon, daß Paris - wie die noch immer
andauernden Auseinandersetzungen um die Abberufung der IMKK und die
Erledigung der »Restpunkte« zeigten - keineswegs davon überzeugt war, daß
Deutschland tatsächlich entwaffnet war, ergab sich aus Sicht der französischen
Regierung aus der Präambel des Teils V keineswegs eine solche Verpflichtung. Zwar mußte man französischerseits eingestehen, daß die englische und
die französische Fassung des Textes des Versailler Vertrags in diesem Punkt
uneinheitlich waren (die französische Fassung sprach davon, daß die deutsche
Entwaffnung die »preparation«597 für eine allgemeine Abrüstung sei, während
die englische von einer »initiation«598 sprach), allerdings sei der deutschen
Delegation bereits in Versailles unmißverständlich klar gemacht worden, daß
die Entwaffnung Deutschlands bedingungslos zu erfolgen habe, und auch aus
Locamo ergebe sich keinerlei Verpflichtung für Frankreich, abzurüsten.
Dennoch befand sich die französische Regierang in der Abrüstungsfrage dabei in einem Dilemma: Auf der einen Seite stilisierte und verstand sie sich
durchaus als »Friedensmacht«599, andererseits glaubte man sich immer noch
ungenügend gesichert, weshalb man in der Abrüstungsfrage vorsichtig blieb.
Das Gefühl der Unsicherheit bestand dabei nicht nur gegenüber Deutschland,
sondern auch - und nach Locarno in verstärktem Maße - gegenüber dem italienischen Expansionismus im Mittelmeerraum600. Allerdings blieb ein »Mittelmeer-Locarno« aufgrund der englischen Weigerung, als Garantiemacht eines italienisch-französischen Abkommens einzutreten, unwahrscheinlich. Die
595
Ibid.
Siehe Aufzeichnung Köpke (9.12.1925),zyutsronmlihgfedcbaZUSRPNMIHEDBA
ΡAAA R, 29194; Aufzeichnung ohne Unter
schrift [19.1.1926], ADAP Β 1,1, Nr. 45.
597
Berthelot an Serrigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7.
598
Ibid. siehe auch zum folgenden.
599
Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAP Β 1,1, Nr. 23.
600
Siehe Berthelot an Serrigny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7. Zu den französischitalienischen Beziehungen zusammenfassend: Pierre GUILLEN, Franco-Italian Relations in
Flux, 1918-1940, in: Robert BOYCE (Hg.), French Foreign and Defence Policy, 1918-1940.
The Decline and Fall of a Great Power, London, New York 1998, S. 149-163, insbes.
S. 149-155.
596
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
291
franzφsische Regierung hatte wegen der ihrer Auffassung auch nach Locarno
noch ungeklδrten Sicherheitsfrage deshalb drei Sicherheitsnetze in ihre Positi
on eingewoben, die die Bedingungen festlegten, unter denen Frankreich bereit
war, abzur٧sten601: Die erste Sicherung stellte der bereits erwδhnteutrponligedca
potentiel
de guerre dar; nur wenn dieser bei der Bestimmung der zu leistenden Abr٧
stung herangezogen w٧rde, war Frankreich bereit, selbst abzur٧sten. Die zwei
te Bedingung stellte die Verbesserung der franzφsischen Sicherheit dar, z.B. in
Form der Erweiterung des Artikels 16: Frankreich »[strebt] letzten Endes, kurz
gesagt, einen Ersatz f٧r die bisher von ihm nicht durchgesetzte franzφsisch
englische Militδrkonvention [an]«602. Dies lehnte Großbritannien aber nach
wie vor ab, weil es noch immer nicht stärker in kontinentale Fragen einbezogen werden wollte603. Die dritte Vorsichtsmaßnahme der französischen Regierung, mit der sie in die Abrüstungsverhandlungen ging, war das Beharren auf
die gleichzeitige Behandlung der See- und Landabrüstung, die »interdependance«. Dadurch wollte die französische Regierung vermeiden, von den Seemächten USA und Großbritannien - die an der Landrüstung kein besonderes
Interesse hatten - einseitig unter Druck gesetzt zu werden, seine Armee zu
verkleinern604. Ebenso wie die Marinemächte lehnte auch Deutschland die
interdependance ab, weil es - wie diese Länder auch - besonders an der Verkleinerung der französischen Armee interessiert war, die sich vor allem dann
würde erreichen lassen, wenn Frankreich nicht die Marine gegen die Landstreitkräfte würde ausspielen können605.
Im Quai d'Orsay war man sich sehr darüber im klaren, wie schwer die eigene Position gegenüber Deutschland und den angelsächsischen Mächten durchzusetzen sein würde. Frankreich entwickelte deshalb im Vorfeld der Vorbereitenden Abrüstungskommission ein Maximal- und ein Minimalprogramm in
Sachen Abrüstung: Paris war - gemäß des Maximalprogramms - dazu bereit,
sich auf eine vertragliche Regelung der Abrüstung einzulassen, falls eine funktionierende Sicherheitsstruktur im Rahmen des Artikels 16 der Völkerbundssatzung geschaffen würde606. Da dies aufgrund der englischen Renitenz in dieser Frage im Quai d'Orsay aber für unwahrscheinlich gehalten wurde, bestand
das Minimalprogramm darin, konkrete Abrüstungsverpflichtungen tunlichst zu
vermeiden607. Den drei Sicherheiten - potentiel de guerre, Artikel 16 und interdependance - kam dabei in beiden Programmen eine zentrale Bedeutung
zu: Im Maximalprogramm stellten sie die Bedingungen zur Gewährleistung
601
Zum folgenden siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAPzyutsronmlihgfedcbaSRPNMIHEBA
Β 1,1, Nr. 23.
Ibid.
Siehe Bülow und Aschmann an AA (8.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 242.
604
Siehe Hoesch an AA (18.10.1929), ΡAAA R, 29199.
405
Siehe Aufzeichnung Stülpnagel (6.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 144.
606
Siehe Berthelot an Semgny (8.1.1926), MAE PAAP 261, 7.
607
Siehe ibid.
602
603
292
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
der franzφsischen Sicherheit dar, unter denen Paris bereit war, abzur٧sten,
wδhrend sie im Minimalprogramm als Instrumente dienen sollten, eine Festle
gung in der Abr٧stungsfrage zu vermeiden.
An diesen Ausf٧hrungen wird deutlich, daß der Schlüssel für den Erfolg
oder Mißerfolg der Abrüstungsverhandlungen letztendlich in London lag. Die
Abrüstung, die sowohl London als auch Paris und Berlin im Prinzip guthießen,
konnte nur dann erfolgreich eingeleitet werden, wenn Frankreich zusätzliche
Sicherheitsgarantien erhielt, und diese konnte es nur von England erhalten.
Die englische Position war aber widersprüchlich, weil sie zwar einerseits die
Abrüstung begrüßte, aber andererseits nicht bereit war, entsprechende Sicherheitsgarantien für Frankreich zu übernehmen, die wiederum die Voraussetzung für eine französische Abrüstung gewesen wären. Deshalb war weniger
der deutsch-französische Gegensatz, sondern die britische (und im weitesten
Sinne auch die amerikanische608) Politik des non-commitment der Hemmschuh für die Abrüstungsverhandlungen und verursachte letztendlich deren
Scheitern609. Die tiefere Ursache für den schwierigen Verlauf der Abrüstungsverhandlungen lag jedoch in dem grundsätzlichen Widerspruch begründet, daß
die englische (aber auch die deutsche) Abrüstungsphilosophie auf »Sicherheit
durch Abrüstung<«610 beruhte (was ein Stück weit auch die englische Politik
des non-commitment erklärte), während Frankreich auf »Sicherheit vor Abrüstung«^11 bestand.
Dies waren also die Ausgangspositionen für die erste Sitzungsperiode der
Vorbereitenden Abrüstungskommission, die vom 18. bis 26. Mai 1926 in Genf
stattfand612. Wie aufgrund der Positionen der Teilnehmer nicht anders zu erwarten war, stand der französisch-englische Gegensatz in der Abrüstungsfrage
im Mittelpunkt der Tagung613. Der französische Chefdelegierte, der Sozialist
Joseph Paul-Boncour, wiederholte den bekannten französischen Standpunkt,
daß die Lösung der Sicherheitsfrage der Abrüstung vorangehen müsse. Außerdem müßten bei den festzulegenden Rüstungsbeschränkungen nicht nur die
Stärke des Heeres, sondern auch derutrponliged
potentiel de guerre der einzelnen Staaten
berücksichtigt werden und die Sanktionsbestimmungen des Artikels 16 im
Sinne des Genfer Protokolls erweitert werden. Cecil lehnte hingegen als Dele608
Siehe Maurice VAISSE, Security and Disarmament. Problems in the Development of the
Disarmament Debates 1919-1934, in: Rolf AHMANN, Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD
(Hg.), The Quest for Stability. Problems of Western European Security 1918-1957, Oxford
u.a. 1993, S. 173-200, hierS. 176f.
609
Siehe Hoesch an AA (15.12.1925), ADAPutsronmlkihgedcbaVUTSPNKIHEDCBA
Β 1,1, Nr. 23.
610
611
BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 134.
Ibid. Siehe auch VAISSE, Disarmament, S. 177.
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 463.
Über den Verlauf der ersten Sitzungsperiode gibt eine ausführliche Aufzeichnung Köpkes
Auskunft, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt: Aufzeichnung Köpke (3.6.1926),
PAAA R, 29195. Zusammenfassend siehe auch VALSSE, Disarmament, S. 179.
612
613
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
293
gierter Großbritanniens einen Ausbau des Artikels 16 ebenso ab wie die Anwendung des Prinzips des Kriegspotentials.· Er betonte, daß sich die Abrüstung
auf die Effektivstärken der Heere und die Möglichkeiten der Mobilisierung
beschränken müsse. Der deutsche Delegierte, Graf Bemstorff, verhielt sich, da
Deutschland in Sachen Abrüstung keinerlei Druckmittel besaß, zurückhaltend:
Er lehnte zwar für Deutschland den Begriff desutrponliged
potentiel de guerre ab, weil
letztendlich nicht die Stärke der Industrie ausschlaggebend für die Macht eines
Landes sei, sondern seine Fähigkeit zur Kriegsproduktion, die in Deutschland
vor allem deshalb eingeschränkt sei, weil es eine unzureichende eigene Rohstoff- und Ernährungsbasis habe und von Feindbündnissen umgeben sei.
Deutschland forderte deshalb, daß für die Abrüstung nur die militärische Stärke, also die Zahl der aktiven und der mobilisierbaren Soldaten, die Menge des
genutzten und bevorrateten Kriegsgerätes, die Organisation des Heeres sowie
dessen Ausbildung, die Befestigungen und die momentane Kriegsgüterproduktion zu berücksichtigen sei614. In der Frage des Artikels 16 vertrat Bernstorff
die Auffassung, daß eine Erweiterung der Sanktionsbestimmungen erst dann
erfolgen könne, wenn die Abrüstungsfrage geklärt sei615. In der Sache stand
die deutsche Delegation also der englischen Auffassung näher. Bernstorff erwähnte allerdings nicht die weitergehenden deutschen Forderungen, wie zum
Beispiel die Abrüstung aller auf das deutsche Niveau oder eine deutsche Wiederaufrüstung, um die Verhandlungen nicht noch weiter zu erschweren616.
Die Abrüstungsfrage wurde auch am Rande der Völkerbundsvollversammlung in Genf am 23. und 24. September 1926 behandelt, ohne daß es jedoch zu
substantiellen Fortschritten gekommen wäre617, zumal organisatorische Aspekte im Mittelpunkt standen618. Auch die Berichte der Unterkommissionen A
undzutsronlihgfedcbVSRA
Β der Vorbereitenden Abrüstungskommission ließen erkennen, daß eine
Einigung noch in weiter Ferne lag. Die beiden Unterkommissionen waren
nach der ersten Sitzungsperiode - sicherlich auch als Reaktion auf die geringen materiellen Fortschritte - eingesetzt worden619. Die Unterkommission A
hatte zur Aufgabe, militärische Aspekte des Abrüstungsproblems zu untersuchen und war wiederum in drei weitere Unterkommissionen zergliedert, die
für Fragen der Marine, der Armee und der Luftwaffe zuständig waren. Nachdem die Unterkommission A am 5. November 1926 ihren Abschlußbericht
vorgelegt hatte, äußerte sich der Vizepräsident der Kommission, der belgische
Sozialist de Brouckere, enttäuscht über deren Arbeit und stellte fest, daß in
614
Siehe Runderlaß Bülow (21.7.1926), ΡAAA R, 29195.
Siehe Aufzeichnung Köpke (3.6.1926), ΡAAA R, 29195.
616
Siehe ibid.
617
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 490f.
618
Aufgrund der Wahl neuer nichtständiger Mitglieder in den Völkerbundsrat änderte sich
auch die Zusammensetzung der Vorbereitenden Abrüstungskommission, siehe ibid. S. 492.
619
Zur Organisation der Vorbereitenden Abrüstungskonferenz und ihrer Organe vgl. Runderlaß Bülow (3.8.1926), ΡAAA R, 29195.
615
294
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
vielen Fragen keine άbereinstimmung herrschte; erst der Vorschlag des ame
rikanischen Delegierten Gibson, kurzerhand auf Abstimmungen ganz zu ver
zichten, hatte dazu gefuhrt, daß überhaupt ein Bericht zustande gekommen
war620. Die Unterkommission B, die für nicht-militärische Aspekte des Abrüstungsproblems zuständig war - also etwa die Frage des Militärbudgets u.ä. tagte am 29. November 1926. Sie kam ebenfalls zu keinem abschließenden
Urteil und setzte statt dessen wiederum zwei Unterkommissionen ein, die sich
mit Fragen der Verteidigungshaushalte und der Luftfahrt befassen sollten621.
Auch die dritte Sitzung der Vorbereitenden Abrüstungskommission vom
21. März bis 26. April 1927 blieb weitgehend erfolglos622. Der Quai d'Orsay
bilanzierte unzufrieden, daß weiterhin nur taktisch motivierte Vorschläge dominierten, die zudem nur unzureichend mit den anderen Konferenzteilnehmern im Vorfeld abgesprochen worden seien623: »La Conference se trouvait en
consequence dans une situation fausse et difficile«624. In so gut wie allen Fragen bestehe »un desaccord profond«625. Aus französischer Sicht wurde vor
allem kritisiert, daß das Abrüstungsproblem die Frage der Sicherheit fälschlicherweise in den Hintergrund gerückt habe. Es wurde aber betont, daß es weiterhin notwendig sei, erst zu einer Lösung fur das Sicherheitsproblem zu gelangen und sich erst dann mit der Abrüstungsfrage zu befassen, weil sich auch
nach Locarno an der Sicherheitslage nichts entscheidend geändert habe. Deshalb müsse auch an den Sicherheitspfändern (vor allem dem besetzten Rheinland) weiter festgehalten werden.
Der Unmut besonders der kleineren Völkerbundsländer über den schleppenden Fortgang der Genfer Abrüstungsverhandlung entlud sich auf der Vollversammlung vom September 1927, die durch den spektakulären Rücktritt Henri
de Jouvenels und Lord Cecils von ihren Ämtern beim Völkerbund - aus Unzufriedenheit über die Haltung der eigenen Regierungen in ebendieser Frage noch unterstrichen wurde626. Bei den kleinen Ländern fiel deshalb der polnische Vorschlag fur einen allgemeinen Nichtangriffspakt auf fruchtbaren Boden627, womit Warschau jedoch vor allem auf ureigene Sicherheitsbedenken
reagierte: Locarno und das Gespräch von Thoiry hatten dort die Befürchtung
genährt, daß Frankreich nicht mehr so stark an der Sicherheit Polens interessiert war. Obwohl es in Frankreich viele Stimmen gab, die den polnischen
Vorstoß begrüßten - zu ihnen gehörten auch Paul-Boncour und de Jouvenel - ,
lehnte Briand die Vorschläge ab. Er befürchtete die Schädigung der gerade
620
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 492f.
Siehe ibid. S. 493.
622
Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 537-540.
623
Siehe Aufzeichnung Seydoux [?], (11.5.1927), MAE PAAP 261, 7.
624
Ibid.
625
Ibid. siehe auch zum folgenden.
626
Siehe Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAPutsronihgfeaVSNMLKIHC
Β VII, Nr. 9.
627
Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 98f.
421
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
295
initiierten Verstδndigungspolitik mit Deutschland. Auch die zu erwartende
mangelnde Unterst٧tzung f٧r den polnischen Vorschlag durch England ließ
ihn davor zurückweichen, die Initiative Warschaus zu unterstützen628. London
befürchtete, durch einen solchen allgemeinen Nichtangriffspakt zu tief in potentielle kontinentaleuropäische Händel hineingezogen zu werden629. Für Berlin war der polnische Vorschlag inakzeptabel, weil dadurch faktisch die polnische Westgrenze anerkannt worden wäre630. Auf Druck der drei LocarnoMächte wurde der Vorschlag aus Warschau letztlich so verwässert, daß die
Staaten lediglich nochmals ihren Friedenswillen bekundeten631. Allerdings war
es für die Reichsregierung auch nicht möglich, den polnischen Vorstoß einfach zu ignorieren632. Besonders die kleineren Mächte, auf deren Unterstützung das Reich in der Abrüstungsfrage Wert legte, befürworteten den polnischen Vorschlag, wie sie sich generell auch gegen die Praxis der »großen
Drei« Briand, Chamberlain und Stresemann aussprachen, in einer Art »>Oberste[n] Rat< [...] eine neue oder vielmehr ganz die alte Geheimdiplomatie«633 zu
betreiben, die die Völkerbundsgremien aushebele. Der Ausweg aus dem Dilemma bestand für Deutschland darin, die sogenannte »Fakultativklausel« zum
Internationalen Gerichtshof zu unterzeichnen634. Mit dieser Klausel verpflichteten sich die unterzeichnenden Staaten, alle ihre internationalen Streitigkeiten
dem Schiedsgerichtshof in Den Haag vorzulegen635. Die praktische Relevanz
der Klausel war gering, da Deutschland sowieso schon in ein komplexes System aus Schiedsverträgen eingebunden war636, sorgte aber dafür, das Prestige
Deutschlands bei den kleinen und neutralen Staaten erheblich zu erhöhen637,
628
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 64, Hoesch an AA (1.9.1927), ADAPzywutsrponmlihgfe
Β VI,
Nr. 165.
629
Siehe Chamberlain an Tyrell (4.9.1927), DBFP 1Α ΠΙ, Nr. 328.
630
Siehe Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAP Β VII, Nr. 9.
631
Siehe ibid.
632
Siehe Aufzeichnung Hagenow (1.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 161.
633
Runderlaß Bülow (5.10.1927), ADAP Β VII, Nr. 9.
634
Zum Wortlaut der Klausel und deren rechtlichen Bedeutung für Deutschland siehe Aufzeichnung Gaus [15.7.1927], ADAP Β VI, Nr. 35.
635
Siehe KIMMICH, League of Nations, S. 99.
636
Deutschland war bis zum 1.12.1932 vertragsmäßige Bindungen in Sachen Schlichtung
mit 83 Staaten eingegangen, vgl. Francis Colt DE WOLF, General Synopsis of Treaties of
Arbitration, Conciliation, Judical Settlement, Security and Disarmament, Actually in Force
between Countries Invited to the Disaramament Conference, Washington D.C. 1933 (Carnegie Endowment for International Peace, Division of International Law, Pamphlet No. 53),
S. 5 9 - 6 2 .
637
Siehe Stresemann an Marx (21.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 221; Ministerbesprechung
(9.9.1927), ADAP Β VII, Nr. 184.
296
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
zumal Deutschland die einzige Großmacht war, die die Fakultativklausel am
27. September 1927 unterzeichnet hatte638.
Briand hingegen mußte daran gelegen sein, den polnischen Sicherheitsbedürfnissen entgegenzukommen, ohne dabei aber die Beziehungen zu Deutschland zu belasten. Er hatte deshalb angeregt, daß anstelle des polnischen Vorschlags eines allgemeinen Nichtangriffspakts Deutschland, die Sowjetunion,
Polen, Rumänien und die baltischen Staaten einen Nichtangriffspakt unterzeichnen sollten, der außerdem territoriale Zugeständnisse für Deutschland
vorsah. Dieser Vorschlag war aber für keinen der beteiligten Staaten besonders attraktiv und hatte keine weitere Relevanz639.
Allerdings zeigte die Kritik der kleinen und neutralen Staaten an den
schleppenden Fortschritten in der Abrüstungsfrage auch anderweitig Wirkung.
Um aus der Sackgasse zu kommen, in die die Abrüstungsverhandlungen wegen des französisch-britischen Gegensatzes geraten waren, wurde am 26. September 1927 vom Völkerbund eine Resolution verabschiedet, durch die der
Comite d'arbitrage et de securite - als Unterkomitee der Vorbereitenden Abrüstungskommission - geschaffen wurde640. Aufgabe dieses Komitees war es
zu untersuchen, welche Sicherheitsbedingungen erfüllt sein müßten, damit
konkrete Abrüstungsschritte erfolgen könnten. Das war die französische Position in Reinkultur: Sicherheit als Voraussetzung für Abrüstung. Deutschland
stimmte - mit Bedenken - der Schaffung des Komitee zu: Es sollte unbedingt
vermieden werden, daß die Abrüstungsverhandlungen scheiterten, denn dies
hätte die Gleichberechtigung (bzw. die weniger starke Diskriminierung)
Deutschlands in Militärfragen noch weiter verzögert641. Allerdings wurde die
Reichsregierung nicht müde zu betonen, daß ihrer Auffassung nach die Sicherheitsfrage gelöst sei und das Komitee die Abrüstungsverhandlungen unnötig verzögerte642. Sie wollte das Komitee außerdem als Forum nutzen, ihre
Meinung zu vertreten, daß Sicherheit eine Folge von Abrüstung sei und nicht
umgekehrt643.
Dem Komitee lagen drei Vorschläge vor644, wie die Sicherheitslage verbessert werden könnte: Der niederländische Vorschlag, der die Wiederbelebung
des Genfer Protokolls vorsah, hatte aufgrund der Ablehnung Großbritanniens
und Deutschlands kaum eine Chance. Norwegen hatte vorgeschlagen, Musterverträge für obligatorische Schiedsverfahren zu erarbeiten, die die Mitglieder
638
Frankreich hatte die Fakultativklausel zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, weil es ihr
erst dann zustimmen wollte, wenn auch das Genfer Protokoll in Kraft trat, vgl. Aufzeichnung
Gaus [15.7.1927], ADAPwutsrlihgfecZYWVTSONLIHEDCA
Β VI, Nr. 35.
639
Siehe WANDYCZ, Twilight, S. lOlf.
640
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 531.
Siehe Pünder an AA (19.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 214.
642
Siehe Runderlaß Bülow (13.10.1927), ADAP Β VH, Nr. 29.
643
Siehe LEE, Völkerbundspolitik, S. 355.
644
Siehe Runderlaß Bülow (13.10.1927), ADAP Β ΥΠ, Nr. 29.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
297
des Vφlkerbunds dann untereinander sanktionieren sollten. Der dritte Vor
schlag bestand darin, regionale Sicherheitsb٧ndnisse nach dem Vorbild der
LocamoVertrδge zu schaffen645, eine Idee, die vor allem in England Zustim
mungfand 646 .
Die erste Tagung des Sicherheitskomitees, die am 1. und 2. Dezember 1927
stattfand, hatte vor allem technischen Charakter647. Das Arbeitsprogramm, das
man sich gab, umfaßte die Untersuchung der Schiedsverträge und die in der
Völkerbundssatzung vorgesehenen Sanktionsmechanismen sowie die Definition des Aggressors. Während Frankreich vor allem am Ausbau der Sanktionsmechanismen interessiert war, im Grunde also genommen die Wiederbelebung
des Genfer Protokolls wünschte, versuchte Deutschland, den Schwerpunkt der
Arbeit des Komitees auf die Krisenprävention, also den Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, zu lenken648. Die Reichsregierung forderte die obligatorische
Regelung aller Streitfragen durch geregelte Schiedsverfahren mit dem Ziel die
von Frankreich gewünschten Sonderbündnisse und Sanktionsverpflichtungen,
sowie die von Großbritannien favorisierten regionalen Sicherheitsbündnisse
nach dem Vorbild von Locarno zu verhindern. Beide - die englischen wie die
französischen Überlegungen - , sollten sie sich durchsetzen, hätten nämlich
bewirkt, daß die Revision der Ostgrenzen und der Anschluß Österreichs unmöglich gemacht worden wären, was aus deutscher Sicht natürlich unbedingt
vermieden werden mußte649. Das deutsche Sicherheitsmemorandum, das am
26. Januar 1928 dem Vorsitzenden des Comite d'arbitrage et de securite, dem
tschechoslowakischen Außenminister Beneä, übergeben wurde, vertrat folgerichtig vor allem den Gedanken des Ausbaus der Schiedsgerichtsbarkeit650.
An der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit zeigte sich nun eine bemerkenswerte Konvergenz der deutschen und französischen Positionen in der Sicherheitspolitik. Die deutschen Ausführungen dazu wurden von Frankreich positiv bewertet651. In der Tat bildete die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit ein
wichtiges Element des Genfer Protokolls, welches ja nach wie vor die Grundlage der französischen Position bildete. Schubert stellte fest, daß das Protokoll
- wie der deutsche Vorschlag auch - »ein geschlossenes logisches System«652
645
Siehe ibid.
Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAPzxwutsronmlkihgfedcbaZVUTSPNIHEDA
Β VII, Nr. 246.
647
Zum folgenden siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927),
S. 543f.
648
Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246. Siehe auch zum fol
genden.
649
Siehe Runderlaß Bülow (31.1.1928), ADAPmV
Β Vm, Nr. 56.
650
Text der Note in: Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [26.1.1928], ADAP Β Vffl,
Nr. 45. Ein in den wesentlichen Punkten übereinstimmender Entwurf ist abgedruckt als Anlage I zu: Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246.
Siehe Hoesch an AA (30.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 53.
652
Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β νΠ, Nr. 246.
646
298
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
der friedlichen Konfliktregelung bilde. Deutschland kritisierte denn auch nicht
diesen grundsδtzlichen Ansatz des Genfer Protokolls, sondern vor allem, daß
Konflikte, die aus dem Versailler Vertrag resultierten (also alle Fragen der
Revision) oder Streitigkeiten, die vom Völkerbund schon entschieden worden
waren - gedacht war wohl in erster Linie an die von Deutschland abgelehnte
Teilung Oberschlesiens durch den Völkerbund 1921 - , im Protokoll aus der
obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit ausgeklammert worden waren. Aus
deutscher Perspektive erhielt das Protokoll dadurch einen »willkürlichen und
lediglich aus den politischen Machtinteressen zu erklärenden Charakter«653.
Weiterer Dissens bestand zwischen Paris und Berlin allerdings auch in der
zweiten wichtigen Säule des Genfer Protokolls, der Errichtung von Sanktionsmechanismen für den Fall, daß die Schlichtung scheitern sollte. Dies lehnte
Deutschland noch immer ab, während Frankreich natürlich weiterhin auf
Sanktionen bestand654.
Ganz logisch erscheint die deutsche Position in diesem Punkt allerdings
nicht. Wenn man obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit forderte, warum sollten dann Sanktionsmechanismen abgelehnt werden, die den imperativen Charakter der friedlichen Konfliktregelung doch nur unterstrichen hätten? Schubert hatte Stresemann gegenüber erklärt, daß auch schon das Schiedsobligatorium eine Einschränkung der deutschen Handlungsfreiheit und mithin der
Revisionsmöglichkeiten bedeute, die er allerdings geneigt war, hinzunehmen655. Warum dann nicht auch Sanktionen? Es gibt vier verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, diesen logischen Bruch in der deutschen Position zu
erklären.
Erstens, und dies ist die trivialste Erklärung, der Widerspruch in der deutschen Position ist niemandem aufgefallen. Dies ist insofern unwahrscheinlich,
als ja Schubert selbst auf die Handlungsbeschränkungen hingewiesen hatte.
Zweitens, wenn der Zeitpunkt käme, zu dem Deutschland sich wieder im
Vollbesitz seiner militärischen Kräfte befunden hätte, hätte es Schiedsvertrag
Schiedsvertrag sein lassen und die Lösung seiner wichtigsten Revisionsziele
nötigenfalls auch mit Gewalt durchsetzen können. Eine solche Position fand
sich ansatzweise im Reichswehrministerium wieder, das in den Abrüstungsverhandlungen vor allem ein taktisches Moment erblickte, um Deutschland die
»Wiedererkämpfung seiner Weltstellung«656 zu ermöglichen. Im AA selbst
gab es aber kaum Stellungnahmen, die diese zynische Interpretation von
Abrüstungs- und Schiedsvertragspolitik untermauern. Vielmehr wird die Ansicht Wrights unterstützt, der deutsche Sicherheitsvorschlag »is, however, a
653
Ibid.
Siehe Hoesch an AA (30.1.1928), ADAPzutsrnmihgfecbaVSPNIEDA
Β VIE, Nr. 53.
655
Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 246.
656
Aufzeichnung Stülpnagel (6.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 144.
654
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
299
striking demonstration of where thinking seriously about peaceful revision
could lead«657.
Drittens, Deutschland wollte die Sanktionsmechanismen als Verhandlungs
pfand nutzen. Wδre das franzφsische Sicherheitsbed٧rfnis durch einen Ausbau
der Sanktionsmechanismen im Sinne des Genfer Protokolls ein fur allemal
gelφst worden, hδtte Deutschland es in der Revisionsfrage nicht mehr unter
Druck setzen kφnnen. Bei Offenhaltung der Sanktionsfrage hδtte Deutschland
Frankreich immer noch ein Tauschgeschδft »Revision gegen Sicherheit« vor
schlagen kφnnen, wenn Deutschland den Zeitpunkt f٧r gekommen erachtet
hδtte. Vor allem B٧low war der Ansicht, daß ein Mehr an kollektiver Sicherheit nur durch entsprechende Zugeständnisse in der Revisionsfrage erfolgen
könne658. Im Umkehrschluß bedeutete dies aber auch, daß Deutschland, falls
es keine Zugeständnisse bezüglich seiner Revisionsziele erhielt, auch sicherheitspolitisch nicht gebunden war. In diesem Fall machte es allerdings wenig
Sinn, wenn Deutschland durch den Vorschlag eines Schiedsobligatoriums sowieso schon seine Revisionsmöglichkeiten einschränkte.
Eine vierte mögliche Interpretation für das deutsche Vorgehen, zwar die obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit zu fordern, aber Sanktionsmechanismen in
diesem Zusammenhang abzulehnen, bestand in dem Revisionskonzept gegenüber Polen, wie es vom AA entwickelt worden war659. Wie gesehen, ging
Deutschland davon aus, daß Polen nur unter enormem Druck von außen bereit
sein würde, territoriale Zugeständnisse zu machen. Dieser Druck würde aller
Voraussicht nach vor allem von der Sowjetunion, die als Nichtmitglied des
Völkerbunds außerhalb des geplanten obligatorischen Schiedssystems stand,
kommen. Bestünde eine Sanktionspflicht, müßte Deutschland ohne Wenn und
Aber Polen zu Hilfe kommen. Fehlte aber eine solche Sanktionspflicht, so
könnte Deutschland im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Polen mit Warschau Gegenleistungen für eine deutsche Unterstützung, z.B. in Form von territorialen Zugeständnissen, aushandeln. Wie (un-)realistisch dieses Revisionskonzept war, wurde bereits an anderer Stelle erörtert.
Für die deutsche Position dürften - in verschiedenen Nuancierungen - die
Überlegungen der Punkte zwei bis vier eine Rolle gespielt haben. Letztlich,
und das ist die Gemeinsamkeit dieser drei Interpretationen, lag die Zurückhaltung bei der Anerkennung der Sanktionsmechanismen des Genfer Protokolls
also im deutschen Revisionsvorbehalt begründet. Allerdings schien in
Deutschland die Unvereinbarkeit von Schiedsgerichtsbarkeit, die den Status
quo auch ohne entsprechendes Sanktionsinstrumentarium eher stabilisierte,
und Revisionsanspruch nur bedingt wahrgenommen worden zu sein. Dies lag
wiederum, wie Buchheit richtig bemerkt, darin begründet, daß in Deutschland
657
WRIGHT, Stresemann, S. 401.
Siehe Aufzeichnung B٧low [16.12.1929], ADAPrpoiheaSNK
Β ΧΙΠ, Nr. 201.
659
Siehe o. Kap. 4.1.4.
658
300
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
und Frankreich verschiedene Rechtsvorstellungen herrschten. F٧r Frankreich
bedeutete obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit, Konflikte auf Grundlage des
geltenden positiven Rechtes (also vor allem auf Grundlage der Friedensvertrδ
ge im Sinne des Status quo) zu regeln, wδhrend nach deutscher Ansicht ein
Schiedsspruch vor allem in politischen Streitfδllen nach den Gesichtpunk
ten von »Billigkeit und Gerechtigkeit«660 erfolgen sollte. Deshalb standen
nach deutscher Auffassung nat٧rlich auch die »ungerechten« Bestimmungen
des Versailler Vertrags zur Disposition, weshalb nach dem Verstδndnis der
deutschen Seite die Schiedsvertragspolitik durchaus auch im Sinne der Revisi
onspolitik genutzt werden konnte661. Da allerdings »Gerechtigkeit« bekann
termaßen ein ebenso subjektiver wie interpretationsbedürftiger Begriff ist, befand sich die deutsche Position auch hier in einer Sackgasse: Die Schlichtung
der deutsch-polnischen Grenzfrage auf Grundlage der »Gerechtigkeit« hätte
wohl zu keiner fur Deutschland befriedigenden Lösung geführt. Insofern stand
auch die Einigkeit Deutschlands und Frankreichs in der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit unter Vorbehalt, weil beide Länder auf Grundlage eines unterschiedlichen Rechtsverständnisses argumentierten. Allerdings wurde dieser
inhärente Widerspruch nicht akut, weil England sich gegen jede Form der obligatorischen Schlichtung aussprach662.
Bei der zweiten Tagung des Sicherheitskomitees, die vom 20. Februar bis
zum 7. März 1928 stattfand, erneuerte Deutschland seine Forderungen nach
obligatorischen Schiedsverfahren, die sogar noch eine inhaltliche Erweiterung
erfuhren663: Demnach sollte in einem Konflikt keiner der involvierten Staaten
nach Einleitung eines Vergleichsverfahrens mehr Maßnahmen ergreifen, die
eine Entscheidung in der Streitfrage präjudizieren könnten. Auf Weisung des
Völkerbundsrates sollte außerdem keine Veränderung des militärischen Status
quo mehr erfolgen und die Staaten sollten sich verpflichten, im Konfliktfall
Waffenstillstandsbestimmungen und die Schaffung von neutralen Zonen durch
den Völkerbundrat anzunehmen, wobei die Beschlüsse des Völkerbundsrates
in diesem Fall nicht einstimmig, sondern durch Mehrheitsentscheid zustande
kommen sollten. Paul-Boncour trat - wenig überraschend - »in vollem Umfange für den Grundgedanken unserer Anregungen«664 ein, während sie beim
englischen Delegierten Lord Cushendun auf Ablehnung stießen665. Großbritannien befürwortete zur Lösung der Sicherheitsfrage weiterhin ein System
von regionalen Sicherheitspakten nach dem Vorbild von Locamo - allerdings
ohne englische Garantien - und befürchtete, durch die deutschen (und erst
660
BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 395.
Siehe KR٢GER, Auίenpolitik, S. 393f.
662
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 395f.
663
Zum folgenden s. Anlage zu Aufzeichnung Schubert (15.3.1928), ADAPsronmihedbaVSPNIDA
Β Vm, Nr. 164.
664
Simson an AA (1.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 127.
665
Siehe ibid.
661
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
301
recht durch die franzφsischen) Vorschlδge, zu stark sicherheitspolitisch ge
bunden zu werden. Insgesamt verlief die zweite Tagung des Sicherheitskomi
tees f٧r Deutschland »nicht ung٧nstig«666, weil außerdem ein von Frankreich
geforderter Ausbau des Artikels 16 verhindert werden konnte. Aus deutscher
Sicht war der einzige Wermutstropfen, daß das von England vertretene Prinzip
der regionalen Sicherheitsverträge eine Aufwertung erfahren hatte, allerdings
war nicht zu befürchten, daß dieses Konzept unmittelbar auf das deutschpolnische Grenzproblem angewandt werden würde. Der Vorschlag bezog sich
vielmehr auf einen Plan BeneS' zur Einbindung Ungarns667, so daß die Gefahr
eines von Berlin gefürchteten »Ostiocarnos« weiterhin gering war668.
Bei der folgenden Tagung des Sicherheitskomitees vom 27. Juni bis zum
4. Juli 1928669 wurden die Musterverträge für die Regelung aller internationaler Streitfälle und das Schieds- und Vergleichsverfahren angenommen, die
auf der zweiten Tagung ausgearbeitet worden waren, sowie Modellverträge
zur Lösung bilateraler Streitfälle erarbeitet. Außerdem wurde ausgehend von
den deutschen Vorschlägen ein Konventionsentwurf zur Konfliktprävention
formuliert, der vorsah, daß die Konfliktparteien die Vorschläge des Völkerbundsrates zur Lösung des Konfliktes beachten mußten. Im September 1928
legte das Komitee der Vollversammlung einen Bericht mit den erarbeiteten
Modellverträgen vor. Deutschland selbst unterzeichnete aber nicht diese
»Generalakte zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten«, weil der
vorliegende Entwurf besonders die territorialen Revisionsmöglichkeiten eingeschränkt hätte670.
Mit der Verabschiedung der Generalakte kam auch die Arbeit des Comite
d'arbitrage et de securite zu einem vorläufigen Ende. Eine weitere Tagung des
Sicherheitskomitees im Jahre 1930 (28. April bis 9. Mai) ließ bereits die Desintegrationstendenzen der Verständigungspolitik erkennen: Das Komitee mußte sich eingestehen, daß keine Einigkeit über die Maßnahmen zur Konfliktprävention gefunden werden konnten. Wiederum war es vor allem England
gewesen, das eine Festlegung konkreter Maßnahmen, die jedes einzelne Land
im Konfliktfall hätte ergreifen müssen, ablehnte, weil dies die Befugnisse des
Rates eingeschränkt hätte, während Frankreich auf dieser Forderung bestand671.
Insgesamt war es Deutschland im Sicherheitskomitee weitgehend gelungen,
die Diskussion vom Ausbau der Sanktionsmechanismen (der Position Frank666
Aufzeichnung Schubert (15.3.1928), ADAPzutsronmlihgfedcbaXVSPNLKIGEDA
Β Vm, Nr. 164.
Siehe Gaus an Koch (22.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 183.
668
Siehe Aufzeichnung SchubertmV
(15.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 164.
669
Vgl. zusammenfassend Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928),
5. 473-475; Runderlaß Köpke (14.7.1928), ADAP ΒIX, Nr. 148.
670
Siehe LEE, Völkerbundspolitik, S. 356; DERS., Disarmament, S. 41f.
671
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 450f.
667
302
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiemng
reichs) weg hin zur Kriegsprδvention zu verlagern672. Allerdings, der deutsche
Erfolg im Comite d'arbitrage et de securite mußte unbefriedigend bleiben,
weil er die Abrüstungsfrage nicht wirklich voranbrachte. Zwar hatte die deutsche Verhandlungsfuhrung in der Tat erreicht, daß die Sanktionsmechanismen
außen vor geblieben waren, doch blieb gerade deswegen das französische Sicherheitsproblem weiterhin ungelöst - und die Abrüstung blockiert.
Dies wurde in der Vorbereitenden Abrüstungskommission deutlich, die zeitgleich mit dem Sicherheitskomitee vom 30. November bis zum 3. Dezember 1927 tagte673. Paul-Boncour versuchte, die Arbeit der Vorbereitenden
Kommission so lange in der Schwebe zu halten, bis das Comite d'arbitrage
eine Lösung für die Sicherheitsfrage gefunden hatte674. Die deutsche Delegation beabsichtigte dagegen, durch die Trennung des Sicherheits- vom Abrüstungsproblem gerade zu erreichen, daß letzteres nun zügig behandelt würde
und bestand auf einer strikten Trennung der beiden Fragen675. Das AA erklärte
sich zwar zu einer konstruktiven Mitarbeit an der Sicherheitsfrage bereit, die
Einschränkungen, die Schubert diesbezüglich gegenüber Bernstorff machte,
verdeutlichten aber erneut den fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Zielsetzung. Deutschland bestand auf der Forderung, daß der Ausbau der Sanktionsmöglichkeiten des Artikels 16 erst nach
konkreten Abrüstungsschritten erfolgen könne, weshalb sich die Arbeit des
Comite d'arbitrage auch nur auf den Ausbau der Schiedsmechanismen und
Kriegsverhütungsmaßnahmen beschränken sollte. Die Möglichkeit des »Anschlusses« Österreichs und die Revision der Ostgrenzen dürfe durch die Regelung der Sicherheitsfrage nicht eingeschränkt werden. Ein »Ostiocarno« müsse
deshalb unbedingt vermieden werden: »Wir würden daher lieber den Weg einer zentralen Lösung der vorliegenden Probleme gehen, wie sie seinerzeit mit
dem Genfer Protokoll, wenn auch in einer mit unseren Interessen nicht vereinbarenden Weise, versucht worden ist«676. Allerdings dürfte Schubert, wenn er
auf das Genfer Protokoll rekurrierte, vor allem an dessen Bestimmungen zur
Schlichtung und nicht an die Sanktionen gedacht haben. Überhaupt läßt sich
feststellen, daß, wenn man in Paris Genfer Protokoll sagte, man vor allem an
die Sanktionen dachte677, während in Berlin vor allem der Schiedsaspekt im
Vordergrund stand.
672
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 150.
Zusammenfassend siehe Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg.
(1927), S. 540542.
674
Siehe Hoesch an AA (22.11.1927), ADAPzutsronmlihgfedcbaVSPNIHEDBA
Β VE, Nr. 125.
675
Siehe Schubert an Bernstorff (26.11.1927), AD AP Β VH, Nr. 148. Siehe auch zum fol
genden.
676
Ibid.
677
Vgl. Hoesch an AA (13.1.1928), ADAP Β ΥΙΠ, Nr. 21.
673
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
303
Die f٧nfte Tagung der Vorbereitenden Abr٧stungskommission, die vom 15.
bis 24. Mδrz 1928 stattfand678, machte dann vollends deutlich, daß der deutsche Erfolg im Schiedskomitee ein Pyhrrussieg gewesen war. Während die
Diskussionen von dem Vorschlag des sowjetischen Delegierten und stellvertretenden Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten, Litwinow beherrscht wurde, der - unrealistischer Weise - eine allgemeine und vollständige
Abrüstung gefordert hatte679, schwelte der Hauptkonflikt zwischen französischem Sicherheitsverlangen und der deutschen (und auch englischen) Forderung nach sofortiger Abrüstung, noch vor Lösung der Sicherheitsfrage, weiter.
Um Frankreich unter Druck zu setzen, hatte Bernstorff sogar die Forderungen
Litwinows offen unterstützt, was wiederum Briand verärgerte680. Hoesch versuchte den französischen Außenminister zu beruhigen, indem er darlegte, daß
Bernstoff die sowjetische Haltung habe unterstützen müssen, weil der Verlauf
der Abrüstungsverhandlungen für Deutschland inakzeptabel sei, woraufhin
Briand wiederum auf das fundamentale Sicherheitsbedürfnis Frankreichs hinwies, in dem er erklärte,
daß die Vorsicht Frankreichs beim Weiterschreiten auf diesem Gebiet681 nicht auf Mißtrauen
gegenüber Deutschland beruhe. Dieses sei vielmehr in weitem Maße beseitigt. Worauf
Frankreich jetzt in erster Linie sein Augenmerk richte, sei Rußland und Italien. Ergebe sich
eine enge Verbindung zwischen Rußland und Deutschland, so würde allerdings auch
Deutschland wieder erneut in den Kreis dieses Mißtrauens hineingezogen werden682.
Insgesamt bedeutete die fünfte Tagung der Vorbereitenden Abrüstungskonferenz den »vorläufigen Fehlschlag der Abriistungsvorarbeiten. [...] Bis auf weiteres dürften bestenfalls bescheidene Teilaufgaben aus dem Gesamtabrüstungsgebiet herausgegriffen und einer Lösung zugeführt werden können
(Publizität der Rüstungen, Verbot des Gaskrieges und dergl.) Hiermit wären
unsere Ansprüche auf allgemeine Abrüstung natürlich nicht erfüllt«683. Der
Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich in der Abrüstungsfrage bestand also weiterhin fort, vor allem, weil man einer Lösung für das Sicherheitsproblem im Comite d'arbitrage kaum nähergekommen war. Allerdings
muß man auch festhalten, daß bezüglich des Ausbaus der Schiedsgerichtsbarkeit weitgehend Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich herrschte.
Umstritten blieb jedoch weiterhin der Ausbau der Sanktionen aufgrund des
Artikels 16, was die Abrüstungsverhandlungen weiterhin blockierte.
678
Zusammenfassend Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928),
S. 468-473.
679
Siehe Runderlaß Weizsäcker (31.3.1928), ADAPtsronmihedcaVSPNIHGDA
Β VHI, Nr. 202.
680
Siehe Hoesch an AAmV
(28.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 194.
681
Gemeint ist die Abrüstung, R.B.
682
Hoesch an AA (28.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 194.
683
Runderlaß Weizsäcker (31.3.1928), Anlage 2, ADAP Β Vm, Nr. 202.
304
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Fortschritte in der Abr٧stungsfrage wurden auch durch andere vermeintliche
deutschen Erfolge behindert: Die Verhinderung einer dauernden Kontrolle der
Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland und das neuerliche Scheitern
eines »Ostiocarnos«. Nachdem im Jahr 1926 das vom Vφlkerbund im Septem
ber 1924 beschlossene Investigationsprotokoll am Widerstand Stresemanns
und Chamberlains gescheitert war684, versuchte Frankreich, die Kontrolle der
deutschen Entwaffnung und der Demilitarisierung des Rheinlandes auf andere
Weise durchzusetzen. Gedacht war dabei an eine Commission de constatation
et de conciliation (CCC)685. Die CCC bedeute im Grunde genommen eine ab
geschwδchte Form dertsnmleba
elements stables, und war bereits von PaulBoncour
und Briand seit Anfang 1928 in der Φffentlichkeit ventiliert worden686. In zwei
Memoranden, die mφglicherweise aus der Feder Massigiis stammten, wurden
die Eckpunkte dieser Kommission bestimmt687. Aus franzφsischer Sicht ergab
sich die Notwendigkeit fur die CCC vor allem daraus, daß im Locarno-Vertrag
fur die Untersuchung einer Verletzung der Demilitarisierungsbestimmungen
fur das Rheinland nur ein Untersuchungsverfahren durch den Völkerbund gemäß Artikel 213 vorgesehen war. Allerdings: »ce mecanisme est assez
lourd«688, und war vor allem bei kleineren Verstößen unzweckmäßig, deren
Lösung nicht an die große Glocke gehängt werden sollte. Für geringfügige
Verstöße bestand also eine »Lücke« in den Locarno-Verträgen, die dazu fuhren konnte, daß Deutschland durch eine Reihe kleinerer Maßnahmen letztendlich die Demilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags aushebeln
konnte. Die in den Locarno-Verträgen vorgesehenen Schiedsverfahren waren
in solchen Fällen ebenfalls unzweckmäßig, weil sie nur für bilaterale Streitfälle gedacht waren, nicht aber fur solche Konflikte, die alle Locarno-Mächte
angingen. Gegenüber den elements stables stellte die Commission de constatation jedoch eine erhebliche Erleichterung dar: Die CCC sollte keine ständige
Einrichtung sein, sondern nur bei Bedarf zusammentreten, aber zeitlich unbegrenzt arbeiten. Deutschland sollte gleichberechtigt in der CCC mitwirken und
sie sollte ihren Sitz außerhalb Deutschlands, z.B. in Luxemburg haben. Als
Mitglieder waren nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten vorgesehen sowie
die Delegierten der Commission permanente consultative der entsprechenden
Länder. Überhaupt sollte eine Verbindung zwischen der CCC und dem Völkerbund dahin gehend bestehen, daß die CCC im Falle eines größeren Verstoßes gegen die Entwaffhungsbestimmungen Material fur eine Völkerbundsun684
Siehe SALEWSKI, Militärkontrolle, S. 362-365. Zum Investigationsprotokoll siehe o.
Kap. 4.1.4.
685
Zur CCC siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 42; JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 295.
686
Siehe Hoesch an AA (14.1.1928), ADAPzusronmlihgfedcaZVPNMLKIGEA
Β Vm, Nr. 22.
687
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Massigli [?] (17.2.1928), MAE PAAP 217, 13; Auf
zeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7. Zusammenfassend: KNIPPING, Lo
carno-Ära, S. 42.
688
Aufzeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
305
tersuchung nach Art. 213 sammeln sollte, um diese gegebenenfalls zu be
schleunigen. Frankreich war nur dann bereit, die zweite Rheinlandzone vorzei
tig zu rδumen, falls Deutschland die Commission de constatation akzeptier
te689. Deutschland dagegen wollte der CCC nur dann zustimmen, wenn das
Rheinland sofort vollstδndig gerδumt w٧rde und die Kommission nach 1935
dem im Versailler Vertrag festgelegten Ende der Besatzungszeit aufgelφst
w٧rde690. Nach deutschem Willen sollte die Kommission also an den Versail
ler Vertrag gekoppelt werden, der die Begrenzung der Besatzungszeit vorsah,
und nicht an den LocarnoPakt, der zeitlich unbegrenzt g٧ltig war. Eine dau
erhafte άberwachung des Rheinlandes, auch in so abgeschwδchter Form wie
der CCC, wurde von Berlin also entschieden abgelehnt. Letztlich konnte sich
Frankreich mit der Forderung nach der CCC nicht durchsetzen691, was die Si
cherheitslage fur Frankreich unverδndert ließ. Das Scheitern der Commission
de constatation hatte allerdings zur Konsequenz, daß Frankreich in der Abrüstungsfrage nun um so stärker auf seiner Position beharrte.
Eine ähnlich negative Wirkung auf die Abrüstungsverhandlungen hatte auch
der neuerliche - und gescheiterte - Anlauf Polens zur Schaffung eines »Ostlocarnos«. Nachdem, wie dargestellt, der polnische Vorstoß fur einen allgemeinen Nichtangriffspakt im September 1927 am Widerstand der Großmächte insbesondere Deutschlands und Großbritanniens - gescheitert war, unternahm
der polnische Außenminister August Zaleski im Mai 1928 erneut einen Versuch, die Sicherheitslage seines Landes zu verbessern. In mehreren Reden hatte er gefordert, daß die Rückgabe des Rheinlands nur dann erfolgen könne,
wenn dafür nicht nur an der deutschen West-, sondern auch an der Ostgrenze
zusätzliche Sicherheitsgarantien geschaffen würden, und behauptete, für diese
Forderung die Rückendeckung Frankreichs zu haben692. Zwar traf der Vorschlag Zaleskis in Paris vor allem auf die Zustimmung konservativer Kreise693,
doch lehnte Briand das Projekt seines polnischen Kollegen ab694. Es mag zunächst als ein Widerspruch anmuten, daß der französische Außenminister einen Plan ablehnte, der für seinen wichtigsten Verbündeten in Osteuropa und
letztlich auch für Frankreich selbst mehr Sicherheit bedeutet hätte. Doch Briands grand dessin für eine europäische Sicherheitsstruktur - soweit es sich aus
der spärlichen Quellenlage destillieren läßt - sah anders aus. Zum einen war
sich Briand durch seine Genfer Treffen mit Stresemann und Chamberlain sicherlich sehr der Tatsache bewußt, daß ein Arrangement, wie es Zaleski vor689
Siehe ibid. und Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR MüllerzyutsrponmlihgfedcbaZWTSRPO
Π Bd. 1, Nr. 23.
Siehe Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 23; Köpke an Delegation Genf (15.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 26.
691
Zu Einzelheiten siehe Kap. 4.2.1.
692
Siehe Schubert an Botschaft Paris (16.6.1928), ADAP Β Di, Nr. 79.
693
Siehe POST, Weimar Foreign Policy, S. 66f.; DERS., Diplomatie, S. 255; JACOBSON, Lo
carno Diplomacy, S. 154.
894
Siehe Hoesch an AA (22.6.1928), ADAP Β DC, Nr. 88.
690
306
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
geschlagen hatte, unmφglich durchsetzbar gewesen wδre695. Eingedenk dieser
Schwierigkeiten hatte die franzφsische Sicherheitspolitik eine wichtige Modi
fikation erfahren: Die Militδrb٧ndnisse mit den osteuropδischen Verb٧ndeten
verloren an Bedeutung, was auch an der zunehmend defensiven Ausrichtung
der franzφsischen Militδrdoktrin (Truppenreduzierung, άberlegungen zur Be
festigung der Ostgrenzen) deutlich wurde. Allerdings bedeutete dies nicht, daß
Frankreich »was abdicating its responsibility to support Poland effectively«696.
Paris versuchte vielmehr, durch ein größeres finanzielles Engagement in Osteuropa, diese Staaten politisch wie auch militärisch zu stärken, damit diese
weniger auf direkte französische Militärhilfe angewiesen waren697. Damit
wurde die französische Politik der Tatsache gerecht, daß eine militärische Unterstützung Polens beispielsweise im Falle eines deutsch-polnischen Konfliktes aufgrund des Locarno-Vertrags schwieriger geworden war. Briand schien
außerdem zunehmend daran zu denken, das Sicherheitsproblem zu regionalisieren: Wie gesehen, hatte er im Herbst 1927 einen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland, der Sowjetunion, Polen, den baltischen Staaten und Rumänien vorgeschlagen, was allerdings gescheitert war698. Die Vorteile eines
solchen Abkommens fur Frankreich hätten auf der Hand gelegen: Paris hätte
seine Verpflichtungen gegenüber Polen abbauen können, wodurch sich
deutsch-polnische Probleme nicht mehr so störend auf die deutschfranzösischen Beziehungen ausgewirkt hätten. Die Verständigungspolitik mit
Deutschland wäre für Frankreich leichter geworden. Auch das französischsowjetische Verhältnis hätte nicht mehr so stark unter dem polnisch-russischen
Gegensatz gelitten, was Paris einen größeren Spielraum in seiner Rußlandpolitik gegeben hätte. Mit dem Vorschlag eines Nichtangriffspakts zwischen
Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Staaten hatte man sich außerdem der englischen Position angenähert: Auch in London strebte man regionale Sicherheitsabkommen allerdings ohne britische Beteiligung an699. Der
größte Vorteil hätte aber darin gelegen, daß Frankreich - hätte es seine direkten Verpflichtungen in Osteuropa verringern können - einem Bündnis mit
Großbritannien wohl einen bedeutenden Schritt näher gekommen wäre. London hatte ja gerade unter dem Hinweis, daß es nicht in die Händel Frankreichs
in Osteuropa hineingezogen zu werden wünschte, die französischen Bündnisofferten abgelehnt.
Wie schon zuvor scheiterte ein »Ostiocarno« am deutschen (aber auch sowjetischen) Revisions verlangen gegenüber Polen. Da somit alle Versuche
695
SieheSONJCBA
JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 155; Aufzeichnung Schubert
ADAPyxutsronmlkihgfedcaXWVUTSPONMLKIHFEDCBA
Β IX, Nr. 8 1 .
696
POST, Weimar Foreign Policy, S. 149.
697
Siehe Seydoux [?] an Laroche (27.5.1927), MAE PAAP 261,42.
698
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 64, 67.
699
Siehe Simson an AA (1.3.1928), ADAP Β Vffl, Nr. 127.
(18.6.1928),
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
307
Frankreichs, zusδtzliche Sicherheitsgarantien zu erhalten, sei es durch bessere
Sanktionsmφglichkeiten, die Commission de constatation oder einen Nichtan
griffspakt zwischen Deutschland, Polen und der Sowjetunion, gescheitert wa
ren, hielt Frankreich an seinem Minimalprogramm nδmlich der Verhinde
rung konkreter Abr٧stungsschritte, falls keine zusδtzlichen Sicherheitszusagen
erfolgten fest. Besonders das Militδr forderte die Aufrechterhaltung dieses
Standpunktes700. Frankreich konnte seine Haltung in der Abr٧stungsfrage um
so konsequenter aufrecht erhalten und Deutschland mußte sich, da es in der
Abrüstungsfrage bis auf einen gewissen moralischen Anspruch über keinerlei
Verhandlungsmasse verfugte, damit abfinden - , weil London ab 1927 zunehmend auf die französische Position einschwenkte.
Was aber veranlagte die englische Regierung dazu, zu diesem Zeitpunkt auf
die französische Position zuzugehen, obwohl man doch dem deutschen Standpunkt eigentlich sehr viel näher stand? Insgesamt profitierte das französischbritische Verhältnis von den allgemein verbesserten Beziehungen beider Länder, auf die oben schon eingegangen wurde. Außerdem diente das englische
Entgegenkommen dazu, die französischen Bündniswünsche, die nach wie vor
an London herangetragen wurden, abzuwehren. Um nicht dem Pariser Drängen nachgeben zu müssen, formelle Bindungen einzugehen, die über die in
Locarno beschlossenen hinausgingen, zeigte sich die englische Regierung in
anderen Fragen nachgiebig701. So unterstützte England die französische Forderung nach einem Überwachungsorgan fur die Entwaffnung des Rheinlandes,
also die Commission de constatation et de conciliation (CCC), und verhielt
sich in der Eisenbahnfrage702 und bei der Behandlung der restlichen Entwaffnungspunkte wohlwollend oder zumindest neutral. Entscheidender für die
französisch-britische Annäherung in der Abrüstungsfrage war aber das Ungemach, das sowohl Frankreich aber vor allem England von jenseits des Adantiks, aus Washington, drohte: Im März 1927 hatte die US-Regierung Frankreich aufgefordert, sich an einer Seeabrüstungskonferenz zusammen mit
England, Japan und den USA selbst zu beteiligen703. Dies war fur Frankreich
vor allem deshalb »höchst unbequem«704, weil durch eine separate Seeabrüstungskonferenz das Prinzip dertrpniedca
interdependance gefährdet wurde und so zu
befürchten stand, daß sich der Druck auf Frankreich in der Frage der Landabrüstung verstärken würde. Großbritannien wiederum war an der Seeabrüstung
nicht interessiert, vor allem was U-Boote und leichte Kreuzer betraf, die es zur
700
Siehe VAISSE, Disarmament, S. 183.
701
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 51.
702
Frankreich forderte die Zerstörung deijenigen Eisenbahnanlagen im Rheinland, die seiner
Auffassung nach v.a. militärischen Bedürfnissen, z.B. im Rahmen der Truppenmobilisierung, dienten, siehe ibid.
703
Siehe Hoesch an AA (19.3.1927),idbRIA
ΡAAA R, 29196.
704
Ibid.
308
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Sicherung der imperialen Verbindungswege und f٧r eine erfolgreiche See
blockade als unerläßlich betrachtete. Die englische Position wiederum traf auf
den erbitterten Widerstand der Vereinigten Staaten, die als kontinentale Macht
die Freiheit der Meere durchgesetzt wissen wollten705. Die Marinekonferenz,
an der vom 20. Juni bis 4. August 1927 Großbritannien, Japan und die USA
teilnahmen (Frankreich hatte die Teilnahme abgesagt), scheiterte folgerichtig
vor allem an den amerikanisch-britischen Differenzen706.
Aufgrund ihrer spezifischen Interessenlagen kamen Engländer und Franzosen dagegen am 30. Juli 1928 zu dem bereits erwähnten Abrüstungskompromiß: Frankreich, das an der Seerüstung trotz seiner imperialen Verpflichtungen nur mäßig interessiert war, verpflichtete sich, die englische
Position in Marinefragen zu unterstützen, während England, das als Seemacht
an der Landabrüstung nur mittelbares Interesse hatte, sich bereit erklärte, den
französischen Standpunkt in der Landabrüstung zu unterstützen, namentlich
die ausgebildeten militärischen Reserven nicht mit in die Abrüstung einzubeziehen707. Für die Abrüstungsverhandlungen war der französisch-englische
Kompromiß äußerst folgenreich: Wegen des dadurch hergestellten Zusammenhangs von Land- und Seerüstung blockierte der anglo-amerikanische Dissens in Marinefragen generell die Verhandlungen zur Rüstungsreduzierung708.
Der französisch-britische Kompromiß belastete darüber hinaus das englischamerikanische Verhältnis709. In vielen wichtigen Fragen, wie beispielsweise
dem Dawes-Plan und den Locarno-Verhandlungen, hatte aber eine gemeinsame Position Londons und Washingtons eine erfolgreiche Lösung erst ermöglicht. Insofern hatten die gestörten anglo-amerikanischen Beziehungen
auch nachhaltigen Einfluß auf die deutsch-französischen Beziehungen710.
Durch das Ausscheren der englischen Regierung aus der Reihe deqenigen
Mächte, die eine Abrüstung zu Lande forderten, wurde besonders auch die
deutsche Position bei den Abrüstungsverhandlungen unterminiert711. Insgesamt verringerte sich der außenpolitische Spielraum der Reichsregierung
merklich, weil Deutschland sich einer zwar informellen, nichtsdestotrotz aber
wirkungsvollen französisch-britischen Quasientente gegenübersah712.
SieheUTSRONMLKJIHGECBA
J A C O B S O N , Locarno Diplomacy, S. 1 8 7 .
Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 549.
707
Siehe B U C H H E I T , Briand-Kellogg-Pakt, S. 302; Aufzeichnung Ow-Wachendorf (7.8.
1928), ADAPzyutsrponmlkihgfedcaVSRPNLHFDCBA
Β DC, Nr. 217.
708
Siehe Hoesch an AA (10.11.1928), PAAAR, 28245.
709
Siehe Chilton an Birkenhead (13.9.1928), DBFP ΙΑ V, Nr. 457.
710
SieheSONJCBA
J A C O B S O N , Locamo Diplomacy, S. 188.
711
Siehe Aufzeichnung Bülow [10.8.1928], ADAP Β DC, Nr. 226; Runderlaß Schubert
(23.8.1928), ADAP Β DC, Nr. 257.
712
Siehe Peter K R ٢ G E R , Von der Schwierigkeit europäischen und transatlantischen Bewußtseins. Die Reichsregierung, Briands Europa-Vorstellungen und die Rolle der USA 1929, in:
Guido M ٢ L L E R (Hg.), Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im
705
706
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
309
Aufgrund dieser Situation war es wenig verwunderlich, daß auch die sechste
Tagung der Vorbereitenden Abrüstungskommission vom 15. April bis
6. Mai 1929 keine nennenswerten Fortschritte brachte713. Die Lage hatte sich
für Deutschland seit dem Vorjahr prinzipiell nicht geändert. Washington war
nach wie vor besonders an Marinefragen interessiert, wo der Gegensatz zu
London weiterhin bestand, und überließ die »Landrüstung dem Gutdünken der
entsprechenden Militärstaaten, ohne sicher zu sein, was ihnen dafür geboten
würde«714. Da der französisch-britische Rüstungskompromiß weiterhin Bestand hatte, bedeutete dies für Deutschland: »Was unsere Interessen angeht, so
ist schon heute festzustellen, daß auf der jetzt entstandenen Basis eine erträgliche Lösung nicht mehr erwartet werden kann«715. In den Augen der deutschen
Regierung leisteten die vorliegenden Vorschläge keinen wirklichen Beitrag
zur Abrüstung, doch konnte sich Deutschland auch nicht völlig aus den Abrüstungsverhandlungen zurückziehen, weil es sonst überhaupt keinen Einfluß
mehr auf die Abrüstungsfrage hätte nehmen können.
Auf der Londoner Flottenkonferenz, die vom 21. Januar bis zum
22. April 1930 stattfand716, kamen erneut die grundsätzlichen Auffassungsunterschiede in der Abrüstungsfrage zwischen den teilnehmenden Staaten Frankreich, Großbritannien, den USA, Japan und Italien zum Ausdruck. Gleich zu
Anfang der Konferenz hatte die französische Delegation die Erweiterung des
Kellogg-Briands-Pakts durch Sanktionsmechanismen gefordert. Als dieses
abgelehnt wurde, legte Frankreich am 7. März 1930 einen Vorschlag für einen
Garantiepakt für den Mittelmeerraum vor und erklärte sich im Gegenzug für
eine Beteiligung der USA und Großbritanniens bereit, auf seine Marineforderungen zu verzichten. Ergänzend schlug Briand außerdem eine Vereinbarung
vor, durch die die USA - ohne formell dem Völkerbund beizutreten - die Völkerbundsmechanismen zur Konfliktregelung anerkennen sollten717. »Hierdurch soll der Widerstand Englands gegen die Übernahme von festen Bindungen auf dem Gebiete der Sicherheit behoben werden«718, weil England eine
solche Bindung stets mit der Begründung abgelehnt hatte, dadurch in Konflikt
mit den USA zu geraten.
An den Vorschlägen Frankreichs wurde deutlich, daß die Sicherheitsfrage
nach wie vor die entscheidenden Impulse für die französische Außenpolitik
20. Jahrhundert (Festschrift Klaus Schwabe), Stuttgart 1998 (Historische Mitteilungen der
Ranke-Gesellschaft, 29), S. 120-131, hier S. 122.
713
Zusammenfassend vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg.
(1929), S. 544-549; Runderlaß Köpke (17.5.1929), ADAPzuronmlihgfedcbaXVSNIE
Β XI, Nr. 238.
714
Runderlaß Köpke (17.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 238. Siehe auch zum folgenden.
715
Ibid.
716
Ein Überblick findet sich in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg.
(1930), S. 479-493. Zum folgenden siehe ibid. S. 480 u. 486f.
717
Siehe Hoesch an AA (9.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 142.
7,8
Ibid.
310
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gab und daß dieses Problem sich zwar vor allem an Deutschland, aber auch an
Italien und der Sowjetunion entzündete. Der Schlüssel zur Lösung des Problems lag aber in London und Washington. Allerdings war es vom Beginn der
Konferenz an unwahrscheinlich, daß sich die USA oder England auf Bindungen in der Sicherheitsfrage einlassen würden, wie sowohl Hoesch als auch
Berfhelot übereinstimmend feststellten719. In der Tat lehnten London und Washington entsprechende Verpflichtungen ab und die Konferenz geriet in eine
schwere Krise720. Um wieder Schwung in die festgefahrenen Verhandlungen
zu bringen, erwog die US-Führung die Unterzeichnung eines »Konsultativpakts«, der allerdings keine neuen Verpflichtungen für die USA hätte beinhalten dürfen und erst nach dem Abschluß anderer Sicherheitsabkommen (insbesondere einem Mittelmeerpakt) zustande gekommen wäre721. Allerdings war
der vorgeschlagene Konsultativpakt wohl keine ernsthafte Option gewesen,
sondern ein verhandlungstaktischer Schachzug722. Einzig greifbares - und für
Frankreich sicherlich wenig befriedigendes - Ergebnis war, daß sich Briand
und MacDonald am 16. April 1930 auf eine gemeinsame Formel zur Interpretation des Artikels 16 einigen konnten723.
Auch in der Frage der Rüstungsbegrenzung zur See blieben die Ergebnisse
der Konferenz bescheiden. Zwar unterzeichneten die USA, Großbritannien
und Japan ein Abkommen, die beiden anderen beteiligten Mächte, neben
Frankreich auch noch Italien, blieben aber außen vor. Frankreich hatte die Parität mit Italien in der Flottenstärke abgelehnt, solange es keine entsprechenden Sicherheitsgarantien erhielt724. So war das Hauptproblem der Konferenz
nur oberflächlich der italienisch-französische Gegensatz hinsichtlich der Parität725. Das eigentliche Problem bestand darin, daß Frankreich erneut keine zusätzlichen Sicherheitsgarantien - sei es in Form eines »Mittelmeer-Locarnos«,
einer Erweiterung des Artikels 16 oder in Form von Zusagen durch die USA
oder Großbritannien - erhalten hatte726.
Nachdem MacDonald und seine Labour Party nach den fur sie erfolgreichen
Wahlen 1929 die Regierung angetreten hatten, war der französisch-britische
Kompromiß in der Rüstungsfrage zerbrochen, den sowohl Labour als auch die
Liberalen bereits aus der Opposition heraus heftig kritisiert hatten727. Damit
fand die Quasi-Entente der Jahre 1927 bis 1929 zwischen Paris und London
ein Ende, so daß für Frankreich 1930 die Sicherheitslage - nachdem auch das
719
Siehe ibid.
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 486.
721
Siehe Aufzeichnung Weizsäcker (27.3.1930), ADAPyutsrponmlihfedcbaXVSONLJIDCBA
Β XIV, Nr. 179.
722
Siehe ibid. Anm. 2.
723
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 498.
724
Siehe ibid. S. 490.
725
Siehe Aufzeichnung Schubert (18.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 156.
726
Siehe ibid.
727
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 189f.
720
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
311
Rheinland vollstδndig gerδumt worden war so schwierig war, wie selten zu
vor seit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Insofern ist die resignierte Bilanz
Massigiis nicht nur eine Abrechnung mit den Ergebnissen der Flottenkonfe
renz, sondern f٧r ein ganzes Jahrzehnt franzφsischer Sicherheitspolitik seit
1919: Massigli
zeigte sich sehr unzufrieden mit dem Ergebnis, und seine Äußerungen verrieten einen an ihm
bisher nicht gewohnten Pessimismus über künftig zu erwartende Erfolge der französischen
Abrüstungs- und Sicherheitspolitik. [...] Angesichts dieses Ergebnisses sei es um so bedauerlicher, daß alle Versuche Frankreichs, die Sicherheit Europas auf einer festeren Basis als
bisher zu organisieren, völlig gescheitert seien728.
Als problematisch bewertete Massigli dabei vor allem die Rolle der Vereinigten Staaten: Sie weigerten sich, in irgendeiner Form an der Organisation des
Friedens teilzunehmen, weshalb wiederum die Engländer vor weitergehenden
Bindungen zurückscheuten. Er fuhr fort, daß das Ziel der französischen Politik
nach wie vor die Umsetzung der Prinzipien des Genfer Protokolls sei, erst
dann sei auch Abrüstung möglich. Massigli befürchtete jedoch, daß, wenn dieses Ziel nicht erreicht würde und es deshalb nicht zur Abrüstung käme,
Deutschland sich letztlich nicht mehr an die Abrüstungsbestimmungen des
Versailler Vertrags gebunden fühlen würde und wieder aufrüsten werde:
»Frankreich befinde sich also in der Zwangslage, unter allen Umständen das
mit Genfer Protokoll beabsichtigte Ziel zu erreichen«729.
Letztendlich scheiterten in der Tat alle Abrüstungsbemühungen Anfang der
1930er Jahre730. Die Gründe dafür waren vielfältig: Die Weltwirtschaftskrise
ließ Abrüstung in der Agenda nach hinten rutschen und verschärfte überdies
den Nationalismus731. Der sino-japanische Krieg untergrub die Abrüstungsbemühungen ebenso wie die personellen und organisatorischen Schwächen der
Abrüstungskonferenz732. Auch die deutsche Position, die nun offensiver auf
Revision ausgerichtet war und jetzt explizit die Forderung nach militärischer
Gleichberechtigung beinhaltete, verhinderte Fortschritte733. So scheiterte die
Genfer Abrüstungskonferenz letztlich auch am ab 1930 zunehmenden deutschfranzösischen Gegensatz in der Abrüstungsfrage734.
Die tiefere Ursache für den gescheiterten Ausbau der kollektiven Sicherheitsstrukturen im Völkerbund in den 1920er Jahren war allerdings weniger
die Folge des deutsch-alliierten, sondern vielmehr des französisch-englischen
728
Rieth an AA (26.4.1930), ADAPzutsronmlihgfedcbaXVTSRNLIEDA
Β XIV, Nr. 224, siehe auch zum folgenden.
Ibid.
730
Vgl. STEINER, League of Nations, S. 68; VAiSSE, Disarmament, S. 184200.
731
Siehe ibid., S. 186.
732
Ibid. S. 187f.
733
Vgl. KRÜGER, Außenpolitik, S. 546-551.
734
Siehe VAJSSE, Disarmament, S. 188-191.
729
312
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiemng
Gegensatzes und weil London vor bindenden Sicherheitszusagen zur٧ck
schreckte735. Die Diskussionen ٧ber Sicherheit in den diversen Gremien sei
es in der Vorbereitenden Abr٧stungskommission oder im Comit6 d'arbitrage
hinterlassen dar٧ber hinaus den Eindruck, daß Locarno die Sicherheitslage
kaum verbessert hatte, und auch die Ziele der deutschen und französischen
Außenpolitik erfuhren dadurch keine nennenswerte Modifikation. Frankreich
beharrte weiterhin auf den Vorrang der Sicherheit, während Deutschland nicht
bereit war, bei seinen Revisionszielen zurückzustecken.
4.1.6. Sicherheit durch Kriegsächtung? Der Briand-Kellogg-Pakt
Der Völkerbund war nur eine Ebene, auf der in den 1920er Jahren Sicherheitspolitik betrieben wurde; ein weiterer wichtiger Impuls hierfür kam aus der
Kriegsächtungsbewegung. Obwohl oberflächlich betrachtet sowohl die Völkerbundspolitik als auch die Kriegsächtungspolitik in die gleiche Richtung
zielten, bestanden doch wesentliche Unterschiede zwischen beiden Ansätzen.
Der erste Unterschied betraf die Teilnehmer: Zwar nahmen die USA und die
Sowjetunion auch an den Abrüstungsverhandlungen des Völkerbunds teil,
doch standen sie weiterhin außerhalb der Organisation des Völkerbunds und
waren nur an Ergebnissen in der Abrüstung im engeren Sinne, nicht aber der
Lösung der europäischen Sicherheitsfrage generell interessiert. Bei den Verhandlungen zum Briand-Kellogg-Pakt hingegen nahmen die Vereinigten Staaten eine Schlüsselstellung ein, und die Sowjetunion war zwar nicht an den
Verhandlungen beteiligt, trat dem Kriegsächtungsvertrag jedoch kurz nach
dessen Unterzeichnung am 27. August 1928 bei. Der zweite wichtige Unterschied bestand darin, daß zwischen dem Ansatz des Völkerbunds zur kollektiven Sicherheit und der vor allem in den USA populären Idee der Kriegsächtung wichtige semantische Unterschiede, ja teilweise sogar Widersprüche
bestanden. Das System der kollektiven Sicherheit, wie es in der Völkerbundssatzung rudimentär angelegt war und durch das Genfer Protokoll erweitert
werden sollte, beinhaltete, wie erwähnt, zwei wesentliche Merkmale: die obligatorische Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten und, falls diese
scheitern sollte, Sanktionen gegen den Aggressor. Kriegsächtung im eng gefaßten Sinne bedeutete aber die Ablehnung jeder Form kriegerischer Mittel,
selbst deijenigen, die im Rahmen von Sanktionen durch ein Organ der kollektiven Sicherheit verhängt wurden736. So hatte - neben anderen Gründen - auch
die Kriegsächtungsbewegung in der Vereinigten Staaten Einfluß darauf, daß
die Ratifizierung des Versailler Vertrags und der Beitritt der USA in den Völ-
735
736
Siehe ibid. S. 177.
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 23.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
313
kerbund im Kongreß gescheitert war: Die Sanktionsmechanismen der Völkerbundssatzung standen im Gegensatz zu den Prinzipien der Kriegsächtung737.
Andererseits hatte sich im Völkerbund die Idee der generellen Kriegsächtung - obwohl es auch dort Ansätze dazu gegeben hatte - nicht durchsetzen können. Gemäß der Völkerbundssatzung, genauer gesagt des
Artikels 15, wurde ein Krieg zwischen zwei Staaten immer noch als gerechtfertigt angesehen, wenn zuvor ein Vermittlungsverfahren durch den Völkerbundsrat gescheitert war. Der polnische Vorschlag vom September 1927,
einen allgemeinen Nichtangriffspakt abzuschließen, hätte diese - im Sinne
eines absoluten Kriegsverbotes - bestehende Lücke der Völkerbundssatzung
geschlossen, war aber, wie zu sehen war, am Widerstand vor allem Großbritanniens und Deutschlands gescheitert.
Trotz dieser Unterschiede zwischen dem System der kollektiven Sicherheit
des Völkerbunds und der Kriegsächtung - einem wichtigen Element der amerikanischen Sicherheitspolitik - , bestand natürlich eine gemeinsame Stoßrichtung, nämlich den Frieden zu sichern und den Krieg unmöglich zu machen,
zumal die militärische Sanktion im System der kollektiven Sicherheit, wie
bereits dargelegt wurde, ja nur die allerletzte Option war. Zwischen beiden
Sicherheitspolitiken gab es eine interessante Schnittmenge, und zwar in bezug
auf die Schieds- und Schlichtungspolitik. Wie schon festgestellt wurde, beinhaltete sowohl die Völkerbundssatzung738 wie auch das Genfer Protokoll739
Schiedsmechanismen. Unabhängig davon betrieben aber auch die Vereinigten
Staaten eine aktive Schiedsvertragspolitik. Die USA hatten die Konventionen
der beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907, in denen u.a. die
Schlichtung eine Rolle spielte, unterzeichnet740. Unter der Ägide des damaligen
Außenministers William J. Bryan wurden in den Jahren 1913/14 mit 20 Staaten Schiedsabkommen geschlossen741. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte
die US-Regierung diese Politik fort: Obwohl die USA nicht dem Völkerbund
beigetreten waren, liefen - letztendlich allerdings erfolglose - Verhandlungen
für einen Beitritt der Vereinigten Staaten zum Internationalen Gerichtshof in
Den Haag, dem vor allem schiedsgerichtliche Aufgaben zukamen742. In einem
Vertrag, der am 13. Dezember 1921 geschlossen wurde, verpflichteten sich
Großbritannien, Frankreich, Japan und die USA, den gegenwärtigen Besitz737
Siehe ibid.
Insbesondere Art. 12-15.
739
Insbesondere Art. 3-7.
740
Siehe ANDREWS, Dictionary of American History, S. 964.
741
Siehe ibid.
742
Zu den Verhandlungen über den amerikanischen Beitritt vgl. Richard VEATCH, The
United States and the Permanent Court of International Justice, 1920-1926, in: Jacques
BARlßTY, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique internationale: 1867-1928. Actes du colloque tenuutrgaS
έ Stuttgart 2930 aoüt 1985, Bern u.a. 1987,
S. 299-328.
738
314
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
stand im pazifischen Raum zu wahren, und sollte sich dennoch ein Konflikt
zwischen den beteiligten Staaten ergeben, der nicht auf bilateraler Ebene bei
zulegen sein w٧rde eine Konferenz aller Staaten zur Lφsung des Problems
einzuberufen743. Zudem wurden auf USamerikanische Initiative am 3. Mai
1923 und am 5. Januar 1929 ein interamerikanischer Schiedsvertrag geschlos
sen744. Flankiert wurde dieser allgemeine Schiedsvertrag durch eine Resoluti
on zur Δchtung des Krieges, die der Panamerikanische Kongreß in Havanna mit Beteiligung Washingtons - am 20. Februar 1928 verabschiedet hatte745.
Etwa zur gleichen Zeit schlug Kellogg der französischen Regierung die Urfassung dessen vor, was sich zum Briand-Kellogg-Pakt entwickeln sollte, während die amerikanische Regierung mit Frankreich und Großbritannien gleichzeitig über die Erneuerung der jeweiligen bilateralen Schiedsverträge
verhandelte. Die amerikanische Sicherheitsdoktrin bestand also, grob zusammengefaßt, aus Kriegsächtungs- und Schiedsvertragspolitik. Bis 1932 hatten
die USA mit 63 Staaten Verträge abgeschlossen, in denen schiedsvertragliche
Elemente enthalten waren746. Viele dieser Staaten waren wiederum Mitglieder
des Briand-Kellogg-Pakts.
Die Initiative zum Kriegsächtungspakt ging von Frankreich aus747. Am
6. April 1927, als sich der Kriegseintritt der USA an der Seite der Alliierten
zum zehnten Mal jährte, machte Briand in einer öffentlichen Erklärung den
Vorschlag, daß die Vereinigten Staaten und Frankreich gegenseitig auf den
Krieg als Mittel der nationalen Politik verzichten sollten748. Bei dem Vorschlag des französischen Außenministers schien es sich - die Quellenlage ist
nicht besonders gut - um eine relativ spontane Idee gehandelt zu haben, die
wohl nach einem Gespräch mit dem New Yorker Professor James Shotwell,
einem der Sprecher der amerikanischen Kriegsächtungsbewegung, der in Paris
auf Durchreise war, entstanden war749. Die Motive750 für Briands Vorstoß wa743
Text des Abkommens in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 37. Jg.
(1921), Teil 2, S. 317.
744
Bei dem Abkommen vom 3.5.1923 handelte es sich um einen »Vorvertrag«, siehe Bülow
an Dieckhoff (24.1.1929), ADAPutsrlhgecXVSNI
Β XIV, Nr. 51.
745
Vgl. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 415. Text der
Resolution: Kellogg an Herrick (1.3.1928), FRUS 1928,1, S. 12f.
746
747
V g l . DEWOLF
WOLF, General Synopsis, S. 158162.
A u s f ü h r l i c h z u m Briand-Kellogg-Pakt s. BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt; FERRELL,
Peace. Eine nützliche Quellensammlung zum Thema ist: Pacte g£n£ral de renonciation ä la
guerre comme instrument de politique nationale. Trente pi6ces relatives ä la prdparation et a
la conclusion du Traitö sign6xvutsrqponmligedcaYUSRPMLHFEDA
έ Paris le 27 aoüt 1928 (6. Avril 1927-27 Aoüt 1928), hg. v.
Minist£re des affaires 6trang6res, Paris 1928.
748
Siehe Philip C. JESSUP, International Security. The American Role in Collective Action
for Peace, New York [?] 1935, S. 37. Text der Erklärung in: Pacte gfcifral, Nr. 1
749
Siehe Jacques BARlfcTY, Le >Pacte Briand-Kellogg de renonciation έ la guerre< de 1928,
in: DERS., Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements et initiatives de paix dans la politique inter
nationale: 18671928. Actes du colloque tenu ä Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S.
355-370, hier S. 358.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
315
ren vielfδltig: Zum einen ging es ihm generell darum, das durch die Kriegs
schuldenfrage belastete Verhδltnis zwischen beiden Lδndern zu verbessern,
das unter der Weigerung Frankreichs, an der von Prδsident Coolidge initiierten
Marineabr٧stungskonferenz 1927 teilzunehmen und unter den sich daraufhin
verstδrkenden Militarismusvorw٧rfen von jenseits des Atlantiks , weiter ge
litten hatte. Der franzφsische Außenminister versuchte außerdem, die USA
stärker in die französische Sicherheitspolitik einzubinden, und dies mit einem
recht originellen Ansatz: Da ein französisch-amerikanisches Bündnis nach
dem Ersten Weltkrieg nicht zustande gekommen war, stellte der Vorschlag
Briands eine »negative Militärallianz«751 dar, die im Falle des Zustandekommens zumindest ein Engagement Washingtons auf Seiten des Gegners - also
vor allem Deutschlands - verhindert hätte. Dieser Aspekt spielte in eine weitere Überlegung hinein, denn in Frankreich wurde die Annäherung zwischen
den USA und Deutschland insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet zunehmend mit Sorge betrachtet. Mit der Etablierung französisch-amerikanischer
Sonderbeziehungen wäre auch dieses Problem entschärft worden. Innenpolitische Momente mögen Briand ebenfalls bewogen haben, aktiv zu werden. Sein
Ansehen als Außenminister hatte durch Thoiry Schaden genommen, und die
lauter werdenden Forderungen aus Deutschland, das Rheinland vorzeitig zu
räumen, ließen die heimische Kritik an seiner Amtsführung nicht leiser werden. Allerdings blieb seine Initiative für einen französisch-amerikanischen
Kriegsächtungspakt nicht ohne interne Kritik: Berthelot war von Anfang an
skeptisch, was den Erfolg des Vorschlags anging, und in der Tat schien sich
Briand bei der Ausarbeitung seiner Erklärung vor allem auf seinen Kabinettschef Leger gestützt zu haben752. Auch Poincare, der von Briand nicht eingeweiht worden war, schien »nicht sehr entzückt«753.
Die amerikanische Regierung ignorierte zunächst den Vorschlag aus Frankreich. Zum einen wurde in Washington natürlich sofort erkannt, daß es sich
bei dem Projekt um den Versuch handelte, die Vereinigten Staaten enger an
Frankreich zu binden754, was Washington jedoch ablehnte. Zum anderen war
die US-Regierung verärgert darüber, daß sich Briand direkt an die amerikanische Öffentlichkeit gewandt und so die üblichen diplomatischen Gepflogenheiten mißachtet hatte755, was das Department of State allerdings auch von der
Verpflichtung enthob, sich überhaupt zu dem Thema äußern zu müssen.
Das Thema der Kriegsächtung, das von Briand als bilaterales französischamerikanisches Projekt initiiert worden war, wurde schließlich von ganz ande750
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 3141.
Ibid. S. 46.
752
Siehe Hoesch an AA (24.4.1928), ADAPtsronmlkihgedcaVUTSPNKIHEDCBA
Β VIE, Nr. 253.
753
Hoesch an AA (9.1.1928), AD AP Β Vm, Nr. 13.
754
Siehe Hoesch an AA (6.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 10.
755
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 44.
751
316
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
rer Seite an die USRegierang herangetragen. Nachdem die Erklδrung Briands
in der amerikanischen Φffentlichkeit kaum Beachtung gefunden hatte, wurde
die φffentliche Diskussion durch einen Artikel von Nicolas Murray Butler in
der »New York Times« am 25. April 1927 entfacht756. Butler der ebenso wie
Shotwell an der Columbia University lehrte, hatte auf die Bedeutung des fran
zφsischen Vorschlags f٧r die Kriegsδchtung hingewiesen, und seine Inter
pretation fiel bei der amerikanischen Friedensbewegung757 auf fruchtbaren
Boden: Als der Kriegsδchtungspakt Monate spδter ratifiziert werden sollte,
erhielt das Department of State tδglich 600, das Weiße Haus weitere 200 Briefe, die die Forderung nach Annahme des Pakts unterstützten. Zwei Millionen
Menschen beteiligten sich an einer Unterschriftenaktion, in der die Ratifizierung des Kriegsächtungspakts gefordert wurde758. Allerdings verharrte das
offizielle Washington zunächst weiter in Untätigkeit.
Briand mußte indessen feststellen, daß sich die öffentliche Diskussion in den
USA in eine für ihn absolut unbefriedigende Richtung entwickelte. Statt des
von ihm vorgeschlagenen bilateralen Kriegsverzichtes trat in der amerikanischen Öffentlichkeit mehr und mehr der Vorschlag eines allgemeinen Kriegsächtungspakts in den Vordergrund, der seine Intention »durch Schaffung eines
französisch-amerikanischen Sonderverhältnisses eine Art moralische Bindung
Amerikas zum Schutze Frankreichs herzustellen«759 konterkarieren mußte.
Nachdem die Euphorie, die die erfolgreiche Atlantiküberquerung Charles
Lindberghs760 beiderseits des Atlantiks erzeugt hatte, den ansonsten eher trüben französisch-amerikanischen Beziehungen ein kleines Zwischenhoch beschert hatte, versuchte Briand wieder Herr der Diskussion zu werden und
brachte seinen ursprünglichen Vorschlag Anfang Juni 1927 der US-Regierung
auch offiziell zur Kenntnis761. Da die amerikanische Regierung jedoch immer
noch nicht reagierte, übergab Briand am 20. Juni 1927 dem amerikanischen
Botschafter in Paris, Myron T. Herrick, einen Vertragsentwurf762. Bei der USRegierung traf dieser Vorschlag, weil er eine bedeutende Einschränkung der
amerikanischen Handlungsfreiheit bedeutete, auf völlige Ablehnung763. Weil
allerdings eine glatte Ablehnung des französischen Vorschlags wegen der Popularität des Kriegsächtungsgedankens in der eigenen Bevölkerung Kritik her-
756
Siehe ibid. S. 42f.
Zur amerikanischen Friedenbewegung vgl. FERRELL, Peace, S. 21-30. Zur Kriegsächtungsbewegung im besonderen vgl. ibid. S. 31-37.
758
Siehe JESSUP, International Security, S. 39f.
759
Hoesch an AA (6.1.1928), ADAPxwutsronmlkihgfedcbaVUTSPNLKIHECB
Β VIII, Nr. 10.
760
Lindbergh war am 21.5.1927 in Le Bourget gelandet.
757
761
762
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 44.
Text des Vertragsentwurfs: Pacte ξέτιαΐ,
Nr. 3.
763
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 46f., 55f.
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
317
vorgerufen hδtte, zφgerte das State Department eine offizielle Antwort weiter
hinaus764.
Einen neuen Impuls erhielt die Kriegsδchtungsidee erst wieder Ende des
Jahres 1927. Der anhaltende φffentliche Druck in dieser Frage, das Scheitern
der von Coolidge initiierten Flottenkonferenz765 und der Stillstand der Genfer
Abr٧stungsverhandlungen veranlaßten die amerikanische Regierung, durch
einen Vorstoß in der Kriegsächtungsfrage Bewegung in die festgefahrene internationale Situation zu bringen766. Am 22. Dezember 1927 sprach sich der
auswärtige Ausschuß des Senats für ein multilaterales Rriegsächtungsabkommen aus und lehnte somit indirekt den Vorschlag Briands für einen exklusiv
französisch-amerikanischen Vertrag ab767. Der Initiative des Senats folgten am
28. Dezember 1927 zwei Noten Kelloggs an die französische Regierung: Die
erste beinhaltete den überarbeiteten Vorschlag für einen französischamerikanischen Schiedsvertrag, die zweite den Vorschlag eines allgemeinen
Kriegsächtungspakts768. Die Vorschläge der ersten Note nahm Frankreich ohne große Änderungswünsche an und bereits am 6. Februar 1928 konnte das
französisch-amerikanische Schiedsabkommen unterzeichnet werden769. Der
Grund für diese reibungslose Annahme von Seiten Frankreichs war, daß man
in Paris hoffte, dadurch »die Frage des Friedenspaktes einschlafen lassen«770
zu können, denn der amerikanische Vorschlag zur multilateralen Kriegsächtung wurde für Frankreich zunehmend unangenehm: Das französische Sicherheitssystem beruhte eben auch auf militärischen Beistandsverpflichtungen, die
im Gegensatz zu den Bestimmungen eines allgemeinen Kriegsverzichts standen771. Außerdem würde ein multilateraler Friedenspakt verhindern, daß die
USA, im Falle eines deutsch-französischen Konfliktes, zugunsten Frankreichs
aktiv würden772. Die französische Regierung befand sich also in einem Dilemma: Eine glatte Ablehnung der amerikanischen Vorschläge würde das von
Frankreich selbst kultivierte Bild als »Friedensmacht«773 trüben, eine Annah-
7<
* Siehe ibid. S. 47.
Vgl. auch Kap. 4.1.5. Coolidge hatte am 10.2.1927 vorgeschlagen, als Fortsetzung der
Washingtoner Konferenz von 1922 neuerlich über die Marineabrüstung zu verhandeln. Die
Flottenkonferenz trat erstmals am 20.6.1927 zusammen, scheiterte aber im August 1927 am
britisch-amerikanischen Gegensatz in der Flottenfrage, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 43. Jg. (1927), S. 430f.; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 59f.,
111.
766
Siehe LEFFLER, Quest, S.PDA
162; Runderlaß Schubert (12.1.1928), ADAPmV
Β Vm,xtsronmlkihgfedcbaVU
Nr. 18.
767
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 56.
768
Siehe ibid. S. 75f.
769
Text des Abkommens in: Pacte gdneral, Nr. 7.
770
Runderlaß Köpke (16.4.1928), ΡAAA R, 70105.
771
Siehe Runderlaß Schubert (12.1.1928), ADAP Β V m Nr. 18.
772
Siehe Hoesch an AA (9.1.1928), ADAP Β Vffl, Nr. 13.
765
773
BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 78.
318
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
me jedoch das franzφsische Sicherheitssystem gefδhrden. Briand reagierte
dementsprechend enttδuscht auf die beiden Noten Kelloggs774.
In der prompten franzφsischen Antwort vom 5. Januar 1928775 stand denn
auch die Schadensbegrenzung im Mittelpunkt. Briand schlug vor, daß Frankreich und die USA den Pakt aushandeln sollten und andere Mächte danach
beitreten könnten. So sollte wenigstens formal ein französisch-amerikanisches
Sonderverhältnis etabliert werden. Außerdem versuchte er, das Kriegsverbot
des amerikanischen Vorschlags abzuschwächen, damit die Bündnisverpflichtungen Frankreichs davon ausgenommen blieben. Nicht der Krieg generell
sollte geächtet werden, sondern nur noch der Angriffskrieg776.
Die amerikanische Ablehnung kam ebenso postwendend: Kellogg bestand
in seiner Note vom 11. Januar 1928 weiterhin auf einen von vornherein multilateralen Pakt und auf die generelle Verurteilung des Krieges als Mittel der
nationalen Politik777. Die Begründung hatte Kellogg dem französischen Botschafter in Washington, Paul Claudel, schon kurz nach der Überreichung der
Note vom 28. Dezember gegeben: »American public opinion would not view
such a treaty with much favor because it looks too much like a treaty of alliance and too short a step towards universal peace«778.
Die französische Antwortnote vom 21. Januar 1928779 bedeutete insofern ein
Entgegenkommen, als die französische Regierung nun nicht mehr auf einen
exklusiv französisch-amerikanischen Vertrag bestand. Um so stärker betonte
Paris seine internationalen Verpflichtungen im Rahmen des Völkerbunds und
der Locarno-Verträge (die Bündnisverpflichtungen blieben wohlweißlich unerwähnt), die es der französischen Regierung nur erlaubten, einer Ächtung des
Angriffskrieges, nicht aber des Krieges generell zuzustimmen.
Kellogg ließ sich nicht von dem französischen Entgegenkommen in der Frage der Unterzeichnung des Abkommens ködern und forderte erneut die generelle Ächtung des Krieges, weil er andernfalls die moralische Kraft des Vertrags eingeschränkt sah780. Eine Ächtung des Angriffskrieges war darüber
hinaus problematisch, weil eine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition
des Begriffs der »Aggression« nicht gefunden werden konnte781. Da die Diskussion um die Bestimmung des Angreifers aber vor allem im Rahmen des
Völkerbunds gefuhrt wurde, stand zu befurchten, daß, sollte sich Washington
auf diese Frage einlassen, die Forderung nach einem Eintritt der USA vehe774
Siehe Whitehouse an Kellogg (31.12.1927), FRUS 1927,xutronlkihgedcbaUTSRPNKIHFECB
Π, S. 630.
Text der Note: Pacte giniral, Nr. 9.
776
Siehe ibid.
777
»retour ä la guerre [...] comme instrument de leur politique nationale«, Pacte g6neral,
Nr. 10.
778
Kellogg an Whitehouse (30.1.1928), FRUS 1927, Π, S. 629.
779
Siehe Pacte g6n6ral, Nr. 11.
780
Siehe Kellogg an Claudel (27.2.1928), FRUS 1928,1, S. 911.
781
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 83.
775
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
319
menter an die amerikanische Regierung herangetragen werden w٧rde. Ein
Vφlkerbundsbeitritt stand f٧r die Vereinigten Staaten jedoch außer Frage: Die
eigene Handlungsfreiheit hatte Priorität782.
Claudel riet zur Annahme des amerikanischen Vorschlags, weil er der Überzeugung war, daß ein Bruch des Kriegsächtungspakts wahrscheinlich ein direktes amerikanisches Engagement zur Folge haben würde und somit eine
Rückkehr der USA in die internationale - auch politische - Kooperation bedeute783. Er versprach sich von dem amerikanischen Vorschlag also einen reellen Zugewinn für die französische Sicherheit. Briand hingegen teilte diese optimistische Bewertung nicht: Für ihn bedeutete der Vorschlag Kelloggs eine
ernsthafte Gefahr für das französische Sicherheitssystem, der kein handfester
Zugewinn an Sicherheit gegenüberstand784.
Die französische Note vom 30. März 1928785 spiegelte vor allem Briands
Pessimismus wider: Zwar ließ man den Vorbehalt bezüglich der Ächtung nur
des Angriffskrieges fallen, man bestand aber darauf, daß bestimmte Staaten insbesondere Deutschland - dem Pakt beitreten mußten, damit Frankreich
nicht in eine Situation kam, in der beispielsweise Deutschland Polen angriff
und Frankreich nicht intervenieren konnte, weil es vertraglich an den Kriegsverzicht gebunden war. In der Note wurde außerdem gefordert, daß die Staaten gegenüber demjenigen Staat, der den Pakt bräche, ihre volle Handlungsfreiheit zurückerhielten. Auch sollte der Fall der Selbstverteidigung vom
Kriegsverbot ausgeschlossen werden, ebenso wie die Verpflichtungen aus bereits bestehenden Verträgen, wie dem Versailler Vertrag, den Bündnisverträgen und dem Locarno-Pakt. Der französische Vorschlag bildete also nur formal einen Verzicht auf die Forderung, nur den Angriffskrieg, nicht jedoch
generell den Krieg zu verbieten. In der Sache blieb Paris hart786. Kellogg ließ
zwar erkennen, daß er die inhaltlichen Vorbehalte und Einschränkungen der
französischen Seite anerkannte, lehnte aber eine explizite Aufnahme dieser
Bedenken in den Vertragstext ab, um das moralische Gewicht des Vertrags
nicht zu verwässern und um zu verhindern, daß sich aus dem Vertragstext irgendwelche Einschränkungen für die Entscheidungsfreiheit der USA ergeben
könnten787.
Die Verhandlung zwischen Frankreich und den USA waren somit an einen
toten Punkt geraten. Der Schritt der amerikanischen Regierung, die Verhandlungen auszuweiten und auch die anderen Großmächte, vor allem Deutschland
und Großbritannien, zu den Gesprächen einzuladen, war deshalb nicht nur eine
782
Siehe FERRELL, Peace, S. 150.
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 84f.
784
Siehe ibid. S. 87.
785
Text in: Pacte genöral, Nr. 13.
786
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 98.
787
Siehe ibid. S. 99.
783
320
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
logische Folge aus der amerikanischen Forderung nach einem multilateralen
Kriegsδchtungspakt, sondern bezweckte auch, die festgefahrenen Verhandlun
gen wieder in Gang zu bringen.
Die britische Regierung brachte der franzφsischen Initiative zunδchst nur
wenig Interesse entgegen, zumal das Foreign Office deren Erfolgsaussichten
eher skeptisch bewertete788. Chamberlain hielt den Pakt selbst f٧r weitgehend
nutzlos, ein St٧ck Papier ohne Wert, so daß London zunächst abwartete, in der
Erwartung, einbezogen zu werden, sollte es zu substantiellen Verhandlungen
kommen, die auch andere Staaten betrafen789. Erst als sich Kellogg ab Dezember 1927 explizit und verstärkt für einen multilateralen Pakt aussprach, übernahm auch Chamberlain eine aktivere Haltung. Dies war jedoch weniger ein
Ergebnis eines Meinungswandels hinsichtlich des Pakts selbst, sondern anderen Überlegungen geschuldet. In der britischen Öffentlichkeit, die Chamberlain wegen des Abrüstungskompromisses mit Frankreich scharf angegriffen
hatte790, war der amerikanische Vorschlag äußerst populär, so daß der englische Außenminister hier vor heimischem Publikum Sympathien sammeln
konnte791. Da außerdem die Verhandlungen über einen neuen anglo-amerikanischen Schiedsvertrag über die Frage der Seeblockade ins Stocken geraten
waren und die Beziehungen wegen des Scheiterns der Seeabrüstungskonferenz
von 1927 gespannt waren, bot sich der von Kellogg ins Gespräch gebrachte
Pakt an, die Kluft zwischen Washington und London nicht noch größer werden zu lassen792. Allerdings unterstützte Chamberlain inhaltlich die Vorbehalte
der französischen Regierung, die diese gegenüber dem amerikanischen Projekt
gemacht hatte, weil er vermeiden wollte, daß Frankreich in den amerikanischen Vorschlägen eine Gefährdung der eigenen Sicherheit sah, und Paris
deshalb seine Haltung in der Sicherheitspolitik wieder verhärten könnte. Dies
hätte die gerade begonnene Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich zwangsläufig gefährdet und die Forderungen aus Paris nach englischen
Sicherheitsgarantien verstärkt793.
In Deutschland hatte man den ursprünglichen französischen Vorschlag mit
Sorge betrachtet, weil ein Sonderverhältnis zwischen Paris und Washington
die Position Frankreichs gegenüber Deutschland verbessert und die Revisionsmöglichkeiten eingeschränkt hätte. Vor allem deshalb wurde der Vorschlag
Kelloggs von Anfang 1928 in Berlin mit Erleichterung registriert und unterstützt794. Schubert begrüßte außerdem, daß die amerikanische Initiative »die
788
Siehe Hoesch an AA (11.1.1928), ADAPywtrponmlkihgfedcbaVUTSRPONLKJIHFEDCBA
Β VHI, Nr. 14.
Siehe ibid.
790
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 189f.
791
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 112f.
792
Siehe ibid. S. 118f.
793
Siehe Chamberlain an Howard (25.5.1928), DBFP ΙΑ V, Nr. 358.
7,4
Siehe Runderlaß Schubert (13.1.1928), ΡAAA R, 70106.
789
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
321
politische Wiederannδherung der Vereinigten Staaten an europδische Proble
me«795 ermφgliche. Allerdings machte Hoesch darauf aufmerksam, daß eine
vorbehaltlose Unterstützung des amerikanischen Vorschlags insofern schädlich für die deutsche Diplomatie werden könnte, als Deutschland im Herbst
1927 den polnischen Vorschlag eines allgemeinen Nichtangriffspakts, der »inhaltlich genau mit den amerikanischen Vorschlägen übereinstimmte«796 noch
zu Fall gebracht hatte. Wichtiger war aber, daß ein solcher Pakt die Revisionsmöglichkeiten gegenüber Polen erheblich einschränken könne797. Schubert
teilte diesen Vorbehalt allerdings nur bedingt798.
Als die amerikanische Regierung am 13. April 1928 ihre Note an die Großmächte799 sandte, in der sie diese offiziell über die amerikanisch-französischen
Verhandlungen informierte und den Entwurf zu einem multilateralen Kriegsächtungspakt beifugte800 - und somit die Verhandlungen von der bilateralen
auf eine multilaterale Ebene hob verlagerten sich die Gewichte aufgrund der
Disposition der englischen und der deutschen Regierung stärker zugunsten der
USA, auch wenn die englische Regierung versuchte, Frankreich nicht völlig
zu entfremden und auch die deutsche Position einige der französischen Vorbehalte inhaltlich teilte801.
Frankreich zeigte sich besonders mit dem amerikanischen Paktvorschlag
unzufrieden und ließ diesem am 20. April 1928 einen eigenen Entwurf folgen802. Dieses Projekt trug vor allem die Handschrift Poincares (Briand war
erkrankt und hatte deswegen nicht an den entsprechenden Sitzungen teilnehmen können) und stellte insofern die französische Auffassung in sehr pointierter Form dar803. Im Grunde genommen wurden die Vorbehalte der französischen Note vom 30. März 1928804 wiederholt: Als Ausnahme vom allgemeinen Kriegsverbot wurden in Art. 1 des französischen Entwurfes Bündnisverpflichtungen und Verpflichtungen im Rahmen des Völkerbunds sowie des
Versailler Vertrags genannt. Der Vertragsbruch durch eine Partei sollte alle
übrigen von ihren Verpflichtungen gegenüber dieser entbinden (Art. 4). Außerdem sollte sich der Kriegsächtungspakt nicht auf früher eingegangene vertragliche Bindungen beziehen (auch hier dürfte der Versailler Vertrag im Mit-
795
Ibid. siehe auch KRÜGER, Friedenssicherung, S. 244,254.
Hoesch an AA (13.1.1928), ADAPxutsronmlkihgfedcbaVUTSRPNHFDA
Β Vffl, Nr. 21.
797
Siehe ibid.; KRÜGER, Friedenssicherung, S. 247.
798
S. Schubert an Hoesch (19.1.1928), ADAP Β Vm, Nr. 32.
799
Neben den USA und Frankreich Deutschland, Großbritannien, Italien und Japan, siehe
Pacte g6n6ral, Nr. 14.
800
Text des Vertragsentwurfes ibid.
801
Siehe Stresemann an Schurman (27.4.1928), ΡAAA R, 28244.
802
Text in: Pacte g6n<5ral, Nr. 15.
803
Siehe Hoesch an AAmV
(24.4.1928), ADAP Β Vm, Nr. 253.
804
Text: Pacte general, Nr. 13.
796
322
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
telpunkt des franzφsisches Interesses gestanden haben) und er sollte erst dann
in Kraft treten, wenn alle Großmächte ihn akzeptiert hätten (Art. 5).
Kellogg fand den französischen Vorschlag »entirely unacceptable«805. Genährt wurde seine Ablehnung von den bereits bekannten Befürchtungen, den
moralischen Anspruch des Vertrags durch Einfügung von Vorbehalten zu relativieren und der Gefahr, vertragliche Bindungen in irgendeiner Form einzugehen806. Inhaltlich bestand zwischen der französischen und der amerikanischen
Interpretation allerdings kaum ein Unterschied807. Kellogg selbst erklärte dies
in einer Rede vor der American Society of International Law am 28. April
1928 auch öffentlich808, weigerte sich aber nach wie vor, diese Vorbehalte in
den Vertrag selbst einzufügen, sondern stimmte lediglich zu, die Interpretation
des Vertrags in einem Notenwechsel zu fixieren809. Dies wiederum ging Briand nicht weit genug, der weiterhin auf der Aufnahme der französischen Vorbehalte in den Vertragstext beharrte810.
Die Reichsregierung bemühte sich weiterhin, die Position Kelloggs zu unterstützen, ohne Frankreich allzu sehr vor den Kopf zu stoßen. Stresemann
betonte im Kabinett vor allem das deutsche Interesse, die USA stärker in Europa zu engagieren, um ein Gegengewicht zur französischen Position vor allem in der Abrüstungsfrage zu schaffen811. Auch die absehbaren Verhandlungen bezüglich einer Neuregelung der Reparationen machten es notwendig, das
gute Verhältnis zu den USA zu wahren812. Gegenüber Frankreich hatte man
sich verpflichtet, mit einer Antwort auf die Vorschläge Washingtons jedoch
noch so lange zu warten, bis der französische Gegenentwurf eingetroffen
war813. Da der französische Entwurf vom 20. April 1928 aber für Deutschland
inhaltlich nicht tragbar war, teilte Hoesch Berthelot, Fromageot und Leger am
23. April 1928 mit, daß die Reichsregierung die amerikanische Note positiv
beantworten und den französischen Vorschlag nicht weiter in Betracht ziehen
werde814. Um nicht in eine gemeinsame französisch-englische Front gegenüber
den USA einbezogen zu werden, entschloß sich die Reichsregierung, mit ihrer
Antwort vollendete Tatsachen zu schaffen815. In ihrer Note, die am
27. April 1928 dem amerikanischen Botschafter in Berlin, Jacob Schurman,
übergeben wurde, unterstützte die deutsche Regierung den Vorschlag Wa805
Kellogg an Herrick (21.4.1928), FRUS 1928,1, S. 34.
Siehe Kellogg an Herrick (23.4.1928), FRUS 1928,1, S. 34-39.
807
Siehe ibid.
808
Siehe Kellogg an Houghton (30.4.1928), FRUS 1928,1, S. 41f.
809
Siehe Claudel an Briand (31.5.1928), Pacte ginöral, Nr. 18.
8,0
Siehe Briand an Claudel (3.6.1928), Pacte genteil, Nr. 19.
811
Siehe Kabinettssitzung (19.4.1928), AdR MarxzxutsronihgedcbaVSRPNMKIHEDBA
ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 463.
812
Siehe Kabinettssitzung (27.4.1928), AdR MarxmVI
m/ I V Bd. 2, Nr. 466.
8.3
Siehe Kabinettssitzung (19.4.1928), AdR Marx ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 463.
8.4
Siehe Hoesch an AA (24.4.1928), ADAP Β VIE, Nr. 253.
815
Siehe Kabinettssitzung (27.4.1928), AdR Marx ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 466.
806
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
323
shingtons816. Allerdings wurde in der Note auch klargestellt, daß Deutschland
den amerikanischen Vorschlag so interpretiere, daß dessen Bestimmungen
nicht im Widerspruch zu den Bestimmungen des Völkerbunds und der Verträge von Locarno stünden, und daß durch den Pakt weder das Selbstverteidigungsrecht der Staaten eingeschränkt würde noch ein Vertragsbrüchiger Staat
auf die Sicherheiten des Pakts setzen könne817. Frankreich konnte mit der
deutschen Antwort insofern zufrieden sein, als sie viele französische Vorbehalte (Unantastbarkeit der Rechte des Völkerbunds und der Locarno-Verträge,
Wahrung des Selbstverteidigungsrechts und Vorbehalt gegenüber dem Paktbrecher) teilte. Von der Ausnahme des Versailler Vertrags aus den Vertragsbestimmungen hatte die deutsche Note - mit Hinblick auf die Revision nur
allzu verständlich - Abstand genommen und so eine ausdrückliche Sanktionierung französischer Interessen vermieden818.
Ähnlich wie die deutsche bestand die britische Haltung zum amerikanischen
Vorschlag darin, daß man der Form nach den amerikanischen Vorschlag zwar
guthieß, inhaltlich aber die französischen Einschränkungen weitgehend unterstützte819. Auch die hohen Beamten des Völkerbunds äußerten sich positiv zu
den amerikanischen Vorschlägen820, einzig Paris' osteuropäische Verbündete
teilten die französischen Vorbehalte821.
Die Chancen für Frankreich, den eigenen Vertragsentwurf doch noch durchzusetzen, waren aufgrund dieser Konstellation äußerst gering. In einer Note an
die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und
Japan vom 23. Juni 1928822 gab die amerikanische Regierung Erläuterungen
zur Interpretation des beiliegenden neuen amerikanischen Paktentwurfes, die
inhaltlich weitgehend den französischen Vorbehalten entgegenkamen. Der
Quai d'Orsay versuchte zwar noch Modifikationen zu erreichen, etwa durch
die gleichzeitige Unterzeichnung zweier Protokolle, in denen die LocarnoVerträge und die Völkerbundssatzung ausdrücklich anerkannt werden sollten823, oder dadurch, daß die Diskussion des amerikanischen Vorschlags in
den Völkerbund getragen werden sollte, scheiterte damit aber am Widerstand
der anderen Mächte824.
Text: Stresemaim an Schurman (27.4.1928),zutsrponmlkihgfedcbaWVUTSRPNMKIHFEDCBA
ΡAAA R, 28244.
Siehe ibid.
818
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 216f.
819
Siehe Chamberlain an Houghton (19.5.1928), Pacte gindral, Nr. 17.
820
Aufzeichnung Schubert (7.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 145.
821
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 166.
822
Siehe Pacte g6n£ral, Nr. 20.
823
Siehe AideM6moire der britischen Botschaft in Washington an das Department of State
[ohne Unterschrift] (18.6.1928), FRUS 1928, I, S. 86f.; Kellogg an Herrick (29.6.1928),
FRUS 1928,1, S. 100.
824
Vgl. BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 249252.
816
817
324
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Die deutsche Regierung akzeptierte den amerikanischen Vorschlag vom
23. Juni 1928, der kaum von dem Entwurf vom 13. April abwich825, am
11. Juli 1928826. Auf Anraten Claudels827 und angesichts der ablehnenden Ein
heitsfront, der sich die franzφsische Position gegen٧bersah, signalisierte Paris
am 14. Juli 1928 seine Zustimmung828. Etwas versüßt wurde den Franzosen ihr
Nachgeben dadurch, daß Kellogg zugestimmt hatte, den Kriegsächtungspakt
in Paris zu unterzeichnen829. So konnte sich Frankreich wenigstens als moralischer Sieger präsentieren. Großbritannien gab am 18. Juli 1928 grünes Licht
zum Vertragsentwurf Kelloggs830.
Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde der Kriegsächtungspakt
schließlich am 27. August 1928 in Paris von den Außenministern der Großmächte unterzeichnet831. Der Pakt selbst bestand lediglich aus drei Artikeln. In
Artikel I verpflichteten sich die Staaten, auf den Krieg als Mittel der nationalen Politik zu verzichten. In Artikel II bekannten sich die beteiligten Länder
zur friedlichen Konfliktregelung, jedoch ohne daß dies weiter ausgeführt wurde. Artikel III enthielt vor allem Ratifikationsbestimmungen.
Über den Briand-Kellogg-Pakt ist polemisiert worden, er habe weniger zum
Weltfrieden beigetragen als die Frühstücksflocken mit dem Namen des damaligen amerikanischen Außenministers832. In der Tat konnte der Pakt weder
kriegerische Konflikte verhindern noch dazu beitragen, diese schnell zu beenden. Dem Pakt, der den Krieg für immer unmöglich machen sollte, folgten
der japanisch-chinesische Konflikt um die Mandschurei, der italienische Einmarsch in Abessinien und schließlich mit dem Zweiten Weltkrieg der mörderischste Konflikt, den die Menschheit jemals hat hinnehmen müssen. Nicht
einmal die Abrüstungsverhandlungen wurden durch den Abschluß des Pakts
positiv beeinflußt833. Dabei wurde vor allem kritisiert, daß es dem Pakt an
Sanktionsmechanismen gefehlt habe834. Bereits die Zeitgenossen waren, was
den realen Wert des Abkommens anging, skeptisch835. Paul-Boncour faßte gegenüber Hoesch die französischen Bedenken zusammen, indem er erklärte, die
825
826
827
So auch die Einschätzung Gaus': Aufzeichnung Gaus [25.7.1928], ADAPzutsronmlkihgedcbaZX
ΒIX, Nr. 179.
Siehe Schubert an Schurman (11.7.1928), Facte gindral, Nr. 21.
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 260.
828
Siehe Briand an Heirick (14.7.1928), ΡAAA R, 70106.
829
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 259.
830
Siehe Chamberlain an Atherton (18.7.1928), Pacte giniral, Nr. 26.
Siehe Hoesch an AA (28.8.1928), ADAP Β Κ , Nr. 266; Wortlaut des Vertrags in: Pacte
g6n6ral, Nr. 29.
831
832
833
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 11.
Siehe ibid. S. 392.
Siehe NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 81.
835
Zur Reaktion der französischen Presse siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 316f„
zur Reaktion der deutschen Presse ibid. S. 319f.
834
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
325
Kammer werde Pakt[,] wenn nicht einstimmig[,] so doch mit einer sehr grossen [sie] Mehr
heit,] aber ohne Enthusiasmus annehmen. [...] Kelloggpakt, der nur eine moralische Bin
dung darstelle, entspreche nicht der franzφsischen Auffassung ٧ber die Wege, die zur Siche
rung des Friedens f٧hrten. [...] Frankreich glaube im Gegensatz zu der angelsδchsischen
Auffassung, daß eine wirksame Sicherung des Friedens nur durch Schaffung von Garantien
und Sanktionen erreicht werden könne und sei entschlossen[,] weiter in dieser Richtung zu
arbeiten836.
Die Verteidiger des Pakts haben vor allem auf dessen ethische Dimension hingewiesen: Die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik bedeute einen »moralischen Qualitätssprungusrnige
sui generis [Herv. i.O.]«837: Das Kriegsverbot der
Völkerbundssatzung erfuhr eine Ausweitung und band auch Staaten, wie vor
allem die USA und die Sowjetunion, die außerhalb der Völkerbundsordnung
standen838. Da der Kriegsächtungspakt außerdem als rechtliche Grundlage für
die Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozesse diente (was allerdings
völkerrechtlich umstritten ist), habe er wenigstens zur juristischen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges beitragen können839.
Für die Modernisierung der Außenpolitik bot der Briand-Kellogg-Pakt in
zweierlei Hinsicht ein gewisses Potential. Der erste wichtige Aspekt war die
Teilnahme der USA, wie der belgische Botschafter in Paris, Gaiffier d'Hestroy
feststellte:
On aurait tort, me semble-t-il, de miconnaitrexvutsrqponmligfedcaSNIA
Γ importance de la signature du pacte plurilate
ral de paix. S'il est vrai que le maintien de la paix ne ddpend pas d'une formule, il est,
d'autre part, d'un intdret capital que I'Am6rique soit attirde dans le circuit europien. Ä
l'avenir, cette puissance, qu'elle veuille ou non, ne saurait rester indifferente a la rupture
d'un pacte qu'elle a non seulement signd mais dont elle a pris l'initiative840.
Am Beispiel des Dawes-Plans und des Locarno-Pakts war zu sehen, daß die
USA stets einen entscheiden Anteil daran hatten, daß sich die Beziehungen
zwischen Deutschland und Frankreich verbesserten, weil letztlich nur die USA
das notwendige Gewicht hatten, das labile deutsch-französische Verhältnis zu
stabilisieren. Von der - sehr begrenzten - Rückkehr der USA zu einer - sehr
eingeschränkten - Verantwortung für die europäische Sicherheit mußte deshalb ein wenn auch bescheidener Impuls für die Modernisierung der Außenpolitik ausgehen.
Der zweite Aspekt, der eine genauere Betrachtung des Briand-Kellogg-Pakts
unter dem Gesichtspunkt der Modernisierung der Außenpolitik notwendig
836
Hoesch an AA (1.3.1929), PAAA R, 70107.
Siehe HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik, S. 577.
838
Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 97f.
839
Siehe JacqueslifYTRBA
BARlfiTY, Le »Plan Briand Kellogg de renonciation δ la guerre« de 1928,
in: Jürgen HEIDEKING, Gerhard HUFNAGEL, Franz KNIPPING (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte (Festschrift Gerhard Schulz), Berlin, New York 1989, S. 448^59, hier S. 449.
840
Gaiffier an Hymans (16.7.1928), DDB Π, Nr. 180.
837
326
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
macht, ist die potentielle Bedeutung des Kriegsδchtungsvertrags f٧r die kol
lektive Sicherheit. Wie festgestellt wurde, bildeten weder die Vφlkerbundssat
zung noch der BriandKelloggPakt f٧r sich allein genommen eine vollstδndi
ge Grundlage f٧r die kollektive Sicherheit: Durch die Vφlkerbundssatzung war
Krieg unter bestimmten Voraussetzung immer noch mφglich und nicht vom
Vφlkerbund ahndbar. Es handelte sich dabei um die sogenannte »L٧cke« des
Artikels 15841. Der BriandKelloggPakt wiederum beinhaltete zwar ein weit
gehendes Kriegsverbot, jedoch keinerlei Schlichtungs und Sanktionsmecha
nismen, wie diese in der Vφlkerbundssatzung zumindest rudimentδr angelegt
waren. Die Aufnahme der Bestimmungen des Kriegsδchtungspakts in die Vφl
kerbundssatzung w٧rde bedeuten, daß die »Lücke« des Artikels 15 geschlossen und die friedliche Schlichtung für alle internationalen Konflikte obligatorisch würde. Insofern würde die Inkorporierung des Briand-Kellogg-Pakts in
die Völkerbundssatzung gewissermaßen die »halbe« Verwirklichung des Genfer Protokolls bedeuten, dessen einer wesentlicher Bestandteil die obligatorische Schlichtung war. Die andere »Hälfte« des Genfer Protokolls, der Ausbau
der Sanktionen - das sei hier ausdrücklich festgehalten - , war davon natürlich
zunächst nicht unmittelbar betroffen.
Daß diese Überlegungen durchaus Relevanz hatten, wurde an verschiedenen
Stellen deutlich. Bereits im Juni 1928 hatte Briand gegenüber Hoesch erklärt,
daß »Kriegsächtung [...] restlose Schiedsgerichtsbarkeit [bedinge]«842. Im September 1929 beschloß die Vollversammlung des Völkerbunds schließlich, eine
Kommission einzusetzen, die erarbeiten sollte, auf welche Weise die Bestimmungen des Briand-Kellogg-Pakts in die Satzung des Völkerbunds integriert
werden könnten843. Wie schon in der Frage der Schiedsgerichtsbarkeit verliefen hier die Fronten nicht etwa zwischen Deutschland einerseits und Frankreich und Großbritannien andererseits, sondern es war wiederum London, das
sich den weitgehenden Reformplänen aus Paris und Berlin widersetzte844. Aus
Washington kamen zudem positive Signale: Dort mehrten sich die Stimmen,
die ein stärkeres amerikanisches Engagement in der Frage der Kriegsverhütung anstrebten845. Gedacht war dabei an den Ausbau des Kellogg-Pakts nach
dem Vorbild des pazifischen Vertrags oder des interamerikanischen Schiedsvertrags846.
Allerdings bestand bei genauerem Hinsehen, wie auch bei der Schiedsvertragspolitik des Völkerbunds, ein deutlicher Unterschied zwischen der franzö-
Siehe Aufzeichnung B٧low [16.12.1929], ADAPzvutsrponmlkihgfedcaXVSRNLKIHED
Β ΧΙΠ, Nr. 201; LEE, Disarmament,
S. 37.
842
Hoesch an AA (22.6.1928), ΡAAA R, 70106.
843
Siehe Aufzeichnung Köpke (30.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 65.
844
Siehe Aufzeichnung Köpke (30.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 65.
845
Siehe Bülow an Dieckhoff (24.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 51.
844
Siehe Aufzeichnung Bülow [16.12.1929], ADAP Β ΧΠΙ, Nr. 201; vgl. auch die An
merkungen zur amerikanischen Schiedsvertragspolitik am Anfang dieses Kapitels.
841
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
327
sischen und der deutschen Auffassung, die durch die gemeinsame Front
stellung gegen٧ber England nur verdeckt wurde. Frankreich hielt im Grunde
genommen weiterhin am Genfer Protokoll fest: Die Schiedsvertragspolitik
sollte den Status quo des Versailler Vertrags in Europa sichern, und als zusδtz
liche Garantie sollten Sanktionen gegen ein vertragsbr٧chiges Land verhδngt
werden. Diese Politik wurde deutlich an der franzφsischen Haltung auf der
Londoner Flottenkonferenz von 1930847.
F٧r Deutschland und vor allem f٧r B٧low wurde die angedachte Ein
beziehung des Kriegsδchtungspakts in die Vφlkerbundssatzung zu einem wichti
gen Moment der Revisionspolitik: Der Vφlkerbund sollte dadurch so umge
baut werden, daß er seines Charakters als fortgeführter Kriegsallianz völlig
entkleidet und marginalisiert würde848. Als sich Ende 1929 ein verstärktes
amerikanisches Engagement in internationalen Fragen abzuzeichnen schien,
sah er eine grundsätzliche Änderung für die Regelung internationaler Konflikte heraufziehen: Hauptverantwortlich dafür werde in Zukunft nicht mehr
der Völkerbund, sondern der »Washingtoner Kreis« derjenigen Großmächte
sein, die sich am Briand-Kellogg-Pakt beteiligt hatten. Diese Mächte würden
die Entscheidung darüber fällen, ob interveniert würde. Dem »Genfer Kreis«,
also dem Völkerbund, »würde dann nur noch die Exekutive für die im
Washingtoner Kreis gebilligte Politik zufallen«849. Für Deutschland sei diese
Politik vorteilhaft, weil dadurch der Einfluß des Völkerbunds, in dem Frankreich und seine Trabanten dominierten, verringert würde. Der Einfluß der
USA im »Washingtoner Kreis« jedoch käme - so vermutete zumindest Berlin
- Deutschland zugute. Mit der Marginalisierung des Völkerbunds und des
französischen Einflusses darin würde zum einen ein Revisionsziel per se erreicht. Da Frankreich aber auch die wichtigste Status-quo-Macht war, mußte
die Verringerung des französischen Gewichts der deutschen Revisionspolitik
zugute kommen. Damit konnte dann Schiedsvertragspolitik im deutschen
Sinne gemacht werden, die sich an der Wiedergutmachung des »Unrechts« aus
dem Versailler Vertrag orientierte und eine Politik des friedlichen Wandels
eröffnete. Aus deutscher Sicht mußte es bei der Integration des BriandKellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung also darum gehen, »eine Kompensation im revisionistischen Sinne für die stabilisierende und konservierende
Wirkung zu erlangen, die ein schematischer Einbau des Kellogg-Pakts in die
Völkerbundssatzung zur Folge haben muß«850.
Siehe Rieth an AA (26.4.1930), ADAPurniedbXVNI
Β XIV, Nr. 224 und die Ausführungen im vorherigen Kapitel.
848
Zu den folgenden Ausführungen siehe Aufzeichnung Bülow [16.12.1929], ADAP Β ΧΠΙ,
Nr. 201.
849
Ibid.
850
Ibid.
847
328
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Im Klartext hieß das: Große Teile im AA waren letztendlich nur bereit, einem Ausbau der kollektiven Sicherheit zuzustimmen, wenn im Gegenzug revisionspolitische Ziele erfüllt wurden. Die Position Schuberts, der zwar ebenso Revision forderte, aber durchaus zu Einschränkungen bezüglich der
deutschen »Handlungsfreiheit«851 bereit war, die vielleicht eine Brücke zur
französischen Position hätte bilden können, verlor dagegen zunehmend an
Einfluß. Sichtbarstes Zeichen für diesen Politikwechsel wurde die Ernennung
Bülows zu Schuberts Nachfolger im Juni 1930852. Nicht zuletzt wegen dieser
Unterschiede in den deutschen und französischen Auffassungen, die nach
Schuberts Entmachtung immer deutlicher zutage traten, kamen letztendlich die
Pläne einer umfassenden Integration des Briand-Kellogg-Pakts in die Völkerbundssatzung nicht zustande. Im September 1931 sprach sich die Bundesversammlung zwar erneut für eine Anpassung der Satzung aus, wegen der Divergenzen der einzelnen Mächte scheiterte dies jedoch853. Frankreich bestand
weiterhin auf die Erweiterung der Sanktionsmöglichkeiten, was Deutschland
noch immer ablehnte854.
Die deutsch-französischen Gemeinsamkeiten bezüglich der Schiedsgerichtsbarkeit blieben letztendlich oberflächlich, und England lehnte eine Einschränkung der Handlungsfreiheit durch verpflichtende schiedsrichterliche Verfahren
ab855. Die Annäherung der USA an die internationale Gemeinschaft, wie sie
sich Ende 1929856 und im Mandschurei-Konflikt angedeutet hatte, blieb vorübergehend und ohne nachhaltige Folgen: Die USA behielten ihre Distanz zum
Völkerbund oder anderen bindenden sicherheitspolitischen Vereinbarungen
bei857.
4.1.7. Kollektive Sicherheit 1924-1929:
Ein Resόmee
Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, wurden in den Jahren 1924—
1929 verschiedene kollektive Sicherheitsstrukturen gebildet, in die auch
Deutschland und Frankreich eingebunden waren. Eine dieser Strukturen war
der Völkerbund. Nach dem deutschen Beitritt 1926 verlor dieser einen Gutteil
seines Charakters als lockeres Bündnis und Forum der Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges, weil eine zentrale Bedingung für ein kollektives Sicherheitssystem - die Einbindung der potentiellen Gegner - erfüllt worden war. Diese
Bedingung galt auch für eine zweite kollektive Sicherheitsstruktur des Unter851
Siehe Schubert an Stresemann (31.12.1927), ADAPtronlkihgfedaXVUTSPNKIHECB
Β Vn, Nr. 246.
Siehe KRÜGER, Friedenssicherung, S. 256.
853
Siehe BARI6TY, Plan, S. 456f.
854
Siehe BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 395.
855
Siehe ibid. S. 395f.
856
Siehe Bülow an Dieckhoff (24.1.1930), ADAP Β XIV, Nr. 51.
857
Siehe BUCHHEIT, BriandKelloggPakt, S. 396f.
852
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
329
suchungszeitraumes, die Vertrδge von Locarno. Sie bildeten ein System von
Schiedsvertrδgen, das was die deutschen Westgrenzen betraf durch gegen
seitige Garantieversprechen abgesichert wurde. Locarno bedeutete dabei nicht
notwendigerweise eine Aufweichung des Vφlkerbundssystems (durch die In
terpretation des Artikels 16), sondern die LocarnoVertrδge konnten zumin
dest aus franzφsischer Sicht durchaus zu einer Festigung der Vφlkerbundsga
rantien beitragen.
Allerdings blieben sowohl der Vφlkerbund als auch die LocarnoVertrδge
unvollstδndige Ansδtze der kollektiven Sicherheit. Der Vφlkerbund konnte vor
allem deshalb nicht zu einem wirkungsvollen Organ der kollektiven Sicherheit
werden, weil institutionelle Schwδchen, wie beispielsweise das Einstimmig
keitsprinzip, Entscheidungen verhinderten, und es durch die »L٧cke« des Ar
tikels 15 noch immer erlaubt war, unter bestimmten Voraussetzungen Krieg zu
f٧hren. Die Versuche, diese L٧cke durch die Einbeziehung des Kriegsδch
tungspakts zu schließen, scheiterten letztendlich. Da die Sanktionsmöglichkeiten des Artikels 16 der Satzung zudem nur fakultativ waren, fehlte ein weiteres wichtiges Element der kollektiven Sicherheit, nämlich die Abschreckung
des potentiellen Gegners durch ein kalkulierbares Eskalationsschema. Auch
Locarno beinhaltete keine festgelegten Sanktionsmechanismen und war zudem
nur regional begrenzt.
Daß die kollektiven Sicherheitsstrukturen der Zeit nur rudimentär ausgebildet waren, zeigte sich daran, daß während der Abrüstungsverhandlungen nach
wie vor das Thema der Sicherheit dominierte. Weder der deutsche Beitritt zum
Völkerbund noch der Locarno-Pakt hatten daran entscheidend etwas ändern
können. Auch der wirkungsvolle Ausbau der Sanktionsmechanismen des Völkerbunds und der Schiedsgerichtsbarkeit scheiterten. Besonders hinsichtlich
Osteuropas war eine gewisse Asymmetrie der Sicherheitslage festzustellen:
Die deutsch-polnische Grenze war durch die Locarno-Verträge weniger gut
abgesichert als die deutschen Westgrenzen. Da die Sowjetunion als potentieller Unruhefaktor zudem kaum in kollektive Sicherheitsstrukturen eingebunden
war, stellte sie in Osteuropa ein weiteres destabilisierendes Element dar: Im
Untersuchungszeitraum war sie kein Mitglied des Völkerbunds, und ein wie
auch immer geartetes »Ostiocarno« kam ebenfalls nicht zustande858.
Was waren die Ursachen dafür, daß die Umsetzung der kollektiven Sicherheit, trotz der unleugbar vorhandenen Ansätze, in den 1920er Jahren auf halbem Weg stecken geblieben ist? Ein wesentlicher Grund lag vor allem darin,
daß kollektive Sicherheit als Modell für die Organisation des Staatensystems
nicht unumstritten, ja nicht einmal das dominierende Modell war. Die Durch858
Siehe Rolf AHMANN, localization of Conflicts< or >Indivisibility of Peacec The German
and the Soviet Approaches towards Collective Security and East Central Europe 1925-1939,
in: DERS., Adolf M. BIRKE, Michael HOWARD (Hg.), The Quest for Stability. Problems of
Western European Security 1918-1957, Oxford u.a. 1993, S. 201-247, hier S. 201f.
330
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
setzungsfδhigkeit der kollektiven Sicherheit litt darunter, daß es Alternativen
zu ihr gab. Dies wurde besonders an der französischen Politik deutlich. Kollektive Sicherheit bildete für die französische Sicherheitspolitik nur eine Option neben dem »Sicherheit-durch-Stärke«-Konzept und einer Bündnisstrategie
mit Großbritannien und den USA als Wunschpartnern. Daß die französische
Sicherheitspolitik zwischen diesen drei Modellen oszillierte, hatte dabei weniger damit zu tun, daß sich die französische Politik nicht auf eine Strategie einigen konnte oder administrative Schwächen und Querelen - wie etwa zwischen Kriegs- und Außenministerium - eine einheitliche Politik verhinderten.
Ohne diese Aspekte völlig auszuschließen, lag die Ursache fur die bisweilen
unstet wirkende französische Politik doch sehr viel stärker darin, daß Frankreich allein gelassen wurde. Eine Politik der Stärke kam für Frankreich nicht
in Betracht, weil es sich strukturell Deutschland unterlegen sah - darin lag der
Kern des französischen Sicherheitsproblems. Bei der Verwirklichung des
Bündnissystems scheiterte Frankreich jedoch vor allem daran, daß die USA
und Großbritannien alle Bündnisangebote zurückwiesen: Dies hatte angefangen bei den Garantieverträgen, die im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag zwar unterzeichnet worden, aber am Veto des US-Kongresses letztlich
gescheitert waren. Bündnisangebote an England, wie beispielsweise im Vorfeld der deutschen Sicherheitsinitiative, führten ebensowenig zum Erfolg wie
der Versuch Briands, die USA stärker an Frankreich zu binden: Kellogg machte aus der »negativen Allianz« Briands einen multilateralen Kriegsächtungspakt, der für Frankreich kaum einen realen Zugewinn an Sicherheit bedeutete.
Aber auch die Versuche Frankreichs, den Völkerbund - und damit die kollektive Sicherheit - zu stärken, scheiterten vor allem am englischen Widerstand,
wie das Schicksal des Genfer Protokolls und der Verlauf der Sicherheits- und
Abrüstungsverhandlungen zeigten. Das non-committment der angelsächsischen Mächte wirkte sich aber nicht nur auf die französische Sicherheitspolitik
aus, sondern generell auf die Durchsetzungsmöglichkeiten kollektiver Sicherheit. An Locarno wurde augenscheinlich, daß vor allem der Druck aus Washington und London dazu beigetragen hatte, daß Deutschland und Frankreich
zusammenfanden. Gleichzeitig hatte England Verantwortung für die Sicherheit in Westeuropa übernommen. Nach Locarno nahm jedoch die Bereitschaft
Londons, sich sicherheitspolitisch in Europa zu engagieren, rapide ab, was
zum Großteil den Stillstand der europäischen Sicherheitspolitik in der zweiten
Hälfte der 1920er Jahre bewirkte. Die amerikanische Zurückhaltung wirkte
sich ähnlich aus.
Die kollektive Sicherheit kam außerdem deshalb nicht recht voran, weil sich
die beteiligten Mächte auf »Sicherheit« als außenpolitischem Oberziel nicht
einigen konnten. Besonders die deutsche Regierung ordnete die kollektive Sicherheit revisionspolitischen Zielen unter. Dies bedeutete zwar nicht, daß
Deutschland prinzipiell gegen mehr Sicherheit war, sondern nur, daß im Zwei-
4.1. Der Aufbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
331
felsfall Revision Vorrang vor Sicherheit hatte. Beispiele hierf٧r waren die Be
handlung der deutschen Ostgrenzen in den LocarnoVertrδgen und die Versu
che Berlins, die diversen Vorschlδge f٧r ein »Ostiocarno« zu blockieren. Auch
die Bem٧hungen der deutschen Politik, den Ausbau der Sanktionsmechanis
men des Vφlkerbunds mφglichst zu verhindern, und am deutschsowjetischen
Sonderverhδltnis festzuhalten, verdeutlichen die Prioritδt der Revisionspolitik.
Analoges galt auch f٧r die USA und Großbritannien: Hier war man letztendlich nicht bereit, die Sicherheit der eigenen Handlungsfreiheit unterzuordnen.
Ein weiterer Grund für die unvollständige Umsetzung der kollektiven Sicherheit bestand darin, daß keine Einigung darüber erzielt werden konnte,
welche Art von kollektiver Sicherheitspolitik überhaupt betrieben werden
sollte. Dies wurde vor allem an der Kriegsächtungspolitik deutlich, die zumindest teilweise mit den Prinzipien der kollektiven Sicherheit im engeren
Sinne (d.h. die Abschreckung eines potentiellen Aggressors notfalls durch
militärische Sanktionen) in Widerspruch stehen konnte. Dies setzte sich fort
bei der Diskussion, ob Sicherheit nun ein Ergebnis der Abrüstung sei, oder
umgekehrt erst Sicherheit Abrüstung ermögliche.
Auch bei der Schiedsgerichtsbarkeit gab es zwischen Deutschland und
Frankreich, bei vielen oberflächlichen Gemeinsamkeiten, gravierende Interpretationsunterschiede. Die Diskussion über die Art der kollektiven Sicherheit
- bei aller Berechtigung der grundsätzlich zu klärenden Fragen - konnte dabei
leicht zum Vorwand werden, konkrete Schritte in der Sicherheitspolitik zu
blockieren.
Dies wurde exemplarisch an der englischen Abrüstungspolitik deutlich. Gegenüber Frankreich, das auf den Grundsatz »Sicherheit vor Abrüstung« pochte, machte London geltend, daß Sicherheit ein Ergebnis der Abrüstung sei und
nutzte dieses Argument auch, um die französischen Bündniswünsche abzuwehren. Andererseits verweigerte die britische Regierung die Abrüstung zur
See aus Gründen der Sicherung der imperialen Seewege. Zur englischen Position in der Frage der Landabrüstung stand diese Haltung in eindeutigem Widerspruch. Hier diente der philosophische Ansatz lediglich als Argument der
Interessenpolitik859.
Letztendlich entscheidend für den Umstand, daß die Umsetzung von kollektiver Sicherheit dort an ihre Grenzen stieß, wo sie mit nationalen Interessen
kollidierte, dürfte aber letztendlich die mangelnde Bereitschaft der angelsächsischen Mächte gewesen sein, Verantwortung für die Sicherheit Europas zu
übernehmen. Frankreich, das als einziges Land - nicht aus Uneigennützigkeit,
sondern aus nationalem Interesse heraus - an Sicherheit interessiert war, war
8S
® Towle hat sicherlich nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, daß diese Widersprüche auch
ihre Ursache in organisatorischen Unzulänglichkeiten und unterschiedlichen Bewertungen
einzelner britischer Verantwortlicher hatten, vgl. TOWLE, British Security Policy, S. 140-144.
332
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
allein mit dieser Aufgabe ٧berfordert. Nur England und die Vereinigten Staa
ten konnten moderierend in den Konflikt zwischen deutschen Revisionsan
spr٧chen und franzφsischen Sicherheitsinteressen eingreifen.
Kollektive Sicherheit blieb also im Untersuchungszeitraum nur ein Frag
ment. Bisweilen verdient aber auch das Fragmentarische eine W٧rdigung.
Zum ersten Mal wurden kollektive Sicherheitssysteme ٧berhaupt etabliert, und
es setzte sich langsam die Erkenntnis durch, daß Sicherheit ein Wert an sich
sei. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war kollektive Sicherheit zwar
nicht die einzige, aber eine ernstzunehmende außenpolitische Konzeption. Die
harten Auseinandersetzungen um die Definition des Aggressors im Völkerbund, die Frage nach den Sanktionsmechanismen des Völkerbunds und nach
dem Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, um nur wenige Beispiele zu nennen,
machen deutlich, daß diese Probleme und deren Implikationen erkannt und
ernstgenommen wurden. Für Rechtsstaaten wie Frankreich, Deutschland,
Großbritannien und die USA war ein Abkommen wie der Kriegsächtungspakt
- trotz fehlender Sanktions- und Schiedsmechanismen - außerdem mehr als
nur ein Stück Papier, sondern hatte eine rechtlich bindende Kraft. Zum Stück
Papier wurde er erst, als Deutschland ab 1933 das Recht als bindende Kraft
nicht mehr anerkannte. Auch an einer anderen Stelle wird deutlich, daß kollektive Sicherheit als Idee einen nicht zu unterschätzenden Einfluß entwickelte.
Der Charakter der französischen Sicherheitspolitik änderte sich - wie erwähnt
- nach 1924/25 merklich. Obwohl sie nicht nur auf kollektiver Sicherheit beruhte, versuchte Paris, seine beiden anderen Strategien mit den Ideen der kollektiven Sicherheit in Einklang zu bringen. Die militärischen Verpflichtungen
gegenüber den osteuropäischen Staaten wurden verringert und durch die Methoden der Finanzdiplomatie ersetzt; mit der Maginot-Linie und der Aufgabe
einer aktiven Rheinlandpolitik wurde versucht, Verständigung mit Deutschland und Sicherung der eigenen Grenzen besser in Einklang zu bringen.
Hinsichtlich der kollektiven Sicherheit kann also konstatiert werden, daß eine Modernisierung der Außenpolitik stattgefunden hat, die aber unvollständig
geblieben ist.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
Im Rahmen des liberalen Modells der Friedenssicherung ist kollektive Sicherheit nur ein Element einer modernen Außenpolitik. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, gingen die Anhänger dieses Konzepts davon aus, daß der freie
Welthandel - ergänzt durch die demokratische Entwicklung im Innern der
Staaten - ebenfalls zur Friedenssicherung beitrage. Diese Annahme gründete
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
333
sich auf das Axiom, daß freier Handel zu engerer wirtschaftlicher Verflechtung und Abhängigkeit fuhren und so verhindern würde, daß man genau das
Land angriff, von dem man wirtschaftlich ja selbst profitierte und abhängig
war. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Norman Angell diese Idee mit
großer öffentlicher Resonanz vertreten860. Außerdem trug ein liberales Weltwirtschaftssystem - gemäß der liberalen Wirtschaftsdoktrin - zur Wohlstandsmehrung bei, was ebenfalls Konflikte verhindern helfen sollte.
Auch in den außenpolitischen Konzeptionen Deutschlands und Frankreichs
spielten diese Überlegungen eine Rolle. Für Briand bot sich die wirtschaftliche
Ebene vor allem deshalb zur Zusammenarbeit mit Deutschland an, weil die
Volkswirtschaften Deutschlands und Frankreichs als weitgehend komplementär galten und fundamentale Unterschiede wie im politischen Bereich - zwischen Sicherheitsstreben einerseits und Revisionsverlangen andererseits - auf
ökonomischer Ebene nicht bestanden861. Allerdings muß die Annahme, daß
steigende wirtschaftliche Interdependenz eine zunehmende Friedensbereitschaft erzeuge, gerade vor dem Hintergrund der damaligen schwierigen wirtschaftlichen Lage mit größter Vorsicht betrachtet werden, wie Wurm richtig
bemerkt:
Diese von Briand wiederholt vertretene, auch in der damaligen Publizistik häufig anzutreffende Behauptung trug jedoch dem komplizierten Verhältnis von Interdependenz und Friedenssicherung nur unzureichend Rechnung, insofern nämlich, als wachsende Interdependenz
auch anfälliger gegen Krisen macht, vor allem auch gegen solche Krisen, die an anderer
Stelle des engeren Interdependenzsystems ihren Ursprung haben. (Dies war beispielsweise
bei der späteren Weltwirtschaftskrise der Fall). Interdependenz kann auch nur dann fnedenssichemd bewertet werden, wenn sie von einer Beherrschung oder Kontrolle der wirksamen
sozio-politischen Kräfte begleitet ist. Dies war damals noch weniger der Fall als heute862.
Auch in Stresemanns außenpolitischer Konzeption kam der Wirtschaft eine
zentrale Rolle zu. Die Wirtschaft bildete das wichtigste Mittel zur Revision:
Wirtschaftliche Vernunft werde die offensichtlich ökonomisch unsinnigen
Bestimmungen der Friedensverträge aufzuheben helfen, und die wirtschaftliche Macht Deutschlands könne dazu genutzt werden, die Revision voranzutreiben, indem beispielsweise durch den Krieg verlorene Gebiete mehr oder
weniger zurückgekauft würden.
860
NormanWUTSRONMLHGEDCA
A N G E L L , The Great Illusion.zywvutsrponmlkihgfedcbaZWTSRPNMLJHFEDBA
Α Study of the Relation of Military Power to Na
tional Advantage, London,RMLIE
1910. Ein Zusammenfassung der wichtigsten Thesen Angells
findet sich in: J. D. B. MILLER, Norman Angell and the Futility of War. Peace and the Public
Mind, Houndsmills u.a. 1 9 8 6 , S. 2 5 3 3 . Zur Perzeption des Werkes in der Öffentlichkeit
siehe Barbara W. T U C H M A N , The Guns of August, Neuauflage [ohne Zählung], New York
1994, S. 10. Zum Einfluß des Liberalismus auf die internationalen Beziehungen: Lucian M.
A S H W O R T H , Creating International Studies. Angell, Mitrany and the Liberal Tradition, Aldershot u.a. 1999.
861
Siehe W U R M , Rolle Deutschlands, S. 1 6 0 ; D E R S . , Sicherheitspolitik, S. 5 5 5 .
862
W U R M , Sicherheitspolitik, S. 5 5 5 .
334
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Die Versuche, das Weltwirtschaftssystem nach dem Ersten Weltkrieg zu li
beralisieren, wurde durch schwerwiegende Strukturprobleme behindert863.
Frankreich hatte mit Kriegszerstφrungen fertig zu werden, die vor allem die
wirtschaftlich hochentwickelten Gebiete Nord und Ostfrankreichs betroffen
hatten. Die Kosten f٧r deren Wiederaufbau betrugen 22,484 Mrd. GM864. Die
hohen Sozialleistungen f٧r Kriegsversehrte, witwen und waisen865 sowie die
Umstellung von der Kriegs auf die Friedenswirtschaft bereiteten Schwierig
keiten, zumal die wirtschaftliche Beanspruchung der europδischen Volkswirt
schaften wδhrend des Krieges dazu gef٧hrt hatte, daß außereuropäische Länder, gewissermaßen im Windschatten des Krieges, eigene, konkurrenzfähige
Industrien aufgebaut hatten, die die Vormachtstellung Europas auf wirtschaftlichem Gebiet zu unterminieren drohten866. Der durch den Krieg unterbrochene Handel konnte nur mühsam wieder in Gang kommen, auch weil durch die
wirtschaftliche Abschottung der neuen, aus der Erbmasse der Habsburgermonarchie und des Zarenreiches entstandenen Staaten Mittel- und Osteuropas
ein zuvor relativ einheitlicher Wirtschaftsraum zerstört worden war867. Im
Versailler Vertrag und den anderen Vorortverträgen wurde die wirtschaftliche
Reorganisation Europas weitgehend versäumt868. Auch das Weltwährungssystem, das vor dem Krieg auf dem Goldstandard beruht hatte869, konnte nur
eingeschränkt wiederhergestellt werden870. Insgesamt fehlte der Weltwirtschaft die Leitung, die vor dem Krieg von Großbritannien als informeller,
863
Vgl. die bibliographischen Angaben in Kapitel 2.
Nach SAUVY, Histoire economique, Bd. 1, S. 209, entspricht diese Summe 27,768 Mrd.
Goldfrancs.
865
Siehe Volker HENTSCHEL, German Economic and Social Policy, in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of Economic and Social
Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of Europe, VIII), S. 752813, hier S. 784f.; DERS., Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880-1980. Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt a. M. 1983, S. 121f.; SAUVY, Histoire 6conomique, Bd. 1,S. 183-197.
866
Siehe FISCHER, Zwischenkriegszeit, S. 27.
867
Siehe AMBROSIUS, Kriegswirtschaft, S. 288f.; Wolfram FISCHER, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat in Europa, 1914-1980, in: DERS. u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen
Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte
vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Stuttgart 1987, S. 1-221, hier S. 151.
868
Siehe DUROSELLE, United States, S. 111.
869
Zur Funktion des Goldstandards vgl. A. G. FORD, International Financial Policy and the
Gold Standard, 1870-1914, in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial
Economies: The Development of Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The
Cambridge Economic History of Europe, VIII), S. 197-249; ELCHENGREEN, Währungssystem, S. 21-68.
870
Siehe D. E. MOGGRIDGE, The Gold Standard and National Financial Policies, 1913-39,
in: Peter MATHIAS, Sidney POLLARD (Hg.), The Industrial Economies: The Development of
Economic and Social Policies, Cambridge u.a. 1989 (The Cambridge Economic History of
Europe, VÜI), S. 250-314, hier S. 277.
864
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
335
nichtsdestotrotz aber zentraler F٧hrungsmacht ausge٧bt worden war. Die USA
konnten oder wollten die entstandene L٧cke nicht f٧llen871.
Neben diesen globalen Strukturproblemen, die hier nur kurz angedeutet
werden kφnnen, wurden die Grundannahmen des liberalen Modells der Frie
denssicherung auch dadurch ersch٧ttert, daß der Liberalismus als Wirtschaftsdoktrin durch die Kriegswirtschaft Konkurrenz von stärker interventionistischen Modellen erfahren hatte872. Das liberale Wirtschaftssystem der
Vorkriegszeit bildete keinen Wert mehr an sich, weil die schwerwiegenden
wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges bewältigt werden mußten873.
Nichtsdestotrotz hatte das Axiom von zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung, die zu mehr Sicherheit führen sollte, Bedeutung für die Gestaltung
des deutsch-französischen Verhältnisses. Bilateral versuchten Deutschland
und Frankreich durch einen Handelsvertrag, über den seit Ende 1924 verhandelt wurde, zu einer liberalen Gestaltung ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu gelangen. Beide Länder beteiligten sich außerdem an den Bemühungen des Völkerbunds für einen freieren Austausch von Waren, Dienstleistungen und
Kapital. Ein großes Hindernis für die Lösung aller wirtschaftlichen Fragen
stellte aber die nach wie vor offene Reparationsfrage dar.
4.2.1. Die Reparationsfrage
Auch nach der Londoner Konferenz vom Sommer 1924 stand die Reparationsfrage der Modernisierung der Außenpolitik im Wege874. Die durch die Reparationen erzeugten wirtschaftlichen Verzerrungen wurden durch den DawesPlan zwar verringert, bestanden grundsätzlich aber fort. Während der Transfermechanismus - durch die Einführung des Amtes des Generalagenten und
des Transferschutzes - zwar verbessert wurde, wurde die Aufbringung der
Reparationen sogar schwieriger. Nach der Stabilisierung der deutschen Währung Ende 1923 verteuerten sich deutsche Produkte so sehr, daß die deutsche
Handelsbilanz in der Folgezeit fast immer negativ war. Die Bezahlung der
Reparationen erfolgte somit faktisch aus der Substanz, eine Tatsache, die
durch den Zustrom ausländischer - vor allem amerikanischer - Kredite nur
verdeckt wurde. Dieses Problem wurde durch die hohen Zollmauern, hinter
denen sich die Siegermächte - und wiederum vor allem die USA - verschanzten, noch verschärft. Es konnte sich kein dauerhaft stabiler Kreislauf entwikkeln, in dem Deutschland seine Reparationen durch Außenhandelsüberschüsse
871
Siehe NIEDHART, Stresemanns Auίenpolitik, S. 422.
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 19.
873
Siehe ibid. S. 29.
874
Vgl. Kap. 3.2.
872
336
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
hδtte bezahlen kφnnen. Der DawesPlan stellte also keine endg٧ltige Lφsung
des Reparationsproblems dar, sondern war bestenfalls eine kurze Atempause.
Bald schon nach dem Londoner Abkommen stand die Frage nach der Mobi
lisierung bzw. der Kommerzialisierung der im Rahmen des DawesPlans auf
gelegten Reichsbahn und Industrieobligationen im Mittelpunkt. Das AA lehn
te die Mobilisierung ab und wollte an dem auf der Londoner Konferenz
erreichten Stand der Reparationsregelung erst einmal nichts δndern. Zum ei
nen geschah dies aus ganz prinzipiellen άberlegungen, denn eine Kommerzia
lisierung der Reparationsschuld w٧rde deren Verringerung praktisch unmφg
lich machen, zum anderen aber auch aus technischen Gr٧nden875: Die
Unterbringung der Reparationsobligationen w٧rde schwierig werden, weil
diese relativ niedrig verzinst wurden, die aktuellen Kapitalmarktsδtze aber
recht hoch waren. Auch die Transferschutzklauseln des DawesPlans w٧rden
dem Kapitaldienst der Obligationen entgegenstehen. Deshalb war f٧r Strese
mann eine Kommerzialisierung nur dann mφglich, wenn die Transferregelun
gen des DawesPlans geδndert w٧rden und diese im Zusammenhang mit der
»Generalbereinigung Ostfragen (Korridor, Oberschlesien) und Westfragen
(besetzte Gebiete und Saargebiet) und niedrige Festsetzung endgiltiger [sie]
Reparationssumme«876 erfolgen w٧rde. Da die Zeit hierf٧r noch nicht reif er
schien, versuchte Hoesch, Berthelot »diese Ideen endg٧ltig auszureden«877.
Bewegung kam auf Seiten des AA in die Reparationsfrage erst ab Sommer
1926878, als sich das Gesprδch von Thoiry abzeichnete und verstδrkt άberle
gungen zu einer »Generalbereinigung« des deutschfranzφsischen Verhδltnis
ses endg٧ltige Reparationsregelung im Gegenzug f٧r eine sofortige R٧ckga
be des Rheinlandes angestellt wurden.
Wδhrend das AA in bezug auf die Reparationen zunδchst zur٧ckhaltend
blieb, war Hjalmar Schacht, seit Dezember 1923 Prδsident der Reichsbank,
um so r٧hriger. Nach der erfolgreichen Wδhrungsstabilisierung genoß Schacht
ein ungeheures Renommee als Finanzexperte im In- und Ausland879. Da die
Reichsbank durch den Dawes-Plan in eine Gesellschaft mit internationaler Beteiligung umgewandelt worden war, war die Position des Reichsbankpräsidenten noch unangreifbarer gegenüber Eingriffen der deutschen Politik. Oft unter
Umgehung der Reichsregierung diskutierte Schacht seine Reparations- und
Finanzpläne mit internationalen Finanzexperten. Besonders engen Kontakt unterhielt er zum Gouverneur der Bank of England, Montagu Norman880. Der
875
Zum folgenden siehe Stresemann an Hoesch (8.12.1925), ADAPsronihedcbaXVSPNIHDA
Β 1,1, Nr. 16.
Ibid.
877
Hoesch an AA (25.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 263
878
SieheUTRONMKGECA
KR٢GER, Außenpolitik, S. 344.
879
Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 206f.
880
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32; Emile MOREAU, Souvenirs d'un gouverneur de la Banque de France. Histoire de la stabilisation du Franc (19261928), Paris 1954, S. 49.
876
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
337
Generalagent f٧r die Reparationen, der Amerikaner Parker Gilbert, schδtzte
Schacht zwar als »tres capable, tres intelligent, mais doue d'un orgueil in
commensurable.wvutsrqponmljihgfedcbaTSRPOMLIHGECBA
Μ. GILBERT [Herv. i.O.] n'a pas entierement confiance en
lui, non plus, atil ajoute en riant, qu'en aucun allemand«881. Schacht verfolg
te dabei, je nachdem, welchem Gesprδchspartner er sich gegen٧ber sah, ver
schiedene Plδne. Dem franzφsischen Mitglied des Verwaltungsrates der
Reichsbank, Charles Sergent882, schlug er vor, daß Deutschland und Frankreich sich in der Reparations- und Schuldenfrage koordinieren sollten, um den
angelsächsischen Mächten eine gemeinsame, sowohl fur Frankreich als auch
für Deutschland wesentlich günstigere Reparations- und Schuldenregelung zu
präsentieren883. Als Gegenleistung für die Zusammenarbeit wollte Schacht
Frankreich das Geld für die Stabilisierung des Franc vorschießen. Sergent verhielt sich gegenüber dem Vorschlag allerdings äußerst zurückhaltend, und er
fand darin Unterstützung bei Seydoux. Eine Modifikation erfuhr der Plan des
Reichsbankpräsidenten in dem Projekt des Belgiers Leon Delacroix, ehemaliger Ministerpräsident, Repräsentant seiner Regierung bei der Reparationskommission und Trustee für die Reichsbahnobligationen884. Delacroix schlug,
vielleicht auf Initiative Schachts, vor, daß im Sommer 1926 eine allgemeine
Konferenz für einen neuen Zahlungsplan, der den Dawes-Plan ersetzen sollte,
stattfinden solle, durch den die Reparations- und Schuldenfrage endgültig geregelt werden würde885: Die USA sollten ihre Schuldforderungen (und damit
auch die Reparationsbelastung) verringern, und Deutschland sollte sich verpflichten, die niedrigere Reparationslast bedingungslos zu zahlen, also faktisch
der Kommerzialisierung der Reparationsschuld zustimmen. Auch eine enge
Zusammenarbeit der Notenbanken strebte Delacroix an886. Dieser letzte Teil
des delacroixschen Vorschlags ist insofern interessant, als er über die alleinige
Regelung des Doppelproblems Schulden/Reparationen hinausweist auf eine
881
Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32.
Sergent konnte dabei als deutschfreundlich gelten, weil er Mitglied des deutschfranzösischen Studienkomitees war (siehe Aufzeichnung Seydoux (21.1.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 388). Als Mitglied des Comit6 Peret und als Vizepräsident der
Banque de l'Union Parisienne war sein Einfluß in französischen Wirtschaftskreisen nicht zu
unterschätzen, vgl. MOLLIER, Ripubliques, S. 481; BURNAUD, Qui etes-vous? 1924, S. 697.
883
»>Croyez-vous que les Americains s'imaginent que vous les paierez? Le jour oü
l'Allemagne et la France se prisenteront devant les Etats-Unis avec un plan commun, les
Amencams l'accepteront, et PAngleterre suivra<«, Aufzeichnung Seydoux (2.12.1925),
MAE PAAP 261, 34. Siehe auch zum folgenden.
884
Siehe BARlßTY, Finances, S. 60f.
885
Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3. Siehe auch zum folgenden.
886
Siehe ibid.
882
338
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
internationale Kooperation der Zentralbanken887, eine Rolle, die Schacht im
Rahmen der Verhandlungen zum YoungPlan der zu errichtenden Bank f٧r
Internationalen Zahlungsausgleich zuweisen wollte. Die Ideen Delacroix wur
den, wie es scheint, ernsthaft in Erwδgung gezogen, scheiterten jedoch Anfang
des Jahres 1926. Weitere Ideen Schachts waren der R٧ckkauf Eupen
Malmedys, und der Kauf einer Kolonie von Frankreich888 die Kaufsumme
hδtte ebenfalls der franzφsischen Wδhrungssanierung dienen kφnnen oder
von Portugal, das ebenfalls finanziell in der Misere steckte889. Allerdings lehn
te nicht nur Frankreich diese Vorschlδge als inakzeptabel ab, sondern auch
Norman, der den Transfermechanismus des DawesPlans durch den Fluß großer Devisenströme neben den eigentlichen Reparationen gefährdet sah890. Ein
weiterer Plan Schachts sah die sofortige Mobilisierung der Reparationsobligationen fur eine grundlegende Revision des Dawes-Plans, die Verringerung der
Reparationsschuld auf 20 Mrd. GM und die Rückgabe des Rheinlandes vor891.
Dieser Plan schien die Unterstützung der deutschstämmigen US-Banken
Speyer & Co. sowie Kuhn, Loeb & Co. zu haben892. Bei aller Verschiedenheit
der schachtschen Pläne sind zwei wesentliche Gemeinsamkeiten festzustellen:
Er versuchte entweder, die Gesamtbelastung der Reparationen wesentlich zu
verringern, oder die Lösung der Reparationsfrage dazu zu benutzen, Vorteile
für die deutsche Seite auf anderen Feldern der Revisionspolitik (beispielsweise
den Erwerb von Kolonien oder den Abzug der Besatzungstruppen aus dem
Rheinland) zu erlangen. Die Ergänzungen, die er an diesen beiden Grundkonzepten vornahm, zielten vor allem darauf ab, die Attraktivität seiner Vorschläge bei den jeweiligen Gesprächspartnern zu erhöhen.
Innerhalb des Quai d'Orsay gab es, wie es scheint, zwei nur mäßig miteinander koordinierte Konzepte bezüglich der Mobilisierung. Berthelot893, Bri887
Zur Kooperation der Zentralbanken vgl. OlivierYWVTRONMLKIGFEDCBA
FEIERTAG, Banques centrales et relations
internationales au XX* siecle. Le problfeme historique de la cooperation mondtaire internationale, in: Relations internationales 100 (1999), S. 355-376, hier S. 355-370.
888
Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36; Aufzeichnung Seydoux
(23.6.1926), MAE PAAP 261, 36.
889
Siehe Aufzeichnung Ebert (2.12.1924), Friedrich EBERT jr. (Hg.), Friedrich Ebert: Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten Erinnerungen aus dem Nachlaß, 2 Bde.,
Dresden 1926, Bd. 2, S. 346-348.
8,0
Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36. Zusammenfassend Eckhard W A N D E L , Die Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika fur das deutsche Reparationsproblem 1924-1929, Tübingen 1971 (Diss. Tübingen 1970, Tübinger Wissenschaftliche Abhandlungen, 11), S. 70-72.
891
Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
892
Siehe ibid. Zur Bedeutung der beiden Bankhäuser vor dem Ersten Weltkrieg heißt es:
»With the possible exception of Speyer & Co., no other pre-World War I American issuer of
foreign securities matched Morgan & Co. and Kuhn, Loeb's records, either in the size or in
the geographical spread of their offerings«, Rondo C A M E R O N , V. I. B O V Y K I N (Hg.), International Banking 1870-1914, New York, Oxford 1991, S. 60.
893
Siehe Hoesch an AA (12.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 237.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
339
and894 und Laroche895 vertraten die Idee, im Gegenzug f٧r die Kommerziali
sierung der Reparationsanleihen der fr٧hzeitigen Rδumung des Rheinlandes
zuzustimmen. Besonders Berthelot schien der Motor dieser Idee zu sein896, die
er durch den Journalisten Jules Sauerwein in der regierungsnahen Zeitung
»Matin« Ende 1925 auch in der Φffentlichkeit propagieren ließ897. Seydoux'
Überlegungen für die Kommerzialisierung gingen dagegen in eine etwas andere Richtung. Übereinstimmend mit Berthelot und Briand hielt zwar auch er die
Kommerzialisierung der Reparationsbonds für notwendig, um den deutschen
Reparationsschulden ihren politischen Charakter zu nehmen und diese endgültig festzuschreiben898, zumal ihn beunruhigte, daß das zunehmende Volumen
deutscher Anleihen in den USA die Reparationstransfers beeinträchtigen
könnte (was ja durchaus auch deutsches Kalkül war)899. Ebenso stimmte er mit
seinen Vorgesetzten darin überein, daß die Mobilisierung dazu genutzt werden
konnte, den Franc zu stabilisieren, dessen Wertverfall sich seit Anfang 1926
bedrohlich beschleunigte900. Allerdings vertrat er den Standpunkt, daß Deutschland keinerlei Anspruch darauf habe, Gegenleistungen für die Mobilisierung
zu fordern, weil diese integraler Bestandteil des Dawes-Plans sei901. Auch
wollte er nur einen kleinen Teil der Anleihen kommerzialisieren, genug, um
den Franc zu stützen, aber nicht so viel, daß eine grundsätzliche Revision des
Dawes-Plans und der Bestimmungen des Versailler Vertrags (vor allem hinsichtlich des Rheinlands) von den Deutschen würde gefordert werden902.
Außerdem ging er - richtigerweise - davon aus, daß die vollständige Mobilisierung aller Reparationsobligationen von den USA mit Sicherheit und unter
Umständen auch von Großbritannien abgelehnt werden würde903. Die Teilmobilisierung war nach Seydoux' Auffassung auch deshalb wünschenswert, weil
der Dawes-Plan vorteilhaft für Frankreich war und deshalb solange wie möglich beibehalten werden sollte904. Nach Abzug der Schuldenzahlungen an die
Vereinigten Staaten und England (780 Mio. GM) würde Frankreich, wenn die
maximale Annuität des Dawes-Plans 1928 erreicht werden würde, immer noch
894
»Briand himself privately indicated an interest in the scheme in early December [1925,
R.B.]«, JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 86.
895
So Laroche gegenüber Wigram, siehe Aufzeichnung Wigram (5.11.1925), DBFPzyxwutsrqponmlkih
ΙΑ I,
Nr. 66. Jules Laroche war zu diesem Zeitpunkt Directeur des affaires politiques et commer
ciales, siehe Annuaire diplomatique 1928, S. 284.
896
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 374.
897
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 407.
898
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.4.1925), MAE PAAP 261, 32.
899
Siehe ibid.
900
Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.7.1926), MAE PAAP 261, 36.
901
Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
902
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 418.
903
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35.
904
Siehe Seydoux an Berthelot (24.9.1926), MAE PAAP 261,4.
340
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
einen άberschuß von 520 Mio. GM pro Jahr erhalten905 - bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung der Rheinlandbesetzung und der Dawes-Kontrollen. Fände
jedoch jetzt - 1926 - die Mobilisierung der Reparationsschuld und damit die
Revision des Dawes-Plans statt, sei dagegen zu erwarten, daß die Reparationen auf dem Niveau dieses Jahres festgeschrieben würden. Gemäß dem Dawes-Plan betrug die Annuität in diesem Jahr jedoch nur 1,22 Mrd. GM, so daß
der französische Anteil an den Reparationen niedriger sei als die fällige
Schuldenrückzahlung an die USA und England906. Auch würden das Rheinland und die Dawes-Kontrollen bei einer vollständigen Mobilisierung aufgegeben werden müssen. Ein Zusammengehen mit Deutschland, um gemeinsam
zu einer Reduzierung der Kriegsschulden und Reparationen zu kommen - so
wie Schacht dies gegenüber Sergent vorgeschlagen hatte, lehnte Seydoux ab.
Er schätzte die Chancen für den Erfolg als zu gering ein, zumal Frankreich ja
auch anderweitig auf die angelsächsischen Mächte - vor allem in der Sicherheitsfrage - angewiesen war907. Das französische Finanzministerium bewegte
sich auf einer noch vorsichtigeren Linie als Seydoux908: Ein zu starkes Drängen Frankreichs auf die Mobilisierung würde die Deutschen dazu verleiten,
überzogene Konzessionen dafür zu fordern, die langfristig Frankreichs Interessen schadeten. Wie Gilbert und der höchste Beamte des englischen Treasury, Sir Otto Niemeyer, wies es darauf hin, daß bei der niedrigen Verzinsung
der Anleihen diese nur unter Wert verkauft werden könnten. Clement Moret,
als Directeur du mouvement general des fonds einer der wichtigsten Beamten
im französischen Finanzministerium, bemerkte außerdem, daß im Falle einer
Mobilisierung der Verhandlungsspielraum Frankreichs bei den Kriegsschulden
beschränkt würde. Deshalb sollte erst dann mobilisiert werden, wenn ein
Schuldenabkommen mit den USA und England erreicht worden sei909.
Wie stand aber die Regierung in Washington, die in der Kriegsschuldenund Reparationsfrage die zentrale Stellung hatte, zur Mobilisierung? Einer der
hartnäckigsten Gegner der Mobilisierung war der Unterstaatssekretär im amerikanischen Schatzamt und Sekretär der mit allen Fragen der Kriegsschulden
befaßten World War Foreign Debt Commission910, GerrardvtsrponmlkihedcbaWSNFA
Β. Winston911. Al
905
Nach dem Abkommen von Spa erhielt Frankreich 52 % der Annuität von 2,5 Mrd. GM,
also etwa 1,3 Mrd. GM. Zur Entwicklung der Annuitäten des Dawes-Plans siehe Lucien
PETIT, Histoire des finances ext6rieures de la France. Le reglement des dettes interalli6es
(1919-1929), Paris 1932, S. 662f.
906
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35.
907
Siehe Aufzeichnung Seydoux (2.12.1926), MAE PAAP 261, 34.
908
Vgl. hierzu WURM, Sicherheitspolitik, S. 414-^16.
909
Siehe ibid. S. 415.
910
Die World War Foreign Debt Commission bestand aus fünf Mitgliedern unter Vorsitz des
Secretary of the Treasury und war zuständig »to refund or to convert, and to extent the time
of payment of the principal or the interest, or both, of any obligation of any foreign Government now held by the United States of America«, Combined Annual Reports, S. 88.
9,1
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
341
lerdings wollten auch seine Vorgesetzten, der Secretary of the Treasury, An
drew Mellon, und Prδsident Coolidge die Mobilisierung so lange wie mφglich
verhindern912. In der ersten Hδlfte des Jahres 1926 ging es der amerikanischen
Regierung akut darum, zu verhindern, daß sich die Franzosen, die sich von der
Mobilisierung die dringend benötigten Ressourcen für die Währungssanierung
versprachen, von den deutschen Gegenforderungen übervorteilen ließen913.
Denn dies hätte für die USA zur Folge gehabt, daß auch die Rückzahlung der
französischen Kriegsschulden schwieriger geworden wäre914. Daneben war die
Frage der Mobilisierung ein Druckmittel in den Händen der US-Regierung,
Frankreich zur Ratifizierung des am 29. April 1926 geschlossenen Schuldenabkommens915 zu zwingen916. Darüber hinaus aber war die Offenhaltung der
Reparationsfrage deshalb im amerikanischen Interesse, weil sie generell die
Einflußnahme auf Europa ermöglichte, ohne unbequeme politische Bindungen
eingehen zu müssen. Auch innenpolitisch war es für die US-Administration
beinahe unmöglich, eine umfassende Schuldenreduzierung durchzusetzen. Ein
Präsident, der einer nachhaltigen Verringerung der Kriegsschulden zugestimmt hätte, »would have a most difficult time and would probably invite
disaster to his party«917.
Reparationsagent Parker Gilbert machte sich in vielerlei Hinsicht zum
Sprachrohr der amerikanischen Regierung und betonte gegenüber Seydoux,
daß eine Mobilisierung der Reparationsanleihen, gar ohne deutsche Zustimmung, nicht möglich sei918. Allerdings schien er etwas weniger rigide eingestellt zu sein als die Administration in Washington. Gilbert versprach Seydoux, sich um die Mobilisierung einer ersten Tranche von 100 Mio. Dollar
einzusetzen, unter der Bedingung, daß Frankreich das Geld zur Stabilisierung
seiner Währung benutzen und einen konkreten Plan zur Währungsstabilisierung vorlegen würde919.
Die letzte Gruppe einflußreicher Akteure, die es im Zusammenhang mit der
Frage der Mobilisierung zu betrachten gilt, sind die internationalen Finanzkreise. Dabei muß zwischen den Zentralbanken und den Geschäftsbanken differenziert werden. Die Zentralbanken hatten vor allem ein Interesse an der
Stabilität des Geldwertes und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eines
Landes. Die Geschäftsbanken hingegen verfolgten vor allem ein Ziel, nämlich
912
Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (18.5.1926), MAE PAAP 261, 35.
914
Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36.
915
ΡΕΉΤ, Finances ext6rieures, S. 671—677.
Text des Abkommens in:zyxutsrponlkihgfedcbaTSPOMHGFECBA
916
Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.4.1926), MAE PAAP 261, 35.
917
Bentley Τ. MOTT, Myron T. Herrick, Friend of France. An Autobiographical Biography,
Garden City 1929, S. 274.
918
Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3; Aufzeichnung Seydoux
(8.7.1926), MAE PAAP 261, 36.
919
Siehe Aufzeichnung Seydoux (8.12.1925), MAE PAAP 261, 3.
913
342
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
die Gewinnmaximierung, wobei es wiederum zu unterscheiden gilt zwischen
Banken, die sich auf den Verkauf auslδndischer Staatspapiere spezialisierten,
und Banken, deren Schwerpunkt auf dem inlδndischen Geschδft lag. Letztere
d٧rften einer Kommerzialisierung von auslδndischen Anleihen auf dem heimi
schen Markt ablehnend gegen٧berstehen, weil diese Konkurrenz f٧r heimische
Anleihen und Wertpapiere darstellten. Banken dagegen, die ٧ber gute Aus
landsverbindungen verf٧gten, traten f٧r die Mobilisierung ein, weil sie sich
davon gute Geschδfte versprachen, so zum Beispiel das Bankhaus Dillon,
Read & Co.920. Dillon versuchte dadurch, den Konkurrenten Morgan, der fast
exklusiv Geschδfte mit der franzφsischen Regierung machte, aus diesem lukra
tiven Markt zu drδngen921 und bem٧hte sich außerdem, der »Bankier Deutschlands«922 zu werden. Das Bankhaus Morgan hingegen, das bereits vor dem
Ersten Weltkrieg in großem Umfang englische Staatspapiere in Amerika untergebracht hatte923 und über enge Kontakte zur Bank of England verfügte924,
vertrat ganz die vorsichtige Linie Normans925. Andere Banken wiederum, die
den deutschen Interessen nahestanden - wie die bereits erwähnten US-Banken
Speyer & Co. und Kuhn, Loeb & Co. - , unterstützten die Auffassung der deutschen Seite und waren entsprechend optimistischer, was die Aufnahmefähigkeit des amerikanischen Kapitalmarktes für die Reparationsanleihen anging926.
Diese Interessenlage spiegelte sich auch Ende des Jahres 1925/Anfang 1926
wider, als die Frage der Mobilisierung in Finanzkreisen akut wurde. Norman,
Governor der Bank of England - der dabei ganz im Einklang mit dem Controller des englischen Treasury, Niemeyer, handelte927 - , und Strong von der Fe920
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.7.1926), ADAPutsrponmlihgfedcbaZWSRPNMLED
Β 1,1, Nr. 275; Stresemann an
Schubert (12.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 276.
921
Siehe WANDEL, Reparationsproblem, S. 64. Anfang 1924 hatte Morgan der französischen
Regierung mit einem 100 Mio. US-Dollar Kredit geholfen, den Franc-Verfall abzubremsen,
siehe LEFFLER, Quest, S. 100.
922
Siehe Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36.
923
Siehe CAMERON, International Banking, S. 60.
924
Seydoux bemerkt hierzu: »on sait d'intimite qui existe entre M. JAY [Herv. i.O.], de la
Banque Morgan, et le Directeur de la Banque d'Angleterre«, Aufzeichnung Seydoux
(25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
925
Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36.
926
Undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [27.9.1926], ADAP Β 1,2, Nr. 114.
927
Zum Einfluß Niemeyers und Normans auf die englische Finanzpolitik heißt es u.a.: »the
controller was directly responsible, as his principal adviser on all financial matters, to the
Chancellor of the Exchequer. The most important and controversial episode during Niemeyer's controllership was the return of the sterling to the gold standard, at pre-war parity.
The influence of Niemeyer and Montagu [...] Norman [...] in this matter was vital. (Sir)
Winston Churchill, as chancellor, was no financial expert and on such matter relied heavily
on Niemeyer« D.N.B., 1971-1980, S. 632. Auf Anstoß Normans wechselte Niemeyer 1927
zur Bank of England, siehe ibid. Seydoux ging in allen internationalen Finanzfragen von
einem »concert parfait [...] entre la Trfsorerie britannique et la Banque d'Angleterre« aus,
Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
343
deral Reserve Bank of New York, standen der Mobilisierung der Eisenbahn
obligationen einerseits skeptisch gegen٧ber, weil sie die Finanzmδrkte f٧r
٧bersδttigt hielten928. Andererseits strebten sie zur Konsolidierung der Welt
wirtschaft auch die endg٧ltige Regelung der Reparations und Schuldenfrage
an. Allerdings sollte dies erst geschehen, wenn der Franc stabilisiert und die
langfristige wirtschaftliche Entwicklung Europas absehbar wδre929. Grund da
f٧r, die Mobilisierung auf die Zeit nach der Francstabilisierung zu verschie
ben, war zum einen, daß befurchtet wurde - wie Gilbert sich gegenüber Maltzan ausdrückte - , daß der Erlös aus der Kommerzialisierung »im Kessel
französischer Inflation spurlos verschwinde«930. Zum anderen nutzte auch
England den Druck, der sich auf Frankreich in dessen finanzpolitisch desolater
Lage durch die Mobilisierungsfrage ausüben ließ, um es zum Abschluß eines
Schuldenabkommens zu zwingen931. Für England war dies um so dringlicher,
weil es selbst bereits seine Kriegsschulden bei den USA am 19. Juni 1923
konsolidiert hatte932. Trotz der weitverbreiteten Skepsis kam es am 31. Dezember 1925 dennoch zu einem Gespräch zwischen Mellon, Norman, Gilbert
und Strong, in dessen Mittelpunkt die Lösung der französischen Währungskrise durch die teilweise Mobilisierung der deutschen Reparationsobligationen
stand933. Die Zustimmung Deutschlands zur Kommerzialisierung einer ersten
Tranche sollte dadurch erreicht werden, daß die Reparationslast verringert
werden sollte. Der Erlös der Aktion sollte der Stabilisierung des Franc dienen.
Bedingung jedoch war ein Plan für die Sanierung der französischen Währung
und eine Regelung der Kriegsschulden. In einem weiteren Gespräch zwischen
Gilbert, Norman, dem Gouverneur der Banque de Belgique, Fernand Hautain,
und dem französischen Botschafter in den USA, Henry Berenger, schien es
um das gleiche Thema gegangen zu sein934. Die amerikanischen Bankiers
lehnten solche Pläne jedoch ab, wobei aus Seydoux' Aufzeichnung nicht klar
wird, ob es sich um Vertreter der Zentral- oder der Geschäftsbanken handelte935. Allerdings dürfte der Konflikt vermutlich zwischen den Notenbanken und
eventuell beteiligten Geschäftsbanken bestanden haben, die letztendlich für die
Unterbringung der Obligationen auf den Finanzmärkten zuständig gewesen
wären. Interessanterweise waren keine Vertreter der Banque de France bei diesen Gesprächen anwesend. Seydoux sah darin Normans wichtigstes Ziel erreicht,
SieheWURM
WURM, Sicherheitspolitik, S. 415f.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
930
Maltzan an AA (11.1.1926), ADAPzyxutsrponmlkihgfedcbaTSRPNMECA
Β 1,1, Nr. 33.
931
Siehe Aufzeichnung Seydoux (16.3.1926), MAE PAAP 261,4.
932
Text des Abkommens siehe Combined Annual Reports, S. 106113.
933
Gemäß einer Abschrift aus: The Chronicle (9.1.1926), Fundort: BdF 13702000008/175.
934
S. Abschrift aus: The New York Herald (1.1.1926), Fundort: BdF 1370200008/175.
935
S. Aufzeichnung Seydoux (10.1.1926), MAE PAAP 261, 35.
928
929
344
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
c'estδdire la direction des finances du monde, par un petit organisme composi des Direc
teurs des grandes Banques d'Emission. [...] la France est le sujet friquent de ces conversa
tions et toutes ces questions se traitent en dehors de nous parce que, comme a ditronmaN
Norman
[Herv. i.O.], >je traite avec mes collogues des grandes banques, qui sont des organismes in
d6pendants. Mais la Banque de France n'est pas ind6pendante, c'est un organisme d'Etat, je
traiterai avec eile lorsqu'elle aura recouvrd cette ind6pendance<936.
Das Verhalten Normans und der angloamerikanischen Banken d٧rfte nicht
unwesentlich dazu beigetragen haben, daß Briand im September 1926 versuchte, nicht mehr eine internationale, sondern eine deutsch-französische Lösung fur die Mobilisierung der Eisenbahnobligationen zu finden937 und sich
Poincare verstärkt bemühte, aus eigener Kraft die Stabilisierung des Franc
herbeizufuhren938".
Betrachtet man die grundsätzlichen Einstellungen der verschiedenen Akteure zur Mobilisierungsfrage, so bleibt festzustellen, daß die Aussichten für
Frankreich, die Obligationen zu eigenen Bedingungen zu kommerzialisieren,
äußerst gering waren, was sich auch in den konkreten Verhandlungen bestätigte. Bereits kurz nachdem der Dawes-Plan verabschiedet worden war, versuchten Frankreich und Belgien, die Reparationsanleihen - diese hatten ein Volumen von 16 Mrd. GM - auf den internationalen Finanzmärkten zu platzieren.
Hauptmotiv dafür war, den Reparationen ihren politischen Charakter zu nehmen, um dadurch zu verhindern, daß diese gewissermaßen durch einen Federstrich verringert oder gar völlig wegfallen würden. Ende 1925/Anfang 1926
spielten dann - parallel zu dem sich verstärkenden Verfall des belgischen und
französischen Franc - auch finanzpolitische Überlegungen eine Rolle: Die
Obligationen wurden zunehmend als ein Mittel entdeckt, die notwendigen Devisen zur Währungssanierung zu beschaffen939. Da die Kommerzialisierung
also aus verschiedenen Gründen für die französische Regierung reizvoll war,
legte diese zusammen mit Belgien bereits Ende 1924 einen Plan für den Verkauf der deutschen Obligationen vor, der jedoch sowohl von der Reichsregierung als auch vom Transferkomitee abgelehnt wurde940. Eine Initiative
Clementeis, der auf einer Konferenz der alliierten Finanzminister vorgeschlagen hatte, eine erste Tranche der Obligationen zu verkaufen, scheiterte am
Widerstand seiner Kollegen941. Zu diesem Zeitpunkt waren es allerdings nicht
nur die mangelnde Aufnahmefähigkeit der internationalen Finanzmärkte, die
936
Aufzeichnung Seydoux (25.2.1926), MAE PAAP 261, 35.
Vgl. die unten folgenden Ausführungen zu Thoiry.
938
»He [Poincard, R.B.] is dallying with the idea of the German railroad bonds not only as a
means of keeping out of the hands of the Anglo-Saxon financiers, whom he dislikes, but also
as being in line with his doctrine that France can save herself«, Whitehouse an Kellogg
(7.10.1926), FRUS 1926,utsrponmlkihgfedcbaWUSRPMEBA
Π, S. 106f.
939
Siehe Briand an Poincar6 (20.8.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398.
940
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 400.
94
' Siehe ibid.
937
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
345
vor allem die angelsδchsischen Mδchte davor zur٧ckschrecken ließ, einer
Mobilisierung zuzustimmen, sondern die Anfang 1925 auch noch völlig ungeklärte Sicherheitslage in bezug auf die Kölner Zone942.
Nach diesem Mißerfolg ging bis Mitte 1925 selbst in Frankreich das Interesse an der Kommerzialisierung zurück. Erst im Herbst begann man sich in Paris
wieder intensiver damit zu befassen, was mehrere Gründe hatte943: Der Wertverlust des Franc beschleunigte sich, nachdem es nicht gelungen war, eine
neue Anleihe in Frankreich, die zur Konsolidierung der Kriegsschulden gedacht war, unterzubringen. Auch Auslandsanleihen waren keine Option: Die
Politik der US-Regierung war es, keinem Land neue Auslandskredite zu gewähren, das nicht seine Kriegsschulden gegenüber Amerika konsolidiert hatte.
Der amerikanische Kapitalmarkt blieb deshalb französischen Kreditwünschen
verschlossen. Die Obligationen wurden somit als Mittel zur Devisenbeschaffung immer attraktiver, zumal die politischen Probleme, die noch Anfang des
Jahres bestanden hatten (Sicherheitsproblem und Räumung der Kölner Zone),
durch Locarno gelöst erschienen. Außerdem mußte das über Erwarten gute
Geschäftsergebnis der Reichsbahn die Reichsbahnobligationen in französischen Augen zu einem guten Anlageobjekt machen.
In diesen Zeitraum fielen die Gespräche, die Seydoux mit Gilbert über die
Mobilisierung gefuhrt hatte, und die Pläne Delacroix' für eine Gesamtregelung
des Schulden- und Reparationsproblems, die ja auch Gegenstand der Gespräche einiger Zentralbankchefs, Gilberts und der amerikanischen Regierung gewesen waren, wie oben dargestellt wurde. Zur gleichen Zeit schlug Berthelot
Hoesch vor, die Räumung des Rheinlandes zu beschleunigen, wenn Deutschland im Gegenzug einer Mobilisierung der Anleihen zustimme944. Oswald
Hesnard, Vertrauter Briands und eine Art französischer Nebenbotschafter in
Berlin, eröffnete im gleichen Sinne Stresemann Anfang Dezember eine »Gesamtlösung« der deutsch-französischen Probleme und befürwortete eine Reise
des deutschen Außenministers nach Paris, um dort über den Gesamtkomplex
von Mobilisierung und Räumung zu verhandeln945.
Die deutsche Seite blieb zunächst jedoch skeptisch: Zum einen teilte man in
Berlin die technischen Bedenken, die die Amerikaner und Engländer hinsichtlich der Mobilisierung hatten, also vpr allem die Möglichkeit, die Anleihen
ohne Verlust auf den internationalen Finanzmärkten zu piazieren946. Zum anderen ging Berlin die Räumung des Rheinlands als Zugeständnis fur die Mobilisierung nicht weit genug: Eine Räumung sei nur möglich, wenn die Transfermechanismen des Dawes-Plans geändert, eine »Generalbereinigung« auch
942
Siehe Aufzeichnung Seydoux (3.6.1925), MAE PAAP 261, 3.
Zum folgenden siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 404f.
944
Siehe POULAIN, Vorgeschichte, S. 91.
945
Siehe Aufzeichnung Kempner (8.12.1925), ADAPtsronmihecaSPNHDA
Β 1,1, Nr. 15.
946
Siehe Stresemann an Hoesch (8.12.1925), ADAP Β1,1, Nr. 16.
943
346
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
hinsichtlich Polens (d.h. die R٧ckkehr des Korridors und Danzigs zu Deutsch
land) und des Saargebiets erfolgen und die endg٧ltige Reparationssumme
mφglichst niedrig festgelegt w٧rde947.
Wegen der deutschen Zur٧ckhaltung in dieser Frage und weil die Zustim
mung der USA zu einer Mobilisierung notwendig sein w٧rde, verlegte sich die
franzφsische Regierung nun darauf, zunδchst zu einer Lφsung der Schulden
frage zu kommen. Am 29. April 1926 konnte ein entsprechendes Abkommen
zwischen dem amerikanischen Finanzminister Andrew Mellon und dem fran
zφsischen Botschafter in Washington, Henry Berenger, unterzeichnet wer
den948. Die Hoffnungen, die Frankreich in das Abkommen gesetzt hatte, erf٧ll
ten sich jedoch nicht. Trotz der Anerkennung der Kriegsschulden durch
Frankreich weigerten sich die Vereinigten Staaten weiterhin, Kredite zu ge
wδhren, solange kein verbindlicher Plan zur FrancStabilisierung vorgelegt
wurde949. Außerdem verlangten sie, daß das Schuldenabkommen erst vom
französischen Parlament ratifiziert werde, bevor Kredite vergeben werden
sollten950. Frankreich wiederum erklärte, daß eine Ratifizierung des Schuldenabkommens durch eine Teilmobilisierung der Reparationsanleihen erleichtert
würde951. Nachdem die (vorläufige) Regelung der Schuldenfrage also kaum
positive Effekte auf die französische Finanzlage hatte, gewannen Überlegungen für ein deutsch-französisches Arrangement in der Frage der Mobilisierung
wieder an Bedeutung952.
Die Reichsregierung lehnte dies jedoch weiterhin ab. Der Staatssekretär im
Reichsfinanzministerium und Vorsitzende der Kriegslastenkommission, David
Fischer, äußerte gegenüber der Reichskanzlei seine Bedenken hinsichtlich einer Kommerzialisierung der Reparationsobligationen953: Die Einstellung der
USA hinsichtlich der Mobilisierung habe sich nicht grundsätzlich geändert. Da
außerdem das Schuldenabkommen zwischen den USA und Frankreich zu
»sehr drückendefn] Verpflichtungen«954 für Paris geführt habe, sei zu erwarten, daß Frankreich die deutsche Reparationsschuld ebenfalls nur in kleinem
Umfang verringern werde. Für Fischer sprach gegen eine Kommerzialisierung
ferner, daß die Erfahrungen mit dem Dawes-Plan und mit dem Transfer großer
Devisensummen noch nicht ausreichten, um zu einer endgültigen Regelung
der Reparationsfrage zu gelangen. Auch Abgeordnete des Reichstags, von den
Demokraten bis hin zur DNVP, äußerten sich ablehnend bezüglich der Kom947
Siehe ibid.
Text des Abkommens in: PETIT, Finances extirieures, S. 671-677.
949
Siehe Aufzeichnung Seydoux (24.6.1926), MAE PAAP 261, 36.
950
Siehe Aufzeichnung Seydoux (26.7.1926), MAE PAAP 261,4.
951
Siehe Aufzeichnung Seydoux (6.8.1926), MAE PAAP 261, 36; Poincare an Briand
(24.8.1926), MAE 1918-1929zutsrponmlkihgfedcbaWUSRPNMKIFEDA
Ζ (Europe) Allemagne, 398.
952
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 418.
953
Siehe Fischer an Kempner (10.5.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 216, siehe auch zum folgenden.
954
Ibid.
948
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
347
merzialisierung, wobei dort vor allem der Gesichtspunkt der »άberfremdung«
eine Rolle spielte, falls beispielsweise Reichsbahnobligationen in großem Umfang in die Hände ausländischer Gläubiger gelangten955.
Die pessimistische Einschätzung Fischers und anderer wurde durch eine
Reise Winstons und Strongs nach Berlin gestützt, die - ebenso wie Gilbert und
Norman - die Mobilisierung und die damit einhergehende Revision des
Dawes-Plans ablehnten956.
Da sich die Franc-Krise aber weiter verschärfte, schlug Briand erneut ein
Treffen mit Stresemann vor, »um über alle Fragen zu sprechen, die zu einer
Bereinigung des deutsch-französischen Verhältnisses fuhren könnten«957. Stresemann selbst schien der Idee einer deutsch-französischen Generalbereinigung
nun auch weniger abgeneigt zu sein. Der drohende Sturz der Regierung Briand
hatte ihn vielleicht veranlaßt, mit Frankreich zu einer Einigung zu kommen,
bevor eine neue Regierung, die Deutschland weniger wohlgesonnen war, ins
Amt käme. Jedenfalls schien der deutsche Außenminister jetzt bereit, einer
Kommerzialisierung der Obligationen zuzustimmen, wenn dadurch die vorzeitige Räumung des Rheinlandes, die Änderung des Dawes-Plans und die Verringerung der Gesamtsumme der Reparationen erreicht würde958. Auch sah
Stresemann einen größeren finanzpolitischen Spielraum Deutschlands und
Frankreichs gegenüber den USA, falls sich beide Länder auf eine Regelung
der Kommerzialisierung einigen konnten959.
In der Tat kam es auf französischer Seite nach dem Regierungsantritt Poincares am 23. Juli 1926 zu einem Kurswechsel in der Frage der Mobilisierung
der Reparationsanleihen. Zwischen dem neuen Ministerpräsidenten und seinem Außenminister Briand kam es zu einem Briefwechsel, in dem die verschiedenen Ansichten aufeinandertrafen. Zwar standen sowohl für Briand wie
auch für Poincare bei den Mobilisierungsplänen vor allem die Interessen
Frankreichs im Vordergrund: Die Mobilisierung würde die Verringerung der
deutschen Reparationsschuld unmöglich machen und war deshalb per se ein
Gewinn für Frankreich. Beide waren sich auch darüber einig, daß die Kommerzialisierung die Lösung der französischen Währungskrise erleichtern würde. Uneinigkeit dagegen bestand über das Wie und die Art der deutschen
Beteiligung. Briand versuchte, durch die gleichzeitige Regelung der deutschfranzösischen Probleme (also vor allem die Rheinlandbesetzung), die Kommerzialisierung aktiv zur Verbesserung der deutsch-französischen Beziehun955
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (17.9.1926), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcbaSRPNM
Ζ (Europe) Allema
gne, 398; Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88; BERNHARD, Strese
mann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 15-24; Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2,
Nr. 94.
956
Siehe Aufzeichnung Seydoux (9.6.1926), MAE PAAP 261, 36.
957
Aufzeichnung Schubert (2.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 264.
958
Siehe Margerie an Briand (17.7.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 389.
959
Siehe ibid.
348
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gen zu nutzen. Die Konzession, das Rheinland vorzeitig freizugeben, erschien
ihm dabei unwesentlich: Nach der Mobilisierung hδtte Frankreich die be
setzten Gebiete aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso aufgeben m٧ssen960.
Die Rheinlandbesetzung hatte f٧r Briand dar٧ber hinaus keinen besonderen
Wert. Er hielt sie als Sicherheitsinstrument f٧r untauglich, und je nδher der
seiner Meinung nach unverr٧ckbare Zeitpunkt der R٧ckgabe kam, desto
wertloser mußte sie in den Händen der französischen Diplomatie sein. Jetzt
aber konnte die Rückgabe als große politische Geste genutzt werden, um die
Annäherungspolitik fortzusetzen961. Da Briands Auffassimg nach die Zustimmung Deutschlands zur Mobilisierung wenn auch nicht formal, so jedoch
faktisch notwendig war962, ließen sich bei einer solchen Aktion also mehrere
Probleme gleichzeitig lösen. Poincare ging dagegen davon aus, daß die Zustimmung Deutschlands zur Mobilisierung keineswegs notwendig war,
sondern die Zuständigkeit hierfür allein beim Reparationsagenten und den
Trustees für die Obligationen lag963. Da er - und die zeitgleich stattfindenden
deutsch-belgischen Gespräche über die Rückgabe von Eupen-Malmedy964
dürften sein Mißtrauen diesbezüglich nicht gerade verringert haben - davon
ausging, daß Deutschland die Währungsschwierigkeiten Frankreichs und
seiner Verbündeten dazu ausnutzen würde, Konzessionen bei der Revision des
Versailler Vertrags zu erlangen, kam für ihn ein Entgegenkommen hinsichtlich
der Rheinlandbesetzung überhaupt nicht in Frage965. An der Episode um die
Mobilisierung wird der Unterschied zwischen der Deutschlandpolitik Poincares und der Briands exemplarisch deutlich: Sie bestand nicht in einem Dissens
über die Ziele, sondern in der Methode oder vielleicht besser: des Charakters.
Beiden ging es darum, den Frieden zu sichern, und dieser Friede sollte ein
französischer Friede auf Grundlage des Versailler Vertrags sein. Poincarö, der
Jurist, sah dies nur für möglich an, wenn der Versailler Vertrag sakrosankt
blieb; in der kleinsten Abänderung und Abweichung erblickte er bereits eine
960
Siehe Seydoux an Berthelot (19.8.1926), MAE PAAP 261, 36.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 432.
962
Siehe Briand an Poincarö (20.8.1926), MAE 1918-1929zwvutsrqponmlkihgfedcbaWSPNMKI
Ζ (Europe) Allemagne, 398.
963
Siehe Poincare an Briand (27.8.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398;
Poincar6 an Briand (15.9.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398.
964
Bereits Ende 1924 war es auf belgische Initiative zu Kontakten zwischen Schacht und
dem belgischen Wirtschaftsmagnaten Emile Francqui bezüglich der Rückgabe EupenMalmidys an Deutschland im Gegenzug fur deutsche wirtschaftliche Zugeständnisse an
Belgien gekommen (siehe Aufzeichnung Ebert [2.12.1924], EBERT, Schriften, Bd. 2, S. 346348; Herbette an Briand [17.8.1926], MAE 1918-1929 Ζ [Europe] Allemagne, 398). Bis
zum Sommer 1926 gab es offiziöse Gespräche zwischen Deutschland und Belgien in dieser
Frage, bis die belgische Seite die Verhandlungen abbrach (siehe Aufzeichnung Schubert
[21.8.1928], ADAP Β 1,2, Nr. 53). Hauptsächlich verantwortlich dafür war die französische
Ablehnung (siehe Schubert an die Botschaften London, Paris, Rom und die Gesandtschaft
Brüssel [6.8.1926], ADAP Β 1,2, Nr. 15).
965
Siehe Poincard an Briand (19.8.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398.
961
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
349
Gefahr f٧r die gesamte Nachkriegsordnung, weshalb er pedantisch am Buch
staben des Vertrags festhielt. Briand maß dagegen den Paragraphen wenig
Gewicht zu, für ihn zählte der Geist der Vereinbarung. Sollte man den Deutschen doch Zugeständnisse machen, solange das Wesentliche der Versailler
Nachkriegsordnung Bestand hatte. Dieses Essentielle war seiner Auffassung
nach nicht dadurch zu erreichen, indem man starr auf Rechtsansprüche pochte,
sondern indem man Deutschland davon überzeugte, daß in der neuen Friedensordnung auch Chancen und Möglichkeiten lagen. Vertrat Briand in der
französischen Deutschlandpolitik also das Prinzip des Zuckerbrots, so
schwang Poincare die Peitsche. Beide waren sich jedoch einig darüber, in welche Richtung der Karren gezogen werden sollte. Deshalb fand das ungleiche
Gespann Poincare-Briand in den Jahren 1926 bis 1929 außenpolitisch auch
leidlich zusammen, wie Berthelot gegenüber Schubert erklärte: »Die Herren
Poincarö und Briand ergänzten sich übrigens sehr gut. Sehr oft wollten sie eigentlich dasselbe. Die Schattierung könne er ungefähr folgendermaßen charakterisieren: Herr Briand sage >Ja, aber...<; Herr Poincare sage: >Nein,
weil...<«966.
Die Ausgangslage für eine »Gesamtregelung« der deutsch-französischen
Probleme auf Grundlage eines Geschäftes finanzielle Unterstützung durch
Deutschland (durch die Kommerzialisierung der Reparationsanleihen) für begrenzte Zugeständnisse Frankreichs (in Form der frühzeitigen Räumung des
Rheinlandes) waren also wie folgt: Die angelsächsischen Mächte waren dagegen. Dies hatte zum einen rein technische Gründe, wie die Befürchtung, die
Anleihen nicht auf den Finanzmärkten unterbringen zu können. Darüber hinaus wollten London und Washington verhindern, an Einfluß auf die Politik
sowohl Deutschlands als auch Frankreichs zu verlieren. Für eine allzu enge
deutsch-französische Zusammenarbeit, vor allem auch auf wirtschaftlichem
Gebiet, galt das Diktum Seydoux': »Les Anglais ont une veritable terreur de
nous voir nous rapprocher de rAllemagne«967. Allerdings waren nicht nur
Engländer und Amerikaner gegen ein solches Tauschgeschäft, auch in
Deutschland und in Frankreich selbst gab es unterschiedliche Vorstellungen,
wie die Mobilisierung erfolgen sollte: Poincare, aber auch das Finanzministerium und Seydoux, wollten die Deutschen möglichst gar nicht erst fragen und
lehnten Zugeständnisse jeglicher Art ab. Auch in Deutschland gab es Skeptiker, wie Staatssekretär Fischer, die bezweifelten, daß eine solche Aktion überhaupt durchfuhrbar, geschweige denn wünschenswert sei. Insofern standen die
Chancen für eine »Gesamtregelung« der deutsch-französischen Probleme, wie
sie sich Briand und Stresemann vorstellten, von vornherein relativ schlecht.
Trotz dieser bescheidenen Erfolgsaussichten trafen sich der deutsche und
der französische Außenminister am Rande der Vollversammlung des Völker966
967
Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAPyxuronligfedaVSPNMEA
Β Vffl, Nr. 137.
Seydoux an Margerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41.
350
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
bunds am 17. September 1926 in dem kleinen Bergdorf Thoiry nahe Genf zu
einer Aussprache. Das Treffen ist von beiden Seiten gut dokumentiert968, wo
bei jedoch die unterschiedlichen Schwerpunksetzungen auffallen: Zunδchst
einmal fehlten in den franzφsischen Aufzeichnungen einige Punkte, die in
Stresemanns Zusammenfassung erwδhnt werden (wirtschaftliche Kooperation
gegen٧ber der Sowjetunion, Lage in England und der Tschechoslowakei969).
In den deutschen Aufzeichnungen tauchten jedoch die Versicherungen Stre
semanns, daß der Anschluß Österreichs kein unmittelbares Problem sei, nicht
auf. Die vorzeitige Räumung des Rheinlands wurde in Stresemanns erstem
Protokoll und den französischen Notizen nicht explizit erwähnt, sondern in
den etwas wolkigen Begriff der »Gesamtlösung« bzw. »solution d'ensemble«
gefaßt. Auch hinsichtlich der Einrichtung einer Völkerbundskontrolle zur
Überwachung der Demilitarisierungsbestimmungen im Rheinland gibt es unterschiedliche Darstellungen970.
Die Unterschiede in den beiden Versionen haben sicherlich verschiedene
Ursachen: Wir wissen nicht, wie präzise die Übersetzung Hesnards war, und
für die Aufzeichnungen Stresemanns ist bekannt, daß sie aus dem Gedächtnis
nach der Unterredung gemacht wurden, es sich also nicht um ein Protokoll im
eigentlichen Sinne handelte971. Entscheidend dürften für die unterschiedliche
Gewichtung aber zwei Dinge gewesen sein: Die verschiedenen Interessen einerseits und die daraus resultierende abweichende Interpretation des Gesagten
andererseits. Für Stresemann beispielsweise war der Anschluß Österreichs
kein vorrangiges Revisionsziel972, während diese Frage in Frankreich aufmerksam verfolgt wurde. So erklärt sich, daß sich bei Briand eine diesbezügliche Notiz fand, bei Stresemann nicht.
Was waren nun aber die Ergebnisse der Zusammenkunft von Thoiry? Die
»Vossische Zeitung« schrieb hierzu:
968
Von französischer Seite liegen zwei Aufzeichnung »Notes sur l'entretien de Thoiry« (ohne Unterschrift) (17.9.1926), MAE 1918-1929zywvutsrponmlihgfedcbaYUTSRPNMLIHFED
Ζ (Europe) Allemagne, 398 und »Entretien
de Thoiry« aus der Feder Hesnards (undatiert), MAE PAAP 261, 2 vor. Auf deutscher Seite
gibt es zwei Aufzeichnungen: Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88
und Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 94. Im veröffentlichen Nachlaß
Stresemanns findet sich ein ganzes Kapitel über Thoiry und die Folgen: BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 15-79. Das Gespräch ist außerdem Thema einiger Untersuchungen: Jon JACOBSON, J. T. WALKER, The Impulse for a Franco-German Entente: the
Origins of the Thoiry Conference, in: JContH 10 (1975), S. 157-181; Heinz-Otto SLEBURG,
Das Gespräch zu Thoiry, in: Ernst SCHULIN (Hg.), Gedenkschrift Martin Göhring. Studien
zur Europäischen Geschichte, Wiesbaden 1968, S. 317-337; BARIETY, Finances; POULAIN,
Vorgeschichte.
949
In der späteren Aufzeichnung Stresemanns werden diese Punkte nur am Rande erwähnt.
970
Vgl. Aufzeichnung Stresemann (20.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 94; »Notes sur l'entretien
de Thoiry« (ohne Unterschrift) (17.9.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398.
971
Siehe ADAP Β 1,2, Nr. 88, Anm. 1.
972
Siehe BARLFITY, Relations francoallemandes, S. 22f.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
351
1. Fortscheitende Reduzierung der Stδrke derzutsrponmlkihgfedcbaZSRNMKEBA
Besatzungstruppen [alle Herv. i.O.], Umgrup
pierung mit dem Ziel, die Besetzung unsichtbar zu machen. 2. Räumung der 2. und 3. Zone
im Jahre 1927. 3. Rückgabe des Saargebiets an Deutschland schon im nδchsten Jahre, und
zwar ohne Volksabstimmung. 4. Abschaffung der Militärkontrolle, Aus٧bung der Kontrolle
٧ber Reichswehr und Polizei durch den Vφlkerbund. 5. Kommerzialisierung eines Teils der
deutschen EisenbahnObligationen zugunsten Frankreichs. 6. Wohlwollende Neutralität
Frankreichs bei der spδteren endg٧ltigen Liquidierung der Frage um Eupen und Maimed
Damit waren die Absprachen von Thoiry weitgehend korrekt zusammenge
faίt. Was in dem Zeitungsartikel jedoch nicht genannt wurde, war, wieviel
Deutschland fur die vorzeitige Freigabe von Rheinland und Saargebiet w٧rde
zahlen m٧ssen. Die beiden Auίenminister vereinbarten die Mobilisierung von
deutschen Reparationsobligationen in Höhe von 1,5 Mrd. GM und den Rückkauf der durch den Versailler Vertrag an den französischen Staat übertragenen
Saargruben für weitere 300 Mio. GM.
Während in Deutschland bereits am 27. September 1926 der »ThoiryAusschuß« zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, dem Vertreter aus dem
AA, der Reichskanzlei sowie dem Wirtschafts- und Finanzministerium angehörten974, unterblieben in Frankreich weitergehende Planungen. Dies lag vor
allem an der Ablehnung, auf die der Vorstoß Briands im Kabinett selbst stieß.
Zwar bekannten sich Berthelot und Briand weiterhin zur Gesamtregelung, wie
sie in Thoiry vereinbart worden war975, Poincare und die Minister Tardieu,
Louis Barthou, Bokanowski und vor allem Marin waren jedoch Gegner einer
solchen Aktion976. Gegenüber dem Gouverneur der Banque de France, Emile
Moreau, erklärte der Ministerpräsident:
>Je ne suis pas hostile, en principe, δ 1'evacuation anticipie de la Rhename et de la Sarre,
mais j'exigerai que cette φvacuation soit graduelle et qu'elle soit accompagnφe de la mobili
sation simultanee et complete des obligations Dawes, dont le total s'ileve a 16 milliards de
marksor. Je ne me contenterai pas d'une remise partielle des obligations. En somme,
j'entends pratiquer la politique de donnant, dormant [...] Enfin, je n'6vacuerai dφfinitivement
la Rhdnanie que lorsque seront terminis les travaux militaires, renforipant la ddfense de notre
nouvelle frontifere de l'Est contre une agression allemande<977.
Nicht einmal im Quai d'Orsay war das Projekt des Außenministers unumstritten. Seydoux schrieb an den französischen Botschafter in Brüssel, Maurice
973
»Zweite Begegnung StresemannBriand. Was tut Pomcard?«, Vossische Zeitung (20.9.
1926).
974
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [27.9.1926], ADAPwvutsrponmlihgfedcbaZWVUS
Β 1,2, Nr. 114.
975
Siehe Berthelot an Botschaft Washington (24.9.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Al
lemagne, 398; Briand an Poincard (24.9.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
399.
976
Siehe »Zweite Begegnung StresemannBriand. Was tut Poincar6?«, Vossische Zeitung
(20.9.1926); Rieth an Schubert (24.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 109.
977
MOREAU, Souvenirs, S. 111.
352
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Herbette: »Je tache de freiner tant que je peux dans l'affaire des obligations de
chemins de fer, mais les gens sont tetus«978. In dieser internen Opposition ge
gen die Plδne Briands lag auch eine wesentliche Ursache f٧r das Scheitern von
Thoiry. In dem Maße, in dem es Frankreich gelang, die Währung aus eigener
Kraft zu stabilisieren, rückte der Ratspräsident darüber hinaus auch wieder
prinzipiell von der Mobilisierung der Reparationsanleihen ab. War Poincare
kurz nach seinem Regierungsantritt durchaus noch für eine Mobilisierung gewesen - allerdings ohne Deutschland dafür irgendwelche Zugeständnisse machen zu wollen - , Schloß er sich nach Thoiry der Meinimg Gilberts an, der sie
für verfrüht hielt979. Daß das Mellon-Berenger-Abkommen zur Regelung der
französischen Kriegsschulden in den USA noch immer nicht von Frankreich
ratifiziert worden war, stärkte Poincares Standpunkt sogar noch: Für die Regierung der Vereinigten Staaten war die Ratifikation die conditio sine qua non
für die Mobilisierung.
Briand selbst hatte schon frühzeitig erkannt, daß das Projekt von Thoiry mit
Poincare nicht zu machen war, und hatte dies auch gegenüber Stresemann
mehrmals zu verstehen gegeben980. Der französische Außenminister ging davon aus, daß Poincar6 mit seiner Währungsstabilisierung scheitern würde, dieser dann die Regierung verließe und endlich der Weg frei sein würde für seinen, Briands, eigenen Plan: Gesamtregelung mit Deutschland und Sanierung
der französischen Finanzen mit Hilfe der deutschen Zahlungen981. Für den
französischen Außenminister war Poincare »nur ein vorübergehender Faktor
in französischer Politik«982. Der für Briand unerwartete Erfolg Poincares bei
der Franc-Stabilisierung erhöhte jedoch die Stabilität der Regierung Poincare
und dessen Gewicht auf die Regierungspolitik983. Wollte nun Briand seinerseits im Kabinett bleiben, mußte er in der Frage der Gesamtregelung zurückrudern und auf den Standpunkt des Ratspräsidenten zugehen.
Im einzelnen richtete sich die innerfranzösische Kritik an den Plänen von
Thoiry auf folgende Punkte: Die Konzessionen an Deutschland seien zu hoch,
besonders die Aufgabe des Transferschutzes und die vorzeitige Freigabe des
Rheinlandes, beides Punkte, die in französischen Augen eine wesentliche Garantie für die deutschen Reparationszahlungen waren984. Seydoux machte darauf aufmerksam, daß Frankreich, bevor nicht die volle Dawes-Annuität erreicht sei, kein Interesse an der Revision des Dawes-Plans haben könne (die
978
Seydoux an Heibette (14.10.1926), MAE PAAP 261,41.
Siehe Poincard an Briand (22.9.1926), MAE 1918-1929zutsrponmlkihgfecbaWUSRPNMHED
Ζ (Europe) Allemagne, 399.
980
Siehe Aufzeichnung Schubert (3.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 73; Aufzeichnung Stresemann
(17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88.
981
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 433.
982
Aufzeichnung Stresemann (17.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 88.
983
Siehe Hoesch an AA (5.11.1926), ADAP B, 1,2, Nr. 183.
984
Siehe Ruppel an AA (8.10.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 135.
979
4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD
Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
353
Thoiry faktisch bedeutet hδtte)985. Außerdem dürfe eine Revision der Reparationsregelung nur dann erfolgen, wenn auch die Frage der Kriegsschulden neu
aufgerollt würde, um zu verhindern, daß Frankreich mehr Schulden zahlen
müsse als es an Reparationen erhalte986. Da die Rheinlandbesetzimg darüber
hinaus eine Garantie fur die gesamte Reparationssumme bildete, sollte sie
nicht fur nur einen kleinen Teil der Mobilisierung geopfert werden987. Bereits
mehrfach erwähnte technische Vorbehalte wurden ebenfalls angeführt: die
fehlende Aufnahmefähigkeit der internationalen Kapitalmärkte, die lange
Vorbereitungszeit, die eine Kommerzialisierung beanspruchen würde und deshalb den französischen Staatsfinanzen keine unmittelbare Linderung bringen
würde, und nicht zuletzt die nach wie vor ablehnende Haltung der Regierungen in Washington, London und Rom988. Auch die französischen Militärs, wie
Foch, Joffre, Petain und Debeney, lehnten eine vorzeitige Räumung des
Rheinlandes ab und machten vor allem Sicherheitsgründe geltend: Erst wenn
die Ostgrenzen ausreichend gesichert waren und sich die Lage der osteuropäischen Verbündeten so weit konsolidiert hatte, daß sie effektive Bündnispartner
im französischen Sicherheitssystem waren, konnte nach Ansicht der militärischen Führung auf die Besetzung des Rheinlandes verzichtet werden989.
In London teilte man die Kritik, welche die französischen Gegner der Thoiry-Absprachen übten. Dies galt sowohl für die technischen Probleme990, aber
auch für die Frage nach der Opportunität des Zeitpunktes für eine Mobilisierung. Ebenso wie Frankreich strebte England die Revision des Schuldenabkommens mit den USA an, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht
machbar erschien991. Wie Frankreich mußte Großbritannien deshalb ein Interesse daran haben, daß Deutschland die volle Dawes-Annuität bezahlen würde,
denn letztlich hing von der Höhe der deutschen Reparationszahlungen die Höhe der Schuldenzahlungen ab992. Ein weiteres Motiv für die englische Zurückhaltung lag darin, daß man nach Thoiry ein weitgehendes Arrangement zwi-
985
Siehe Seydoux an Berthelot (15.10.1926), MAE PAAP 261, 36.
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 470-472.
987
Siehe ibid. S. 472. In Thoiry war davon die Rede gewesen, Reparationsanleihen im Wert
von 1,5 Mrd. GM zu mobilisieren. Die Gesamthöhe der Reparationsobligationen betrug jedoch 16 Mrd. GM (WURM, Sicherheitspolitik, S. 418), und die Gesamtsumme der Reparationszahlungen war 1921 auf 132 Mrd. GM festgelegt worden, NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 49.
988
Siehe Seydoux an Berthelot (15.10.1926), MAE PAAP 261, 36.
989
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 475-481.
990
Vgl. Ruppel an AA (25.9.1926), ADAPzyxusrponmlihgfedcaSQPONMFEDA
Β 1,2, Nr. 113; Fleuriau an Quai d'Orsay
(1.10.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 399.
991
Siehe Aufzeichnung Seydoux (1.10.1926), MAE PAAP 261, 36; Dufour an AA
(29.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 120.
992
Siehe Aufzeichnung Massigli [?] (23.10.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
399.
986
354
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
sehen Paris und Berlin bef٧rchtete, das vor allem zu Lasten der britischen
Wirtschaftsinteressen hδtte gehen kφnnen993.
Die USA waren ebenfalls gegen die Mobilisierung994. Die Ablehnung der
Amerikaner war dabei entscheidend: Nur der amerikanische Finanzmarkt war
groß genug, die Reparationsanleihen - deren Plazierung außerdem von der
Zustimmung des Treasury abhängig war - aufnehmen zu können995. Unmittelbarer Anlaß für die US-Regierung, die Zustimmung zu den Plänen von Thoiry
zu verweigern, war vor allem die fehlende Ratifikation des amerikanischfranzösischen Schuldenabkommens durch Paris996. Es spielten aber noch andere Gründe eine Rolle: Auch die USA waren an einem möglichst langen, reibungslosen Funktionieren des Dawes-Plans interessiert, denn je größer die
Annuität des Dawes-Plans wurde, desto höhere Zahlungen konnte man langfristig auch von den Kriegsschuldnern erwarten. Außerdem ging in Washington ebenfalls die Furcht davor um, daß Deutschland und Frankreich auf Kosten der USA wirtschaftlich enger kooperieren würden997.
Doch auch in Deutschland regte sich Widerstand gegen Thoiry. Die Reichsbank äußerte vor allem Kritik an der Aufgabe des Transferschutzes998, eine
Auffassung, die auch von Teilen des AA geteilt wurde999. Schacht war darüber
hinaus gegen eine Teilregelung, sondern strebte eine endgültige Regelung des
Reparationsproblems an1000. Auch das Reichswirtschaftsministerium äußerte
sich kritisch, besonders wegen der notwendigen Zustimmung der übrigen Unterzeichnerstaaten des Dawes-Plans und der USA, die für wenig wahrscheinlich gehalten wurde1001.
Aufgrund dieser Konstellation war die »Gesamtregelung«, wie sie in Thoiry
besprochen worden war, chancenlos, vor allem weil die USA und Großbritannien sich dagegen ausgesprochen hatten. Es zeigte sich wieder einmal, daß bei
den meisten Problemen, die zwischen Berlin und Paris bestanden, kaum etwas
ohne die Zustimmung aus London und Washington ging, wie Seydoux richtig
analysiert hatte: »Actuellement, et pour un temps que nous ne pouvons encore
prevoir, la France, aussi bien que l'Allemagne, sont sous la botte financiere de
PAngleterre et de PAmerique. Nous n'y pouvons rien, et nous sommes obliges
993
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.10.1926),zyxutsrponmlihgfedcbaZWUSRPNMLK
ΡAAA R, 28260; Seydoux an Mar
gerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41.
994
Zur grundsätzlichen Haltung der US-Regierung vgl. WANDEL, Reparationsproblem,
S. 58-62.
995
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 88.
996
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (12.10.1926), ΡAAA R, 28260; Ruppel an AA
(25.9.1926), ADAP Β 1,2, Nr. 113.
997
Siehe Laboulaye an Briand (25.9.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 398.
998
Siehe Schacht und Kauffmann an Curtius (3.11.1926), BArchR 3101,15043.
999
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (3.11.1926), ΡAAA R, 28261.
1000
Siehe WANDEL, Reparationsproblem, S. 70.
1001
Siehe Aufzeichnung Lautenbach (10.11.1926), BArchR3101,15043.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
355
d'en passer par ce que veulent les Banquiers de Wall Street et de la City«1002.
Das Gesprδch von Thoiry und die Umstδnde seines Scheiterns waren insofern
von Bedeutung, als es Auskunft ٧ber die Beschrδnkung der Modernisierungs
mφglichkeiten der Außenpolitik gab. Das Reparationsproblem als einer der
wichtigen modernisierungshemmenden Faktoren konnte vor allem aus drei
Gründen nicht gelöst werden:
Erstens waren, wie dargelegt, sowohl die amerikanische als auch die englische Regierung gegen eine Lösung der Reparations- und Rheinlandfrage auf
Grundlage des Gespräches von Thoiry. Diese Ablehnung war zwar nicht prinzipieller Natur, aber das Timing wurde sowohl in Washington als auch in
London als inopportun betrachtet. Erst sollten die volle Dawes-Annuität abgewartet und die Schuldenabkommen mit Frankreich ratifiziert werden. Außerdem lehnten die angelsächsischen Mächte Regelungen ab, die ohne sie geschlossen wurden: Hier argwöhnte man, daß es zu einem Arrangement
zwischen Deutschland und Frankreich kommen könnte, das nicht nur den englischen und amerikanischen Interessen bei der Rückzahlung der Kriegsschulden schaden, sondern auch zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Kooperation der beiden europäischen Kontinentalmächte zu Lasten von Amerikanern
und Briten führen könnte1003.
Die zweite Quelle des Widerstandes speiste sich aus wirtschaftlichen Bedenken, wie sie von den Notenbankchefs der USA, Englands und am Ende
sogar von Schacht formuliert wurden: Die internationalen Kapitalmärkte
schienen nicht aufnahmebereit für die deutschen Reparationsanleihen. Aber
nicht nur die Zentralbanken widersetzten sich Thoiry, Widerstand kam auch
von seiten anderer Wirtschaftskreise: Bereits auf der Londoner Konferenz von
1924, als der Dawes-Plan verabschiedet wurde, hatte sich die deutsche Industrie vehement dagegen ausgesprochen, politische Ziele gegen wirtschaftliche
Zugeständnisse zu erkaufen1004. Außerdem kritisierten die deutschen Wirtschaftsverbände die dauernden Angriffe der DNVP, die seit Anfang 1927 wieder an der Regierung beteiligt war, auf den Dawes-Plan und deren ständige
Forderung nach Revision, weil die ständige Unruhe in dieser Frage Wirtschaftsinteressen gefährde1005. Dieser Protest kann so interpretiert werden, daß
sich die deutsche Wirtschaft natürlich langfristig nicht gegen eine Änderung
des Dawes-Plans, vor allem im Sinne einer Verringerung der Zahlungen, aussprach. Vielmehr sollte zunächst durch eine verläßliche Reparationsregelung
1002
Seydoux an Margerie (3.6.1926), MAE PAAP 261,41.
Siehe Peter KRÜGER, Die Ansätze zu einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Helmut BERDING (Hg.), Wirtschaftliche und
politische Integration in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1984 (Geschichte und
Gesellschaft, Sonderheft 10), S. 149-168, hier S. 165.
1004
Siehe Protokoll der 3. Sitzung der Handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924),
BArchR 3101, 20458.
1005
Siehe Aufzeichnung Köpke [9.5.1927],RA
ΡAAA R, 35583.
1003
356
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Lage erreicht werden. Erst an
schließend sollte in aller Ruhe über die Reduzierung der deutschen Verpflichtungen gesprochen werden. Angriffe auf diese Regelung, die sinnlos
bleiben mußten, solange die USA und Großbritannien keine Bereitschaft erkennen ließen, zu einer Neuregelung des Reparationsproblems zu kommen,
gefährdeten diesen Konsolidierungsprozeß, weil dadurch potentielle ausländische Kreditgeber verunsichert wurden. Auch Stresemann mußte aus
dieser Lage die Konsequenzen ziehen und einen Frontalangriff auf den
Dawes-Plan zunächst zurückstellen. Nach der erfolgreichen Währungsstabilisierung in Frankreich bestand außerdem dort kein Interesse mehr an
einem finanziellen Arrangement mit Deutschland1006.
Der dritte wesentliche Grund, der die Umsetzung der Absprachen von Thoiry verhinderte, waren innenpolitische Konstellationen, vor allem in Frankreich. Poincares Einfluß auf die französische Politik war durch die erfolgreiche Währungsstabilisierung enorm gestiegen1007, Briands Einfluß entsprechend gesunken. Zwar war ein Rückfall in eine Politik wie zu Zeiten des
Ruhrkampfs unwahrscheinlich, allzu große Impulse für eine weitergehende
deutsch-französische Annähung waren aber nicht mehr zu erwarten: Poincare
blieb Deutschland gegenüber vorsichtig und mußte überdies ein Kabinett zusammenhalten, in dem Befürworter (Briand) und erbitterte Gegner (Marin)
einer deutsch-französischen Annäherung vertreten waren. Auch die französische Öffentlichkeit blieb Deutschland gegenüber mißtrauisch, so daß von
dort keine wesentlichen Impulse für eine Annäherung kamen.
Aus diesen drei Faktoren ergaben sich für die deutsch-französischen Beziehungen, wie Seydoux richtig analysierte, folgende Konsequenzen1008: Die bilateralen Probleme fanden auf drei Ebenen statt; ein bestimmter Teil der Fragen
konnte zwischen Berlin und Paris autonom geregelt werden; andere Fragen
konnten von Deutschland und Frankreich im Rahmen des Versailler Vertrags
zwar vorbereitet und erörtert, aber nur mit Zustimmung der anderen Mächte,
also vor allem England und den USA, gelöst werden; ein dritter Bereich umfaßte die Revision des Versailler Vertrags und machte die Beteiligung der andern Staaten unabdingbar. Die Fragen, die Deutschland und Frankreich allein,
ohne Einbindung Dritter, lösen konnten, waren nach Seydoux' Auffassung auf
wirtschaftliche Problemstellungen beschränkt und »naturellement les moins
importantes«1009. Für ihn kamen dabei vor allem zwei Aspekte in Frage. Die
Saarbergwerke, die nach dem Ersten Weltkrieg an Frankreich übertragen worden waren, sollten nach seinen Vorstellungen in internationale Gesellschaften
umgewandelt werden, an denen Deutsche und Franzosen, aber auch andere 100i
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7.
1007
Z u m f o l g e n d e n vgl. WURM, Sicherheitspolitik, S. 4 8 4 - 4 8 6 , 4 9 3 .
1008
1009
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7.
Ibid.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
357
er nannte explizit Amerikaner und Italiener beteiligt werden sollten. Da
durch sollten einerseits franzφsische Wirtschaftsinteressen auch nach der ab
sehbaren R٧ckgabe des Saargebiets an Deutschland 1935 langfristig gesichert
werden, andererseits versprach er sich dadurch eine engere wirtschaftliche
Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich. Eine Δnderung des
politischen Status' des Saargebiets, etwa das vorzeitige Ende der Vφlker
bundsverwaltung und die R٧ckgabe an Deutschland, Schloß er aber ausdrücklich aus. Einen zweiten Bereich der wirtschaftlichen Kooperation sah Seydoux
vor allem auf dem Gebiet der Sachlieferungen. Durch die Schaffung gemischter deutsch-französischer Gesellschaften sollte zum einen die französische Infrastruktur ausgebaut1010 und zum anderen das französische Kolonialreich erschlossen werden1011. Der deutsch-französische Handelsvertrag, der zeitgleich
verhandelt wurde1012, wurde von Seydoux zwar nicht ausdrücklich genannt,
dürfte aber ebenfalls in diesem Zusammenhang von Interesse gewesen sein.
Die Wirtschaftskooperation mit Deutschland erfolgte dabei keinesfalls aus
altruistischen Motiven, sondern hatte unausgesprochen auch machtpolitische
Ziele: Der Ausbau der französischen Infrastruktur und die Erschließung des
Kolonialreiches standen durchaus in der Tradition der Überlegungen, die Wirtschaftskraft Frankreichs zu steigern, um dadurch den Vorsprung, den Deutschland nach französischer Auffassung beimutrponliged
potentiel de guerre (dabei handelte
es sich ja vor allem um wirtschaftliche Faktoren) hatte, zu verringern. Für
Frankreich hatte die Wirtschaftskooperation aber noch eine andere Funktion.
Paris war der Auffassung, daß die Reichsregierung durch die Wirtschaftskooperation zeigen konnte, wie ernst es ihr tatsächlich mit ihrer Friedenspolitik
war1013.
Die zweite Ebene der deutsch-französischen Beziehungen - Probleme, die
innerhalb des Rahmens des Versailler Vertrags bestanden, aber nicht von
Frankreich und Deutschland allein gelöst werden konnten - umfaßte vor allem
zwei Bereiche: Den Komplex aus Reparationen und Kriegsschulden einerseits
und das Sicherheitsproblem andererseits1014. Thoiry hatte gezeigt, daß ohne
Zustimmung der USA und Englands die Reparationsfrage nicht gelöst werden
konnte. Für Frankreich bestand das Problem vor allem in der Verbindung zwischen Reparations- und Kriegsschuldenfrage. Paris wollte unbedingt erreichen, daß zwischen Reparations- und Schuldenzahlungen ein positiver Saldo
,01
° Zu Einzelheiten vgl. Aufzeichnung Seydoux (16.8.1927), MAE PAAP 261,4.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7. Bereits kurz nach der
Londoner Konferenz hatte Claudel vorgeschlagen, das ambitiöse Programm des ehemaligen
Kolonialministers Albert Sarraut zur Erschließung der französischen Kolonien im Rahmen
eines deutsch-französischen Gemeinschaftsprogramms durchzuführen, siehe Aufzeichnung
Claudel (13.9.1924), MAE 1918-1929zyxurponmlihgfedcaSPMKEA
Ζ (Europe) Allemagne, 388.
1012
Siehe Kap. 4.2.2.
1013
Siehe Aufzeichnung Seydoux (15.6.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 389.
10,4
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7.
1011
358
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
zugunsten Frankreichs von etwa 500 Mio. GM bestand1015. Eine Verringerung
der Reparationen war deshalb nur dann mφglich, wenn die USA und Großbritannien ihre Forderungen gegenüber Frankreich verringerten. Eine endgültige
Schuldenregelung hing außerdem davon ab, daß der Franc endgültig stabilisiert wurde1016 und Frankreich die Schuldenabkommen mit England und den
USA ratifizierte1017. Auch galt es, erst die volle Dawes-Annuität abzuwarten,
denn vorher würden Washington und London, wie sich gezeigt hatte, nicht
bereit sein, eine Neuregelung des Reparations- und Schuldenproblems anzugehen1018. Die französische Vorstellung für die endgültige Regelung des
Schuldenproblems formulierte Seydoux in einem Artikel für die »Revue economique internationale«1019: Streichung der interalliierten Schulden und die
Mobilisierung aller Reparationsobligationen in Höhe von 16 Mrd. GM. Nach
erfolgter Mobilisierung sollten dann auch die Besatzungstruppen aus dem
Rheinland abgezogen werden. Die Mobilisierung der Obligationen würde ausreichen, um die französischen Kosten für den Wiederaufbau zu decken. Allerdings ging es Seydoux nicht nur um die Finanzierung des Wiederaufbaus,
sondern auch darum, die finanzielle Handlungsfreiheit gegenüber den USA
und vor allem England wiederherzustellen: Derzeit beherrsche England die
europäischen Kapitalmärkte und verteidige so »l'hegemonie que le Gouvernement britannique s'est assuree en Europe«1020.
Das zweite große Problem, daß es aus französischer Sicht im Rahmen des
Versailler Vertrags zu lösen galt, war die Sicherheitsfrage. Seydoux verlangte
dabei die Beibehaltung der Interalliierten Militärkontrollkommissionen, bis
alle Restpunkte zur Entwaffhungsfrage erledigt waren1021. Nahtlos an die Arbeit der IMKK sollte sich eine Völkerbundskontrolle anschließen, beispielsweise im Rahmen der schon oben dargestellten Commission de constatation et
de conciliation1022.
Der schwierigste Fragenkomplex umfaßte diejenigen Probleme, die eine
Revision des Versailler Vertrags beinhalteten, also vor allem das Problem der
1015
Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37. S. auch zum folgenden.
Durch die Maßnahmen Poincards in der zweiten Hälfte des Jahres 1926 wurde der Verfall des Franc zwar gestoppt, erst 1928 jedoch wurde der Wert des Franc auf einem Fünftel
seines Vorkriegswertes endgültig fixiert; in der Zwischenzeit wurde darüber diskutiert, ob
der Franc wieder auf die Vorkriegsparität aufgewertet werden sollte, vgl. SAUVY, Histoire
dconomique, Bd. 1, S. 84-96.
10,7
Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37.
1018
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7.
1019
Vgl. Jacques SEYDOUX, Le Plan Dawes et la solution de la question des dettes, in: Revue
6conomique internationale, 19. Jg., Bd. 1, Nr. 3 (März 1927), S. 434-456, hier S. 455f.
1020
Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37.
1021
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7.
1022
Siehe Kap. 4.1.5.
1016
4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD
Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
359
deutschen Ostgrenzen und des Korridors1023. Dies stand nat٧rlich im Gegen
satz zum franzφsischen Interesse, das ja gerade darauf gerichtet war, die Ver
sailler Ordnung zu stabilisieren und zu perpetuieren. Entsprechend vorsichtig
nahmen sich auch die Vorschlδge Seydoux' zur Lφsung dieses Problems aus:
Er schlug vor, daß Polen seine Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland verbessern sollte, um die Konfliktpunkte mit dem Reich zu minimieren. Ansonsten sollte Polen auf Zeit spielen: Da die deutsche Bevölkerung in den ehemals
deutschen Gebieten rückläufig war, würde sich das Korridorproblem in Zukunft ganz von alleine lösen. Auch die von Deutschland wiederholt geforderte
Rückgabe der Kolonien kam für Frankreich nicht in Frage. Das von der
Reichsregierung angeführte Problem der Überbevölkerung sollte durch Auswanderung nach Südamerika und Afrika gelöst werden, ohne daß dadurch jedoch geschlossene deutsche Siedlungskolonien entstehen sollten1024.
Faßt man die Ergebnisse von Thoiry und die Überlegungen Seydoux', die
sicherlich repräsentativ für einen Großteil der französischen Deutschlandpolitik waren, zusammen, so lassen sich folgende Schlüsse daraus ziehen: Die
meisten Probleme, die zwischen Deutschland und Frankreich bestanden, ließen sich nicht bilateral lösen. Vor allem in der Reparations- und Sicherheitsfrage kam es auf die Haltung der USA und Großbritanniens an. Frankreich
war außerdem - vor allem nach erfolgter Währungsstabilisierung - nicht geneigt, substantielle Änderungen an der Versailler Ordnung vorzunehmen. Das
einzige Feld, das sich zur Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich
bot, waren die Wirtschaftsbeziehungen, und auch hier mußte, wegen der finanziellen Abhängigkeit beider Länder von den angelsächsischen Mächten,
vorsichtig agiert werden. Im Grunde genommen waren die Möglichkeiten für
einen autonomen deutsch-französischen Ausgleich eng begrenzt. Exemplarisch dafür war der Young-Plan. Er wurde durchgesetzt, weil nicht nur Frankreich und Deutschland, sondern vor allem auch Großbritannien und die USA
ein Interesse daran hatten.
Auch in Deutschland setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, daß die
Absprachen von Thoiry nicht realisierbar waren. Als Stresemann Mitte Dezember 1926 im Kabinett über die Tagung des Völkerbundsrates in Genf referierte, machte er seine Abkehr von Thoiry - also einer »Gesamtregelung« auf
Basis der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes bei deutscher Zustimmung
zur teilweisen Mobilisierung der Reparationsanleihen - deutlich: Ȇberhaupt
1023
Siehe Aufzeichnung Seydoux (23.11.1926), MAE PAAP 261, 7, siehe auch zum folgenden.
1024
Seit Ende des 19. Jahrhunderts war Überbevölkerung kein deutsches Problem mehr, und
die deutschen Kolonien vor dem Ersten Weltkrieg wurden auch nie zu einem Auffangbecken
für einen vermeintlichen Bevölkerungsüberschuß, siehe Gisela GRAICHEN, Horst GRÜNDER,
Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, Berlin 32005, S. 291-293. Die zeitgenössische
Wahrnehmung hatte sich also noch nicht von alten Denkmustem gelöst.
360
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
sei von deutscher Seite das Problem der Rδumung mit betonter Gleichg٧ltig
keit behandelt worden, um nicht durch Behandlung der Rδumungsfrage, bei
der positive Ergebnisse doch nicht zu erwarten waren, die vφllige Erledigung
der kleineren Fragen (Militδrkontrolle, Investigationen u.s.f.) zu gefδhr
den«1025. Die Konzentration auf die »Erledigung der kleineren Fragen« ent
sprach dabei der Politik, die Stresemann bereits vor Thoiry verfolgt hatte, so
lange zumindest, wie sich Poincare an der Spitze der franzφsischen Regierung
w٧rde halten kφnnen1026.
In Thoiry waren Stresemann und Briand also an der Lφsung der Reparati
ons und Rheinlandfrage gescheitert, und auch danach war zunδchst nicht dar
an zu denken, diesen Problemkomplex aus der Welt zu schaffen. Die USA, die
zweifelsohne die Schl٧sselposition im Kreislauf aus amerikanischen Krediten,
Schulden und Reparationszahlungen innehatten, hatten kein Interesse daran,
vor den Prδsidentschaftswahlen, die Ende 1928 stattfinden sollten, in dieser
Frage aktiv zu werden: »Die Person von Coolidge bildet ein absolutes Hinder
nis f٧r eine Revision der interalliierten Schulden. Außerdem wird keine der
beiden Parteien in den Vereinigten Staaten eine Neuregelung der interalliierten
Schulden, d.h. ihre Ermäßigung mit in die Plattform des Wahlkampfs aufnehmen wollen«1027. Auch konnte die deutsche Seite die Revision des DawesPlans nicht von sich aus einleiten, etwa, indem sie eine Transferkrise bewußt
herbeiführte. Die gerade erreichte Freigabe des im Krieg beschlagnahmten
deutsche Eigentums in den USA würde dadurch ebenso gefährdet wie der Zustrom der dringend benötigten amerikanischen Kredite für die deutsche Wirtschaft1028. Ein deutscher Zahlungsstopp hätte außerdem Poincare dazu verleiten können, auf einer Verlängerung der Besatzungsfristen für das Rheinland
zu bestehen, denn die Rheinlandbesetzung diente ja vor allem als Pfand fur die
Reparationszahlungen1029. Die deutsche Industrie war ebenso wenig an einer
schnellen Revision interessiert. Sie versuchte, die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, die durch die Reparationszahlungen entstanden, zur Durchsetzung
ihrer ordnungspolitischen Vorstellungen zu nutzen: Sie forderte vom Staat
sparsameres Wirtschaften, weil beide, öffentliche Hand und Privatwirtschaft,
auf den ausländischen Kapitalmärkten um Kredite konkurrierten und so die
Zinsen hochtrieben1030. Im Grunde genommen ging es der Wirtschaft aber
darum, den Einfluß des Staates und die Errungenschaften des Weimarer Sozi-
1025
Ministerbesprechung (15.12.1926), AdRMarx m/IV Bd. l,Nr. 156.
Siehe Ministerbesprechung (2.9.1926), AdR Marx m/IV, Nr. 75.
1027
Aufzeichnung Ritter (18.4.1927), ADAPzyxutsrpnmlihgfedcbaVSRNMKIDBA
Β V, Nr. 88.
1028
Siehe Kiep an Marx (23.7.1927) AdR Marx ΠΙ/IV Bd. 2, Nr. 280.
1029
Siehe Aufzeichnung Schubert (6.2.1928), ΡAAA R, 30181b.
1030
Siehe Dreyse und Bulling an Marx (27.7.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 260.
1026
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
361
alstaates durch den Hinweis auf die außerordentlichen Belastungen durch die
Reparationszahlungen rückgängig zu machen1031.
Aufgrund dieser Konstellation konnte der Impuls zur Lösung der Reparationsfrage nur von den USA kommen. In der Tat ging die Initiative zur Revision
des Dawes-Plans von Parker Gilbert, dem Reparationsagenten, aus, der die
Schlüsselstellung in dem Reparations- und Kriegsschuldensystem der Zwischenkriegszeit einnahm. Bis Ende des Jahres 1927 hatte sich Gilbert gegenüber allen Forderungen, den Modus der Reparationszahlungen zu ändern, gesperrt. Noch in seinem Memorandum vom 20. Oktober 1927 hatte der
Reparationsagent die Reichsregierung aufgefordert, das Funktionieren des
Dawes-Plans zu gewährleisten und hatte dabei vehement die Ausgabenpolitik
der deutschen öffentlichen Haushalte kritisiert1032. Auch allen Versuchen, die
deutschen Reparationsanleihen vollständig oder teilweise zu mobilisieren, hatte sich Gilbert bislang verweigert und dies nicht zuletzt damit begründet, daß
dadurch eine Revision des Dawes-Plans unvermeidbar würde. Kaum zwei
Monate nach seinem Schreiben an die Reichsregierung vollzog der Reparationsagent jedoch eine Kehrtwende: In seinem Jahresbericht über die deutschen
Reparationszahlungen vom 10. Dezember 1927 schlug er eine endgültige Reparationsregelung vor, die unter anderem die Aufhebung der Finanzkontrollen
und des Transferschutzes vorsah1033. Als Gründe1034 für seine Initiative machte
Gilbert das wiederhergestellte Vertrauen in den deutschen Kapitalmarkt geltend, das einen Wegfall der Finanzkontrollen rechtfertige, außerdem befürchtete er beim Erreichen der vollen Dawes-Annuität eine Finanzkrise in
Deutschland, die das Reich nutzen könne, sich seiner Reparationsverpflichtungen ganz zu entledigen. Wegen der ungeklärten Höhe der Reparationslast
werde außerdem der Kapitalexport nach Deutschland erschwert, der fur die
deutsche Wirtschaft jedoch unerläßlich sei. Allerdings nannte der Bericht weder ein konkretes Datum, zu dem der Dawes-Plan durch eine Neuregelung
ersetzt werden sollte, noch sprach er ausdrücklich von der Mobilisierung der
deutschen Reparationsschuld1035.
Auf einer Reise nach Paris im Januar 1928 wurde der Reparationsagent
deutlicher. In einem Gespräch mit dem Gouverneur der Banque de France,
Moreau, schlug er am 17. Januar 1928 die Mobilisierung der deutschen Reparationsschuld vor, für die Frankreich im Gegenzug das Rheinland vorzeitig
freigeben sollte1036. Auch Poincare ließ sich von diesem Vorschlag überzeugen: Mit der Mobilisierung war einer wesentlichen Forderung Frankreichs zur
1031
Siehe Kastl an Pünder (23.11.1927), AdR MarxzyvutsrponmlihgfedcaYVUSRPONMLJIHEDCB
ΙΠ/IV Bd. 2, Nr. 350.
Siehe Aufzeichnung Vallette (24.10.1927), ADAP Β Vn, Nr. 48.
1033
Siehe Aufzeichnung Vallette (19.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 215.
1034
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 144; HEYDE, Reparationen, S. 36.
'03S Siehe Aufzeichnung Vallette (19.12.1927), ADAP Β VII, Nr. 215
1032
1036
Siehe MOREAU, Souvenirs, S. 475477.
362
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Garantierung der deutschen Reparationsleistungen gen٧ge getan. Durch die so
erreichte Sicherheit bei den Reparationszahlungen kφnnte schließlich auch
eine endgültige Regelung der Schuldenfrage erreicht werden, die die Beziehungen Frankreichs zu England ebenso belastete wie die zu den Vereinigten
Staaten1037. In einem Gespräch am 18. Januar 19281038 erklärte sich der französische Ministerpräsident grundsätzlich mit dem Plan Gilberts einverstanden,
stellte aber drei Bedingungen: Erstens müßten die Verhandlungen im Winter
1928/29 stattfinden, damit der neue Plan vor dem 1. August 1929 in Kraft treten konnte. Ratifizierte Frankreich nämlich bis dahin nicht das Schuldenabkommen mit den USA, mußte es 407 Mio. US-Dollar zusätzlich zahlen, die
Washington für nach ihrem Abzug in Frankreich zurückgelassenes Kriegsmaterial verlangte1039. Poincare glaubte aber, das Schuldenabkommen nur dann
durch das Parlament bringen zu können, wenn vorher die Reparationsfrage
gelöst war. Zweitens forderte er, daß Frankreich mehr an Reparationen erhalten müsse, als es an Schulden zu zahlen hatte, und drittens mußte die Mobilisierung der deutschen Reparationsschuld unbedingt Bestandteil des neuen Planes sein.
Auch im Quai d'Orsay war man »direkt begeistert von den Perspektiven, die
der Reparationsagent aufzeigte«1040. Berthelot plante eine Gesamtregelung
aller Probleme, von den Reparationen bis zu einer Lösung für das Saarland.1041
Im einzelnen sah sein Plan1042 vor, daß nach dem Abzug der Besatzungstrappen die Demilitarisierung des Rheinlandes durch einen Organismus, der in
etwa den französischen Vorstellungen zur Commission de constatation et de
conciliation entsprach, überwacht werden sollte. Sicherheitspolitisch forderte
Frankreich zudem im Zusammenhang mit der angestrebten Gesamtregelung,
daß zwischen Deutschland und Polen ein Nichtangriffspakt geschlossen werden sollte. Diese Forderung wurde später abgeschwächt, weil nach dem Abschluß des Kellogg-Briand-Pakts dessen Bestimmungen für ausreichend erachtet wurden1043. Auch sollte Deutschland Garantien gegen einen Anschluß
Deutsch-Österreichs geben. Die Reparationen sollten vollständig kommerzialisiert werden, wobei Berthelot davon ausging, daß auch die Kriegsschuldenfrage Teil des Planes werden sollte1044. Die Saargruben sollten an Deutschland
zurückverkauft werden, wobei aber die französischen Wirtschaftsinteressen an
1037
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 159.
Siehe Etienne WEILL-RAYNAL, Les röparations allemandes et la France, Bd. 3:
L'application du plan Dawes, le plan Young et la liquidation des reparations (avril 19231936), Paris 1947, S. 404.
1039
Siehe Aufzeichnung Ritter (21.8.1928), ADAPzutsrponmlihgfedcbaZVSRPNMIEDA
Β Di, Nr. 251.
1040
HEYDE, Reparationen, S. 37.
1041
Siehe Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAP Β Vm, Nr. 137.
1042
Zum folgenden siehe Aufzeichnung Massigli [?] (3.8.1928), MAE PAAP 217, 7.
,043
Siehe ibid.
1044
Siehe Aufzeichnung Schubert (6.3.1928), ADAP Β VIII, Nr. 137.
1038
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
363
der Saar vor allem hinsichtlich der Kohlenversorgung gewahrt bleiben
mußten.
Das Memorandum, das Gilbert am 24. Februar 1928 an die Reparationskommission richtete1045, war ganz darauf ausgerichtet, Frankreich von seinem
Vorschlag zu überzeugen: Er betonte, daß Deutschland erst dann eine sparsame Haushaltspolitik an den Tag legen werde, wenn die Endsumme der Reparationen feststehe und es die Verantwortung für den Transfer trage. Durch die
Mobilisierung der Reparationsschuld entfalle auch die Problematik der Priorität von Reparations- und Schuldenzahlung, wodurch der amerikanische Kapitalexport nach Europa langfristig gesichert werde. Außerdem sei Frankreich
dadurch dauerhaft in die Lage gesetzt, seine Schulden bei den USA zurückzahlen zu können.
Die Reichsregierung blieb gegenüber den Aktivitäten des Reparationsagenten zunächst zurückhaltend. Nicht vollständig in die Aktionen Gilberts eingeweiht, erwartete sie nach wie vor, daß sich bis zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen nichts Entscheidendes in der Reparationsfrage ergeben
würde1046. Zudem ging man immer noch davon aus, daß eine Zunahme der
privaten Auslandskredite langfristig zu einer Senkung der Reparationslast fuhren würde: »Je größer unsere private Verschuldung, um so kleiner sind unsere
Reparationsveipflichtungen«1047. Allerdings befand sich die Reichsregierung
in einem Dilemma1048: Ging die Verschuldung weiter, war dies zwar kurzfristig gut für die Konjunktur, und der zu erwartende Konflikt über die Priorität
von Auslandsschulden- und Reparationszahlungen ließ eine Verringerung der
Reparationslast erhoffen. Langfristig allerdings hatte diese Politik potentiell
verheerende Folgen, denn eine Transferkrise würde zu einem sofortigen Zusammenbruch der deutschen Kreditwürdigkeit im Ausland führen. Ergriff die
Reichsregierung aber energische Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung
und zur Verringerung der Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand, würde
dies dauerhaft dazu führen, die Reparationen relativ problemlos zahlen zu
können. Dann deren Verringerung durchzusetzen, würde deutlich schwieriger.
Außerdem hatte die Drosselung der Staatsausgaben einen dämpfenden Effekt
auf die ohnehin nicht allzu gute Wirtschaftslage, mit den entsprechenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen. »Das Kabinett fällte daher überhaupt keine Entscheidung und ließ die Verschuldung weiterlaufen«1049. Ein
weiteres Problem, das die deutsche Diplomatie umtrieb, war die Sorge, daß die
Reparationsgläubiger der vorzeitigen Räumung des Rheinlands erst dann zustimmen würden, wenn die ganze Reparationssumme kommerzialisiert worden
,04S
Siehe Memorandum Gilberts f٧r die RepKo (24.2.1928), BdF 140199202/13.
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 37.
,047
Siehe Aufzeichnung Simon (10.1.1927), ADAPutsrponmlihgfedbaZYVSRNIHED
Β IV, Nr. 18.
1048
Zum folgenden siehe HEYDE, Reparationen, S. 38.
1049
Ibid.
1046
364
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
wδre. Schubert forderte, »daß die Rheinlandräumung erfolgt sein müsse, bevor
die große Bereinigung der finanziellen Probleme eintrete, da sich sonst ein
schauderhafter Kuhhandel entwickeln würde«1050. Denkbar war nach deutscher Ansicht bestenfalls die teilweise Mobilisierung der Reparationsanleihen,
um das Rheinland frei zu bekommen, mit einer anschließenden endgültigen
Regelung der Reparationen1051. Insgesamt aber versuchte Deutschland, die
Rheinlandräumung »völlig getrennt«1052 von der Frage der Revision des Dawes-Plans zu behandeln.
Im Grunde genommen trafen in der Rheinland- und Reparationsfrage zwei
völlig gegensätzliche Auffassungen aufeinander: Briand argumentierte streng auf Grundlage des Versailler Vertrags daß eine vorzeitige Räumung
des besetzten Gebiets nur dann erfolgen könne, wenn Frankreich erstens zusätzliche Sicherheitsgarantien, z.B. durch Überwachungsorgane für die Kontrolle der Demilitarisierungsbestimmungen, erhielte und zweitens die notwendigen Sicherheiten in der Reparationsfrage - also die Kommerzialisierung der
Reparationsobligationen - gegeben würden1053. Die deutsche These hingegen
war, daß die Räumung der besetzten Gebiete eine notwendige Konsequenz aus
der Locarno-Politik sei. Locarno, so die Argumentation, schaffe Sicherheiten
genug, ein Festhalten an der Besetzung dagegen bedeute einen schweren
Schaden für die Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich1054.
Daß die deutsche Vorstellung, Räumung und Reparationen unabhängig voneinander zu behandeln, illusorisch war, zeigte bereits die Rede Poincares in
Carcassonne am 1. April 1928: Hier stellte er, vage zwar, einen direkten Zusammenhang zwischen vorzeitiger Freigabe des Rheinlandes und »Gegenleistungen« öffentlich her1055. Auch andere Faktoren, die der deutschen Diplomatie durchaus bekannt waren, ließen erwarten, daß der vor allem von Schubert
verfolgte Plan sich kaum würde verwirklichen lassen: Seit Thoiry hatte immer
ein Nexus zwischen Reparations- und Rheinlandfrage bestanden. Diese Verknüpfung wieder aufzuheben, war beinahe unmöglich.
Großbritannien bot ebenfalls keinen Rückhalt für die deutsche Position:
Wegen der noch nicht geklärten politischen Lage in den USA - die Präsidentschaftswahlen standen ja erst im November 1928 an - war es grundsätzlich
gegen eine sofortige Änderung des Dawes-Plans1056. Auch die in London befürchtete Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich, falls es zu einer
umfassenden Gesamtregelung zwischen Paris und Berlin käme, ließ England
1050
Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAPywvutsrponmlihgfedcbaVTSRPONMLJIHFEDC
Β VI, Nr. 76.
1051
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 165f.
1052
Ministerbesprechung (22.8.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 18.
1053
So Briand vor dem Senat am 2.2.1928, teilweise wiedergegeben in: MAE PAAP 217, 13.
,0M
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 150.
1055
Siehe Hoesch an AA (2.4.1928), ADAP Β Vm, Nr. 206.
1056
Siehe Tyrell an Balfour (27.8.1928), DBFP, 1A V, Nr. 139.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
365
in der Frage der Revision des DawesPlans zur٧ckhaltend sein1057. Zusammen
mit Belgien1058 sprach sich England deswegen f٧r eine Wetterf٧hrung der be
stehenden Reparationsregelung aus.
Daß sich im Zusammenhang mit der Räumung des Rheinlandes also tatsächlich der von Schubert befürchtete »schauderhafte Kuhhandel«1059 entwickeln
würde, war also klar, und daß Deutschland für das besetzte Gebiet teuer würde
bezahlen müssen, auch: Gilbert war der Meinung, Deutschland könne eine
Annuität von 2 Mrd. GM dauerhaft leisten1060, und bereits Ende 1927 hatte
Ritter festgestellt, daß eine Aufrollung der interalliierten Schuldenfrage - als
Voraussetzung zur Verringerung der Reparationen - nicht zu erwarten sei1061,
eine Auffassung, die Stresemann teilte1062. Außerdem dürfte im AA klar gewesen sein, daß Frankreich immer noch einen Überschuß aus den Reparationszahlungen - nach Abzug der Schuldenzahlungen - erzielen wollte, was
kaum Spielraum für eine substantielle Senkung der Reparationen ließ. Hoesch
warnte deshalb ausdrücklich, nachdem das AA im Sommer 1928 verstärkt auf
eine Räumung des Rheinlandes zu drängen begann1063, die Räumungsfrage
weiter voranzutreiben: »Seit vielen Monaten bin ich bemüht gewesen, [...] den
Beweis zu führen, daß weder die französische öffentliche Meinung noch die
französische Regierung für eine Vollräumung ohne Gegenleistung reif sind
und daß infolgedessen die Räumung mangels möglicher Gegenleistungen
nicht zu erzielen ist«1064. Aber die Reichsregierung blieb bei ihrem Kurs1065.
Warum lief die deutsche Diplomatie mit ihrem Beharren auf Räumung ins
reparationspolitische Messer? Der Ausgang der Reparationsverhandlungen,
wie er sich heute präsentiert, und der seit dem Sommer 1928 vorausgezeichnet
war, war, trotz der Mahnungen Hoeschs und anderer, trotz der Positionsbestimmungen Gilberts und Poincares, natürlich nicht so eindeutig vorhersehbar.
Dennoch lagen bei der Führung des AA sicherlich einige Fehleinschätzungen
vor: Die These, die Rheinlandräumung sei die notwendige Folge von Locarno,
hatte außerhalb Deutschlands keine Anhänger, und nichts in diesen Verträgen
stellte einen Zusammenhang zwischen dem Inkrafttreten des Rheinpakts und
der Räumung her. Der französische Rechtsanspruch dagegen leitete sich aus
dem Versailler Vertrag ab, der bezüglich der vorzeitigen Räumung feststellte:
1057
Siehe Aufzeichnung Seydoux (17.8.1928), MAE PAAP 261, 4.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 271, 37.
1059
Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAPzyxwutsrponmlihgfedcbaXVSRPONMLJIHGEDCBA
Β VI, Nr. 76.
1060
Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 261, 37.
1041
Siehe Runderlaß Ritter (27.12.1927), ADAP Β Vü, Nr. 237.
1062
Siehe Runderlaß Stresemann (18.4.1928), ADAP Β VII, Nr. 241.
1043
Am 28.7.1928 forderte Schubert die Botschaften in London, Paris und Rom sowie die
Gesandtschaft in Brüssel zu entsprechenden Demarchen auf, siehe Schubert an Sthamer
(28.7.1928), ADAP ΒIX, Nr. 194; ibid. Anm. 6.
1064
Hoesch an Schubert (7.8.1928), ADAP Β IX, Nr. 218.
1065
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 175.
1058
366
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisiening
»Leistet Deutschland vor Ablauf der 15 Jahre allen ihm aus dem gegenwδrti
gen Vertrage erwachsenden Verpflichtungen Gen٧ge, so werden die Beset
zungstruppen sofort zur٧ckgezogen«1066. Dadurch waren sowohl die franzφsi
schen Forderungen nach Kommerzialisierung als auch nach άberwachung der
Demilitarisierungs und Entwaffhungsbestimmungen abgedeckt1067. Die
Reichsregierung gab sich in gewisser Weise dem eigenen Wunschdenken hin,
wenn sie die vorzeitige Freigabe der besetzten Gebiete mit dem moralischen
Anspruch auf Rδumung nach Locarno begr٧ndete. Wie an anderer Stelle zu
sehen war, war diese Argumentation aber bereits unmittelbar nach Locarno,
bei der Diskussion um die sogenannten »R٧ckwirkungen«,gescheitert1068.
άberhaupt ist zu fragen, weshalb das AA jetzt vehement auf die Rδumung
des gesamten Rheinlandes insistierte: Die Rδumung der zweiten, der Koblen
zer Zone, stand zum 10. Januar 1930 an, die der letzten, der Mainzer Zone (die
flächenmäßig allerdings die größte war1069), zum 10. Januar 1935. Warum
jetzt, wo das Ende der Besatzungszeit nahte und sich der Charakter der Besetzung erheblich verändert hatte, auf die Räumung drängen, die ohnehin absehbar war? Die Gründe hierfür waren vor allem innenpolitischer Natur. Bereits
im Sommer 1927 hatte Schubert gegenüber Schacht erklärt, »daß die Frage der
Truppenreduktion leider eine symbolische Bedeutung angenommen habe und
daß die Rheinlandräumung deshalb so wichtig [ist], weil sie uns in unserer
Politik auf Schritt und Tritt behindere«1070. Wenig später erklärte Reichsjustizminister Hergt (DNVP) gegenüber dem Staatssekretär der Reichskanzlei,
Hermann Pünder:
Herr Minister Stresemann müsse noch bei irgendeiner Gelegenheit [...] für die Weltöffentlichkeit der deutschen Enttäuschung über die Behandlung der Rheinlandfragen Ausdruck
geben. Unter Rheinlandfragen verstehe er sowohl die unzulängliche Truppenherabsetzung
als auch die Verzögerung der Räumung. Werde eine solche Erklärung von maßgeblicher
deutscher Stelle in Genf abgegeben, so habe er keinen Zweifel, die Deutsch-Nationalen bei
der Stange zu halten1071.
Mit anderen Worten: Das Verlangen der Reichsregierung auf Räumung des
Rheinlandes beruhte auf vor allem innenpolitischen Beweggründen. Insgesamt
nahm in Deutschland die Unzufriedenheit mit der Außenpolitik Stresemanns
zu1072. Das AA brauchte einen öffentlichkeitswirksamen Erfolg, und die Räu1066
Art. 431 Versailler Vertrag.
Poincare selbst betonte diese Auffassung gegenüber Stresemann, siehe Aufzeichnung
Stresemann (27.8.1928), ADAPzutsrpnmlihgfedcbaXWVTSRPNKIHGDA
Β IX, Nr. 263.
1068
Siehe Kap. 4.1.4.
1069
Vgl. die den ADAP Β 1,1 beigelegte »Karte über die Militärische Besatzung der II. u. m.
rheinischen Besatzungszonen« und Art. 429 des Versailler Vertrags.
1070
Aufzeichnung Schubert (1.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 76.
1071
Aufzeichnung Pünder (15.9.1927), ADAP Β VI, Nr. 204.
1072
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 412.
1067
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
367
mung des Rheinlandes bot sich dazu besser an als ein vorsichtiges Taktieren
zum Beispiel in der Reparationsfrage. Hier rδchte sich nun, daß man unmittelbar nach Locarno vollmundige Versprechungen gemacht hatte, die die Räumung und andere Probleme gleichsam als gelöst erscheinen ließen1073. Insgesamt ließ sich ein »allgemeinerefs] Aufladen der deutschen Revisionsmentalität während des Sommers 1928«1074 feststellen, was seinen Ausdruck
unter anderem darin fand, daß sowohl die DNVP nach der Wahl Hugenbergs
zu ihrem neuen Vorsitzenden als auch das Zentrum, wo Ludwig Kaas den
ehemaligen Reichskanzler Marx als Parteichef ablöste, deutlich nach rechts
ruckten1075.
Der Köder »Rheinlandräumung« bewirkte, daß sich Deutschland in der Reparationspolitik in der Defensive fand und nur wenige Möglichkeiten hatte,
die Forderungen der Gläubiger, zumal diese sich einig zeigten, abzulehnen.
Dem deutschen Volk wäre es sicherlich nur schwer begreifbar zu machen gewesen, wenn die Räumung der besetzten Gebiete an ein paar hundert Millionen mehr oder weniger gescheitert wäre, was natürlich auch die Westmächte
wußten. Allerdings bleibt dann auch die Frage zu stellen, ob Deutschland
überhaupt eine Chance gehabt hätte, zu einer günstigeren Reparationsregelung
zu kommen. Traten nämlich die USA, England und Frankreich in der Reparationsfrage gemeinsam gegenüber Deutschland auf, so mußte Berlin sich praktisch den Forderungen dieser Länder beugen. Zumindest anfangs bestand diese
reparationspolitische Einheitsfront jedoch nicht: Als Stresemann anläßlich der
Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Pakts in Paris weilte, erklärte Poincare
ihm in einem Gespräch hinsichtlich der Reparations- und Schuldenproblematik:
Wir haben beide dieselben Interessen und wir müssen deshalb in derselben Richtung vorgehen. In dem Schuldenregelungsabkommen mit den alliierten Gläubigern hat Amerika ohne
Ausnahme einen Zeitraum von 62 Jahren für die Regelung vorgesehen. Es ist klar, daß bei
endgültiger Festsetzung der Reparationen für Deutschland ebenfalls 62 Jahre festgesetzt
werden müssen, wenn Amerika seinerseits seinen interalliierten Schuldnern nicht bessere
Bedingungen gibt. Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Zeitraum von 62 Jahren fur
Deutschland zuviel ist. Dasselbe gilt für die direkten Schuldner Amerikas1076.
Der prekäre Gesundheitszustand Stresemanns verhinderte jedoch eine weitergehende Erörterung des Themas1077. Auch Seydoux hielt die deutsche Reparationsbelastung dauerhaft fur zu hoch1078. Daß Stresemann nicht auf dieses An1073
Vgl. Kap. 4.1.4.
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 36. Eine Begründung fiir dieses »Aufladen« findet sich
bei Knipping indessen nicht.
1075
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 230.
1076
Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAPzyxuronihgfedcbSPNMEDA
Β Di, Nr. 263.
1077
Siehe ibid.
1078
Siehe Aufzeichnung Seydoux (11.7.1928), MAE PAAP 261, 37.
1074
368
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gebot einging, hatte einen einfachen Grund: Die Deutschen versuchten, die
Reparationen letztendlich dadurch zu verringern, daß es zu einem Konflikt
zwischen der Rückzahlung der privaten Schulden in Amerika und den Reparationsverpflichtungen kam: Das Kalkül war, daß die USA die Reparationsgläubiger zu einer Verringerung der Reparationsschuld zwingen würden, wenn die
Rückzahlung der amerikanischen Kredite durch die Reparationen gefährdet
würde1079. In diesem Fall mußte man sich in Berlin natürlich unbedingt das
Wohlwollen der Amerikaner erhalten und konnte daher nicht mit Frankreich
an einer konzertierten Aktion zur Schuldenreduzierung teilnehmen1080. Frankreich hingegen versuchte, durch eine gemeinsame Front der interalliierten
Schuldner und der Reparationsgläubiger (die ja letztlich die interalliierten
Kriegsschulden bezahlten), Druck auf die USA auszuüben, ihre Forderungen
zu verringern, was Frankreich erlaubt hätte, die Reparationen zu reduzieren.
Bestand zwar zwischen Paris und Berlin Einigkeit in dem Ziel, die finanziellen
Belastungen zu verringern, waren die Wege dorthin doch gänzlich verschieden. Das deutsche Vorgehen war dabei das unrealistischere: Erholte sich
Deutschland wirtschaftlich, würde der Konflikt zwischen Reparationszahlungen und Rückzahlung der Auslandsschulden gar nicht erst akut werden. Kam
es jedoch tatsächlich zur Reparationskrise, würde auch der deutsche Auslandskredit zusammenbrechen, was zwar die Reparationszahlungen verringern, aber eine ernste Krise für die deutsche Wirtschaft bedeuten würde. Nach
dem Elend der Nachkriegs- und Inflationszeit konnte dies nicht wirklich im
deutschen Interesse sein.
Bei der Bundesversammlung des Völkerbunds in Genf im September 1928
trafen die deutsche und die französische Position erneut aufeinander. Reichskanzler Müller - Stresemann mußte aus Gesundheitsgründen auf eine Teilnahme verzichten1081 - verlangte in Genf erneut die Räumung des Rheinlands,
und zwar ohne Gegenleistungen1082. Briand hingegen forderte für die vorzeitige Freigabe des Rheinlandes die Neuregelung der Reparations- und Schuldenfrage und zusätzliche Sicherheitsgarantien in Form der Commission de constatation et de conciliation1083. Das Abschlußkommunique1084, das die fünf
Rheinpaktmächte - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und
Italien - sowie Japan am 16. September 1928 veröffentlichten, kam sowohl
1079
Siehe Aufzeichnung Simon (10.1.1927), ADAPyxutsrponmlihgedcbaVUTSRPONMLJIHED
Β IV, Nr. 18.
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 194.
1081
Siehe Ministerbesprechung (24.8.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 19.
1082
Siehe Sechsmächte-Besprechung (11.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 21.
1083
Siehe Unterredung Müller-Briand (5.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 20; Briand an
Poincard (11.9.1928), MAE PAAP 217, 13; Sechsmächte-Besprechung (11.9.1928), AdR
Müller Π Bd. 1, Nr. 21; Sechsmächtebesprechung (13.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 23;
Hoesch an AA (15.9.1928), ΡAAA R, 35585.
1084
Text: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 439f., vgl.
auch Sechsmächtebesprechung (16.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 28.
1080
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
369
den deutschen wie auch den franzφsischen W٧nschen entgegen. Es wurden
Verhandlungen zur vorzeitigen Rδumung des Rheinlands ebenso angek٧ndigt
wie die Einberufung einer Sachverstδndigenkonferenz zur Lφsung der Repara
tionsfrage. Außerdem wurde Einigkeit »über den Grundsatz der Einsetzung
einer Feststellungs- und Vergleichskommission (Kontrollkommission)« festgestellt, jedoch blieb »[d]ie Zusammensetzung, das Funktionieren, der Gegenstand und die Dauer dieser Kommission f...] einer Verhandlung zwischen den
Regg.en«1085 vorbehalten. Dem deutschen Standpunkt wurde insofern Genüge
getan, daß ein explizites Junktim zwischen Räumung und Reparationsregelung
vermieden wurde1086. Faktisch jedoch bestand diese Verknüpfung: Während
der Gespräche in Genf hatten Italien, Belgien und Großbritannien die französische Position zur Rheinlandräumung unterstützt1087. Den französischen Wünschen kam außerdem entgegen, daß alle für Paris wichtigen Aspekte, wie die
endgültige Reparationsregelung und die CCC, prinzipiell anerkannt wurden.
Im Grunde genommen hatte jedoch weder die deutsche noch die französische
Position eine grundsätzliche Änderung erfahren: Die Reichsregierung ging
nach wie vor von der getrennten Behandlung der Rheinlandräumung und der
Reparationsfrage aus1088, die französische Führung dagegen sah durch die
Genfer Gespräche faktisch eine Verknüpfung beider Probleme hergestellt1089.
Dennoch brachte die Genfer Tagung wichtige Vorentscheidungen hinsichtlich der zukünftigen Reparationsregelung: Der Weg fur eine vollständige
Rheinlandräumung und eine endgültige Reparationsregelung war vorgezeichnet, andere Lösungsoptionen (etwa die Teilräumung oder eine provisorische
Regelung der Reparationsfrage) waren nicht mehr akut. Auch neue Sicherheitsforderungen, z.B. fiir Polen oder gegen einen Anschluß Österreichs, wurden nicht mehr erhoben. Hier wirkte sich vor allem der Abschluß des BriandKellogg-Pakts positiv aus, der von Frankreich durchaus als reale Sicherheitsgarantie gewertet wurde.
Offen geblieben war nach den Sechsmächtegesprächen allerdings, wie die
Reparations- und Schuldenregelung konkret aussehen würde. Dies war eine
für die Modernisierung der Außenpolitik entscheidende Frage, weil dadurch
die Möglichkeiten fur eine Liberalisierung des Weltwirtschaftssystems nachhaltig bestimmt wurden. Käme es zu einer starken Herabsetzung der Schulden- und Reparationszahlungen, würde die Belastungen für die Weltwirtschaft
reduziert: Das deutsche Zinsniveau würde sinken, Auslandskredite würden der
1085
Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 440.
So sahen es zumindest StS Pitader (Aufzeichnung Pünder [18.9.1928], AdR Müllerzutsrponlkihgedc
Π
Bd. 1, Nr. 30) und Reichskanzler Müller (Ministerbesprechung [18.9.1928], AdR Müller Π
Bd. 1, Nr. 31).
1087
Siehe Briand an Poincari (11.9.1928), MAE PAAP 217,13.
1088
Siehe Ministerbesprechung (18.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 31.
1089
Siehe Ernst GEIGENMÜLLER, Botschafter von Hoesch und die Räumungsfrage, in: HZ
200 (1965), S. 606-620, hier S. 619.
1086
370
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
deutschen Wirtschaft zugute kommen, das Transferproblem, das die interna
tionalen Kapitalmδrkte belastete, w٧rde verringert. Blieben die Reparations
und Schuldenbelastungen jedoch hoch, w٧rde es weitaus schwieriger, die be
stehenden weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte abzubauen. Das interalliier
te Schuldenproblem war dabei der Dreh und Angelpunkt, denn nur wenn die
Schulden reduziert w٧rden, waren Frankreich, aber auch England, bereit, ihre
Reparationsanspr٧che zu verringern1090. Der Schl٧ssel zur Lφsung des Repara
tions und Schuldenproblems lag in Washington, und Gilbert sollte dabei die
zentrale Rolle spielen. Die wichtigen Eckpunkte des YoungPlans wurden un
ter entscheidender Einflußnahme des Reparationsagenten bereits vor dem Zusammentritt der Expertenkommissionen festgelegt. Die Reparationsregelung,
die er anstrebte, war ganz einfach: Die USA bestanden weiterhin auf der
Rückzahlung der englischen und französischen Kriegsschulden, und zwar in
unveränderter Höhe. Dies war auch die Position der amerikanischen Regierung und des aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, Herbert Hoover.
Der deutsche Botschafter in Washington, Friedrich von Prittwitz und Gaffron,
stellte bezüglich der Haltung des zukünftigen amerikanischen Präsidenten fest:
Es ist unmöglich, vorherzusagen, welche Haltung Hoover als Präsident in dieser Frage [i.e.
das Reparations- und Schuldenproblem, R.B.] einnehmen wird. Aber man wird nicht vergessen dürfen, daß er der Vertreter der Theorie des sogenannten >triangular trade< ist, d.h. der
Theorie von der Möglichkeit großer Exportsteigerungen der Schuldnerstaaten nach den wenig industriell entwickelten Rohstoffländern, deren Kaufkraft durch Export ihrer Produkte
nach den Gläubigerstaaten hinreichend gehoben werde. Sowohl hinsichtlich des Problems
der interalliierten Schulden als auch der Reparationen bildet diese theoretische Einstellung
Hoovers und seiner Gefolgsleute eine Belastung, die nicht zu übersehen ist1091.
Ähnlich schätze Seydoux die Haltung Hoovers ein1092. Da also eine Schuldenreduzierung durch die USA recht unwahrscheinlich war, mußte eine Reparationsregelung erreicht werden, die sowohl Frankreich als auch Großbritannien
so hohe deutsche Zahlungen zusicherte, daß sie zur Deckung der Kriegsschulden in den USA ausreichen würde. Darüber hinaus forderte Frankreich einen
Überschuß, um den Wiederaufbau der zerstörten Gebiete finanzieren zu können. Um beides, Schuldendienst und Wiederaufbau, durch Reparationsleistungen zu decken, mußte die Höhe der Reparationen zwischen 1,5 und
2 Mrd. GM liegen1093.
1090
Siehe Aufzeichnung Seydoux (19.1.1927), MAE PAAP 261, 37.
Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAPzyxurponmlkihgfedcaZSPONMLJEDCBA
Β DC, Nr. 118.
1092
Siehe Aufzeichnung Seydoux (17.8.1928), MAE PAAP 261,4.
1093
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 203f. Zur Deckung der französischen Ansprüche wäre eine Annuität von 1,5 Mrd. GM ausreichend gewesen; da Großbritannien aufgrund
des Verteilungsschlüssels von Spa einen wesentlich geringeren Anteil der Reparationen erhielt, war zur Befriedigung der englischen Ansprüche eine Annuität von 2 Mrd. GM notwendig - oder eine Änderung des Verteilungsschlüssels.
1091
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
371
Wie gesagt hielt Gilbert 2 Mrd. GM als Gesamtannuitδt durchaus f٧r mφg
lich1094, Paris und London waren jedoch weiterhin skeptisch. Wie bereits er
wδhnt, hatte Poincare schon gegen٧ber Stresemann zu erkennen gegeben, daß
er die Kriegsschulden für zu hoch hielt und sich deshalb für ein gemeinsames
Vorgehen gegenüber den USA ausgesprochen1095. Seydoux hatte bereits 1927
bemerkt, daß England schwer an den 700 Mio. GM, die es jährlich an die USA
zahlen mußte, zu tragen habe, und hielt deshalb die Reparationsbelastung des
Dawes-Plans für Deutschland dauerhaft für zu hoch1096. In einem Gespräch am
20. September 1928 überzeugte Gilbert jedoch den französischen Ministerpräsidenten, nicht länger auf eine gemeinsame Front der Europäer gegenüber den
USA in der Kriegsschuldenfrage zu bauen und seinen Vorschlag anzunehmen1097. Dabei waren die Chancen für ein gemeinsames Vorgehen der Europäer gar nicht so schlecht gewesen, weil Kellogg selbst eine Teilnahme von
Amerikanern an der Sachverständigenkonferenz zur Reparationsfrage zunächst abgelehnt hatte1098. Wiederum war es Gilbert, der eine Teilnahme von
amerikanischen Experten für wünschenswert hielt1099 und sich offensichtlich
durchsetzte. Der Meinungswandel Poincares dürfte dabei verschiedene Ursachen gehabt haben: Durch die Zusagen Gilberts war für Frankreich sichergestellt, daß die deutschen Reparationen über den französischen Schuldenzahlungen liegen würden. Deutschland wollte sich nicht in eine antiamerikanische
Position bringen lassen1100, und bereits auf der Genfer Völkerbundstagung
hatte der englische Vertreter Lord Cushendun erklärt, daß er
fur die Verhandlungen des finanziellen Sachverständigen-Ausschusses über die Reparationsfrage noch insofern Schwierigkeiten vorausgehe], als England auf keinen Fall irgend etwas
mitmachen könne, das einem Appell an die Großmütigkeit der Vereinigten Staaten gleichkomme. England wolle nicht den geringsten Zweifel darüber aufkommen lassen, daß es seine
Amerika gegenüber eingegangen Verpflichtungen voll und ganz durchzuführen gedenke1101.
Zwar wollte London nicht an die »Großmütigkeit« der USA appellieren, weil
man dies im Moment für aussichtslos hielt. Allerdings hielt auch die britische
Regierung die Schulden und die Reparationen für zu hoch. Die englische Strategie zur Verringerung der finanziellen Belastungen sah vor, solange am Dawes-Plan festzuhalten, bis sich schließlich auch in Washington die Erkenntnis
durchsetzte, daß die von den USA geforderten Summen nicht tragbar wa1094
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 216.
Β DC, Nr. 263.
® Siehe Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAPzywutsrponmlihgfedcbaYXUSPONLKJEDC
1094
Siehe SEYDOUX, Plan Dawes, S. 453.
1097
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 215.
1098
Siehe Kiep an AA (20.9.1928), ADAP Β X, Nr. 44.
1099
Siehe Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAP Β X, Nr. 53.
1100
Siehe Aufzeichnung Pünder (18.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 30.
1101
Sechsmächtebesprechung (16.9.1928), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 28.
,0 5
372
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
ren1102. Aber auch in London leistete Gilbert schließlich erfolgreiche Überzeugungsarbeit und Churchill, zu diesem Zeitpunkt Schatzkanzler, stimmte den
Plänen des Reparationsagenten zu1103. Dabei ließ sich die britische Regierung
nicht nur von der Argumentation Gilberts leiten, daß Deutschland die benötigten 2 Mrd. GM würde zahlen können, sondern auch davon, daß sie wegen der
Auseinandersetzung mit den USA in der Flottenfrage unter Druck stand1104.
Nachdem Frankreich und Großbritannien vom Plan Gilberts überzeugt waren, ging es noch darum, Deutschland zu gewinnen. Gilbert erklärte gegenüber
Schubert,
die deutsche Regierung dürfe natürlich nicht mit besonderen Illusionen in die Verhandlungen
hineingehen. Sie müsse sich aber klar machen, daß selbst ein teueres Arrangement immer
noch billiger sei, als wenn es in absehbarer Zeit zu keinem Arrangement komme; insbesondere müsse vermieden werden, daß ein Arrangement etwa später getroffen werden müsse,
zur Zeit eines Niedergangs der deutschen Wirtschaft. Das sei das Gefährlichste für Deutschland1105.
Die vom Reparationsagenten anvisierte 2 Mrd. GM-Annuität war in der Tat
um ein Fünftel niedriger als die maximale Dawes-Rate. Was deutscherseits
aber den Ausschlag dafür gegeben haben dürfte, dieser immer noch sehr ungünstigen Reparationsregelung zuzustimmen, war die Sorge, daß sonst die
vorzeitige Räumung des Rheinlandes in Gefahr sei.
Der Reparationsplan Gilberts hatte die Probleme auf den jeweils nächsten in
der Reihe abgewälzt. Am Ende dieser Kette stand Deutschland, das letztendlich die Zeche zu zahlen hatte. Nachdem es dem Reparationsagenten gelungen
war, die Zweifler in Frankreich und Großbritannien zu überzeugen, sah sich
Deutschland - allerdings nicht ganz unverschuldet - einer geschlossenen Front
der Reparationsgläubiger gegenüber. Da von einer Revision des Dawes-Plans
immerhin gewisse Erleichterungen zu erwarten waren und auch die Befreiung
des Rheinlands lockte, konnte Deutschland dieses Angebot, so schlecht es reparationspolitisch auch war und so sehr es die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte stabilisierte, kaum ausschlagen.
Was letztendlich zu fragen bleibt, ist, warum Gilbert einen solchen Plan
überhaupt vorgebracht hat, wo er doch aus eigener Anschauung die deutschen
und europäischen Wirtschaftsprobleme und die negativen Auswirkungen der
Reparations- und Schuldenzahlungen auf die europäischen Volkswirtschaften
kennen mußte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Gilbert ab
Ende 1927 den Weg des geringsten Widerstandes ging, um nicht in Konflikt
mit der eigenen Regierung zu geraten. Er war außerdem an der schnellen Erle1102
1103
1,04
1105
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 203.
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 41.
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 217.
Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAPrXN
Β X, Nr. 53.
4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD
Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
373
digung der Reparationsfrage interessiert, weil er bef٧rchtete, durch eine zu
lange Abwesenheit aus den USA karrieremäßig »>den Anschluß zu verlieren<«1106.
Den endgültigen Durchbruch erlebte der gilbertsche Reparationsplan bei einem Treffen zwischen Poincare und Churchill am 19. Oktober 1928, zu dem
gegen Ende auch der Reparationsagent hinzugebeten wurde1107. London und
Paris verständigten sich darauf, daß der neue Reparationsplan eine Annuität
von etwa 2 Mrd. GM umfassen sollte - also genau die Summe, die benötigt
wurde, um sowohl die Ansprüche Großbritanniens wie auch die Frankreichs
zu befriedigen, ohne eine Änderung am Verteilungsschlüssel von Spa vornehmen zu müssen. Die einzuberufenden Experten hatten damit nur noch
technische Fragen zu klären1108. Frankreich erkannte unterdessen die BalfourErklärung von 1922 an, in der sich England festgelegt hatte, nur Reparationen
in Höhe der Kriegsschulden zu verlangen, und sicherte die baldige Ratifizierung des französisch-britischen Schuldenabkommens zu1109.
Zu diesem Zeitpunkt war also - und die Ergebnisse der Verhandlungen des
Young-Komitees und der Haager Konferenzen bestätigen dies - die Reparationsfrage prinzipiell entschieden: Gilbert hatte seinen Vorschlag durchgedrückt, und der Reichsregierung blieb im Grunde genommen wenig mehr, als
sich zu fugen1110. Wie fest die Einheitsfront der deutschen Reparationsgläubiger inzwischen war, zeigte sich auch daran, wie die Frage der Modalitäten,
unter denen die Experten eine Reparationslösung erreichen sollten (die sogenanntentsronmfec
terms of reference), gelöst wurden. Die Reichsregierung übergab nachdem sich in der Reparationsfrage nach den grundsätzlichen Absprachen
von Genf nichts bewegt hatte - den Regierungen in London, Paris, Brüssel,
Rom und Tokio am 30. Oktober 19281111 eine »Notiz«1112, in der sie ihre Vorstellungen bezüglich der Sacheverständigenkommission zum Ausdruck brachte: Deutschland forderte die Einbeziehung auch US-amerikanischer Vertreter
und die Nominierung unabhängiger Experten (also nicht etwa amtlicher oder
halbamtlicher Vertreter). Die deutsche Regierung machte den Vorschlag, daß
1106
Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAPzurnlihgfecXVNIDA
Β IX, Nr. 118. Ähnliche Eindrücke schildert auch
Stresemann (Runderlaß Stresemann (18.4.1928), AD AP Β Vffl, Nr. 241).
1107
Über das Gespräch gibt es »Notes prises au cours d'une Conversation entre le M. levutsrqonmlihfedca
Ρτέ
sident du Conseil, Ministre des Finances et M. Winston Chancelier, Chancelier de
l'Echiquier« (ohne Unterschrift) (19.10.1928), Centre des Archives 6conomiques et finan
ciers [CAEF], Fonds Tresor, relations multilatörales, Β 48 888. Die Aufzeichnung umfaßt
allerdings nur den Teil der Gespräche, zu dem ein Dolmetscher hinzugezogen wurde.
1108
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 47
1109
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 42.
1110
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 206.
1111
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 44. Jg. (1928), S. 441f.
1112
In dem erläuternden Erlaß Köpkes wurde besonderer Wert darauf gelegt, daß es sich
nicht um ein Memorandum oder eine Note handelt. Erlaß und Text der Notiz: Runderlaß
Köpke (27.10.1928), AD AP Β X, Nr. 86.
374
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
die Konferenz in Berlin stattfinden sollte, und sprach sich daf٧r aus, daß gemäß der Genfer Übereinkunft vom 16. September 1928 - eine »>vollständige und endgültige Regelung des Reparationsproblems<«1113 gefunden werden
sollte. Für die deutsche Seite war dabei die »Umschreibung der Zuständigkeit,
des Aufgabenkreises der Kommission [...] weitaus der wichtigste Punkt«1114.
Nur dadurch sah das AA den Erfolg der Expertengespräche gewährleistet.
Auch durch die Besetzung der Kommission mit unabhängigen Sachverständigen versprach man sich ein aus deutscher Sichte besseres Ergebnis: »Die Besetzung mit Beamten oder auch mit privaten Sachverständigen, die an Instruktionen gebunden sind, würde bedeuten, daß in Wirklichkeit eine Regierungsoder diplomatische Konferenz stattfindet, deren sämtliche Mitglieder mit gebundenen Marschrouten in die Verhandlungen gehen. Dies würde von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg eröffnen«1115. Die Reichsregierung versprach
sich einen weiteren Vorteil von der Einbeziehung amerikanischer Sachverständiger: Allein schon wegen der »beherrschenden Stellung der Vereinigten
Staaten auf dem Geldmarkt«1116 war eine Teilnahme der USA wünschenswert,
weil dadurch auch die Frage der Mobilisierung gelöst werden konnte. Außerdem konnte dann vielleicht auch das Problem der interalliierten Schulden miterörtert werden, falls dies im Zusammenhang mit den Reparationsverhandlungen nötig würde. Zwar teilte die Reichsregierung den offiziellen Standpunkt
der amerikanischen Politik, daß es keinen Zusammenhang von Reparationen
und Kriegsschulden gebe, doch war ihr sehr wohl bewußt, daß die USA,
»wenngleich sie auch den Vertrag von Versailles nicht unterzeichnet haben,
doch mit gewissen Hundertsätzen Nutznießer der Dawes-Annuitäten sind«1117.
Die französische Position für die Reparationsverhandlungen1118 bestand darin, daß die neue Regelung die französischen Kriegsschulden und die Kriegsschäden decken müsse. Auch sollten die Experten an die Weisungen der Regierungen gebunden sein und der Auftrag der Kommission sollte - im Sinne
der von Gilbert vorgelegten Anregungen1119 - genau definiert werden. Gemäß
1113
Ibid. Siehe auch zum folgenden.
Ibid.
11,5
Ibid.
1.16
Ibid.
1.17
Ibid.
u
" Vgl. Hoesch an AA (14.11.1928), ADAPtsronmihedcaXRPNHA
Β X, Nr. 128; Hoesch an AA (16.11.1928),
PAAA R, 35587 mit den Auszügen aus einer Rede Poincarös zu den Reparationen vor der
Kammer.
" " Dietsronmfec
terms of reference in der von Gilbert am 5.10.1928 vorgelegten Form lauten: »The
fixation of the number and amount of the annuities hereafter to be paid by Germany in complete and definitive liquidation of the indebtness to the Allied and Associated Powers for the
costs arising out of the war, the form and terms in which the indebtness shall be expressed
and the arrangement by means of which it may be capitalized and commercialized and the
adaption of the Expert's plan to the conditions of a final settlement which may be recommended including all such changes in existing arrangements and organizations as may be
1114
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
375
diesertsronmfec
terms of reference spielte die Bestimmung der deutschen Zahlungsfδ
higkeit keine Rolle f٧r die Arbeit der Experten. Die endg٧ltige Reparationsre
gelung war somit nicht wirtschaftlichen Erwδgungen untergeordnet, sondern
nur »des obligations qui resultent des traites et accords existant entre
PAllemagne et les puissances creanciers«"20.
Das AA hatte sich zwar mit seiner Forderung durchsetzen kφnnen, daß die
Experten nicht an Instruktionen ihrer Regierungen gebunden sein dürfen, jedoch wurde diese Bestimmung faktisch dadurch unterlaufen, daß die Sachverständigen durch die jeweiligen Regierungen oder die Reparationskommission
benannt wurden1121. Bei den französischen Delegierten wurde besonders deutlich, daß die Unabhängigkeit der Experten nicht allzu groß sein konnte. Der
Hauptdelegierte, Emile Moreau, war Gouverneur der Banque de France1122
und zusammen mit Poincare verantwortlich fur die Stabilisierung des Franc
gewesen1123. Er war außerdem in der französischen Finanzverwaltung tätig
gewesen1124. Der zweite Hauptdelegierte, Jean Parmentier, war ebenfalls Mitglied der Finanzverwaltung1125. Clement Moret als stellvertretendes Mitglied
im Young-Komitee war als Directeur du mouvement general des fonds im
französischen Finanzministerium direkt Poincare unterstellt, der zu diesem
Zeitpunkt nicht nur Ministerpräsident, sondern auch Finanzminister war. Lediglich der zweite stellvertretende Delegierte, Edgar Allix, konnte als Professor an der Sorbonne eine gewisse Unabhängigkeit für sich in Anspruch nehmen1126. Da außerdem die Grundzüge der Reparationsregelung von Gilbert,
Poincare und Churchill bereits bei ihrem Treffen im Oktober 1928 festgelegt
worden waren, kam den Verhandlungen der Sachverständigen ohnehin nur
eine begrenzte Bedeutung zu.
Die französische Position vor den Young-Verhandlungen ließ sich wie folgt
zusammenfassen1127: Ausgehend von der Bedingung, daß eine Reduzierung
der Reparationen nur dann möglich sei, wenn die Kriegsschulden bezahlt werden könnten und darüber hinaus ein ausreichender Überschuß für den Wiederaufbau vorhanden sein müsse, stand im Mittelpunkt der französischen Bemühungen die Kommerzialisierung der deutschen Reparationsschuld. Dadurch
found desireable for that purpose«, AD APzxwvutsrponmlkihgfedcbaZXWVUTSRQPNMKIHG
Β X, Nr. 60, Anm. 2. Zum weiteren Gang der
Diskussion um dietsronmfec
terms of reference vgl. Hoesch an AA (17.12.1928), ADAP Β X, Nr. 218.
Der Text der endg٧ltigen Vereinbarung findet sich in: Ritter an Botschaft Washington
(19.12.1928), ADAP Β X, Nr. 223.
1120
Ritter an Botschaft Washington (19.12.1928), AD AP Β X, Nr. 223.
1121
Siehe ibid.
1122
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, CAEF, Fonds Tresor, relations multi
lat&ales, Β 48 889.
1123
Ausf٧hrlich: MOREAU, Souvenirs, insbes. Kap. Π bis IV und XVIII.
1124
Siehe ibid. Kap. VI.
1125
Siehe BURNAUD, Qui etesvous, 1924, S. 587.
1126
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, BPPB 1 Cabet 1,187.
1127
Siehe Aufzeichnung Massigli [?] (21.8.1928), MAE PAAP 217, 13.
376
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisienmg
sollte einerseits dauerhaft die Sicherung der deutschen Zahlungen erreicht
werden, andererseits durch den Wegfall der nach der Mobilisierung nicht
mehr notwendigen Kontrollen des DawesPlans (Reparationsagent, Trans
ferschutz, άberwachung von Reichsbank und Reichsbahn) die Entpolitisierung
des Reparationsproblems vorangetrieben werden. Davon versprach sich die
franzφsische Regierung auch die Stδrkung von Frieden und Sicherheit in Eu
ropa.
In Deutschland war die maßgebliche Persönlichkeit bei den Reparationsverhandlungen Reichsbankpräsident Schacht, der zum deutschen Verhandlungsführer ernannt wurde. Trotz der Warnungen Gilberts und anderer ausländischer Experten, die die destruktive Haltung Schachts fürchteten1128, kam die
Reichsregierung schließlich nicht umhin, den Reichsbankpräsidenten mit der
Führung der deutschen Delegation zu betrauen. Als Retter der deutschen Währung genoß Schacht beinahe unbegrenztes Ansehen, und der Reichsregierung
war daran gelegen, ihn durch seine Teilnahme auf die neue Reparationsregelung zu verpflichten1'29. Auch wurde die Wahl Schachts in der Öffentlichkeit
begrüßt1130, während sich Stresemann ansonsten - wegen der wachsenden Ungeduld der Bevölkerung hinsichtlich der immer noch nicht vereinbarten
Rheinlandräumung - zunehmend in der Defensive befand1131. Schacht verfolgte bei den Reparationsverhandlungen vor allem drei Ziele1132: Erstens versuchte er, zu einer objektiven Überprüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit zu
gelangen, wobei letztere seines Erachtens vor allem - und das war sein zweiter
wichtiger Punkt - von der deutschen Wirtschaftsstruktur abhing: Hätte
Deutschland zum Beispiel wieder Kolonien oder erhielte es im Weltkrieg verlorene Gebiete zurück, wäre es wirtschaftlich leistungsfähiger und könnte entsprechend höhere Reparationen leisten1133. Drittens - und das war eine Forderung, die sich vor allem an die Reichsregierung wandte - müsse Deutschland
eine Wirtschaftspolitik betreiben, die die Aufbringung der Reparationen ermögliche. Der Reichsbankpräsident schätzte allerdings seinen Handlungsspielraum völlig falsch ein1134: Zunächst einmal stand die deutsche Zahlungsfähigkeit überhaupt nicht zur Debatte. Spätestens durch die Festlegung zwischen
Poincare und Churchill vom 19. Oktober 1928 hatte dieser Aspekt keine Relevanz mehr für die Sachverständigengespräche. Damit war auch Schachts poli1128
1129
Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 201, 206.
Siehe WRIGHT, Stresemann, S. 444.
1130
Siehe Amos E. SIMPSON, Hjalmar Schacht in Perspective, Den Haag, Paris 1969 (Studies
in European History, XVm), S. 29f.
1131
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 232.
1132
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 44.
1133
Siehe Schacht an Stresemann (16.2.1929), ADAPzwutsronmlihgfedbaZXNKIF
Β XI, Nr. 75. Zumindest in bezug auf
die Kolonien war dies eine Fehlannahme; sie hatten für den deutschen Außenhandel nur eine
minimale Bedeutung gehabt, siehe GRAICHEN, Deutsche Kolonien, S. 294f.
1134
Ähnlich argumentiert HEYDE, Reparationen, S. 44f.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
377
tischen Vorstößen, der Rückgabe des Korridors und der Kolonien, ein Riegel
vorgeschoben. Einen zweiten großen Irrtum beging Schacht bei seiner Einschätzung der USA. Sie hielt er fur einen potentiellen Verbündeten Deutschlands, deren Interesse hauptsächlich daran gelegen sein mußte, daß die Zahlungsfähigkeit Deutschlands hinsichtlich der amerikanischen Privatkredite
gewährleistet blieb1135. Er nahm deshalb an, daß die Vereinigten Staaten ein
Interesse an der Verringerung der Reparationslast hatten, und sie deshalb auch
ihre Ansprüche gegenüber Frankreich und Großbritannien so senken würden,
daß die Reparationsbelastung letztendlich bei ca. 1 Mrd. GM festgelegt würde1136. Die USA gingen aber - wie Gilbert dies mehrfach bekräftigte - von
einer deutschen Zahlungsfähigkeit von 2 Mrd. GM aus und dachten deswegen
gar nicht daran, ihre Ansprüche gegenüber London und Paris zu verringern.
Einen weiteren schweren Fehler beging Schacht bei der Beurteilung des
Transferschutzes. In ihm sah Schacht einen wichtigen Vorteil fur die deutsche
Seite, den er teuer zu verkaufen gedachte1137. Dabei übersah er, daß der Transferschutz ohnehin nur begrenzten Nutzen hatte: Würde der Transferschutz tatsächlich greifen, würde zwar die Gefahr für die Reichsmark durch den Transfer der Reparationsleistungen gemildert; gleichzeitig würden aber der Strom
des Privatkapitals nach Deutschland abrupt zum Abbruch kommen. Nach der
vorgesehenen Kommerzialisierung der Reparationsschuld machten auch die
anderen Maßnahmen (Überwachung von Reichsbank und Reichsbahn) keinen
Sinn mehr, weil dann ebenfalls der ausländische Kapitalstrom nach Deutschland sofort versiegen würde, wenn die Reparationsanleihen nicht mehr bedient
würden. Insofern bedeutete die Aufgabe des Transferschutzes kein deutsches
»Opfer«, das man in Verhandlungsmasse hätte verwandeln können.
Die Verhandlungen des Young-Komitees fanden vom 11. Februar bis
7. Juni 1929 in Paris statt und sind vielfach dokumentiert und beschrieben
worden1138, weshalb sie im folgenden nur summarisch dargestellt werden. Jedes der sieben teilnehmenden Länder - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Belgien, Italien und Japan - entsandte jeweils
zwei Hauptdelegierte und zwei stellvertretende Mitglieder1139. Viele der Dele1135
Siehe ibid. S. 45.
Siehe HOUWINK TEN CATE, Schacht, S. 201f.
1137
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 44f.
1138
Dokumentationen: Martin VOGT (Hg.), Die Entstehung des Youngplans dargestellt vom
Reichsarchiv 1931-1933, Boppard 1970 (Schriften des Bundesarchivs Bd. 15), insbesondere
S. 170-273. Auf französischer Seite liegt eine ausfuhrliche Dokumentation vor in: MAE
Relations commerciales, sous-serie B: delibirations internationales, 426-429. Darstellungen:
LINK, Stabilisierungspolitik, S. 452-469; HEYDE, Reparationen, S. 35-54; PITTS, France,
S. 296-332; Bruce KENT, The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of
Reparations 1919-1932, Oxford u.a. 21991, S. 287-301.
1139
Die Delegierten (D) und ihre Stellvertreter (St) waren: Deutschland: Hjalmar Schacht
(D), Albert Vögler (D), Ludwig Kastl (St, nach dem Rücktritt Vöglers D), Carl Melchior
(St); Frankreich:xutronmligedaSPMJEDCA
έπύΐε Moreau (D), Jean Parmentier (D), Edgar Allix (St), Cl&nent Moret
1136
378
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
gierten waren bereits Mitglieder des DawesKomitees gewesen, wie Owen
Young selbst, aber auch Josiah Stamp, Alberto Pirelli, Jean Parmentier und
Edgar Allix 1 1 4 0 . Trotz der oberflδchlich betrachteten Δhnlichkeit zwischen
Dawes und YoungKomitee, gab es einige wichtige Unterschiede: Zum einen
wurde beim YoungPlan Deutschland formal gleichberechtigt zu den Verhand
lungen hinzugezogen, wδhrend es im DawesKomitee nicht vertreten gewesen
war. Der wichtigste Unterschied bestand jedoch in der Fassung des Auftrages:
Wδhrend dietsronmfec
terms of reference fur das YoungKomitee sehr eng gefaίt waren
und sich ٧berwiegend auf technische Aspekte bezogen, hatte das Dawes
Komitee einen wesentlich größeren Spielraum gehabt 1141 , zumal wichtige Ergebnisse des Young-Plans durch die Gespräche zwischen Poincare, Churchill
und Gilbert schon vorweg genommen waren. Durch die Besetzung der deutschen Delegation wurde die ohnehin nicht besonders erfolgversprechende
deutsche Position weiter verschlechtert. Schon vor der Konferenz war dem
A A bekannt, daß Schacht auch politische Forderungen, wie z.B. nach Rückgabe der Kolonien und des Korridors, stellen wollte, was in der Wilhelmstraße
(St); Großbritannien: Josiah Stamp (D), Lord Revelstoke (i.e. John Baring, D), Sir Charles
Addis (St, nach dem Tod Revelstokes D), Sir Basil Blackett (St); USA: Owen D. Young (D,
zugleich Vorsitzender der Verhandlungen), J. P. Morgan (D), Thos. Perkins (St), T. W. Lamont (St.); Belgien: Emile Francqui (D), Camille Gutt (D), Baron Terlinden (St), H. Fabri
(St); Italien: Alberto Pirelli (D), Fulvio Suvich (D), Guiseppe Bianchini (St), Bruno Dolcette
(St); Japan: Aoki Takashi (D), Kengo Mori (D), Suburo Sonoda (St), Yasumune Matsui (St),
siehe »Rapport du Comitd des experts constitui en vue de recommander un reglement complet et definitif du problime des reparations (Nouveau Plan, Plan Young)« (7.6.1928), in: G.
Fr. MARTENS, Nouveau recueil geniral de traitis et autres actes relatifs aux rapports de droit
international. Continuation du grand recueil de G. Fr. Martens par Heinrich Treipel. Troisieme s6rie, tome XXIV, Leipzig 1931, S. 15-72. Der deutsche Text findet sich in: Schulthess'
Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 485-509. Zu den Delegierten und
ihren Stellvertretern kam noch weiteres technisches Personal; aus einer Telefonliste ergibt
sich eine Zahl von 92 Personen, die dem Young-Komitee angehörten. Fundort dieser Telefonliste (datiert vom 28.2.1929): BArch R 2501, 6713.
1140
Siehe »Rapport du Premier Comite d'experts invites par decision de la commission des
riparations, en date du 30 novembre 1923, ä rechercher les moyens d'iquilibrer le budget et
les mesureszxvutsrponmlihgfedcbaTSRNMLHGFECA
έ prendre pour stabiliser la monnaie de l'Allemagne« (9.4.1924), G. Fr. MAR
TENS, Nouveau recueil geniral de traitds et autres actes relatifs aux rapports de droit interna
tional. Continuation du grand recueil de G. Fr. Martens par Heinrich Treipel. Troisieme si
ne, tome ΧΙΠ, Leipzig 1925, S. 781809.
1141
So das Selbstverständnis des Dawes-Komitees selbst: »[The Dawes-] Committee bases
its plan upon those principles of justice, fairness and mutual interest, in the supremacy of
which not only the creditors of Germany and Germany herself, but the world, has a vital and
enduring concern. With these principles fixed and accepted in that common good faith which
is the foundation of all business, and the best safeguard for universal peace, the recommendations of the Committee must be considered not as inflicting penalties, but as suggesting
means for assisting the economic recovery of all the European peoples and the entry upon a
new period of happiness and prosperity unmenaced by war«, Dawes an RepKo (9.4.1924),
in: Dawes-Plan.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
379
äußerst skeptisch bewertet wurde1142. Der Reichsbankpräsident, im schlechtesten Sinne des Wortes ein unabhängiger Experte, brachte die politischen Fragen dennoch vor, und das AA konnte nur behutsam versuchen, mäßigend auf
den etwas primmadonnenhaften Schacht einwirken1143, dem zudem politische
Ambitionen - etwa als Reichskanzler oder gar Reichspräsident - unterstellt
wurden1144. Als weiteres Handikap fur die deutsche Delegation erwies sich der
faktische Riß zwischen den Hauptdelegierten Schacht und Albert Vogler einerseits und den stellvertretenden Delegierten Ludwig Kastl und Carl Melchior andererseits. Schacht und Vogler schätzten die Leistungsfähigkeit Deutschlands eher gering ein und wollten deshalb die Kommerzialisierung der
Reparationsschuld möglichst verhindern. Sie hielten vor allem Melchior in
dieser Frage für zu optimistisch1145. Es gelang dem AA nicht, Melchior, der
nach Ansicht Stresemanns ein »außerordentlich kühler und überlegter Unterhändler« war, der »[i]n manchen Fragen, die Deutschland angehen, [...] die
deutschen Interessen außerordentlich wirksam wahrgenommen«1146 hatte, als
zweiten Hauptdelegierten für das Young-Komitee durchzusetzen. Vor allem
auf Druck der Schwerindustrie mußte die Reichsregierung der Entsendung
Vöglers zustimmen1147, obwohl dieser, was internationale Verhandlungen anging, ein Neuling war, und - da es bei den Young-Verhandlungen vielfach um
finanz- und banktechnische Fragen ging - als promovierter Ingenieur und Eisenindustrieller1148 nicht unbedingt die geeignetste Besetzung darstellte.
Ein weiteres Problem bestand in der schlechten Kommunikation zwischen
der deutschen Delegation und dem AA. Zum Teil war dies die Folge davon,
daß Frankreich gewissermaßen Heimvorteil genoß: Die Verhandlungen fanden
in Paris statt. Allerdings war die französische Regierung durch die täglichen
1142
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [Schubert] (11.1.1929), ADAPzwvutsrponmlkihgfedcbaZXV
Β XI, Nr. 14; Auf
zeichnung Ritter (4.3.1929), ADAP Β XI, Nr. 107.
1143
Ein Beispiel hierfür ist das Schreiben Stresemanns an Schacht (24.2.1929), ADAP Β XI,
Nr. 86. Zum Verhältnis zwischen der deutschen Expertenkommission und der Reichsregierung siehe zusammenfassend: Martin VOGT, Letzte Erfolge? Stresemann in den Jahren 1928
und 1929, in: Wolfgang MLCHALKA, Marshall M. LEE (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt
1982 (Wege der Forschung, 539), S. 441-465, hier S. 454-^59.
1144
Siehe Aufzeichnung Seydoux (4.3.1929), MAE PAAP 261, 37.
1145
Siehe Vogler an Stresemann (27.12.1928), ADAP Β X, Nr. 240, Anm. 1. Die Divergen
zen zwischen Kastl und Melchior einerseits und Schacht und Vogler andererseits wurden
besonders anläßlich Schachts Memorandum vom 5.12.1929 deutlich, in dem sich der
Reichsbankpräsident von den Ergebnissen der Haager Konferenz und vom Young-Plan distanzierte (Text des Memorandums in AdR Müller Π Bd. 2, Nr. 369). Kastl und Melchior
wiesen in einem gemeinsamen Schreiben die Kritik Schachts zurück (Kastl und Melchior an
Hilferding (11.12.1929), BArch R 3101, 15051.
1146
Stresemann an Vogler (28.12.1928), ADAP Β X, Nr. 240.
1147
Siehe FritzLIHCBA
BLAICH, Staat und Verbände in Deutschland zwischen 1871 und 1945, Wiesbaden 1979, S. 93f.
1148
Siehe Werner BÜHRER, art. »Vögler, Albert«, in: Wolfgang BENZ, Hermann GRAML
(Hg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 351.
380
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Berichte Morets detailliert ٧ber den Verhandlungsverlauf orientiert1149. Die
Berichte Schachts und der anderen Delegierten waren demgegen٧ber sporadi
scher und summarischer1150. Hoesch hielt sich außerdem mit der Berichterstattung über die Arbeit der deutschen Sacheverständigen zurück, um die »Fortdauer des Vertrauens, das die Herren mir bisher schenken«1151, sicherzustellen.
Wie aufgrund der Verhandlungskonstellationen zu erwarten war, waren die
Gespräche vor allem vom Gegensatz zwischen Schacht und den Unterhändlern
der anderen Mächte geprägt. Die Reparationsgläubiger präsentierten Deutschland Forderungen in Höhe von 2,3 Mrd. GM (ein Minus von 0,2 Mrd. GM zur
maximalen Dawes-Annuität). Schacht machte zunächst ein Angebot von
800 Mio. GM und später von 1,2 Mrd. GM, letzteres allerdings unter Beibehaltung des Transferschutzes für einen Teil der Annuität1152. Um die Arbeit zu
beschleunigen und um die »Zeit der Monologe«1153 zu beenden, wurden
schließlich drei Unterausschüsse gebildet, die sich mit dem Transferschutz,
der Kommerzialisierung und den Sachlieferungen befaßten1154. Bis Ende März
konnten immerhin die technischen Fragen weitgehend geklärt werden1155: Die
deutsche Reparationsschuld sollte in einen geschützten und einen ungeschützten Teil aufgeteilt werden. Geschützt bedeutete in diesem Fall, daß dieser Teil
der Reparationen nicht transferiert zu werden brauchte, wenn die deutsche
Währung in Gefahr war. Der ungeschützte Teil mußte in jedem Fall überwiesen werden. Auch über die Bank für internationalen Zahlungsausgleich, die
die Rolle des Reparationsagenten übernehmen und die Reparationen an die
einzelnen Gläubigerländer verteilen sollte, bestand weitgehend Einigkeit1156.
Umstritten waren aber vor allem noch die Höhe der deutschen Zahlungen und
die Länge der Laufzeit. Hier klafften die Vorstellungen weit auseinander1157.
Eine ernste Verhandlungskrise trat ein, als die deutsche Delegation am
17. April 1929 ein Memorandum vorlegte, in dem sie zwar eine höhere Annui-
Diese Berichte finden sich u.a. in: MAE RC B, 426-429.
Vgl. den BandzyxwvutsrponmlihgfedcbaXSRPNMKIHEDBA
Β XI der ADAP zum Stichwort »Reparationen«.
1151
Hoesch an Schubert, ADAP Β XI, Nr. 85.
1152
Siehe Bericht Schachts über die Sachverständigenkonferenz (12.3.1929), AdR Müller Π
Bd. l.Nr. 152.
1153
Bericht Kastls über die Sachverständigenkonferenz (1.3.1929), AdR Müller II Bd. 1,
Nr. 139.
1154
Siehe ibid. Anm. 1.
1155
Siehe Bericht Schachts und Vöglers über die Sachverständigenkonferenz (22.3.1929),
AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 160.
1156
Siehe Aufzeichnung Seydoux (22.3.1929) MAE PAAP 261,4.
1157
Siehe Bericht Schachts und Vöglers über die Sachverständigenkonferenz (22.3.1929),
AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 160, sowie Bericht Kastls und Melchiors über die Sachverständigenverhandlungen (29.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 164. Eine genaue Aufrechnung der
Reparationsforderungen der vier europäischen Mächte, der amerikanische Vorschlag und der
deutsche Vorschlag finden sich in: Besprechung über Reparationsfragen (17.4.1929), AdR
Müller Π Bd. l,Nr. 137.
1150
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
381
tδt von durchschnittlich 1,65 Mrd. GM f٧r mφglich hielt, dieses Angebot aber
mit der Forderung verkn٧pfte, Kolonien und das Korridorgebiet zur٧ckzuer
halten1158. Abgesehen davon, daß das Reparationsangebot der Deutschen immer noch wesentlich niedriger war als die alliierten Forderungen - die europäischen Gläubiger forderten durchschnittlich 2,198 Mrd. GM, ein Kompromißvorschlag Youngs sah 2,109 Mrd. GM vor1159 - , stießen vor allem die politischen Forderungen auf Ablehnung. Zwar hatten die amerikanischen Delegierten inoffiziell eine gewisse Sympathie für die Rückgabe des Korridors und
andere politische Wünsche der deutschen Delegation gezeigt1160, bei Engländern und Franzosen stießen diese jedoch - wie dies auch abzusehen war1161 auf erhebliche Widerstände1162. Selbst die amerikanische Regierung kritisierte
jetzt die deutschen Forderungen scharf4163.
Es war wohl nur der plötzliche Tod des englischen Delegierten Lord Revelstoke, der einen Bruch der Verhandlungen verhinderte, und den Delegationen
die Möglichkeit gab, neue Vorschläge zu erarbeiten1164. Das Reichskabinett,
das mit der Verhandlungsführung der Sachverständigen unzufrieden war und
ein Scheitern der Konferenz verhindern wollte1165, versuchte nun, stärkeren
Einfluß auf die Experten auszuüben und diese zu einer kompromißbereiteren
Linie zu bewegen1166. Unterdessen nahmen auch die Westmächte den Reichsbankpräsidenten in die Zange, indem sie durch den Abzug von Kapital aus
Deutschland den Kurs der Reichsmark unter Druck setzten. Diese Maßnahme
wurde offenbar von der Banque de France gesteuert1167. Allerdings wurde sie
vom französischen Finanzministerium heftig kritisiert, weil man damit genau
1158
Text des Memorandums: Ruppel an Ritter, Pünder, Schäffer und Dom (18.4.1929),
ADAPzwvutsrponmlihgfedcbaXSRPNMKIHFEDCBA
Β XI, Nr. 179.
1159
Siehe Besprechung über Reparationsfragen (17.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 137.
1160
Siehe bspw. Schacht an Stresemann (16.2.1929), ADAP Β XI, Nr. 75 oder Bericht Kastls
über die Sachverständigenkonferenz (1.3.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 139.
1161
Bereits vor dem deutschen Memorandum hatte der ehemalige StS im AA, Richard von
Kühlmann, einen Brief an den britischen Botschafter in Paris, Sir William Tyrrell, gerichtet,
in dem er Ansprüche auf einige ehemalige deutsche Kolonialgebiete und portugiesischen
Kolonialbesitz angemeldet hatte (Kühlmann an Tyrrell [19.3.1929], ADAP Β XI, Nr. 129).
Bei den Engländern und auch bei der Reichsregierung - die betonte, daß Kühlmann ohne
offizielles Mandat gehandelt habe - stieß das Vorhaben Kühlmanns auf Ablehnung (Aufzeichnung Schubert [4.4.1929], ADAP Β XI, Nr. 148; Aufzeichnung Schubert [4.4.1929],
ADAP Β XI, Nr. 149).
1,62
Siehe Hoesch an AA (20.4.1929), ADAP Β XI, Nr. 186; Besprechung über Reparationsfragen (19.4.1929) AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 174.
1163
Siehe Prittwitz an AA (20.4.1929), ADAP Β XI, Nr. 185; Prittwitz an AA (29.4.1929),
ADAP Β XI, Nr. 203.
1.64
Siehe Aufzeichnung Moret [?] (20.4.1929), MAE RC B, 427.
1.65
Siehe Ministerbesprechung (19.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 175.
1166
Siehe Stresemann an Botschaft Paris (3.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 214.
1167
Siehe Farmer an Poincarf (25.4.1929), MAE RC B, 427.
382
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
»le jeu du Dr. Schacht«1168 spiele, und eine Transferkrise provoziere, die den
Deutschen die Argumente f٧r die Verringerung der Reparationslast liefern
kφnne. Die Aktion wurde umgehend eingestellt, zumal auch die USA interve
nierten1169. Der Reichsbankprδsident erklδrte zwar gegen٧ber der Reichsregie
rung vollmundig, der Angriff auf die deutsche Wδhrung sei »restlos abge
wehrt«1170, doch schien der Schock bei Schacht tief zu sitzen: Am 4. Mai 1929
erklδrte er sich zur Annahme des amerikanischen Kompromißvorschlags mit
Vorbehalten einverstanden1171. Gleichzeitig begannen Schacht und Vogler,
sich von den Ergebnissen der Reparationsverhandlungen zu distanzieren: Vogler erklärte am 18. Mai 1929 seinen Rücktritt als Sachverständiger, weil er die
Belastungen für untragbar hielt1172. Schacht trat zwar nicht zurück, verlangte
aber von der Reichsregierung eine Erklärung, daß er keine Verantwortung für
den Young-Plan trage1173.
In der letzten Phase der Expertengespräche belastete noch die belgische
Markfrage die Verhandlungen. Das Problem ergab sich daraus, daß die deutsche Besetzung während des Ersten Weltkrieges den (durch das Gold der belgischen Nationalbank gedeckten) belgischen Franken beschlagnahmt und
durch wertloses Besatzungsgeld ersetzt hatte. Seit dem Ende des Krieges hatte
die belgische Regierung bislang vergeblich versucht, eine Entschädigung dafür zu erhalten. Jetzt drohte die belgische Delegation - mit Unterstützung
Frankreichs - die Reparationsverhandlungen platzen zu lassen, falls die Markfrage nicht geklärt würde1174. Nachdem auch dieses Problem gelöst werden
konnte, wurden die Verhandlungen am 7. Juni 1929 abgeschlossen1175. Der
neue Reparationsplan1176 legte fest, daß Deutschland bis zum Jahre 1988 Reparationen zu zahlen hatte, wobei die Annuitäten im Durchschnitt etwa
2 Mrd. GM betrugen. Die Finanzkontrollen wurden aufgehoben und die Sachlieferungen sollten nach 10 Jahren auslaufen. Die Annuität wurde in einen geschützten und einen ungeschützten Teil aufgeteilt. Der ungeschützte Teil, der
1,68
Ibid.
Siehe Aufzeichnung Seydoux (29.4.1929), MAE PAAP 261,4.
1170
Besprechung über reparationspolitische Angelegenheiten (29.4.1929), AdR Müllerzyutsrponm
Π
Bd. 1, Nr. 185. Siehe auch Vermerk Pünder (1.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 189; Be
sprechung über die Reparationslage (1.5.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 190.
1171
Siehe Schacht an Müller (4.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 217.
1172
Siehe Aufzeichnung Ritter (22.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 242; Stresemann an die Bot
schaften in Paris, London, Washington, Rom, Tokio und die Gesandtschaft in Brüssel
(23.5.1929), ADAP Β XI, Nr. 244; Reparationspolitische Besprechung (28.5.1929), AdR
Müller Π Bd. 1, Nr. 203.
1169
1173
1174
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 261f.
Siehe Besprechung über die Reparationsverhandlungen (24.5.1929), AdR Müller Π
Bd. 1, Nr. 209; Ministerbesprechung (31.5.1929), AdR Müller Π Bd. l,Nr.214.
1175
Siehe Aufzeichnung Moret [?] (7.6.1929), MAE RC B, 429.
1176
Siehe YoungPlan, zusammenfassend: HEYDE, Reparationen, S. 48; KNIPPING, Locarno
Ära, S. 48f.; JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 272.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
383
ein knappes Drittel der Gesamtsumme umfaßte, mußte in jedem Fall bezahlt
werden, war kommerzialisierbar und wurde durch die Einnahmen der Reichsbahn gedeckt. Dieser Teil der Annuität kam vor allem Frankreich zugute und
diente zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden. Die anderen zwei Drittel
der Reparationen waren zur Deckung der interalliierten Schulden vorgesehen.
Sie waren geschützt in dem Sinne, daß die deutsche Seite diese mit einer Frist
von drei Monaten für maximal zwei Jahre aussetzen konnte, falls der deutschen Wirtschaft bzw. der Reichsmark Gefahr drohte. Ein Sonderausschuß
sollte im Falle eines Moratoriums die Ursachen der Transferschwierigkeiten
ermitteln, und eine Regierungskonferenz sollte anschließend Maßnahmen zur
Behebung des Problems erarbeiten. Im Falle eines deutschen Moratoriums
sollte Frankreich einen Fonds von 500 Mio. GM bilden, um daraus die Ansprüche der kleineren Reparationsgläubiger zu bedienen. Eine Verknüpfung
zwischen Reparationen und Kriegsschulden bestand insofern, als der geschützte Teil der Reparationen sank, wenn die Kriegsschulden reduziert wurden.
Die Reichsregierung entschloß sich - obwohl die deutsche Leistungsfähigkeit nicht fur die Festsetzung der Höhe der Reparationen ausschlaggebend gewesen war - am 18. Juni 1929 zur prinzipiellen Annahme des Expertenplanes1177. Ein Motiv dafür war, daß befurchtet wurde, eine Nichtannahme könne
zu einer Zahlungskrise fuhren, die durch den damit einhergehenden Abzug
ausländischen Kapitals zu einer schweren Wirtschaftskrise mit unabsehbaren
sozialen Folgen führen würde1178. Stresemann befürchtete gar, »daß die
Russen mit der etwaigen deutschen Ablehnung zweifellos auf eine neue Aktion für die Weltrevolution spekulierten«1179. Ferner gingen einige Kabinettsmitglieder davon aus, daß der Young-Plan nicht das letzte Wort in der Reparationsfrage sei und weitere Reduzierungen möglich würden. Auch der Wegfall
der Finanzkontrollen war ein Beweggrund zur Annahme der Expertenpläne.
Die Rückgabe des Rheinlandes wurde in der Kabinettssitzung zwar nicht erwähnt, dürfte aber ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben1180.
Ebenfalls am 18. Juni billigte der französische Ministerrat den Plan1181. Für
die französische Regierung waren vor allem drei Dinge entscheidend gewesen:
Die im neuen Reparationsplan festgelegten Annuitäten deckten die Schuldenzahlungen an die USA und Großbritannien und ermöglichten die Finanzierung
des Wiederaufbaus1182. In Paris war man, zweitens, der Ansicht, daß durch die
1177
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 49.
Zum folgenden siehe Ministerbesprechung (2.5.1929), AdR Müller II Bd. 1, Nr. 192;
Π Bd. 1, Nr. 194.
Ministerbesprechung (3.5.1929), AdR MülleryutsrponmlihedcbaSONLJIDCBA
1,79
Ibid.
1180
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 267.
1181
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 326.
1178
1182
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 48.
384
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
endg٧ltige Lφsung der Reparationsfrage eines der ganz großen Probleme entfalle, das die deutsch-französischen Beziehungen und den wirtschaftlichen
Wiederaufbau Europas belastete1183. Der dritte für Frankreich wesentliche Aspekt war die faktische Verknüpfung der Kriegsschulden mit den Reparationszahlungen1184: Während der ungeschützte Teil der Reparationen den französischen Wiederaufbaukosten entsprach, war der geschützte an die Schuldenrückzahlung gebunden. Sollte Deutschland um ein Moratorium fur die Reparationen nachsuchen, hatte Frankreich die Möglichkeit, seine Schuldenrückzahlung für maximal drei Jahre auszusetzen. Indes überzeugte dieser Zusammenhang die französischen Parlamentarier nicht restlos, wie die Debatten um die
Ratifizierung der Schuldenabkommen mit den USA und Großbritannien im
Juni und Juli 1928 zeigten. Nachdem der Young-Plan verabschiedet worden
war, sah Poincare den Zeitpunkt für gekommen, die beiden Verträge nun endgültig durch das Parlament zu bringen. Die Zeit drängte dabei: Würde das
Mellon-Berenger-Abkommen nicht bis zum 1. August 1929 ratifiziert sein,
kämen - so sah es das Abkommen vor - zusätzliche Zahlungen in Höhe von
etwa 400 Mio. US-Dollar auf Frankreich zu1185. Die ablehnende Haltung zur
Ratifizierung speiste sich dabei aus unterschiedlichen Quellen1186: Der YoungPlan war zwar als Grundlage für eine anstehende Regierungskonferenz anerkannt, aber noch keinesfalls verabschiedet; vielen war die etablierte Verknüpfung zwischen Schulden und Reparationen außerdem nicht stark genug; und
natürlich spielten auch Fragen des nationalen Prestiges eine Rolle. Nachdem
die Amerikaner kategorisch abgelehnt hatten, neu über das Schuldenabkommen zu verhandeln bzw. Vorbehalte bezüglich der Deckung der Schuldenzahlungen durch die Reparationen in den Vertrag aufzunehmen1187, gelang es der
Regierung in einem Kraftakt, doch noch die Ratifizierung der Schuldenabkommen durchzusetzen: Die Kammer stimmte am 20. Juli mit knapper Mehrheit zu1188. Der Senat verabschiedete sie am 26. Juli 1929, und am selben Tag
demissionierte Poincar6 aus gesundheitlichen Gründen1189.
Neue Gefahr für den Young-Plan und die Regierungskonferenz drohte unterdessen aus London: Dort hatten am 30. Mai 1929 Unterhauswahlen stattgefunden, die die Labour Party mit MacDonald erneut an die Regierung gebracht
hatten. Neben innenpolitischen Gründen, wie die schlechte Wahlkampagne der
1183
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (13.6.1929), MAE RC B, 430.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (4.6.1929), CAEF, Fonds Trdsor, relations multilaterales,yutsrponmlihecaSRONLJHDCBA
Β 48 888.
1185
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 160.
1186
Siehe Hoesch an AA (30.6.1929), BArch R 3101, 14499; Hoesch an AA (22.7.1929),
BArch R 3101, 14499
1187
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 327f.
1,88
Zur Ratifizierungsdebatte in der Kammer siehe Hoesch an AA (22.7.1929), BArch
R 3101, 14499.
1189
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 329-334.
1184
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
385
Tories und die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit1190, hatte auch die pro
franzφsische Außenpolitik Chamberlains zur Wahlniederlage der Konservativen beigetragen1191. Zwar vermied der neue englische Außenminister, Arthur
Henderson, einen radikalen Politikwechsel, doch wurden Brüche in der Entente deutlich, die faktisch zwischen London und Paris geherrscht hatte, solange
Chamberlain Chef des Foreign Office gewesen war. London forderte beispielsweise jetzt wieder die allgemeine Abrüstung und beendete damit die gemeinsame englisch-französische Abrüstungspolitik, wie sie im Kompromiß
vom 30. Juli 1928 vereinbart worden war1192. Ungemach deutete sich auch für
die gemeinsame Reparationspolitik gegenüber Deutschland an, wie sie von
Poincare und Churchill betrieben worden war. Der neue Schatzkanzler Sir
Philipp Snowden lehnte den Young-Plan von Anfang an als für England zu
nachteilig ab1193. In der Rheinlandfrage gab es ebenfalls Differenzen mit
Frankreich: Henderson war zur Räumung des Rheinlands auch ohne Lösung
der Reparationsfrage bereit und bei der Commission de constatation et conciliation neigte er eher dem deutschen Standpunkt zu, deren Arbeit bis 1935 zu
befristen1194
Nachdem sich nach einigem diplomatischen Hin und Her die Regierungen
auf das Konferenzprogramm und auf Den Haag als Tagungsort geeinigt hatten1195, trafen dort vom 6. bis 31. August 1929 die Delegationen Frankreichs,
Deutschlands, Großbritanniens, Belgiens, Italiens und der anderen, kleineren
Reparationsgläubiger zusammen, um über die Umsetzung des Young-Plans
und die Räumung des Rheinlands zu verhandeln. Gemäß diesen beiden kardinalen Punkten wurden zwei Kommissionen gebildet. Die erste, unter Vorsitz
des belgischen Finanzministers Baron Paul Houtart, befaßte sich mit dem Problem der Reparationen, die zweite, unter Vorsitz Hendersons, mit der Rheinlandräumung.
Der Verlauf der Konferenz wurde vor allem von der unnachgiebigen Haltung des englischen Schatzkanzlers Snowden geprägt: Dieser forderte einen
höheren Anteil seines Landes an den Reparationen und ein möglichst schnelles
Ende der Sachlieferungen, die zu Lasten des englischen Exports gingen1196.
Mit seinen Forderungen traf er auf den erbitterten Widerstand der Franzosen,
so daß sich die Konferenz bald an einem toten Punkt befand1197. Dabei ließ
sich der englische Schatzkanzler weder durch die Opposition in den eigenen
1190
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 280.
Siehe ibid. S.281.
11,2
Siehe Kap. 4.1.5.; KNIPPING, Locamo-Ära, S. 57.
1193
Siehe Aufzeichnung Schubert (11.7.1929), ADAPyutsrponmlihecbaSRPNLHDA
Β ΧΠ, Nr. 81.
' 194 Siehe Sthamer an Schubert (8.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 67.
1195
Siehe Hoesch an AA (25.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 123.
1196
SiehefYSONJHEDCBA
JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 285; HEYDE, Reparationen, S. 50f.
1197
Siehe P٧nder an AA (10.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 164.
1191
386
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Reihen1198 noch durch die Versuche amerikanischer Banken1199 und der
Banque de France, durch den Abzug von Gold aus London das Pfund unter
Druck zu setzen1200, beirren, weil er die φffentliche Meinung in England hinter
sich wußte1201. Frankreich wiederum sah die englischen Forderungen als völlig
überzogen an1202. Die Sackgasse, in der sich die Kommission für Reparationsfragen befand, wirkte sich auch auf die Arbeit der politischen Kommission
aus, in der die Frage der Rheinlandräumung an erster Stelle stand. Zwar hatte
Henderson erklärt, daß die Engländer in jedem Fall ihre Besatzungstruppen
aus dem Rheinland abziehen wollten, selbst wenn die Haager Konferenz
scheitern sollte1203. Briand aber hatte, um wiederum Druck auf Snowden und
seine unnachgiebige Haltung in der Reparationsfrage auszuüben, erklärt: »Die
Räumung sei an den Erfolg der Finanzkommission dieser Konferenz gebunden
[...]. Erst dann könne man Endgültiges in der Räumungsfrage sagen«1204.
Die deutsche Delegation befand sich dabei in einer unangenehmen Mittellage: Sie hatte das Hauptinteresse am Erfolg der Konferenz, wegen der Verringerung der Reparationslast durch den neuen Plan und wegen der erhofften vorzeitigen Freigabe des Rheinlandes. Allerdings bestand nun die Gefahr, daß
England und Frankreich, um die blockierten Verhandlungen wieder in Gang
zu bringen, zu einem finanziellen Arrangement kamen, das zu Lasten Deutschlands ging1205. Druckmittel hatte die deutsche Delegation indes nur wenige:
Stresemann konnte gegenüber Briand nur betonen, daß ein Scheitern der Konferenz besonders hinsichtlich der Räumung die deutsch-französischen Beziehungen ernstlich gefährde1206.
Am 28. August 1929 kam es schließlich zu einer Einigung über die englischen Forderungen: Der Anteil der ungeschützten Annuität wurde zugunsten
Englands erhöht, außerdem sollte es den Überschuß erhalten, der durch die
immer noch anfallenden höheren Dawes-Zahlungen gegenüber den niedrigeren Young-Plan-Annuitäten auflief*207. Damit waren die englischen Forderungen zu drei Vierteln erfüllt worden1208. Nach der Einigung in der Finanzkommission konnte schließlich auch in der Räumungsfrage ein Ergebnis erzielt
1198
Siehe Sthamer an AA (8.8.1929), ADAPzyvutsrponmlihgfedcbaYUTSQPONMLJIHFEDC
Β ΧΠ, Nr. 156.
Siehe Margerie an Quai d'Orsay u. Delegation Den Haag (9.8.1929), MAE 19181940
Y (Internationale), 39.
1200
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 313.
1201
Siehe Aufzeichnung Schmidt (9.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 158.
1202
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.8.1929), CAEF Fonds Tr6sor, relations multila
tdrales, Β 48 888.
1203
Siehe ibid.
1204
Aufzeichnung Schmidt (19.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 189, vgl. auch Aufzeichnung
Schmidt (21.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 196.
1205
Siehe Aufzeichnung Boden (13.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 169.
1204
Siehe Aufzeichnung Schmidt (21.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 196.
1207
Siehe Pünder an AA (28.8.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 217.
1208
Siehe Berthelot an Quai d'Orsay (28.8.1929), MAE 19181940 Y (Internationale), 40.
1199
4.2.ywutsrnmlihgfedcbaWD
Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
387
werden. Das Rheinland sollte bis zum 30. Juni 1930 vollstδndig gerδumt
werden1209. Die deutsche Delegation, die auch eine Lφsung der Saarfrage
erreichen wollte, konnte sich mit Frankreich zumindest darauf einigen, daß
Verhandlungen zu diesem Thema aufgenommen werden sollten1210, die in der
Folgezeit jedoch versandeten. Auf der zweiten Haager Konferenz, die vom
3. bis 20. Januar 1930 stattfand, wurden diejenigen Probleme behandelt, die
aufgrund des Konfliktes zwischen Snowden und den übrigen Teilnehmern
zunächst zurückgestellt worden waren1211.
Trotz der langen und schwierigen Verhandlungen war der Young-Plan nicht
die erhoffte endgültige Lösung des Reparationsproblems. Heyde stellt dazu
fest: »Nicht eines der Probleme, die zur Revision des Dawes-Plans geführt
hatten, wurde gelöst«1212. Deutschland hatte zwar eine Verringerung der Annuitäten, die Abschaffung der ausländischen Kontrollen und die vorzeitige
Räumung des Rheinlandes erreichen können1213, und Frankreich hatte, wenn
auch keinen juristischen, so doch zumindest einen faktischen Zusammenhang
zwischen Reparationsforderungen und Schuldenrückzahlung herstellen können1214; der Young-Plan - und nur das war eine Garantie dafür, daß er tatsächlich eine endgültige Lösung des Reparationsproblems darstellte - beruhte aber
nicht auf einer realistischen Einschätzung der deutschen Zahlungsfähigkeit
oder auf einer genauen Untersuchung des Wirkens des Gesamtkreislaufs von
amerikanischen Auslandskrediten, deutschen Reparationen und interalliierten
Schulden. Genau wie der Dawes-Plan funktionierte der Young-Plan im Grunde genommen nur auf Pump1215. Die Annuität, auf die man sich letztendlich
geeinigt hatte, war politischen Bedingungen geschuldet, nicht wirtschaftlicher
Vernunft. Frankreich und England wollten ihre Kriegsschulden gedeckt sehen,
und Frankreich zusätzlich einen Überschuß - zur Finanzierung des Wiederaufbaus - sichergestellt haben. Dies geschah in Verkennung bekannter wirtschaftlicher Tatsachen.
Die Schuld daran trugen letztlich die USA, die nicht bereit waren, ihre Ansprüche gegenüber Frankreich und Großbritannien zu senken. Parker Gilbert
schlug - man muß fast sagen wider besseren Wissens - einen Reparationsplan
vor, der mit der Realität nicht viel zu tun hatte: Hatte er in seinen Berichten im
Jahr 1927 noch vor der sich verschlechternden Haushaltslage in Deutschland
und den Auswirkungen fur die deutsche Zahlungsfähigkeit gewarnt1216, schien
ihm die weiterhin rasant zunehmende Verschuldung der öffentlichen Haushal1209
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 343.
Siehe Aufzeichnung Schmidt (21.8.1929), ADAPtrponihfedbaYXUSRNIHED
Β XU, Nr. 196.
1211
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 53f.
1212
Ibid. S. 48.
1210
1213
1214
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 484-486.
Siehe Aufzeichnung Quesnay [?] (12.5.1929), BdF 1450199202/13.
1215
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 49.
1216
Siehe Aufzeichnung Vallette (24.10.1927), ADAP Β ΥΠ, Nr. 48.
388
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
te1217 anschließend keine Sorgen mehr zu bereiten. Gegenüber Poincar6 und
Seydoux, die beide Zweifel geäußert hatten1218, ob Deutschland die DawesBelastung langfristig würde tragen können, beteuerte er, daß eine Annuität von
2 Mrd. GM durchaus möglich sei1219. Neben den persönlichen Motiven des
Reparationsagenten, der - wie sein Vertrauter Fräser gegenüber Seydoux betonte - noch immer hoffte »bien etre rendu libre en Septembre«1220, dürfte für
die Haltung der amerikanischen Delegation bei den Young-Plan-Verhandlungen auch deren Verhältnis zur neuen Hoover-Administration entscheidend
gewesen sein: Hoover, der sein Amt am 4. März 19291221 angetreten hatte,
hatte von der (ebenfalls republikanischen) Vorgänger-Administration eine Expertendelegation geerbt, mit der er persönlich auf äußerst schlechtem Fuß
stand: Weder Morgan noch Young, der sich zudem als möglicher Präsidentschaftskandidat fur die Demokraten positionierte, hatten das Vertrauen des
neuen Präsidenten1222. Da außerdem die amerikanische Öffentlichkeit gegen
jedwede Zugeständnisse in der Schuldenfrage eingestellt war, die Hoover,
selbst wenn er gewollt hätte, kaum hätte durchsetzen können, war der Spielraum der amerikanischen Delegation extrem eingeschränkt1223. Hoover hatte
sich darüber hinaus eine ökonomische Theorie zurechtgelegt, die zwar seinen
Interessen und seiner Politik gelegen kam - die Rede ist von dem bereits erwähnten »triangular trade«1224 - , doch leider wenig mit den wirtschaftlichen
Realitäten zu tun hatte und ernstzunehmende Kritik erfuhr1225.
Die Klage Schachts gegenüber der Reichsregierung, daß allein die deutsche
Expertendelegation richtige Verhandlungen über die Höhe der Reparationen
(und Schulden) hatte fuhren wollen, statt dessen aber mit bereits mehr oder
weniger festgelegten Forderungen konfrontiert wurde1226, waren insofern berechtigt, als dem AA durch Gilbert selbst bekannt war, daß eine Reparationsregelung nicht billig würde1227. Man wußte in Berlin ebenfalls über die Haltung Hoovers Bescheid1228 und über das Treffen zwischen Poincare und
1217
Vgl. Statistisches Jahrbuch 1930, S. 516.
Siehe SEYDOUX, Plan Dawes, S. 453; Aufzeichnung Stresemann (27.8.1928), ADAP zyxwvu
Β IX, Nr. 263.
1219
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 215.
1220
Aufzeichnung Seydoux (25.4.1929), MAE PAAP 261,4.
1221
Siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 428f.
1222
Siehe Aufzeichnung Boyer (2.5.1929), MAE PAAP 261,4.
1223
Siehe ibid.; Aufzeichnung Seydoux (29.4.1929), MAE PAAP 261,4.
1224
Vgl. Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAP Β DC, Nr. 118.
1225
Vgl. z.B. Frank D. GRAHAM, La politique commerciale des EtatsUnis et leur position de
criancier internationale, in: Revue 6conomique internationale, Jg. 18, Heft Π, Nr. 3 (Juni
1926), S. 537546, insbes. S. 545f.
1226
Siehe Schacht an Müller (27.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 184; Müller an Schacht
(30.4.1929), AdR Müller Π Bd. 1, Nr. 188.
1227
Siehe Aufzeichnung Schubert (1.10.1928), ADAP Β X, Nr. 53.
1228
Siehe Prittwitz an AA (5.7.1928), ADAP Β DC, Nr. 118.
1218
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
389
Churchill im Oktober 19281229. Allerdings d٧rften auch Schacht diese Tatsa
chen nicht gδnzlich unbekannt gewesen sein1230. Dietsronmfec
terms of reference hδtten
sowohl der Reichsregierung als auch der deutschen Delegation Warnung ge
nug sein m٧ssen, was den Verhandlungsspielraum bei den Pariser Experten
verhandlungen anging. Die Verhandlungsfehler der deutschen Delegation (be
sonders das Erheben politischer Forderungen und das Verhalten Schachts)
haben die ohnehin schwierige Lage allerdings nicht gerade verbessert. Die
deutschen Delegierten gingen naiv in die Verhandlungen, weil sie annahmen,
substantielle Verhandlungen fuhren zu kφnnen. Die Reichsregierung dagegen
hatte sich einer beinahe defδtistischen Haltung hingegeben: F٧r sie ging es nur
noch darum, Schlimmeres zu erwartende Unruhen bei einer nδher r٧ckenden
Transferkrise und einem Scheitern der Rheinlandrδumung zu vermeiden.
Alles in allem war der YoungPlan also in der Tat keine endg٧ltige Lφsung f٧r
das internationale Schulden und Reparationsproblem.
Inwiefern beeinflußte nun die Reparationsfrage die Modernisierung der Außenpolitik? Sie wirkte auf dreifache Weise modernisierungshemmend: Erstens, die Reparationen verzögerten und verzerrten die wirtschaftliche Erholung Europas, die gemäß des liberalen Modells der Friedenssicherung eine
wesentliche Voraussetzung für die friedliche Entwicklung der internationalen
Beziehungen darstellte. Zweitens, der andauernde Streit um die Reparationen
belastete die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich und verzögerte so die Aussöhnung zwischen beiden Ländern. Auch für die innenpolitische Legitimation der verständigungsorientierten Außenpolitik hatte die Reparationspolitik verheerende Wirkung. Ein Beispiel hierfür ist der Zusammenschluß von DNVP, Alldeutschen und Nationalsozialisten am 9. Juli 1929 zum
»Reichsausschuß für das Volksbegehren gegen den Young-Plan«1231. Durch
den Hickhack um die Höhe der Reparationen bei den Pariser Sachverständigenverhandlungen und die - in deutschen Augen - zu lange Laufzeit des Planes schloß sich die republikfeindliche Rechte zusammen und konnte deutlich
an Schlagkraft gewinnen. Es entstand in der Öffentlichkeit zudem der Eindruck, daß das Rheinland eben doch durch einen »Kuhhandel« freigekommen
1229
Siehe Rieth an AA (23.10.1928), ADAPzwutsrponmlihgfedcbaXUSRPNMIHGFDBA
Β X, Nr. 79; Aufzeichnung ohne Unterschrift
(25.10.1929), ADAP Β X, Nr. 80.
1230
In der Besprechung am 25.10.1929 zwischen Gilbert und Morris einerseits sowie RFM
Hilferding und Schacht andererseits über die Besprechungen zwischen Churchill, Poincare
und Gilbert selbst hatte der Reparationsagent bezüglich der Höhe der zukünftigen deutschen
Belastung erklärt: »No agreement had been reached on the figures, and in the nature of
things none could be reached in advance of the work of the Committee [...] At the same time,
the Agent general wished to make it clear that each of the Allied Governments principally
interested had already defined in rather precise terms its standpoint in principle«, und verwies anschließend auf die Reden Poincares und die Balfour-Erklärung zu den Reparationen
(Aufzeichnung ohne Unterschrift [25.10.1929], ADAP Β X, Nr. 80). Aus diesen Hinweisen
zu einer ungefähren Summe der Forderung zu kommen, war simple Arithmetik.
1231
Siehe HOUWINKTEN CATE, Schacht, S. 214.
390
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
war, auf Kosten zuk٧nftiger Generationen. Der Erfolg der vorzeitigen Rhein
landrδumung verpuffte somit weitgehend wirkungslos f٧r die Reichsregierung.
Trotz des letztendlichen Scheiterns des Volksbegehrens gegen den Young
Plan ging die sogenannte »nationale Opposition« gestδrkt aus den Reparati
onsquerelen hervor1232. Drittens verdeckte die Diskussion um die Reparationen
andere wichtige Probleme, die weiterhin zwischen Paris und Berlin bestanden.
Ein Beispiel hierf٧r ist die Commission de constatation et conciliation, die bei
der Haager Konferenz sang und klanglos von der Tagesordnung ver
schwand1233. Zwar werden »[d]ie Ursachen dieser Kehrtwendung [...] in den
Akten nicht recht klar«1234, doch lassen sich einige begr٧ndete Vermutungen
dar٧ber anstellen: England und Deutschland lehnten die CCC ab1235, und Bert
helot und Briand waren auch keine allzu begeisterten Anhδnger dieser Idee1236.
Vielleicht gaben sie aufgrund der Aussichtlosigkeit der Forderung und um die
durch das Vorgehen Snowdens ohnehin schon angespannte Lage nicht noch
weiter zu verschδrfen, ihre Forderungen auf. Zwischen Massigli und Friedberg
wurden auf der Haager Konferenz immerhin noch einige Restfragen geklδrt,
die die Umsetzung der Entwaffhungsbestimmungen betrafen1237. Letztendlich
einigten sich Frankreich, Belgien und Deutschland darauf, daß alle Fragen, die
im Zusammenhang mit den Entwaffhungsbestimmungen auftauchen sollten,
durch die im Locarno-Abkommen vorgesehenen Schiedskommissionen geklärt werden sollten1238. Wie Jacobson richtig feststellt, bedeutete diese Regelung aber keinerlei Zuwachs an Sicherheit für Frankreich1239. Man mag zwar
darüber streiten, ob die CCC, wie sie ursprünglich von Paul-Boncour und Briand ins Spiel gebracht worden war, überhaupt einen realen Sicherheitsgewinn
bedeutet hätte. Nichtsdestotrotz wird am Schicksal der CCC deutlich, daß das
weiterhin bestehende Sicherheitsproblem Frankreichs durch die Reparationsverhandlungen in den Hintergrund gedrängt und letztlich nicht gelöst wurde.
Trotz der nicht unerheblichen Belastungen, die das Reparations- und Schuldenproblem für die deutsch-französischen Beziehungen im politischen wie
ökonomischen Bereich darstellte, kam es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nicht nur auf sicherheitspolitischem Gebiet zu Fortschritten im Sinne einer
moderneren Außenpolitik, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Annäherung
zwischen Paris und Berlin. Auf bilateraler Ebene war es vor allem der Han1232
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 355.
1233
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 51.
KNIPPING, Locarno-Ära, S. 71.
Siehe JACOBSON, L o c a m o Diplomacy, S. 297f.
1234
1235
1236
Siehe ibid. S. 299, 322.
Siehe französisches Memorandum (15.8.1929), MAE PAAP 217, 13; Aufzeichnung
Massigli (16.8.1929), MAE PAAP 217,13.
1238
Text des Abkommens in: Bassie an Quai d'Orsay (30.8.1929), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 40; Pünder an AA (30.8.1929), BArch R 3101, 14501.
1239
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 344.
1237
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
391
delsvertrag von 1927, der die Wirtschaftsbeziehungen beider Lδnder auf eine
neue Grundlage stellte.
4.2.2. Die Verbesserung der bilateralen Handelsbeziehungen
und der deutsch-französische Handelsvertrag1240
Bis zum 10. Januar 1925 gab es zwischen Deutschland und Frankreich keinen
handelspolitischen Regelungsbedarf1241. An diesem Tag liefen die wirtschaft
lichen Bestimmungen des Teils X des Versailler Vertrags aus, der die Grund
lage der Handelsbeziehungen nicht nur zwischen beiden Lδndern, sondern
zwischen Deutschland und allen Siegermδchten des Ersten Weltkrieges bilde
te1242. Diese Wirtschaftsklauseln sahen im einzelnen vor: die einseitige Ge
wδhrung der Meistbeg٧nstigungsklausel zugunsten der Alliierten bzw. Assozi
ierten, die Einschrδnkung der deutschen Tarifhoheit, die zollfreie Ausfuhr
bestimmter Kontingente aus Elsaß-Lothringen, Luxemburg und dem Saargebiet nach Deutschland und die Eingliederung des Saargebiets zum
10. Januar 1925 in das französische Zollgebiet. Frankreich dagegen erhob auf
deutsche Waren den höchsten Zolltarif4243.
Neben den Bestimmungen des Friedensvertrags hatte natürlich auch die von
Frankreich und Deutschland verfolgte Handelspolitik wesentlichen Einfluß auf
die Handelsvertragsverhandlungen. Die deutsche Handelspolitik seit dem Ersten Weltkrieg bestand hauptsächlich darin, Handelshemmnisse abzubauen.
Sie strebte ein internationales Handelssystem an, das auf dem Prinzip der uneingeschränkten und unbedingten Meistbegünstigung beruhen sollte1244. Dies
geschah nicht aus altruistischen Motiven: Deutschland, das nach dem verlorenen Krieg ohne jedes politische oder militärische Druckmittel war, sah in seiner Wirtschaftsmacht einen wichtigen Trumpf zur Revision der Versailler
Friedensordnung und zur Wiederherstellung seiner Großmachtstellung1245.
1240
Die Ergebnisse dieses Abschnittes habe ich teilweise schon in meinem Aufsatz »Wirtschaftliches Interesse und politisches Kalkül: Die Entstehung des deutsch-französischen
Handelsvertrags vom 17. August 1927« (Francia 29/3 [2002], S. 37-62) dargelegt. Für die
vorliegende Arbeit wurde weiteres Quellenmaterial hinzugezogen und der deutschfranzösische Handelsvertrag unter Berücksichtigung der Fragestellung dieser Arbeit bewertet.
1241
Eine Verlängerung der wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags, für die
gemäß Artikel 280 die Einstimmigkeit im Völkerbundsrat notwendig war, war aufgrund vor
allem der ablehnenden Haltung der britischen Regierung unmöglich, siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift für Dior, AN, F 12, 8865. Vgl. auch MAE PAAP 261, 5.
1242
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, BArch R 3101, 20458.
1243
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.5.1924), ADAP A X, Nr. 70.
1244
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 248.
1245
Siehe Dirk STEGMANN, Deutsche Zoll- und Handelspolitik unter besonderer Berücksichtigung industrieller Interessen, in: Hans MOMMSEN, Dieter PETZINA, Bernd WEISBROD
392
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Allerdings war diese Politik in Deutschland selbst nicht unumstritten: Beson
ders die Schwerindustrie und die Landwirtschaft bekδmpften einen Abbau der
Zollschranken, um die eigenen Interessen zu sch٧tzen1246. Nur die verarbei
tende Industrie st٧tzte den handelspolitischen Kurs der Reichsregierung.
Die Außenhandelspolitik Frankreichs war seit der »loiwvutsrponmkihgfedcaTPNKJ
Μέΐϊηβ« vom 11. Ja
nuar 1892 vorwiegend protektionistisch1247. Nach dem Krieg fuhr Paris in die
ser Tradition fort und erklärte die totale Zollautonomie als außenwirtschaftliches Ziel1248. Am 23. April 1918 hob das französische Parlament alle
bestehenden Handelsverträge auf1249, und am 29. Juli des gleichen Jahres wurde der französische Doppelzolltarif allgemein gültig, d.h. Zollermäßigungen
waren nur noch innerhalb der Spanne zwischen dem Höchsttarifxutrnmligfea
(tarif general
bzw. tarif maximum), und dem Mindesttarif {tarif minimum), möglich. Die
Meistbegünstigungsklausel wurde abgeschafft. Am 30. Dezember 1920 wurden weitreichende Importverbote verhängt und die Zölle mehrfach angehoben1250. Allerdings war auch in Frankreich die Handelspolitik nicht unumstritten: Im Gegensatz zum Handels- und Finanzministerium stand man im Quai
d'Orsay protektionistischen Maßnahmen ablehnend gegenüber1251. Dort befürchtete man, daß die Beziehungen zu politisch wichtigen Ländern durch
Handelshemmnisse gestört und der eigene Handel durch Retorsionszölle
Schaden nehmen würde. Auch die französische Landwirtschaft und die französische Schwerindustrie, die nach dem Krieg und der Rückkehr ElsaßLothringens mit großen Überkapazitäten1252 zu kämpfen hatten, standen für
eine liberalere Wirtschaftspolitik.
(Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.-17. Juni 1973, Düsseldorf
1974, S. 499-513, hier S. 502.
1246
Siehe Ulrich NOCKEN, Das Internationale Stahlkartell und die deutsch-französischen
Beziehungen 1924-1926, in: Gustav SCHMIDT (Hg.), Konstellationen internationaler Politik
1924-1932. Politische und wirtschaftliche Faktoren in den Beziehungen zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten, Bochum 1983, S. 165-202, hier S. 166.
1247
Siehe Anita H I R S C H , La politique commerciale, in: Alfred SAUVY (Hg.), Histoire dconomique de la France entre les deux guerres, Bd. 4: divers sujets, conclusions et enseignements, bibliographie, Paris 1975, S. 9-48, hier S. 15.
1248
Siehe Pierre GUILLEN, La politique douani£re de la France dans les annies vingt, in:
Relations internationales 16 (1978), S. 315-331, hier S. 315f.
1249
Allerdings blieben die bestehenden Abkommen vorläufig in Kraft, so daß z.B. Großbritannien, Belgien, Italien und andere Länder weiterhin die Meistbegünstigung genossen, siehe
Döhle an AA (7.7.1924), BArch R 3101, 20458.
1250
Es gab aber Ausnahmen; vgl. undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, Anlage 7,
BArch R 3101, 20458.
1251
Zur Haltung des Quai d'Orsay siehe GUILLEN, Politique douanifere, S . 3 1 7 - 3 1 9 ; speziell
zu den deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift
( 1 8 . 1 . 1 9 2 5 ) , MAE 1 9 1 8 - 1 9 2 9utsrqponmligedcaYVTRLJIEBA
Ζ (Europe) Allemagne, 5 2 4 .
1252
Vgl. Jacques B A R I £ T Y , Les consequences pour l'dconomiesrnifea
fran9aise du retour de
l'AlsaceLorraine ä la France, in: Francia 3 (1975), S. 533-553.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
393
Wie in Deutschland hatte in Frankreich die Handelspolitik nicht nur die
Aufgabe, wirtschaftliche Interessen zu wahren, sondern auch eine politische
Funktion. Interessanterweise gab es dabei Parallelen zu den drei franzφsischen
Strategien zur Sicherheitspolitik: Auch in der franzφsischen Außenwirtschaftspolitik gab es die Strategien »Bündnis gegen Deutschland«, »Politik der
eigenen Stärke« und »internationale Kooperation«.
Die wirtschaftliche Bündnispolitik war während des Krieges vor allem von
Handelsminister Etienne Clementel, unter Mitarbeit u.a. des jungen Jean
Monnet, formuliert worden. Der Plan Clementels sah eine weitgehende wirtschaftliche Kooperation der alliierten und assoziierten Mächte auch nach
Kriegsende vor1253. Die einzelnen Volkswirtschaften und die internationalen
Wirtschaftsbeziehungen sollten verstärkt geplant und koordiniert werden. Ziel
war letztendlich die Schaffung eines alliierten Wirtschaftsblocks durch die
gemeinsame Verwaltung von Rohstoffen und durch ein System von Präferenzzöllen. Dadurch sollte die gleichmäßige Entwicklung der Weltwirtschaft
und die Lösung der französischen Rohstoffprobleme erreicht werden, zudem
sollte der aggressive deutsche Wirtschaftsexpansionismus eingedämmt und so
der Frieden langfristig gesichert werden. Auf der alliierten Wirtschaftskonferenz vom Juni 1916 kam es zu entsprechenden Vereinbarungen über die Nachkriegszusammenarbeit in Wirtschaftsfragen, jedoch ohne die Beteiligung der
USA, die noch nicht Kriegsteilnehmer waren. Allerdings war fraglich, ob beispielsweise die britische Zustimmung zu diesen Plänen nicht nur taktischer
Natur war, um die Moral der Kriegsallianz aufrechtzuerhalten. Die verstärkten
Maßnahmen der Alliierten ab dem Jahr 1917 zur Verbesserung der Rohstoffversorgung und des Transports waren in französischen Augen ideale Voraussetzungen, auf denen die für nach dem Krieg angestrebte wirtschaftliche Kooperation aufgebaut werden konnte. Sie wurde für Frankreich auch zum
Modell für die zukünftige Rolle des Völkerbunds in Wirtschaftsfragen. Die
Pläne Clementels für eine stärkere verbandsmäßige Organisation der französischen Wirtschaft - die Gründung des Dachverbandes der französischen Produzenten, die Confederation generale de la production franfaise (C.G.P.F.),
ging ebenfalls auf seine Initiative zurück - waren ebenso Bestandteil dieses
Konzepts1254. Die handelspolitischen Maßnahmen, die Frankreich im Jahr
1918 durchführte (Kündigung aller Handelsverträge, Abschaffung der Meistbegünstigung, Doppelzolltarif) dürfen deshalb nicht nur als Teil eines neuen
Protektionismus gesehen werden, sondern als Versuch Frankreichs, die Handelspolitik insgesamt um einen alliierten Wirtschafitsblock zu organisieren.
Die hochfliegenden Pläne Clementels scheiterten aber vor allem aus zwei
Gründen: Die C.G.P.F. war wegen der stark divergierenden Interessen der darin vertretenen Industrien keine schlagkräftige Organisation, womit die bessere
1253
1254
Zum folgenden siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 1-9.
Siehe KUISEL, Capitalisme, S. 128.
394
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Planung der Wirtschaft schon im Innern scheiterte. Wichtiger jedoch war, daß
die Amerikaner und Engländer nichts von den weitreichenden französischen
Plänen wissen wollten1255. Deutlich wurde dies, als England und die USA im
März bzw. Juli 1919 ihre Stützungskredite für den Franc einstellten und es so
zu einem ersten Inflationsschub in Frankreich kam1256.
Nachdem die alliierte Wirtschaftskooperation schon vor den im Versailler
Vertrag vorgesehenen Militärbündnissen zwischen Frankreich und den USA
bzw. Großbritannien gescheitert war, gewann die Option, die französische
Wirtschaft auf Kosten der deutschen zu stärken, an Bedeutung. Dies wurde
einerseits durch die handelspolitische Diskriminierung Deutschlands, wie sie
im Teil X des Versailler Vertrags festgeschrieben war, versucht. Andererseits
bemühte sich Frankreich - wie Bariety herausgearbeitet hat - durch den »projet siderurgique« des Versailler Vertrags, daß heißt durch die gezielte Stärkung der französischen, belgischen und auch italienischen Schwerindustrie
und die Schwächung der deutschen - die wirtschaftlichen Gewichte zugunsten
der Siegermächte des Ersten Weltkrieges nachhaltig zu verschieben1257. Eine
wesentliche Schwächung der deutschen Schwerindustrie trat jedoch nicht ein,
da ihr Zentrum, das Ruhrgebiet, erhalten blieb, und sich Deutschland schnell
Ersatz für die verlorengegangenen Rohstoffvorkommen in Lothringen und
Oberschlesien besorgen konnte1258. Frankreich hingegen hatte mit Überkapazitäten und einer unzureichenden Rohstoffbasis, vor allem bei Koks, zu kämpfen1259. Auch die Reparationspolitik wurde - nachdem sie anfänglich nur eine
untergeordnete Rolle bei den französischen Wirtschaftsplanungen für die
Nachkriegszeit gespielt hatte1260 - verstärkt in diese Politik integriert. Genauso
wie das Rheinland nach dem Scheitern der Bündnisverträge an sicherheitspolitischer Bedeutung gewann, wurde es jetzt im Hinblick auf die französischen
Wirtschaftspläne wichtiger. Im Ruhrkampf wurde dies an der Rolle der
M.I.C.U.M. deutlich, die auch der Schwächung des deutschen schwerindustriellen Potentials dienen sollte1261. Daß das Rheinland weder sicherheits- noch
wirtschaftspolitisch die erste Option französischer Politik war, wurde übrigens
daran deutlich, daß die Besatzungsfristen im Versailler Vertrag zeitlich be1255
Siehe SOUTOU, Problemes, S. 580.
Siehe SAUVY (Hg.), Histoire iconomique, Bd. 1, S. 41.
1257
Siehe Bariety, Relations franco-allemandes, S. 13-15.
1258
Siehe ibid. S. 149-151.
1259
Siehe John GlLLINGHAM, Coal and Steel Diplomacy in Interwar Europe, in: Clemens A.
Wurm u.a. (Hg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik, Wiesbaden 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte,
Beiheft 23), S. 83-101, hier S. 84.
1260
Siehe TRACHTENBERG, Reparation, S. 18.
1261
Siehe Ulrich NOCKEN, International Cartels and Foreign Policy: The Formation of the
International Steel Cartel 1924-1926, in: Clemens A. WlIRM u.a. (Hg.), Internationale Kartelle und Außenpolitik, Wiesbaden 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische
Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 23), S. 33-82, hier S. 37.
1256
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
395
grenzt wurden und nur lose an sicherheitspolitische (wie verbindliche Krite
rien zur άberwachung der deutschen Entwaffnung und die Kontrolle der De
militarisierung) bzw. wirtschaftspolitische Bedingungen (wie die endg٧ltige
Lφsung der Reparationsfrage) gebunden wurden.
Neben diesen beiden Strategien gab es zum Teil parallel dazu άber
legungen, wichtige wirtschaftspolitische Ziele in Kooperation mit Deutschland
zu erreichen. Darunter fallen vor allem die Aktivitδten Millerands, der bereits
1921 den Abschluß eines Handelsvertrags zwischen Deutschland und Frankreich vorgeschlagen hatte1262, oder der Seydoux-Plan und das Wiesbadener
Abkommen, die oben bereits ausfuhrlich dargestellt worden sind1263. Allerdings war auch bei diesen Vorstößen den Deutschen von französischer Seite
nur eine Juniorpartnerschaft angedacht. Die Revision des Versailler Vertrags
und der darin enthaltenen Wirtschaftsbestimmungen war nicht beabsichtigt1264.
Wie bei den sicherheitspolitischen Vorstößen Frankreichs im Völkerbund beispielsweise dem Sicherheitsprojekt Requins und dem Genfer Protokoll1265 konnte auch bei diesen Wirtschaftsprojekten keine Rede von einer gleichberechtigten Einbeziehung Deutschlands sein. Insofern waren auch sie - im Sinne
der hier gebrauchten Definition - nur bedingt modern, moderner aber immerhin als der »projet siderurgique« und die Pläne zu einem gegen Deutschland
gerichteten Wirtschaftsblock der Siegermächte.
Betrachtet man die lange Dauer und die vielen Krisen der deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen, so waren diese in erster Linie auf
wirtschaftliche Probleme zurückzufuhren, wie beispielsweise die Währungsschwankungen zwischen beiden Ländern. Allerdings dürften sich die Handelsgespräche auch deshalb in die Länge gezogen haben, weil Frankreich erst
langsam Abschied von eigenen wirtschaftspolitischen Vorstellungen nehmen
mußte. Gerade in der Anfangsphase der Handelsgespräche versuchte die französische Delegation, die einseitigen Handelsvorteile aus dem Versailler Vertrag zumindest teilweise zu bewahren. Eine wesentliche Ursache dafür, daß
Frankreich die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Versailler Vertrag nicht verewigen konnte, bestand darin, daß die USA und Großbritannien diese ablehnten - und deshalb auch nur der Befristung dieser Vorteile auf fünf Jahre
zugestimmt hatten.
Das handelspolitische Konzept, das die angelsächsischen Mächte verfolgten,
sah ganz anders aus als das französische und deckte sich in vielfacher Weise
mit dem deutschen: England wollte, allein schon um seiner angeschlagenen
Exportwirtschaft willen, zurück zum liberalen Weltwirtschaftssystem der Vor1262
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.4.1924),utsrponmlihfedcbaUSRPMKIFEBA
ΡAAA R, 105604.
Siehe Kap. 2.3.
1264
Siehe »Instructions έ l'ambassadeur de France έ Berlin« (ohne Unterschrift) (26.6.1920),
MAE, PAAP 261, 1.
1265
Siehe Kap. 4.1.3.
1263
396
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisienmg
kriegszeit, in dem es die zentrale Rolle gespielt hatte1266. Die USA betrieben
zwar selbst eine ausgesprochen protektionistische Handelspolitik, forderten
aber den freien Zugang zu auslδndischen Mδrkten1267. Dabei hatte ein Prδfe
renzsystem, wie es der Versailler Vertrag f٧r Frankreich bildete, nat٧rlich kei
nen Platz, zumal London und Washington argwφhnten, Frankreich wolle eine
wirtschaftliche Hegemonie auf dem europδischen Kontinent begr٧nden, die
den Interessen der beiden angelsδchsischen Lδnder zuwiderlief1268. Insofern
kam dem deutschamerikanischen Handelsvertrag vom 8. Dezember 1923 eine
besondere Bedeutung zu1269. Er stellte 1923, dem Jahr der franzφsischen Ruhr
besetzung, f٧r Deutschland nicht nur ein wichtiges außenpolitisches Aktivum
gegenüber Frankreich dar, sondern führte auch zur Sanktionierung des Prinzips der Meistbegünstigung, welches die Reichsregierung als zentrales Anliegen ihrer Handelspolitik verfolgte. Dies richtete sich direkt gegen die Handelsbeschränkungen und die Ungleichbehandlung Deutschlands durch den
Versailler Vertrag, also gegen die bis dahin vertretene französische Handelspolitik. Eine ähnliche Bedeutung hatte der deutsch-englische Handelsvertrag
vom 2. Dezember 1924. Auch Großbritannien mußte, da es ebenfalls von den
Wirtschaftsklauseln des Versailler Vertrags profitierte, zum 10. Januar 1925
seine Handelsbeziehungen zum Deutschen Reich neu regeln. Der britische
Botschafter in Berlin, D'Abernon, hatte bereits am 26. Juli 1924 einen Handelsvertragsentwurf an Stresemann übergeben, über den ab Oktober 1924 verhandelt wurde1270. Auch im deutsch-englischen Handelsvertrag hatte Deutschland die Meistbegünstigung durchsetzen können und eine zufriedenstellende
Lösung für das Problem der Reparationsabgabe (Recovery Act)1271, das auch
die deutsch-französischen Verhandlungen betraf, gefunden. Damit unterband
das AA erfolgreich die Versuche der französischen Regierung, mit London zu
gemeinsamen Handelsabsprachen gegenüber Deutschland zu kommen1272. Besonders am deutsch-amerikanischen Handelsvertrag wurde jedoch deutlich,
daß in einer Handelsvertragspolitik auf Grundlage der Meistbegünstigung
1266
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 249.
Siehe IRIYE, American Foreign Relations, Bd. 3, S. 46f.
1268
Siehe KOLB, Weimarer Republik, S. 58.
1249
Zum deutsch-amerikanischen Handelsvertrag siehe Hans-Jürgen SCHROEDER, Zur politischen Bedeutung der deutschen Handelspolitik nach dem Ersten Weltkrieg, in: Gearid D.
FELDMAN u.a. (Hg.), Die deutsche Inflation. Eine Zwischenbilanz, Berlin, New York 1982,
S. 235-251, hier S. 247.
1270
Siehe ADAP, A XI, Nr. 126, Anm. 2. Zum deutsch-englischen Handelsvertrag vgl.
JOHNSON, Lord D'Abernon, S. 87-107.
1271
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 258. Mit Großbritannien wurde das Problem um den
Recovery Act dadurch gelöst, daß eine andere Erhebungsmethode vereinbart wurde, die gewährleistete, daß nicht mehr einzelne Kaufleute die Zahlungen vornahmen, sondern diese
von der Regierung in Absprache mit dem Reparationsagenten geleistet wurden. Vgl. Chamberlain an Addison (29.11.1924), DBFP 1 XXVI, Nr. 604, bes. Anm. 3.
,272
Siehe Heiriot an Raynaldy (19.9.1924), MAE 1918-1929urponmlgeaEA
Ζ (Europe) Allemagne, 523.
1267
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
397
nicht das Allheilmittel f٧r die gestφrten internationalen Wirtschaftsbeziehun
gen der Nachkriegszeit liegen konnte: Meistbeg٧nstigung bedeutet lediglich,
daß ein Land automatisch diejenigen Zugeständnisse bekommt, die auch andere Länder in Handelsfragen erhalten. Betrieb ein Land jedoch generell eine
Hochzollpolitik - wie es die Vereinigten Staaten taten - , so war der wirtschaftliche Nutzen der Meistbegünstigungsklausel minimal. Die Meistbegünstigungsklausel kann also nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie mit Zollsenkungen einhergeht. Infolgedessen war der deutsch-amerikanische Handelsvertrag wirtschaftlich gesehen ein Fehlschlag1273.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen sollen nun die Handelsvertragsverhandlungen in groben Zügen nachgezeichnet werden. Stichtag war, wie gesagt, der 10. Januar 1925, an dem die Bestimmungen des Teils X des Versailler Vertrags ausliefen. Natürlich fanden aber sowohl in Deutschland als auch
in Frankreich schon vorher interne Überlegungen zur Neuregelung der
deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen statt.
In Frankreich trat am 16. Januar 1924 die interministerielle Kommission für
Handelsverträge unter Vorsitz von Handelsminister Lucien Dior zusammen,
um erstmals über das Projekt eines französisch-deutschen Handelsabkommens
zu beraten1274. Die französische Regierung bot Deutschland die Verlängerung
der wirtschaftlichen Privilegien der besetzten Gebiete gegenüber Frankreich,
Handelserleichterungen zwischen diesen Gebieten mit dem unbesetzten
Deutschland und auch die Senkung einiger Zolltarife an. Es wurde allerdings
ausdrücklich festgehalten, daß »[p]our certaines industries et notamment pour
la metallurgie, les concessions tarifaires ne sevtoniec
con9oivent pas sans entente
economique prealable«1275. Im Gegenzug forderte Frankreich die Verlängerung der Meistbegünstigung und Kontingente für Waren, die bisher nicht nach
Deutschland exportiert werden konnten, sowie die Senkung einiger, in französischen Augen protektionistischer, Zollsätze. Die Niederlassungsrechte für
französische Unternehmen und weitere Bestimmungen der Wirtschaftsklauseln des Versailler Vertrags sollten beibehalten werden. Im Grunde genommen
wollte die französische Regierung also die Fortsetzung des bisherigen, einseitig Frankreich bevorzugenden Handelssystems, das auf dem Versailler Vertrag
basierte. Die Zugeständnisse Frankreichs hielten sich in engen Grenzen und
waren kosmetischer, nicht prinzipieller Natur.
1273
Vgl. Gilbert ZLEBURA, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt a. M. 1984, S. 89f.; SCHULZ, Wirtschaftsordnung,
S. 46f.
1274
Zur Organisation der französischen Außenwirtschaftspolitik vgl. M. SCHMIDLIN, J. DUROQ, L'organisation et la reglementation du commerce exteneur en France. Guide theonque
et pratique ä l'usage des ötudiants et employis du commerce extirieur, Paris 1946, S. 198;
H. MARTY, Die französische Handelspolitik seit dem KriegewvutsrponmlkihgfecaWSPMEA
(Π), in: Weltwirtschaftliches
Archiv 28 (1928), S. 230269, hier S. 243250.
1275
Protokoll (16.1.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
398
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Innerhalb der deutschen Regierung setzten konkrete άberlegungen zu einem
deutschfranzφsischen Handelsvertrag erst zu einem spδteren Zeitpunkt ein.
Am 3. Mai 1924 fand auf Einladung des AA unter Leitung von Ministerialdi
rektor Karl Edler von Stockhammern die erste Besprechung ٧ber einen
deutschfranzφsischen Handelsvertrag statt1276. Ergebnis dieses Gesprδches
war, daß Frankreich die Initiative zu überlassen sei, weil sich für Deutschland
handelspolitisch nach dem 10. Januar 1925 nichts ändere. Da Frankreich aber
deutlich schlechter gestellt würde, stünde die französische Regierung um so
stärker unter Druck, je näher dieses Datum rücke. Grundsätzlich sei Deutschland zwar zu Verhandlungen bereit, jedoch müsse zuvor die wirtschaftliche
Einheit des Reiches wiederhergestellt werden - also alle Maßnahmen zurückgenommen werden, die im Zusammenhang mit dem Ruhrkampf von den Besatzungsbehörden erlassen worden waren. Darüber hinaus müßten alle Versuche Frankreichs, die Handelsgespräche mit der Verabschiedung des DawesPlans zu verknüpfen, unterbunden werden. Außerdem sei ein möglichst weitreichendes Abkommen anzustreben, durch das die Abschaffung auch anderer
einseitiger Vorteile erreicht werden sollte, die Frankreich aufgrund des Versailler Vertrags zustanden. Vor allem die Verlängerung der zollfreien elsaßlothringischen Kontingente sollte möglichst vermieden werden. Hinsichtlich
der Beteiligung der Privatwirtschaft an den Verhandlungen sprach man sich
prinzipiell positiv aus, jedoch nur, wenn die Wirtschaft keine Vereinbarungen
träfe, die »geneigt wären, die Handlungsfreiheit der Regierung zu präjudizieren«1277. Die deutschen Ziele für die Handelsvertragsverhandlungen waren
also, die einseitigen Handelsbenachteiligungen durch den Versailler Vertrag
abzubauen und zur handelspolitischen Gleichberechtigung zu gelangen sowie
den französischen Markt für deutsche Produkte zu öffnen.
Durch die bevorstehende Londoner Konferenz zur Verabschiedung des Dawes-Plans traten die Vorbereitungen für Handelsgespräche in eine konkrete
Phase. Diese Konferenz bot die letzte Möglichkeit für Frankreich, die Reparationsfrage und vor allem die Räumung des noch immer besetzten Ruhrgebiets
als Druckmittel für die Wirtschaftsverhandlungen zu nutzen1278. Uneinigkeit
bestand aber zwischen Handelsminister Eugene Raynaldy und Premierminister
Herriot, ob die ehemaligen Alliierten in die Verhandlungen mit Deutschland
einbezogen werden sollten1279. Herriot setzte sich letztlich mit seiner Ansicht
durch, die Alliierten außen vor zu lassen, da vor allem die Briten die Verlängerung der französischen Vorrechte ablehnten1280. Er beabsichtigte deshalb,
durch bilaterale Verhandlungen mit Deutschland französische Sonderrechte zu
1276
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.5.1924), AD AP A X, Nr. 70.
Ibid.
1278
Siehe Herriot an Raynaldy (10.7.1924), MAE 19181929yutrponmlihgedbaSRMHEA
Ζ (Europe) Allemagne, 523.
1279
Siehe ibid.
1280
Siehe Herriot an Raynaldy (18.7.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
1277
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
399
sichern1281. Allerdings schδtzte man im Quai d'Orsay die Mφglichkeit, die
Kontingente f٧r Elsaß-Lothringen und andere Vergünstigungen auch nur in
abgeschwächter Form durchzusetzen, als gering ein. Sollte Deutschland dennoch der provisorischen Verlängerung der französischen Sonderrechte zustimmen, wollte Frankreich während der Räumung Wohlwollen zeigen, die
Kontingente verringern und die Zolltarife fur bestimmte deutsche Produkte
reduzieren1282. Als besonderes Lockmittel wurde Deutschland zugesichert, daß
die Erleichterungen bereits mit Vertragsunterschrift, also unter Umständen
schon vor dem 10. Januar 1925, in Kraft treten könnten1283.
Die Reichsregierung stand Wirtschaftsverhandlungen prinzipiell positiv gegenüber1284. Wirtschaftsminister Eduard Hamm (DDP) stellte fest, »Deutschland brauche einen Handelsvertrag mit Frankreich nicht zu furchten. Je enger
diese Verbindung sein werde, desto stärker würde sich die Übermacht
Deutschlands fühlbar machen«1285. Es bestand allerdings keine Einigkeit darüber, ob für eine schnelle Ruhrräumung Zugeständnisse in Handelsfragen gemacht werden sollten. Reichspräsident Friedrich Ebert trat dafür ein, die Wirtschaftsvertragsverhandlungen »notfalls auch bei der Frage der militärischen
Räumung als Kompensation«1286 zu verwenden. Auch Stresemann und das AA
waren durchaus zu wirtschaftlichen Konzessionen bereit1287. Hamm, Ernährungsminister Graf von Kanitz (parteilos) sowie die Industrie lehnten dies jedoch ab1288.
Auf der Londoner Konferenz kam es erstmals zu direkten Kontakten zwischen deutschen und französischen Regierungsvertretern bezüglich eines
deutsch-französischen Handelsvertrags für die Zeit nach dem 10. Januar 1925.
Französischerseits führte Finanzminister Etienne Clementel die Gespräche - in
nicht immer reibungsloser Abstimmung mit Raynaldy in Paris1289. Von deutscher Seite waren an diesen Vorgesprächen Stresemann, Finanzminister Hans
Luther (parteilos) und der Staatssekretär im RWiM Ernst Trendelenburg, der
spätere Verhandlungsführer der deutschen Delegation für die Handelsgespräche, beteiligt. Am 8. August 1924 sprachen Stresemann und Herriot über einen
Handelsvertrag. Herriot schlug dabei die sofortige Entsendung einer deutschen
1281
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (23.7.1924), MAE 1918-1929zyxutsrponmlihgfedcbaYVTS
Ζ (Europe) Alle
magne, 523.
,282
Siehe Herriot an Raynaldy (10.7.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
1283
Siehe Herriot an Raynaldy (18.7.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
128,1
Siehe St. Quentin an Quai d'Orsay (22.7.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
523.
1285
Hamm in einer Ministerbesprechung (29.7.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 264.
1286
Ministerrat (2.8.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 269.
1287
Siehe BARIETY, Relations francoallemandes, S. 674.
1288
Siehe Kabinettssitzung (12.8.1924), AdR Marx VO. Bd. 2, Nr. 273; Hamm u. Simon an
Trendelenburg (12.8.1924), BArchR 3101,20458.
1289
Siehe Raynaldy an Clementel (13.8.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523;
C16mentel an Raynaldy (14.8.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
400
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Delegation nach Paris vor und bestand auf der Verlδngerung der elsaßlothringischen Kontingente um drei Jahre1290. Drei Tage später legte die
französische Delegation einen Handelsvertragsentwurf4291 vor, der vorsah, daß
Deutschland Frankreich die Meistbegünstigung gewähren sollte, während
Frankreich, das ja seit 1919 die Meistbegünstigung offiziell abgeschafft hatte,
»im einzelnen Zugeständnisse machen wollte, die ungefähr der Gleich170?
t
berechtigungsklausel
entsprächen« . Die Zusammenarbeit der deutschen
und französischen Wirtschaft aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sollte
besonders in bezug auf Elsaß-Lothringen wieder hergestellt und die Versorgung der französischen Industrie mit Kohlen durch die französische Beteiligung an deutschen Bergwerken gesichert werden. Im Gegenzug wollte
sich Frankreich verpflichten, Eisenerz und Eisenhalbfabrikate zu liefern.
Die Reichsregierung lehnte den französischen Vorschlag ab1294. Sie war nur
dann bereit, Frankreich die Meistbegünstigung zu gewähren, wenn Frankreich
gleichwertige Konzessionen machte. Die Beteiligung französischer Unternehmen an deutschen Bergwerken war für die deutsche Regierung ebenso inakzeptabel wie die Verlängerung der Kontingente für Elsaß-Lothringen, wogegen sich insbesondere die deutsche Schwerindustrie aussprach. Einer
Verlängerung der zollfreien Exportkontingente für das Saargebiet wollte
Deutschland nur dann entsprechen, wenn es weiterhin zollfrei Waren in das
Saargebiet einfuhren könnte. Auf besonderen Widerstand stieß die französische Forderung, das gegenwärtige, auf dem Versailler Vertrag beruhende Zollregime auch nur übergangsweise zu verlängern und Deutschland lediglich einige Handelsvorteile einzuräumen, falls es nicht vor dem 10. Januar 1925 zu
einer Einigung über einen Handelsvertrag käme. Statt dessen forderte Stresemann einen modus vivendi, für den die gleichen Bedingungen gelten sollten
wie für den definitiven Handelsvertrag, d.h. vor allem die paritätische Gegenseitigkeit der Meistbegünstigung. Die Reichsregierung wollte so verhindern,
daß durch die Verlängerung der französischen Vorrechte aus dem Versailler
Vertrag - und sei dies auch nur prinzipiell und bei weitgehenden Konzessionen ein wichtiges Präjudiz für die weiteren Verhandlungen geschaffen würde.
In London stellte sich die Verknüpfung von Räumungsfrage und Wirtschaftsverhandlungen aber bald als ein für beide Seiten gefährliches Instrument heraus: Die Ruhrräumung war durch den Dawes-Plan so gut wie beschlossen und von beiden Seiten kaum mehr zu beeinflussen. Wollte
Frankreich die Räumungsfrage als Druckmittel für die Handelsgespräche nut-
1290
Siehe BARI£TY, Relations franco-allemandes, S. 622f., 640f.
Vgl. Aufzeichnung Schmidt (11.8.1924), ADAP A XI, Nr. 20.
Sic. Soll wohl heißen: Meistbegünstigungsklausel.
1293
Aufzeichnung Schmidt (11.8.1924), ADAP A XI, Nr. 20.
1294
Siehe Kempner an deutsche Delegation London (12.8.1924), BArch R 3101, 20458.
1291
1292
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
401
zen, hδtte es sich mit seinen Alliierten absprechen m٧ssen1295. Es war aber
mehr als fraglich, ob vor allem Englδnder und Amerikaner bereit waren, der
Instrumentalisierung der Rδumungsfrage f٧r die Handelsgesprδche zuzustim
men. Auch f٧r Deutschland mußte das Spielen der handelspolitischen Karte
zur Beschleunigung der Ruhrräumung nach der Festsetzung einer verbindlichen Räumungsfrist zunehmend unattraktiv erscheinen, zumal Industrie und
Teile der Regierung sich eindeutig gegen eine solche Verknüpfung ausgesprochen hatten1296. So blieb bezüglich des Handelsvertrags als einzig greifbares
Ergebnis der Londoner Konferenz, am 1. Oktober 1924 mit offiziellen Handelsgesprächen zu beginnen1297. In der Zwischenzeit gingen die regierungsinternen Vorbereitungen weiter. Allerdings gelang es weder der deutschen noch
der französischen Regierung, einen verhandlungsfähigen Zolltarif durch das
Parlament zu bringen, was die Verhandlungen von Anfang an belastete1298.
Wie in London vereinbart, reiste die deutsche Delegation Anfang Oktober 1924 nach Paris. Sie wurde vom Staatssekretär im RWiM, Ernst Trendelenburg, geleitet. Weiterhin gehörten ihr Vertreter verschiedener Ministerien
und der Länder sowie Experten aus Industrie und Landwirtschaft an. Der Delegationsleiter hatte weitgehende Vollmachten bei der Verhandlungsfuhrung1299. Obwohl er aus dem Reichswirtschaftsministerium kam, war seine
eigentliche Anlauf- und Koordinationsstelle das AA in Berlin. Ministerialdirektor Karl Ritter, dort seit 1924 als Leiter der Sonderreferate Wirtschaft und
Reparationen zuständig für Wirtschaftsfragen, stellte die Schaltstelle zwischen
der Delegation und dem AA dar. Ritter war aber nicht nur ein Verbindungsglied, sondern auch inhaltlich wesentlich an der Formulierung der deutschen
Außenhandelspolitik beteiligt1300. Die französische Delegation wurde vom
jeweiligen Handelsminister, also anfangs von Raynaldy, geleitet. Auch ihr
gehörten Vertreter anderer Ministerien und Wirtschaftsexperten an1301. Die
große personelle Konstante der französischen Delegation war Daniel Serruys,
Leiter der Abteilung Accords commerciaux im Handelsministerium. Er war
stellvertretender Verhandlungsführer, aber aufgrund der häufigen Ministerwechsel dürfte ihm eine Schlüsselrolle zugefallen sein. Seydoux, sein Ansprechpartner im Quai d'Orsay, verlor aufgrund seiner Erkrankung zuneh-
1295
Siehe Marx an AA, Kabinett u. Reichspräsident (14.8.1924), AdR MarxzxutsrponmlkihgfedcbaX
Ι/Π Bd. 2,
Nr. 275.
1296
Siehe Protokoll der 3. Sitzung der handelspolitischen Kommission des RDI (5.8.1924),
BArchR 3101, 20458.
1297
Siehe AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 307, Anm. 9.
1298
Siehe Kabinettssitzung (27.8.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 288.
1299
Siehe ibid. und Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.10.1914), ADAP A XI, Nr. 128.
1300
SieheRKGE
KR٢GER, Struktur, S. 155.
1301
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (23.9.1924), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Alle
magne, 523.
402
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
mend an Einfluß auf die Verhandlungen und schied Ende 1926 aus dem Dienst
aus1302.
Die eigentlichen Handelsvertragsverhandlungen begannen in einer Atmosphäre, die »entschieden günstig«1303 war. Dementsprechend kam es bereits
am 12. Oktober 1924 zur Unterzeichnung eines Protokolls1304, in dem die
Grundlagen fur die weiteren Verhandlungen festgelegt und die Gespräche bis
zum 5. November 1924 vertagt wurden, damit beide Seiten ihre Vorschläge
und Wünsche ausarbeiten konnten. Inhaltlich einigten sich die beiden Delegationen darauf, daß Deutschland Frankreich die Meistbegünstigung zugestehen
wollte, wenn im Gegenzug Frankreich die faktische Meistbegünstigung, also
denutrnmifa
tarif minimum, gewährte. Allerdings blieben einige besonders heikle
Punkte, wie die Kontingente für Elsaß-Lothringen, ausgeklammert und sollten
erst in der nächsten Sitzungsperiode angesprochen werden. Zudem forderte
Deutschland die Aufhebung der 26prozentigen Reparationsabgabe - des Recovery Act1305. Dies machte deutlich, daß zwischen den beiden Positionen
noch große Differenzen lagen: Falls diese unüberbrückbar sein sollten, stellte
sich die Frage, »ob wir [die Reichsregierung, R.B.] unter diesen Umständen es
zum Abbruch der Verhandlungen kommen lassen oder ob wir unsererseits
Frankreich gegenüber zum System der listenmäßigen Meistbegünstigung
übergehen wollen«1306.
Gleich bei der Wiederaufnahme der Gespräche am 5. November 1924 kam
es zu einer schweren Verhandlungskrise, die sich an der Reparationsabgabe
entzündete. Stresemann forderte die Abschaffung dieser Abgabe, weil sie
deutsche Exporte diskriminiere, im Gegensatz zu den Prinzipien des DawesPlans stehe und so die Ratifizierung eines deutsch-französischen Handelsvertrags im Reichstag gefährde1307. Herriot erwiderte, daß die Reparationsabgabe
ein Reparationsproblem sei und deshalb in keinem Zusammenhang mit den
Handelsgesprächen stünde1308. Die Verhandlungen waren bald so festgefahren,
daß der Abbruch drohte. Für die deutsche Regierung war die Lage prekär:
Einerseits hätte das Scheitern der Handelsvertragsverhandlungen eine weitere
schwere Belastung für die Räumung der Kölner Zone bedeutet, die nach dem
Versailler Vertrag für den 10. Januar 1925 vorgesehen war, andererseits wären
bei einem Nachgeben in der Frage der Reparationsabgabe die Handelsvertragsverhandlungen mit Großbritannien und Italien präjudiziell worden1309.
1302
Siehe Aufzeichnung Trendelenburg (12.8.1924), AdR MarxzxutsrponmlkihgfedcbaZXUSRPN
Ι/Π Bd. 2, Anhang Nr. 3.
Kabinettssitzung (31.10.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 347.
1304
Zum Inhalt dieses Protokolls siehe ibid. Anm. 1.
1305
Siehe Kabinettssitzung (31.10.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 347.
1306
Aufzeichnung ohne Unterschrift (28.10.1924), ADAP A XI, Nr. 128.
1307
Siehe Stresemann an Botschaft Paris (4.11.1924), ADAP A XI, Nr. 141.
1308
Siehe Herriot an Botschaft Berlin (12.11.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 523.
1309
Siehe Kabinettssitzung (11.11.1924), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 353.
1303
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
403
Letztlich wurde das Scheitern der Handelsgesprδche nur vermieden, weil
Frankreich dem deutschen Vorschlag zustimmte, die Wirtschaftsver
handlungen zunδchst unter Ausklammerung der Reparationsabgabe fortzu
fuhren1310. In den Gesprδchen der Regierungsdelegationen stand nun die Frage
der elsaß-lothringischen Kontingente im Mittelpunkt. Trendelenburg lehnte
die diesbezüglichen französischen Wünsche mehrfach ab1311.
Die Weigerung der Alliierten, die Kölner Zone zum 10. Januar 1925 zu räumen1312, führte fast zum Abbruch der Handelsgespräche1313. Trotz der kritischen Lage setzten sich Stresemann und Hamm im Kabinett dafür ein, die
Wirtschaftsverhandlungen streng getrennt von den politischen Problemen zu
behandeln und die Gespräche weiterzuführen1314, da der Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen nicht dazu genutzt werden könne, auf Frankreich
Druck in bezug auf die Räumungsfrage auszuüben. Dafür war das Sicherheitsproblem für Frankreich zu bedeutend1315. Aber auch Herriot war daran interessiert, die Handelsgespräche fortzusetzen1316. Er glaubte zwar, daß Frankreich
wirtschaftlich gesehen durch den Wegfall der einseitigen Handelsvergünstigungen nach dem 10. Januar relativ wenig zu furchten hatte. Nach der
Verweigerung der Räumung der Kölner Zone wollte er aber eine weitere Verschlechterung des deutsch-französischen Verhältnisses vermeiden, denn ein
Abbruch der Verhandlungen würde die deutschen Nationalisten nur noch weiter stärken. Von den Wirtschaftsbeziehungen ging in diesem Fall - ganz im
Sinne des liberalen Modells der Friedenssicherung - also tatsächlich eine stabilisierende Wirkung auf das deutsch-französische Verhältnis aus.
Doch nicht nur die politischen Rahmenbedingungen, in denen die Handelsgespräche stattfanden, waren äußerst schwierig, auch die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen schienen unüberwindbare Hindernisse aufzuwerfen. Am
1. Januar 1925 hatte Raynaldy der deutschen Delegation in Paris einen modus
131T
1319
vivendi-Entwurf übergeben , den die Reichsregierung jedoch ablehnte :
Es sei nicht klar, was Frankreich als Gegenleistung für die deutsche Meistbegünstigung anbiete. Außerdem seien zollfreie Kontingente für elsaßlothringische Waren inakzeptabel. Das Kabinett beauftragte Trendelenburg,
den französischen Provisoriumsvorschlag abzulehnen, die Verhandlungen
selbst sollten aber weitergeführt werden. Die weiteren Verhandlungen gestal1310
Siehe Chefbesprechung (17.11.1924), AdR Marx VO. Bd. 2, Nr. 357.
Siehe Kabinettssitzung (23.12.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 380.
1312
Siehe o.Kap. 4.2.1.
1313
Siehe KRÜGER, Auίenpolitik, S. 259f.
1314
Siehe Ministerbesprechung (6.1.1925), AdR MarxzxutsrponmlihgfedcbaZSRPNMLKHEDBA
Ι/Π Bd. 2, Nr. 387.
1315
Siehe Hoesch an AA (5.1.1925), AD AP Α ΧΠ, Nr. 5.
1316
Zum folgenden Herriot an Margerie (24.12.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe)
Allemagne, 523.
1317
Siehe Kabinettssitzung (27.1.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 9.
1318
Siehe Ministerbesprechung (6.1.1925), AdR Marx Ι/Π Bd. 2, Nr. 387.
1311
404
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
teten sich turbulent. Es kam zu immer neuen Vertragsentw٧rfen und Gegen
vorschlδgen, sowohl f٧r einen provisorischen als auch f٧r einen endg٧ltigen
Vertrag, doch am 17. Januar 1925 standen die Gesprδche abermals kurz vor
dem Abbruch1319. Die franzφsische Seite hielt die versuchte Einflußnahme
Deutschlands auf die Gestaltung der Zolltarife, die generell allein dem französischen Parlament vorbehalten sei, für unannehmbar1320. Trendelenburg plädierte deshalb für eine Unterbrechung der Verhandlungen für zwei bis drei
Monate, damit Frankreich seinen neuen Zolltarif fertig stellen könne, auf dessen Grundlage dann weiter verhandelt werden solle1321. Im Moment - dies sei
die einstimmige Meinung der Delegation - seien weitere Gespräche sinnlos,
da Frankreich prinzipiell nicht bereit sei, Deutschland die faktische Meistbegünstigung zuzugestehen und so den Boden der Vereinbarungen vom
12. Oktober 1924 verlasse.
Es bedurfte der Intervention Stresemanns, um den Abbruch der Verhandlungen zu verhindern1322. Der deutsche Außenminister war der Meinung, daß
das Schreiben Raynaldys vom 17. Januar 1925, auf das Trendelenburg in seiner negativen Einschätzung Bezug nahm, ein »bemerkenswertes Entgegenkommen«1323 darstelle. Das Kabinett unterstützte seine Position und beschloß
am 31. Januar 1925, weiter zu verhandeln, mit dem Ziel, im endgültigen Handelsvertrag die faktische Meistbegünstigung durchzusetzen1324. Falls dies nicht
gelänge, sollten die Verhandlungen freundschaftlich unterbrochen werden,
damit beide Länder ihre Zolltarife ordnen könnten. Für das Saargebiet sollte
die deutsche Delegation versuchen, den Status quo ante vom 10. Januar 1925
beizubehalten, ohne jedoch die Kontingente für Elsaß-Lothringen als Konzession zu verwenden.
In der Folgezeit verbesserte sich das Verhandlungsklima und es wurden
Fortschritte erzielt: Trendelenburg stimmte der von Raynaldy vorgeschlagenen
Trennung von Provisorium und Definitivum zu1325, Raynaldy wiederum erklärte sich bereit, die Meistbegünstigung im endgültigen Handelsvertrag de
facto zu gewähren1326. Zwischen französischer und deutscher Seite bestand
außerdem Übereinstimmung, daß die Schwerindustriellen beider Länder wieder ihre Gespräche aufnehmen sollten, da durch die Einigung der Wirtschaftsvertreter die Chancen für das Zustandekommen eines Handelsvertrags steigen
1319
Siehe Laroche an Margerie (14.1.1925), MAE 1918-1929zutsrponmlihgfedcbaZXUTSRPNM
Ζ (Europe) Allemagne, 524.
Siehe ibid.
1321
Zum folgenden siehe Trendelenburg und Hoesch an AA (18.1.1925), ADAP Α XU,
Nr. 35.
1322
Siehe Stresemann an Trendelenburg (21.1.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 41.
1323
Ibid.
1324
Siehe Kabinettssitzung (31.1.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 13.
1325
Siehe Telegramm ohne Unterschrift an Margerie (7.2.1925), MAE 19181929 Ζ (Euro
pe) Allemagne, 524.
1326
Zum folgenden siehe Trendelenburg an Ritter (7.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 78.
1320
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
405
w٧rden. Allerdings schienen die Verhandlungen erneut an der Frage der
Meistbeg٧nstigung zu scheitern1327 und auch die Franzosen waren skeptisch,
was den Ausgang der Wirtschaftsverhandlungen betraf4328. Erst am 19. und
20. Februar 1925 gestand Frankreich zu, Deutschland im endg٧ltigen Han
delsvertrag die unbedingte Meistbeg٧nstigung zu gewδhren1329. Diese Konzes
sion bedeutete faktisch die Abkehr von der in der Nachkriegszeit verfolgten
franzφsischen Handelspolitik, die vom Prinzip der Zollautonomie geleitet ge
wesen war. Es machte aber auch deutlich, daß Frankreich in dieser Phase der
Handelsvertragsverhandlungen nicht aus einer Position der Stärke heraus verhandelte. Es mußte nachgeben, denn es brauchte sowohl politisch als auch
wirtschaftlich den Erfolg. Allerdings dürften die französischen Konzessionen
erheblich dadurch erleichtert worden sein, daß mit der Note vom
9. Februar 1925 die deutsche Sicherheitsinitiative eingeleitet worden war, die
neue Bewegung in die Verständigungspolitik brachte. Auch das lange strittige
Problem der Einbeziehung des Saargebiets in die Handelsverträge konnte entschärft werden1330. Am 28. Februar 1925 wurden die Ergebnisse der Verhandlungen in einem Notenwechsel fixiert1331. Für das Provisorium, für das die
Verhandlungen am 16. März 1925 beginnen sollten, einigten sich beide Seiten
darauf, daß Frankreich von Deutschland bis auf einige noch festzulegende
Waren die Meistbegünstigung erhalten sollte. Einige deutsche Produkte sollten
unterschiedlich behandelt werden, von der uneingeschränkten Gewährung des
Minimaltarifs über das Zugeständnis des Minimaltarifs innerhalb bestimmter
Kontingente bis hin zu Zwischentarifen zwischenutrnmligfea
tarif minimum und tarif
generalI332. In bezug auf die elsaß-lothringischen Kontingente gestand
Deutschland zu, über Zollreduzierungen bis zur Hälfte der gültigen Zollsätze
zu verhandeln, über die einzelnen Bedingungen bestand aber noch keine Einigkeit. Allerdings standen diese Kontingente unter dem Vorbehalt, daß sie
nur dann gewährt würden, wenn sie nicht auch von Drittländern im Zuge der
Meistbegünstigung gefordert würden. Eine völlige Zollbefreiung für Waren
aus Elsaß-Lothringen war also selbst im Provisorium vom Tisch. Als Bedingung für den endgültigen Handelsvertrag wurde als wichtigster Punkt vereinbart, daß Frankreich Deutschland die faktische Meistbegünstigung zu den gegenwärtig geltenden Zolltarifen gewähren sollte. Lediglich für einige noch
1327
Siehe Stresemann an Hoesch (18.2.1925), ADAPzwutsronmlihgfedcbaWUTSPNMLKHDCA
Α ΧΠ, Nr. 100.
Siehe Aufzeichnung Schmieden (13.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 91.
1329
Siehe Trendelenburg und Hoesch an AA (20.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 108.
1330
Siehe Deutsche Delegation an AA (25.2.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 120.
1331
Siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift, ADAP Α ΧΠ, Nr. 129.
1332
Liste Α beinhaltete deutsche Waren, für die die gegenwärtigen französischen Minimaltarife zu entrichten waren, Liste Β Waren, auf die zwar der Minimaltarif, aber nur innerhalb
bestimmter Kontingente erhoben wurde, Liste C Waren, für die der geplante künftige französische Minimaltarif angewandt werden sollte. Auf der Liste D schließlich waren die Waren
aufgeführt, für die ein Zwischentarif zu entrichten war, siehe ibid.
1328
406
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
festzulegende Waren sollten f٧r kurze Zeit άbergangstarife gelten. Umgekehrt
gestand Deutschland Frankreich zwar die Meistbeg٧nstigung zu, behielt sich
allerdings eine kurze K٧ndigungsfrist f٧r den Fall vor, daß Frankreich sein
Zollsystem zu Ungunsten Deutschlands modifizierte. Für die Verhandlungen
verpflichteten sich beide Länder, auf wirtschaftliche Kampfmaßnahmen zu
verzichten. Beide Verträge standen unter dem Vorbehalt, daß es zu einer strikten Kompensation der jeweils gewährten Vorteile kommen müsse.
Der weitere Gang der Verhandlungen wurde vor allem durch die fehlende
Einigung zwischen den Schwerindustrien beider Länder behindert. Obwohl
die Gespräche der Wirtschaftsexperten, die anfangs parallel zu den offiziellen
Verhandlungen stattgefunden hatten, bereits am 30. Dezember 1924 von denen der Regierungsdelegationen abgetrennt worden waren1333, gab es starke
Wechselwirkungen. Faktisch bestand ein Junktim zwischen dem erfolgreichen
Abschluß der Verhandlungen der Schwerindustrie und dem Zustandekommen
des Handelsvertrags1334. Der Nachteil dieses Tandemverfahrens von Privatund Delegationsverhandlungen lag darin, daß erst eine Einigung der Schwerindustrie vorliegen mußte, bevor andere wichtige Handelsvertragsfragen geklärt werden konnten, da eventuell in anderen Warengruppen eine Kompensation erfolgen mußte. Frankreich zeigte sich gegenüber den Industriellenverhandlungen und der Nichteinmischung der Politik in die Eisenfrage zunächst skeptisch: Raynaldy befürchtete einen Ausverkauf französischer Interessen durch das Übergewicht der deutschen Industrie1335, gab dann letztlich
aber dem deutschen Drängen nach, denn auch für Frankreich hatte eine private
Lösung positive Aspekte1336: Deutschland würde Kontingente fur ElsaßLothringen nur im Rahmen des Provisoriums gewähren, privatwirtschaftlich
bestand jedoch die Möglichkeit, höhere Kontingente für einen wesentlich längeren Zeitraum zu vereinbaren. Außerdem konnten durch eine private Lösung
Ansprüche Dritter auf die Einräumung von Kontingenten infolge der Meistbegünstigung umgangen werden. Die Industriellenverhandlungen kamen jedoch
nur schleppend voran. Immer wieder sahen sich die Regierungen beider Länder genötigt, Druck auf die Delegationen auszuüben1337. Als Haupthindernis
erwies sich die Einbeziehung der Saarindustrie. Erst mit dem Luxemburger
Abkommen1338 konnte die Eisenfrage für die Handelsvertragsverhandlungen
als zumindest vorübergehend geregelt gelten, auch wenn die endgültige Lö1333
Siehe Kabinettssitzung (23.12.1924), AdR Marx I/II Bd. 2, Nr. 380. Die Gründe hierfür
waren vielfältig: Die Delegationen waren zu groß; weil keine Klarheit über die zukünftigen
Zollsätze herrschte, waren Gespräche schwierig; vielfach waren sich die Experten eines
Landes untereinander nicht einig über die Ziele der Verhandlungen.
1334
Vgl. Ritter an Posse (21.3.1925), ADAPwutsrponlihgfedcbaZXWUSRPNLHDCA
Α ΧΠ, Nr. 190.
1335
Siehe Posse an Ritter (30.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 217.
1336
Siehe Ritter an Posse (21.3.1925), ADAP Α ΧΠ, Nr. 190.
1337
Siehe beispielsweise Posse an AA (3.6.1925), ADAP A Xffl, Nr. 85.
1338
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 75.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
407
sung erst mit der Gr٧ndung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft (IRG)
am 30. September 1926 erreicht werden konnte1339.
Nach der Wiederaufnahme der Regierungsverhandlungen am 16. Mδrz 1925
gestaltete sich der weitere Verhandlungsverlauf widerspr٧chlich. Durch die
deutsche Sicherheitsinitiative und den daraus resultierenden verbesserten
deutschfranzφsischen Beziehungen sowie durch die prinzipielle Einigung im
Protokoll vom 28. Februar 1925 hatten die Wirtschaftsverhandlungen einer
seits neuen Schwung erhalten. Andererseits wurden die Verhandlungen durch
das Fehlen einer Einigung der Eisenindustrie verzφgert. Die deutsche Delega
tion versuchte deshalb, Druck auf die Eisenindustrie auszu٧ben, verhandelte
aber selbst hinhaltend1340. Auch personelle Verδnderungen der Delegationen
verzφgerten die Gesprδche1341. Die Hauptschwierigkeit lag jedoch weiterhin
bei den Zolltarifen. Zwar gelang es Deutschland, durch die Zolltarifhovelle
vom 17. August 19251342 endlich eine Grundlage fur k٧nftige Verhandlungen
zu schaffen, ein neuer franzφsischer Zolltarif war aber noch immer nicht ab
sehbar, da die Zollreform durch die Inflation des Franc und verschiedene poli
tische Interessen behindert wurde1343. Im einzelnen waren folgende Zφlle um
stritten: Frankreich zeigte sich vor allem mit den deutschen Zφllen f٧r Parf٧m,
Textilien, Automobile und Kautschuk unzufrieden, die deutsche Seite verlang
te insbesondere bei den Tarifen fur Produkte der chemischen Industrie dort
besonders bei Teerfarben der optischen, der Keramik und der Spielwaren
industrie Zugestδndnisse1344. Das größte Hindernis stellten aber die deutschen
Weinzölle dar. Frankreich drohte mit dem Abbruch der Verhandlungen, falls
es nicht die Meistbegünstigung für Wein erhalten sollte1345. Eine weitere
Schwierigkeit war die Ausdehnung der Handelsbestimmungen auf die französischen Kolonien, Mandate und Protektorate1346.
Aufgrund der parlamentarischen Erörterung der Zolltarifhovelle und der
Schwierigkeiten, die aus dem deutsch-spanischen Handelsvertrag resultierten
- durch die Meistbegünstigungsklausel bestand eine Verbindung zu den
deutsch-französischen Gesprächen - , hatte Deutschland kein Interesse, noch
vor den französischen Parlamentsferien zu einem Vertragsabschluß zu kom-
1339
Das Luxemburger Abkommen hatte lediglich den Charakter einer Absprache, nicht eines
Vertrags, siehe Erwin RESPONDEK, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutsch
land und Frankreich, Berlin 1929, S. 118.
1340
Siehe Mathies und Hoesch an AA (18.5.1925), AD APzwvutsrponmlkihgfedcbaZWVSRPNLID
Α ΧΠΙ, Nr. 47.
1341
Vgl. AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 16, Anm. 1.
1342
Die Zolltarifhovelle stellte zwar weder die liberal eingestellte verarbeitende Industrie
noch die protektionistisch eingestellte Schwerindustrie und Landwirtschaft zufrieden; von
einer R٧ckkehr zum Protektionismus kann aber keine Rede sein, siehe SCHULZ, Wirtschafts
ordnung, S. 6063.
1343
Siehe MARTY, Handelspolitik, S. 235.
1344
Siehe Posse an AA (3.6.1925), ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 85.
1345
Siehe Woermann an Ritter (27.6.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 170.
1346
Siehe Posse an AA (3.6.1925), AD AP Α ΧΙΠ, Nr. 85.
408
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
men. Der neue franzφsische Handelsminister Charles Chaumet dagegen be
tonte, daß die allgemeinen Fragen des Handelsvertrags gelöst seien und es nur
noch einige offene Punkte hinsichtlich der Tarife zu klären gelte1347. Seine
Eile dürfte vor allem auf die neuen deutschen Zollsätze, die zum 1. Oktober 1925 in Kraft treten sollten und teilweise auch französische Waren verteuerten, zurückzuführen gewesen sein. Trotz französischen Drängens konnte
aber keine Einigung mehr erreicht werden, so daß die Verhandlungen am
7. Juli 1925 bis zum 15. September 1925 vertagt wurden1348. Beide Parteien
bestätigten die Ergebnisse des Protokolls vom 28. Februar 1925 und erneuerten ihre Verpflichtung, auf Kampfmaßnahmen zu verzichten.
Während der Unterbrechung der Handelsvertragsverhandlungen wurde über
das Saarproblem weiter verhandelt1349. Dieser Komplex erwies sich als besonders drängend, da die Saar nach ihrer Eingliederung in den französischen
Zollraum am 10. Januar 1925 von der deutschen Volkswirtschaft abgeschnitten war und das Saareisen den ohnehin gesättigten französischen
Markt weiter belastete. Auch Deutschland mußte aus politischen Gründen um der Gefahr einer »Entfremdung« des Saargebiets zu begegnen - dringend
an einer Lösung der Saarfrage interessiert sein. In einer Unterkommission
wurde seit dem 7. März 1925 über ein Saarabkommen verhandelt, das schließlich am 11. Juli 1925 in Paris unterzeichnet werden konnte. Wenngleich das
Saarabkommen trotz Ratifikation durch den Reichstag am 12. August 1925
letztlich scheiterte1350, war es dennoch ein wichtiger außenpolitischer Erfolg
für die Reichsregierung, denn es zeigte die prinzipielle Möglichkeit auf, das
Saargebiet weiterhin wirtschaftlich eng an das Reich zu binden. Mit
französischer Zustimmung wurde somit eine Bestimmung des Versailler Vertrags - nämlich die Eingliederung des Saargebiets in den französischen Zollverband bis zur geplanten Volksabstimmung im Jahr 1935 - faktisch und mit
französischer Zustimmung revidiert1351.
Wie geplant begannen am 15. und 16. September 1925 wieder die eigentlichen Handelsgespräche, die wiederum nur langsam vorankamen. Gründe waren nach wie vor der fehlende französische Zolltarif1352 und der immer drama1347
Siehe Berthelot an Margerie (4.7.1925), MAE 1918-1929zwutsrponmlkihgfedcbaSRPNMLKI
Ζ (Europe) Allemagne, 524.
Siehe ADAP Α ΧΙΠ, Nr. 191 Anm. 5.
1349
Siehe Kabinettssitzung (14.7.1925), AdR Luther Ι/Π Bd. 1, Nr. 121.
1350
Die Ratifikationsurkunden wurden nicht ausgetauscht, weil inzwischen zwischen beiden
Ländern Uneinigkeit wegen des von Frankreich verhängten Kohleneinfuhrverbotes herrschte
(vgl. Margerie an Quai d'Orsay [1.8.1925], MAE 1918-1929 Ζ [Europe] Allemagne, 524;
Berthelot an Margerie [4.8.1925], MAE 19181929 Ζ [Europe] Allemagne, 524; Berthelot
an Margerie [9.8.1925], MAE 19181929 Ζ [Europe] Allemagne, 524) und die deutsche
Industrie das Abkommen als für Frankreich zu günstig ansah, siehe POHL, Stresemannsche
Außenpolitik, S. 523f.
1351
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 290.
1352
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (2.9.1925), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1348
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
409
tischere Verfall des Franc1353. Eine Regelung f٧r die Reparationsabgabe und
die Ausweitung des Handelsvertrags auf die franzφsischen Kolonien, Protekto
rate und Mandatsgebiete waren weitere Streitpunkte1354. Regierungskrisen in
Deutschland und Frankreich verzφgerten die Verhandlungen weiter. Um zu
verhindern, daß Frankreich die Verhandlungen zum Sicherheitspakt von Locarno als Druckmittel für die Handelsvertragsverhandlungen benutzte1355 und
um die Ratifikation dieser Verträge nicht zu gefährden, war die deutsche Delegation außerdem erst danach bereit, ernsthaft weiter zu verhandeln1356. Dann
sollten die Gespräche zügig fortgesetzt werden mit den Zielen, eine Regelung
bezüglich des Valutadumpings, möglichst große Sicherheiten gegen zu befürchtende französische Zollerhöhungen im Zuge einer Tarifhovelle und eine
möglichst kurze Frist für das Ende der einseitigen Benachteiligung des deutschen Handels zu erreichen1357.
Am 15. Dezember 1925 wurden die Verhandlungen in Paris wiederaufgenommen und führten bereits am 19. Dezember 1925 zur Unterzeichnung eines
Protokolls1358. Das Abkommen sah vor, daß der endgültige Handelsvertrag
automatisch nach einer bestimmten Frist im Anschluß an das Provisorium in
Kraft treten sollte, sowie eine 14monatige Benachteiligung bestimmter deutscher Waren, wobei diese Frist mit dem Abschluß des modus vivendi beginnen würde. Frankreich sollte von Deutschland die Meistbegünstigung und Tarifreduktionen für einige Produkte erhalten, Deutschland nach dem Ablauf der
Übergangsfrist derutrnmifa
tarif minimum zugestanden werden. Die Reichsregierung
erwirkte ein Sonderkündigungsrecht, falls sie sich durch neue französische
Zölle benachteiligt fühlen sollte. Die wesentlichen Unterschiede dieses Protokolls im Vergleich zu den Februar-Abmachungen lagen vor allem in dem Automatismus zwischen Provisorium und Definitivum und in der Dauer des Provisoriums, die von neun auf 14 Monate verlängert wurde. Im großen und
ganzen hatte sich die deutsche Seite mit ihren Forderungen durchgesetzt, was
nicht zuletzt am großen innenpolitischen Druck auf die französische Regierung in Handelsfragen gelegen haben dürfte1359. Die französische Öffentlichkeit und große Teile des Parlaments befürworteten einen Handelsvertrag mit
Deutschland und zwangen die Regierung zum Entgegenkommen. Wichtig war
1353
Deshalb wurde in den ersten acht Monaten des Jahres 1925 trotz verschδrfter Zollbedin
gungen mehr lothringisches Eisen nach Deutschland exportiert als im gleichen Zeitraum des
Vorjahres, obwohl 1924 die Exporte zollfrei gewesen waren, siehe Schubert an Hoesch
(7.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 223.
1354
Vgl. Ritter an Trendelenburg (5.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 51.
1355
Siehe Aufzeichnung Trendelenburg (28.9.1925), ADAP A XIV, Nr. 97.
1356
Siehe Hoesch an AA (11.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 235.
1357
Dazu siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (20.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 249.
1358
Siehe A. MERTENS, L'accord commercial francoallemand du 17 ao٧t 1927, in: Revue
economique internationale 19/4 (1927) S. 2345, hier S. 28.
1359
Vgl. Hoesch an AA (8.12.1925), ADAP B, 1,1, Nr. 19.
410
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
dabei die Rolle der s٧dfranzφsischen Fr٧hgem٧sebauern, die sich durch die
neuen deutschen Zφlle besonders benachteiligt sahen1360. Die Opposition der
s٧dfranzφsischen Bauern gegen allzu hohe Forderungen erklδrt nicht nur das
Einlenken der franzφsische Regierang, sondern auch, weshalb mit dem Fr٧h
gem٧seabkommen das nδchste deutschfranzφsische Handelsabkommen zu
stande kam, denn die deutsche Seite hatte nat٧rlich ein Interesse daran, sich
die Zustimmung dieser Kreise weiter zu erhalten.
Nach der Unterzeichnung des Protokolls vom 19. Dezember 1925 ver
δnderte sich außerdem der Charakter der Handelsvertragsverhandlungen. Ging
es bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich um die Festlegung von Prinzipien für
die Handelsverträge, standen jetzt praktische Aspekte im Vordergrund. Von
nun an ging es weniger um allgemeine Grundsätze, sondern um auf wenige
Waren begrenzte, sofort wirksame Abkommen, über die rasch eine Einigung
erzielt werden konnte und die bis zum endgültigen Handelsvertrag schrittweise erweitert wurden. Dadurch konnten für Probleme, die zwar nur mittelbar
mit dem Handelsvertrag zusammenhingen, ihn aber stark beeinflußten, wie
z.B. die französische Währungskrise, pragmatische Übergangslösungen gefunden werden. Die Handelsvertragsverhandlungen waren also ein konvergenter
Prozeß, in dem der prinzipielle Rahmen schrittweise durch praktische Abmachungen ausgefüllt wurde.
Mit den Abmachungen von Locarno hatte sich aber auch das politische Umfeld für die Handelsvertragsverhandlungen in wichtigen Punkten verändert.
Wenn auch der direkte Einfluß der Konferenz von Locarno auf die Handelsgespräche gering war, so war doch der Zusammenhang zwischen Locarno und
dem Handelsvertrag evident: Nach dem Sicherheitspakt rückten die Handelsgespräche »mehr als bisher in den Brennpunkt des politischen Interesses«1361,
denn Frankreich konnte »die durch das Locarnoabkommen angebahnte Verständigung auf politischem Gebiet ohne eine sich anschließende Verständigung auf wirtschaftlichem Gebiet nicht als vollgültige Lösung des
deutsch-französischen Problems ansehen«1362.
Auch auf deutscher Seite stellte Locarno nicht den Endpunkt der Verständigung dar. In einem Gespräch machte Stresemann gegenüber Margerie
deutlich, daß nach der Lösung der Reparationsfrage durch den Dawes-Plan
und der Klärung des Sicherheitsproblems durch die Locarno-Verträge jetzt die
wirtschaftliche Verständigung kommen müsse: »>[I]1 faut s'acheminer vers la
seule solution raisonnable et profitable pour les deux pays, l'union douaniere
franco-allemande avec son corollaire logique la participation reciproque de
1360
Siehe ibid.
Schubert an Hoesch (7.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 223.
1362
Aufzeichnung ohne Unterschrift (20.11.1925), ADAP A XIV, Nr. 249.
1361
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
411
l'Allemagne dans des industries franfaises. Et je pense [...], que ce programme
peut et doit etre realise dans un delai de cinq ans«<1363.
Der erste provisorische Handelsvertrag, der nach Locarno abgeschlossen
wurde, war ein Fr٧hgem٧seabkommen. Der Anstoß dazu ging von Frankreich
aus, das am 31. Dezember 1925 der Reichsregierung vorschlug, über ein begrenztes Abkommen zur Erleichterung des Frühgemüsehandels zu verhandeln1364. Am 20. Januar 1926 stimmte die deutsche Regierung diesem Vorschlag zu1365. Die deutschen Ziele bestanden vor allem darin, Handelserleichterungen für Produkte der verarbeitenden Industrie zu erhalten, den
Handel mit landwirtschaftlichen Produkten zwischen dem Saargebiet einerseits und der Pfalz und dem Rheinland andererseits zu erleichtem sowie eventuelle Zugeständnisse in der Frage der Reparationsabgabe und Zusicherungen
gegen mögliche, durch den Versailler Vertrag gedeckte Sanktionsdrohungen
zu erlangen1366.
Die Verhandlungen gestalteten sich aber vor allem wegen des Widerstands
der deutschen Schwerindustrie schwierig. Sie wollte keinen Konflikt mit der
Landwirtschaft riskieren, die handelspolitisch ebenfalls protektionistisch eingestellt war, und machte sich deshalb deren Vorbehalte gegen das Frühgemüseabkommen zu eigen. Wegen der fehlenden Unterstützung der Industrievertreter im Reichstag und aufgrund der ablehnenden Haltung der Landwirtschaft
wurde die Verabschiedung eines solchen Abkommens im Reichstag ungewiß1367. Ernst Posse, Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium und
seit Jahresbeginn neuer Verhandlungsfiihrer der deutschen Delegation, entkräftete diese Vorbehalte1368: Die französischen Agrarimporte gingen kaum zu
Lasten der deutschen Landwirtschaft, da diese Produkte lediglich Importe aus
Holland und Italien verdrängen würden, während Deutschland den ganzen
Vorteil der Handelserleichterungen abschöpfen könnte. Um einer Flut von
französischen Importen vorzubeugen, war die französische Einfuhr zudem
kontingentiert, während die Handelsvorteile für deutsche Waren, bis auf wenige Ausnahmen, nicht beschränkt waren. Nachdem es am 10. Februar 1926 zu
einer weiteren Verhandlungskrise gekommen war, weil die französische Seite
nun auch die Aufhebung der Kontingentierung für Gemüse forderte, konnte
am 12. Februar 1926 schließlich doch ein Abkommen unterzeichnet werden1369. Frankreich erhielt für landwirtschaftliche Produkte - wie Kartoffeln,
Frischgemüse und Weintrauben - die Meistbegünstigung für ein Kontingent
1363
Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929zutsrponmlihgfecbaZWUSRPONKEDBA
Ζ (Europe) Allemagne, 524.
Siehe ADAP Β 1,1, Nr. 29, Anm. 1.
1365
Siehe Ritter an Botschaft Paris (21.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 50.
1366
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (7.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 29.
,367
Siehe Ritter an Posse (26.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 63.
1368
Siehe Posse an Ritter (28.1.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 68.
1369
Siehe RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 53f.
1364
412
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
von 27 000 Doppelzentnern. Im Gegenzug gestand Frankreich Deutschland
den Minimaltarif f٧r bestimmte Holzarten, einige chemische Produkte, Land
wirtschaftsmaschinen, Mφbel und andere Hausratsartikel zu.
Wirtschaftlich war das Fr٧hgem٧seabkommen eher unbedeutend1370. Es bot
Deutschland dennoch einen Nettovorteil und schadete kaum der deutschen
Landwirtschaft. Außen- und handelspolitisch war es aber sehr günstig: Zunächst erhielt Deutschland bessere Konditionen als bisher selbst für den endgültigen Handelsvertrag vorgesehen waren. Von diesen Zugeständnissen würde die französische Seite bei den folgenden Verhandlungen so leicht nicht
mehr abrücken können. Außerdem wurde die Unterstützung der Vertreter der
Landwirtschaft in der französischen Kammer gesichert, die sich als »die
Stosskraft [sic]«1371 fur eine liberale französische Außenhandelspolitik erwiesen hatte, während aus der Industrie - je nach Branche - sowohl protektionistische als auch freihändlerische Impulse kamen. Insgesamt nahm das Frühgemüseabkommen als - wenn auch bescheidener - Teilerfolg den Druck von
den Handelsvertragsverhandlungen1372.
Bereits im März trat die französische Regierung an die Reichsregierung mit
dem Ziel heran, das Frühgemüseabkommen zu erweitern1373. Das von der
Reichsregierung gewährte Kontingent war bereits nach zwei Wochen erschöpft gewesen und kaum den Landwirten in Südfrankreich zugute gekommen, weswegen diese die französische Regierung weiter unter Druck setzten.
Reichsfinanz- und -wirtschaftsministerium sowie das AA setzten sich dafür
ein, ein weiteres Kontingent für französisches Gemüse einzuräumen, um die
innerfranzösischen Schwierigkeiten für weitere Zugeständnisse zu nutzen. Zudem waren die Beeinträchtigungen der deutschen Landwirtschaft geringer als
befürchtet und die Vorteile für die deutsche Wirtschaft größer als erhofft. Am
25. März 1926 ermächtigte die Reichsregierung Posse zu Verhandlungen, die
bereits am 8. April 1926 zum Abschluß kamen. Die Verlängerung des Frühgemüseabkommens1374 bedeutete für Frankreich ein neues Gemüsekontingent
von 27 000 Doppelzentnern und Zollerleichterungen für weitere deutsche Waren, z.B. Milchprodukte, Schnittholz, Linoleum, Magnete und Autoteile.
Trotz des Abschlusses der Frühgemüseabkommen gestalteten sich die Verhandlungen in der Folgezeit wieder schwieriger. Die Probleme lagen im Bereich der Zollfragen vor allem bei den deutschen Tarifwünschen für die chemische Industrie, den Maschinenbau, Elektrotechnik, Leder, Spielwaren und
Porzellan und bei den französischen Tarifforderungen für Wein, Eisen, Seide,
1370
Siehe Hoesch an Stresemann (16.2.1927), ADAPutrponmlihgedcaTSRPNMKEDA
Β 1,1, Nr. 105.
Siehe Döhle an AA (14.1.1926), BArch R 3101,2639/2.
1372
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (22.2.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1373
Siehe Ritter an Kempner (24.3.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 179.
1374
Siehe MERTENS, Accord commercial, S. 29.
1371
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
413
Wolle und Kautschuk1375. Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus der Frage
der Reparationsabgabe und dem Saarproblem. Deutschland forderte außerdem,
die Diskriminierungsfrist für deutsche Produkte während der Laufzeit des
Provisoriums, wie sie ebenfalls im Dezember-Abkommen festgelegt war, aufzugeben1376. Auch die französische Ankündigung, die Zölle nicht mehr in Papierfranc, sondern auf Grundlage des Goldfranc zu erheben, stieß auf deutschen Widerstand1377. Die Hauptgründe für den schleppenden Verhandlungsverlauf lagen allerdings woanders. Deutschland wollte wegen der französischen Währungsschwierigkeiten und der Vorbereitungen für einen neuen französischen Zolltarif zuerst auf Klarheit warten.
Die Währungskrise in Frankreich hatte inzwischen ihren Höhepunkt erreicht
und entwickelte sich zur innenpolitischen Dauerkrise. Poincare gelang es im
Sommer und Herbst 1926 endlich, den Franc bei einem Fünftel seiner Vorkriegsgoldparität zu stabilisieren und somit eines der größten Hindernisse für
die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder zu beseitigen1378. Die deutsche Delegation verhandelte außerdem hinhaltend, weil die Industrie, die bisher dem Handelsvertrag indifferent bis befürwortend gegenübergestanden hatte, diesen nun ablehnte1379. Die Ursachen dafür mögen ebenso in der französischen Währungskrise gelegen haben wie in der Tatsache, daß sich in den
Industriellenverhandlungen weiterhin wenig bewegte. Deutscherseits versuchte man deshalb, die Verhandlungen bis zum Beginn der französischen
Parlamentsferien zu verzögern, um sie dann erneut, ohne allzu großen Schaden
für die Wirtschaftsgespräche, unterbrechen zu können, denn ein Handelsvertrag wäre bei der ablehnenden Haltung der Industrie nicht durch den Reichstag
zu bringen gewesen. Die Reichsregierung wollte deshalb erst die Einigung der
verschiedenen Industriezweige abwarten, um sich dadurch wieder die volle
Zustimmung der Industrie für den Handelsvertrag zu sichern1380. Am 9. Juni
1926 stimmte Serruys zu, die Verhandlungen für den endgültigen Handelsvertrag während der französischen Parlamentsferien ruhen zu lassen, regte aber
an, zuvor noch ein provisorisches Abkommen abzuschließen1381. Dafür
wünschten die Franzosen Zugeständnisse für Baumwollwaren, Seide, Kraft-
1375
Siehe Schmieden an Bassenheim (15.5.1926), ADAP B, 1,1, Nr. 221.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.6.1926), MAE 1918-1929zutsrqponmljihgfedcbaVSRP
Ζ (Europe) Alle
magne, 524.
1377
Siehe Aufzeichnung Berthelot (30.6.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1378
Siehe Henri MORSEL, Conjoncture et structures economiques du monde jusqu'ä la
grande crise (1919-1929), in: Georges DUPEUX (Hg.), GueiTes et crises 1914-1917, Paris
1977 (Histoire economique et sociale du monde, 5), S. 145-188, hier S. 159-162.
1379
Siehe Schmieden an Bassenheim (15.5.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 221.
1380
Vgl. ibid.
1381
Siehe Aufzeichnung Smend (9.6.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 243.
1376
414
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
fahrzeuge, Parf٧m und Wein1382. Die Reichsregierung stand einem Provisori
um aber skeptisch gegen٧ber, hatte es sich doch vor allem beim zweiten Fr٧h
gem٧seabkommen herausgestellt, daß Frankreich sofort von den Handelsvorteilen für seine landwirtschaftlichen Produkte profitierte, Deutschland jedoch
die Zugeständnisse für seine Industrieprodukte gar nicht ausschöpfen konnte,
weil fur diese Produkte erst längerfristig ein Markt erobert werden mußte.
Deshalb bevorzugte die Reichsregierung nach dem lang erwarteten Abschluß
der Industriellengespräche einen endgültigen Handelsvertrag1383. Erst am
16. Juni 1926 stimmte das Kabinett - gegen den Widerstand von Ernährungsminister Heinrich Haslinde (Zentrum) - Verhandlungen über ein Provisorium
zu, allerdings mit der Auflage, daß dieses keinen Wein umfassen dürfe und bei
Zugeständnissen für Obst und Gemüse »größte Zurückhaltung«1384 zu üben sei.
Bei den anschließenden Verhandlungen über das Provisorium standen insbesondere zwei Probleme im Mittelpunkt: die Wein- und die Kolonialfrage.
Für Frankreich stand fest, daß, sollte Deutschland für Wein nicht die Meistbegünstigung gewähren, das Provisorium kaum durchsetzbar wäre1385.
Berthelot brachte sogar eine Reduzierung der französischen Besatzungstruppen im Rheinland ins Spiel, um Deutschland zu Konzessionen zu bewegen1386.
Stresemann blieb allerdings wegen des vagen Charakters des französischen
Vorschlags skeptisch, und Berthelot selbst nahm die Verbindung von Truppenreduzierung und Weinfrage bald wieder zurück1387. Die hohen Gegenforderungen Deutschlands im Falle der Einbeziehung von Wein ließen Frankreich schließlich am 6. Juli 1926 prinzipiell einlenken, über ein Provisorium
unter Ausklammerung von Wein zu verhandeln1388.
Die Kolonialfrage hatte bereits seit dem Beginn der Verhandlungen immer
wieder eine Rolle gespielt1389, nun wurde sie aber zu einem akuten Problem
der Verhandlungen. Im Kern ging es darum, daß Deutschland, das seit dem
Ende des Ersten Weltkrieges vom Handel mit den französischen Kolonien,
Protektoraten und Mandatsgebieten - darunter auch einige ehemals deutschen
Kolonien wie Kamerun und Togo - weitestgehend ausgeschlossen war, die
Meistbegünstigung bezüglich der Handels- und Niederlassungsrechte in diesen
1382
Siehe Aufzeichnung Schubert (11.6.1926), ADAPzutsrponmlihgfedcbaVUSRPNMJEDBA
Β 1,1, Nr. 246.
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (10.6.1926), in: MAJE 19181929 Ζ (Europe)
Allemagne, 524.
1384
ADAP Β 1,1, Nr. 250, Anm. 2.
1385
Siehe Berthelot an Margerie (26.6.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1386
Siehe ibid.
1387
Siehe Berthelot an Margerie (14.7.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1388
Siehe Schmieden u. Rieth an AA (6.7.1926), ADAP Β 1,1, Nr. 267.
1389
Vgl. Aufzeichnung ohne Unterschrift (11.12.1924), MAE 19181929 Ζ (Europe) Alle
magne, 523.
1383
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
415
Gebieten erlangen wollte1390. Mit dem provisorischen Handelsvertrag vom
5. August 1926 wurde f٧r die Kolonialfrage eine vorlδufige Lφsung gefun
den1391. Marokko und Indochina blieben wegen der innenpolitischen
Schwierigkeiten dort zunδchst ausgeklammert. F٧r Kolonien, die die glei
chen Tarifbestimmungen wie das franzφsische Mutterland hatten, sollten die
gleichen Regelungen gelten wie f٧r Frankreich selbst, f٧r Gebiete mit abwei
chenden Zollbestimmungen die Meistbeg٧nstigung. Dies galt auch f٧r die
Gleichbehandlung deutscher Staatsb٧rger im Hinblick auf den Schutz der Per
son, des Eigentums und der Berufsaus٧bung. Bez٧glich der Schiffahrt erhielt
Deutschland f٧r alle Gebiete, mit Ausnahme Tunesiens1392, die Meistbeg٧nsti
gung. Frankreich erhielt im vorlδufigen Handelsabkommen Zollvorteile wie
die Meistbeg٧nstigung oder Vertragstarife f٧r Gem٧se, Fr٧hgem٧se, Blumen,
Obst und besonders Weintrauben, Parf٧ms und Seifen, Seide, Kraftfahrzeuge
sowie Champagner und Cognac. Tafelweine blieben weiterhin ausgeklammert.
Bis auf die Ausklammerung von Wein und die Behandlung von Δpfeln zeigte
sich Frankreich mit dem Erreichten zufrieden. Im Gegenzug erhielt Deutsch
land denutrnmifa
tarif minimum oder Zwischentarife f٧r chemische Produkte, den Ma
schinenbau, die Elektrotechnik und weitere Artikel. Wδhrend sich die Zuge
stδndnisse f٧r Frankreich auf wenige, besonders wichtige Produkte
erstreckten, waren die Handelsvorteile f٧r Deutschland sehr viel weiter gefa
chert1393. Neben dem provisorischen Handelsvertrag wurde am selben Tag
außerdem ein Abkommen über Handelserleichterungen für den Warenverkehr
zwischen dem Reich und dem Saargebiet geschlossen1394.
Das provisorische Handelsabkommen bedeutete eine wichtige Erweiterung
der Frühgemüseabkommen. Außerdem konnten dadurch auch Lösungen für
noch offene prinzipielle Probleme, wie z.B. die Kolonialfrage gefunden werden. Deutschland gelang es, sich seinen wichtigsten Trumpf, nämlich die
Nichteinbeziehung von Wein, zu erhalten, und behielt so für die Verhandlungen zum endgültigen Handelsvertrag das entscheidende Druckmittel in der
Hand. So stellte dieses Abkommen - zusammen mit der Franc-Stabilisierung
und der Gründung der Internationalen Rohstahlgemeinschaft ebenfalls im
Sommer 1926 - eine bedeutende Konsolidierung der deutsch-französischen
Wirtschaftsbeziehungen und eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zum
definitiven Handelsvertrag dar.
1390
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.5.1926), MAE 1918-1929zwutsrponmlihgfedcbaUSMIE
Ζ (Europe) Alle
magne, 524.
1391
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (5.8.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allema
gne, 524.
1392
Dort hatte Italien weitgehende Sonderrechte, siehe ibid.
1393
Siehe ibid.
1394
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 350.
416
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Allerdings war noch immer kein neuer franzφsischer Zolltarif in Sicht.
Durch diese neuerliche Verzφgerung wurde absehbar, daß bis zum Ablauf des
Provisoriums am 21. Februar 1927 kein endgültiger Handelsvertrag zustande
kommen würde. Bereits im November 1926 wurde deshalb über eine Verlängerung und Ausweitung des Provisoriums nachgedacht1395. Die deutsche Regierung war allerdings skeptisch, denn für dessen Geltungsdauer bestanden
immer noch Benachteiligungen für den deutschen Handel. Wiederum war die
Weinfrage der wichtigste Konfliktpunkt in den folgenden Gesprächen. Frankreich drängte nun unbedingt auf die Einbeziehung von Wein, nachdem Handelsminister Maurice Bokanowski den französischen Weinbauern auf deren
massiven Druck hin eine entsprechende Zusicherung gegeben hatte1396. Trotz
weitreichender französischer Zugeständnisse - Frankreich wollte jetzt von der
Diskriminierung deutscher Waren unverzüglich bei Inkrafttreten des Definitivums absehen und bot die Senkung einiger Tarife an - weigerte sich die
Reichsregierung hartnäckig, Wein in das Provisorium aufzunehmen. Im Kabinett war die Einbeziehung von Wein äußerst umstritten und stieß besonders
auf den Widerstand des neuen Landwirtschaftsministers Martin Schiele
(DNVP)1397 und des Reichslandbunds1398. Auch im Reichstag war die Zustimmung zur Verlängerung des Provisoriums unter Einbeziehung von Wein
unwahrscheinlich1399. Außerdem gedachte die Reichsregierung, den Druck der
französischen Weinbauern auf die eigene Regierung erst für den endgültigen
Handelsvertrag zu nutzen1400. Nach zähen Gesprächen kam es, basierend auf
einem Kompromißvorschlag Serruys' vom 10. Februar 19271401, am 16. Februar 1927 zur Verlängerung des vorläufigen Handelsabkommens, einschließlich der Saarabkommen. In dem gleichzeitig unterzeichneten Protokoll behielt
sich Frankreich jedoch vor, einige Klauseln des Vertrags bis zum
21. März 1927 in französischem Sinne zu modifizieren. Sollte dies nicht möglich sein, hatte Frankreich einseitig das Recht, das Provisorium zum
31. März 1927 zu kündigen. Mit diesen im Protokoll nicht näher spezifizierten
Veränderungen war hauptsächlich an Wein gedacht. Dieser Kompromiß ermöglichte es der deutschen Seite zu behaupten, in der Zwischenzeit werde
über den vom Reichstag gewünschten endgültigen Handelsvertrag verhandelt1402, und die französische Regierung wahrte gegenüber dem französischen
Parlament im Hinblick auf die Weinfrage das Gesicht.
1395
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (5.11.1926), MAE 1918-1929zyutsrponmlihgfecbaVSRPNI
Ζ (Europe) Allemagne,
525.
1396
Siehe Döhle an AA (5.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 104.
1397
Siehe Schubert an Botschaft Paris (9.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 120.
1398
Siehe Sybel an Stresemann (2.4.1927), ΡAAA R, 105612.
1399
Siehe Aufzeichnung Schubert (7.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 107.
1400
Siehe Döhle an Ritter (18.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 164.
1401
Vgl. Hoesch an AA (10.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 128.
1402
Siehe Ritter an Hoesch (12.2.1927), ADAP Β IV, Nr. 140.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
417
Anfang Mδrz kehrte die deutsche Verhandlungsdelegation nach Paris zu
r٧ck. Nun ging es vor allem um das Zusatzabkommen f٧r Wein. Posse und
Hoesch drδngten darauf, sich den franzφsischen W٧nschen nach Einrδumung
eines Weinkontingents zu beugen, um eine K٧ndigung des Abkommens durch
Frankreich zu vermeiden1403. Das Reichskabinett stimmte am 9. Mδrz 1927
trotz des Widerstands von Schiele den Verhandlungen ٧ber ein Zusatzab
kommen, einschließlich Wein, zu1404. Dafür sprachen nicht nur handelspolitische Gründe, wie z.B. die Gefährdung der Niederlassungsrechte für Deutsche
in den ehemals deutschen Kolonien und der IRG, falls Frankreich das Provisorium kündigen sollte1405, sondern auch außenpolitische Überlegungen: Nachdem sich Deutschland faktisch im Handelskrieg mit Polen befand, mußte mit
Frankreich, einem der wichtigsten Verbündeten Polens, ein gutes handels- und
außenpolitisches Verhältnis gewahrt werden. Zudem begann im Mai die
Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbunds1406, wo es für Deutschland, dem
Vorreiter einer auf Meistbegünstigung beruhenden, liberalen Außenhandelspolitik, verhandlungstaktisch äußerst unklug gewesen wäre, nach nunmehr dreijährigen Verhandlungen kein Abkommen mit Frankreich zustande gebracht zu
haben. Stresemann ordnete darüber hinaus die Handelsvertragsverhandlungen
in einen größeren Zusammenhang ein. Er wollte durch die Verständigung mit
Frankreich im allgemeinen und den Handelsgesprächen im besonderen das
»Terrain für Räumung Rheinlands, Saargebiets und für die Revision DawesPlan [vorbereiten]. Insofern wäre Mißerfolg dortiger Verhandlungen und
Kündigung durch Frankreich am 21. März höchst unerwünscht«1407. Nach
schwierigen Gesprächen konnte am 15. März 1927 schließlich das Zusatzabkommen für Wein unterzeichnet werden, das bis zum 30. Juni 1927 gelten
sollte1408. Demnach erhielt Frankreich ein meistbegünstigtes Kontingent für
Tafelwein von 65 000 Doppelzentnern und von 5 000 Doppelzentnern für
Dessertwein. Im Gegenzug erhielt Deutschland Handelserleichterungen für
den Maschinenbau, die Elektroindustrie, die chemische Industrie sowie für
Bier und Grubenholz. Mit dem Protokoll vom 15. Mäiz 1927 wurden nicht nur
die Bestimmungen des provisorischen Handelsvertrags um das Weinabkommen erweitert, sondern auch die Grundsätze für den endgültigen Handelsvertrag neu festgelegt1409. Im einzelnen besagten diese neuen Grundsätze, daß
deutsche Waren nicht diskriminiert werden sollten, und Frankreich gestand
1403
Siehe Hoesch an AA (4.3.1927), ADAPzutsrponmlihgfedcbaVSRPNMKIEDBA
Β IV, Nr. 213.
Siehe Kabinettssitzung (9.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 229.
1405
Vgl. undatierte Aufzeichnung Ritter, ADAP Β V, Nr. 62.
1406
Vgl. Kap. 4.2.3.
1407
Stresemann an Botschaft Paris (16.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 254.
1408
Siehe Beaumarchais an Margerie (2.4.1927), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
525; Posse an AA (26.3.1927), ADAP Β V, Nr. 34.
1409
Siehe deutsch-französisches Protokoll (15.3.1927), ADAP Β IV, Nr. 250; undatierte
Aufzeichnung Ritter, ADAP Β, V, Nr. 62.
1404
418
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
eine Bindung seiner Zolltarife zu, falls Deutschland im gleichen Zeitraum sei
ne Tarife nicht δnderte. Frankreich erklδrte sich außerdem bereit, über die
Senkung desutrnmifa
tarif minimum fur einige Waren zu verhandeln. Die Zugeständnisse Frankreichs waren fur Deutschland sehr günstig und vor allem durch den
starken Druck der französischen Weinbauern zu erklären.
Der Optimismus, den diese günstigen Ergebnisse in Deutschland auslösten,
wurde jedoch durch den französischen Zolltarifentwurf, den Bokanowski am
7. März 1927 dem Parlament vorlegte, deutlich gedämpft1410. Posse stellte fest,
daß die vorgeschlagenen Tarife bis auf wenige Ausnahmen prohibitiv für
deutsche Waren seien1411. Falls Frankreich seine Minimaltarife im Vorfeld
neuer Verhandlungen nicht substantiell senke, könne nicht weiter verhandelt
werden1412. Auch in Frankreich regte sich, vor allem von Seiten des Comite
d'action economique et douaniere, in dem insbesondere die Landwirtschaft,
die Exportindustrie und Verbraucherverbände organisiert waren, Widerstand
gegen »l'exageration des tendances ultra-protectionnistes«1413.
Erst durch die vom Völkerbund organisierte Genfer Weltwirtschaftskonferenz (4. bis 23. Mai 1927)1414 - die deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen waren zwangsläufig unterbrochen, da Serruys einer der Hauptdelegierten Frankreichs war - wurde die internationale Opposition gegen die
französische Zollpolitik so groß, daß Frankreich eine Korrektur seiner Zölle in
Erwägung zog. Auf dieser Konferenz wurden zwar nur unverbindliche Empfehlungen erarbeitet, Frankreich wurde aber vor allem von Belgien, der
Schweiz, Großbritannien, Italien und auch Deutschland wegen seines protektionistischen Zollentwurfs angegriffen. Bereits vor der Weltwirtschaftskonferenz hatte es dazu zwischen den Pariser Botschaften der entsprechenden Länder Absprachen gegeben1415. Die abschließende Resolution wurde einstimmig,
also auch von Frankreich, angenommen und beinhaltete die Forderungen, Zölle zu verringern und langfristige bilaterale Handelsverträge auf Grundlage der
Meistbegünstigung zu vereinbaren. Der Tarifvorschlag Bokanowskis war dadurch diskreditiert, Frankreich handelspolitisch isoliert.
Die deutsche Delegation spielte nun auf Zeit, um so den Druck auf Frankreich weiter zu erhöhen1416. Frankreich wich aus: Bokanowski erklärte am
9. Juni 1927, daß der Zolltarif zurückgestellt worden und mit einer Verabschiedung vor Ende 1927 nicht mehr zu rechnen sei. Für die Zwischenzeit
sollten die Provisorien, einschließlich des Abkommens über Wein, verlängert
14,0
Vgl. RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 54-56.
Siehe Posse an Ritter (8.4.1927), ADAPvutsrponmlihgfedcaZVSRPNKDA
Β V, Nr. 70.
1412
Siehe Posse an AA (10.4.1927), ADAP Β V, Nr. 77.
1413
Rieth an AA (4.5.1927), ΡAAA R, 105613.
1414
Zum folgenden vgl. auch Kap. 4.2.3.
1415
Siehe Döhle an AA (8.4.1927), BArch R 3101, 2640.
14,6
Siehe Aufzeichnung Ritter (27.5.1927), ADAP Β V, Nr. 189.
1411
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
419
werden1417. Die deutsche Seite, gestδrkt durch die Ergebnisse der Genfer Kon
ferenz und unter dem Druck, den vor allem das Weinabkommen im Reichstag
hervorrief, lehnte eine Verlδngerung der Provisorien ab1418. Am 29. Juni 1927
wurden zwar die Saarvertrδge, nicht aber das Provisorium und das Weinab
kommen verlδngert. Ab dem 1. Juli 1927 trat somit zwischen Frankreich und
Deutschland ein vertragsloser Zustand ein. F٧r Deutschland war eine »g٧nsti
gere Situation geschaffen [...], als sie bisher jemals war«1419, weil der Wegfall
des Weinkontingents besonders Frankreich traf. In der Folgezeit setzten des
halb intensive Verhandlungen f٧r ein dauerhaftes Abkommen ein1420. Obwohl
die Verhandlungen unter großem Erfolgsdruck standen, gab es noch drei große
Konfliktfelder. Das erste stellte die Einbeziehung der französischen Kolonien
bzw. Protektorate Indochina und Marokko dar, die aus den Provisorien noch
ausgeklammert worden waren. Deutschland forderte die Ausdehnung des
Handelsvertrags auch auf diese Gebiete1421. Letztendlich mußte Deutschland
in der Frage der Niederlassungsrechte in Marokko nachgeben. Immerhin erhielt es dort die Meistbegünstigung fur den Warenverkehr und Schiffahrtsrechte1422.
Auch in der Weinfrage gab es nach wie vor Differenzen. Die deutsche Ausgangsposition war, daß Frankreich nur dann die uneingeschränkte Meistbegünstigung fur Wein erhalten sollte, wenn es auf die Diskriminierung einiger
deutscher Waren, die in der Liste C des Handelsvertrags festgelegt werden
sollten, verzichtete. Je mehr deutsche Waren auf der Liste C standen, desto
größer sollten die Abschläge von dem französischen Weinkontingent von
360 000 Doppelzentnern sein1423. Eng damit verbunden war das dritte große
Problem, nämlich das Ende der Diskriminierungsfrist für deutsche Waren.
Nach deutschen Vorstellungen sollte diese Frist, also die Gültigkeit der Liste C, spätestens zum 1. März 1928 enden1424. Durch das Weinkontingent und
die Verlängerung der Handelsvertragsdauer - zunächst war nur ein Jahr vorgesehen - versuchte die Reichsregierung, ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Die französische Regierung konnte aber als Frist für das Ende der Benachteiligung deutscher Waren den 15. Dezember 1928 ebenso durchsetzen
wie die Möglichkeit, den Handelsvertrag zu kündigen, falls Deutschland vor
Siehe Posse an AA (9.6.1927), ADAPzutsrponmlihgedcbaVSRPNMKIEDBA
Β V, Nr. 212.
Siehe ibid.; Beaumarchais an Margerie (27.6.1927), MAE 19181929 Ζ (Europe) Alle
magne, 525.
1419
Ritter an Posse (5.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 6.
1420
Siehe Posse an Ritter (5.7.1927), AD AP Β, VI, Nr. 7.
1421
Siehe Posse an AA (7.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 10.
1422
Siehe Posse an AA (14.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 115.
1423
Siehe Kabinettssitzung (13.7.1927), ADAP Β VI, Nr. 27.
1424
Siehe Kabinettssitzung (5.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 86.
1417
14,8
420
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Ablauf des Vertrags einen neuen Zolltarif verabschieden sollte1425. Damit wur
den auch die letzten Probleme ausgerδumt.
Der deutschfranzφsische Handelsvertrag wurde am 17. August 1927 von
den beiden Delegationsf٧hrern Posse und Bokanowski unterzeichnet und trat
am 6. September des gleichen Jahres in Kraft1426. Er bestand aus dem eigentli
chen Vertragstext mit 48 Artikeln, sechs Listen (A bis F), ergδnzenden Be
stimmungen ٧ber die Niederlassungsrechte der Staatsangehφrigen beider Lδn
der im jeweils anderen Land, einem Zeichnungsprotokoll mit Erlδuterungen
des Vertragstextes sowie zwei Zusatzerklδrungen. Des weiteren erfolgte der
Austausch von sieben weiteren Noten. Die erste der beiden Zusatzerklδrungen
beinhaltete den Verzicht Frankreichs auf wirtschaftliche Repressalien, die
Frankreich aufgrund des Versailler Vertrags zustanden, die zweite, daß Frankreich den Erhebungsmodus für die Reparationsabgabe dahingehend ändern
würde, daß nur noch Pauschalzahlungen der deutschen Regierung - ohne Belastung für das Einzelgeschäft - erfolgen sollten1427.
Kernpunkt des Vertrags war, daß Frankreich de jure und Deutschland de
facto die Meistbegünstigung zugestanden wurden. Vollständig sollte dies erst
spätestens zum 15. Dezember 1928 erfolgen, für die Zwischenzeit galten noch
Übergangsbestimmungen, um Frankreich die Möglichkeit zu geben, einen
neuen Zolltarif auszuarbeiten. Da das französische Parlament aber bereits am
2. März 1928 den neuen Tarif verabschiedete, der zum 16. März 1928 in Kraft
trat und nach einer Übergangsfrist von einem Monat auch für das deutschfranzösische Handelsabkommen galt, bestand schon ab dem 16. April 1928 die
volle gegenseitige Meistbegünstigung und die Übergangsregelungen der Listen C undzxwvutsrponmlkihgfedcbaZWVUSRPONLKIGFEDA
Ε entfielen. Der Reichstag stimmte dem deutsch-französischen
Handelsvertrag am 26. November 1927, das französische Parlament am
2. März 1928 zu.
In der Zwischenzeit galt die Meistbegünstigung nur für deutsche Produkte
der Listen Α und Β und für französische Waren der Listen Ε und F. Die Li
ste Α beinhaltete deutsche Produkte, die vom altenutrnmifa
tarif minimum profitierten,
die Liste Β deutsche Produkte, für die ein neuerutrnmligfea
tarif minimum, der am 6. September 1927 in Kraft trat, galt. Die neuen Zollsätze der Liste Β waren zwi
schen Deutschland und Frankreich während der Handelsgespräche ausgehandelt worden und sollten während der ganzen Vertragsdauer Gültigkeit
bewahren. In der Liste C waren diejenigen deutschen Waren festgelegt, für die
bis zum Inkrafttreten eines neuen französischen Zolltarifs ein Zwischentarif
zwischen dem tarif minimum und dem tarif general erhoben wurde. Die Li1425
Siehe Kabinettssitzung (9.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 95.
Siehe Robert GUILLAIN, Les problemes douaniers internationaux et la Societd des Na
tions, Paris 1930, S. 35.
1427
Eine entsprechende Vereinbarung wurde am 17.3.1928 unterzeichnet, siehe RESPONDEK,
Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 73.
1426
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
421
ste D legte die Ausnahmen fest, f٧r die Frankreich keine festen Zollsδtze ga
rantierte, wie dies in Artikel 4 des Handelsabkommens allgemein bestimmt
worden war. Die ListeutsrponmlihgfedcbaVSRPNMKIHEDBA
Ε umfaßte die französischen Produkte, für die die Zollsätze vereinbart und gesenkt wurden, die Liste F Produkte, fur die Frankreich
sofort die Meistbegünstigung erhielt. Teilweise galten für Waren, die von den
niedrigen Zollsätzen der Liste Ε profitierten, Kontingente. Diese Kontingente
sollten entfallen, sobald die neuen französischen Zollsätze gelten würden. Des
weiteren enthielt der Handelsvertrag Klauseln über Ausfuhrzölle, Handelsreisende, Muster, Transit und Niederlassungsrechte sowie über die Anwendung
des Vertrags in den französischen Kolonien, Protektoraten und Mandatsgebieten.
Das wichtigste Kennzeichen des Handelsabkommens war, daß Frankreich
sich zum ersten Mal verpflichtete, seine Zölle zu binden. Es war der erste umfassende Handelsvertrag zwischen beiden Ländern seit dem Ersten Weltkrieg,
denn bei den vorhergehenden Provisorien waren stets wichtige Warengruppen
ausgeschlossen geblieben. Der Vertrag eröffnete beiden Ländern bessere Ausfuhrmöglichkeiten als jeder vorhergehende Handelsvertrag. Für Frankreich
wurde besonders der Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, vor allem für
den Gemüse- und Weinanbau und für die beiden anderen großen Exportbranchen, die Textil- und Modeindustrie, erleichtert. Deutschland erhielt Tarifkonzessionen für wichtige Exportsektoren wie den Maschinenbau, die chemische
Industrie und andere Zweige der verarbeitenden Industrie. Der Reichsverband
der Deutschen Industrie (RDI) sah das Abkommen »trotz der schweren Bedenken einzelner Industrien doch als geeignete Basis für die Wiedereroberung
des französischen Marktes«1428.
In Deutschland gab es allerdings auch Kritik an dem Abkommen. Die deutsche Landwirtschaft, besonders der Weinbau, sei nicht ausreichend gegen die
französische Konkurrenz und die deutsche Industrie unzureichend gegen die
niedrigeren französischen Löhne und Sozialabgaben geschützt worden. In
Frankreich dagegen wurde der unzureichende Schutz des französischen Maschinenbaus und der chemischen Industrie sowie der deutsche Wirtschaftsexpansionismus beklagt. Dabei handelte es sich aber um Einzelstimmen. Im großen und ganzen wurde das Handelsabkommen positiv aufgenommen.
Stresemann war - bis auf die Marokkofrage - zufrieden1429, Briand äußerte
»lebhafte Genugtuung«1430 und der Quai d'Orsay betonte, daß der Vertrag,
obwohl zunächst nur für 18 Monate geschlossen, eine dauerhafte Basis für die
wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder sein würde1431. Auch Poinca1428
Aufzeichnung ohne Unterschrift (25.8.1927), Ρ AAA R, 105615.
Siehe Stresemann an Botschaft Paris (24.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 134.
1430
Hoesch an AA (27.8.1927), ADAP Β VI, Nr. 145.
1431
Siehe Beaumarchais an Margerie (18.8.1927), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
525.
1429
422
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
re w٧rdigte das Abkommen1432. Beide Seiten waren sich einig ٧ber die Bedeu
tung des Abkommens f٧r die Verbesserung der Beziehungen.
Besonders vor dem Hintergrund der schwierigen politischen und wirtschaft
lichen Lage stellte der deutsch-französischen Handelsvertrag einen großen
Erfolg dar. Bei den Verhandlungen zeigte sich aber auch die Untrennbarkeit
und Bedingtheit wirtschaftlicher und politischer Aspekte. Der unbestreitbare
Erfolg des Abkommens darf jedoch nicht über die weiterhin bestehenden
Schwierigkeiten der internationalen Wirtschaftsordnung in der Zwischenkriegszeit hinwegtäuschen. Bereits kurze Zeit nach dem Abschluß des Abkommens machte sich vor allem auf deutscher Seite Ernüchterung breit1433.
Das Reichswirtschaftsministerium kam im November 1928 zu dem Schluß:
Als Ergebnis der deutschen Handelspolitik muss [sie] festgestellt werden, dass [sie] es ihr
noch nicht gelungen ist, das handelspolitische Netz der internationalen Vereinbarungen, wie
es in der Vorkriegszeit bestand, vollstδndig wiederherzustellen. In der Praxis haben sich
diesem Bestreben erheblich grφssere [sie] Schwierigkeiten entgegengestellt, als man bei
seinem Beginn angenommen hatte1434.
Im Hinblick auf die deutsch-französischen Handelsbeziehungen wurde festgestellt, daß
[e]ine Besserung [...] auch das am 6. September 1927 in Kraft getretene deutschfranzφsische
Handelsabkommen nicht gebracht [hat] [...] Da das Gesamtniveau der nunmehr f٧r Deutsch
land geltenden franzφsischen Zollsδtze trotz der in dem Abkommen vereinbarten zahlreichen
Zollsenkungen und bindungen im Vergleich zur Vorkriegszeit noch immer sehr hoch ist, so
ist eine Wiederherstellung des Vorkriegsstandes der Außenhandelsbilanz kaum zu erwarten.
Die am Warenverkehr mit Frankreich beteiligten deutschen Ausfuhrkreise klagen vielfach
über die sehr schwierige französische Zollabfertigung, die nach ihrer Auffassung oft an Schikane grenzt1435.
Die Liberalisierung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen war
außerdem durch die zahlreichen internationalen Kartelle oftmals nur eine
scheinbare1436. Auf Anfrage des Deputierten Grinda erklärte der französische
Handelsminister Flandin am 13. November 1929, daß Frankreich Mitglied in
34 internationalen Kartellen sei, wobei Deutschland bei der überwiegenden
1432
Siehe Hoesch an AA (18.8.1927), ADAPrVNI
Β VI, Nr. 124.
»Enttäuschung über den Handel mit Frankreich. Frankreichs Nutzen aus dem Handelsabkommen mit Deutschland«, Hamburger Nachrichten (23.10.1927).
1434
Aufzeichnung ohne Unterschrift (1.11.1928), BArch R 3101, 2475.
1435
Ibid.
1436
Siehe Clemens A. WURM, Internationale Kartelle und die deutsch-französischen Beziehungen 1924-1930: Politik, Wirtschaft, Sicherheit, in: Stephen A. SCHUKER (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der Westeuropäischen
Sicherheit 1914-1963, München 2000 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 46),
S. 97-115, hier S. 114.
1433
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
423
Mehrzahl dieser Kartelle ebenfalls beteiligt war1437. Dadurch waren wesent
liche Bereiche des wirtschaftlichen Austausches faktisch aus dem Handels
abkommen ausgenommen. Dies galt f٧r Grundstoffe wie Kali, Stahl und
Aluminium ebenso wie f٧r einige Fertigprodukte, z.B. Autoreifen. Die
Kartellierung wichtiger Grundstoffe f٧hrte aber wiederum dazu, daß die
Produkte der verarbeitenden Industrie dadurch ebenfalls negativ beeinflußt
wurden. Wurde beispielsweise Kali - als Grundstoff für die chemische
Industrie - durch die internationalen Kartelle teurer, verteuerten sich auch die
daraus hergestellten Produkte.
Die Hoffnungen, die vor allem Frankreich in die Kartellierung gesetzt hatte
- Loucheur und Serruys strebten dadurch die Schaffung größerer, wettbewerbsfähiger Einheiten, eine zunehmende wirtschaftliche Verflechtung und
als Folge dessen dann schließlich auch eine Verringerung der Zollsätze an erfüllten sich jedoch allesamt nicht1438.
Auch auf internationaler Ebene hatte der deutsch-französische Handelsvertrag nicht die erhoffte Wirkung. Zwar kam es, vor allem durch die Handelsabkommen, die Frankreich infolge des deutsch-französischen Vertrags mit
anderen Ländern neu verhandeln mußte, im Jahr 1928 zu einer gewissen
Konsolidierung, was die Höhe der Zollsätze in Europa anging, doch war dieser
Trend nur von kurzer Dauer. Bereits Ende des Jahres 1928 stieg das Zollniveau allgemein wieder1439.
Im Hinblick auf die Modernisierung der Außenpolitik bedeutete der
deutsch-französische Handelsvertrag zwar einen Schritt in Richtung eines liberaleren Handelssystems, jedoch keinen grundsätzlichen Durchbruch.
4.2.3. Die multilaterale Ebene der Handelspolitik:
Die Genfer Weltwirtschaftskonferenz von 1927 und ihre Folgen
Handelspolitik wurde in den 1920er Jahren nicht nur auf bi-, sondern erstmals
auch auf multilateraler Ebene betrieben. Der Völkerbund nahm dabei eine besondere Stellung ein. In Artikel 23, Buchstabe e) der Bundessatzung hatte sich
der Bund die Sicherstellung der Freiheit des Verkehrs und »eine angemessene
Behandlung des Handels aller Bundesmitglieder« zur Aufgabe gemacht. An
dieser Bestimmung wird deutlich, daß das Ziel des Völkerbunds, nämlich die
1437
Siehe die entsprechende ٢bersicht im Journal officiel de la R0publique Fran9aise. Döbats
Parlementaires,xvutsrqponmljihgfedcbaUSRPNLHEDBA
Αηηέβ 1929, Nr. 85 (14.11.1929), S. 3134f.
1438
Siehe Eric BussifeRE, Les aspects 6conomiques du projet Briand. Essai de mise en pers
pective. De 1'Europe des producteurs aux tentatives regionales, in: AntoinefYURNLKJIGFEA
FLEURY, Lubor
JLLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union f6dörale europeenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu a Θεηένβ du 19 au 21 septembre 1991,
Bern u.a. 1998, S. 7592, hier S. 82f.
1439
Siehe GUILLAIN, Problfemes douaniers intemationaux, S. 38f.
424
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Gewδhrleistung von Frieden und Sicherheit weltweit1440, nicht nur durch si
cherheitspolitische Maßnahmen - wie die Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen (Artikel 10-17 der Völkerbundssatzung) und die Abrüstung (Artikel 8)
- erreicht werden sollte, sondern daß auch die Freiheit des Handels und im
weitesten Sinne der allgemeine Wohlstand als friedensfördemd betrachtet
wurden. Die Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbunds, die im Mittelpunkt
der Überlegungen dieses Kapitels stehen wird, wurde einberufen »[i]n der Erkenntnis, daß die Erhaltung des Weltfriedens in weitgehendem Maße von den
Grundsätzen abhängt, nach denen die Wirtschaftspolitik der Nationen gestaltet
und durchgeführt wird«1441.
Natürlich waren die Weltwirtschaftskonferenz, die im Mai 1927 in Genf
stattfand, und die Folgekonferenzen nicht nur sicherheits- sondern auch handelspolitisch von Bedeutung. Der Völkerbund hatte jedoch schon viel früher
damit begonnen, sich mit Wirtschaftsfragen zu befassen: Bereits 1920 fand
unter seiner Ägide in Brüssel eine internationale Finanzkonferenz statt, und er
wurde in die Sanierung der vom Krieg zerrütteten österreichischen Währung
eingeschaltet1442. Im September 1924 - der Dawes-Plan war gerade beschlossen worden und der englische Premier MacDonald hatte am 4. September 1924 die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund gefordert - sprach
der Leiter der Wirtschaftsabteilung der Section economique et fmanciere im
Völkerbundssekretariat1443, Pietro Stoppani, beim deutschen Konsulat in Genf
vor und bat die deutsche Regierung um ein Memorandum über das bestehende
System der Ein- und Ausfuhrverbote und die zukünftige deutsche Politik in
dieser Frage. Außerdem wurde in Aussicht gestellt, Experten zu einer Vorbesprechung über dieses Problem nach Genf einzuladen1444. Als Stoppani in Berlin weilte, wiederholte er seine Bitte auch gegenüber dem für wirtschaftliche
Fragen zuständigen Ministerialdirektor im AA, Karl Ritter1445. Über eine Beteiligung Deutschlands an der Enquete der Section economique äußerte sich
Ritter zunächst vorsichtig. Da aber die langfristige deutsche Außenhandelspolitik - zumindest wie sie vom AA verfolgt wurde - auf eine Liberalisierung
des Handels abzielte, beteiligte sich Deutschland konstruktiv an dem Projekt
des Völkerbunds. Am 12. Dezember 1924 übersandte der deutsche Konsul in
Genf, Gottfried Aschmann, das deutsche Memorandum zur Frage der Ein- und
1440
Vgl. Art. 1 der Völkerbundssatzung.
Die Weltwirtschaftskonferenz, Genf, im Mai 1927, hg. v. Reichswirtschaftsministerium,
Berlin 1927, S. 19.
1442
Siehe FLEURY, League of Nations, S. 513f.
1443
Zur Organisation der Section Economique im Rahmen des Völkerbunds siehe Eric BUSSIERE, reorganisation 6conomique de la S.D.N. et la naissance du r6gionalisme economique
en Europe, in: Relations internationales 75 (1993), S. 301-313, hier S. 302f.
1444
Siehe Poensgen an AA (18.9.1924), BArch R 3101,2475/1.
1445
Siehe Aufzeichnung Ritter (20.10.1024), BArch R 3101, 2474/1. Siehe auch zum folgenden.
1441
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
425
Ausfuhrkontrollen an den Generalsekretδr des Vφlkerbunds, Sir Eric Drum
mond1446. Das Memorandum, das aus der Feder des Ministerialrats im
Reichswirtschaftsministerium Reinshagen stammte1447, kam zu dem Schluß,
daß das »System der Aussenhandelskontrolle [sie] [...] in Deutschland in der
Zurückbildung begriffen [ist]«1448, nachdem mit der erfolgreichen Sanierung
der deutschen Währung die Hauptursache für die Handelsbeschränkungen entfallen sei. Als Ziel der deutschen Handelspolitik formulierte Reinshagen den
Wegfall aller Handelsbeschränkungen außerhalb der Zollpolitik. Seiner Auffassung nach konnte dieses Ziel aber erst erreicht werden, wenn die wirtschaftlichen Diskriminierungen des Versailler Vertrags entfielen und besonders auf
dem Gebiet der Sachlieferungen »die Unübersichtlichkeit der deutschen Reparationsleistungen«1449 beendet würde. An dieser Position wurde erneut deutlich, daß die deutsche Handelspolitik immer auch revisionspolitische Ziele
verfolgte.
Nach der Enquete des Völkerbunds fanden vom 26. bis 28. Mai 1925 tatsächlich auch Expertengespräche zum Thema Ein- und Ausfuhrverbote unter
Leitung des Comite economique statt1450. Als deutscher Experte wurdetsrponlie
ä titre
personnel wiederum Reinshagen entsandt. Nachdem die erste Sitzung »mehr
zu einem Verhör der Sachverständigen«1451 wurde, entwickelten sich die beiden übrigen Sitzungen stärker zu »zwanglose[n] Erörterungen«1452. Meinungsverschiedenheiten bestanden vor allem zwischen der Position Frankreichs, das von Serruys vertreten wurde, der die bestehenden Ein- und
Ausfuhrverbote weitgehend aufrechterhalten wollte, und der Position Italiens,
das auf die Abschaffung der Verbote drängte. Deutschland neigte der Position
Italiens zu, Reinshagen vermied es aber, sich zu exponieren. Es kam zwar zu
keinem konkreten Ergebnis, doch waren die Verhandlungen insofern positiv
für Deutschland, als es sich als Befürworter eines freien Warenverkehrs präsentieren konnte, ohne sich in irgendeiner Form festlegen zu müssen.
Nachdem der italienische Vorstoß zur Abschaffung der Ein- und Ausfuhrverbote gezeigt hatte, daß die französische Position in der Außenhandelspolitik ziemlich isoliert war, beschloß nun Frankreich selbst, in der internationalen
1446
Siehe Drummond an Aschmann (14.1.1925), in BArch R 3101, 2475/1.
Bei dem Text des Memorandums handelt es sich höchstwahrscheinlich um: Aufzeichnung Reinshagen [?], [10.12.1924], BArch R 3101, 2475/1 (Datum und Urheberschaft
Reinshagens gehen hervor aus: Ritter an RWiM [16.3.1925], BArch R 3101, 2475/1). Reinshagen war zudem Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligungen, siehe Aschmann an
AA, (20.4.1925), BArch R 3101, 2475/1.
1448
Aufzeichnung Reinshagen [?], [10.12.1924], BArch R 3101, 2475/1. Siehe auch zum
folgenden.
1449
Ibid.
1450
Über diese Konferenz siehe Aufzeichnung Reinshagen [28.5.1925], BArch R 3101,
2479.
1451
Ibid.
1452
Ibid.
1447
426
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
Wirtschaftspolitik die F٧hrungsrolle zu ٧bernehmen, um so stδrkeren Einfluß
auf die Entwicklung ausüben zu können. Auf der sechsten Vollversammlung
des Völkerbunds schlug der französische Delegierte und ehemalige Minister
Louis Loucheur am 24. September 1925 die Einberufung einer Weltwirtschaftskonferenz vor, die sich mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage
befassen sollte1453. Stresemann äußerte sich grundsätzlich positiv zur geplanten Konferenz:
Deutschland wird in seiner zentralen europäischen Lage und mit seiner überlegenen Arbeitsenergie, Unternehmungslust, Organisationskraft und wissenschaftlichen Ausbildung von
jeder Vereinfachung und Erleichterung des Wirtschaftsverkehrs Nutzen ziehen. Wenngleich
einzelne deutsche Wirtschaftszweige dabei vielleicht Schaden leiden werden, so wird die
deutsche Wirtschaft im ganzen davon per saldo doch mehr Vorteil als Nachteil haben1454.
Allerdings war der Außenminister skeptisch, was die konkreten Erfolge der
Konferenz anging: Fortschritte seien kaum zu erwarten, da in Deutschland vor
allem die Landwirtschaft dem Abbau der Zollschranken ablehnend gegenüber
stehe und die anderen europäischen Länder ihren Zollschutz gegenüber der
deutschen Industrie aufrechterhalten wollten. Außerdem seien Zollsenkungen
erst dann möglich, wenn alle Währungen stabilisiert seien. Eine von vielen
geforderte europäische Zollunion trage die Gefahr in sich, gegen die USA gerichtet zu sein, weshalb vor allem die USA, aber auch England und Rußland,
versuchen würden, solche Pläne zu verhindern. Trotz der geringen Aussichten
auf Erfolg wollte sich die Reichsregierung dennoch positiv an der Weltwirtschaftskonferenz beteiligen, um wenigstens kleine Erfolge zu erzielen.
Die Skepsis Stresemanns war, besonders hinsichtlich der Position Frankreichs, durchaus berechtigt. Während der deutsche Außenminister auch in seiner Rede anläßlich des deutschen Beitritts in den Völkerbund deutlich machte,
daß die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems der Vorkriegszeit im Mittelpunkt der deutschen Außenwirtschaftspolitik stehe1455,
lagen für Loucheur die Prioritäten ganz woanders1456: Eine Beseitigung der
Zollgrenzen lehnte er ab. Er strebte vielmehr an, durch die Hebung des Lebensstandards der Arbeiter den Konsum zu steigern und durch Konzentration
und Massenfabrikation die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu erhöhen, um
die Überproduktion der europäischen Nationalökonomien zu kompensieren.
Mittel hierfür waren nach Loucheurs Auffassung vor allem internationale In1453
Siehe BUSSIERE, Aspects 6conomiques, S. 77; Text der Resolution der Vollversammlung
in: Louis LOUCHEUR, Camets secrets 1908-1932 (hg. von Jacques DE LAUNAY), Brüssel 1962, S. 158. Zu den Motiven Loucheurs siehe KRÜGER, Ansätze, S. 157.
1454
Runderlaß Stresemann (21.1.1926), ADAPzvutsronmlkihgfedcaZWUSPNLKHEC
Β 1,1, Nr. 51. Siehe auch zum folgenden.
1455
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 86.
,456
Zur Position Loucheurs vgl. »Eine Weltkontrolle fur die Kartelle. Loucheur über die
Weltwirtschaftskonferenz«, Berliner Börsenzeitung (31.3.1927); »Die gegenwärtige Wirtschaftslage Europas. Vortrag Loucheurs in Berlin«, Frankfurter Zeitung (9.4.1927).
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
427
dustriekartelle unter Einbeziehung von Arbeitgebervertretern und Verbrau
cherorganisationen1457. Eine besondere Bedeutung kam dabei dem Vφlkerbund
zu: »Eine Weltkontrolle fur die Kartelle zu organisieren sei Aufgabe des Vφl
kerbundsorganismus in Genf«1458. Eine wirtschaftliche Blockbildung lehnte
Loucheur jedoch, zumindest im Hinblick auf Großbritannien, ab: »Die Politik
des Blocks [...] habe in den Jahren 1914 bis 1918 ihre Beurteilung erfahren.
Sie seizutsrnmlkihgedcbaEB
im Blut erstickt [alle Herv. i.O.] worden. Die europäische Vereinigung
müsse alle produktiven Völker umfassen, sie müsse England einbeziehen«1459. Über die Rolle der USA indessen schwieg er sich weitgehend aus,
doch dürfte sein Hinweis auf die »europäische Vereinigung« darauf schließen
lassen, daß diese Organisation vor allem dazu gedacht war, die wirtschaftliche
Dominanz der Vereinigten Staaten zu brechen1460. Den einzigen positiven
Hinweis zur Handelspolitik bildete seine Forderung nach der Vereinheitlichung von Handelsverträgen. Die Position Loucheurs wurde weitgehend von
Daniel Serruys, dem Leiter der Abteilung accords commerciaux im französischen Handelsministerium, geteilt1461. Einige Abweichungen gab es jedoch in
Detailfragen: Im Gegensatz zu Loucheur befürwortete Serruys eine Kontrolle
der Kartelle durch den Staat und auch die antiamerikanische Stoßrichtung war
bei Serruys prononcierter. Darüber hinaus spezifizierte Serruys den Charakter,
den die Kartellierung haben sollte: Vor allem Kartelle, die zur weitgehenden
Verflechtung, z.B. durch den Austausch von Know-how und gemeinsame Vertriebsorganisationen, führten (also das, was in Deutschland als »Rationalisierungskartell«1462 bezeichnet wurde), seien anzustreben1463.
Großbritannien war gegenüber dem loucheurschen Vorschlag skeptisch eingestellt und versuchte, aufgrund seiner imperialen Interessen »die Konferenz
in ein unverbindliches Palaver umzufunktionieren«1454. Auf Kritik stießen in
London vor allem die französischen Kartellvorstellungen. Die USA, die ebenso wie Rußland und Deutschland als Nichtmitglieder des Völkerbunds zur
Weltwirtschaftskonferenz eingeladen wurden, standen der französischen Initiative ebenfalls skeptisch gegenüber. Sie fürchteten eine »europäische Ver1457
Diese Vorstellungen entwickelt Loucheur an dieser Stelle nicht weiter.
»Die gegenwärtige Wirtschaftslage Europas. Vortrag Loucheurs in Berlin«, Frankfurter
Zeitung (9.4.1927).
1459
Ibid.
1460
Nach der Weltwirtschaftskonferenz trat dies auch offen zutage, siehe »Amerikas Furcht
vor einer europäischen Wirtschaftseinheit«, Berliner Börsenzeitung (1.10.1927).
1461
Zur Position Serruys siehe »La reorganisation de nos industries et les grands cartels internationaux. Une interview de M. Serruys«, L'Information (30.4.1927) und »Frankreich und
die Weltwirtschaftskonferenz. Unterredung mit dem französischen Hauptdelegierten, Ministerialdirektor Daniel Serruys«, Rheinisch-Westfälische Zeitung (4.5.1927).
1458
1462
1463
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 92.
Siehe »La r6organisation de nos industries et les grands cartels internationaux. Une interview de M. Serruys«, L'Information (30.4.1927).
1464
SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 87.
428
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
schwφrung«1465, die zur »Entstehung zweier rivalisierender Industrieblφcke«1466
f٧hre, und Angriffe auf ihre eigene protektionistische Handelspolitik. Ihre Po
sition war deshalb betont zur٧ckhaltend1467. Die Konstellation1468 im Vorfeld
der Wirtschaftskonferenz sah also so aus, daß die Vereinigten Staaten und
Großbritannien jede Form eines kontinentaleuropäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses verhindern wollten - und vor allem die USA an einer generellen Liberalisierung des Handels nicht interessiert waren. In Paris und Berlin
war man sich zwar darüber einig, daß es zu einer »Wirtschaftsverständigung«
kommen sollte, die als notwendiges Korrelat zum in Locarno initiierten politischen Entspannungsprozeß gesehen wurde1469; beide Seiten zeigten jedoch
völlig gegensätzliche Wege auf, die zu diesem Ziel fuhren sollten: Deutschland befürwortete den Freihandel, während Frankreich auf die internationale
Kartellierung setzte.
Nachdem auf zwei vorbereitenden Konferenzen das Mandat der Delegierten
und das Programm festgelegt worden waren1470, tagte die Weltwirtschaftskonferenz vom 4. bis 23. Mai 1927 in Genf. 50 Staaten hatten Delegierte zu
den Gesprächen in die Schweiz entsandt1471. Es handelte sich dabei allerdings
nicht um eine Regierungskonferenz, sondern um eine Tagung unabhängiger
Experten, die jedoch in enger Abstimmung mit den Regierungen ernannt
worden waren1472. Besonders Frankreich hatte sich dafür ausgesprochen, keine
offiziellen Regierungsvertreter zu entsenden, weil es fürchtete, daß ansonsten
die französische Handelspolitik kritisiert würde1473. Entsprechend ihres Auftrages konnten die Delegierten auch keine konkreten Beschlüsse fassen oder
gar Konventionen beschließen, sondern nur Empfehlungen abgeben1474.
Die deutsche Delegation in Genf bestand aus dem Rechtsanwalt und RDIFunktionär Clemens Lammers, dem Gewerkschafter Wilhelm Eggert, dem
ehemaligen Reichsernährungsminister und Präsidenten des deutschen Bauernbunds Andreas Hermes, dem Industriellen Carl Friedrich von Siemens, der
auch Präsident des vorläufigen Reichswirtschaftsrates war, und dem Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Ernst Trendelenburg. Die Bedeutung,
die die Reichsregierung der multilateralen Ebene der Wirtschaftsdiplomatie
1465
Ibid.
Ibid.
1467
Siehe Runderlaß Ritter (10.6.1927), ADAPzywvutsrponmlihgfedcbaZWVUSQONMLKHE
Β V, Nr. 218.
14i8
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 88f.
1449
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 524.
1470
Die erste vorbereitende Konferenz begann am 26.4.1926, die zweite dauerte vom 1 5
19.11.1926, siehe Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 42. Jg. (1926), S. 459f.,
493.
1471
Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 100.
1472
Siehe KRÜGER, Außenpolitik, S. 368.
1473
Siehe Berthelot an Delegation Genf (20.9.1926), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 629.
1474
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 89.
1466
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
429
zumaß, wurde daran deutlich, daß Trendelenburg, der anfänglich Verhandlungsführer für die deutsch-französischen Handelsvertragsgespräche
war1475, sich seit Anfang 1926 hauptsächlich mit der Weltwirtschaftskonferenz
beschäftigte. Auffällig an der Zusammensetzung der deutschen Delegation
war, daß die protektionistisch orientierte Schwerindustrie nicht vertreten war,
und auch der Vertreter der Landwirtschaft, Hermes, dürfte als Zentrumsabgeordneter in Handelsfragen eher liberaler eingestellt gewesen sein als andere
landwirtschaftliche Interessenvertreter aus dem Spektrum der DNVP.
Die französischen Hauptdelegierten, die von einer Anzahl technischer Berater begleitet wurden, waren Louis Loucheur, Daniel Serruys und der Präsident
des französischen Kohlenverbandes (C.C.H.F.), Henri de Peyerimhoff1476.
Peyerimhoff vertrat eine etwas andere Auffassung zur internationalen Kartellierung als seine beiden Kollegen, weil er forderte, daß zuerst die französische
Wirtschaft selbst rationalisiert und besser organisiert werden müsse, bevor es
zu internationalen Absprachen großen Stils käme1477. Wie Loucheur unterstützte er aber das Konzept derronmigedc
economie dirigee, also der verstärkten Planung
und Organisation der Wirtschaft1478. Auch galt Peyerimhoff gegenüber einer
deutsch-französischen Wirtschaftskooperation aufgeschlossen1479.
Nach der Eröffnung der Konferenz durch eine Generalaussprache wurden
drei Kommissionen gebildet, die sich mit den Themen Landwirtschaft, Finanzen und Bevölkerungsfragen (Kommission A), Industrie (B) sowie Handelsund Marktproblemen (C) befaßten1480.
Die französische Delegation war mit dem Ziel nach Genf gereist, durch ihre
Vorschläge für die internationale Kartellierung die Kritik gegen den neuen
französischen Zolltarifentwurf, den Handelsminister Bokanowski am
7. März 1927 dem Parlament vorlegt hatte, abzubiegen1481. Da aber nicht nur
Deutschland, sondern auch die Schweiz und andere Länder gerade Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich führten, nutzten diese das Genfer Forum, um vor allem die französische Handelspolitik zu kritisieren1482. Doch
nicht nur die französische Zollpolitik, auch das französische Konzept zur internationalen Kartellierung stieß - vor allem bei den deutschen und englischen
Delegierten - auf Widerstand1483. Schließlich war Loucheur
1475
Vgl. Kap. 4.2.2.
Siehe Rieth an AA (30.4.1927),iheSRA
ΡAAA R, 28241.
1477
Siehe »Französische Wirtschaftsgesinnung. Zur Internationalen Wirtschaftskonferenz«,
Kölnische Zeitung (30.4.1927).
1478
Siehe MOLLIER, Republiques, S. 486.
1479
Siehe WURM, Sicherheitspolitik, S. 493.
1480
Siehe Aufzeichnung Imhoff [?] (8.9.1926), BArch R 3101, 2479.
1476
1481
1482
1483
Vgl. RESPONDEK, Wirtschaftliche Zusammenarbeit, S. 54-56.
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 94f.
Siehe Ministerbesprechung (2.6.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 244.
430
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
der einzige, der die Idee der internationalen Kartellierung verfocht, nachdem fast alle bedeu
tenden Redner vor ihm die freiere Gestaltung des Handelsverkehrs als die Kardinal frage
behandelt, oder gar, wie v. Siemens, vor dem Glauben an die Wunderkraft der privaten Or
ganisation gewarnt und ihr die freie Konkurrenz als das unentbehrliche, den technischen und
den φkonomischen Fortschritt am meisten fordernde Prinzip gegen٧bergestellt haben1484.
In der Resolution, die die Konferenz schließlich auch mit französischer Zustimmung verabschiedete, wurden der Protektionismus verurteilt und die Staaten zur Senkung der Zölle aufgefordert1485. Die internationale Staatengemeinschaft wurde außerdem ermuntert, möglichst langfristige Handelsverträge auf
Grundlage der Meistbegünstigung abzuschließen, um Zollschwankungen zu
vermeiden und dadurch den Welthandel zu stabilisieren. Internationale Konferenzen sollten einberufen werden, um den wirtschaftlichen Austausch zu fördern.
Die Bedeutung der Weltwirtschaftskonferenz lag - und dies konnte aufgrund der Bedingungen, unter denen die Tagung stattgefunden hatte, auch gar
nicht anders sein - hauptsächlich im Atmosphärischen und Grundsätzlichen:
»Der Erfolg der Wirtschaftskonferenz liegt nach v. Siemens weniger in positiven Ergebnissen als in der Bildung einer öffentlichen Weltmeinung über die
wirtschaftlichen Zusammenhänge und die zweckmäßige Art der Wirtschaftsförderung sowie in der persönlichen Fühlungnahme der leitenden Wirtschaftsfiihrer in reger Zusammenarbeit«1486. Aus Sicht des AA war positiv zu vermerken, daß die wirtschaftsliberalen Tendenzen, wie sie der deutschen Außenwirtschaftspolitik zugrunde lagen, gestärkt wurden1487, während die französische
Politik eines europäischen, insbesondere gegen die USA gerichteten, Wirtschaftsblocks auf Grundlage internationaler Kartelle eine Absage erhalten
hatte1488. Im Sinne einer langfristigen Modernisierungswirkung lag die Bedeutung der Genfer Weltwirtschaftskonferenz vor allem in der Vorbildfunktion
fur das GATT und die WTO1489.
Nach der Weltwirtschaftskonferenz sollte es vor allem Deutschland sein, das
die Speerspitze für die Liberalisierung des Welthandels bildete. Auf der Rats
1484
Ibid.
Siehe Reichswirtschaftsministerium, Weltwirtschaftskonferenz, S. 45,47.
1486
Ministerbesprechung (2.6.1927), AdR Marx m/IV Bd. 2, Nr. 244.
1487
Siehe »Die Weltwirtschaftskonferenz«, Wirtschaftsdienst Nr. 22 (3.6.1927).
1488
Siehe Runderlaß Ritter (10.7.1927), ADAPutsrnmlihgfecaVNEB
Β V, Nr. 218. Bussiere geht meines Er
achtens fehl, daß eine europäische Wirtschaftsorganisation v.a. am Widerstand Englands
gescheitert ist, siehe BussifeRE, Organisation dconomique, S. 305f. Die Konfliktlinien verliefen vielmehr zwischen Deutschland mit seiner prononcierten Freihandelspolitik und der
französischen Kartellpolitik, während England sich weitgehend desinteressierte. Wegen der
Bedeutung der USA für die Reparationspolitik konnte und wollte Deutschland auch keine
gegen die USA gerichtete Politik betreiben.
1489
Siehe FLEURY, League of Nations, S. 516.
14,5
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
43 \
tagung des Vφlkerbunds vom 13. bis 17. Juni 1927 forderte Stresemann als
Berichterstatter ٧ber die Wirtschaftskonferenz, an der Umsetzung der Resolu
tion zu arbeiten1490, was jedoch von den meisten anderen Ratsmδchten abge
lehnt wurde1491. Stresemann selbst machte daf٧r insbesondere den englischen
Widerstand verantwortlich1492. Daran wurde deutlich, daß sowohl die französische Auffassung, die europäischen Wirtschaftsprobleme durch Kartellierung
zu lösen, als auch der deutsche Ansatz, zum relativ unbeschränkten Weltwirtschaftssystem der Vorkriegszeit zurückzukehren, keine breite Unterstützung
fanden. Entscheidend war hier, wie in anderen Politikbereichen, die fehlende
Stellungnahme Englands zugunsten einer Option.
Wenig später forderte Trendelenburg im Wirtschaftsausschuß des Völkerbunds, der ab dem 12. Juli 1927 tagte, erneut die Umsetzung der Resolution
der Weltwirtschaftskonferenz, also vor allem die Veröffentlichung und Vereinheitlichung der Zolltarife, später dann auch einen Zollabbau1493. Die Regierungen sollten außerdem zu Stellungnahmen aufgefordert werden, wie die Resolution verwirklicht werden könnte. Die übrigen Vertreter relativierten
allerdings den Vorschlag Trendelenburgs, so daß eine konkrete Aktion nicht
zustande kam.
Dem beharrlichen Drängen Trendelenburgs war es auch zu verdanken, daß
vom 17. Oktober bis 8. November 1927 die erste Konferenz des Völkerbunds
zur Abschaffung von Ein- und Ausfuhrverboten stattfand. Ihre Bedeutung bestand vor allem darin, daß eine Konvention erarbeitet werden sollte, die über
die »platonische[n] Erklärungen«1494 der Weltwirtschaftskonferenz hinaus zu
ersten konkreten Maßnahmen zur Handelsliberalisierung führen sollte. Allerdings entbrannte schnell ein Streit darüber, in welchem Umfang Handelshemmnisse abgebaut werden sollten1495. Deutschland forderte möglichst wenige Ausnahmen und die generelle Ächtung von Ein- und Ausfuhrverboten.
Zwischen der deutschen und der englischen Delegation kam es bald zu heftigen Auseinandersetzungen um das englische Importverbot für Farbstoffe.
Deutschland forderte dessen Abschaffung, England lehnte dies aus Furcht vor
der deutschen Konkurrenz ab1496. Als Retorsion hielt Deutschland deshalb an
seinem Kohlenein- und -ausfuhrverbot fest, was indes weniger England traf,
das selbst genug Kohlen forderte, als die anderen europäischen Staaten, die
dadurch bewegt werden sollten, auf die englische Regierung Druck auszuSiehe Runderlaß Bülow (25.6.1927), ADAPxutsronmlihgfedcbaZYWVUTSRPNMLIHGECBA
Β V, Nr. 255.
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 113f.
1492
Siehe ibid. S. 114.
1493
Siehe ibid. S. 118.
1494
Trendelenburg an Curtius (8.11.1927), BArch R 3101,20464.
1495
Siehe GUILLAIN, Problemes douaniers intemationaux, S. 63.
1496
Siehe Beaumarchais an Botschaft London (30.10.1927), MAE 19181940 Y (Internatio
nale), 629.
1490
1491
432
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
٧ben1497. Letztendlich stimmte England doch noch einer Befristung des Ein
fuhrverbots f٧r Farbstoffe zu, ohne allerdings einen festen Termin f٧r dessen
Abschaffung zu nennen1498. In der abschließenden Konvention1499 konnte sich
Deutschland insofern durchsetzen, als daß Ein- und Ausfuhrverbote prinzipiell
verboten und Ausnahmen (z.B. sanitäre, Veterinäre Bestimmungen und Maßnahmen zum Jugendschutz) restriktiv ausgelegt wurden. Allerdings war eine
Reihe von Ausnahmen vorgesehen, die bis zu einer Folgekonferenz angemeldet werden mußten, und die vor allem Kohlen, Alteisen und Farbstoffe betrafen. Außerdem wurden die Kolonial- und Mandatsgebiete aus der Konvention
ausgeklammert, so daß die britischen und französischen Präferenzsysteme für
ihre Imperien ausgenommen blieben. Dies war problematisch, weil die Kolonien und Mandatsgebiete wichtige Rohstofflieferanten waren. Die Konvention, die zustande gekommen, aber noch nicht in Kraft gesetzt worden war,
stellte zwar einen Fortschritt dar, drohte jedoch durch die zahlreichen Ausnahmeregelungen ausgehöhlt zu werden. Trendelenburg zeigte sich vor allem
von den großen Schwierigkeiten überrascht, die die Lösung des in seinen Augen relativ einfachen Problems der Ein- und Ausfuhrverbote bereitet hatte1500.
Am Konferenzverlauf wurde außerdem klar, daß Deutschland mit seinen weitgehenden Liberalisierungsforderungen keine Unterstützung in Frankreich,
Großbritannien und den USA fand, allerdings hatten sich während der Verhandlungen auch protektionistische Partikularinteressen deutscher Wirtschaftskreise, namentlich aus den Reihen der Filmindustrie und des Bergbaus,
artikuliert1501. Das weitere Schicksal der Konvention über den Abbau von
Handelshemmnissen machte deutlich, daß die Liberalisierung des Welthandels, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, von den meisten Staaten abgelehnt
wurde: Auf der Folgekonferenz über Ein- und Ausfuhrverbote, die vom 3. bis
19. Juli 1928 stattfand, hatte die Zahl der Ausnahmeanträge stark zugenommen1502. Nach schwierigen Verhandlungen konnte die Konvention zwar zum
1. Januar 1930 vorläufig in Kraft treten1503, doch scheiterte sie letztlich an der
Ablehnung Polens, weil viele Staaten (unter anderem auch Deutschland) ihre
Inkraftsetzung von der polnischen Zustimmung abhängig gemacht hatten1504.
Die Abschaffung von Ein- und Ausfuhrverboten war aber nur eine Front, an
der die Reichsregierung gegen Handelshemmnisse kämpfte. Ende 1927 unternahm Trendelenburg im Wirtschafitsausschuß des Völkerbunds einen Vorstoß
1497
Siehe ibid.
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 146.
1499
Hierzu siehe ibid. S. 148f.
1500
Siehe Trendelenburg an Curtius (8.11.1927), BArch R 3101, 20464.
1501
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 150f.
1502
Siehe ibid. S. 163.
1503
Siehe GUILLAIN, Problfemes douaniers internationaux, S. 75.
1504
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 224f.
1498
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
433
zur Senkung von Zφllen1505. Diese Initiative scheiterte jedoch wiederum am
Widerstand Frankreichs und Großbritanniens. Serruys beharrte auf seinem
Standpunkt, Zollsenkungen von der Kartellierung der betreffenden Industrie
abhängig zu machen und diese zudem über mehrere Jahre zu strecken. Außerdem sollten nur Höchstzölle festgelegt werden, ohne über die konkrete Senkung von Tarifen zu verhandeln. England lehnte Zollsenkungen grundsätzlich
ab. Streit bestand außerdem darüber, ob zuerst die Zollnomenklatur vereinheitlicht1506 oder sofort mit Zollreduzierungen begonnen werden sollte. Ein besonderes Problem für allgemeine Zollsenkungen bildeten die Vereinigten Staaten: Die USA, die keineswegs daran dachten, Abstriche von ihrer
Hochzollpolitik zu machen, würden, da sie mit den meisten europäischen Staaten Handelsverträge auf Basis der Meistbegünstigung geschlossen hatten, automatisch in den Genuß allgemeiner Zollsenkungen kommen, ohne selbst einen einzigen Tarif absenken zu müssen. Viele europäische Staaten weigerten
sich deshalb, ihre Zölle zu senken, um nicht den USA Handelsvorteile gewähren zu müssen, ohne selbst dafür Gegenleistungen zu erhalten1507.
Bewegung gab es lediglich auf dem Gebiet eines »Zollfriedens«: England weil es die Pläne zur engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa, die
der Belgier Paul Hymans und Briand auf der Bundesversammlung im September 1929 vorgeschlagen hatten, ablehnte - schlug vor, daß sich die Völkerbundsstaaten verpflichten sollten, für zwei Jahre auf Zollerhöhungen zu verzichten1508. Während dieses »Zollwaffenstillstands« sollten Verhandlungen
über Zollreduzierungen stattfinden1509. Deutschland stimmte diesem Vorschlag
vor allem deshalb zu, weil er weniger offensichtlich gegen die USA gerichtet
war als die belgischen und französischen Europapläne. Im AA vermutete man
insbesondere bei der französischen Initiative ein starkes antiamerikanisches
Moment1510. Trotz der Skepsis der französischen Regierung - Handelsminister
Pierre Etienne Flandin befürchtete, daß die Verhandlungen genutzt werden
könnten, um vor dem Inkraftsetzen der Zollfriedenskonvention die Tarife
1505
Zum folgenden siehe ibid. S. 155157.
Das Problem war insofern relevant, weil es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einer
enormen Differenzierung der Zolltarife gekommen war: Hatte der französische Zolltarif
1892 noch 1 500 Position, so umfaßte er 1927 4 371. Analoges galt für den deutschen Tarif:
1888 beinhaltete er 489 Positionen, 1925 2 300, siehe GUILLAIN, Problemes douaniers internationaux, S. 77. Die Differenzierung war problematisch, weil sie eine immer gezieltere
Diskriminierung von Waren ermöglichte und Zollsenkungen durch die Aufsplitterung von
Einzeltarifen umgangen werden konnten, siehe »Trendelenburg über die Weltwirtschaftskonferenz«, Berliner Börsenzeitung (24.2.1927).
1507
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 157.
1508
Allerdings war der Zollfrieden ursprünglich eine belgische Idee, siehe 6ric BuSSliRE, La
France, Ia Belgique et l'organisation economique de l'Europe, 1918-1925, Paris 1992,
S. 330.
1509
Siehe ibid. S. 183
1510
Siehe Schubert an Hoesch (10.12.1929), ADAPrN
Β ΧΙΠ, Nr. 189.
1506
434
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
nochmals krδftig zu erhφhen1511 und der vorsichtigen Haltung der Reichs
regierung, hier stand eine Zolltarifhovelle an, weil der deutsche Zolltarif von
1925 zum Ende des Jahres 1929 auslief4512, kam es zu Gesprδchen ٧ber den
Zollfrieden. Nachdem die Verhandlungen fast an der ablehnenden Haltung
Serruys' scheiterten1513, konnte auf Basis eines Kompromißvorschlags1514 von
Flandin am 24. März 1930 die Genfer Handelskonvention unterzeichnet werden. Darin verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, bis zum 1. April 1931 vertraglich festgelegte Zölle nicht zu erhöhen. Der Vertrag sollte stillschweigend
für jeweils sechs Monate verlängert werden.
Der neue amerikanische Smoot-Hawley-Tarif, der die amerikanischen Zölle
nochmals erhöhen sollte, ließ die Chancen fur die Ratifikation allerdings sinken, da wiederum die USA trotz ihrer eigenen protektionistischen Zölle durch
die Meistbegünstigungsklausel vom Einfrieren der europäischen Zölle profitiert hätten. Schließlich scheiterte die Konvention aber nicht nur an der amerikanischen Handelspolitik, sondern auch an der deutschen Nichtratifikation:
Die deutsche Handelspolitik neigte - ausgehend von agrarprotektionistischen
Interessen - ab Anfang der 1930er Jahre selbst immer mehr zu Zollerhöhungen1515.
Auch auf multilateraler Ebene kam es also nach den ermutigenden Anfängen auf der Weltwirtschaftskonferenz kaum zu Fortschritten bezüglich der
Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen - und somit der
Verwirklichung des liberalen Modells der Friedenssicherung. Von den größeren Ländern war es allein Deutschland, das versuchte, zum Freihandelssystem
der Vorkriegszeit zurückzukehren. Wie Deutschland strebte zwar auch Frankreich eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Länder an,
machte dies aber von der Kartellierung einiger wichtiger Wirtschaftszweige
abhängig. Die USA, die an ihrer Hochzollpolitik festhielten, und selbst Großbritannien, das vor dem Ersten Weltkrieg der Hort des Freihandels gewesen
war, lieferten keine positiven Beiträge zur Liberalisierung der Weltwirtschaft.
4.2.4. Weltwirtschaftliche Verflechtung und die Modernisierung
der Außenpolitik: Eine Bilanz
Ebenso wie auf politischer Ebene blieb die Modernisierung der Außenpolitik
auf wirtschaftlichem Gebiet fragmentarisch. Bezogen auf die deutsch-franzö1511
Siehe Hoesch an AA (25.11.1929), ADAPvutsrponmljihgfedcbaZXWVUTSRPNLIHEDC
Β ΧΠΙ, Nr. 155; Laurence BADEL, Treve
douaniere, lib&alisme et conjoncture (septembre 1929mars 1930), in: Relations internatio
nales 82 (1995), S. 141161, hier S. 148.
1512
Siehe Schubert an Hoesch (10.12.1929), ADAP Β XIII, Nr. 189.
1313
Siehe Wiehl an Schubert (4.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 134; BADEL, Treve douanifre.
1514
Siehe Wiehl an Schubert (8.3.1930), ADAP Β XIV, Nr. 141.
1515
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 248.
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
435
sischen Wirtschaftsbeziehungen blieb der deutschfranzφsische Handelsver
trag der einzig wirkliche Erfolg, der jedoch so lange unvollstδndig bleiben
mußte, wie er nicht von allgemeinen Zollsenkungen begleitet wurde. Nach den
positiven Ansätzen der Weltwirtschaftskonferenz blieben die multilateralen
Vorstöße, das Welthandelssystem zu liberalisieren und zur Vorkriegsordnung
(die keineswegs dem idealtypischen Zustand entsprochen hatte) zurückzukehren, in den Ansätzen stecken. Insgesamt, so die Bilanz aus Sicht der Modernisierung, gab es, was die weltwirtschaftliche Verflechtung anging, kaum Fortschritte, und bereits ab 1928 setzte, wie Guillain feststellt1516, ein Trend hin zu
mehr Protektionismus ein, der sich mit der Weltwirtschaftskrise noch verschärfte.
Warum aber kam die Modernisierung der Außenpolitik im wirtschaftlichen
Bereich nur schleppend voran? Die Gründe hierfür waren komplex und lagen
nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet. Eine wesentliche Ursache lag sicherlich in den schwierigen
weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die ökonomische Situation der
Nachkriegszeit war vor allem durch die Kriegsfolgen geprägt, wie der Fehlallokation von Ressourcen, dem Auftreten neuer, außereuropäischer Wettbewerber, den Währungsturbulenzen oder neuen Zollgrenzen, vor allem in Mittel· und Osteuropa. Verschärft wurden diese Wirtschaftsprobleme unter
anderem durch die Reparationen1517. Es ergab sich somit ein Teufelskreis: Die
schwierige wirtschaftliche Lage verhinderte die Liberalisierung der Weltwirtschaft, die fehlende Liberalisierung wiederum verzögerte die ökonomische
Erholung. Ein weiterer wesentlicher Grund für den weitgehend gescheiterten
Abbau von Wirtschaftshemmnissen lag darin, daß die Liberalisierung der
Weltwirtschaft gerade nicht als Patentrezept zur Lösung der internationalen
Wirtschaftsprobleme gesehen wurde. Von den großen Wirtschaftsmächten trat
allein Deutschland auf internationaler Ebene als konsequenter Verfechter des
Freihandels auf. Frankreich setzte zur Lösung der Probleme dagegen auf die
internationale Kartellierung, und die klassische Freihandelsnation England zog
sich mehr und mehr auf ihr imperiales Präferenzsystem zurück. Besondere
Verantwortung kam aber den Vereinigten Staaten zu, die durch ihre protektionistische Politik die Liberalisierung blockierten. Auf internationaler Ebene
schienen dabei auch die Interessen der nationalen Verbandsführer durch. Von
den wirtschaftlichen Interessenverbänden kamen keine eindeutigen Impulse
für oder gegen die Liberalisierung. Einige Branchen - in Deutschland zum
Beispiel die chemische und die Elektroindustrie, in Frankreich insbesondere
die Landwirtschaft - waren freihändlerisch eingestellt, andere, wie die deutsche Schwerindustrie und Landwirtschaft und die französische verarbeitende
Industrie, protektionistisch. In Deutschland spiegelte sich dieser innerwirt1516
15,7
Siehe GUILLAIN, Problemes douaniers intemationaux, S. 38f.
Vgl. Kap. 4.2.1.
436
4. Kollektive Sicherheit und Handelsliberalisierung
schaftliche Konflikt auch im Kabinett wider. Zwar trat die Reichsregierung
nach außen hin in den 1920er Jahren recht konsequent für den Freihandel ein.
Diese Außenwirkung konnte aber nur deshalb erreicht werden, weil das
Reichsernährungsministerium als Hort des Protektionismus zunächst nur geringen Einfluß auf die Gestaltung der Außenwirtschaftspolitik hatte, die vor
allem beim AA und beim Reichswirtschaftsministerium angesiedelt war. Mit
der beginnenden Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland auch zu einer verschärften Agrarkrise wurde, und dem Rechtsruck des Kabinetts Brüning stieg
der Einfluß landwirtschaftlicher Interessen, so daß die bis dahin liberale Außenwirtschaftspolitik zunehmend durch eine agrarprotektionistische Politik
ersetzt wurde1518. Auch der deutsch-französische Handelsvertrag fiel dieser
neuen Politik schließlich zum Opfer1519.
Die Umsetzung einer liberalen Außenwirtschaftspolitik wurde durch die
prekären Mehrheitsverhältnisse in den nationalen Parlamenten erschwert. Wäre eine konsequente Liberalisierung durchgeführt worden, hätte dies kurzfristig - vor allem in den stark durch Zölle geschützten Industrien - durch die
dadurch neu entfachte Konkurrenz zu einer Anpassungskrise geführt. Nicht
wettbewerbsfähige Unternehmen wären dadurch zerstört oder zu schmerzhaften Anpassungen gezwungen worden. Die damit einhergehenden sozialen Folgen, wie vor allem Arbeitslosigkeit, waren Gründe, die viele Regierungen von
radikalen Einschnitten Abstand nehmen ließen. Der - nicht genau absehbare Langzeiterfolg der Liberalisierung (gemäß der liberalen Theorie größere Effizienz und sinkende Preise durch größere Konkurrenz), der zudem nur schwer
einer konkreten politischen Entscheidung zuzuordnen ist, wurde deshalb vielfach dem wirtschaftspolitischenyutsronmlihgedD
muddling through, dem Durchwursteln, dem
systeme D geopfert. Das Problem, daß die erwartete Wirkung einer Maßnahme
oder Reform erst in einem größeren zeitlichen Abstand erfolgt, der Effekt dieser Maßnahme nur schwer kalkulierbar und oft von einer gewissen Umstellungskrise begleitet ist, ist ein wichtiger Grund, daß solche Maßnahmen oftmals dem Machterhalt der Regierenden geopfert wurden - und werden.
Wiederholt wurde darauf hingewiesen, daß die Modernisierung der Außenpolitik sowohl politische als auch wirtschaftliche Aspekte umfaßte, die sich im
Idealfall gegenseitig ergänzen sollten: Im liberalen Modell der Friedenssicherung dienen dem Ziel der Friedenssicherung sowohl friedliche Konfliktregelungsmechanismen als auch zunehmender materieller Wohlstand und gesellschaftliche Stabilität. Wie in den Ausführungen über die Sicherheitspolitik zu
sehen war, war diese Politik aber weder in Frankreich noch in Deutschland
unumstritten. Während in Paris und Berlin Einigkeit darüber bestand, daß die
1518
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 232f.
Vgl. Sylvain SCHIRMANN, La d6nonciation du traiti de commerce franco-allemand
d'aoüt 1927, in: Relations internationales 82 (1995), S. 163-173. Siehe auch DERS., Les
relations economiques et financieres franco-allemandes, 1932-1939, Paris 1995, S. 52-62.
1519
4.2. Die Wiederherstellung des liberalen Weltwirtschaftssystems
437
Außenwirtschaftspolitik auch ein Mittel der Außenpolitik sein konnte und
vielleicht sogar sein mußte, divergierten doch die vornehmlichen außenpolitischen Ziele: Für Frankreich, das hauptsächlich die Wahrung seinerutsriec
securite als
außenpolitisches Ziel verfolgte, mußte Außenwirtschaft deshalb eine andere
Bedeutung haben als für Deutschland, das Revisionspolitik betrieb. Es wurde
dargelegt, daß Paris, analog zu seinen drei sicherheitspolitischen Konzepten
auch drei außenwirtschaftliche Konzepte verfolgte. Die französische Politik
der internationalen Kartelle bildete dabei keine Ausnahme: Sie diente einmal
zur Stabilisierung des durch den Krieg geschaffenen Status quo; sie diente
aber auch der Kontrolle der deutschen Industrie1520. Durch Kartellvereinbarungen würden - so sah man dies zumindest in Frankreich zu dieser Zeit - der
unbändigen deutschen Wirtschaftskraft Zügel angelegt. Man konnte sich dem
Bullen nicht in den Weg stellen, also versuchte man ihn zu reiten. Ein freier
wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen Deutschland und Frankreich hätte, so
interpretierte das die französische Führung, zwangsläufig zu einer wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands gefuhrt. Internationale Kartelle sollten diese
Dominanz vermeiden helfen. Deutschland wiederum verfolgte mit seiner Freihandelspolitik auch eine revisionspolitische Agenda. Die Abschüttelung der
wirtschaftlichen Beschränkungen des Versailler Vertrags war dabei ein Revisionsziel per se. Befreit von den Fesseln des Friedensabkommens sollte die
deutsche Wirtschaftskraft dann zur Erreichung anderer Revisionsziele genutzt
werden. Allerdings beruhte sowohl die deutsche wie auch die französische
Sicht der Wirtschaftsentwicklung - und die daraus gezogenen sicherheits- und
revisionspolitischen Schlüsse - auf einer Fehlwahrnehmung: Die französische
Wirtschaft expandierte in den 1920er Jahre stark, während die deutsche stagnierte1521.
Aufgrund der unterschiedlichen außenpolitischen Zielsetzungen konnten
Deutschland und Frankreich also nur sehr mühsam gemeinsame außenwirtschaftliche Zielsetzungen entwickeln. Wie im Bereich der Sicherheitspolitik
wirkte sich aber auch hier vor allem die fehlende Einflußnahme der angelsächsischen Mächte negativ aus. Besonders die USA nahmen dabei ihre Führungsrolle, die ihnen aufgrund ihrer dominierenden Position in der Weltwirtschaft
zufiel, nicht nur nicht wahr, sondern schadeten durch ihre Hochzollpolitik und
ihrer unnachgiebigen Haltung in der Schulden- und Reparationspolitik der
wirtschaftlichen Verständigung.
1520
Siehe NOCKEN, Internationales Stahlkartell, S. 168.
Vgl. Franipois CARON, Changement technique et culture technique, in: Maurice L6VYLEBOYER (Hg.), Histoire de la France industrielle, Paris 1996, S. 232-253, hier S. 242; Albrecht RLTSCHL, Marc SPOERER, Das Bruttosozialprodukt in Deutschland nach den amtlichen Volkseinkommens- und Sozialproduktsstatistiken 1901-1995, Stuttgart 1997, S. 24.
1521
5. SCHLUSS
DER ABBRUCH DER MODERNEN AUSSENPOLITIK
UND BRIANDS EUROPAPLAN
Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur das endg٧ltige Ende des europδischen
Konzerts und den Aufstieg der Fl٧gelmδchte USA und Sowjetunion, sondern
auch eine Modernisierung der Außenpolitik. Neben die nationale Macht- und
Interessenpolitik der europäischen Länder, die ihren sichtbarsten Ausdruck im
Imperialismus der Vorkriegszeit gefunden hatte, trat ein neues - moderneres außenpolitisches Werte- und Politiksystem. Dieses neue Konzept sah den
Zweck der Außenpolitik nicht mehr ausschließlich in der nationalen Interessensicherung, sondern verstärkt in der Wahrung des Friedens und der Sicherheit der Staatengemeinschaft begründet. Die Säulen dieses Friedensmodells
waren die Schaffung von kollektiven Sicherheitsstrukturen und die Wiederherstellung des durch den Krieg zerstörten liberalen Weltwirtschaftssystems. Kollektive Sicherheit mit ihren Kernpunkten friedliche Streitschlichtung und Abschreckung sollte internationale Konflikte verhindern und der freie Welthandel
die tieferen Ursachen hierfür - Armut und soziale Ungerechtigkeit - beseitigen. Demokratie im Innern der Staaten sollte die Basis dieses modernen, liberalen Friedensmodells bilden. Der wichtigste Propagandist dieses Friedensmodells, der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, konnte diese
Vorstellungen im Versailler Vertrag allerdings nur unvollständig umsetzen.
Das Friedensabkommen blieb in sich widersprüchlich. Modernen Elementen wie vor allem der Völkerbundssatzung und den Bestimmungen über das internationale Arbeitsamt - standen Bestimmungen gegenüber, die traditionellen
außenpolitischen Zielsetzungen geschuldet waren. Letztere betrafen vor allem
die Abtrennung vieler deutscher Gebiete ohne Volksabstimmung oder die
wirtschaftlichen Bestimmungen, die dem Verlierer auferlegt wurden.
Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland die Revision des Versailler Vertrags und in Frankreich die nationale Sicherheit vor allem vor
Deutschland im Mittelpunkt der jeweiligen außenpolitischen Bemühungen
standen, konnten sich auch diese beide Länder nicht völlig der Modernisierung
der Außenpolitik entziehen. Sowohl Deutschland als auch Frankreich konnten
dabei auf inhaltliche wie organisatorische Entwicklungen aus der Vorkriegszeit zurückgreifen. Die beispielsweise bereits vor dem Krieg angemahnte stärkere Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange fand in den administrativen
Reformen der auswärtigen Dienste in Deutschland und Frankreich ihren Niederschlag. Insbesondere zwischen den Jahren 1923/24 und 1929 wurden Elemente des liberalen Modells der Friedenssicherung auch in die deutschfranzösischen Beziehungen integriert.
440
5. Schluß
Bez٧glich der Schaffung kollektiver Sicherheitsstrukturen wurden im Unter
suchungszeitraum erhebliche Erfolge erzielt: Deutschland trat dem Völkerbund bei, die Locamo-Verträge konstituierten, zumindest für den Bereich der
deutschen Westgrenze, ein kollektives Sicherheitssystem, und die Schiedsverträge, die Deutschland - ebenfalls in Locarno - mit seinen östlichen Nachbarn
schloß, trugen zur Erhöhung der Sicherheit bei. Ein weiteres wichtiges Element der außenpolitischen Modernisierung wurde mit dem Kriegsächtungspakt erzielt, in dem der Krieg als Mittel der Politik erstmals grundsätzlich verurteilt wurde.
Auch bezüglich der Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, dem zweiten wichtigen Aspekt der Modernisierung der Außenpolitik, wurden wichtige
Fortschritte erzielt: Durch den deutsch-französischen Handelsvertrag vom
17. August 1927 konnte der bilaterale Handel zwischen Deutschland und
Frankreich erleichtert werden. Über die Meistbegünstigungsklausel wirkte
diese Liberalisierung auch auf die Handelsbeziehungen Deutschlands und
Frankreichs mit anderen Staaten. Auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genf
im Mai 1927 wurde der freie Handelsverkehr als Ziel der internationalen Wirtschaftspolitik deklariert, mit den Nachfolgekonferenzen erste Schritte auf dem
Weg zur Verwirklichung dieses Zieles getan.
Die Modernisierungsanstrengungen machten sich auch in einer zunehmenden Verständigungsbereitschaft zwischen Deutschland und Frankreich bemerkbar, die sich im weitesten Sinne auf die »Zivilgesellschaft«1 bezog. Auf
diese Verständigungsbemühungen kann an dieser Stelle nur exemplarisch2
1
Unter »Zivilgesellschaft« soll dabei »eine Sphäre sozialer Institutionen und Organisationen« verstanden werden, »die nicht direkt der Funktion politischer Selbstverwaltung integriert sind und nicht unmittelbar staatlicher Regulierung unterliegen, doch in verschiedener
Weise auf den Staat einwirken: für ihn Grundlagen bereitstellen, Rahmenbedingungen schaffen, seine Leistungen ergänzen, ihn aktiv beeinflussen. In Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medien, Verbänden usw. erfüllt die Zivilgesellschaft Funktionen, die sich nicht in der Koordinierung von Privatinteressen erschöpfen, sondern die Konstitution eines allgemeinen tragen. Sie
bildet kollektive Identität(en), begründet Gemeinsinn, stiftet Öffentlichkeit, fördert soziale
Sicherheit«, Emil A N G E H R N , Zivilgesellschaft und Staat. Anmerkungen zu einer Diskussion,
in: Politisches Denken. Jahrbuch 1992, Stuttgart, Weimar 1993, S. 145-158, hier S. 150. Zur
Diskussion um den Begriff der Zivilgesellschaft siehe Hans Manfred B O C K , Das deutschfranzösische Institut in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Austausches zwischen
Deutschland und Frankreich, in: D E R S . (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung.
Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, S. 13-120, hier S. 14-16.
2
Umfassende bibliographische Angaben zum Thema finden sich in: Hans Manfred B O C K ,
Bibliographischer Versuch zu den zivilgesellschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, in: D E R S . (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts
in Ludwigsburg, Opladen 1998, S. 379-477. Weitere bibliographische Hinweise bei Ina
B E L I T Z , Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den
deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära. Programme
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
eingegangen werden, weil sie nicht den eigentlichen Kern des Themas dieser
Untersuchung betreffen, der sich ja vor allem auf das Regierungshandeln be
zieht. Da aber per defmitionem die Zivilgesellschaft mit staatlichem Handeln
im Zusammenhang steht, soll dieser Aspekt zumindest kurz angedeutet wer
den.
Gerade im Umfeld von Locarno kam es zu einer Anzahl von Initiativen, die
es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das deutsch-französische Verhältnis zu
verbessern.
Dazu gehörte unter anderem das Deutsch-Französische Studienkomitee (Comite franco-allemand d'information et de documentation), das durch Einwirkung auf die Presse dazu beitragen wollte, Mißverständnisse und falsche Darstellungen über das jeweils andere Land auszuräumen3. Des weiteren wurden
bei den Tagungen der Mitglieder verschiedene Aspekte der deutschfranzösischen Beziehungen erörtert4. Der Initiator des Studienkomitees, der
luxemburgische Industrielle Emile Mayrisch5, hatte die Organisation ausdrücklich mit dem Bestreben ins Leben gerufen, den in Locarno eingeleiteten
Prozeß zu unterstützen. Das Komitee erhielt dabei sowohl vom Quai d'Orsay
als auch vom AA wohlwollende »moralische Unterstützung«6.
Insgesamt war eine erstaunliche Vielfalt deutsch-französischer Kontakte
festzustellen. Auf wirtschaftlichem Gebiet kam es zu Gesprächen über eine
deutsch-französische Kooperation zur Erschließung des französischen Kolonialreiches7, die die ausdrückliche Unterstützung Briands hatten, im französischen Kolonialministerium jedoch auf Bedenken stießen8. Auch Pläne zu einer
und Protagonisten der transnationalen Verständigung zwischen Pragmatismus und Idealismus, Frankfurt a. M. u.a. 1997 (Diss. Münster 1995, Europäische Hochschulschriften, Reihe
2, 745), S. 535-569. Zusammenfassend siehe Hans ManfredUTSONMKCBA
BOCK, Kulturelle Eliten in den
deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Rainer HUDEMANN, Georges-Henri SOUTOU (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20.
Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen, Bd. 1, München 1994, S. 73-91.
3
»L'objet et Taction du Comitd fran9ais-allemand d'information«, Le Temps (20.6.1926);
Ζ (Europe) Allemagne, 388. Vgl. OKCB
Aufzeichnung Seydoux (10.11.1925), MAE 1918-1929yusrponmlihgedcaVSRQOMHEBA
BOCK, deutsch-französisches Institut, S. 27-40.
4
Vgl. Druckschrift »Comit6 franco-allemand d'information et de documentation« [ca. Anfang 1928] in: MAE PAAP 261, 6.
5
Vgl. hierzu insbes. Guido MÜLLER, Emile Mayrisch und westdeutsche Industrielle in der
westeuropäischen Wirtschaftsverständigung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Galerie. Revue
culturelle et pedagogique 10/4 (1992), S. 545-559, und DERS., Der luxemburgische Stahlkonzem ARBED nach dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der deutsch-französischen Wirtschaftsverflechtung, in: Revue d'Allemagne et des pays de langue allemande 25/4 (1993), S.
535-543. Dort auch weitere Literaturhinweise.
6
Runderlaß (ohne Unterschrift) (11.6.1926), Ρ AAA R, 105610. Für Frankreich: Aufzeichnung Seydoux (9.1.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 388.
7
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (12.2.1926), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
390.
8
Siehe Hoesch an AA (30.11.1926), BArch R 3101, 2640.
442
5. Schluß
wirtschaftlichen Zusammenarbeit gegenüber der Sowjetunion, die ebenfalls
Sympathien auf höchster politischer Ebene fanden, wurden mehrfach erörtert9.
Weniger ambitiös, aber mit vermutlich höheren Realisierungschancen, waren
Pläne zur Gründung einer deutschen Wirtschaftsstelle in Paris und einer
deutsch-französischen Handelskammer10.
Auch auf kulturellem Gebiet kam es zu Initiativen zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen. So sprach sich Painleve für eine Wiederaufnahme der
geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und dem Westen aus11, und im
Sommer 1926 wurde der Boykott, der seit Kriegsende gegenüber der deutschen Wissenschaft bestanden hatte, aufgehoben12.
Selbst im militärischen Bereich kam es zu einer gewissen Entspannung: Der
französische Militärattache in Berlin, Oberst Rene Tournes, traf im November 1929 mit dem Chef der deutschen Heeresleitung, General Wilhelm Heye
zusammen13. Vermittelt wurde dieses Treffen durch den deutschen General
Georg von der Lippe, der wiederum mit Arnold Rechberg bekannt war. Rechberg war als Propagandist eines deutsch-französischen Bündnisses hervorgetreten, das dazu beitragen sollte, Europa vor der Gefahr des Bolschewismus zu
schützen. Allerdings sollte dieses Bündnis erst dann zustande kommen, wenn
einige wesentliche deutsche Revisionsziele erfüllt worden wären. Nichtsdestotrotz wertete Tournes die Gespräche positiv, da sie beitragen könnten, unter
der deutschen Rechten - Lippe war Mitglied im »Stahlhelm« und in der
DNVP - die Feindschaft gegenüber Frankreich abzubauen14.
Auch auf parteipolitischer Ebene gab es Fortschritte. Wenig erstaunlich war
dies bei den Sozialisten, die traditionell internationalistisch eingestellt waren.
Hier kam es zu verschiedenen Treffen zwischen Politikern mehrerer europäischer Länder, unter ihnen auch Franzosen und Deutsche15. Der ehemalige Minister Le Troquer schlug im Sommer 1928 die Gründung einer deutschfranzösischen Parlamentariergruppe vor, der allerdings in Frankreich vor al-
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (2.3.1926), MAE 1918-1929zyutsrponmlihgfedcaUTSR
Ζ (Europe) Allema
gne, 391; Margerie an Quai d'Orsay (7.12.1928), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne,
392.
10
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (5.11.1928), BArch R 3101,2644/1.
11
Siehe Hoesch an AA (3.6.1926), Ρ AAA R, 70527.
12
Siehe Brigitte SCHROEDERGUDEHUS, Die Jahre der Entspannung. Deutsch-französische
Wissenschaftsbeziehungen am Ende der Weimarer Republik, in: Yves COHEN, Klaus MANFRASS (Hg.), Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Internationales Kolloquium, veranstaltet vom Deutschen
Historischen Institut Paris in Verbindung mit dem Deutschen Museum München und der
Citi des Sciences et de l'Industrie Paris, München, 12.-15. Oktober 1987, München 1990,
S. 105-115, hier S. 106.
13
Siehe Touinis an 2 ' Bureau (30.11.1928), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392.
Siehe auch zum folgenden.
14
Siehe Tournfes an 2' Bureau (17.4.1929), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 392.
15
Siehe Hoesch an AA (29.12.1927), Ρ AAA R, 28243.
9
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
443
lern linke und Mittelparteien angehφrten16. Einige Reichstagsabgeordnete aus
SPD, DVP, DDP, Wirtschaftspartei und Zentrum fanden sich nach anfδngli
chem Zφgern schließlich bereit, eine deutsche Partnerorganisation zu gründen17. Eine erste gemeinsame Sitzung fand am 31. Mai 1929 in Paris statt18.
Zwischen französischen und deutschen Katholiken kam es auf Anregung des
Studienkomitees ebenfalls zu Treffen, mit denen die Hoffnung verbunden
wurde, »daß die Anknüpfung vertrauensvollerer Beziehungen zwischen dem
deutschen und französischen Katholizismus ein wertvolles Agens in den politischen Beziehungen beider Völker sein kann und wird«19. Interessant waren
diese Gespräche wegen der »enge[n] Verbindung in Frankreich zwischen Katholizismus und Nationalismus«20 und weil »Katholizismus und Reaktion in
Frankreich traditionell weitgehend identisch sind«21. Da das deutsche Zentrum
seinen Schwerpunkt im zum Teil noch immer französisch-besetzten Rheinland
hatte, konnte man in diesen Treffen tatsächlich einen wichtigen Schritt Richtung deutsch-französischer Annäherung sehen. Nach einer neuerlichen Zusammenkunft zwischen deutschen und französischen Katholiken im Dezember 1929 gewann Hoesch den Eindruck, daß dieses Treffen »ein voller Erfolg
gewesen ist. Seine Folgen werden sich immer deutlicher auswirken, und das
ist um so höher zu bewerten, als er sich auf verhältnismässig [sie] rechtsstehende Kreise erstreckt, die der Annäherungspolitik bisher ziemlich ablehnend
gegenüber standen«22.
Selbst die extreme Rechte entwickelte Ideen zu einer Annährung. Der
Reichstagsabgeordnete Moritz Klönne (DNVP) schlug eine deutschfranzösisch-britische Zusammenarbeit vor, wenn zuvor weitreichende deutsche Revisionsforderungen erfüllt würden23. Kapitän Ehrhardt, als Freikorpsführer zu einer gewissen Berühmtheit gelangt, sprach sich ebenfalls für eine
Annäherung an Frankreich aus24. Wie bei Rechberg waren diese Überlegungen
antibolschewistisch motiviert25. In Frankreich fand dieser politische Ansatz
unter anderem Zustimmung bei Robert Fabre-Luce und Paul Reynaud26.
Die Fortschritte in den Bereichen der kollektiven Sicherheit, der wirtschaftlichen Kooperation und auch der gesellschaftlichen Annäherung sind um so
Siehe Aufzeichnung Corbin (19.6.1928), MAE 19181929zyutsrqponmlihgfedcbaWUTSRQPOM
Ζ (Europe) Allemagne, 391.
Siehe Wirth an Le Trocquer (23.3.1929), ΡAAA R, 70534.
18
Siehe Aufzeichnung Deslaurens [31.5.1929], ΡAAA R, 70534.
19
Aufzeichnung Papen (o.D.), Ρ AAA R, 70533.
20
Aufzeichnung ohne Unterschrift (14.9.1928), ΡAAA R, 70533.
21
Ibid.
22
Hoesch an AA (14.1.1930), ΡAAA R, 70535.
23
Siehe Guerlet an Quai d'Orsay (23.9.1929), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allemagne, 392.
24
Siehe Hoesch an AA (24.12.1929), Ρ AAA R, 70535.
25
Siehe ibid.; Guerlet an Quai d'Orsay (23.9.1929), MAE 19181929 Ζ (Europe) Allema
gne, 392.
26
Siehe Aufzeichnung Bassenheim (12.11.1926), Ρ AAA R, 70528.
16
17
444
5. Schluß
erstaunlicher vor dem Hintergrund der schwierigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen. Auch die Kürze der
Zeit, in der diese Fortschritte erreicht wurden, belegt, daß die Modernisierung
der Außenpolitik eine beträchtliche Wirkung entfaltete.
Trotz all dieser Fortschritte blieb die Modernisierung der Außenpolitik während des gesamten Untersuchungszeitraumes jedoch stark beschränkt und der
eingeleitete Modernisierungsprozeß war nicht unumkehrbar. Wie bereits dargelegt wurde, blieben die Schlichtungs- und Sanktionsmechanismen des Völkerbunds fakultativ und wurden nicht konkretisiert. Versuche dazu, wie beispielsweise das Genfer Protokoll, scheiterten. Auch Locarno beinhaltete keine
konkreten Pläne für den Ernstfall und war außerdem regional begrenzt. Der
potentiell größere Konfliktherd - die deutsche Ostgrenze - blieb von internationalen Sicherheitsgarantien weitgehend ausgenommen. Ebenso führte der
Kriegsächtungspakt zu keiner materiellen Verbesserung der Sicherheitslage.
Trotz aller Fortschritte seit Kriegsende gab es auch am Ende der 1920er Jahre
ein europäisches Sicherheitsproblem.
Auch im außenwirtschaftlichem Bereich blieben die Erfolge der Modernisierung bescheiden: Selbst nach dem deutsch-französischen Handelsvertrag
blieb das Zollniveau zwischen den Staaten hoch, auf internationaler Ebene
kam es sogar bereits ab 1928 wieder zu steigenden Tarifen. Der wirtschaftsliberale Impetus, der von der Genfer Weltwirtschaftskonferenz ausging, verpuffte in den Nachfolgekonferenzen weitgehend, wie das Scheitern der Konvention über die Beseitigung von Handelshemmnissen zeigte. Die
internationale Kartellierung der Nachkriegszeit führte zur Ausklammerung
wichtiger Produkte aus der eigentlichen Handels- und Zollpolitik und relativierte damit die ohnehin begrenzten Ansätze zur Liberalisierung der Weltwirtschaft weiter. Viele deutsch-französische Projekte, wie beispielsweise die koloniale Zusammenarbeit oder eine wirtschaftliche Kooperation gegenüber
Rußland, kamen über das Stadium von Vorüberlegungen kaum hinaus.
Auch die oben genannten zivilgesellschaftlichen Verständigungsbemühungen blieben insgesamt doch recht bescheiden. Es fällt auf, daß es sich bei den
Aktiven der verschiedenen Organisationen vielfach um die gleichen Personen
handelte27. Diese Gruppierungen waren außerdem keine Massenorganisationen, sondern kleine, begrenzte Zirkel28. In der Öffentlichkeit wurden diese
Verständigungsbemühungen darüber hinaus kaum wahrgenommen. Die Besu27
Siehe »Organisations fran?aises pour Pentente europeenne«, Europäische WirtschaftsUnion (1.4.1928).
28
Siehe LaurencexvutsrqponmlihgfedcbaYUSRPLKJHGFEDBA
Β ADEL, Les promoteurs franfais d'une union economique et douanidre de
l'Europe dans l'entredeuxguerres, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand
d'Union fedirale europ6enne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents.
Actes du colloque tenu a Geneve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 1729, hier
S. 29.
Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan
445
che Thomas Manns und Alfred Kerrs in Paris verliefen weitgehend unbeachtet29. Herriot, der sich öffentlich zur deutsch-französischen Aussöhnung bekannte, sah sich deswegen in Paris immer noch den »übelsten Anpöbelungen«30 ausgesetzt. Viele Verständigungsbemühungen, wie beispielsweise die
des deutsch-französischen Studienkomitees, litten an einer schlechten finanziellen Ausstattung31, und innerhalb dieser Organisation kam es zu Spannungen:
Viele Franzosen befürchteten, daß deutsche Industrielle das Studienkomitee
dazu benutzen wollten, eine »hegemonie economique«32 zu errichten.
Insgesamt gelangt man zu dem Eindruck, daß bei diesen verschiedenen Initiativen vielfach nur die jeweiligen nationalen Standpunkte dargelegt wurden,
ohne daß es wirklich zur Erörterung von praktikablen Lösungsmöglichkeiten
kam33. Allerdings gilt auch für diesen Bereich der deutsch-französischen Beziehungen, daß der offene Meinungsaustausch und die Gesprächsbereitschaft
nur wenige Jahre nach dem Krieg bereits einen erheblichen Fortschritt an sich
bedeuteten.
Woran lag es, daß die Modernisierung der Außenpolitik in den deutschfranzösischen Beziehungen relativ beschränkt blieb? Eine wichtige Ursache
war, daß sie sowohl in Deutschland als auch in Frankreich stets nur eine außenpolitische Option war. Frankreich verfolgte je nach politischer Konjunktur
noch (mindestens) zwei andere außenpolitische Strategien: Die Bündnispolitik
und - vielleicht prononcierter als gemeinhin angenommen wird - eine Politik
der eigenen Stärke. Auch nach Locarno waren diese beiden Konzepte - wie
das Zusammengehen zwischen England und Frankreich in Abrüstungsfragen
und die ursprünglichen französischen Pläne zum Briand-Kellogg-Pakt zeigten
- bedeutsam. Die Projekte zur Befestigung der französischen Ostgrenzen Stichwort Maginot-Linie - verdeutlichten, daß Frankreich seine Sicherheit
' Siehe Hoesch an AA (20.8.1927),yxwvutsrponmlihgedcbaSRPMIEBA
Ρ AAA R, 28242.
Ibid.
31
Siehe Seydoux an Margerie (23.5.1927), MAE PAAP 261, 42. Poincare selbst versuchte,
die französischen Großbanken zu stärkerem finanziellen Engagement zu bewegen. Diese
hielten sich jedoch zurück: Sie forderten, daß erst die Gesetze abgeschafft werden müßten,
die die Betätigung französischer Banken im Ausland verboten, und die Bestimmungen des
Versailler Vertrags zur Beschlagnahme deutschen Eigentums in Frankreich aufgehoben würden. Erst dann könnten sich die Banken auch tatkräftig am wirtschaftlichen Austausch und
der Verständigung beteiligen, siehe Moret an Celier (20.5.1927), Ex-BNP, 41688-4; Aufzeichnung ohne Unterschrift [Moret?] (8.6.1927), Ex-BNP, 41688-4.
32
Aufzeichnung Seydoux (15.6.1926), MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 388.
33
Siehe beispielsweise das Interview mit Bruhn, Mitglied des deutsch-französischen Studienkomitees und Generaldirektor bei Krupp, in dem dieser die deutschen Revisionsforderungen (Rückgabe des Korridors, Truppenabzug usw.) wiederholte: »Um die deutschfranzösische Verständigung«, Kölnische Volkszeitung (6.6.1926). In dem Gespräch zwischen Heye und Tournes legte der deutsche General ebenfalls die deutschen Revisionswünsche dar, auf die Tournes jedoch kaum einging, siehe Toumfes an 2° Bureau (30.11.1928),
MAE 1918-1929 Ζ (Europe) Allemagne, 392.
2
30
446
5. Schluß
weiterhin stärker durch die eigene Verteidigungsbereitschaft als durch den
deutschen Verständigungswillen gewährleistet sah.
Für die deutsche Revisionspolitik wiederum spielte auch nach Locarno die
»russische Option« eine Rolle, wie der Berliner Vertrag und die Bemühungen
zeigten, die sowjetischen Bedenken hinsichtlich eines deutschen Völkerbundsbeitritts zu zerstreuen. Mit anderen Worten: Eine moderne Außenpolitik
- im Sinne der Herstellung von kollektiver Sicherheit, Stabilität und
Wohlstand - war bis 1929 nicht so sehr dasutsronlihedcZM
Ziel der deutschen und der französischen Außenpolitik, sondern nur eine von mehreren Methoden zur Erreichung anderer außenpolitischer Ziele, nämlich zur Erlangung von securite einerseits und zur Durchsetzung von Revisionsforderungen andererseits.
Allerdings darf der Einsatz moderner außenpolitischer Methoden nicht so verstanden werden, daß es sich dabei lediglich um ein rein taktisches Element zur
Umsetzung sicherheits- und revisionspolitischer Zielsetzungen handelte34.
Weder Deutsche noch Franzosen machten einen Hehl aus ihren außenpolitischen Zielen, so daß nicht davon ausgegangen werden kann, daß die Verständigungspolitik genutzt wurde, um ihre eigentlichen politischen Absichten zu
verschleiern. Beide Regierungen versuchten außerdem, ihre außenpolitischen
Ziele mit den modernen Methoden in Einklang zu bringen. Sowohl die deutsche Revisions- als auch die französische Sicherheitspolitik veränderten sich
unter dem Einfluß des liberalen Modells nicht unerheblich: Deutschland entwickelte ein Revisionsmodell, das verstärkt auf friedliche Mittel setzte35, und
Frankreich gestaltete seine Sicherheitspolitik so, daß sie mehr auf deutsche
Befindlichkeiten Rücksicht nahm, indem es stärker auf die Finanzdiplomatie
setzte und auf das Rheinland als strategisches Glacis verzichtete. Soutou
kommt zu dem Schluß, daß seit Locarno »aucun dirigeantsrnifa
fran9ais n'echappe
completement au dogme de la securite collective«36. Dennoch konnten die latenten Widersprüche zwischen französischem Sicherheitsstreben, deutschem
Revisionsverlangen und liberalem Modell in den 1920er Jahren nicht völlig
ausgeglichen werden, worin letztlich auch eine der Ursachen für das Scheitern
der modernen Außenpolitik lag.
Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Mittel und die Möglichkeiten der modernen Außenpolitik im Untersuchungszeitraum noch neu und
unerprobt waren. Es bedurfte eines langen Lern- und Anpassungsprozesses,
um Widersprüche zwischen Methoden und Zielen aufzuspüren und die richti34
Diese These vertritt beispielsweise Hagspiel, siehe Hermann HAGSPIEL, Die Auffassung
und die Benützung von Konzepten der >neuen Diplomatie< in der deutsch-französischen Verständigungspolitik (1924-1928), in: JacquesxvutsrqponmligedcaYURMLHFEA
ΒΑΚίέΐΎ, Antoine FLEURY (Hg.), Mouvements
et initiatives de paix dans la politique internationale: 18671928. Actes du colloque tenu ä
Stuttgart 29-30 aoüt 1985, Bern 1987, S. 335-353, hier S. 351.
35
Siehe Kap. 4.1.4.
36
SOUTOU, S£curit<£ collective, S. 131.
Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan
gen Konsequenzen daraus zu ziehen, zumal die Komplexität der internationalen Beziehungen durch die enge Verknüpfung wirtschaftlicher, politischer und
sozialer Fragen extrem zugenommen hatte.
Das Scheitern der modernen Außenpolitik Ende der 1920er Jahre war deshalb keine Zwangsläufigkeit. Die verständigungsorientierte Politik hatte im
Gegenteil dazu beigetragen, viele Probleme, die sich unmittelbar aus dem
Krieg und dem Versailler Vertrag ergeben hatten, zumindest vorläufig zu lösen und zu einem modus vivendi zu gelangen. Das Reparations- und Schuldenproblem wurde durch den Dawes- bzw. Young-Plan entschärft. Durch die
deutsche Entwaffnung und die Demilitarisierung des Rheinlandes sowie durch
Locarno kam es zu Fortschritten im Bereich der Sicherheit. Die Lösung dieser
Fragen wurde innerhalb des Rahmens der Bestimmungen des Versailler Vertrags erzielt und stellte diesen nicht grundsätzlich in Frage.
In eine kritische Phase trat die Modernisierung jedoch, als die Folgeprobleme des Versailler Vertrags gelöst worden waren und die grundsätzliche Entscheidung und Neubewertung darüber näherrückte, ob und wie Sicherheitsbzw. Revisionspolitik weiter betrieben werden und in welchem Verhältnis diese beiden Ziele zu einer modernen Außenpolitik stehen sollten.
Nach der Haager Konferenz - und erst dann - konnte darüber verhandelt
werden, wie die europäische Nachkriegsordnung (mit dem deutschfranzösischen Verhältnis als zentralem Problem) grundsätzlich ausgestaltet
werden sollte. Erst zu diesem Zeitpunkt, Ende 1929/Anfang 1930, stand die
Frage an, welche grundsätzlichen Ziele die französische und deutsche Außenpolitik verfolgen sollte. Das zentrale Problem dabei war: Würden Deutschland
der Revision und Frankreich der Sicherheit als Oberziel ihrer Außenpolitik
treu bleiben, oder würden diese beiden Ziele einer gesamteuropäische Friedensordnung auf Grundlage des liberalen Modells untergeordnet? Anders als
Knipping37, Niedhart38 und andere39 sehe ich das Jahr 1927/28 nicht als Wendejahr der internationalen Beziehungen, von dem an die Verständigungspolitik
langsam abzubröckeln begann, sondern vielmehr als eine Plateau-Phase, in der
es um die grundsätzliche Neuorientierung der Außenpolitik ging. Zur Jahreswende 1929/1930 waren das europäische Staatensystem und die deutschfranzösischen Beziehungen also in einer äußerst labilen Entscheidungssituation, weil es zu einer prinzipiellen Festlegung des Verhältnisses von Zielen und
Methoden der zukünftigen deutschen und französischen Außenpolitik kommen mußte.
In dieser Situation kam dem Europa-Plan Briands eine besondere Bedeutung
zu, weil darin ein mögliches Zukunftskonzept für das internationale Staatensystem (zumindest für dessen europäischen Teil) entwickelt wurde. Die deutsche
37
38
39
Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 32.
Vgl. NIEDHART, Internationale Beziehungen, S. 8 0 - 8 7 .
Siehe JACOBSON, L o c a r n o Diplomacy, S. 101; BUCHHEIT, Briand-Kellogg-Pakt, S. 138.
448
5. Schluß
Stellungnahme zum französischen Europa-Memorandum gibt deshalb - zumindest begrenzt - Auskunft darüber, welche Ziele Deutschland in Zukunft
verfolgen würde.
Die Beurteilung der Intentionen, die Briand und die französische Außenpolitik zu ihrer Europainitiative bewegten, wird vor allem dadurch erschwert, daß
es nur wenige Anhaltspunkte gibt, die »die Hintergründe dieser französischen
Initiative [...] erhellen«40. Nichtsdestotrotz läßt sich sagen, daß sich der briandsche Europaplan aus drei Quellen speiste: Erstens, den verschiedenen Zollunionsplänen, zweitens, der französischen Sicherheitspolitik und, drittens, im
weitesten Sinne idealistischen Einstellungen41. Trotz der oftmals problematischen politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zirkulierten verschiedene Pläne fur eine Zollunion zwischen beiden Staaten. Auf
französischer Seite hatten vor allem Bosc und Molinari eine Zollunion für
möglich gehalten, da sich die beiden Volkswirtschaften auf ähnlichem Niveau
befänden und sich gegenseitig ergänzten42. Hugo Stinnes sprach sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für eine deutsch-französische Zollunion aus,
von der er Vorteile für die deutsche Industrie erwartete. Im Zusammenhang
mit dem Auslaufen der Wirtschaftsbestimmungen des Versailler Vertrags zum
10. Januar 1925 begann sich das Reichswirtschaftsministerium ebenfalls mit
einer deutsch-französischen Zollunion zu beschäftigen. Aus wirtschaftlichen
Gründen hielt man diese für durchaus wünschenswert und technisch machbar.
Zwei Gründe sprachen aber nach Ansicht des RWiM dagegen: Eine deutschfranzösische Zollunion würde wahrscheinlich dazu führen, daß die Exporte
Englands und der USA nach Frankreich durch deutsche Produkte ersetzt würden, weshalb »die übrige Welt ein solches Gebilde bekämpfen«43 würde. Dadurch würde die europäische Wirtschaft nach den Kriegsfolgen und dem
Ruhrkampf erneut in »Unruhen«44 versetzt, die insgesamt als schädlich beurteilt wurden. Eine weitere Schwierigkeit sah das RWiM darin, daß eine Zollunion die gemeinsame Planung der Zollpolitik und darüber hinaus auch anderer Bereiche der Wirtschaftspolitik notwendig machen würde. Frankreich
allein darüber entscheiden zu lassen, war aus deutscher Sicht eine »unmögliche Vorstellung« und eine »kulturwidrige Konstruktion«45. Ein gemeinsames
Zollparlament zur Regelung dieser Fragen würde dagegen wohl in Frankreich
auf Ablehnung stoßen: »Rein politisch betrachtet ist Frankreich für die Vor-
40
41
KNIPPING, LocamoΔra, S. 85.
Siehe ibid. Ähnlich argumentieren WRIGHT, Stresemann, S. 483; SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 180; KRÜGER, Schwierigkeit, S. 123f.
42
Zum folgenden siehe undatierte Aufzeichnung ohne Unterschrift [1924],RΒrihdcbIA
Arch R 3101,
20458.
43
Ibid.
Ibid.
45
Ibid.
44
Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan
449
Stellung eines gemeinsamen [Zoll-, R.B.] Parlamentes heute nicht reif«46. Für
den Moment sah man also in Deutschland eine Zollunion zwar prinzipiell für
wünschenswert aber nicht realisierbar an. Stresemann selbst sprach sich allerdings gegenüber Margerie dafür aus, ein solches Projekt etwa zwischen 1930
und 1935 zu realisieren47.
Eine deutsch-französische bzw. eine europäische Zollunion hatte aber nicht
nur Anhänger in Deutschland, sondern auch in Frankreich. Hier hatte die Union douaniere europeenne (UDE) eine gewisse Bedeutung. Sie war am
12. März 1925 nach einem »Aufruf an die Europäer« entstanden, den neben
dem Franzosen Charles Gide unter anderem auch der Deutsche Edgar SternRubarth, der wiederum ein Vertrauter Stresemanns war48, sowie der Ungar
Elemer Hantos unterzeichnet hatten49. Norman Angell, der bereits vor dem
Ersten Weltkrieg die Idee popularisiert hatte, daß weltwirtschaftliche Verflechtung Konflikte verhindern würde, weil diese ökonomisch sinnlos seien,
war ebenfalls Mitglied50. Die UDE erlangte vor allem deshalb einen gewissen
Einfluß, weil sie über gute Kontakte zum Quai d'Orsay verfügte51 und weil sie
viele bedeutende Persönlichkeiten zu ihren Mitgliedern zählen konnte. Briand
selbst war Ehrenpräsident, der ehemalige Minister Yves Le Trocquer Vorsitzender52. Seydoux saß im Verwaltungsrat, und zu den Mitgliedern zählten
zahlreiche ehemalige Minister, Parlamentarier und Professoren. Der Nachfolger Serruys im französischen Handelsministerium, Paul Elbel, war ebenfalls
Mitglied. War die Zielsetzung der Union douaniere anfangs auf den globalen
Abbau von Handelshemmnissen ausgerichtet, verlagerte sich ihr Arbeitsschwerpunkt später zunehmend auf die Forderung nach einer regionalen wirtschaftlichen Kooperation in Europa53. Einen erneuten deutschen Vorstoß in
dieser Frage unternahm Wilhelm Eggert, der als Vertreter des ADGB an der
Genfer Weltwirtschaftskonferenz teilnahm. Dort schlug er - im Beisein Trendelenburgs - vor, zunächst zu einer Vereinheitlichung der Zollsätze und der
Zollnomenklatur zu kommen, um anschließend über den schrittweisen Abbau
der Zölle schließlich eine europäische Zollunion zu schaffen54. Diese Zollunion sollte wiederum Vorstufe für die Verwirklichung des weltweiten Freihandels sein. In der Tat: »Dies war nichts geringeres als die Vorwegnahme des
46
Ibid.
Siehe Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929urponmlihgeaSEA
Ζ (Europe) Allemagne,
524.
48
Siehe SCHÖNEBERGER, Diplomatie, S. 55, 69, 99.
49
Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18.
47
50
Siehe Aufzeichnung Corbin [?] (19.11.1928), MAE 1918-1940 Y (Internationale), 635.
Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18, 23.
52
Siehe »Organisations fran9aises pour l'entente europienne«, Europäische WirtschaftsUnion (1.4.1928); siehe auch zum folgenden.
51
53
54
Siehe BADEL, Promoteurs, S. 18.
Siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 96.
450
5. Schluß
Briand-Planes auf der Ebene der europäischen Handelsordnung«55, wurde jedoch von Frankreich und England abgelehnt. Trotz dieser Ablehnung blieb
eine europäische Zollunion weiterhin in der Diskussion. Im Januar 1929 äußerte sich Serruys gegenüber Hoesch besorgt, daß Deutschland von der europäischen Wirtschaftskooperation zugunsten einer noch engeren Zusammenarbeit mit den USA abweichen könnte56. Eine Befürchtung, die Ritter für
unbegründet hielt:
Es ist nach wie vor eines der Hauptziele unserer Wirtschaftspolitik, die wirtschaftliche Verständigung innerhalb Europas zu fördern. Zur Erreichung dieses Zieles ist möglichst weitgehender Wirtschaftsausgleich zwischen Deutschland und Frankreich eine wichtige Voraussetzung. [...] Leider sind wir indessen bei der Verwirklichung dieser beiden Absichten durch
zwei ungelöste Fragen erheblich behindert: Reparationen und Räumung57.
Aus französischer Sicht - dies ist für den Zeitpunkt der Veröffentlichung der
briandschen Europapläne von Bedeutung - war nach der vermeintlich erfolgreichen Lösung dieser beiden »ungelösten Fragen« auf der Haager Konferenz
der Moment gekommen, die politische und wirtschaftliche Ordnung Europas
weiter auszugestalten.
Angestoßen durch die zunehmende Aktivität Briands auf dem Gebiet der europäischen Kooperation wurden auch vom Völkerbund Pläne für eine stärkere
wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Länder entwickelt: Sir Arthur Salter, der Direktor der Section economique im Völkerbundssekretariat,
und sein Stellvertreter, Pietro Stoppani, sprachen sich während der Bundesversammlung, auf der Briand seinen Europa-Plan vortragen wollte, für eine wirtschaftliche Stärkung Europas aus. Stoppani58, der in der wirtschaftlichen Zersplitterung Europas das Hauptübel für die schlechte Wirtschaftslage sah,
schlug die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes nach Vorbild
der USA vor. Allerdings sollte dies erst das Endziel einer langfristigen Entwicklung sein. Zunächst sollten die Zolltarife eingefroren und später schrittweise gesenkt werden. Stoppani sprach sich außerdem dafür aus, zunächst die
Industrieländer zusammenzufassen, und die stärker agrarisch geprägten Staaten Ost- und Südosteuropas erst später, nach Lösung von deren Wirtschaftsproblemen, aufzunehmen. Die Pläne Salters bewegten sich in eine ähnliche
Richtung. Auch er forderte einen zweijährigen Zollfrieden, dem Zollsenkungen folgen sollten59. Allerdings schien das Endziel Salters weniger ein gemeinsamer europäischer Markt zu sein, sondern vielmehr ein europäisches
55
Ibid. S. 97.
Siehe Hoesch an AA (5.1.1929), ADAPutsronlihfedcaZXRPNIDBA
Β XI, Nr. 8.
Ritter an Botschaft Paris (31.1.1929), ADAP Β XI, Nr. 43.
58
Zu den Vorschlägen Stoppanis siehe BUSSLIRE, Organisation economique, S. 308f.;
DERS., Aspects 6conomiques, S. 86.
59
Siehe Aufzeichnung Imhoff (6.9.1929), ADAP Β Xffl, Nr. 5.
56
57
Der Abbruch der modernen Auß enpolitik und Briands Europaplan
4 51
Prδferenzsystem mit Ausrichtung vor allem gegen die »amerikanische Ge
fahr«60 und Vorkehrungen dagegen, daß die USA einseitig von der Meistbegünstigungsklausel profitierten.
Im Europa der 1920er Jahre war die Idee einer Zollunion also durchaus verbreitet und dürfte - die Verbindung zwischen Briand und der UDE belegt dies
- sicherlich eine wichtige Quelle für das französische Europamemorandum
gewesen sein.
Eine weitere Motivation ergab sich sicherlich aus dem nach wie vor ungestillten französischen Sicherheitsbedürfiiis. Locarno und der Briand-KelloggPakt stellten, wie bereits dargelegt wurde, noch keineswegs die umfassenden
Sicherheitsgarantien dar, die Frankreich anstrebte61. Das Abkühlen des französisch-britischen Verhältnisses mit dem Regierungsantritt MacDonalds im Juni 1929 dürfte die französische Regierung dazu veranlaßt haben, mit dem Europaplan auch eine neue Initiative in der Sicherheitspolitik zu starten62.
Naturgemäß am schwierigsten dürfte die Beantwortung der Frage nach den
ideellen Grundlagen des briandschen Europamemorandums sein. Dennoch
gibt es Anhaltspunkte dafür, daß der Europaplan nicht nur Resultat eines wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kalküls war, sondern auch idealistische
Momente enthielt. Ein Element für den Friedenswillen Briands waren sicherlich die Kriegserfahrungen. Als Regierungschef während der Schlacht von
Verdun, dem Synonym für den Wahnsinn des totalen Krieges, war er von dem
Bestreben geleitet, seinen französischen Landsleuten und der Welt ein solches
Massentöten für alle Zukunft zu ersparen63. Dies machte ihn keineswegs zu
einem Pazifisten, der den Krieg als Mittel der Politik generell ablehnte. Er
wollte jedoch ein für alle Mal erreichen, daß die Sicherheit Frankreichs gewährleistet war, mithin eine internationale Ordnung existierte, die einen neuen
bewaffneten Konflikt unmöglich machte. Dieses Bedürfnis wurde von einem
Großteil der politischen Klasse Frankreichs geteilt. Dem Comite fran9ais de
Cooperation europeenne, das sich dem Ziel verschrieben hatte de »>developper
la Cooperation des peuples de l'Europe dans le cadre et dans l'esprit de la Societe des Nations<«64, gehörte ein Großteil der Prominenz des Landes an. Als
Ehrenpräsident dieser Vereinigung fungierte der Präsident der Republik, Gaston Doumergue, dem Ehrenkomitee gehörten unter anderem Poincare, Briand,
Caillaux, Herriot und Painleve an. Zu den Mitgliedern gehörte - wie zur Union douaniere - wiederum Seydoux. Briands besonderes europäisches Enga60
Ibid.
Siehe BARliTY, Briand, S. 134.
62
Siehe KNIPPING, Locanio-Ära, S. 58.
63
Siehe Jacques BARIETY, Aristide Briand. Les raisons d'un oubli, in: Antoine FLEURY,
Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fdderale europöenne. Perspectives nationales et
transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä Geneve du 19 au 21 septembre
1991, Bern u.a. 1998, S. 1-13, hier S. 6.
64
»Comite fran^ais de coop6ration europeenne« [Mai 1927], Fundort: AN 313 AP, 220.
61
452
5. Schluß
gement wurde auch daran deutlich, daß er sich in der Paneuropa-Union des
österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi engagierte, deren Ehrenpräsident er war65. Coudenhove-Kalergi forderte eine enge deutschfranzösische Kooperation, paneuropäische Abrüstung und Militärkontrolle
sowie eine deutsch-polnische Verständigung und eine Zollunion, unter der
Voraussetzung allerdings, daß zwischen Deutschland und Frankreich Gleichberechtigung herrsche und die Revision offen gehalten würde66. Die Ehrenpräsidentschaft Briands in dieser Organisation war deshalb bemerkenswert, weil
Teile des Quai d'Orsay den Zielen der Paneuropa-Union kritisch gegenüber
standen. Seydoux lehnte vor allem den Ausschluß Englands und Rußlands aus
den Plänen Coudenhoves ab, denn dies führe »forcement ä un groupement des
Puissances domine par l'Allemagne«67, eine Kritik, die auch Berthelot teilte68.
Den Vorbehalten des Quai d'Orsay Schloß sich die insgesamt noch kritischere Reichsregierung an. Bülow stellte fest: »Die große Schwäche der Coudenhove'schen Pläne lag von Anfang an darin, daß aus seiner Konzeption
Paneuropas England und Rußland ausgeschlossen sein sollten«69. Da der von
Coudenhove geplante europäische Staatenverband »nichts anderes als ein Abklatsch des Völkerbunds«70 sei, sei darüber hinaus zu befurchten, daß er zur
Schwächung des Völkerbunds führen würde, was »vom deutschen Standpunkt
durchaus unerwünscht wäre«71. Bülow riet auch deshalb zur Zurückhaltung,
weil Coudenhove »in den letzten Jahren in steigendem Maße französische
Tendenzen zu unterstützen schien«72 und empfahl, daß die Reichsregierung
nicht offiziell an Veranstaltungen der Paneuropa-Union teilnehmen sollte, was
dann auch so geschah.
Auch die Pläne Arnold Rechbergs für ein deutsch-französisches Militärbündnis - die sich im Grunde genommen in eine ähnliche Richtung bewegten,
wie die Coudenhove-Kalergis - stießen in Frankreich auf eine wesentlich größere Resonanz als in Deutschland. Die Gründe für die vergleichsweise größere
französische Akzeptanz und die deutsche Skepsis waren dabei stets die gleichen: In Frankreich erblickte man darin ein probates Mittel zur Erhöhung der
65
Siehe Martin POSSELT, Die deutsch-französischen Beziehungen und der Briand-Plan im
Spiegel der Zeitschrift Paneuropa, 1927-1930, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le
Plan Briand d'Union f6d6rale europteme. Perspectives nationales et transnationales, avec
documents. Actes du colloque tenuvutsrponmlihgfedbaTSRPOMLGFEB
έ Genfeve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998,
S. 3151, hier S. 33.
66
Siehe Reinhard FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im
Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik, Stuttgart 1977 (Schriftenreihe der VfZG, 34), S.
11-16.
67
Aufzeichnung Seydoux (4.3.1927), MAE PAAP 261, 37.
Siehe Berthelot an Seydoux (5.4.1928), MAE PAAP 261,42.
Aufzeichnung Bülow (5.5.1930),idbRIA
ΡAAA R, 70104.
70
Ibid.
71
Ibid.
72
Ibid.
68
65
De r Abbruch der modernen Auί enpo litik und Briands Euro paplan
4 53
eigenen Sicherheit, wδhrend in Deutschland vor allem bitter aufstieß, daß die
Revisionsmöglichkeiten durch derlei weitgehende Verpflichtungen eingeschränkt würden.
Neben den sicherheitspolitischen Implikationen, die sich aus den verschiedenen Projekten für einen Zusammenschluß Europas, seien sie nun von Rechberg, Coudenhove-Kalergi oder anderen, ergaben, muß aber sicherlich auch
das visionäre, idealistische Element gewürdigt werden, und hier ist das besondere Engagement Briands zu betonen.
Allerdings mußten die Ideen Briands fur eine engere europäische Zusammenarbeit lange reifen, bis er sie mit seiner spektakulären Rede vor dem Völkerbund am 5. September 1929 vor der Welt verkündete. Als entscheidendes
Ereignis fur die Hinwendung Briands nach Europa sieht Bariety hauptsächlich
den für Frankreich verheerenden Verlauf der Washingtoner Flottenkonferenz
von 1922: Nur durch einen Zusammenschluß Europas, resümierte der damalige französische Ministerpräsident, könne vermieden werden, daß Europa künftig zwischen den USA und Rußland zerrieben werde73. Praktische Konsequenzen hatte dies zunächst keine, denn Briand mußte, nachdem er von Präsident
Millerand auf der Konferenz von Cannes öffentlich gemaßregelt worden war,
die Regierung verlassen. Einen neuen Impuls gewann der Europa-Gedanke bei
Briand nach dem Abschluß der Verträge von Locarno, weil diese nach französischer Lesart das Sicherheitsproblem noch keineswegs gelöst hatten. Vor der
Kammer erklärte er Anfang 1926 die Notwendigkeit eines europäischen Föderalstaates nach Vorbild der USA74. In den Jahren 1927/1928 erwähnte er Europa weniger, was Bariety jedoch weniger mit nachlassendem Interesse erklärt, sondern damit, daß Europa bereits »gemacht« wurde75: Deutschland trat
dem Völkerbund bei, die Abrüstungsverhandlungen begannen, und auch auf
wirtschaftlichem Gebiet kam es durch die Internationale Rohstahlgemeinschaft und die Handelsvertragsverhandlungen zu einer Annäherung zwischen
Deutschland und Frankreich. Gleichzeitig mußte Briand, nachdem Poincare
wieder Ratspräsident geworden und der Versuch einer deutsch-französischen
»Gesamtlösung« in Thoiry nicht zuletzt am Widerstand des französischen Regierungschefs gescheitert war, vorsichtiger agieren. Ab 1928 erwachte jedoch
erneut das Interesse Briands an einer stärkeren europäischen Kooperation76.
Nachdem Frankreich seine Position in den Verhandlungen mit den USA, die
zum späteren Kriegsächtungspakt fuhren sollten, nicht hatte durchsetzen können, wurde Briand erneut klar, daß aus sicherheitspolitischer Sicht nicht viel
von Washington zu erwarten war77. Das Verhalten der USA in der Kriegs73
Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 6f.
Siehe ibid. S. 8.
75
»On >faisait< 1'Europe«, ibid. S. 9.
76
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63.
77
Siehe BARIETY, Pacte, S. 360.
74
454
5. Schluß
schuldenfrage und der Zollpolitik sowie in der Minderheitenfrage und anderen
Probleme im Völkerbund stärkte sein Interesse an einer besseren europäischen
Zusammenarbeit78.
Im März 1929 fertigte Jacques Rueff im Auftrag Legers eine Aufzeichnung
an, »die als Urform des Europaplans gelten kann«79: Diese Aufzeichnung beinhaltete einen »pacte economique« der europäischen Regierungen, um die
Stellung Europas in der Weltwirtschaft zu sichern. Ziel dieses Pakts sollte ein
gemeinsamer Markt sein, wobei Einzelheiten den Beratungen von Experten
vorbehalten werden sollten. Der neue, noch protektionistischere amerikanische
Smoot-Harley-Zolltarif, der am 7. Mai 1929 in den Kongreß eingebracht wurde, und die zunehmende Zusammenarbeit zwischen deutschen und amerikanischen Unternehmen - zwischen General Motors und Opel bzw. General Electric und der AEG wurden Anfang 1929 Kooperationsabkommen unterzeichnet
- verstärkten diese Forderungen noch80.
Im April 1929 gelangte an die Öffentlichkeit, daß Briand nach dem erfolgreichen Abschluß der Reparationsverhandlungen eine europäische Zollunion
und den Ausbau der deutsch-französischen Industriekartelle anstrebe. Auch
beim Völkerbund in Genf griff »[d]er Gedanke an die Schaffung eines Europäischen Zollvereins< [...] unzweifelhaft mehr und mehr um sich«81.
Auf der Ratstagung des Völkerbunds im Juni 1929 in Madrid erkundigte
sich Briand bei Stresemann, was dieser über die französischen Zollunionsvorstellungen dächte82. Aufgrund der antiamerikanischen Stoßrichtung der französischen Pläne verhielt sich der deutsche Außenminister jedoch zurückhaltend83. Auch in Großbritannien herrschte wegen der Rolle der Dominions eine
gewisse »Ratlosigkeit«84, was die französischen Ideen anging. Aus der Reaktion seiner Gesprächspartner zog Briand zwei Konsequenzen: Zum einen rückte
der Quai d'Orsay von seiner prononciert antiamerikanischen Linie ab85, zum
anderen lancierten Briand und andere französische Politiker die Europaideen
verstärkt in der Öffentlichkeit86, wobei sich auch die Paneuropa-Bewegung an
dieser Aktion beteiligte87.
78
79
80
81
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 86.
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63
Siehe KNIPPING, Locamo-Ära, S. 86.
Dufour an Köpke (8.4.1929), ADAPzutsrponmlihgfedcbaYXTSRPONLIEDBA
Β XI, Nr. 162.
Siehe Aufzeichnung Schmidt (11.6.1929), ADAP Β XII, Nr. 19.
Siehe Peter KRÜGER, Der abgebrochene Dialog. Die deutschen Reaktionen auf die Europavorstellungen Briands 1929, in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand
d'Union fdderale europienne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents.
Actes du colloque tenu ä Genfeve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 289-306,
hier S. 304.
82
83
84
85
KNIPPING, Locamo-Ära, S. 88.
Siehe Hoesch an AA 12.7.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 87.
Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 12f.
87
Siehe POSSELT, Paneuropa, S. 42.
86
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
455
In Deutschland blieb die Reaktion darauf weiterhin »skeptisch abwar
tend«88. Zwar wurde die wirtschaftliche Zusammenarbeit begrüßt, allerdings
vermutete man weiterhin eine antiamerikanische Spitze hinter den französischen Plänen89. Auf völlige Ablehnung stieß jedoch die politische Komponente des Briand-Projekts, da sie nach Auffassung des AA vor allem dazu dienen
sollte, den Status quo in Europa zu zementieren und die französische Sonderstellung in Europa zu sichern90.
Briand ließ sich von diesen kühlen Reaktionen des Auslands jedoch nicht
beirren und auch die diesbezüglichen Warnungen Legers und Massigiis schlug
er in den Wind91. Die neue Labour-Regierung in England, die er für aufgeschlossener gegenüber seinen Ideen hielt als die Tories92, und der Rücktritt
seines wichtigen potentiellen innenpolitischen Widersachers Poincare93
stimmten ihn optimistisch. Nachdem durch die Haager Konferenz auch endlich das leidige Reparationsproblem und die Frage der Rheinlandräumung erledigt waren, hielt Briand den Moment für seine Europainitiative fur gekommen, zumal er durch Indiskretionen der Presse in Zugzwang geriet, konkrete
Vorschläge zu unterbreiten94. Am 5. September 1929 hielt Briand schließlich
seine Rede vor der Vollversammlung des Völkerbunds, in der er die Schaffung
eines »lien federal«95 zwischen den europäischen Staaten forderte.
Vor allem Deutschland und Großbritannien blieben die Vorschläge zu vage,
sie forderten Konkretisierungen96. Gleichzeitig begannen beide Länder, die
den Vorschlägen Briands skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, den französischen Vorstellungen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Stresemann
betonte in seiner Antwort vor dem Völkerbund vor allem die wirtschaftlichen
Aspekte des briandschen Vorschlags und verband dies mit der Forderung, daß
sich die europäische Kooperation nicht gegen die USA richten dürfe97. Die
Friedenssicherung sah er vor allem in einem Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit, der Einbindung des Briand-Kellogg-Pakts in die Satzung des Völker88
KNIPPING, Locamo-Ära, S. 88.
Siehe ibid.
50
Siehe Aufzeichnung Schubert (1.8.1929), ADAPzwutsronmlkihgfedcbaYTSRPNIEDBA
Β ΧΠ, Nr. 138.
91
Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 13.
92
Siehe Aufzeichnung Schmidt (11.6.1929), ADAP Β ΧΠ, Nr. 19.
93
Siehe BARIETY, Raisons d'un oubli, S. 12.
94
Siehe ibid. S. 12f.
95
Die Rede Briands ist teilweise abgedruckt in: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 45. Jg. (1929), S. 539-541.
96
Siehe HEYDE, Reparationen, S. 63.
97
Rede Stresemanns: BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 570-580, insbesondere S. 577f.; siehe auch: Martin VOGT, Die deutsche Haltung zum Briand-Plan im Sommer
1930. Hintergründe und politisches Umfeld der Europapolitik des Kabinetts Brüning, in:
Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union föderale europeenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenuvnkieG
k Genive du 19
au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 305-329, hier S. 311.
89
456
5. Schluί
bunds und der allgemeinen Abr٧stung begr٧ndet98, wof٧r seines Erachtens
keineswegs ein neues europδisches Organ notwendig wδre. Stresemann ver
suchte so, besonders die mφglichen politischen Implikationen des Vorschlags
zu verhindern. Großbritannien, das eine engere europäische Wirtschafitskooperation wegen seines Präferenzsystems für das Empire ablehnte, schlug dagegen einen Zollfrieden für zwei Jahre vor, damit während dieses Zeitraums über
Zollreduzierungen verhandelt werden könnte". Der Charme dieses Vorschlags
lag darin, daß er konkret war, während die französische Initiative unklar geblieben war. Außerdem richtete sich auch dieser Plan weniger offensichtlich
gegen die USA.
Nichtsdestotrotz wurde die französische Regierung von der Vollversammlung aufgefordert, ein Memorandum in der Europafrage zu entwerfen, das von
den Regierungen kommentiert werden sollte. Im Winter 1929/1930 beschäftigten sich vor allem Massigli und Leger100 mit der Ausarbeitung des französischen Europamemorandums, das am 17. Mai 1930 - dem Tag, an dem die
Räumung der letzten Besatzungszone im Rheinland angekündigt wurde - den
Regierungen der europäischen Mitgliedsstaaten des Völkerbunds übergeben
wurde101.
Das Memorandum gliederte sich in fünf Teile. Im ersten Teil des Memorandums wurden allgemeine Grundsätze der europäischen Einigung dargelegt.
Dort wurde betont, daß die europäische Kooperation nur in Zusammenarbeit
mit dem Völkerbund erfolgen könne. Außerdem wurde festgestellt, daß sich
die engere europäische Wirtschaftskooperation nicht gegen andere Staaten
richte und auch an eine Einschränkung der Souveränität der Staaten nicht gedacht sei. In einem Elementarvertrag sollten möglichst knapp die Ziele und die
Organisation des europäischen Zusammenschlusses sowie das Verhältnis zum
Völkerbund geregelt werden. Der zweite Abschnitt befaßte sich mit der Organisation der europäischen Zusammenarbeit. Neben der Conference europeenne, in die alle Staaten Vertreter entsenden sollten, sollte es noch einen politischen Ausschuß geben sowie ein Sekretariat zur Koordination der Arbeit der
Konferenz und des Rates. Im Grunde genommen handelte es sich um den gleichen Aufbau wie beim Völkerbund102. Im dritten Teil wurden Leitlinien für
98
Siehe BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 572-574.
Zum folgenden siehe SCHULZ, Wirtschaftsordnung, S. 183-185.
100
Siehe Hoesch an AA (20.6.1930), ADAPxutsrlhecXVTSND
Β XV, Nr. 90.
101
Deutscher Text: Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930),
S. 460-468; Französischer Text in: Antoine FLEURY, Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand
d'Union fiderale europdenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents.
Actes du colloque tenu ä Genöve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, Anhang I.
Zum folgenden siehe ibid.
102
Siehe Antoine FLEURY, Avant-propos, in: DERS., Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand
d'Union föderale europdenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents.
99
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
457
die europδische Zusammenarbeit vorgeschlagen. Wichtigste Bestimmung war
die »[allgemeine Unterordnung des Wirtschaftsproblems unter das politische
Problem«103, weil auch die wirtschaftliche Einigung »streng durch die Sicher
heitsfrage bestimmt wird«104. Sonst kφnne nicht gewδhrleistet werden, daß die
schwächeren Staaten nicht der Beherrschung durch die stärkeren ausgesetzt
würden. Die politische Zusammenarbeit sollte, bei Beibehaltung der Souveränität der Staaten, durch den Ausbau des Schiedsvertragswesens und die Ausdehnung der Locamo-Garantien auf ganz Europa erreicht werden. Verschiedene lokale Sicherheitssysteme (wie beispielsweise das von Locarno) sollten
außerdem zu einem gesamteuropäischen System zusammengefaßt werden. Im
wirtschaftlichen Bereich wurden die Errichtung eines gemeinsamen Marktes
sowie die Vereinfachung des Güter-, Kapital- und Personenaustauschs »lediglich unter dem Vorbehalt der Bedürfnisse der nationalen Verteidigung in jedem Staate«105 als Leitlinie formuliert. Der vierte Teil des Memorandums umfaßte eine Zusammenfassung der noch offenen Fragen bezüglich der künftigen
Gestalt Europas. Dabei ging es unter anderem um die genaue Festlegung der
Bereiche der europäischen Zusammenarbeit, wie beispielsweise die Umsetzung des Programms der Weltwirtschaftskonferenz, die Kartellkontrolle, gemeinsame Infrastrukturmaßnahmen oder die Förderung unterentwickelter Gebiete, die geistige Zusammenarbeit und den Ausbau interparlamentarischer
Beziehungen. Nach Auffassung der französischen Regierung waren die Bestimmung der Methoden der europäischen Zusammenarbeit und des Verhältnisses des zu schaffenden europäischen Gebildes zu außereuropäischen Staaten weitere wesentliche noch zu lösende Probleme. Im abschließenden Teil
betonte die französische Regierung, daß es sich lediglich um Vorschläge handele, die langfristig zur Verbesserung der Lage in Europa beitragen sollten.
Mit keinem Wort wurde im übrigen der Versailler Vertrag erwähnt.
Das französische Europamemorandum stand ganz in der Tradition der französischen Außenpolitik der 1920er Jahre: In ihm wurde das französische
Bestreben sichtbar, die durch den Versailler Vertrag geschaffene europäische
Ordnung zu stabilisieren und die immer noch als prekär empfundene Sicherheitslage Frankreichs zu verbessern. Besonders wurde dies an der Unterordnung wirtschaftlicher Fragestellungen unter vor allem sicherheitspolitische
Aspekte deutlich. Die Aufnahme eines wirtschaftlichen Programms an sich
stellte aber ein enormes Entgegenkommen der französischen Regierung dar.
Sicherheitspolitisch bedeutete der französische Europaplan im Grunde genommen die Wiederanknüpfung an das Genfer Protokoll, diesmal auf regionaActes du colloque tenu δ Geneve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. IXVI, hier
s.xn.
103
Europamemorandum.
Ibid.
105
Ibid.
104
458
5. Schluί
ler, europδischer Ebene. Die Schlichtungsmechanismen sollten ausgebaut und
eine Art Superiocarno f٧r ganz Europa sollte geschaffen werden. Neu indes
war, daß im Gegenzug fur die Erfüllung der französischen Sicherheitswünsche
eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit angeboten wurde, die nach
herrschender Auffassung wohl vor allem Deutschland zugute gekommen wäre106. Und war es nicht Stresemann gewesen, der seit 1925 von einer Zollunion
gesprochen hatte, und diese Forderung in seiner letzten großen Rede wiederholt hatte107? Im Grunde genommen - dies war allerdings nur die deutschlandpolitische Ebene des Briand-Plans - hatte die französische Regierung der
Reichsregierung einen Deal vorgeschlagen: Anerkennung der politischen europäischen Nachkriegsordnung gegen Erfüllung der wirtschaftlichen Forderungen Deutschlands. Dabei war nicht völlig auszuschließen, daß man auch
den deutschen politischen Forderungen in den Verhandlungen entgegengekommen wäre, denn der Vorschlag, wie ihn Frankreich am 17. Mai 1930 vorgelegt hatte, stellte ein erstes Verhandlungsangebot dar, nicht das letzte Wort.
In Deutschland wurden natürlich die sicherheitspolitischen Implikationen
erkannt. Aus dem Text des Memorandums zitierend, stellte Staatssekretär
Schubert fest:
>Ein ständiges System vertraglich festgelegter Solidarität< [Herv. i.O.], wir wissen, was diese
Worte im Sprachschatz der französischen Politik bedeuten. Sie bedeuten den Wunsch, durch
immer neue Abmachungen den durch die Friedensverträge iJ. 1919 geschaffenen Zustand
Europas zu stabilisieren und durch den Aufbau eines Sanktionssystems gegen den Friedensbrecher sicherzustellen108.
Hoesch kam zu ähnlichen Schlüssen: »Paul-Boncour und andere Persönlichkeiten haben ganz offen ihrer Meinung Ausdruck gegeben, daß das Briandsche
Projekt einen bedeutsamen und vielleicht den letzten möglichen Versuch darstelle, ein System der Friedenssicherung durch gegenseitige Unterstützung im
Sinne des Genfer Protokolls doch noch auf die Füße zu stellen«109. Schubert,
der bald als Staatssekretär abgelöst und als Botschafter nach Rom »abgeschoben« werden sollte, und Hoesch gehörten allerdings zu den wenigen, die auf
deutscher Seite auch die positiven Ansätze des Europamemorandums zu würdigen wußten. Der deutsche Botschafter in Paris sah in Briands Vorschlag keineswegs ein »Zweckmanöver«110, Frankreich sei vielmehr ernsthaft auch am
wirtschaftlichen Zusammenschluß Europas interessiert. Er äußerte jedoch
Zweifel, ob das von Frankreich vorgeschlagene Verfahren, zuerst den politi106
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift [1924], BArch R 3101, 20458.
Vgl. Margerie an Quai d'Orsay (29.8.1925), MAE 1918-1929utsrponmlihgedcbaXVSRPN
Ζ (Europe) Allemagne,
524; BERNHARD, Stresemann: Vermächtnis, Bd. 3, S. 570-580.
108
Schubert an Reichskanzlei (26.5.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 40.
109
Hoesch an AA (20.6.1930), ADAP Β XV, Nr. 90.
110
Ibid.
107
Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan
459
sehen Rahmen und dann erst die wirtschaftliche Kooperation festzulegen, aufgrund der akuten Wirtschaftskrise in Europa praktikabel sei111. Auch Schubert
sah vor allem in den wirtschaftlichen Vorschlägen des französischen Memorandums einen »guten Kern«112, wenngleich er sich dafür aussprach, daß ein
gegen die USA und die Sowjetunion gerichteter Kontinentalblock verhindert
werden müsse und der Völkerbund nicht geschwächt werden dürfe113. Bülow,
der kommende starke Mann im AA, lehnte dagegen den französischen Europaplan ab114. Ohne die wirtschaftlichen Aspekte und den Vorschlagscharakter
des Memorandums ausreichend zu würdigen, kam er zu dem Ergebnis, daß der
Briand-Plan hauptsächlich der Sicherung der französischen Vormachtstellung
und des Status quo diene. Deutschland würde damit Frankreich dauerhaft untergeordnet sein115. Er stellte fest: »Diese Stellungnahme führe dazu, daß man
eigentlich den politischen Teil des Memorandums restlos ablehnen müsse,
infolgedessen auch der von Briand gewünschten Unterordnung der Wirtschaft
unter die Politik nicht zustimmen könne«116. Dieser Auffassung schloß sich
Julius Curtius, seit dem Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929 neuer deutscher
Außenminister, weitgehend an117. Curtius erkannte dabei eine entscheidende
Schwachstelle des französischen Vorschlags, daß nämlich die politischen Fragen - wie die Abrüstungsverhandlungen und der Kriegsächtungspakt gezeigt
hätten - nicht ohne die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gelöst werden könnten. Es ist an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen worden, daß
- wegen der prekären machtpolitischen Situation zwischen Deutschland und
Frankreich - ein stabilisierendes Element, wie eine aktive Einflußnahme
Großbritanniens und der USA, notwendig gewesen wäre. Weder bei Curtius
noch bei Bülow wurde diese Erkenntnis allerdings in aktive Politik umgesetzt,
sondern als ein allein negatives Argument zur Ablehnung des französischen
Vorschlags verwandt.
Daß der französische Köder - die wirtschaftliche Kooperation - von vielen
in Deutschland verschmäht wurde, lag vor allem daran, daß sich die deutsche
Außenwirtschaftspolitik, wie bereits dargelegt wurde, vor allem auf Druck des
Reichsernährungsministeriums118 ab 1929/1930 von ihrer liberalen Grundhal111
Siehe ibid.
Aufzeichnung Schubert (28.5.1930), ADAPzwutsrponmlkihgfedcbaZXVTSRPONMLKIHGFED
Β XV, Nr. 52.
113
Siehe ibid.
114
Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 309; Aufzeichnung Bülow (21.5.1930), ADAP Β XV,
Nr. 39.
115
Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 310.
116
Aufzeichnung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51, ebenfalls abgedruckt
in: Reinhard OPITZ (Hg.), Europastrategien des deutschen Kapitals, 19001945, Köln 1977,
Nr. 65.
117
Siehe Aufzeichnung Bülow (11.6.1930), ADAP Β XV, Nr. 71, siehe auch zum folgenden.
118
Aufzeichnung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51. Zu den zunehmend
protektionistischen Forderungen aus der Schwerindustrie und der Landwirtschaft siehe
FROMMELT, Paneuropa, S. 7880.
1,2
460
5. Schluß
tung zunehmend löste und protektionistischer wurde. Wie am Vorschlag Curtius' für eine deutsch-österreichische Zollunion vom März 1931 deutlich wurde, wandte sich Deutschland vom Freihandel ab, hin zu einem mitteleuropäischen Wirtschaftsblock unter deutscher Kontrolle119.
Auffällig ist auch, daß deutsche Diplomaten und Politiker argumentierten,
ein Eingehen auf die französischen Vorschläge würde die deutschen Revisionsmöglichkeiten einschränken120. Gleichzeitig entwickelte die deutsche Seite
aber keine genauen Vorstellungen darüber, welches Revisionsziel als nächstes
angestrebt werden sollte, ja welche Revisionsziele realistischerweise überhaupt erreichbar waren. Die französische Initiative hätte von Deutschland genutzt werden können, zumindest die Spielräume für die zukünftig deutsche
Revisionspolitik auszuloten und unter Umständen auch zu konkreten Revisionsschritten zu kommen. Allerdings muß man sagen, daß die deutschen Revisionsmöglichkeiten - was Frankreich anging - begrenzt waren121: Die Rückgabe des Korridors, nicht jedoch Oberschlesiens, schien möglich. Den
Anschluß Österreichs lehnte Frankreich ab, und das militärische Übergewicht
gegenüber Deutschland mußte erhalten bleiben. Daß in Deutschland, nachdem
wichtige Revisionsziele bis Ende der 1920er Jahre zweifelsohne erreicht worden waren - die Freigabe des Rheinlandes, eine Verringerung der Reparationen, die wirtschaftliche und politische (nicht jedoch militärische) Gleichberechtigung - , keine weiteren konkreten Revisionsziele mehr formuliert
wurden, hatte möglicherweise einen ganz einfachen Grund: Es fehlte die Bereitschaft, anzuerkennen, daß viele Revisionsziele durch die Politik der friedlichen Verständigung sich nicht würden erreichen lassen. Indem die Revisionspolitik auf eine vage Zukunft verschoben wurde, konnte man an der Fiktion
festhalten, weiterhin die Revision der deutschen Ostgrenzen zu betreiben. Dies
war vor allem auch im Hinblick auf die deutsche Öffentlichkeit nötig, denn die
vorzeitige Rückgabe des Rheinlandes hatte nicht etwa zur Dämpfung, sondern
zu einem neuen Aufflammen des Revisionismus geführt122. Da das politische
System zunehmend in die Krise geriet, wofür der Rücktritt der Regierung
Müller und der Beginn des Präsidialregimes unter Brüning den augenscheinlichsten Beleg darstellte, fehlte vielleicht die Kraft zu dieser Einsicht123.
Gleichzeitig manövrierte sich die deutsche Politik aber auch in die Handlungsunfähigkeit, weil sie sich einer realistischen Einschätzung verweigerte
und auf Abwarten setzte.
119
Siehe POSSELT, Paneuropa, S. 49.
Vgl. beispielsweise: Aufzeichnung Bülow (21.5.1930), ADAPzutsronmlkihgfedcbaXWVUSR
Β XV, Nr. 39; Aufzeich
nung Planck (19.6.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 51; Schubert an Reichskanzlei
(26.5.1930), AdR Brüning Ι/Π Bd. 1, Nr. 40; Hammerstein an AA (12.7.1930), ADAP Β
XV, Nr. 76.
121
Siehe WURM, Deutschlands Rolle, S. 165, 169.
122
SieheWVTROIHG
V O G T , Deutsche Haltung, S. 319.
123
Vgl. W R I G H T , Stresemann, S. 454457.
120
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
461
Die deutsche Antwort auf das franzφsische Memorandum, die am
15. Juli 1930 ٧bergeben wurde124, war dem Ton nach zwar zustimmend, ent
hielt aber so viele Vorbehalte, daß sie einer Ablehnung gleichkam. Zwar wurde ein gemeinsames europäisches Vorgehen in der Zollpolitik befürwortet,
allerdings wurde festgestellt, daß die europäische Zusammenarbeit in dieser
Frage nicht gegen andere Länder gerichtet sein dürfe. Die Unterordnung der
wirtschaftlichen unter die politischen Fragen lehnte Deutschland ab und forderte statt dessen Gleichberechtigung auch auf militärischem Gebiet. Die deutsche Antwort auf das französische Europamemorandum war in zweifacher
Hinsicht eine verpaßte Chance. Einerseits wurde versäumt, die zugegebenermaßen flachen Wasser deutscher Revisionsmöglichkeiten auszuloten. Andererseits unterblieb eine realistische Bewertung der deutschen Außenpolitik,
ihrer Ziele ebenso wie ihrer Methoden. In der Tat, Deutschland war nicht bereit, »die ihm zukommende Ordnungsfunktion einer Großmacht zu erfüllen
und seine Revisionsforderungen übernationalen Interessen unterzuordnen«125
und versäumte es, eine »geschlossene Konzeption für eine künftige europäische Ordnung«126 zu entwickeln.
Es wäre indes falsch, allein Deutschland für das Scheitern des französischen
Europaplanes verantwortlich zu machen. Auch Italien, die Niederlande, Belgien und Polen äußerten sich zu den Vorschlägen skeptisch127. Kritik kam außerdem aus dem Völkerbund selbst, der durch die Pläne Briands seine Marginalisierung befürchtete128.
Ausschlaggebend dürfte - wie bei vielen anderen wichtigen Entscheidungen
bezüglich der deutsch-französischen Beziehungen - die Ablehnung durch die
englische Regierung gewesen sein129. Der englische Außenminister Henderson
warnte vor der Regionalisierung des Völkerbunds130 und der antiamerikanischen Spitze des französischen Vorschlags131. Großbritannien wandte sich allerdings auch deshalb gegen den Europaplan, weil es befürchtete, neue politi124
Text: Schulthess' Europδischer Geschichtskalender, N.F., 46. Jg. (1930), S. 469472.
BERG, deutsche Locamopolitik, S. 269.
126
KR٢GER, Auίenpolitik, S. 7.
127
Siehe Ministerbesprechung (5.7.1930), AdR Br٧ningzwutsronmlihgfedcbaZUSRPNMLHEBA
Ι/Π Bd. 1, Nr. 65. Eine Zusammen
fassung der Antworten findet sich in: Aufzeichnung ohne Unterschrift (30.8.1930), BArch R
2501,6317.
128
Siehe ManeRenielYUTRONMLKJFE
MOUTON, La Sociite des Nations et le Plan Briand d'Union euro
ρέηηβ, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fddirale euro
pöenne. Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä
QenÄve du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 235-255, hier S. 238f.
129
Zusammenfassend hierzu: Andrea Bosco, The British Foreign Office and the Briand
Plan, in: Antoine FLEURY, Lubor JlLEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union f6derale europdenne.
Perspectives nationales et transnationales, avec documents. Actes du colloque tenu ä GenÄve
du 19 au 21 septembre 1991, Bern u.a. 1998, S. 347-358.
130
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (9.9.1929), ADAPzutsronihgfecUSRNBA
Β ΧΙΠ, Nr. 9
131
Siehe Aufzeichnung ohne Unterschrift (30.8.1930), BArch R 2501, 6317.
125
462
5. Schluί
sehe Garantien und mehr Verantwortung in Europa ٧bernehmen zu m٧ssen132.
Allein Churchill äußerte sich positiv133.
Das Scheitern des Europaplans lag teilweise darin begründet, daß die Ideen
Briands zu visionär waren, besonders in einer Zeit, in der die nationalen
Egoismen - aufgrund der Weltwirtschaftskrise und der sozialen Spannungen,
die daraus erwuchsen - zunahmen134. Problematisch war auch, daß in dem
französischen Memorandum das Schwergewicht auf die politischen, nicht aber
auf die viel drängenderen wirtschaftlichen Fragen gelegt wurde135. Dies hatte
allerdings auch innenpolitische Gründe, denn der neue französische Regierungschef Tardieu forderte die stärkere Berücksichtigung sicherheitspolitischer Aspekte und war protektionistischer eingestellt136. Für das Schicksal des
Briartd-Plans war jedoch entscheidend, daß die französische Außenwirtschaftspolitik in sich widersprüchlich blieb. Stellte der Briand-Plan zwar einerseits die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa in Aussicht, weigerte sich Frankreich andererseits hartnäckig, konkret am Abbau von
Wirtschaftshemmnissen und Zollreduzierungen mitzuwirken, wobei sich die
französische Vorsicht vor allem aus der Angst vor der deutschen Wirtschaftsmacht erklärte137. Für diese Widersprüche waren vor allem innerfranzösische
Meinungsunterschiede ausschlaggebend. Während der Quai d'Orsay weiterhin
liberal eingestellt war, lehnten das Agrarministerium, aber auch Ratspräsident
Tardieu, die freihändlerische Politik ab. Auch von den französischen Wirtschaftsverbänden sprach sich nur einer, das Comite d'aetion economique et
douaniere, vorbehaltlos für eine liberale Außenhandelspolitik aus138.
Briands Europainitiative war ein ähnliches Schicksal beschieden wie so vielen anderen Plänen zur Neuordnung der internationalen Beziehungen: Auf britische und Schweizer Initiative setzte der Völkerbund am 17. September 1930
eine Studienkommission zu diesem Thema ein. Diese tagte bis 1932 mehrmals
und kam zum letzten Mal am 1. Oktober 1937 zusammen, ohne je offiziell
aufgelöst worden zu sein139.
Um auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurückzukommen - nämlich warum die Modernisierung der Außenpolitik scheiterte - , läßt sich also im Hinblick auf das Schicksal des französischen Europamemorandums sagen: Die
Fortsetzung einer modernen Außenpolitik scheiterte, weil in der Situation des
Jahres 1929/1930 vor allem Deutschland versäumte, ein neues außenpoliti132
Siehe Schubert an Reichskanzlei (26.5.1930), AdR Br٧ningrdNB
Ι/Π Bd. 1, Nr. 40; KR٢GER,
Schwierigkeit, S. 128.
133
Siehe Ministerbesprechung (5.7.1930), AdR Br٧ning I/II Bd. 1, Nr. 65.
134
Siehe FLEURY, Avantpropos, S. XIV.
135
Siehe ibid. S. XV.
136
Siehe BUSSIERE, Aspects economiques, S. 88; BADEL, Treve douaniere, S. 153, 159f.
137
Siehe BOYCE, Limits, S. 114.
138
Siehe BADEL, Treve douaniere, S. 150f., 159.
,39
Siehe PFEIL, Völkerbund, S. 99.
Der Abbruch der modernen Auίenpolitik und Briands Europaplan
463
sches Konzept mit modernen Zielsetzungen zu entwickeln. Allerdings standen
auch der BriandPlan und die tatsδchlich von Frankreich verfolgte Politik fak
tisch in einem nicht unerheblichen Widerspruch zueinander. Der BriandPlan
behinderte aber auch deshalb die Modernisierung der Außenpolitik, weil durch
ihn die Komplexität der internationalen Beziehungen, in einer Phase, als diese
ohnehin schon labil waren, erhöht, und so eine Lösung erschwert wurde. In
Kapitel 3 wurde dargelegt, daß das Reparationsproblem erst dann gelöst werden konnte, als durch das Vorgehen im Dawes-Plan die Reparations- von der
Sicherheitsfrage abgetrennt worden war. Dies verringerte die bis dahin herrschende Komplexität der außenpolitischen Probleme, wodurch die Regelung
des Reparationsproblems erst ermöglich wurde. Die Unterordnung der wirtschaftlichen Aspekte unter die Sicherheitspolitik im französischen Europamemorandum bewirkte genau das Gegenteil: Die Verquickung von beiden
Problemen erhöhte die Komplexität der internationalen Beziehungen wieder.
Es war gerade dieser Zusammenhang, der der deutschen Regierung die Ablehnung des französischen Memorandums erleichterte.
Es gab jedoch noch weitere Gründe, die die Krise der modernen Außenpolitik zu diesem Zeitpunkt verstärkten. In diesem Zusammenhang sind vor allem
personenbezogene Faktoren zu nennen. Besonders hervorzuheben ist dabei
sicherlich der Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929. Sein Nachfolger Curtius
lenkte »teils aus persönlicher Überzeugung, teils unter innerpolitischem
Druck, die deutsche Außenpolitik in eine stärker national geprägte Richtung«140. Die aufgrund persönlicher und politischer Differenzen zwischen ihm
und Schubert erfolgte Ablösung des Staatssekretärs und die Ernennung Bülows zu Schuberts Nachfolger leitete ab 1930 die Verstärkung der Revisionspolitik und die Wendung nach Südost- und Ostmitteleuropa ein141. Das
deutsch-österreichischen Zollunionsprojekt vom März 1931 markierte diesen
Kurswechsel und beendete die Verständigungspolitik142. Zeitgleich mit den
personellen Veränderungen in der deutschen Diplomatie vollzog sich der
Rückgang des Einflusses von Briand auf die französische Außenpolitik. Briand blieb zwar nach dem Scheitern seines letzten Kabinetts am
22. Oktober 1929 Außenminister, Tardieu nahm aber zunehmend das Heft in
die Hand143. Der neue französische Ratspräsident beurteilte die Verständigungspolitik skeptischer, beharrte stärker auf französischen Positionen und
setzte - vor allem, nachdem sich das französisch-britische Verhältnis mit dem
Amtsantritt der Labour-Regierung merklich abgekühlt hatte - auf eine unabhängigere Politik144. Der Personal- und Politikwechsel in Deutschland und
140
KNIPPING, Locamo-Ära, S. 94; KRÜGER, Schwierigkeit, S. 129f.
Siehe VOGT, Deutsche Haltung, S. 315.
142
Siehe JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 356.
143
Siehe ibid. S. 353; KNIPPING, Locarno-Ära, S. 95.
144
Siehe KNIPPING, Locarno-Ära, S. 95.
141
464
5. Schluß
Frankreich fand seine Entsprechung auch in Großbritannien, wo der seit Juni 1929 amtierende Premier MacDonald von der profranzösischen Politik
Chamberlains abrückte und zur klassischen Gleichgewichtspolitik zurückkehrte145. Gerade in Zeiten des fehlenden politischen Konsenses ist mit dem Wechsel des Personals oft auch ein Politikwechsel verbunden. Dieser Austausch des
politischen Personals betraf allerdings nicht nur die Außenpolitik. Ende der
1920er Jahre schien vielmehr ein tiefgehender Generationswechsel stattzufinden, der Personen in Führungspositionen brachte, die während des Ersten
Weltkriegs in der Regel noch keine leitenden Funktionen innegehabt hatten
und deshalb dieses epochale Ereignis aus einer anderen Perspektive wahrnahmen und andere Konsequenzen daraus zogen. Der Tod Fochs beispielsweise,
ebenfalls im Jahre 1929, zementierte erst den radikalen Wechsel in der französischen Militärdoktrin von der Offensive zur Defensive. Solange der Generalissimus noch lebte, war eine Sicherheitspolitik, die allein auf die Befestigung
der Ostgrenze abzielte, nur schwer möglich146. Im großen Stil wurde der Bau
der Maginot-Linie erst nach seinem Tod in Angriff genommen.
Das relativ gute persönliche Verhältnis zwischen den »Großen Drei« der
Locarno-Politik, Stresemann, Briand und Chamberlain, hatte allerdings auch
Nachteile für die Modernisierung der Außenpolitik gehabt. Ihre »Genfer Teeparties« hatten zwar dazu gefuhrt, daß viele Probleme informell gelöst wurden, verhinderten bzw. verzögerten aber durch die Umgehung der Völkerbundsgremien auch den Aufbau internationaler Konfliktregelungsmechanismen, was übrigens schon von Zeitgenossen kritisiert wurde147. Neben der
sichtbaren Einigkeit der »Großen Drei« bestanden die verschiedenen nationalen Interessen und Konflikte aber weiter und konnten deshalb auch in der Phase der relativ guten Beziehungen zwischen den drei Staaten nicht ausgeräumt
werden148. Der Abgang Stresemanns, Briands und Chamberlains hinterließ auf
der Ebene der multilateralen Diplomatie ein Vakuum, das paradoxerweise erst
durch die überragende Rolle dieser drei entstanden war.
Nicht nur konzeptionelle und personale Faktoren trugen jedoch zum Scheitern der Modernisierung der Außenpolitik bei, sondern auch die internationalen Rahmenbedingungen. Wie bereits mehrfach angeklungen ist, war das
deutsch-französische Verhältnis sehr labil und hätte dringend der Stabilisierung durch Dritte, vor allem durch die Vereinigten Staaten und Großbritannien, bedurft. Diese beiden Staaten übernahmen aber nur sehr beschränkt Verantwortung für die europäischen Sicherheits- und Wirtschaftsstrukturen.
Locarno hatte gezeigt, was möglich war, wenn Großbritannien bereit war, sein
Gewicht in die Waagschale zu werfen. Allerdings war Locarno auch einer der
145
Siehe ibid. S. 94.
Siehe Hoesch an AA (8.6.1926),riheZVSRNMLA
ΡAAA R, 70494.
147
Siehe Runderlaß Bülow (25.6.1927), ADAP Β V, Nr. 255.
148
Siehe SALZMANN, Großbritannien, S. 245; JACOBSON, Locarno Diplomacy, S. 388.
146
Der Abbruch der modernen Außenpolitik und Briands Europaplan
wenigen Fälle gewesen, in denen London Verantwortung für die europäische
Sicherheit (zumindest im Westteil Europas) übernommen hatte. Andere Sicherheitsinitiativen, multilateral wie bilateral, wurden gerade durch Großbritannien verhindert, wie das Beispiel des Genfer Protokolls zeigte. Auch die
Vereinigten Staaten griffen nicht stabilisierend in die europäische Politik ein,
es blieb bei einer einzigen ebenso großen wie leeren Geste, dem KelloggBriand-Pakt, der seine Entstehung jedoch gerade dem amerikanischen Wunsch
verdankte,tnihc
nicht in europäische Angelegenheiten involviert zu werden. Auf
wirtschaftlichem Gebiet unternahmen die beiden angelsächsischen Mächte
ebenfalls wenig, um die Lage zu verbessern. Die starre Haltung der USA in
der Kriegsschuldenfrage (die direkte Auswirkungen auf das Reparationsproblem hatte) und die überaus problematische US-Handelspolitik verzögerten
die wirtschaftliche Erholung Europas und beeinträchtigten dadurch auch die
politische Annäherung149. Die Abstinenz Washingtons und Londons war um
so tragischer, weil diese beiden Länder die Exponenten des liberalen Modells
der Friedenssicherung waren. Es waren die Ideen Wilsons und der angelsächsischen Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus wie Adam Smith und David
Ricardo, die der modernen Politik der 1920er Jahre ihre Inspiration verliehen.
Die Politik der beiden Länder blieb hinter diesen hohen Erwartungen zurück.
Die Vereinigten Staaten und Großbritannien versagten als Führungskräfte des
liberalen, modernen Systems der Friedenssicherung weitgehend.
Nicht nur die Haltung des Westens, sondern auch die Rolle der Sowjetunion
behinderte die Modernisierung der Außenpolitik, und zwar in zweierlei Hinsicht. Sie störte das deutsch-französische Verhältnis erstens, weil sie Deutschland die »russische Option« eröffnete, deshalb die deutsche Verständigungspolitik ständig relativierte und sie nur zu einer Option der deutschen
Außenpolitik machte. Andererseits wurde der deutsche Handlungsspielraum
durch die Rücksichtnahme auf die Beziehungen mit der Sowjetunion oft eingeschränkt150. Der Kommunismus und die aktive Unterstützung der kommunistischen Parteien in Europa durch Moskau trugen zweitens dazu bei, die innenpolitische Lage in Deutschland und Frankreich zu destabilisieren und
erschwerten so die innenpolitische Mehrheitsfindung für eine moderne Außenpolitik151.
Zu den Faktoren, die die Modernisierung der Außenpolitik behinderten,
zählt natürlich auch die Weltwirtschaftskrise, die just zu dem Zeitpunkt zu
149
150
Siehe JACOBSON, Locamo Diplomacy, S. 378f.
Siehe ibid. S. 369.
Für Frankreich siehe Pierre LEVEQUE, Histoire des forces politiques en France, Bd. 2:
1880-1940, Paris 1994, S. 202-207. Für Deutschland siehe Heinrich August WINKLER, Von
der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik
1918-1924, Bonn, Berlin 1984 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegimg in
Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 9), S. 343f.
151
466
5. Schluί
einem Aufflammen des wirtschaftlichen Nationalismus und der sozialen
Spannungen f٧hrte, an dem sich das europδische Staatensystem und die
deutschfranzφsischen Beziehungen in einer kritischen Phase befanden. Die
Weltwirtschaftskrise mußte sich um so stärker auswirken, weil es in den
1920er Jahren, auch wegen des Reparations- und Kriegsschuldenproblems,
kaum gelungen war, die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit grundsätzlich zu lösen.
Die Modernisierung der Außenpolitik scheiterte also Ende der 1920er Jahren an einer Kumulierung hemmender Faktoren: In Deutschland und Frankreich blieb sie der Revisions- bzw. Sicherheitspolitik oft untergeordnet, die
USA und Großbritannien wurden ihrer Führungsrolle nicht gerecht, der sowjetische Einfluß verschärfte innergesellschaftliche Spannungen, personelle Umwälzungen und die Weltwirtschaftskrise, die durch strukturelle ökonomische
Probleme verstärkt wurde, trafen das internationale System zu einem Zeitpunkt, an dem der Modernisierungsprozeß selbst besonders verwundbar erschien, weil sich das internationale System in einer Phase der Neuorientierung
und -bewertung von Zielen und Methoden befand.
Daß das liberale Friedensmodell aber durchaus das Potential für eine dauerhafte Befriedung hat, zeigt die Geschichte Westeuropas und der europäischen
Integration nach 1945. Dies lag nicht zuletzt an den ungleich günstigeren
Rahmenbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach der totalen Kriegsniederlage kam für Deutschland (zumindest für dessen westlichen Teil) nur
eine Politik auf der Grundlage des liberalen Modells der Friedenssicherung in
Frage, um überhaupt wieder auf die internationale Bühne zurückzukehren.
Frankreich mußte aufgrund des amerikanischen und britischen Drucks und der
Bedrohung durch die Sowjetunion von einer Politik Abstand nehmen, die auf
die Zerschlagung Deutschlands ausgerichtet war. Vor allem die USA übernahmen nach dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftliche und politische Initiative, die sie nach 1918 hatten vermissen lassen. Der lange wirtschaftliche Aufschwung der zweiten Nachkriegszeit erleichterte die Aussöhnung zwischen
den Völkern und ebnete den Weg für die Zusammenarbeit. Die Modernisierung der Außenpolitik, die in den Jahren 1923 bis 1929 ihren Anfang genommen hatte, fand so nach 1945 ihre Fortsetzung und Weiterentwicklung.
ABK٢RZUNGSVERZEICHNIS
AA
AD AP
ADGB
AdR
AN
BArch
BdF
BNP
BPPB
CAEF
CCC
C.C.H.F.
C.G.P.F.
DBFP
DDB
DDP
D.N.B.
DNVP
DVP
EdG
FRUS
GATT
GM
H.C.I.T.R.
HZ
IMKK
IRG
JContH
MAE
MdR
MGM
M.I.C.U.M.
MinR.
Mio.
Mrd.
NATO
OGG
PAAA
Auswδrtiges Amt
Akten zur deutschen auswδrtigen Politik
Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
Akten der Reichskanzlei
Archives nationales
Bundesarchiv
Banque de France
Banque national de Paris
Banque de Paris et des PaysBas
Centre des archives economiques et financieres
Commission de constatation et de conciliation
Comite central des houilleres de France
Confederation generale de la production fran^aise
Documents on British Foreign Policy
Documents diplomatiques beiges
Deutsche Demokratische Partei
The Dictionary of National Biography
Deutschnationale Volkspartei
Deutsche Volkspartei
Enzyklopδdie deutscher Geschichte
Papers relating to the Foreign Relations of the United States
General Agreement on Tariffs and Trade
Goldmark
Haute commission interalliee des territoires rhenans
Historische Zeitschrift
Interalliierte Militδrkontrollkommission(en)
Internationale Rohstahlgemeinschaft
Journal of Contemporary History
Archives du Ministere des affaires etrangeres
Mitglied des Reichstags
Militδrgeschichtliche Mitteilungen
Mission interalliee de contrφle des usines et des mines
Ministerialrat
Million(en)
Milliarde(n)
North Atlantic Treaty Organization
Oldenbourg Grundriß der Geschichte
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes
468
PAAP
Paribas
RDI
REM
RepKo
RFM
RMbesGeb.
RWiM
RWM
S.D.
S.D.N.
S.F.I.O.
StS
UDE
UNESCO
UNO
VfZG
VSWG
WTO
Ζ
Abk٧rzungsverzeichnis
Papiers d'agents Archives privees
Banque de Paris et des PaysBas
Reichsverband der Deutschen Industrie
Reichsminister(ium) f٧r Ernδhrung und Landwirtschaft
Reparationskommission
Reichsfinanzminister(ium)
Reichsminister(ium) f٧r die besetzten Gebiete
Reichswirtschaftsminister(ium)
Reichswehrminister(ium)
sousdirection
Societe des Nations
Section franfaise de l'internationale ouvriere
Staatssekretδr
Union douanifere europφenne
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
United Nations Organization
Vierteljahrshefte f٧r Zeitgeschichte
Vierteljahrsschrift f٧r Sozial und Wirtschaftsgeschichte
World Trade Organization
Zentrumspartei
QUELLEN UND LITERATURVERZEICHNIS
Quellen
Unveröffentlichte Quellen
N.B. Die im Text gebrauchte Abk٧rzung f٧r den jeweiligen Archivbestand ist
in eckigen Klammern angegeben.
Deutschland
Bundesarchiv
Reichswirtschaftsministerium [BArch R 3101]
Fragen, die mit dem Friedensvertrag in Verbindung stehen, Bd. 2475.
Vφlkerbund, Bd. 2475/1.
Handels und Zollpolitik, fremde Lδnder, Frankreich, Bde. 2639/2, 2640,
2644/1,2645.
Friedensvertrag, Bde. 14499.
Telegramme aus dem Haag, Bd. 14501.
Frankreich, 14553, 14554.
Wirtschaftsabkommen der Industrie mit den Besatzungsbehφrden, Bde.
14767, 14769.
Reparationsverhandlungen auf Grund des SachverstδndigenGutachtens
1924 (Hauptakten), Bd. 14913.
Thoiry-Ausschuß, Bd. 15043.
Paris 1929 und Haager Konferenz, Bd. 15051.
Handakten Schäffer, Bde. 20436, 20437, 20458.
Reichsbank [BArch R 2501]
Young-Plan, Bd. 6713.
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes
Serie R [PAAA R]
Büro des Reichsministers, Bde. 19304, 23233, 28234, 28235, 28238, 28239,
28241, 28242,28243, 28244,28260,28261.
Büro des Staatssekretärs, Bde. 28939,29194,29195,29196,29199, 29304.
Handakten Köpke, Bde. 35583, 35585, 35587.
Politische Abteilung II - allgemein, Bde. 70096, 70097, 70100, 70103,
70104, 70105, 70106, 70107.
470
Quellen und Literaturverzeichnis
Politische Abteilung II Frankreich/Politik, Bde. 70494, 70527, 70528,
70533, 70534, 70535.
Referat Vφlkerbund, Bde. 97144.
Handakten Ritter, Bde. 105604,105610,105612,105613, 105615.
Frankreich
Archives nationales
Ministere du Commerce [AN F 12], Bd. 8865.
Papiers Painleve [AN 313 AP], Bd. 220.
Banque de France [BdF]
N.B.: Die Bestδnde der Banque de France sind nicht in einzelne Serien unter
teilt.
Bde. 140199202/13,1370200008/76,13702000008/175.
BNPParibas
N.B.: Durch die Fusion der Banque National de Paris (BNP)und
und der Banque
de Paris et des PaysBas (Paribas, BPPB) 1999 sind die Archivbestδnde beider
Banken und ihrer Vorgδngerinnen im Archiv von BNPParibas vereinigt: Es
handelt sich neben der Paribas vor allem um den comptoir national
d'escompte de Paris und die Banque nationale pour le commerce etzvutsronlihfedcbaPN
ΓwutsrniedI
Industrie,
die beide 1945 verstaatlicht und 1966 zur BNP fusioniert wurden1. Die Archi
valien aus den Bestδnden von Paribas sind mit BPPB gekennzeichnet, die der
Vorgδngerbanken der BNP mit ExBNP.
Banque de Paris et des PaysBas [BPPB]
1 Cabet 1, 187.
Banque Nationale de Paris [ExBNP]
Bd. 416884.
Centre des archives economiques et financiers [CAEF]
Fonds Tresor, relations multilaterales, Bd. 48 888,48 889.
Archives du Ministere des affaires etrangeres
Serie Papiers d'agents Archives Privees [MAE PAAP]
Papiers Herriot [MAE PAAP 89], Bde. 15, 19.
Papiers Massigli [MAE PAAP 217], Bde. 7,13,105.
Papiers Seydoux [MAE PAAP 261], Bde. 17, 3032, 3437, 4042.
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Bde. 23, 27, 39,40, 506, 629, 635.
Serie Ζ (Europe 19181929), sousserie Allemagne [MAE 19181929 Ζ
(Europe) Allemagne]
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Wirtschaftsdienst
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PERSONENVERZEICHNIS
Adamthwaite, Anthony 66
Adenauer, Konrad 124125,127
Alberti, Mario 148
Allix, Edgar 147,376,378
Angell, Norman 159,333,449
Amal, Pierre 60
Artaud, Denise 172
Aschmann, Gottfried 424
Avenol, Joseph Louis Marie Charles
282
Baldwin, Stanley 110
Balfour, Arthur James 95,97,218,226
Bariety, Jacques 24,151,156,159,172,
178, 394,453
Baring, John 382
Barrfes, Maurice 74
Barthou, Louis 74,151, 352
Beaupoil de SaintAulaire, Auguste Filix
Charles, comte de 183,206
Benes, Edvard 205,298,301
Birenger, Henry 183,343,346
Bergery, Gaston 156
BernstorfF, Johann Heinrich Graf von 293,
302303
Berstein, Serge 172
Berthelot, Philippe 23,59,62,67,93,235,
238,262,272,287,310,315,322, 336,
339,345, 349,351, 362363,391,414,
452
Birkenhead, Frederick Edwin Smith,
l s 'Earlof 218,226
Blomberg, Werner 276
Blum, L6on 65,153,156
Bokanowski, Maurice 351,416,418,420,
429
Bonar Law, Andrew 98,99100
Boso, 448
Bourgeois, Lion 266267
Boyden, Ronald William 95
Bradbury, Sir John 84,99,101,144,160
Brauns, Heinrich 232
Breaud, Henri 104, 106
Briand, Aristide 23,48,65,67, 81,
8687, 9394, 147, 195196,204,217,
230, 235239,246,257,261263,265,
272273,275,282,284,295296,
303306,309310, 314319, 321322,
324325, 330,333, 339, 344345,
347352, 356, 360, 364,367, 369,
386387, 391,421,433,441,447455,
458489,461464
BrockdorffRantzau, Ulrich Graf von 63,
88,196, 283
Brouckere, Louis de 294
Br٧ning, Heinrich 21, 75,436,460
Bryan, William J. 313
Buchheit, Eva 300
B٧low, Bernhard Wilhelm von 58, 299,
327328,452,459,463
Butler, Nicolas Murray 316
Caillaux, Joseph 153,451
Carp, Werner 118
Cecil, Viscount of Chelwood, Robert
GascoyneCecil 203,205,271,287,
293294
Challener, Richard 66
Chamberlain, Sir Joseph Austen
209210,218,222,226,229,233,
235236,238239,257,260,262,
272273,282,284, 295, 304, 306,320,
385,464
Chassain de Marcilly, Henri 77
Chaumet, Charles 408
Churchill, Winston Leonard Spencer 218,
226, 372373, 375376, 378,385, 389,
462
Claude, Inis L. 271
Claudel, Paul 318319,324
Clauzel, Bertrand 60
Clemenceau, Georges 56,73, 80,194,267
CliSmentel, Etienne 169, 344,393,399
Coolidge, Calvin 114,147, 315,317,341,
360
Corbin, Andr6 Charles 59
Coste, Emile 93,96, 98,100
CoudenhoveKalergi, Graf Richard
452453
Coulondre, Robert 59
Crewe, Robert Offley Asburton Crewe
Milnes, 1st Marquess of 117
Crowe, Sir Eyre Alexander Burby Wichart
160, 222,226
504
Personen Verzeichnis
Cuno, Wilhelm 98,108 109,118,199,
213 215,219,221 223
Curtius, Julius 459460,465
Curzon, George Nathaniel, Marquess
Curzon of Kedlestone 218
Cushendun, Lord Robert John McNeil
301,371
D'Abemon, Edgar Vincent, I st Baron, of
Esher 214,218 219,222 223,226,
248,263,396
Dariac, Adrien 95
Daudet, Leon 74
Dawes, Charles Gates 144,147
Debeney, General Marie Eugene 275,353
Debrix, Ren6 104
Degoutte, General Jean Marie 93 94,98,
135,137
Delacroix, Leon 337338,345
Denvignes, General Joseph 118
Desticker, General Pierre Henri 173
Dior, Luden 397
Doumer, Paul 147
Doumergue, Gaston 152,272,451
Drummond, Sir Eric James 282283,425
Ebert, Friedrich 399
Eggert, Wilhelm 428,449
Elbel, Paul 449
FabreLuce, Robert 443
Faille de Leverghem, Georges Comte della
109110
Ferry, Disird 74
Fischer, David 346347, 350
Flandin, Pierre Etienne 422,433434
Fleuriau, AimeJoseph de 183,224
Foch, Marschall Ferdinand 53,65,
7274, 85,92 93, 101,135, 137,228,
267,275,353,464
Forster, Dirk 223
Francqui, Emile 147
FranklinBouillon, Henry 153
Frentzen, Paul 108
Frδser, Leon 388
Frenken, Josef 232
Friedberg, Heinrich von 391
Fromageot, Henri 237, 322
Gaiffier d'Hestroy, Edmond 325
Gaus, Friedrich 58,209,237
George V. 272
Geraud, Andr6 265
Geß ler, Otto 165
Gibson, Hugh Simons 294
Gide, Charles 449
Gilbert, Seymour Parker 236, 337, 340341,343, 345,347, 352,361-363, 365366, 370-373,375, 377,379, 388-389
Girault, Rend 172
GiscardD'Estaing, Edmond 104
Gout, Jean 60
Grinda, 422
Guillain, Robert 435
Haas, W alto-de 58
Hagen, Louis 105
Hagspiel, Hermann 24
Hamm, Eduard 399,403
Hantos, Elemer 449
Harding, Warren Gamaliel 109,114,116
Haslinde, Heinrich 414
Hasse, General Otto 204
Hautain, Fernand 343
Henderson, Arthur 385-386,461
Herbette, Maurice Lucien Georges 352
Hergt, Oskar 109,366
Hermant, Max 93,104
Hermes, Andreas 428-429
Herren, Madeleine 11-12
Herrick, Myron T. 316
Herriot, Edouard 65,67,108,152- 161,
165,167- 169,172- 174,183,206- 207,
209- 210,217,219,223- 224,229,246,
259-260,278-279,285, 398-399,
402- 403,445,451
Hesnard, Oswald 108,345,350
Heyde, Philipp 387
Heye, General Wilhelm 276,442
Hindenburg, Paul von Beneckendorff und
von 281
Hoesch, Leopold von 141,143,149,154,
163, 173,209,219,222- 224,228,
230- 231,235- 236,239,246,261- 262,
303, 310, 321-322,324,326, 336, 345,
365-366, 380,417,443,450,458
Hoover, Herbert Clark 370-371,388-389
Houghton, Alanson Bigelow 236
Houtart, Baron Paul 386
Hugenberg, Alfred 367
Hughes, Charles Evans 34, 95,99,108,
113,116-117, 130,213
Hurst, Sir Cecil James Barrington 237
Hymans, Paul 433
Personenverzeichnis
Jacobson, Jon 391
Janssen, Albert 148
Jarres, Karl 125
Jaspar, Henri 123,147
Jeannesson, Stanislas 130,172
Joffre, Marschall Joseph Jacques Cesaire
275,353
Jouvenel, Henri de 64,294295
Jusserand, Jean 183,213
Kaas, Ludwig 367
Kanitz, Gerhard Graf von 232,399
Kastl, Ludwig 379
Kellogg, Frank Billings 229,314,
317320,322, 324328,330,371
Kerr, Alfred 445
Keynes, John Maynard 78, 86, 180
Kindersley, Sir Robert Molesworth 148,
167
Klφrtne, Moritz 443
Knipping, Franz 21,24,447
Kφpke, Gerhard 58
Krohne, Rudolf 233
Kr٧ger, Peter 1012,20,68
505
Maltzan, Adolf Georg Otto [Ago] von,
Freiherr zu Wartenberg und Penzlin
Siehe Maltzan, Ago von
Maltzan, Ago von 58, 88,108,111,163,
183,196, 343
Mangin, General Charles 123
Mann, Thomas 445
Marcilly, Henri de Siehe Chassain de
Marcilly, Henri
Margerie, Pierre Jacquin de 101,110,154,
230,246,257,262,410,449
Marin, Louis 74,351,356
Marx, Wilhelm 151,367
Massigli, Rene 60,67,261, 304, 311,391,
455456
Mayrisch, Emile 441
McKenna, Reginald 144
McKinley, William 147
Melchior, Carl 379380
Mellon, Andrew William 341, 343,346
Millerand, Alexandre 7778, 80, 86,108,
143,152,395,453
Moldenhauer, Paul 125
Molinari, 448
Monnet, Jean 393
Moreau, Emile 351,362,375
Moret, Clφnent 340, 375,380
Morgan, John Pierpont 342, 389
M٧ller, Hermann 21,368,460
Mussolini, Benito 109,116
Lacroix, de 59
Lammers, Clemens 428
Lampson, Sir Miles Wedderbum 262
Laroche, Jules 123,339
Lasteyrie du Saillant, Charles Comte de
96,104
Neuhaus, Albert 232,264
LaurentAtthalin, Andrd 148
Neurath, Konstantin Freiherr von 109
Le Rond, General Henri Louis Edouard
Niedhart, Gottfried 11,21,249,447
246
Niemeyer, Sir Otto Ernst 340, 342
Le Troquer, Yves 143,442,449
Nieuwenhuys, Adrien 101
Leftbvre de Laboulaye,zyxwvutsrqponmlihgfedcbaWTSRPOMLKJHGFEDCA
Αηάτέ 59
Nollet, General Charles Marie Edouard
Leftbvre du Prey, Edmond 67
155,173
L6ger, Marie Ren6 Auguste Alexis 315,
Norman, Montagu Collet 234,337338,
322,454456
342344,347
Lindbergh, Charles Augustus 316
Lippe, General Georg von der 442
Litwinow, Maxim M. 303
Painlev6, Paul 152,222,230,442,451
Lloyd George, David 73, 81, 8688,94,
Parmentier, Jean 147,375,378
9798,204,267
PaulBoncour, Joseph 293,295, 301302,
Loucheur, Louis 8384,9394,108,137,
304, 324, 391
228,423,426427,429430
Peretti de la Rocca, Emmanuel 124
Luther, Hans 124125,233234,238,
Pertinax Siehe Giraud, Andre
256,264,399
P6tain, Marschall Henri Philippe 275, 353
Peyerimhoff de Fontenelle, Henri de 429
Pferdmenges, Robert 105
MacDonald, Ramsay 136,155162,165,
167169,173,205207,217,219,259,
Pichon, Stephen 77, 80
278279, 310311, 385,424,451,464
Pilotti, Massimo 237
506
Personenverzeichnis
Pilsudski, Jφsef 246
Pinot, Robert 107,141,143
Pirelli, Alberto 148,379
Poincarφ, Raymond 21,48, 53,67, 73, 87,
89,9298,101,103,110,112,
117118,122124,128132,134,
136137,139140,143,150152,
154155,160,172,174,183, 195,
203206,213,215216,275, 315, 321,
344, 347352, 356, 360, 362,364,
366367, 371, 373, 375377, 379,
384385, 388389,413,422,451,453,
455
Posse, Hans Emst 411412,417418,
420,
Prittwitz und Gaffron, Friedrich von 370
Piinder, Hermann 366
Rathenau, Walther 8384,88,96
Rauscher, Ulrich 243,247
Raynaldy, Eug&ne 398399,401,
403404,406
Rechberg, Arnold 122,442443,
452453
Reinshagen, 425
Requin, Edouard 203205,211,271,287,
395
Revelstoke, Lord Siehe Baring, John
Reynaud, Paul 443
Ricardo, David 465
Ritter, Karl 58, 141,365,401,424,450
Rolin, Henri 237
Rosenberg, Frederic Hans von 101,214
Rueff, Jacques 454
Ruppel, Julius 160
Salter, Sir Arthur 450
Sauerwein, Jules 339
Schacht, Hjalmar 146, 336340,
354355, 366, 376377, 379380,382,
389390
Schiele, Martin 232,237,264,416417
Schleicher, Oberst Kurt von 276
Schlieben, Otto von 264
Schmidt, Alfred 108
Schubert, Carl Theodor von 58,79,130,
183, 214,219,222,230,246,248249,
257,262,298, 302303,320321,328,
349, 364366, 372,458459,463
Schurmann, Jacob Gould 322
Seeckt, Hans von 165,196,233,276,283
Sergent, Charles 337,340
Serruys, Daniel 401,413,416,418,423,
425,427,429,433434,449450
Seydoux, Jacques 59, 63, 67,77, 80, 83,
9394,96, 98,123,136137,139,
140143,149,156,168,228,236, 337,
339341, 343345, 349350, 352353,
355, 356359, 368, 371, 388,401,449,
451452
Sharp, Walter 66
Shotwell, James 314,316
Siemens, Carl Friedrich von 429430
Sinn, Werner 108
Skirmunt, Konstanty Graf 205
Skrzynski, Graf Aleksander 282
Smith, Adam 465
Smuts, Jan Christiaan 126
Snowden, Philipp 167, 385387, 391
Snowden, Philipp 168
Soutou, GeorgesHenri 446
Spears, General Edward Louis 218
Spengler, Oswald 126
Stamp, Josiah 148,378
StemRubarth, Edgar 449
Sthamer, Friedrich Gustav Carl Johann
108,159161,235
Stinnes, Hugo 98,105,108, 141,448
Stockhammern, Karl Adolf Edler von 398
Stoppani, Pietro 426427,452
Stresemann, Gustav 1921,24,57,
109111,125127,133,141,146,151,
163166, 173, 182, 196197,215,
220221,230,232234,237239,
243244,255256, 263264,276,295,
298, 304, 306, 322, 333, 336, 345, 347,
350352, 356, 360, 365,367368, 371,
376, 380,384, 387, 396, 399400,
402404,410411,414,417,421,426,
431,449,454456,458459,463464
Strong, Benjamin 234, 342343, 347
Tannery, Jean 93
Tardieu,yusronmlihedaTPJH
Αηάτέ 72,74, 351,460461
Thomas, James Henry 167
Tirard, Paul 7374, 85, 9396, 98,
103104,123, 126127,135, 137,262
TournΔs, Oberst Ren6 440
Trendelenburg, Emst 399,401,403404,
429,431433,449
Troquer, Yves le Siehe Le Trocquer, Yves
Vandervelde, Emile G. 238,262
Vφgler, Albert 379,380, 382
Personenverzeichnis
Wallroth, Erich 58
Weizsδcker, Ernst Freiherr von 58
Wiedfeldt, Otto Karl Ludwig 212
Π. von Preuίen 44
Wilhelmvon
Wilson, Woodrow 1517,34,41,46,52,
5556, 73,190,267,465
Winston, GerrardD. 341,347
Wirth, Joseph 76, 82,196
Wolff, Otto 118119
Wright, Jonathan 248,299
Wurm, Clemens A. 333
Young, Owen D. 147, 378, 381, 389
Zaleski, August 305306
Zechlin, Walter 58