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MARTIN
MULLER
CHRISTCPH
NEUBERT.
HG.
STANDARDISIERUNG
UNDNATURATISIERUNG
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WILHELMFINK
Martin Müller, Christoph Neubert (Hg.)
S TANDARDISIERUNG UND N ATURALISIERUNG
SCHRIFTENREIHE DES GRADUIERTENKOLLEGS
„AUTOMATISMEN“
Herausgegeben von
Hannelore Bublitz, Norbert Otto Eke,
Reinhard Keil, Christoph Neubert und
Hartmut Winkler
Wissenschaftlicher Beirat
Ulrike Bergermann, Michael Nagenborg,
Bettina Wahrig, Heike Weber
Martin Müller, Christoph Neubert (Hg.)
Standardisierung
und Naturalisierung
Wilhelm Fink
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Umschlagabbildung: Jürgen Gebhard (picturepress)
Online-Ausgabe 2021
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.
© 2019 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill
NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd,
Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)
Internet: www.fink.de
Lektorat und Satz: Margret Westerwinter, Düsseldorf; www.lektorat-westerwinter.de
Einband: Evelyn Ziegler, München
Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn
ISSN 2629-7574
ISBN 978-3-7705-6229-9 (paperback)
ISBN 978-3-8467-6229-5 (e-book)
INHALT
MARTIN MÜLLER
Standardisierung und Naturalisierung – zur Einleitung ...............
9
AUTOMATISMEN DER STANDARDISIERUNG:
METRIKEN, FORMBILDUNG, SCHEMATA
FLORIAN SPRENGER
Standards und Standarten ............................................................. 23
ANNA ECHTERHÖLTER
Red and Black Boxes.
Koloniale Standardisierung als Metroklasmus ............................ 47
STEFAN RIEGER
Stille Post. Automatismen der Formerzeugung ........................... 69
SUSANNE JANY
Die Fabrikation des Betriebsunfalls ............................................. 93
NICOLE M. WILK
„Das ist kein neuer Kalter Krieg“ –
zum Zusammenhang von Metadiskurs und Standardbildung
aus diskurslinguistischer Sicht ..................................................... 109
6
INHALT
ROLAND BLESS
Standardisierung im Internet –
wer gestaltet das Internet der Zukunft? ....................................... 129
EFFEKTE DER NATURALISIERUNG:
LEBEN, KÖRPER, PRAKTIKEN
ANTONIO LUCCI UND THOMAS MACHO
„Vivete sani e amatemi“.
Paolo Mantegazza und das Gespenst der Biopolitik ................... 147
ANNE SCHREIBER
Standards for Group Action.
Anfänge des US-amerikanischen Managements zwischen
Biochemie, Sozialtheorie und Wissenschaftsgeschichte ............ 161
LAURA MOISI
Zurück in die Zukunft:
Theorie und Geschichte der Frankfurter Küche .......................... 181
TOBIAS EICHINGER
Authentische Amputationen.
Zum Umgang mit extremen Wünschen in der Medizin
zwischen körperlicher Integrität und Normalität ........................ 199
PATRICIA RIBAULT
Körper bei der Arbeit. Geste, Norm und Technik ....................... 219
MARTIN MÜLLER
Universale Konstrukteure?
Vom αὐτός des Lebendigen zur Affirmation der synthetischen
Biologie als universale Ingenieurswissenschaft .......................... 233
INHALT
7
Thesen:
Zum Eigenleben statistischer Instrumente
und die Reduzierung des Ökologischen
THORBEN MÄMECKE
These 1: Automatismen sind unberechenbar.
Naturalisierungen emergenter Prozesse sind Versuche,
dies zu kaschieren. ....................................................................... 247
PAUL BUCKERMANN
These 2: Die formelle Standardisierung von Maßeinheiten
ermöglicht ungeplante Strukturbildung.
Eine vergleichssoziologische Skizze
zum Ecological Footprint. ............................................................ 253
ABBILDUNGSNACHWEISE .............................................................. 261
ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ........................................ 263
MARTIN MÜLLER
STANDARDISIERUNG UND NATURALISIERUNG –
ZUR EINLEITUNG
Ein Hauptmotiv der Automatismen-Forschung lässt sich als Faszination (für
den Nachvollzug) eines spezifischen Typus von Prozessen beschreiben, welche – entsprechend dem Gedanken des ‚Selbsttätigen‘, dem αὐτός – jenseits
menschlicher Handlungsmacht, Planung und Kontrolle wirksam sind. Das
Denken von und mit Automatismen steht im Zeichen des Opaken, des Rätselund Geisterhaften, oder technisch gewendet, im Denkbild der Black Box. Mit
dieser Fokussierung widmet es sich dem Verstehen dessen, was vor der Etablierung etwaiger Ordnung und Konstellationen, was hinter dem Sicht- und
Sagbaren, was vor der Stabilisierung von Praktiken und Schemata und im
Prozess der Bildung materieller Strukturen und Gefüge operativ tätig ist.
Standardisierung und Naturalisierung erscheinen vor diesem Hintergrund
als zwei unterschiedliche und doch komplementäre Prozesse, durch die kulturell bedingte Praktiken, Wahrnehmungen und Technologien in einen Zustand
der Selbstverständlichkeit übergehen.1 Zwischen den beiden Begriffen finden
sich vielfältige Parallelen und Überlappungen: Während es für die Naturalisierung als Konstruktion von Natürlichkeit charakteristisch scheint, dass sie sich
auf einer unbewussten Ebene vollzieht, gibt es gleichzeitig Standardisierungsprozesse, in denen das Ideal des ‚Natürlichen‘ bewusst angestrebt wird. Die
natürlich erscheinende Norm und das Selbstverständlich-Natürliche sind gerade deshalb so wirksam, weil sie ihre historische Genese, ihre Zufälligkeit, ihre
Künstlichkeit wie auch ihre Kontingenz verschleiern und verdecken. Genau
darin liegt ihre (kultur-)technische und (macht-)historische Relevanz und Bedeutung.
Der Beginn einer umfassenden Standardisierung im modernen Europa lässt
sich in Frankreich zum Ende des Ancien régime ausmachen. Die Einführung
der einheitlichen Standards des metrischen Systems sollte im gewissen Sinne
ein ‚epistemisches Leid‘ lindern, das sich aus der überbordenden Vielzahl
tradierter Standards und lokaler Normen ergab: „[T]he existence of French
men and women around 1790 was made miserable by […] 700 or 800 diffe-
1
Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star, Sorting Things Out: Classification and Its Consequences, Cambridge, MA, 2000, S. 10-19. Neben dieser Monografie zur Theorie der Klassifizierung und Sortierung ist unlängst ein weiteres Standardwerk zur Geschichte der Standardisierung in den Ingenieurswissenschaften entstanden: JoAnne Yates/Craig N. Murphy, Engineering Rules. Global Standard Setting since 1880, Baltimore, MD, 2019.
10
MARTIN MÜLLER
rently named measures and untold units of the same name but different sizes.“2
Im Auftrag der Académie des Sciences wurde deshalb ein standardisiertes
Maßsystem erarbeitet. Dem Gestus der Aufklärung entsprechend, präsentierte
der berühmte Rapport sur le choix d’une unité de mesure aus dem Jahr 1791
eine Reihe von ‚universal gültigen‘ sowie ‚natürlichen Normalmaßen‘ der
Längen, Gewichte und Zeiteinteilungen. Im Zeichen der Universalität wurde
der Erdkörper selbst als ‚maßgebende‘ Entität erkoren. Dementsprechend
betrug ein Meter ein Zehnmillionstel der Entfernung vom Nordpol zum Äquator, freilich gemessen über Paris.3 Die neuen Maße, so das Ansinnen der
Académie, sollten kurzfristig die lokalen Metriken Frankreichs ersetzen und
mittelfristig zum internationalen und weltweiten Standard erhoben werden.
Bei genauerer Betrachtung war jene Vereinheitlichung der Standards – beschlossen am 30. März 1791 durch die Nationalversammlung – weit mehr als
die Einführung von Kilogramm und Meter zur Erleichterung der alltäglichen
Vollzüge. Ihr macht- und diskurshistorischer Effekt, so lässt sich aus der Perspektive der Automatismen-Forschung andeuten, lag in der Ermöglichung
einer neuen, staatlichen Empirie.4 Die Etablierung des natürlichen Standards
war auf Engste verknüpft mit dem Aufkommen der modernen Biopolitik um
1800 – als eine Geschichte der Erfassung, Normalisierung und Steigerung von
individuellen Körpern und kollektiver Vitalität.5 Die Setzung von Normen,
Metriken und Standards bildete erst eine fundamentale Möglichkeitsbedingung zur intervenierenden Regulierung des Bevölkerungskörpers und zur
Modulierung natürlich-künstlicher environments sowie zur freien Zirkulation
von Menschen, Waren und Kapitalen innerhalb eines Territoriums.6 Jene Implementierung der mesure naturelle geriet – unversehens – zur Geburtshilfe
der Normalisierungsgesellschaft. Der ‚Lebensstandard‘ ist demnach nicht
lediglich ein beschreibender Begriff, sondern eine durchgreifende Regierungstechnologie, die seit dem 19. Jahrhundert ihre Wirkung im Feld der Fremdund Selbstdisziplinierung entfaltet.7
2
3
4
5
6
7
John L. Heilbron, „The Measure of Enlightenment“, in: Tore Frängsmyr (Hg.), The Quantifying Spirit in the 18th Century, Berkeley, CA, 1990, S. 207. Zum Zusammenhang von Natürlichkeitsdenken und Metrisierung siehe Maurice Crosland, „Nature and Measurement in
Eighteenth-Century France“, in: Theodore Bestermann (Hg.), Studies on Voltaire and the
Eighteenth Century, Banbury, 1973, S. 277-309.
Siehe Académie des sciences, Rapport sur le choix d’uneunité de mesure, Paris, 1791, S. 3 f.
Im Jahr 1983 wurde der französische Urmeter neu definiert. Seitdem wird ein Meter durch die
Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit bestimmt. Erst in diesem Jahr wurde das zylinderförmige, aus Platin-Iridium gefertigte Urkilogramm aus seinem Dienst entlassen. Ein Kilogramm beruht seit dem 20. Mai 2019 auf dem Planckschen Wirkungsquantum.
Siehe Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Berlin,
2002, S. 54-80.
Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/M., 2001, S. 282-310.
Florian Sprenger, Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik
künstlicher environments, Bielefeld, 2019.
Bernhard Kleeberg, Lebensstandard. Geschichte eines Konzepts im 19. Jahrhundert, Habilitationsschrift, Universität Konstanz, 2015.
EINLEITUNG
11
Die Metrisierung Frankreichs zeigt also: Standards vermitteln die Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Zeichen – besonders wirksam dort,
wo sie nicht als Konvention, sondern als ‚natürlich‘ erscheinen. Prozesse der
Standardisierung und Naturalisierung haben in zeitgenössischen Gesellschaften eine hohe Relevanz, sei es im Bereich der Ökonomie, des Selbstmanagements, der Bio- und Materialwissenschaften sowie der Informatik. In technischen Bereichen wird Standardisierung zuweilen als Top-down-Prozess
verstanden, der durch Institutionen zentralgesteuert wird. Wie stellt sich eine
‚Ökonomie der Standards‘ dar und welche Machtkonstellationen zeichnen sich
in ihr ab? Wie reversibel und flexibel können etablierte Standards sein? Im
Bereich der Wissenschaften sind Naturalisierungsdiskurse zu beobachten, in
denen Standardisierungen Unhinterfragbarkeit begründen.8 Wie stabil sind
diese Naturalisierungen, und inwiefern dienen sie übergeordneten Strategien?
In welchem Verhältnis stehen unbewusst ablaufende Black-Boxing-Prozesse
zu gesteuerten Naturalisierungsbestrebungen?
Technik gilt als ‚zweite Natur‘, wenn ihre Nutzung sich so weit in das Alltagsleben integriert hat, dass sie nicht mehr als Fremdkörper wahrgenommen
wird. Diese Form der Naturalisierung wird durch ubiquitous computing, ‚intuitive‘ Interfaces und digitale Nahkörpertechnologien aktiv vorangetrieben.9
Gleichzeitig setzt man in der Technikentwicklung auf das Nachempfinden der
Natur sowie auf den Nachvollzug der intrinsischen ‚Selbst‘-Aktivität der Materie – etwa im Bereich komplexer Algorithmen oder im Feld einer interdisziplinär agierenden Geistes- und Materialwissenschaft.10
Ein anderer Bereich, in dem Standardisierungen und Naturalisierungen eine
maßgebliche Rolle spielen, ist zweifelsohne der (menschliche) Körper.11 Wie
kommt es zur Etablierung von Körperstandards – beispielsweise in der wissenschaftlichen wie alltagspraktischen Konstruktion von Geschlecht, etwa in
der Medizin? Inwiefern fließen standardisierende und naturalisierende Momente in das Management des Körpers und des Selbst mit ein? An welche
hegemonialen Diskurse sind die Körper in der Gegenwart rückgebunden?
Inwiefern bedingt die durchgreifende Digitalisierung von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft eine Revision der Kategorien Leben, Körper und Natur?
Teils bezugnehmend auf diesen Fragenkatalog, teils anhand eigener Beobach8
9
10
11
Vgl. Tom Knight, Idempotent Vector Design for Standard Assembly of Biobricks, Cambridge,
MA, 2003. Zu den Prozesslogiken der synthetischen Biologie im Allgemeinen und den Herstellungsverfahren mit molekularen Standardbauteilen im Speziellen, den sogenannten Biobricks, siehe: Martin Müller „Zoë als Téchne. Zum Paradox möglicher Menschen in der synthetischen Biologie“, in: Antonio Lucci/Thomas Skowronek (Hg.), Potential regieren. Zur
Genealogie des möglichen Menschen, Paderborn, 2018, S. 239-252.
Timo Kaerlein, Smartphones als digitale Nahkörpertechnologien. Zur Kybernetisierung des
Alltags, Bielefeld, 2018, S. 35-96.
Horst Bredekamp/Wolfgang Schäffner (Hg.), Haare hören – Strukturen wissen – Räume
agieren. Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung, Bielefeld, 2015.
Hannelore Bublitz, Das Archiv des Körpers. Konstruktionsapparate, Materialitäten und
Phantasmen, Bielefeld, 2019, S. 129-187.
12
MARTIN MÜLLER
tungen und Fragestellungen, haben sich die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes auf sehr originäre Weise mit den historischen, theoretischen,
technischen und ethischen Dimensionen von Standardisierung und Naturalisierung auseinandergesetzt. Im Zuge dessen sind vierzehn Texte entstanden,
die nun im Einzelnen und in gebührender Ausführlichkeit vorgestellt werden.
I.
Der erste Teil des Bandes versammelt sechs Beiträge aus verschiedenen Disziplinen – der Medien- und Kulturwissenschaft, der Wissenschaftsgeschichte,
der Linguistik und der Informatik – zu Fragen nach den Automatismen der
Standardisierung mit einer Fokussierung auf die Genese von Metriken, Prozesse der Formbildung und die Entstehung von Schemata.
Florian Sprengers Text zur Geschichte des Begriffs „Standard“ bildet den
Auftakt des Bandes. Entlang einer begriffsgeschichtlichen Denkbewegung
verbindet der Autor den Begriff des „Standards“ mit dem der mittelalterlichen
Standarten, um sich auf die englischen Schlachtfelder jenes battle of standards ins Jahr 1138 in die Nähe von Yorkshire zu begeben. Das kriegs- und
medientechnische Novum dieser Schlacht bildet der Einsatz eines auf einem
Wagen befestigten Schiffsmastes, standard genannt, der hier zum ersten Mal
unter diesem Namen ins Schlachtgetümmel geführt wurde. Die beweglichen standards hatten die Aufgabe, die Ordnung des Heeres aufrechtzuerhalten, den Kriegern Mut zuzusprechen, die Insignien des englischen Königs
jederzeit sichtbar zu machen sowie den Feldherren mit dem Schlachtgeschehen auf dem Feld zu vernetzen. Die Konstellation aus Standarten und Masten
etablierte eine mittelalterliche Kulturtechnik, welche nun zum operativen
Zentrum des Schlachtgeschehens wurde. Dieses immer sichtbare Zentrum
sollte eine neue Ebene der Taktiken und Effekte der Kontingenzreduktion
ermöglichen.
Anna Echterhölter widmet sich einer Problematisierung des Metroklasmus
als eine spezifische Machttechnologie der Kolonialisierung. Die Autorin analysiert die Standardisierungseffekte in der von Preußen annektierten Inselregion ‚Deutsch-Neuguinea‘, in welcher mit dem metrischen System eines der
hegemonialen Instrumetarien kolonialer Macht selbst fehlte: Zwar verfügte die
Region über eine große Vielzahl an ökonomischen Institutionen mit ihren
diversen Teil- und Zeremonialwährungen, es gab jedoch keine eigene Währung, keine Schrift, kein kodifiziertes Recht und keine einheitlichen Gewichte
und Maße. In einer kultur- und wissensgeschichtlichen Auseinandersetzung
mit den Finanzpolitiken der Kolonisatoren im Verhältnis zu den indigenen,
teils animistischen Tausch- und Bezahlsystemen nimmt Anna Echterhölter die
sogenannte „Black Box westlicher monetärer Standards“ in den Blick, um die
unsichtbaren Automatismen der Wahrnehmungsroutinen des Globalen Nordens offenzulegen.
EINLEITUNG
13
Stefan Rieger beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Automatismen der
Formerzeugung als ein Zusammenwirken von Persistenz und Transformationen. Oder als Frage gewendet: Wie lassen sich Konstanz und Persistenzen
überhaupt denken, die es erlauben, Transformationen, also Veränderungen
jedweder Art, an Bildern als solche überhaupt wahrzunehmen? Mit Referenz
zum Spiel von der Stillen Post geht es dem Autor dabei um ein Modell für die
Beschreibung von Prozessen der Transformation, das Momente von Intentionalität und Gesteuertheit, die bewusste Planung und Kontrolle gezielt außer
Kraft setzt. Dieser Fragekomplex wird anhand von fünf Fallgeschichten aus
der Sprachwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Neurologie, der Wissenschaftsgeschichte und der zeitgenössischen Neurowissenschaft verhandelt.
Vor dem Hintergrund von Aby Warburgs Bildatlas werden die Befunde aus
den Fallstudien auf ihre kulturtheoretische Bedeutung hin befragt. Mit Warburg skizziert Stefan Rieger eine Kulturtheorie, die Konstanz und Veränderung von Formen auf ein übergreifendes Gedächtnismodell zurückzuführen
vermag. In den Fokus rücken dabei die Experimentalanordnungen, welche
erklären, wie kulturelle Formüberlieferung funktioniert. In dieser Konstellation firmieren die beteiligten Wissenschaften und ihre Experimentalanordnungen nicht als Beiwerk zur Kulturtheorie, sondern als ihr Fundament.
Susanne Janys Text über die Fabrikation des Betriebsunfalls um 1900 ist
ein wichtiger Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Architekturforschung. Als
prägendes Element der europäischen Hochindustrialisierung gilt der technische Unfall, der seine spezifische Ereignishaftigkeit im Verkehrsunfall oder
der Dampfkesselexplosion offenbart. Mit dem Betriebsunfall in der Industrie
taucht jedoch ein neuer Ereignistypus auf, dessen Spezifikum darin liegt, dass
er nicht allein auf technische Fehler, menschliches Versagen oder eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückgeführt werden kann. Er erscheint vielmehr als ein betrieblicher Komplex, der sich aus Arbeitsabläufen, Menschen,
Maschinen und Architekturen zusammensetzt. Ab den 1890er Jahren tritt der
Betriebsunfall als Störung und in Differenz zum Normalbetrieb immer deutlicher in Erscheinung. In den Betriebsvorschriften, Unfallversicherungsgesetzen
und Sicherheitsarchitekturen sind Strategien wirksam, die darauf zielen, das
betriebliche Dispositiv von innen heraus abzusichern. Aus Janys infrastruktureller Analyseperspektive wird deutlich: Der Betriebsunfall ist zugleich Normalisierungseffekt und Normalisierungsinstrument.
Nicole M. Wilks Text mit dem Titel „Das ist kein neuer Kalter Krieg“ exploriert den Zusammenhang von Metadiskurs und Standardbildung aus diskurslinguistischer Perspektive. Standardbildung tritt einmal als Folge einer
Verfestigung sprachlicher Muster und einmal als Ergebnis von Entautomatisierung in Prozessen normreflektierender und normbildender Sprachaufmerksamkeit in Erscheinung. Mittels eines framesemantischen Fallbeispiels werden
Standardisierungsprozesse aus korpuslinguistischer Sicht analysiert. Wilk
zeigt, wie anhand der Schema-Aktualisierung (Kalter Krieg) im Diskurs zur
russischen Krim-Annexion die Herausbildung re-standardisierter Werte und
14
MARTIN MÜLLER
ihre naturalisierenden Effekte als Teil einer semantischen Transformation in
Diskursen beschreibbar werden. Auf theoretischer Ebene stellt sich die Frage,
wie (Be-)Deutung im Diskurs entsteht und wie spezifische Elemente des impliziten Wissens als Katalysatoren soziopolitischer Deutungsmuster fungieren,
und inwiefern sich die besagten Elemente an andere diskursrelevante Frames,
Topoi und Metaphern anschließen.
Roland Bless widmet sich den Aushandlungsprozessen der Standardisierung im Internet aus der Perspektive der Informatik und geht dabei der Frage
nach, wer das Internet der Zukunft gestaltet. Bless zeigt, dass der 1986 gegründeten Internet Engineering Task Force (IETF) eine tragende Rolle in
dieser Frage zukommt. Die Organisation ist verantwortlich für die technologische Weiterentwicklung im Internet und die offene Standardisierung der heutigen Internetprotokolle. Ausgehend von der Leitformel „Rough consensus
and running code“ produziert die Task Force Protokolle, die in fundamentaler
Weise beeinflussen sollen, wie das Internet entworfen, benutzt und verwaltet
wird. Kurzum: Das erklärte Ziel der Organisation ist es, das Internet ‚besser‘
zu machen. Bless argumentiert: Obwohl die IETF sich vornehmlich auf technische Aspekte konzentriert, muss sie realisieren, dass ihre Arbeit zugleich
auch immer eine politische Wirkung zeitigt – etwa in Hinblick auf Fragen zu
Privatsphäre und Menschenrechten.
II.
Der zweite Teil des Buches versammelt sechs Beiträge aus dem Feld der Medien- und Kulturwissenschaft, der Wissenschaftsgeschichte, der medizinischen
Ethik und der Gestaltungstheorie. Ausgehend von der Trias Leben, Körper,
Praktiken werden hier – mal historisch-kritisch, dann wieder theoretisch – die
Effekte der Naturalisierung in den Blick genommen.
Antonio Luccis und Thomas Machos Beitrag mit dem Titel „Vivete Sani e
Amatemi“ fragt nach den biopolitischen Implikationen und Unheimlichkeiten
im Werk des italienischen Neuro-, Physio- und Ethnologen Paolo Mantegazza
(1831-1910). Die kulturgeschichtliche Studie beschreibt das polyvalente
Schaffen und das umfangreiche Œuvre Mantegazzas, der heute unter anderem
für die erste Extraktion des Alkaloid Kokain aus dem Kokosblatt im Jahr 1859
und für seine zahlreichen Selbstexperimente mit verschiedenen Drogen bekannt ist. Lucci und Macho geht es jedoch um die Extrapolation und die Problematisierung einer bisher wenig beachteten Seite jenes ‚liebenswürdigen
Epikureer und Drogenkenners‘: Denn sowohl seine belletristischen und populärwissenschaftlichen als auch seine wissenschaftlichen Schriften weisen Mantegazza vielmehr als eine höchst umtriebige und ebenfalls streitbare Figuration
der Biopolitik im modernen Italien und Europa aus. Seine populärwissenschaftliche Aufklärungstätigkeit, so zeigen die Autoren, war geradezu getrieben von einem Willen zur medizinisch-hygienischen Standardisierung, der
EINLEITUNG
15
sehr deutlich in seinen Plädoyers für die Durchsetzung einer naturalisierenden
Staats-Hygienik und einer strengen Eugenik zum Ausdruck kam.
Anne Schreiber geht in ihrem Aufsatz mit dem Titel „Standards for Group
Action“ dem komplexen Zusammenspiel von Biochemie, Sozialtheorie und
Wissenschaftsgeschichte in den Anfängen des US-amerikanischen Managementdenkens um 1920 nach. Der US-Biochemiker Lawrence Joseph Henderson und der Industriepsychologe Elton Mayo waren herausragende Akteure in
dieser historischen Konstellation. Im Jahr 1927 gründete Henderson das Harvard Fatigue Laboratory, wo er sich der Untersuchung der Faktoren körperlicher Ermüdung in Arbeitssituationen widmete. Zur selben Zeit leitete Mayo
die berühmten Hawthorne-Experimente, eine Untersuchungsreihe in den
Werkstätten des Telekommunikationsunternehmens AT&T in Chicago. Die
Verhaltensexperimente bildeten den Auftakt der sogenannten Human-Relations-Schule als einen neuen Diskurs des modernen Managements, das nun –
als Reaktion auf die in dieser Zeit einsetzende Kritik an den Arbeitsbedingungen und dem Erstarken von Gewerkschaften – im Zeichen einer Humanisierung der Arbeit stand. An die Stelle von Top-down-Methoden trat nun ein
horizontaler und netzwerkartiger Typus der Organisation, der auf wechselseitiger Abstimmung zwischen dem Management und den Mitarbeiter_innen
beruhte. Infolge dessen, so zeigt Anne Schreiber, wurden die Techniken der
Disziplinierung der Körper immer häufiger überlagert durch die gouvernementalen Techniken der kooperativen Organisation und den Praktiken der
Selbst- und Fremdreflexion. Dem Management ging es nun nicht mehr um die
Standardisierung der Bewegungsabläufe der Körper, sondern um die Kommunikationsweisen und damit letztlich die Regulierung und Kontrolle der Beziehungen in sozialen Netzwerken. All dies markiert den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, in der Wissenselemente der Chemie, der
Biologie und der Sozialtheorie ein neues, aber nicht weniger ambivalentes
Wechselverhältnis eingehen und hierin auch ein Vorspiel gegenwärtiger Erscheinungen des Ökonomischen darstellen, wie etwa der des „Plattformkapitalismus“.
Laura Moisi beschäftigt sich mit den kulturwissenschaftlichen und geschlechtertheoretischen Implikationen der Frankfurter Küche (1926) – als
einem mustergültigen Ort des Standardisierungsdenkens in der Moderne. Der
nach rationalistischen Maßstäben gestaltete Küchenraum, so zeigt die Autorin,
wurde zum kulturellen Ort spezifischer Imaginationen von Geschlecht und
Effizienz, von Instruktion und Verausgabung, welche den Diskurs der Haushaltsführung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fundamentaler Weise prägten.
Nach den Vorstellungen ihrer Erfinderin, der Architektin Margarete SchütteLihotzki, sollte die moderne Küche nichts anderes sein als ein fabrikartiges
Laboratorium. Die Standardisierungsprozesse, aus denen der neue Küchentypus hervorgeht, implizieren spannungsreiche Verflechtungen zwischen Abstraktion und Verkörperung, Technik und Naturalisierung. Kurzum: Hausarbeit
wurde den Dispositiven der Leistungssteigerung unterworfen, wie man sie aus
16
MARTIN MÜLLER
Fabriken und Betrieben kannte. Die Frankfurter Küche erscheint aus historisch-kritischer Perspektive als ein konkreter Ort zur Produktion normierter
Weiblichkeit.
Tobias Eichinger widmet sich in seinem Beitrag der Denkfigur der authentischen Amputation aus der Perspektive der medizinischen Ethik, um daran
den Umgang mit extremen Patientenwünschen zwischen persönlicher Integrität und körperlicher Normalität zu problematisieren. In einem traditionellen
Sinne war und ist das ärztliche Ethos vornehmlich auf therapeutische Ziele
bezogen. In diesem Paradigma ist die medizinische Praxis in erster Linie eine
kurative, präventive, palliative und rehabilitative Tätigkeit. Doch heute werden zunehmend Techniken und Praktiken nachgefragt, die eher in das Register
der Optimierung, des Enhancement, der Verbesserung und der Gestaltung des
eigenen Selbst mit medizinischen Mitteln fallen. Im Zuge dessen wird Medizin immer stärker als wunscherfüllende Medizin verstanden und betrieben. Die
Beispiele sind zahlreich und verschieden: von Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin über operative Eingriffe mittels plastischer Chirurgie bis hin
zu neurostimulierenden Interventionen. Während die ethischen Ambivalenzen
der wunscherfüllenden Medizin umfangreich diskutiert wurden, exploriert
Eichinger nun ein neues Forschungsfeld, das er mit dem Begriff der extremen
wunscherfüllenden Medizin kennzeichnet. Beispiele dafür, so wird gezeigt,
sind Wünsche nach Amputationen physiologisch gesunder Gliedmaßen, welche auf sogenannte Körper-Integritäts-Identitäts-Störungen (BIID) zurückgehen. Die Betroffenen empfinden dabei bestimmte Körperteile – meist eine
Extremität – als nicht zu ihrem eigenen Körper gehörig. Eichinger zufolge
wird das Leiden am unerfüllten Amputationswunsch dann im Einzelfall als
schwerwiegender erlebt und eingestuft, als das Leiden an der gewünschten
körperlichen Beeinträchtigung nach der Amputation. So gesehen bedeuten
solch extreme, und doch ethisch legitimierbare Wünsche der BIID-Betroffenen nicht nur eine weitere Verunsicherung des traditionellen ärztlichen Ethos
und seiner normativen Kopplung von Gesundheit und Krankheit; der Wunsch
lässt sich auch als eine Aufforderung zur Reflexion herkömmlicher Standards
von körperlicher Natürlichkeit im Zeichen einer vermeintlich medizinischen
Objektivität interpretieren.
Patricia Ribaults theoretischer Text mit dem Titel „Körper bei der Arbeit.
Geste, Norm und Technik“ beschäftigt sich mit der Denkfigur des ‚offenen‘,
technisch gegliederten und verfassten Körper, der uns auch unter der Chiffre
des ‚Technokörpers‘ begegnet. Hier ist jedoch nicht der durch (Bio-)Ingenieure ersonnene und hergestellte Körper gemeint. Der Text liest sich vielmehr
als eine doppelte Absage, zum einen an ideelle Standardisierungsstrategien
und zum anderen an Natürlichkeitsvorstellungen eines der Technik vorgeordneten Körpers. Ribaults Überlegungen zum Körper nehmen vielmehr Ausgang
von Gilbert Simondons Beschreibungen jener vorindustriellen „déformations
professionelles“ der Handwerker. An dieser Denkbewegung zeigt die Autorin
die reziproke Formung von Arbeit und Körper, Praktiken und Material. So
EINLEITUNG
17
produzieren Menschen nicht nur Artefakte durch Werkzeuge und Techniken.
Letztere formen, de-formieren, kon-figurieren den arbeitenden Körper unablässig. Die Technik wird dabei als Mittel des pouvoir ins Auge gefasst. Im
Hinblick auf den Doppelsinn von Technik – als Handlung und Herrschaft,
aber auch als Potenzial – lässt sich fragen: Was kann die Technik? Und in
welchem Verhältnis zum Vermögen der Technik steht die materielle, formgebende Arbeit und der Eigensinn der Materie und des Materials? Mit Verweis
auf Jean-Luc Nancys Philosophie der „Ökotechnie der Körper“ verweist Patricia Ribault auf die Rolle des Berührens. Erst im Vollzug des Berührens entstehen jene Technizität und Formbarkeit, die unsere Lage als Menschen ‚ohne
Eigenschaften‘ bestimmt. Dankenswerterweise wurde der Text von Peter Geble aus dem Französischen übertragen. Peter Geble ist bekannt für seine Übersetzungen von u. a. Michel Foucault, Roland Barthes, Gilles Deleuze und
zuletzt Roger Caillios.
Martin Müllers Beitrag geht den neusten Entwicklungen im Feld der Biotechnologien nach und fragt nach den wissensgeschichtlichen und biopolitischen Implikationen der synthetischen Biologie und der neuen GenomEditierungstechnologie CRISPR. Stand das Humangenomprojekt noch unter
der Zielsetzung einer Enträtselung des genetischen Codes, den es im Medium
der Schrift zu ‚lesen‘ galt, so ist heute aus dieser codebasierten Epistemologie
eine molekulare Ingenieurswissenschaft geworden, die darauf zielt, den vermeintlich universalen Code allen Lebens radikal ‚umzuschreiben‘. Neben der
Neu-Konstruktion biologischer Entitäten und der Re-Konstruktion bereits
ausgestorbener Arten, konzentrieren sich die synthetischen Biologen immer
stärker auf die Editierung des Humangenoms und die Manipulation der
menschlichen Keimbahn. Vor diesem Hintergrund fragt der Autor, welcher
Lebensbegriff der synthetischen Biologie zugrunde liegt, mittels dessen ein
fast uneingeschränktes Schalten und Walten auf der Ebene des Genoms möglich zu sein scheint? Ein zentraler, genealogischer Moment der synthetischen
Biologie liegt im Aufkommen des kybernetischen und vermeintlich universellen Lebensbegriffs, welcher in Erwin Schrödingers Spekulationen zur Frage
„What is Life?“ im Jahr 1943 – eine Urszene der heutigen Formel von der
‚Biologie als Technologie‘ – skizziert wurde. Der genetische Code war
Schrödinger zufolge „Gesetzbuch und ausübende Gewalt, Plan des Architekten und Handwerker des Baumeisters“ zugleich. Müller zeigt, dass Schrödingers Spekulationen über jenen materiellen konstitutiven Grund lebender Entitäten ganz im Zeichen des Selbsttätigen und des Autogenerativen stehen.
Indem die synthetische Biologie den αὐτός des Lebendigen zu einer Art universellem Organon erklärt, versucht sie sich an einer technowissenschaftlichen
Aneignung von Schrödingers Denkfigur. Die molekularen ‚Automatismen des
Lebendigen‘ werden zu neuen Standards, Programmen und Protokollen einer
‚Evolution in Menschenhand‘ – an die Stelle von Schrödingers Baumeister
rückt die Figur des Lebensingenieurs.
18
MARTIN MÜLLER
III.
Der letzte Abschnitt widmet sich dem Eigenleben statistischer Instrumente
und der Reduzierung des Ökologischen aus soziologischer Perspektive. Die
beiden Beiträge verstehen sich als Thesen zur Automatismen-Forschung.
Thorben Mämecke diskutiert am Beispiel von Quantified Self-Communities
spezifische Praktiken der technologiebasierten Selbst-Vermessung. Die SelbstQuantifizierung und Messung des eigenen Verhaltens lässt sich als Suche nach
biologischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten verstehen, die sich bewusster
Wahrnehmung entziehen, aber als Ergebnisse einer wiederholten Messung
vermeintlich ‚aufgedeckt‘ und beeinflusst werden können. Mämecke zufolge
stehen die heutigen Self-Tracking-Communities für eine Aktualisierung eines
positivistischen Wirklichkeitsverständnisses. In dem Moment, in dem die
statistischen Werte vermeintlich ‚aufgedeckter‘ Muster als ‚natürlich‘ erscheinen, geraten die unkontrollierbaren Eigendynamiken statistischer Instrumente
aus dem Blick.
Paul Buckermann zeigt mit seinem vergleichssoziologischen Ansatz, wie
Standardisierungsverfahren nicht einfach etwaige Ordnungen abbilden, sondern diese erst hervorbringen und wie diese dann über ihren eigenen Rahmen
hinaus Grundlage für weitere Strukturbildung sein können. Als paradigmatisches Beispiel dient ihm dabei der Ecological Footprint, für den der Maßstandard globale Hektar (gha) implementiert wurde, um auf globaler Ebene komplexe Fragen des Ressourcenverbrauchs auf einen einzelnen, messbaren Wert
zu reduzieren. Das Beispiel des ökologischen Fußabdrucks zeigt, wie eine
quasi-objektive Evidenz des quantitativen Vergleichs Grundlage für weitere
ungeplante Standardisierungen und Vergleiche werden kann, indem vergleichbare Messstandards eingerichtet werden.
Literatur
Académie des sciences, Rapport sur le choix d'uneunité de mesure, Paris, 1791.
Bowker, Geoffrey C./Star, Susan Leigh, Sorting Things Out. Classification and Its
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EINLEITUNG
19
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AUTOMATISMEN DER STANDARDISIERUNG:
METRIKEN, FORMBILDUNG, SCHEMATA
FLORIAN SPRENGER
STANDARDS UND STANDARTEN
Die Geschichte der in diesem Buch verhandelten Gegenstände kann man als
Geschichte der Prozesse der Standardisierung, der Skalierung sowie der Normung schreiben und dabei die Techniken und Aushandlungsprozesse, die
Institutionen und Praktiken, die Dispositive und Netzwerke ins Zentrum stellen, welche dafür verantwortlich sind, dass wir heute in einer bis ins Detail –
und gerade in den Details – standardisierten Welt leben. Nimmt man jedoch
die Geschichte des Begriffs Standard in den Blick, stößt man auf eine Begebenheit, die zunächst äußerst unwahrscheinlich und abwegig erscheint. Geradezu verwegen mag es wirken, vom blutigen Schlachtfeld des battle of the
standard im Jahr 1138 zu den hochkomplexen Standardisierungsprozessen der
Gegenwart übergehen zu wollen. Und doch zeigt sich auf diesem Weg, allen
Diskontinuitäten zum Trotz, dass die signalgebende und versammelnde Funktion, die ein Schiffsmast im Getümmel mittelalterlicher Schlachtfelder hatte1,
von einem noch für die Gegenwart aufschlussreichen Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Ordnung und Unordnung geprägt ist: Die Aufgabe des mittelalterlichen standards war es, die Ordnung des Heeres angesichts
ihrer drohenden Auflösung aufrechtzuerhalten, den Kriegern Mut zuzusprechen und den Feldherren mit dem Geschehen auf dem Feld zu vernetzen.
Schlachtfelder
Im ungeklärten Interregnum nach dem Tod Henry I. und vielen blutigen Auseinandersetzungen steht in den frühen Morgenstunden des 22. August 1138 ein
zwölf Meter hoher Schiffsmast auf einem nebeligen Schlachtfeld in Cowton
Moor bei Northallerton in Yorkshire.2 Die englischen Truppen unter Thurstan,
dem Erzbischof von York, und seinem Stellvertreter William of Aumale haben
ihn im Kampf gegen die einmarschierten Schotten unter David I. errichtet, die
ihnen zahlenmäßig weit überlegen, aber schlechter ausgerüstet und organisiert
sind. Die Schlacht wird von den Engländern gewonnen und fortan, anders als
1
2
Zum Überblick über die Forschung zur Kriegsführung im Mittelalter vgl. Jörg Rogge, „Das
Kriegswesen im späten Mittelalter und seine Erforschung. Neuere englische und deutsche Arbeiten zu Krieg, Staat und Gesellschaft“, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 8
(2004), S. 20-33.
Zum Ort dieser Schlacht vgl. Jim Bradbury, „Battles in England and Normandy 1066-1154“,
in: Matthew Strickland (Hg.), Anglo-Norman Warfare. Studies in Late Anglo-Saxon and
Anglo-Norman Military Organisation and Warfare, Suffolk, 1992, S. 182-193: 191.
24
FLORIAN SPRENGER
sonst üblich, nicht auf den Ort des Schlachtfelds getauft, sondern battle of the
standard genannt. Darüber berichtet der Chronist Richard, Abt von Hexham,
einem Kloster in der Gegend, die von den Schotten heimgesucht wird, um 1140
in „De gestis regis Stephani et de bello standardii“:
Some of them soon erected, in the centre of a frame which they brought, the
mast of a ship, to which they gave the name of the Standard; whence those lines
of Hugh Sotevagina, archdeacon of York:
Our gallant stand by all confest,
Be this the Standard’s fight;
Where death or victory the test,
That proved the warriors’ might.3
Auf Latein lauten die letzten Zeilen weniger poetisch als in der modernen
Übersetzung durch Joseph Stephenson:
Dicitur a stando standardum, quod stetit illic,
Militiae probatis vincere sive mori.4
2.1 – Die Abbildung zeigt eine Zeichnung aus Roger Twysdens
Historiae Anglicanae Scriptores Decem von 1648, der die heute verschollene
Handschrift Richard of Hexhams veröffentlichte und die Abbildung
vermutlich von dort abzeichnete
3
4
Zit. n. der Übersetzung durch Joseph Stephenson: Richard of Hexham, „History of the Acts of
King Stephen and the Battle of the Standard“, in: Joseph Stephenson (Hg.), Contemporary
Chronicles of the Middle Ages, Felinfach, Dyfed, 1988, S. 61. Neben Hexhams Bericht gibt
es mit „Relatio de Standardo“ von Aelred of Rievaulx nur noch eine weitere Quelle, auf die
sich die folgenden Ausführungen stützen. Im Gegensatz zu Richard geht Aelred aber kaum
auf die konkrete Rolle des standard ein: Aelred of Rievaulx, „Relatio de Standardo“, in:
Richard Howlett (Hg.), Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II., and Richard I., London, 1964, S. 179-199.
Richard of Hexham, „De Gestis regis Stephani et de Bello Standardii“, in: Richard Howlett
(Hg.), Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II., and Richard I., London, 1964, S. 163.
STANDARDS UND STANDARTEN
25
Der Schiffsmast ist in die Wogen der Schlacht geraten, und so wie er auf See
bei den zu dieser Zeit üblichen einmastigen Schiffen nicht nur das Segel im
Wind hält, sondern auch Fahnen und Insignien trägt, so hilft er auch auf dem
Land dabei, das Chaos und die Wirren des blutigen Feldes in einer Zeit zu
kontrollieren, die als The Anarchy in die Geschichte eingegangen ist. König
Stephen ist zu diesem Zeitpunkt in einen zum Bürgerkrieg zu eskalieren drohenden Konflikt mit seiner Cousine Matilda verwickelt, die von ihrem 1135
verstorbenen Vater Heinrich I. zur Thronfolgerin bestimmt wurde. Dies wird
von Stephen, dem Neffen Heinrichs, nicht anerkannt. Während Stephen im
Süden des Landes gebunden ist, will der schottische König David, Onkel von
Matilda, diese Gelegenheit ausnutzen, um die von den Anglonormannen eingenommenen Gebiete zurückzuerobern. Seine Truppen überfallen die Grenzregionen, plündern die Ortschaften und planen schließlich einen großen gemeinsamen Angriff. In Abwesenheit von Stephen übernimmt auf Seiten der
Engländer mit Thurstan ein hoher Geistlicher die Befehlsgewalt über die versprengten, einander nicht immer wohlgesonnenen Truppen im Norden des
Landes und vereint die vorhandenen Ritter und Bogenschützen mit einer großen Anzahl von Bauern. Da der Erzbischof selbst zu alt ist, um auf das Feld zu
ziehen, besteht er darauf, dass statt dessen sein persönliches Kreuz und eine
Reihe von Bannern an einem Mast befestigt mit in die Schlacht geführt werden. Die Lücken des abwesenden Königs und des greisen Bischofs übernimmt
dieser standard.
An der Spitze dieses Mastes, der stets hinter der Frontlinie bleiben soll,
werden das Kreuz, ein Gefäß mit Hostien namens Phyxis sowie die Banner
von St. John of Beverly, St. Wilfrid of Ripon und von St. Peter of York befestigt. Vor allem das letztere Abzeichen, das vexillum sancti petri, gilt als wichtiges Kennzeichen für die kirchliche Billigung eines Krieges.5 Vor der
Schlacht findet im Schatten des Mastes ein kollektives Gebet statt, wird den
Kämpfern die Absolution erteilt, das Abendmahl eingenommen und ein gemeinsamer Schwur über den bedingungslosen Zusammenhalt geleistet. In
seiner Schlachtenrede unterstreicht einer der Befehlshaber namens Walter of
Espec mit markigen Worten, die Heiligen würden an der Seite der Truppen
kämpfen und selbst Christus sei unter ihnen. Schließlich wird der Mast, auf
einem Ochsenkarren stehend – von den erfahrensten Kämpfern umgeben und
von einer Schar Priestern, Ärzten und Trompetern begleitet – auf das Feld gezogen.
Mit standard ist vor allem der auf dem Wagen bewegliche, geschmückte
und weithin sichtbare Mast gemeint. Der Begriff taucht in Varianten erstmals
im Kontext der Kreuzzüge auf. Etwa von Petrus Tudebodus und Albert von
Aachen, zwei Chronisten der Kreuzzüge, wird der Begriff standarum bzw.
standart bereits einige Jahre vor Richard verwendet, um Fahnen mit Abzei5
Vgl. Carl Erdmann, „Kaiserliche und Päpstliche Fahnen im hohen Mittelalter“, in: Quellen
und Forschungen aus italienischen Archiven (1933/34), S. 1-48.
26
FLORIAN SPRENGER
chen der Herrschenden zu benennen und die Eroberer als Christen zu kennzeichnen.6 Zugleich traf man dabei auf eine reiche arabische Tradition an
Flaggen und Abzeichen, die sicherlich die Vielfalt der europäischen Heraldik
beeinflusst hat.7 Lanzen mit Fahnen, welche im Gegensatz zu Bannern lang
und spitz zulaufend sind, werden erst im 14. Jahrhundert als standard oder
Standarte bezeichnet8, ebenso wie später direkt auf dem Kirchenboden stehende große Kerzen oder die aufragenden Reste von Baumstümpfen nach dem
Fällen.9 Wer der Schlacht von 1138 ihren Namen gegeben hat, lässt sich nicht
mehr feststellen. Doch ist der neue Begriff standard bzw. standardum seit
Richards Text in der lateinischen und der englischen Sprache verbreitet. Im
anonymen und undatierten, aber aus der gleichen Zeit stammenden „Brevis
relatio de origine Willelmi Conquestoris“, einem kurzen Lebensbericht über
die ersten Jahre unter William the Conqueror, fällt der Begriff in einer anderen
Schreibweise und zeigt, dass diese Kulturtechnik von Nordfrankreich aus nach
England gebracht wurde: „Heraldi standarium ibi videbat“.10
Fällt der fortan in den meisten Kriegen der nächsten beiden Jahrhunderte
eingesetzte standard, ist die Schlacht verloren. Sein Untergang ist nahezu unwiderruflich das Ende der Auseinandersetzung. Ihn zu erobern ist größter
Triumph für die Sieger und größte Schmach für die Unterlegenen. Die Fahnen
und Insignien freiwillig zu senken ist ein Zeichen für die Kapitulation und
geschieht entsprechend selten. Dem standard gilt daher die Aufmerksamkeit
aller: Er ist Indikator für den Verlauf der Schlacht, Ziel und Orientierungspunkt, Beute und Schutz, gesucht und gefürchtet, ein Ort der Versammlung,
der Kommunikation, der Kommunion und des Kommandos. Er ermöglicht, in
anderen Worten, als operatives Zentrum der Schlacht eine neue Ebene der
6
7
8
9
10
Tudeborus schreibt: „Unus autem nostrorum accepit standarum Ammiravisi, desuper quod
erat pomum aureum, hast vero tota cooperta argento.“ Zit. n. Charles Fresne Du Cange, Glossarium Ad Scriptores Mediae et Infimae Latinitatis, Frankfurt/M., 1710, S. 1043. Ein weiterer
früher Beleg aus diesem Kontext findet sich im Chronicon Hierosolymitanum von Albert von
Aachen: „Longissima hasta argento operta per totum, quod vocant standart, et quod signum
regis Babyloniae exercitui preferebatur et circa quod precipua virtus densabatur capta est.“
Zit. n. Herbert Meyer, „Sturmfahne und Standarte“, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für
Rechtsgeschichte, 51 (1931), S. 204-257.
So Phyllis Ackerman, „Standards, Banners and Badges“, in: Arthur Upham Pope/Phyllis
Ackerman (Hg.), A Survey of Persian Art from Prehistoric Times to the Present, London,
1938, S. 2766-2782.
Vgl. Malte Prietzel, Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen,
Bd. 32, Paderborn, 2006, S. 199.
Artikel „standard“, auf: OED Online, online unter: http://www.oed.com/view/Entry/188962,
zuletzt aufgerufen 12.12.2018. Der Artikel „standard“ im Oxford English Dictionary listet
viele verschiedene Verwendungen auf und dient zahlreichen anderen Wörterbüchern als Vorlage, ist aber historisch ungenau, wie Frankwalt Möhren herausgestellt hat: Als erste Nennung von „standard“ im modernen Sinn gibt das OED 1450 statt 1274 an. Vgl. ders., „Englisch standard. Ein Beispiel französisch-englischer Wort- und Sachgeschichte“, in: Wolfgang
Dahmen (Hg.), Englisch und Romanisch, Tübingen, 2005, S. 53-75.
Anonym, „Brevis relatio de origine Willelmi Conquestoris“, in: I. A. Giles (Hg.), Scriptores
Rerum Gestarum Willelmi Conquestoris, London, 1845, S. 1-21: 7.
STANDARDS UND STANDARTEN
27
Taktik, die, wenn man dem Bericht Richards Glauben schenken darf, allein
durch ihre Einführung Einfluss auf den Verlauf der Auseinandersetzung gehabt hat. Auch wenn Angaben über die genauere Verwendung in den Quellen
spärlich sind und daher vieles Spekulation bleiben muss, kann man den standard doch als wichtiges Element in die Geschichte dessen einordnen, was
Martin van Crefeldt C³ genannt hat: Command, Control und Communications.11
Warum diese in anderer Form bereits von den Römern verwendete Kulturtechnik um das Jahr 1100 im Norden wieder auflebt, wie sie als ars militaris
den Weg nach England gefunden hat und ob sie für den Sieg in der Schlacht
mit – will man den sicherlich übertreibenden Quellen glauben – mehr als
10.000 Toten tatsächlich so hilfreich war, wie es Richards auf die damals übliche Weise idealisierender Bericht darlegt, kann nicht mehr mit Bestimmtheit
gesagt werden. Doch die Schlacht firmiert nunmehr unter dem Titel des standard. Der battle of the standard prägt mithin in maßgeblicher Weise einen
Begriff für das Englische, der in der Folge im Zuge einer Bedeutungsverschiebung in alle europäischen Sprachen wandert, im 20. Jahrhundert bis ins
Japanische übergreift und von einer überaus verwinkelten, aber sehr aufschlussreichen Geschichte geprägt ist.
Dieser Geschichte zu folgen, den standard als mittelalterliche Kulturtechnik zu begreifen und zugleich dem Übergang zum heutigen, in diesem Band
verhandelten Verständnis von Standards nachzuspüren, kann dabei helfen,
einige neue Gesichtspunkte in die gegenwärtigen Debatten um Standards sowie Standardisierungen einzubringen und sie zugleich historisch zu erden.
Während angesichts der enormen Breite der in den jüngsten Veröffentlichungen unter dem Titel „Standard“ zusammengefassten Phänomene nur Fallstudien weiterzuhelfen scheinen und analytische Definitionsversuche zumeist
unbefriedigend geblieben sind, soll an dieser Stelle die in der Literatur zwar
gelegentlich angesprochene, aber bislang nicht ausführlicher diskutierte Geschichte des battle of the standard ins Zentrum gerückt werden. Eine eingehende etymologische oder quellenkundliche Untersuchung kann und muss
angesichts der einschlägigen Literatur und der schwierigen Quellenlage nicht
geleistet werden.12 Meine Überlegungen sind daher in drei Abschnitte unterteilt: in Kulturtechniken des standard, in Begriffsgeschichte von standard zu
Standard sowie in einige Bemerkungen zu Standards und Standardisierungen.
Die Entwicklung von Standardisierungen seit dem 19. Jahrhundert ist gut
bekannt und aus verschiedenen Perspektiven etwa anhand der Etablierung des
11
12
Vgl. Martin van Creveld, Command in War, Cambridge, 1985.
Wichtige Vorarbeiten wurden bereits veröffentlicht: Möhren (2005), Englisch standard; Ernst
Voltmer, „Standart, Carroccio, Fahnenwagen. Zur Funktion der Feld- und Herrschaftszeichen
mittelalterlicher Städte am Beispiel der Schlacht von Worringen 1288“, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte (1988), S. 187-209 sowie Ernst Voltmer, Il carroccio, Torino, 1994.
Auf die Bedeutung dieser Geschichte für die Standardisierung geht die Literatur allerdings
nicht ein.
28
FLORIAN SPRENGER
Meters, des Ohms und der Standardzeit beschrieben worden.13 Doch scheint –
bei aller Konzentration auf Praktiken der Standardisierung, die dafür nötigen
Netzwerke und ihre Rolle in technischen Prozessen – ein Schritt zurück sinnvoll, um einen Blick auf die Anfänge des Begriffs zu werfen. Bislang wurden
Standards als transversales Phänomen, das quer durch verschiedenste Gebiete
verläuft und Technik, Politik, Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Arbeit und
Kultur gleichermaßen betrifft14, fast ausschließlich als Errungenschaft der einsetzenden Rationalisierung von Arbeitsprozessen, der Verwissenschaftlichung
von Ingenieurstätigkeiten sowie in ihrer Bedeutung für die Datenverarbeitung
beschrieben. Letztere kann neben der Logistik als Anlass für den Aufschwung
des Interesses an Standards in den 1990er Jahren gelten, denn in digitalen
Netzwerken sind diese von grundlegender Bedeutung für die Distribution von
Daten und die Kompatibilität von Hardware. Der historische Ort der Frage, die
dieser Sammelband stellt, scheint daher recht eindeutig bestimmbar. Die Begriffsgeschichte lässt jedoch erahnen, dass einige Charakteristika von Standards durchaus mit der Vergangenheit des battle of the standard in Verbindung
gebracht werden können. Denn der standard von Northallerton ist zugleich
Orientierungs- wie Ausgangspunkt, er verleiht symbolische wie operative
Macht durch Sichtbarkeit und Kontingenzminimierung, er sammelt Symbole,
Insignien sowie Reliquien und fügt sie zu einer neuen Ordnung zusammen, er
erlangt gleichsam nomothetische Kraft im Spiel der Akteure, und da diese
Funktionen sich auf heutige Standards übertragen lassen, lohnt sich – trotz der
Gefahr von Diskontinuitäten überspringenden Analogisierungen – die Reise
zurück auf das Schlachtfeld von Northallerton auch für die gegenwärtige Beschäftigung mit Standards und Normen, über die Friedrich Kittler einst schrieb:
„Die ungeschriebene Geschichte technischer Normen ist demnach eine Kriegsgeschichte.“15
13
14
15
Vgl. Janet Abbate/Amy Slaton, „The Hidden Lives of Standards. Prescriptions and Transformations of Work in America“, in: Michael Thad Allen/Gabrielle Hecht (Hg.), Technologies of
Power, Cambridge, 2001, S. 95-143; Bruce Hunt, „The Ohm is Where the Art Is. British Telegraph Engineers and the Development of Electrical Standards“, in: Osiris, 9 (1994), S. 48-63;
Martha Lampland/Susan Leigh Star, The Hidden Life of Standards. How Quantifying, Classifying, and Formalizing Practices Shape Everyday Life, Ithaca, NY, 2009; Benjamin Singer,
„Towards a Sociology of Standards. Problems of a Criterial Society“, in: The Canadian Journal of Sociology, 21 (2006), S. 203-221; Stefan Timmermanns/Steven Epstein, „A World of
Standards but Not a Standard World. Toward a Sociology of Standards and Standardization“,
in: Annual Review of Sociology, 36 (2010), S. 69-89; Aashish Velkar, „Transactions, Standardisation and Competition. Establishing Uniform Sizes in the British Wire Industry c.1880“, in:
Business History, 51 (2009), S. 222-247.
Vgl. zur Übersicht Andrew Russell, „Standardization in History. A Review Essay with an Eye
to the Future“, in: Sherry Bolin (Hg.), The Standards Edge. Future Generation, Ann Arbor,
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Friedrich Kittler, „Gleichschaltungen. Über Normen und Standards der elektronischen Kommunikation“, in: Klaus Peter Dencker (Hg.), Interface. Elektronische Medien und künstlerische
Kreativität, Hamburg, 1992, S. 175-183: 175.
STANDARDS UND STANDARTEN
29
Signum, carroccio und standard
Wie neben Richard auch der Mönch Aelred of Rievaulx aus einem in der Nähe
von Northallerton gelegenen, einige Jahre vor der Schlacht von erwähntem
Walter of Espec gegründeten Zisterzienserkloster in seinem Text „Relatio de
Standardo“ um 1150 berichtet, ist das Vorbild dieser Kriegstechnik der italienische carroccio (wörtlich: großer Wagen), der zu diesem Zeitpunkt seit gut
100 Jahren verwendet wird.16 Zunächst in den römisch oder byzantinisch geprägten Ländern, später dann auch im Norden, ersetzt diese Art der Schlachtorganisation durch beflaggte Masten auf Karren Reiter, die an Lanzen befestigte,
aber nur schwer aus der Ferne sichtbare Fahnen trugen. Aufgrund seines Gewichts ist der Mast zwar fixiert, aber durch den Wagen doch beweglich.
In der Lombardei wurden Masten auf mit Heiligenfiguren bemalten Ochsenkarren nachweislich schon seit 1039 in der Kriegsführung zur Präsentation
von Flaggen und zur Organisation der Truppen verwendet. Noch heute kommen carroccios mit ihrer gemeinschaftsstiftenden Funktion in Teilen Italiens
bei festlichen Umzügen zum Einsatz.17 Sie stärkten, wie der Mittelalterhistoriker Ernst Voltmer gezeigt hat, die politische Organisation der zahlreichen
untereinander verfeindeten Stadtstaaten und lieferten ihnen zugleich ein Mittel
der Integration und der Identifikation.18 Da die Heere der Kommunen größtenteils aus schlecht ausgebildeten Fußtruppen bestanden, war deren Organisation
von besonderer Bedeutung. Carroccios regelten, so könnte man sagen, ihr
gegenseitiges Begehren, indem sie ihm Zeichen und Zentrum gaben. Den
Mast transportierte man in waagerechter Lage zum Schlachtfeld, um ihn erst
dort aufzurichten.19 Ihn begleiteten Trompeter, die mit ihren Signalen die
Truppen leiten sollten, sowie Notare, deren Aufgabe darin bestand, Befehle
aufzuschreiben und Notizen über den Verlauf der Schlacht zu machen. Priester
segneten vor der Schlacht vom Wagen aus die Truppen, versorgten in seinem
Schutz Verwundete und erteilten Sterbenden die Absolution. Oft waren am
Mast Glocken befestigt, welche die Heeresbewegungen akustisch leiten sollten.
Über all dies wird in England jedoch 1138 noch nicht berichtet. Aelreds Text,
der zu den wenigen zeitgenössischen Zeugnissen für die Grausamkeit einer
Schlacht zählt20 und neben Richards Werk die einzige Quelle für die frühe Geschichte des standard ist, erzählt von seiner ersten Verwendung auf englischem
16
17
18
19
20
Vgl. of Rievaulx (1964), Relatio de Standardo.
Vgl. Voltmer (1988), Standart, Carroccio, Fahnenwagen, S. 227.
Ebd.
Vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. Zweiter Band, Leipzig,
1889, S. 231.
Vgl. John Bliese, „Aelred of Rievaulx’s Rhetoric and Morale at the Battle of the Standard,
1138“, in: Albion: A Quarterly Journal Concerned with British Studies, 20 (1988), S. 543556. Berichtet wird durch von Pfeile durchbohrten Körpern, erbeuteten Köpfen und zerschmetterten Gesichtern.
30
FLORIAN SPRENGER
Boden und der sicherlich größten Schlacht, in der ein solcher Wagen jemals
eingesetzt wurde. Von diesem Zeitpunkt an ist er im 12. und 13. Jahrhundert
verbreitet, verschwindet jedoch im folgenden Jahrhundert weitgehend, wohl aufgrund der schwierigen Manövrierbarkeit der Wagen und Veränderungen der
Taktik.21 Der standard sorgt für eine Ausdifferenzierung der Aufgaben auf dem
Schlachtfeld, welche die im frühen Mittelalter eher chaotisch organisierten
Truppen im Laufe der Zeit zu professionalisieren hilft.
2.2 – Agostino Carracci, Stecher, nach Antonio Campi, Zeichner –
Der Carroccio von Cremona wird in die Schlacht geführt, 1585
Vermutlich werden bereits 1086 in der Schlacht von Pleichfeld in Sachsen22,
sicher aber seit Anfang des 13. Jahrhunderts carroccios auch in Deutschland
21
22
Vgl. Voltmer (1988), Standart, Carroccio, Fahnenwagen, S. 199.
Vgl. Meyer (1931), Sturmfahne und Standarte, S. 246. Der Text Meyers, im August 1931
veröffentlicht, ist trotz seiner guten Quellenangaben allerdings mit Vorsicht zu rezipieren,
will der Autor doch ganz explizit möglichst alle Entwicklungen von Fahnen auf deutsche Ursprünge zurückführen.
STANDARDS UND STANDARTEN
31
verwendet und kurze Zeit später als standhart bezeichnet.23 Im 14. Jahrhundert, als standards im englischen Sinne nahezu verschwunden sind, versteht
man unter Standarten bereits etwas anderes: Lanzen, die mit Bannern und
Wappen geschmückt waren und die keinesfalls als Waffen verwendet werden
durften.24 Trotz des begrifflichen Übergangs ist der standard keine solche
Standarte und sollte von ihr unterschieden werden, weil sonst die Gefahr besteht, seine kulturtechnische Funktion zu übersehen. Die Verwendung von
carroccios und standards ist somit durchaus eine historische Episode geblieben, weil, so die These, seine Funktionen mit der zunehmenden Professionalisierung des Kriegswesens seit dem 14. Jahrhundert auf andere Weise erfüllt
werden konnten.
Die Kulturtechnik des standard ist selbstredend älter als der neue Begriff.
Man schließt in Italien mit diesem überaus zeremoniell genutzten, mobilen
Kriegsaltar an die für einige Jahrhunderte vergessene Tradition der römischen
signa oder vexilla an, Feldzeichen auf Stoff, die an Lanzen oder Speeren befestigt waren.25 Die Größe, Farbe und Verzierung gaben Michael Rostovtzeff
zufolge Aufschluss über den Rang des Anführers der jeweiligen Truppen und
wurden oft von Reitern, die man signifer nannte, neben den Fußtruppen an der
Frontlinie getragen. Diese Rolle wurde im Laufe der Zeit immer prestigeträchtiger, so dass im Mittelalter sogar ein Amt daraus erwuchs. Auch wenn über
die Schlachten zwischen dem Untergang des Römischen Reichs und dem Beginn des ersten Jahrtausends kaum etwas bekannt ist, hat sich das Wissen um
das römische Signalwesen in den auf Latein verfassten Berichten über den
battle of the standard gehalten.
Die Gestalt von Feldzeichen hat sich im Lauf der Jahrhunderte häufig geändert, und obwohl die Römer noch deutlich zwischen vexillum und signum unterschieden, wurden ihre Differenzen mit der Zeit verwischt. Das vexillum,
von velum für Schiffssegel, war ein Feldzeichen mit kommunikativer Funktion, das etwa die Abzeichen einer Abteilung oder eines Regiments beinhaltete
und als solches besonders prominent von Cicero beschrieben wurde.26 Es handelte sich zunächst um eine Lanze mit einer an einer Querstange befestigten,
viereckigen Fahne für Abteilungen und Gesandtschaften, die sich vom Hauptheer entfernten.27 Auf dem Feldherrenzelt angebracht, gab das vexillum das
23
24
25
26
27
Vgl. Prietzel (2006), Kriegführung im Mittelalter, S. 199; Hans Delbrück, Geschichte der
Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Das Mittelalter, Berlin, 1907, S. 149 sowie Schultz (1889), Das höfische Leben, S. 228.
Vgl. Prietzel (2006), Kriegführung im Mittelalter, S. 323 sowie J. F. Verbruggen, The Art of
Warfare in Western Europe during the Middle Ages. From the Eighth Century to 1340, Suffolk, 1997, S. 69.
Vgl. Michael Rostovtzeff, „Vexillum and Victory“, in: The Journal of Roman Studies, 32
(1942), S. 92-106 sowie Eiliv Skard, „Vexillum virtutis“, in: Symbolae Osloenses: Norwegian Journal of Greek and Latin Studies, 25 (1947), S. 26-30.
Ebd., S. 26. Für den Hinweis auf die Nähe zum signum danke ich Wolfgang Hagen/Lüneburg.
Vgl. Alfred Domaszewski, „Die Fahnen im römischen Heere“, in: Abhandlungen des archäologisch-epigraphischen Instituts der Universität Wien (1885), S. 1-80.
32
FLORIAN SPRENGER
Signal zum Angriff. Damit hatte es eher temporären Charakter und wurde
auch für Abteilungen mit Verwundeten oder Veteranen eingesetzt. Um vexilla
handelt es sich bei dem Mast auf dem Ochsenkarren jedoch nicht. Richard
bezeichnet lediglich die befestigten Banner als „vexilla“.28 Der standardum ist
vom vexillum also eindeutig unterschieden. Letzteres tauchte in großen Mengen auf, während es nur einen oder sehr wenige standards gibt, deren Funktion in der Schlacht anders gelagert ist.
Eine eingehende Studie des mit sign und signal verwandten Begriffs signum, die einerseits die Schließung hin zum technisch definierten Signal und
andererseits die Öffnung hin zum Zeichen berücksichtigen müsste, kann an
dieser Stelle nicht geleistet werden. Signum bezeichnet zunächst bestimmte
Kleidungsstücke oder Uniformen, dann Abzeichen auf dieser Kleidung,
schließlich Feldzeichen, die aus Fahnenstangen mit verzierten Bannern, Kränzen und Tierfiguren an der Spitze bestehen29, sowie letztlich generell Erkennungsmerkmale, wie sie jede Legion und ihre einzelnen Abteilungen mit sich
trugen.30 Während die vexilla für die Truppen sichtbar sein und sich deshalb
zusätzlich zu Trompetern nahe der Frontlinie befinden müssen, verbleiben die
signa in Sicherheit. Für die Zeit Caesars wird in der Literatur ein „Wandel des
Feldzeichenbegriffs vom Werkzeug der Befehlsgebung zum Palladium“31
beschrieben. Aus dem Signal wird ein Zeichen, das wie der berühmte Legionsadler für die Legion steht und als solches einen kultischen Wert besitzt, den
die Soldaten mit ihrem Leben zu verteidigen bereit sind. Die Rolle des signum
wird damit in eine operationale und eine symbolische aufgespalten: Einerseits
dient es, von sogenannten conicines geschwenkt, zur Weitergabe von Befehlen32, andererseits fungiert der Legionsadler als magische, an den Totemismus
gemahnende Übertragung der Kräfte des Tieres auf die Kämpfer. Auch wenn
die semiotisch zu nennende Tendenz des signum nicht aus dem Heereswesen
abgeleitet werden kann und vielmehr auch in den antiken Zeichenlehren verhandelt wird, scheint, so viel sei hier angedeutet, die Begriffsprägung von dort
zu stammen. Von hier aus ließe sich die überaus komplexe Geschichte des
Zeichenbegriffs in der Antike aufrollen, wie sie in Augustinus De Dialectica
im Jahr 426 erstmals systematisiert wird.
Der mittelalterliche standard hat zwar ähnliche operationale und symbolische Funktionen, wird aber vom signum unterschieden: Für Richard ist stan28
29
30
31
32
Richard of Hexham, De Gestis regis Stephani et de Bello Standardii, S. 165.
Vgl. ebd., S. 55.
Ein Indikator für diesen Bedeutungswandel ist folgendes Zitat Leon Battista Albertis von
1435: „Ich nenne alles das ein Zeichen, was sich auf einer Oberfläche befindet und mit dem
Auge wahrgenommen werden kann.“ Im Original: „Signum hoc loco appello quicquid in superficie ita insit ut possit ocula conspici.“ Leon Battista Alberti, On Painting and on Sculpture. The Latin Texts of De Pictura and De Statua, London, 1972, S. 37.
Johannes Kromayer/Georg Veith, Heerwesen und Kriegführung der Griechen und Römer,
Bd. 4, München, 1928, S. 402.
Vgl. Graham Webster, The Roman Imperial Army of the First and Second Centuries A.D.,
3. Aufl., Norman, 1998, S. 134.
STANDARDS UND STANDARTEN
33
dardum das „evidens et certum signum“33 zur Organisation der Truppen und
damit zwar in der Klasse der signa, aber doch etwas Eigenständiges. Der standard unterscheidet sich in einigen bedeutenden Punkten von den römischen
Feldzeichen, seien es signa oder vexilla.
Eine antike und in geringerem Ausmaß auch eine mittelalterliche Schlacht
war mithin von einem dichten Geflecht aus Zeichen geprägt. Ihrer operativen
und ihrer symbolischen Funktion gemeinsam ist die bezeichnende Funktion,
deren Einordnung jedoch leicht in die Irre führen kann. Das moderne Zeichenverständnis darf weder leichtfertig in die Antike noch ins Mittelalter projiziert
werden. Denn signa und vexilla galten nicht als Signifikanten für die jeweiligen Truppen im heutigen Sinne, sondern zum einen als begleitende Kennzeichen, insofern sie in Anwesenheit der Truppen getragen wurden, um ihre Position an den Feldherren zu übermitteln und im Gegenzug für Befehle
adressierbar zu sein. Zum anderen waren die signa selbst Gegenstand kultischer Verehrung. Sie waren nicht eigenständig und austauschbar, sondern an
konkrete Kontexte gebundene Unikate.34 Die Bedeutung, so Malte Prietzel,
hing am Einzelexemplar als solchem, das allerdings selbst etwas zeigen konnte, seien es Wappentiere oder Symbole. Diese Einschränkungen machen deutlich, dass signa kein Abbildungsverhältnis bildeten, sondern eine Beziehung
zwischen dem signum und seinem Träger. Vom militärischen signum als Zeichen im modernen Sinne kann man daher noch nicht sprechen. Dass auf Fahnen und Bannern Wappen abgebildet werden, die Herrscher repräsentieren,
mag heute selbstverständlich erscheinen, ist aber der Entwicklung einer Zeichenverwendung geschuldet, die zur Zeit des battle of the standard erneut
virulent zu werden scheint. Der standard kann durchaus als ein sogar relativ
frühes Symptom des Übergangs zu auf bestimmten Farben, Figuren und Formen basierenden Codes der Repräsentation gelten, die hier nur kurz angerissen
werden können. Etwa in der Symbolik des Hissens einer Fahne auf den Mauern einer eroberten Stadt wird diese Zeichenverwendung um 1100 etabliert.
Bis dahin waren signa und vexilla als Zeichen an die tragende Person oder
Gruppe gebunden. Statt als Einzelstücke mit dem Träger verbunden zu sein,
zeichnet sich mit dem standard eine von Prietzel herausgearbeitete Tendenz
ab, nach der seit dem 11. Jahrhundert Fahnen „durch ihr charakteristisches
Aussehen als Zeichen für den Fürsten und seinen Besitz stehen.“35 Ihre Reproduzierbarkeit und Austauschbarkeit, die sich langsam durchsetzen, bedeute,
dass zwei ähnliche Fahnen gleichermaßen ihren Besitzer bezeichnen, anstatt
als Unikate mit ihm verbunden zu sein.
Über diese Funktionen als Zeichenträger hinaus, waren schon die antiken
Feldzeichen von operativer Bedeutung. Befehle wurden durch die Bewegung
von vexilla übertragen, wobei die genaue Ausführung von einstudierten Manö33
34
35
of Hexham (1964), De Gestis regis Stephani et de Bello Standardii, S. 163.
Vgl. zum Folgenden Prietzel (2006), Kriegführung im Mittelalter, S. 194.
Ebd., S. 236.
34
FLORIAN SPRENGER
vern, Rückzügen, Gefechtspausen und Bewegungen an der Front umstritten
ist.36 Indem ihre Träger an der Frontlinie standen und diese gemäß der strengen römischen Schlachtordnung sichtbar machten, dienten sie dem Feldherren
zum Manöver. Seine Befehle wurden den signiferi mittels Trompeten erteilt.
Wie vexilla dienten signa im römischen Heer als Kennzeichen. Das römische
Heer war in einzelne Abteilungen gegliedert – in Legionen, Zenturien, Manipel und Kohorten –, die eigene Kommandeure hatten und bis zu einem gewissen Grad autark agieren konnten. Vor allem beherrschten sie einstudierte
Manöver, die mit den anderen Truppenteilen abgestimmt werden mussten. Zu
diesem Zweck wurden signa verwendet. Sie hatten also nicht die Funktion
einer spontanen Bekundung eines Interesses, sondern waren strikt generalisiert, ohne jedoch etwas zu symbolisieren. Erst aus der Perspektive ihres operativen Einsatzes wird die Entwicklung des signum einsichtig.
Kulturtechniken des standard
Die Ritter der Zeit des battle of the standard sind stets lose gruppierte Einzelkämpfer, zumeist zu Pferd und selbst als Gruppen nicht streng koordiniert,
weshalb sie auf andere Weise taktisch agieren als die später sogenannten ‚taktischen Körper‘37 aus Gruppen von Fußsoldaten. Derartige Verbände gibt es
Matthew Strickland zufolge in den nordeuropäischen Schlachten der Epoche
des standard nicht, weshalb dessen vereinigende Funktion die beschriebenen
Auswirkungen haben konnte. Der Zweck des standard liegt zwar nicht darin,
solche ‚taktischen Körper‘ zu produzieren – dafür fehlt es an Organisation und
Ausbildung der Soldaten. Seine Funktion ist vielmehr, das den Reitern grundsätzlich unterlegene Fußvolk so zu vereinen und zu steuern, dass seine Linien
nicht länger einfach zu sprengen sind. Eine weitere Besonderheit des battle of
the standard kommt hinzu: Untypisch für die damalige Zeit steigen die Ritter
von ihren Pferden und rücken zu Fuß an.38 Die Kavallerie ist ihrer Schlagkraft
zum Trotz grundsätzlich schwierig zu organisieren und ungeeignet zur Bildung eines ‚taktischen Körpers‘. Im Verlauf der Schlacht erweist sich das
zurückhaltende Vorgehen der Engländer als Schlüssel zum Sieg.
In den historischen Schriften wird der standard hervorgehoben, weil er die
Organisation und Formation der englischen Truppen bestimmt, die durch ihre
Waffentechnik – Bogenschützen und gepanzerte Kavallerie – den Schotten
überlegen sind, welche jedoch durch die vorangegangenen Scharmützel über
mehr Übung verfügen als die vielen Bauern im englischen Heer. Die Befehlsstrukturen innerhalb des englischen Heeres sind stärker als bei den Gegnern
36
37
38
Vgl. ebd., S. 207 sowie Kromayer/Veith (1928), Heerwesen und Kriegführung, S. 408.
Vgl. zu diesem Begriff Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Das Altertum, Berlin, 1900.
Vgl. Matthew Strickland, War and Chivalry. The Conduct and Perception of War in England
and Normandy, Cambridge, 1996, S. 23.
STANDARDS UND STANDARTEN
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symbolisch reguliert, was, wie Richard festhält, vor allem am standard als
psychologischer wie logistischer Zentrale liegt:
By this means they also provided for their men, that, in the event of their being cut
off and separated from them, they might observe some certain and conspicuous
rallying-point, by which they might rejoin their comrades, and where they would
receive succour.39
Der standard auf Seiten der Engländer macht die Schlacht asymmetrisch. Es
ist weniger der Anblick ihrer Truppen als der des standard, vor dem die angreifenden Schotten Richard zufolge erzittern, auch weil er ihnen vor Augen
führt, dass die Engländer besser auf die Schlacht vorbereitet sind. Um den
standard als ,Fels in der Brandung‘ sammeln sich die englischen Truppen und
überstehen die erste Angriffswelle der Schotten, bei denen die Pikten aus
Galloway gegen den Willen Davids auf ihrem angestammten Recht beharren, in
erster Linie zu kämpfen und bittere Verluste einfahren.40 Die von ihren Pferden
gestiegenen englischen Ritter verteidigen die Bogenschützen gegen die anstürmenden Schotten, deren Nachhut im Pfeilhagel zu Boden sinkt: „[A]s a hedgehog is covered with spines, so were the Galwegians with arrows“.41
Der Träger der Zeichen der Truppen, deren Weg er folgt, reicht in seiner
symbolischen Funktion für diesen ersten Schlag gegen die Moral der feindlichen Kräfte aus:
As they advanced [...] to the battle, the standard with its banners became visible at
no great distance; and at once the hearts of the king [David I.] and his followers
were overpowered by extreme terror and consternation; yet, persisting in their
wickedness, they pressed on to accomplish their bad ends.42
Inwieweit man diesen Angaben des Chronisten glauben kann, bleibt fraglich.
Dennoch zeigen diese Sätze, für wie bedeutsam die englische Seite den standard hält. Einen Gegenangriff starten die Engländer nicht und ein volles Aufeinandertreffen der Heere wird vermieden, da die Schotten schnell merken,
dass ihnen die englischen Ritter im Verbund mit den Bogenschützen überlegen sind.43
Aus diesem Bericht lassen sich mehrere Schlussfolgerungen für die Wirksamkeit des standard ziehen, der vor allem durch die Verbindung mit heraldischen Zeichen wirkt. Als Medien der Heraldik – auf die Nähe zum höfischen
Protokoll kann hier nur hingewiesen werden – und seit Mitte des 20. Jahrhunderts von der eher antiquarisch orientierten Vexillologie untersucht, sind Flag-
39
40
41
42
43
Zit. n. of Hexham (1988), History of the Acts of King Stephen, S. 61.
Vgl. J. Douglas Drummond, Studien zur Kriegsgeschichte Englands im 12. Jahrhundert, Berlin,
1905, S. 60.
of Rievaulx (1964), Relatio de Standardo, S. 196.
Zit. n. Hexham (1988), History of the Acts of King Stephen, S. 62.
Vgl. Drummond (1905), Studien zur Kriegsgeschichte Englands, S. 64.
36
FLORIAN SPRENGER
gen und Banner feste Bestandteile mittelalterlicher Politik.44 In der Schlacht
markieren sie – mit dem standard auf neuartige Weise – den Mittelpunkt der
jeweils bezeichneten Truppen oder Einheiten und zeigen die Insignien der
Herrschenden und der Kirche. Sie dienen zur Ermutigung und zur Erbauung.
In ihrer religiösen Funktion besetzen sie, von hochrangigen Geistlichen geweiht, ein Territorium der Kirche gegenüber äußeren Eindringlingen. In seiner
Funktion als nomos, als Setzung einer Ordnung, steht der standard innerhalb
der Repräsentationsordnung des Mittelalters an der Seite des Souveräns und
seiner Zeichen. Er ersetzt jedoch nicht den König oder den Feldherren, der
ebenfalls von Bannern auf Lanzen begleitet ins Feld zieht.
In diesem Sinne ist der standard als zentrales Feldzeichen der identitätsstiftende Ort der Versammlung von Individuen, stellt diesen über andere Ordnungen, markiert ihn nach außen und bewegt eine zentrale Position über das
Schlachtfeld. Mit seiner Hilfe gewinnt, so könnte man sagen, das Symbolische
operative Kraft und das Operative eine symbolische Dimension. Der standard
organisiert einerseits die eigenen Truppen, die seine signa lesen können, als
Wissende und grenzt diese durch die gleichen Symbole nach außen hin gegenüber jenen ab, die ihre genaue Bedeutung nicht kennen oder ihr jedenfalls eher
abgeneigt gegenüberstehen. Er motiviert, verbreitet Schrecken und erzeugt
eine „Stimmung der Entschlossenheit und des Vertrauens auf den Sieg“.45 Er
trennt zwischen denen, die ihm unterworfen sind und über Wissen sowie Zugehörigkeit verfügen, und jenen, die nicht in seine Reichweite fallen. Zwischen ihnen muss eine Hierarchie von Wissen und Wissenden aufrechterhalten
werden. Anders gesagt: Als Kulturtechnik verknüpft er Form, Inhalt und Medium, indem er eine geteilte, materielle und bewegliche Einheit bereitstellt, die
von allen wahrgenommen werden kann und zugleich über anderen derartigen
Funktionsträgern steht.
Der standard markiert all das, was die andere Seite erobern will. Er ist zugleich für die eigene Seite ein zentrales Element der Selbstkonstitution und damit schützenswert, eben weil er ausgestellt und sichtbar ist. Er muss für beide
Seiten deutlich – mitunter durch Glocken und Trompeter auch akustisch –
wahrnehmbar sein, denn nur dann kann er seine operativen Funktionen erfüllen. Aber wenn er sichtbar ist, ist er zugleich angreifbar und muss gesichert
werden. Dass die erfahrensten Krieger nicht in vorderster Reihe kämpfen, sondern um den standard stehen, ist charakteristisch für diese Verkreuzung: was
ausgestellt wird, gefährdet sich dadurch selbst. Es ist eben diese Logik aus
Operationalität, Sichtbarkeit und Begehren, die mit dem singulären und sichtbaren standard ins Feld einzieht.
Der battle of the standard markiert damit, so kann man aus Richards und
Aelreds Aufzeichnungen schließen, das Aufkommen einer überaus wirksamen
44
45
Vgl. zu Heeresfahnen im Mittelalter Schultz (1889), Das höfische Leben, S. 224 sowie in
breiterem Kontext Prietzel (2006), Kriegführung im Mittelalter.
Delbrück (1889), Geschichte der Kriegskunst, S. 375.
STANDARDS UND STANDARTEN
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Praxis der Kontingenzminimierung unter widrigen Umständen. Die Kontingenz von 26.000 todesmutigen Männern wird in diesem Fall reduziert, indem
der standard die Geschlossenheit der Verbände sicher- und Einheiten zur
Übersetzung bereitstellt: unter den eigenen Truppen zur Vermittlung ihrer Zugehörigkeit, Anordnung und Motivation, sowie zwischen den Engländern und
den Schotten zur Aushandlung ihrer Feindseligkeit. Er verhilft den Zeichen
zur Sichtbarkeit und breitet sie über das Schlachtfeld und die Frontlinie hinweg aus. Ohne den Masten wären die Feldzeichen nahezu wirkungslos. Aufrecht stehend und weithin sichtbar trägt er sie über die Wogen der Schlacht
hinweg und sorgt für einen Rest von Ordnung. Fällt er, löst sich der Zusammenhalt seiner Orientierung und seines Schutzes auf. Dabei haftet er nicht
am Boden, sondern wird, dem Fortgang der Schlacht entsprechend, durchaus
im Sinne von Bruno Latours immutable mobiles46 als bewegliche Konstante,
von den Ochsen über das Feld gezogen. Von dort, wo er sichtbar ist, macht er
vergleichbar und hilft als zentraler Ort bei der Orientierung und Bewegung der
Truppenteile. Dass der standard auf dem Feld zur Kontingenzminimierung
dient, heißt nicht, dass die Lage durch ihn einfacher würde. Komplexitätsreduktion kann neue Möglichkeiten eröffnen, welche die Gesamtsituation mitunter komplexer machen als den vorherigen Zustand. Der Akt der Komplexitätsreduktion als solcher kann die Komplexität steigern, weil er eine neue Beobachtungsebene einführt. Als taktisches Zentrum der englischen Truppen ermöglicht der standard in seiner symbolisch-operativen Funktion eine Steigerung der gleichzeitig bewältigbaren Aufgaben zwischen Kooperation und
Konkurrenz.
Begriffsgeschichte von standard zu Standard
Diese Beschreibung der Kulturtechniken des standard wird von der Geschichte des Begriffs gestützt. Das Wort standardum für eine Lanze mit Flaggen
kennt nur das mittelalterliche, nicht aber das antike Latein. Richard verwendet
es, wie gezeigt, um 1150 und mit dem Namen der für die Geschichte Englands
so wichtigen Schlacht breitet es sich aus. Der französische Einfluss auf die
englische Sprache legt es in einer ersten Annäherung nahe, das französische
estandard für eine Lanze mit Bannern als Ursprung anzusehen. Dieser altfranzösische Begriff ist um 1100 verbreitet und wird ab 1279 auch, parallel zur
englischen Erweiterung und grob übersetzt, zur Benennung eines Maßes für
Münzen verwendet.47 Er ist verwandt mit dem heutigen etendard für Standarte.
Später wird Standard in der neueren Bedeutung und in der gleichen Schreib46
47
Vgl. Bruno Latour, „Drawing things together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch
zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 2006, S. 259-309.
Vgl. Möhren (2005), Englisch standard, S. 59.
38
FLORIAN SPRENGER
weise auch ins Deutsche übernommen, während Standarte ebenfalls bestehen
bleibt.48 Das Englische kennt diese Unterscheidung nicht. Im Französischen
hingegen ist heute eher von normalisation als von standardisation die Rede.
Vermutlich, so legen die etymologischen Wörterbücher verschiedener Sprachen nahe, ist die Lage jedoch komplizierter. In standard vermischen sich
zwei Linien auf eine bemerkenswerte Weise: das englische standard und das
mittelhochdeutsche stanthart, das im späten 13. Jahrhundert auftaucht, kommen tendenziell – starke Belege sind allerdings, darauf hat der Romanist
Frankwalt Möhren hingewiesen, nicht nachweisbar – als substantivierte Form
vom germanischen stande für Stand sowie in einer Deutung von hart für kühn
oder fest49, in einer anderen Deutung vom altfranzösischen standale mit ähnlicher Bedeutung. Das altfranzösisch-provenzalische estandard oder estendard
hingegen stammen eher von estendre und dem lateinischen extendere für ausdehnen, ausstrecken.50 Sowohl große Fahnen wie die des standard werden ausgebreitet als auch dessen Sichtbarkeit auf dem Feld. Für die Ableitung von
stande statt von estandard spricht auch, dass Richard in seiner Chronik an der
eingangs zitierten Stelle den standard mit to stand in Verbindung bringt und
den stehenden Masten mit den stehenden Soldaten assoziiert.51
Wie der Übergang zur heutigen Bedeutung im Einzelnen geschieht, wird
sich nicht mehr eindeutig bestimmen lassen. Doch wird diese Etymologie besonders aufschlussreich, wenn man sie auf den weiteren Fortlauf von Standardisierungsprozessen bezieht. Diese doppelte Etymologie scheint treffend zwei
heute wirksame Funktionen des Standards zu überkreuzen. Versteht man die
neuere Bedeutung von Standard als figurativen Gebrauch des alten standard,
macht diese Überkreuzung durchaus Sinn. Die heutige Verwendung lässt sich
weder eindeutig von Stand noch von Ausdehnung her begreifen. Vielmehr
bringen die verbundenen Kulturtechniken, wie bereits angedeutet wurde, beides zusammen: den Stand, der durch die Vertikale für Sichtbarkeit sorgt, und
die durch ihn ermöglichte Ausdehnung über die Horizontale des Schlachtfelds,
aber eben nicht nur zum Zweck der Verbreitung, sondern, um die untergeordneten Elemente zu ordnen. Ausgedehnt wird sowohl in die Höhe als auch auf
die Fläche.
All dies ist, das sei nochmals unterstrichen, noch nicht mit der heutigen
Verwendung von Standard gleichzusetzen. Wie es dazu kommt, dass der Begriff auch im Sinne eines Maßes oder einer Einheit verwendet wird, bleibt,
48
49
50
51
Häufig wird im Mittelhochdeutschen aber auch von Karrotsche gesprochen. Vgl. hierzu Schultz
(1889), Das höfische Leben, S. 228.
Vgl. zu dieser Deutung Meyer (1931), Sturmfahne und Standarte, S. 230.
Vgl. die Einträge zu standard in: Ernst Klein, Comprehensive Etymological Dictionary of the
English Language, Amsterdam, 1971 sowie Walter W. Skeat, An Etymological Dictionary of
the English language, Oxford, 1958. Auch Raymond Williams hat in Keywords den Ursprung
von standard als ‚source of authority‘ im 15. Jahrhundert verortet: Raymond Williams, Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, London, 1976, S. 296.
Vgl. auch Tom MacArthur, The English Languages, Cambridge, 1998, S. 103.
STANDARDS UND STANDARTEN
39
wie das Oxford English Dictionary schreibt, „somewhat obscure“.52 Diese
Etymologie ist auch deswegen von besonderer Bedeutung, weil, wie Möhren
ausgeführt hat, in England nach der normannischen Invasion und dem Battle
of Hastings 1066 eine besondere Sprachentwicklung stattgefunden hat: Stark
vom Französischen beeinflusst, aber auf der Insel relativ isoliert, entwickelt
sich das Englische eigenständig. In der Magna Carta, so Möhren weiter, die
1215 als früher Feudalvertrag zwischen verschiedenen Stufen des Adels auch
in Reaktion auf die Jahre der Anarchie auf Latein und Französisch verfasst
wird, wird zur gerechten Besteuerung durch die Feststellung von Maßen und
Gewichten etwa für Wein, Getreide, Tuch oder Gewichte das lateinische mensura bzw. das französische la mesure verwendet.53 Weder von standard noch
von estandard ist die Rede. Parallel zur Fortentwicklung der Gesetze und
Regelungen über Besitzverhältnisse werden jedoch in den 1270er Jahren standardum auf Latein sowie estaundard auf Anglonormannisch im Sinne von
Maßeinheit oder Maßstab verwendet. Die Begriffe helfen, in den Wirren der
vergangenen Dekaden beschlagnahmte Güter zu berechnen und neu zu verteilen. Diese Festsetzung von Maßen hat historisch eine bedeutende Stabilisierungsfunktion in den aus den Fugen geratenen Ökonomien des Landes. Spätestens 1327 ist für das Mittelenglische die Bezeichnung im Sinne von standard measures of volume nachgewiesen.54 Möhren führt diese frühe und im
internationalen Vergleich einmalige Entwicklung auf die politische Lage nach
eben jenen Jahren der Anarchie zurück, die durch französischen Einfluss geprägt waren und letztlich zur Notwendigkeit einer neuen ‚Verfassung‘ geführt
haben, für die wiederum die Festlegung von Maßen und Gewichten nach dem
Maßstab des Königs viel früher notwendig war als in anderen Ländern.
Im Fleta, einem auf Latein verfassten Gesetzeskommentar aus England, ist
1290 in einer frühen Verwendung in dieser Bedeutung von „standardis et exemplaribus mensurarum regni“55 die Rede, von „Standards“ und Vorlagen für
die Maße des Reiches. Seit etwa 1450 nennt man die Flagge des Königs, unter
der sich die Truppen versammeln sollen, den King’s Standard. Der König
übertrifft als Inhaber höchster Macht andere Befehle und manifestiert daher
mit seinem standard die am weitesten reichende Macht. Später fallen unter
den King’s Standard auch Größen und Längen: „The sayd Burgese schall
haffe ye standard […] the qwhyche measures schuld agre with the kynges
52
53
54
55
Artikel „standard“, auf: OED Online, online unter: http://www.oed.com/view/Entry/188962?
rskey=P3CJaw&result=1&isAdvanced=false, zuletzt aufgerufen am 12.12.2018.
Magna Carta, auf: The Latin Library, online unter: http://www.thelatinlibrary.com/magnacarta.
html, zuletzt aufgerufen am 12.12.2018.
Vgl. Möhren (2005), Englisch standard, S. 60.
Der Kontext lautet wie folgt: „Committitur alicui clerico vel laico cura et custodia mensurarum regiarum quae pro standardis et exemplaribus mensurarum regni habentur, ulnarum videlicet lagenarum, ponderum et cetera.“ Zit. n. Du Cange (1710), Glossarium Ad Scriptores
Mediae, S. 1043.
40
FLORIAN SPRENGER
standard.“56 Der König hat das Recht, Maße und Gewichte festzusetzen, vor
allem für den Feingehalt einer Münze, das heißt das Verhältnis von echtem
und unechtem Metall. Seine Standards sollen regeln, wie etwas austauschbar
wird, indem sie eine gemeinsame Größe oder Einheit darstellen, die aber – im
Gegensatz zur Norm – nicht ausgehandelt, sondern festgelegt wird. Der Maßstab des standard ist dabei wörtlich zu nehmen. Den standard foot gibt es ab
1650, standard silver ab 1690, standard value ab 1700, standard pint ab 1825,
standard error ab 1895 und standard cable ab 1900.57 In der Literatur wird der
Begriff seit dem frühen 19. Jahrhundert verwendet, um Kanonisierungen zu
kennzeichnen, aber auch eine gemeinsam geteilte Sprache, das Standard English. Im 19. Jahrhundert ist zudem vermehrt vom standard of living die Rede.
Für die exakter werdenden Wissenschaften des 19. Jahrhunderts sind Standards als Laborbedingungen oder Maßeinheiten von enormer Bedeutung. Wie
diese wenigen Hinweise andeuten und eine Worthäufigkeitsanalyse mit
Google Ngram belegt, steigt die Verwendungsfrequenz des Begriffs seit Mitte
des 19. Jahrhunderts rasant an und löst sich gänzlich von dem aufrecht stehenden Mast auf dem Ochsenkarren, der allenfalls als mittelalterliche Kuriosität
auftaucht.
2.3 – Google Ngram Analyse für den Begriff standard
Standards und Standardisierung
Wohin führt also der Rückblick auf die verwinkelte Geschichte des Begriffs?
Abschließend soll kurz auf einige Aspekte der Standardisierung näher eingegangen werden, um sie auf den battle of the standard zu beziehen. Ein Standard wird, das verbindet in einem ersten Punkt beide Verwendungen, durch
56
57
Artikel „standard“, auf: OED Online, online unter: http://www.oed.com/view/Entry/188962?
rskey=P3CJaw&result=1&isAdvanced=false, zuletzt aufgerufen am 12.12.2018.
Vgl. MacArthur (1998), The English Languages.
STANDARDS UND STANDARTEN
41
weltliche Macht festgelegt und ist nicht zwangsläufig Gegenstand von offenen
Verhandlungen. Regulierung durch Standards gelingt nur dann, wenn sie nicht
mehr kontrovers ist. Sie ist konservativ. Standards sind keine Aushandlungssache – darauf weist schon die Tatsache hin, dass sie zunächst allein Herrschenden und Königen zugesprochen wurden. Standards brauchen aber zugleich Öffentlichkeit und müssen allen zugänglich sein. Diese Öffentlichkeit
muss eigens hergestellt werden: durch Sichtbarkeit, Verordnungen oder Befehle. Es darf im Umkehrschluss keine Hermetik des Standards geben. Als
wesentlicher Bestandteil der Ökonomisierung und der Effizienzsteigerung, zunächst von Produktionsprozessen und dann von Produkten und Einheiten,
dienen technische Standards durch diese Öffentlichkeit der Dissemination von
Expertenwissen ohne Status, weil es für jeden gleichermaßen zugänglich sein
muss, aber doch mit Hierarchie, weil nicht jeder über das nötige Wissen oder
die nötigen Werkzeuge verfügen kann. Standards teilen aber auch Verantwortung auf, weil jeder in ihrer Reichweite sich an ihnen orientieren soll.
Standards erfordern zweitens die Herstellung von Einheiten, die über Raum
und Zeit hinweg konstant bleiben und darin über die Grenzen einer Gruppe
hinausgehen. Ein Standard muss durch Dauerhaftigkeit gesichert werden, aber
trotzdem mobil sein. Daher wird er zumeist von besagten staatlichen Instanzen
oder einflussreichen Organisationen gestützt.58 Eben die dadurch gewährleistete Konstanz erlaubt eine Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit, die in verschiedener Hinsicht ausgenutzt wird: zur Vereinheitlichung von Maßen und
Größen, die wiederum in Produktionsverfahren zur Herstellung austauschbarer
Bauteile, zur Präzision von Messungen oder zur Vergleichbarkeit von Vorgängen dienlich sind. Standardisierungen sind aus diesem Grund nicht oder
nur äußerst aufwendig rückgängig zu machen. Sie sind daher meist Geschichten der Sieger oder zumindest dessen, was zum Sieger gemacht wird. Was
nicht passt, überlebt auch nicht.59
Die Abgrenzung von Standards und Normen mag, so viel sei an dieser Stelle gesagt, zwar unscharf sein, doch sollte man sie nicht miteinander und schon
gar nicht mit normal oder normativ verwechseln.60 Während Normen anhand
von Durchschnitten verschiedener Art berechnet oder ausgehandelt werden,
richtet sich ein Standard nicht im Sinne eines Schnittes nach einer Menge von
Faktoren. Vielmehr stellt er sich selbst über die Köpfe der Beteiligten. Standardisierung und Normierung sind zwei verschiedene Praktiken und zwei
verschiedene juristische und politische Akte. Normen sind, so könnte man
sagen, bedeutsam innerhalb des Regelwerks für einen Standard. Sie sind aber
58
59
60
Vgl. dazu Marc Olshan, „Standards-Making Organizations and the Rationalization of American Life“, in: The Sociological Quarterly, 34 (1992), S. 319-335.
Ian Inkster (Hg.), History of Technology. Special Issue: By Whose Standards? Standardization, Stability and Uniformity in the History of Information and Electrical Technologies,
London, 2008.
Vgl. zur Norm Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird,
2. Aufl., Opladen, 1999.
42
FLORIAN SPRENGER
keine notwendige Bedingung für diesen. Einer Norm gehorcht, was wie anderes ist. Dies gilt nicht notwendigerweise für einen Standard.
Bei aller Nähe zum standard von Northallerton sind beide Begriffsverwendungen selbstverständlich nicht gleichzusetzen. Die Geschichten der Standardisierung, wie sie etwa von Ken Alder, David Hounshell oder Peter Berz dargestellt wurden61, zeigen, dass es vielmehr um die Etablierung eines Systems
der Produktion geht, um die Bereitstellung universal gültiger Maße für, wie
Stefan Timmermanns und Stephen Epstein ausgeführt haben, design, terminology, performance und procedure.62 Darin ist der Standard etwas zutiefst Modernes und der standard auf dem Schlachtfeld einer anderen Zeit zugehörig.
Dennoch erlauben die Kontinuitäten zwischen beiden Verwendungen einen
neuen Blick auf die Macht der gegenwärtigen Standardisierungen.
In industriellen Prozessen bedeutet Komplexitätsreduktion durch Standards,
so haben Amy Slaton und Janet Abbate gezeigt, Kostenverringerung, Reduktion von Aufwand und Material sowie Ersetzung von Vielfalt.63 Industrielle Standards sollen die Qualität der Materialien, die Austauschbarkeit der Elemente
und die allgemeine Funktionstüchtigkeit sicherstellen. Sie vereinfachen Verfahren und machen Arbeitskraft billiger. Standardisierung ist daher eng mit dem
Aufstieg kapitalistischer Produktionsweisen verbunden. Sie besteht aus komplexen Aushandlungsprozessen, die zahlreiche Akteure integrieren und nur
durch die gemeinsame Betrachtung von Technik, Wissenschaft und Ökonomie
beschrieben werden können.64 Und doch macht es, so hoffe ich gezeigt zu haben, durchaus Sinn, sich die Geschichte des battle of the standard und die mit
ihm einhergehenden Kulturtechniken noch einmal näher anzusehen. Denn
auch, wenn sie das Martialische einer mittelalterlichen Schlacht verloren haben,
sind gegenwärtige battles of standards auf eine ähnliche Weise radikal. Für die
englischen Feldherren ist der standard, so können wir vermuten, einer der
Schlüssel zum Sieg. Die Schotten haben keinen standard. Sie können ihn auch
nicht erobern, sondern sind hoffnungslos unterlegen.
Die abschließende Bemerkung lautet daher, dass in einer so durchstandardisierten Welt wie der unseren Standardisierungen nicht mehr als Kämpfe erscheinen, weil die Standardisierung schon gewonnen hat. C. A. Adams, Mitarbeiter des 1903 aus dem Bureau of Weights and Measures entstandenen Bureau of Standards in Washington, schreibt 1919 in einem Selbstverständnispapier über die Rolle der Standardisierung für den Aufstieg der USA: „It might
61
62
63
64
Vgl. Ken Alder, The Measure of all Things, London, 2004.; David A. Hounshell, From the
American System to Mass Production, 1800-1932. The Development of Manufacturing Technology in the United States, Bd. 4Baltimore, MD, 1985 sowie Peter Berz, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München, 2001.
Timmermanns/Epstein (2010), A World of Standards, S. 72.
Abbate/Slaton (2001), The Hidden Lives of Standards sowie Joseph O’Connell, „Metrology.
The Creation of Universality by the Circulation of Particulars“, in: Social Studies of Science
(1990), S. 129-173.
Vgl. Thomas P. Hughes, Networks of Power, London, 1993.
STANDARDS UND STANDARTEN
43
be almost said that the degree of standardization in any nation is a measure of
its civilization, certainly in the material sense of the word.“65 Adams propagiert die Vorteile der durch Organisationen wie seine eigene kontrollierten
Standards, die in der Folge – sieht man vom imperialen Maßsystem ab, das
sich glücklicherweise nicht gegen das metrische durchsetzen konnte – den
Globus kolonisieren. In diesem Sinne lassen die letzten Zeilen seines Textes
nur den Schluss zu, dass Frieden in der Sphäre der Standards nur Krieg mit
anderen Mitteln sein kann und dies auch nur gegen die Rolle von Standards
und Normen für das Militär und seine Technik:
In the broad sense, international standardization means a common industrial language and the removal of one of those barriers which tend to separate nations
and to give rise to misunderstandings. The more of those barriers we can remove
and the more we come to realize that our interests are after all in common, the
more likely we are to attain that lasting peace for which the world longs.66
Der Kampf gegen die überlieferte Anarchie, den Standards führen, kann nur
mit ihrem Sieg ein Ende finden, der nie endgültig sein wird.
Ich danke dem Banff Centre, dem Programm BRiC: Dock(ing); or New
Economies of Exchange und besonders Imre Szeman für die Möglichkeit, in
den kanadischen Bergen dem Mittelalter nachzuspüren.
Literatur
Anonym, „Brevis relatio de origine Willelmi Conquestoris“, in: I. A. Giles (Hg.),
Scriptores Rerum Gestarum Willelmi Conquestoris, Nutt, 1845, S. 1-21.
Abbate, Janet/Slaton, Amy, „The Hidden Lives of Standards. Prescriptions and Transformations of Work in America“, in: Michael Thad Allen/Gabrielle Hecht (Hg.),
Technologies of Power, Cambridge, 2001, S. 95-143.
Ackerman, Phyllis, „Standards, Banners and Badges“, in: Arthur Upham Pope/Phyllis
Ackerman (Hg.), A Survey of Persian Art from Prehistoric Times to the Present,
London, 1938, S. 2766-2782.
Adams, C. A., „Industrial Standardization“, in: Annals of the American Academy of
Political and Social Science, 82 (1919), S. 289-299.
Alberti, Leon Battista, On Painting and on Sculpture. The Latin Texts of De Pictura
and De Statua, London, 1972.
Alder, Ken, The Measure of All Things, London, 2004.
Berz, Peter, 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München, 2001.
65
66
C. A. Adams, „Industrial Standardization“, in: Annals of the American Academy of Political
and Social Science, 82 (1919), S. 289-299: 298. Selbstredend können Adams Aussagen angesichts der vielschichtigen militärischen Bedeutung von Standards nicht als pars pro toto gelten, sind aber doch bemerkenswert, weil sie direkt aus der zuständigen Institution kommen.
Ebd.
44
FLORIAN SPRENGER
Bliese, John, „Aelred of Rievaulx’s Rhetoric and Morale at the Battle of the Standard,
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ANNA ECHTERHÖLTER
RED AND BLACK BOXES.
KOLONIALE STANDARDISIERUNG ALS METROKLASMUS
In der Region der ehemaligen Kolonie Deutsch-Neuguinea sind später CargoKulte entstanden. Diese Ritualformen reagieren auf die rapide Veränderung
der Gesellschaft durch Technik und Industrie. Kopfhörer aus Holz und Flugzeuge aus Bast kommen zum Einsatz und symbolisieren die vermeintlich rein
technischen Maschinen. An den Höhenzügen des Mount Hagen existiert um
das Jahr 1970 der kurzlebige ‚Red Box Money-Cult‘. Anhänger beschwören
die Geister der Ahnen, kleine Geldsummen zu vermehren, die in roten Boxen
gesammelt, vor den Blicken verborgen und kultisch gepflegt werden. Auf
Fluchen, Stehlen und Sexualität im Umfeld der roten Boxen wird verzichtet.
Durch Wässerung wird die Fruchtbarkeit des Geldes begünstigt; Gesänge
beschwören die Windgeister wie die Weltbank gleichermaßen.1 Das Anfangskapital für das intendierte Wachstum wird in Form von Wetten zusammengebracht, entweder in der Landeswährung Kina oder australischen Dollars. Viele
reagierten skeptisch. Oganka, einer der respektierten Big Men der Region,
setzte sein wertvollstes Schwein gegen das Gelingen dieses Unterfangens. Er
gewinnt die Wette. Die fieberhaft erwartete Öffnung der Boxen führte ins
Leere und ruinierte nicht wenige. Der Kult zerstreute sich. Einige Gruppen
gehen so weit, den Festplatz langfristig zu vermeiden.
Der Red Box Money-Cult steht für eine spiritistisch-vitalistische Geldauffassung, die wenig mit den typischerweise neutralen Konzepten des westlichen
Geldes gemeinsam hat. Dies zeigt, wie groß die Unterschiede in der kulturellen
Codierung des sozialen Mediums ausfallen können. Andrew Strathern, als
ethnologischer Beobachter dieser Geldwetten, gibt zu bedenken, dass die rituelle Reaktion auf die Einführung einer normierten Standardwährung und westlichen Bargeldes in einer Hinsicht das Medium korrekt beschreibt: Das Münzund Papiergeld verselbstständigte sich in der Erfahrung der Hochlandbewohner unkontrollierbar und gleicht daher einer fremden Macht:
1
Andrew Strathern, „The Red Box Money-Cult in Mount Hagen 1968-71. (Part I)“, in: Oceania
50, 2 (1979), S. 88-102, sowie ders., „The Red Box Money-Cult in Mount Hagen 1968-71. (Part
II)“, in: Oceania 51,3 (1980), S. 162-175: 166. Vgl. Pamela J. Stewart/Andrew Strathern, „Introduction. Latencies and Realizations in Millennial Practices“, in: Ethnohistory 47, 1 (2000),
S. 3-27: 13. Vgl. zudem die Autobiografie des Kawelka Anführers Ru, Biography of a Western
Highlander, Port Moresby, 1993, S. 85. Die von Strathern aufgezeichneten Gesänge lauten
beispielsweise: „My brother, do you think as I do, / My brother, do you see what I see? / I look
up, and behold / The world bank breaks open and comes to us.“ (Anführer der Kawelka)
Strathern (1980), Red Box Money-Cult, S. 166.
48
ANNA ECHTERHÖLTER
Money was also the medium of exchange, which Europeans themselves used,
and it came, as Hageners knew, from Australia. They did not however, understand its true source, and therefore felt that they did not properly control it. Indeed, this perception was accurate: they could not fix rates of exchange for
goods they sold and were dependent on the mystery of the ‚world market‘.2
Man sah sich einem Automatismus ausgesetzt, der autorlos Strukturen hervorbrachte und das Leben zu ergreifen begann – von Einkaufsläden über Lohnarbeit, Cash Cropping bis hin zu Truck-Systemen der Plantagen. Der Versuch,
diesen neuen Agenten zu manipulieren, entbehrt nicht ganz der Folgerichtigkeit. Die Hoffnung auf Geldvermehrung tendiert dabei zum Irrationalen, wie
dies von Wetten auf das ganz persönliche Glück, etwa in Schneeballsystemen
oder Pferderennen bekannt ist.
Im Kontrast zeigt die spirituelle oder spiritistische Bewältigung jedoch hinlänglich, worum es in dieser Untersuchung gehen soll: Um die vom Standardisierungsprozess ersetzten und marginalisierten Routinen bzw. um einen komplexeren Blick auf die monetäre Infrastruktur der Industriegesellschaft, die
den Kolonien oktroyiert wurde. Denn der Red Box Money-Cult enthält den
Hinweis, dass es vielen Anwohnern des Mount Hagen nicht einleuchten wollte, Geld als neutral einzustufen und in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen
auszublenden. An diesem Beispiel aus den 1970er Jahren lässt sich verdeutlichen, dass zwar ein westliches Bezahlungsobjekt eingeführt wurde, nicht jedoch der vollständige westliche monetäre Standard, zu dem Verhaltensweisen,
Regeln, Gesetze und Codierungen gehören. In der folgenden Auseinandersetzung mit der Finanzpolitik der deutschen Kolonisatoren geht es vor allem um
die Black Box westlicher monetärer Standards.
Um die Wahrnehmungsroutinen der sicheren, stabilen, technisch erzeugten
Welt des Globalen Nordens zu verlernen, den Blick für die Spätphase integrierter Standardisierungskaskaden zu lockern und den „spell of cognition and
language“3 zu umgehen, folgt er einer besonderen Strategie. Wie in der literalen Bedeutung der ‚Black Box‘ im militärischen Kontext, kann das aufgefundene „piece of enemy equipment“ nur entschlüsselt werden, wenn sich ein
Team mit offener und explorativer Haltung nähert. Andrew Pickering fordert
diese Analyseform für die technisch gewordene Welt, die nicht als Setzung
verstanden, sondern prozedural aufgeschlüsselt werden sollte.4
2
3
4
Strathern (1979), Red Box Money-Cult, S. 96.
Andrew Pickering, „Islands of Stability. Engaging Emergence from Cellular Automata to the
Occupy Movement“, in: ZKM 5, 1 (2014), S. 124-134: 123; Bruno Latour, Science in Action.
How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge, MA, 1987; mit Dank an
Hartmut Winkler, „Black Box und Blackboxing – Zur Einführung. Vortrag im Graduiertenkolleg ‚Automatismen‘, Universität Paderborn, 14.10.2014“, auf: Open Desk, online unter:
http://homepages.uni-paderborn.de/winkler/gk-black.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.05.2019.
Pickering (2014), Islands of Stability, S. 123. In seinen Worten: „[A] chancy and emergent
performative achievement of fragile and local stabilizations in a world of becoming.“ (Ebd.).
RED AND BLACK BOXES
49
Gegenstand eines solchen „reverse engineering“ ist im Folgenden der Prozess der Standardisierung der monetären Sphäre.5 Im kolonialen Kontext soll
der Standard nicht als Anker, sondern als Auflösungsmittel für die durch ihn
neu vermittelten Verhältnisse verhandelt werden. An die Stelle empirischer
Versicherung über die Welt der messbaren Dinge treten die Aktivierung,
Adaption und Konkurrenz unterschiedlicher Quantifizierungsregime. Der
Prozess der Standardisierung geht als Metroklasmus vor sich, zumal in Ozeanien – eine der heterogensten Regionen der Welt was Sprachen, Wertmessungs- und Zählsysteme angeht.6
Metroklasmen lassen sich beobachten, als gut 80 Jahre vor dem Red Box
Money-Cult von 1970 preußische Beamte und Pflanzer die Inselwelten des
heutigen Papua-Neuguinea annektierten. Sie hissten Flaggen, unterzeichneten
Papiere in Gegenwart des Papstes oder europäischer Großmächte, sie führten
ihre Schulen, Kataster und Götter ein und beginnen insbesondere, die metrische Sphäre in ihrem Sinne zu verändern. Dies betrifft die Zeitrechnung, die
Maße und Gewichte sowie die Formen des Geldes. All dies sollte angeschlossen werden an die Reichsmark bzw. das metrische System, das damals auf
wenige Objekte in einem Safe in Sèvres bei Paris zurückging.7
Die Auswirkung dieser Normale der metrischen Standards ist von technischer8, wissenschaftstheoretischer9, wirtschaftsethnologischer10, infrastruktu5
6
7
8
9
Karl Polanyi, „Über den Stellenwert wirtschaftlicher Institutionen in der Antike am Beispiel
Athen, Mykene und Alalakh“, in: ders. (Hg.), Ökonomie und Gesellschaft, übers. v. Heinrich
Jelinek, Frankfurt/M., 1979 [engl. OA 1957], S. 387-413: 392.
Kay Owens, History of Number. Evidence from Papua New Guinea and Oceania, Heidelberg,
2018.
Vermittelt wurde die Norm über die nationalen Maßnormale. Der Meter Nr. 18 und das Kilogramm Nr. 22 waren erst 1889 per Verlosung an Deutschland gefallen. Das letztere Objekt
ist, mit kriegsbedingten Einschränkungen, bis dato an der Eichung der Gewichte beteiligt. Die
Bestimmung des Meters beruht seit 1960 nicht länger auf einem physischen Körper, sondern
einer der Wellenlängen des Lichtes, wie die Konstanten des Systeme Internationale (SI) inzwischen mehrheitlich auf Naturkonstanten zurückgeführt werden. Nr. 22, der deutsche Prototyp des Kilogramms, wurde im Zweiten Weltkrieg beschädigt und wird in Braunschweig
(PTB) durch weitere Schwesternkopien des Urkilogramms von Sèvres entlastet (Nr. 52,
Nr. 55 [DDR], Nr. 70). Am 20.05.2019 wurden die physischen Massenormale abgesetzt.
Seitdem ist das Kilogramm durch die Planck-Konstante definiert und kann auf unterschiedliche Arten experimentell realisiert werden. Vgl. zur Institutionengeschichte der Standardisierung: Terry Quinn, From Artefacts to Atoms. The BIPM and the Search for Ultimate Measurement Standards, Oxford, 2012, S. 145 f.; David Cahan, An Institute for an Empire. The
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50
ANNA ECHTERHÖLTER
reller11 und rechtlicher12 Seite aufgearbeitet worden. Die Wissenschaftsgeschichte der Quantifizierung geht von einer Koproduktion des Messens durch
naturwissenschaftliche und ökonomische Praktiken aus13, sowie von einem Ineinandergreifen der Wirtschafts- und Technikgeschichte.14
In diesem Beitrag wird der Prozess der Standardisierung anhand einer Region analysiert, in der mit dem metrischen System eines der zentralen Modelle
der Standardisierung selbst fehlte. Deutsch-Neuguinea verfügte über einen
weltweit beispiellosen Reichtum an ökonomischen Institutionen, nicht allerdings über eine Währung, über Schrift, kodifiziertes Recht oder einheitliche
Maße und Gewichte. Die Verhaltensweisen der dort lebenden Bevölkerungsgruppen waren weder rechtlich noch durch exakt quantifizierende Verfahren
normiert. Verhältnisse, die die preußischen Amtmänner zu ändern hatten –
was diesen Prozess einer ,Erststandardisierung‘ heterogener Kulturgefüge für
den Zusammenhang der Standardisierungstheorie so wertvoll macht. Denn,
wie Susan Leigh Star und Martha Lampland erinnern, ist dieses Fundament
industrialisierter Gesellschaften in ihnen selbst wenig sichtbar: „Yet the standards, numbers, and models tend to be black boxes in their own right.“15 Da es
sich bei diesen Verdeckungen und Überdeckungen keinesfalls um gewaltfreie
Prozesse handelt, wird an dieser Stelle weder die Rechtsgeschichte der Stan-
10
11
12
13
14
15
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RED AND BLACK BOXES
51
dardisierung noch die Ethnologie der Infrastruktur die entscheidenden Impulse
geben, sondern das in der Standardisierungsforschung unerprobte konzeptuelle
Vokabular der bildwissenschaftlichen Ikonoklasmustheorie.
Zu diesem Zweck wird zunächst der typische Verlauf eines vom Staat ausgehenden Ikonoklasmus geschildert, der sich gegen die Masken der Loma
richtete. Erst in einem zweiten Schritt wird das religions- und kunstgeschichtliche Konzept für den Bereich metrischer Standards erstmalig fruchtbar gemacht. Hierzu werden im zweiten Teil bestehende Ansatzpunkte wie Angriffe
auf Maßnormale vorgestellt und schließlich die koloniale Standardisierung in
Deutsch-Neuguinea als Metroklasmus konzeptionalisiert. Hierzu ist es dienlich, zunächst genau auf den Prozess der Zerstörung künstlerisch-sakraler
Symbole einzugehen:
1. Staatlicher Ikonoklasmus: Die Masken der Loma (Guinea)
Mit der 1958 erreichten Unabhängigkeit von Frankreich stellte sich der Republik Guinea das Problem der Regierung der Animismen. Der entschieden modernistische Kurs der Regierung unter Sékou Touré richtete sich nicht nur
gegen das, was Jacques Rivière bei den Loma noch als ‚pure paradise of fetishes‘ geschildert hatte16, sondern zugleich gegen den hinter vielen Ritualen
stehenden Initiations- und Geheimbund Poro. Die als ‚Demystification Campaign‘ bekannt gewordenen Welle staatlicher Gewalt gegen die Anhänger des
Poro bediente sich unterschiedlicher Mittel. Einige dieser Interventionen lassen sich mit dem dänischen Ethnologen Christian Kordt Højbjerg als geschickten aber letztendlich erfolglosen Ikonoklasmus beschreiben.17 Die Zerstörung der Masken führt nicht zum intendierten Statusverlust der Objekte.
Diese Unregierbarkeit ikonoklastischer Prozesse, die zuweilen aktivieren und
pluralisieren, was doch ernüchtert und standardisiert werden sollte, ist entscheidend.
Ziel der Regierungskampagne in Guinea waren die Masken, die in den Ritualen des Geheimbundes Poro die Geister verkörperten. Wie so oft handelt es
sich bei den bekämpften Bildern also nicht in erster Linie um Gemälde, sondern um Ikonen, die öffentlich bekannt, wenn auch nicht sichtbar sind. Wie im
ersten umfänglich diskursivierten Ikonoklasmus – dem byzantinischen Bilderstreit – richtete sich die Aggression zudem gegen ikonische Objekte von hoher
sakraler und zeremonieller Bedeutung.
16
17
Christian Kordt Højbjerg, Resisting State Iconoclasm among the Loma of Guinea, Durham,
2007, S. 43. Sékou Touré, der erste Präsident Guineas, war wie Nkrumah in Ghana oder Cabral in Guinea-Bissau Gegner der Ideen der Négritude. Ebd., S. 50.
Im Jahr 1991 nahm Højbjerg an einer Begräbnisfeierlichkeit teil – umgeben von bemerkenswerter Stille in den Zelten der Frauen, die die Masken selbst nicht sehen durften, ihren geheimen Status jedoch durch ihr Wissen mitproduzieren. Ebd., S. 46.
52
ANNA ECHTERHÖLTER
Da die Masken der Loma geheim waren und einer strengen Genderzuteilung unterlagen, hatte bereits ihre Präsentation vor der gesamten Dorfversammlung einen de-sakralisierenden Effekt. Wie ein Informant Højbjergs
berichtet, forderte die Polizei zunächst die Masken auf, aus dem Haus unter
die Augen aller zu treten. Sie erklärte sodann, dass Männer kein Recht hätten,
mehr Masken als Frauen zu besitzen. Die ausgezogenen Masken der Männer
wie der Frauen wurden sodann aufgefordert – entgegen jeglicher Regel –
durcheinander zu sprechen. Diese geradezu ‚im Bild‘ oder innerhalb seiner
angestammten Funktionsweise produzierten Widersprüche beschädigten die
Illusion. Sie wurden von drastischeren Maßnahmen flankiert: Denn im Anschluss an ihre letzte transgressive Aufführung wurden die Masken verbrannt.
Jedem, der dagegen Einspruch erhob, drohte physische Gewalt seitens des
Ordnungspersonals, worin sich bereits andeutet, dass der objektfeindlichen
Kulturpolitik der Staatsikonoklasten viele Mittel zur Verfügung stehen: Gesetze, Polizeigewalt, Gefängnisse, erhebliche Ressourcen, sowie zu gewissem
Grad die Massenmedien.
Ein weiteres Beispiel für das desakralisierende Spiel mit dem zu entwertenden Ritual waren satirische Aufführungen junger Theatergruppen, welche die
hochgeachteten Ritualexperten des Maskenkultes einem befreienden Lachen
aussetzen sollten. Als Schönheitsfehler allerdings muss registriert werden, dass
die Akteure zu diesem Theaterdienst verpflichtet worden waren. Oftmals wurden die Wächter der Masken im Vorfeld von der Polizei gewarnt und auch die
sozialistische Jungendbewegung (JRDA) nahm nicht immer freiwillig an der
Kampagne teil, obwohl es doch die Jugend war, der man staatlicherseits die
Zwangsmitgliedschaft in dem Geheimbund mit seiner langen und schmerzhaften Initiationszeit (Beschneidung der Mädchen) ersparen wollte.18 Auffällig war
zudem das entschiedene Eintreten christlicher Missionare für Aufklärung und
Fortschritt, denen es jedoch nicht gelang, die andauernde Furcht der Bevölkerung vor der Rache der verbrannten Masken zu zerstreuen.19 Heilige Haine
wurden umgepflügt und bepflanzt, nicht aber aus der Erinnerung gelöscht.20
Letztlich geben diese trotz ihrer Zerstörung wirksamen Orte ein Beispiel für
‚inneren Ikonoklasmus‘ vor. Hier beginnt der Geheimbund selbst, die Bindungen seines Wertsystems an zerstörbare Objekte zu lösen, ohne jedoch die symbolische Ordnung hierdurch zu schwächen.
Ikonoklasmus lässt sich mithin als eine öffentliche Operation beschreiben,
deren Besonderheit darin liegt, ein ikonisches Objekt, ein Bild oder Staatssymbol anzugreifen, hiermit aber zugleich stellvertretend ein ganzes System
oder eine symbolische Ordnung zu treffen. Hierin liegt die außerordentliche
Möglichkeit: Die Negation eines religiösen oder politischen Wertsystems lässt
18
19
20
Højbjerg (2007), Resisting State Iconoclasm, S. 58.
Ebd., S. 60.
Ebd., S. 63. Andere Elemente des Glaubens, so wie Ahnen- und Wasserkulte, blieben in der
Kampagne zwischen 1959 und 1961 unberührt.
RED AND BLACK BOXES
53
sich durch Hände, Feuer oder Werkzeuge bewerkstelligen. Wie Bruno Latour
beobachtet: „[T]he iconoclast’s hammers [have] always seemed to strike
sideways“.21 Von der Irritation eines Wertsystems durch das Verbrennen der
Masken ab, ist der Ausgang des ikonoklastischen Prozesses offen und genuin
unkontrollierbar. Von der Obrigkeit initiiert, bleibt das Verfahren abhängig
von den Reaktionen der Beteiligten: Tänzer, Ritualexperten, Jugendliche,
Polizei, Beobachter, Leser und Politiker. Ein gewisser Automatismus muss
also greifen, bevor sich entscheidet, ob die Zerstörung die Gemüter verletzt,
die Meinungen spaltet, Vergeltungsmaßnahmen fordert oder ob die Öffentlichkeit ungerührt über das Ereignis hinweggeht.
Die Gewalt gegen Bilder, etwa der Angriff einer Suffragette auf den liegenden Akt der „Venus vor dem Spiegel“ von Velázquez, hat die Verletzung eines bestimmten Frauenbildes und zugleich die Befreiung der inhaftierten Emmeline Pankhurst zum erklärten Ziel, kann aber in der Öffentlichkeit auch
konträre Energien mobilisieren. James Simpson betont für die Kinesis des
Ikonoklasmus einen wellenförmigen Verlauf, wobei Anfangszwecke und Folgen immer weiter divergieren können.22 Für das paradoxale Verhältnis von
Aufklärung und Ikonoklasmus spricht die Tatsache, dass die Akteure Gewaltmonopole usurpieren, und als vereinzelte Terroristen, Aufständische oder als
Staatsterrorismus auftreten. Auch wenn sich die frühesten Beispiele des Ikonoklasmus an religiösen Fragen entzündet haben: Zerstört wird seit der Französischen Revolution oftmals im Namen der Demokratie und der Säkularisierung, ja als Signatur der Avantgarde immer eigenständiger innerhalb der
modernen Kunst.23 In ihren typischen Varianten bewegt sich letztere in Richtung abstrakter Formen, die zwar einer Standardisierung nicht gleichzusetzen
sind, sich dennoch aber dem geometrischen Repertoire zuordnen lassen. Unter
den fünf von Latour klassifizierten Typen des Ikonoklasmus24 listet er auch
21
22
23
24
Bruno Latour, „What Is Iconoclash? Or Is there a World beyond the Image Wars?“, in:
ders./Peter Weibel (Hg.), Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art,
Karlsruhe, 2002, S. 14-37: 17.
„A striking feature of iconoclasm, then, whether in Constantinople or in England, is this: it
comes in waves. Once started, it’s difficult to stop. [...] Each wave detects contagion and infection less from the original source of infection, and more [...] from the previous, failed effort to cultural hygiene. [...] This kinesis of iconoclasm continues, with ever purer, narrower
historical affiliations, and it continues until the logic of destruction is stabilized.“ James
Simpson, Under the Hammer. Iconoclasm in the Anglo-American Tradition, Oxford, 2010,
S. 85.
Ebd.
Zu Latours Typologie: ,Typ A‘: Die Gläubigen sollen von allen Bildern befreit werden, da sie
Idole sind und nicht in der Lage, essentielle Zugänge zu vermitteln: „Free the believers […]
of their false attachments to idols of all sorts and shapes … They believe it is not only necessary but also possible to entirely dispose of intermediaries and to access truth, objectivity, and
sanctity.“ ,Typ B‘: Die Ikonoklasten fordern hartnäckig bessere, neuere, aktivere Ikonen ein:
„[They] do not believe it possible nor necessary to get rid of images. What they fight is
freeze-framing, that is, extracting an image out of the flow, and becoming fascinated by it, as
if it were sufficient, as if all movement had stopped.“ (Latour [2002], What Is Iconoclash?,
S. 21.) Beim Bildersturm vom ,Typ C‘ kämpft eine religiöse oder politische Gruppe gegen die
54
ANNA ECHTERHÖLTER
unwissende Bildzerstörer auf, etwa die Stadtplaner, die Ikonen en passant
einreißen ohne ihrer gewahr geworden zu sein und die Skeptiker, denen Bilderstürmer wie Ikonophile gleichermaßen suspekt erscheinen. Nicht einmal in
der distanzierten Meinungslosigkeit gibt es ein Entrinnen: Selbst noch diejenigen, die den Bildern keine Bedeutung zumessen wollen, sind ikonoklastisch in
ihrer Missbilligung der Bilder.
Für den formalen Zusammenhang der metrischen Standardisierung mit dem
Ikonoklasmus ist aufschlussreich, dass immer wieder eine Logik der Kommodifizierung, der Verbreitung der Warenförmigkeit, konstatiert wird. Hierzu
zählt etwa die manifeste Deflation der Bilder, die David Joselit im digitalen
Zeitalter konstatiert, dass Kunst zu einer globalen Währung entwickelt.25 Die
Kaskade von verfügbaren Bildern wirkt sich ebenso neutralisierend aus, wie
die Dekontextualisierung von Artefakten in Museen die Möglichkeit des emphatisch Ikonischen durch eine schlichte Politik der Relokalisierung reduziert.26 Für Jan Assmann ist das Vergessen eine der wichtigsten und wirksamsten Ressourcen der Bilderfeindlichkeit. Es sind immer wieder Figuren der
Neutralisierung und des Verschwindens, die auftreten – zur Dynamik des Bildersturms gehört auch die Produktion vermeintlich leerer Flächen.27 Trotz
erheblichen Aufwands zeigt sich, dass selbst noch zerstörte Statuen als Bruchstücke musealisiert werden, dass den bekämpften Symbolen eine wiedergängerische Fähigkeit zukommt, dass ihre Semiotiken geradezu als zäh charakterisiert werden dürfen, selbst wenn sich die Bedeutung deformierter Objekte
erzwungenermaßen wandelt.
Selbst bei der vollständigen Annihilation des materiellen Trägers ist nichts
erreicht, denn die Bedeutungen migrieren in immer unerreichbarere Zeichen.
Im Fall der gesprengten Buddha Statuen im afghanischen Bamiyan produzie-
25
26
27
Bilder der anderen um die Einsetzung und Würdigung der eigenen Standards. Letztlich fügt
Latour noch das unwissende Zerbrechen der Bilder als ,Typ D‘ hinzu, sowie die Spötter vom
,Typ E‘, die Ikonoklasten wie Ikonophile gleichermaßen verspotten. Insgesamt gilt: „What is
so terrible for idol smashers is that there is no way to decide for good whether they are As, Bs
oder Cs. […] We don’t know for sure. Ah, but that is why it is called Iconoclash“ [ebd.,
S. 30].
„Medium or Postmedium are not good analytic tools for describing the hybridity of such
chains or ‚currencies‘ of different states of form. Here we may take a lesson from late capitalist business practices in which virtually anything, from trash to home mortgages, may be
‚monetized‘ – in other words exchanged on an international market in an abstracted representational form.“ David Joselit, After Art, Princeton, NJ, 2013, S. 3.
„Not only that, but, more interestingly, the Enlightenment is itself an iconoclastic movement
in three profound ways. After 150 years or so of failed iconoclasm, Northern Europeans were
exhausted. They invented three alternatives to literal iconoclasm. In the first place, the scientific Enlightenment exercised a philosophical iconoclasm by describing ideology as false consciousness, an idol that enthralls the naive and that must be broken. Secondly, the sentimental
Enlightenment neutralized the image by placing it in the museum and by calling it Art. And
thirdly, Enlightenment taste commodified the image under the market’s hammer.“ Simpson
(2010), Under the Hammer, S. 117.
Gottfried Boehm, „Ikonoklasmus. Auslöschung – Aufhebung – Negation“, in: ders., Wie
Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin, 2007, S. 54-71.
RED AND BLACK BOXES
55
ren die nun evakuierten Aushöhlungen in der Felswand eine intensive und
unübersehbare Leere. Bedeutungen lassen sich auch im Falle der LomaMasken nicht einfach abstreifen: „C’est une singulière illusion que de croire
atteindre le paganisme en saccageant ses supports les plus visibles. Les croyances subsistent en devenant clandestines ou en recourant à un symbolisme
moins vulnerable“.28 Højbjerg berichtet hingegen in Guinea und den Nachbarländern über Fälle, in denen die staatlichen Ikonoklasmen der Modernisten
erfolgreich waren und die bekämpften ontologischen Ordnungen an Halt verloren.29 Verschiebungen und Turbulenzen, Vergessen und Desemantisierung
münden letztlich in der Durchsetzung homogener, naturalisierter Wertsphären
und ‚symbolfeindlicher Semantiken‘. All diese Analysen beschränkten sich
auf den Bereich der bildenden Kunst und religiösen Symbole und sie sind
noch nicht hinreichend auf die typischen Kernelemente der metrischen Standardisierung bezogen worden.
2. Staatlicher Metroklasmus: Die Standards von ‚Deutsch-Neuguinea‘
Im äußersten Norden der Kolonie Deutsch-Neuguinea30, der entlegenen Inselkette der Marianen,31 ließ der Bezirksamtmann Georg Fritz seinen Inselbewohnern im September 1904 folgendes Zirkular mitteilen:
Vom 1. April 1905 ab soll im inneren Verkehr auf den Marianen das deutsche
Mass- und Gewichtssystem in Anwendung kommen. Ich empfehle daher schon
jetzt den Gewerbetreibenden, sich statt der seither üblichen englischen und spanischen mit deutschen (Meter-) Massen und (Kilo-) Gewichten zu versehen. Alle
28
29
30
31
„Es ist eine einzige Selbsttäuschung zu glauben, dass sich das Heidentum durch Verwüstung
seiner sichtbarsten Objekte auslöschen ließe. Der Glaube überdauert indem sich verbirgt oder
zu einer Symbolik Zuflucht nimmt, die weniger angreifbar und verletzlich ist.“ Højbjerg
(2007), Resisting State Iconoclasm, S. 65; unter Bezug auf Georges Balandier, Afrique Ambiguë, Paris, 1957.
Ramon Sarró, The Politics of Religious Change on the Upper Guinea Coast. Iconoclasm
Done and Undone, Edinburgh, 2009.
Zu den deutschen Kolonien gehörten unfreiwillig die Karolinen, die Marianen, die Marshallinseln (Mikronesien), ein Teil des polynesischen Samoa, die nördlichsten Ausläufer der Salomo-Inseln, der nordöstliche Teil der Insel Neuguinea (Kaiser-Wilhelms-Land) sowie die vorgelagerten, großflächigen Inseln Neu-Mecklenburg und Neu-Pommern mit der GazelleHalbinsel.
Dirk H. R. Speenemann, „Combining Curiosity with Political Skill. The Antiquarian Interests
and Cultural Politics of Georg Fritz“, in: Micronesian Journal of the Humanities and Social
Sciences, 5 (2006), S. 495-504; Gerd Hardach, König Kopra. Die Marianen unter deutscher
Herrschaft 1899-1914, Stuttgart, 1990; Hermann Joseph Hiery (Hg.), Die deutsche Südsee
1884-1914. Ein Handbuch, 2. Aufl., Paderborn, 2002.
56
ANNA ECHTERHÖLTER
fremden Masse und Gewichte, die nach dem 1. April 1905 in Gebrauch gefunden werden, unterliegen der Einziehung.32
Angesichts der patriarchalen Strenge, mit der Fritz in seinem Regierungsbezirk aufzutreten wusste, kann es als sehr wahrscheinlich gelten, dass die erwähnte „Einziehung“ der vorgängigen Maße und Gewichte auch in die Tat
umgesetzt wurde. Als die zentrale Kolonialverwaltung Deutsch-Neuguineas
einige Jahre darauf per Umfrage eruierte33, ob eine Einführung des deutschen
Maß- und Gewichtssystems mit unüberwindlichen Schwierigkeiten zu rechnen
hätte, war die Antwort aus Saipan, man habe sich bereits „mit Maßen und
Waagen versehen“ lediglich die ‚Eingeborenen‘ bedienten sich noch des spanischen Maßes „Ganta“.34 Widerstand gegen die Metrisierung ist direkt nicht
belegt, wenn auch der Aufstand der Sokehs auf Ponape (1910/11) sich gegen
die neu eingeführte und bereits verdoppelte Kopfsteuer richtete.35 Global gesehen gehören Angriffe auf die Standardmaße fest zur Geschichte der Metrisierung.36 Der mexikanische Wirtschaftssoziologe Héctor Vera verwendet für
diese Angreifer auf Messobjekte bereits den Begriff der „Mesuroclasts“. Bei
der Quebra-Quilo-Revolte in Nordbrasilien (1874) drückt sich dieser Appell
bereits im Namen aus, da die Landbevölkerung die neu eingeführten Kilogrammgewichte zerschlug.37
32
33
34
35
36
37
Gez. Fritz, Kaiserliches Bezirksamt Saipan, den 21. September 1904 Bundesarchiv BArch
R 1001/2555 (Akten Masse und Gewichte in Neu-Guinea von November 1907 bis August
1913), S. 22 (vorhanden ist nur eine maschinenschriftliche Abschrift des Briefes).
Votum des Gouvernementsrats Deutsch-Neuguinea auf Grundlage der Umfrage in den Bezirken (Bundesarchiv BArch R 1001/2555, S. 4). Der Brief erwähnt die Sitzung vom 29. Oktober
1907, datiert aber vom 2. November 1907. Die Kolonien sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten
der Maß-und Gewichtsordnung des Deutschen Reiches unterworfen worden: Togo (1897),
Kamerun (1894), Deutsch-Südwestafrika (1899), Deutsch-Neuguinea und Deutsch-Ostafrika
(1912).
Bundesarchiv BArch R 1001/2555/Nr. 21: Akten Masse und Gewichte in Neu-Guinea von
November 1907 bis August 1913, Schreiben Saipan, 8. Februar 1908.
Alexander Krug, Der Hauptzweck ist die Tötung von Kanaken. Die deutschen Strafexpeditionen in den Kolonien der Südsee 1872-1914, Tönning, 2005.
Richard Sheldon/Adrien Randall/Andrew Charlesworth/David Walsh, „Popular Protest and
the Persistence of Customary Corn Measures. Resistance to the Winchester Bushel in the
English West“, in: Adrian Randall/Andrew Charlesworth (Hg.), Markets, Market Culture and
Popular Protest in Eighteenth-Century Britain and Ireland, Liverpool, 1996, S. 25-45: 27.
Héctor Vera, The Social Life of Measures. Metrication in the United States and Mexico,
1789-2004, Ann Arbor, MI, 2012, Dissertation, online unter: https://pqdtopen.proquest.com/
doc/924487292.html?FMT=AI, zuletzt abgerufen am 09.01.2019, S. 414. Die spanische Originalversion erschien als Héctor Vera, A peso el kilo. Historia del sistema métrico decimal en
México, México, 2007; vgl. ders., „The Social Construction of Units of Measurement: Institutionalization, Legitimation and Maintenance in Metrology“, in: Lara Huber/Oliver Schlaudt
(Hg.), Standardization in Measurement. Philosophical, Historical and Sociological Issues,
London, 2015, S. 173-187; der Aufstand steht auch im Zusammenhang mit der gleichzeitigen
Umstellung der Steuern. Vgl. Roderick J. Barman, „The Brazilian Peasantry Reexamined.
The Implications of the Quebra-Quilo-Revolt, 1874-1875“, in: Hispanic American Historical
Review, 53 (1977), S. 401-424.
RED AND BLACK BOXES
57
Will man die Metrisierung Deutsch-Neuguineas als staatlichen Metroklasmus betrachten, so sind Machtkämpfe an zwei Fronten zu berücksichtigen: In
ihrer Eigenschaft als Dinge des täglichen Gebrauchs stehen die metrischen
Waagen und Gewichte vor Ort als Signale der nationalstaatlichen Ansprüche
des Deutschen Reichs sowie dessen wirtschaftspolitischer Vormachtstellung,
die im Pazifik zumeist Behauptung blieb. Weitestgehend abgestreift hat das
metrische System die politischen Ansprüche der Französischen Revolution.
Während die naturalistische und universalistische Grundierung erhalten blieb,
hat sich das metrische System im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Trägersystem marktliberaler Werte entwickelt, das Reminiszenzen an die Egalitätsforderungen der Ersteinführung zu wahren und umzunutzen verstand.38
Georg Fritz muss in seinem Regierungsbezirk zwei Typen von abweichender
Metrik bekämpfen: Die indigenen Zähl- und Kalkulationsformen einerseits sowie die Standards der konkurrierenden Handelsmächte andererseits. Das 1825
eingeführte System der British Imperial Standards war im ganzen britischen
Commonwealth obligatorisch und in der ozeanischen Region aufgrund der Handelsbeziehungen zu Australien und weiterer britischer Kolonien mehr und mehr
die logistische Verkehrssprache. Im Hinterland der Inseln waren durch die spanische Missionstätigkeit die spanischen Maße sowie ihre vorzüglichen ‚peruanischen‘ und ‚chilenischen‘ Silbermünzen bereits wesentlich länger verankert.39
Mit den chinesischen und japanischen Maß-Systemen, die ebenfalls im Schutzgebiet auftreten40, ist zunächst eine erste Ebene pluralisierter Standards benannt,
die in Teilen nicht-westliche Universalismen vertreten. Die Zwecke und Effekte
der Standardisierung bleiben jedoch unter all diesen imperialen metrischen Systemen vergleichbar: Sie sind auf die unmerkliche Kanalisierung der internationalen Handelsströme zu den eigenen Gunsten ausgelegt. Die Mühen der Buchhaltung, die Hafengebühren und Zollkontrollen bilden hierbei die Zugriffspunkte einer Direktion qua Buchungs- und Maßeinheit. Die Quantifizierung ist
Ausdruck und Form der Logistik und der Zollbestimmungen.41 Mit Latour ließe
sich die Ersetzung des britischen Pfund durch den Meter oder des spanischen
Ganta durch 300 Gramm als Ikonoklasmus vom ,Typ C‘ auffassen, bei dem es
38
39
40
41
Simon Schaffer, „Metrology, Metrication, and Victorian Values“, in: Bernard Lightman
(Hg.), Victorian Science in Context, Chicago, IL, 1997, S. 438-475.
Miguel Aguilar-Robledo, „Contested Terrain. The Rise and Decline of Surveying in New
Spain 1500-1800“, in: Journal of Latin American Geography, 8, 2 (2009), S. 23-47; Manuel
Carrera Stampa, „The Evolution of Weights and Measures in New Spain“, in: Hispanic
American Historical Review, XXXIX (1949), S. 2-24.
Vgl. hierzu George Sarton/J. R. Ware, „Were the Ancient Chinese Weights and Measures
Related to Musical Instruments?“ in: Isis 1, 2 1947, S. 73; Hans Ulrich Vogel, „Weights and
Measures in China“, in: Helaine Selin (Hg.), Encyclopaedia of the History of Science, Technology, and Medicine in Non-Western Cultures, Dordrecht, Boston, MA, London, 1997,
S. 1010-1012. Zu Japan vgl. Shigeo Iwata, „Japanese Scales and Weights“, in: Equilibrium
(1983), S. 319-326.
Monika Dommann, Materialfluss. Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands, Frankfurt/M., im Druck.
58
ANNA ECHTERHÖLTER
zur Ersetzung der Fetische der anderen durch die eigenen kommt.42 Dieses
Durchwechseln internationaler Systeme ist in erster Linie Wirtschaftspolitik.
Die Umfrage zur Metrisierung in Deutsch-Neuguinea dokumentiert jedoch
deutlich eine zweite Wirkungsebene der Standardisierung, wo direkt koloniale
Gewalt ausgeübt wird. Dies ist der Fall, wo indigene Systeme der Quantifizierung und Messung angegriffen werden. Der staatliche Ikonoklasmus mag hier
bis zu einem gewissen Grad zu Latours ,Typ D‘, den unabsichtlichen Ikonoklasmen, zuzurechnen sein.
Umso folgenreicher allerdings sind die Irritationen innerhalb der getroffenen Ordnung einzustufen: Die Reform betraf und entmachtete lokale Wertungs- und Messungsobjekte ausgerechnet in einer Weltregion, die aufgrund
der schieren Überfülle monetärer Institutionen seit Bronislaw Malinowski
immer wieder wichtige Beiträge zur Wirtschaftsethnologie hervorgebracht hat
und noch immer der aktuellen Debatte um die ‚multiplicities of money‘ zentrales argumentatives Terrain bietet.43 Kaum ein Gebiet ist so reich an Teil- und
Zeremonialwährungen. Kaum eine Region ist in der Pluralität der sozialstrukturierenden Wertsphären und ihrer Repräsentation durch die sozialen Medien
quantifizierender Objekte so heterogen.44 Für Standardisierungsprozesse bietet
sich ein fast unendliches Gefälle möglicher Stabilisierungen.
Diese besondere Konstitution der monetären Sphäre ist in zweierlei Hinsicht entscheidend für die Frage der Standardisierung der Maße und Gewichte.
Am einen Ende der Skala liegen große Regionen, in denen Geld unbekannt ist.
Mengen verbreiteter Waren (Feldfrüchte, Gewebe, Werkzeuge) erfüllen erfolgreich die Funktion eines Tauschmediums. Bei den Warengeldern kommt
alles auf die verwendeten Maße an. Am anderen Ende der Skala liegen in
Deutsch-Neuguinea oftmals unwahrscheinliche Formen von Zeichengeldern.
So zählen auf den Marshallinseln Fledermaus- oder Hundezähne als Naturalgeld; am Mittellauf des Sepik werden Urheberrechte an Liedgut oder Werkzeugen übertragen.45 Direkt neben prämonetären Gebieten liegen Enklaven, in
42
43
44
45
Latour (2002), What Is Iconoclash?, S. 30.
Akin/Robbins (Hg.) (1999), Money and Modernity.
Für Überblicksdarstellungen vgl. noch immer: A. Hingston Quiggin, A Survey of Primitive
Money. The Beginnings of Currency, London, 1949; Paul Einzig, Primitive Money in its Ethnological, Historical and Economic Aspects, London, 1949. William J. D. Mira, From Cowrie to
Kina. The Coinages, Currencies, Badges, Medals, Awards, and Decorations of Papua New
Guinea, Sydney, 1986.
Alexis Themo von Poser, „Trommeln und Masken. Handelsbeziehungen in den Mündungsgebieten von Sepik und Ramu“, in: Christian Kaufmann/Philippe Peltier/Markus Schindlbeck
(Hg.), Tanz der Ahnen. Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea, München, 2015, S. 30-38: 30:
„Zwar gibt es ein strenges Urheberreicht für viele Dinge, so zum Beispiel für Melodien und
Liedtexte, für Tänze, Namen, Schnitzmuster und Körperschmuck, es kann aber zu unterschiedlichen Anlässen und aus verschiedenen Gründen übertragen werden. Solche oft virtuellen und
abstrakten Werte zählten zu den wichtigsten und am höchsten geschätzten Gaben; sie mochten
als Mitgift bei Hochzeiten oder zur Wiedergutmachung nach Konflikten dienen, aber auch zur
Bezahlung für Land und damit für das wichtigste Gut. Mit der Weitergabe eines bestimmten
RED AND BLACK BOXES
59
denen das soziale Gefüge von Geldformen geradezu überdeterminert ist – wie
beispielsweise auf der Insel Palau, unweit der Marianen. Das dortige Scherben- oder Perlengeld wird nicht für Haus, Nahrung und Kleidung eingesetzt.
Doch alles, was an sozialer Interaktion vor sich geht bis hin zur ehelichen
Umarmung, wird durch 53 Klassen eines Perlengeldes geregelt.46 Dieses Geld
lässt sich vor allem in der Erzeugung von Beziehungen und Hierarchien verdienen.47
Gerade im Bereich der Zeichengelder wird offensichtlich, dass die zur
Wertmessung eingesetzten Objekte nicht wie Münzen numerische Werte angeben und dass ihre Quantifizierungsleistung sich nicht ausschließlich auf
ökonomische Werte bezieht. Die alternierenden Routinen der Quantifizierung
in nicht-industrialisierten Ökonomien weichen in mehrfacher Hinsicht ab.
Zunächst sind politische, medizinische, zeremonielle, ästhetische oder strafrechtliche Kontexte der Wertmessung ebenso abgebildet wie ökonomische
Werte. Hinzu kommen die sprachlich verankerten Quantifizierungssemantiken, wie die oftmals sehr abweichenden Zählsysteme, die auf dem Körper, der
3, der 5, der 12 oder der 20 beruhen können. Jane I. Guyer hat darauf hingewiesen, dass die Verwendung unterschiedlicher Wertungsskalen in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation stark differiert.48 Quantifizierung kennt also
serielle Beiordnung in lediglich numerischen Aggregaten. Die Ordnung bleibt
horizontal und ist weitaus weniger hierarchisch gedacht als in den Ordinalskalen. Diese privilegieren wie das olympische Komitee die ersten drei
Plätze und spiegeln mühelos soziale Hierarchien. Erst der Typus der metrisch
stabilen Intervallskalen allerdings, ermöglicht Messung und Quantifizierung
im technisch stabilen Sinn. Die europäische Bewertung metrischer Maße und
Geldtypen ist demgegenüber vom Repertoire her auf die letzte Variante eingeschränkt. Sie stehen zudem für eine abstrahierte und reduzierte Fassung der
monetären Sphäre, die oftmals zu schnell mit der Quantifizierung gleichge-
46
47
48
Urheberrechts schuf man feste Bindungen, die sich durch die gemeinsame Nutzung der betreffenden Sache, die gemeinsame Aufführung oder Ausübung anderen gegenüber vertieften.“
„Der Mensch, als Tier aufgefasst, hat hier genug zum Lebensunterhalte, will er aber eine Frau
haben, Familie gründen, Mitglied eines Staates sein, so muss er Geld besitzen.“ Dabei hat der
Einzelne unter Umständen „weit mehr Sorgen als ein fleissiger Arbeiter bei uns.“ Richard
Parkinson, Dreißig Jahre in der Südsee. Land und Leute, Sitten und Gebräuche im Bismarckarchipel und auf den deutschen Samoainseln, Stuttgart, 1907, S. 19.
„Udoud can be used to purchase commodities, to pay for labor services, to cement or break
off personal friendship and political alliance, to reciprocate affinal food prestations, to make
and terminate marriage, to conclude peace between villages, to ward off illness, to elevate a
man to a chiefly title, to resolve fines imposed by chiefly councils, to pass inheritance through
the generations, and to coerce the spirits. The various classes of udoud have well established
focal usages. [...] [F]or titleholders the more respectable method of obtaining udoud was to
control the labor, behavior, and marriages of others.“ Richard Parmentier, „Money Walks,
People Talk. Systemic and Transactional Dimensions of Palauan Exchange“, in: L’Homme,
162 (2002), S. 49-80: 55.
Jane I. Guyer, Marginal Gaines. Monetary Transactions in Atlantic Africa, Chicago, IL,
2004, S. 47 f.
60
ANNA ECHTERHÖLTER
setzt wird, die in sich wesentlich größere Spielräume bietet. Der metrische
Prototyp Deutschlands (Nr. 22) stand bei seiner Einführung für ein spezifisches symbolisches Regime der Quantifizierung von Werten. Da die Ermittlung von Preisen immer an Mengenangaben gekoppelt ist, liegen in jeder
Währungsangabe Elemente dieses Standards mit vor.
Auffällig ist jedoch, dass diese Verschränkung von Preis und physischer
Form oder Menge bei den ozeanischen Zeichengeldern noch enger einzustufen
ist. Denn in diesen zumeist nicht-numerisch lesbaren Objekten, findet die
Quantität des Wertes ihren Ausdruck. Dies kann durch Alter, Bekanntheitsgrad, Schönheits- oder Seltenheitswert geschehen – aber durchaus auch durch
schiere Größe oder Menge. Diese wird in Ozeanien jedoch nicht in Meter und
Kilogramm, sondern in vor-metrischen Maßen ermittelt, wodurch in der Kolonie ein weiterer Standardisierungskonflikt entsteht. Die Historische Metrologie deutet diesen jedoch selbst als Indikator für den Industrialisierungsgrad
und damit für die wirtschaftliche Verfassung einer Gesellschaft. Handel und
Logistik, Buchhaltung und Zollwesen lösen vormals lokalspezifische Maße
von ihren konkreten Prozessorientierungen ab und erzeugen eine abstrakte
Matrix der exakten Beschreibung.
Der Vergleich der metrischen und monetären Standards in Europa und Ozeanien zeigt zwei Unterschiede: Die Menge eines Stoffes muss in Ozeanien
nicht notwendig in den messbaren Raumkoordinaten Größe und Schwere angegeben sein, sondern kann durch symbolische Gegenstände, Schätzungen
und ästhetische Formgewohnheiten reguliert werden, und geldähnliche Objekte können Bereiche sozialen Handelns betreffen, die in Europa nicht gezählt
würden. Diese Tatsachen machen plausibel, inwiefern die Metrisierung der
Kolonie die sozialen Strukturen mit einiger Schärfentiefe ergreift. Diese hohe
Passung der Wertmesser in das soziale Gefüge der Gesellschaft lässt sich am
vieldiskutierten Steingeld der Insel Yap zeigen, die in der Nachbarschaft von
Palau und unweit der Marianen gelegen ist.49 Diese zeremonielle Währung
wird „Fä“ genannt und besteht aus Agonitplatten von der Größe und Anmutung ganzer Mühlsteine. Sie können nur von mehreren Personen gemeinsam
überhaupt bewegt werden. Der Geldwert wird in ungefähren Maßen taxiert:
„Sein Wert wird auch bei nicht ganz runden Stücken nach der Weite des größten Durchmessers durch Handspannen bestimmt, die von der Daumen- bis zur
Zeigefingerspitze gemessen werden.“50 Besonders alte oder große Exemplare
tragen Eigennamen und damit idiosynkratrische Wertelemente. Ein sechs
Handspannen großes Stück ist nach seinem ersten westlichen Erforscher Jan
Kubary benannt; subalterne Mitglieder der Inselgesellschaft dürfen keine
Steinplatten besitzen, die größer als vier Spannen sind.51
49
50
51
Vgl. Arno Senfft, „Das Geld der Yaper“, in: Deutsches Kolonialblatt, 12 (1901), S. 870-872.
Theodor Helmreich, Das Geldwesen in den deutschen Schutzgebieten, 2. Teil, Mikronesien,
Fürth, 1913, S. 96.
Ebd., S. 97 und S. 101.
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61
Die Steingeldwährung „Fä“ von der Insel Yap steht für die Interdependenz
metrischer Formate. Denn um die Platten auf der Insel Ponape aus einem
Steinbruch zu schlagen, mussten die ausgesandten Gruppen 500 Kilometer
über den Ozean navigieren. Erneut ist die orientierende Messung nicht ausschließlich von abstrakt-numerischer Natur.52 Jedes „Fä“ zeugt von den bestandenen Gefahren des Rücktransports mit erheblicher Fracht nach geleisteter, oft monatelanger Arbeit in den Steinbrüchen. All diese Kosten und
Risiken bei der Geldherstellung, die Abenteuer und Gemeinschaftsleistung,
und nicht zuletzt die Navigationskünste, die immer wieder zu den elaboriertesten Formen nicht-westlichen Wissens gezählt werden, wurden von unerwarteter Seite entwertet. Nicht durch Gesetz, sondern vielmehr durch die Idee des
Händlers O’Keefe, ein Schiff zu erwerben und den Inselbewohnern gegen
Steingeld den Transport technisch zu erleichtern.
Die dadurch einsetzende Inflation der Steinplatten entwertete diese allerdings nicht vollständig, was sowohl der Bezirksregierung als auch O’Keefe
selbst die Möglichkeit gab, sich an den indigenen Wertmessungsobjekten zu
bereichern:
Auch die deutsche Regierung erkennt das Fä als Zahlungsmittel an und pfändet
Gemeinden und Einzelbesitzern, die gegen ihre Anordnungen verstoßen haben,
die Geldsteine. Sie werden in diesem Falle zwar oft an ihrem Standorte belassen,
aber der eingeborene Gerichtsvollzieher malt mit schwarzer Farbe nicht zu klein
die Buchstaben B.A. (Bezirksamt) auf einen oder mehrere.53
Der Behörde erschlossen sich durch diese Anerkennung der fremden Währung
erhebliche Druck- und Einflussmittel, die an den höchsten Werten der lokalen
Kultur ansetzen konnten. Zwar wurde manche Schuld eingelöst und die Behörde strich mit schwarzer Farbe die Lettern auf dem gepfändeten Stein wieder durch. Wo immer aber die Auslösung nicht erfolgte, ging das Objekt in
den Besitz der Regierung über, für die zu jeder Zeit die Möglichkeit bestand,
Fä gegen Copra einzutauschen – gegen den lukrativsten Rohstoff der Region,
die ölhaltige Frucht der Kokosnusspalme.54 Die Entwertungsroutinen, die an
den unterschiedlichen Messungs- und Wertmessungsverfahren ansetzen, erweisen sich als milder Inflationsprozess mit gravierenden Folgen für die vielfältigen Kompetenzen, die sich mit dieser ungewöhnlichen monetären Institution verknüpfen.
Die Steingeldwährung wird in erster Linie durch das Profitinteresse eines
Händlers erschüttert. Die technische Modernisierung trifft lokale Messungskünste jedoch ins Herz, denn was durch diesen Wandel überflüssig wird, sind
52
53
54
Vgl. David Turnbull, Mapping the World in the Mind. An Investigation of the Unwritten
Knowledge of the Micronesian Navigators, Geelong, 1991; Matthias Schemmel, Spatial
Thinking and External Representation. Towards a Historical Epistemology of Space, Berlin,
2016.
Helmreich (1913), Das Geldwesen, S. 105.
Ebd., S. 106.
62
ANNA ECHTERHÖLTER
die berühmten mikronesischen Navigationskünste. Allerdings legten die Leute aus Yap ihre Gewohnheit nicht vollends ab. Noch die australische Kolonialregierung verbot die riskante Seefahrt, die sich an Abfolgen von Stern- und
Küstenkonstellationen ohne Kompass orientierte. Auch das Steingeld wurde
von seiner inflationären Verfügbarkeit verändert, aber nicht beseitigt. Es
änderte jedoch seine Zuordnung zu sozialen Schichten und Ritualen. In der
Konkurrenz zu westlichen, rein monetär gedachten Wertmaßstäben verloren
die Steinplatten an Wert, aber nahmen in ihrer Zahl zu. Metroklastisch ist
dieser Prozess insofern, als die veränderten Objekte die symbolische Ordnung
aktivierten und die soziale Hierarchie der Insel herausforderten. Auf diese
Gewalt folgte jedoch keine schlichte Ersetzung durch andere Standards.
In der jüngeren Wirtschaftsethnologie wird oftmals diskutiert, ob nicht die
Austauschsituation zwischen unterschiedlichen sozioökonomisch strukturierten Gruppen geradezu eine Blüte und neue Entwicklung der Naturalwährungen hervorruft. In Deutsch-Neuguinea war eine interessierte Appropriation des
Steingeldes von Yap seitens der Kolonialregierung zu verzeichnen. Diese
nutzte das Steingeld zur Verpfändung und zur Zahlung von Strafen. Die Appropriation der „Naturalgelder“ durch die Kolonisatoren bedeutet allerdings
keine Übernahme all der Bedeutungen, die diese Objekte in der Herkunftskultur repräsentieren. Es darf vermutet werden, dass diese Aneignung oberflächlich blieb, bzw. dass im Umgang mit dem Zeichengeld vielmehr metrische
Quantifizierungs- und Wertvorstellungen die indigene Institution überschrieben und es als ,modernisiert‘ verstanden wurde.
In anderen Regionen des ehemaligen Deutsch-Neuguinea ist exakt dieser
‚innere‘ Ikonoklasmus, der den Wertmesser verwendet, ihm aber die Quantifizierungsroutinen der Gegenseite zuschreibt, in Feldforschungen jüngeren Datums bestätigt worden. Den Abschied vom Muschelgeld im Zentralmassiv
Neuguineas schildern Pamela J. Stewart und Andrew Strathern als aktive
Wahl der Bevölkerung, da die Weißen, die das Muschelgeld überhaupt erst in
die Region gebracht hatten, in der Wahrnehmung der Bevölkerung das ,echte‘
Münzgeld trickreich verheimlicht hatten. Die Übernahme allerdings erfolgt
durch eine Umcodierung der Wertungsroutinen. Auch Banknoten können in
zeremoniellen Situationen zum Einsatz kommen: „The Duna, like the Hageners, use money as both a ceremonial valuable and a medium for commodity
exchange, and they no longer employ shells in their transactions. [...] [The
banknotes; A. E.] have been given a purely local set of values.“55
55
Pamela J. Stewart/Andrew Strathern, „Transformations of Monetary Symbols in the Highlands of Papua New Guinea“, in: L’Homme 162 (2002), S. 137-156: 153.
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63
3.1 – Zeremonie im Hochland von Papua-Neuguinea:
Ritual, bei dem ,Kina‘-Banknoten die Perlmuschelgelder ersetzt haben,
die sonst auf den Stäben präsentiert wurden.
,Kina‘ bedeutet ,Perlmuschel‘ in der Sprache der Melpa, die im Hochland
Papua-Neuguineas um Mount Hagen leben und durch den Handel vor allem
mit Kolonisatoren das Muschelgeld, später Banknoten zu schätzen lernten.
Das Foto zeigt angehörige der Duna, die Papiergeld wie früher
die Muschelgelder auf Stecken aufreihen (1999).
Geldobjekte werden in dieser Szene zu binären Medien, die sowohl die Industrialisierung als auch die Gegenposition zu verwalten vermögen. Stewart und
Strathern legen nahe, dass diese kultische Einbindung der Banknoten in den
älteren zeremoniellen Tausch eine gelungenere Zähmung und reappropriation
des Geldes darstellt als der Red Box Money-Kult.56
Die prinzipielle Beweglichkeit und Bedeutung sozialer Medien, ihre Eigenheit, von pluralen Wertvereinbarungen getragen zu werden, wird durch die
beispiellose Erfolgsgeschichte des Meters und des ,Black Box Money-Kults‘
als Standards mit der größten globalen Verbreitung leicht verdeckt. Das damit
einhergehende Anheimfallen ganzer Kulturen an eine unregierbare Wette, die
Etablierung einer Ebene vergessener monetärer Symbolik und die Ent-semiotisierung des Vertrauens im Geldverkehr – all dies scheint der Tendenz nach
unaufhaltsam. Nicht jedoch in dem durch Gouverneur Georg Fritz metrisierten
Bezirk. Die Vereinigten Staaten von Mikronesien gehören neben Samoa zu
den sechs Staaten57, die sich dem Systeme Internationale, dem Nachfolger des
56
57
„In this way they have at least partially tamed it and so, for the time being, having made it a
supreme object of value in their cult, also set it to work in the service of their own social values.“ Stewart (1980), Red Box Money-Cult, S. 174.
Nach Hector Veras Zählung erfolgte die Metrisierung Papua-Neuguineas 1970, da die Kolonien im Ersten Weltkrieg an Australien gingen und wieder aus dem metrischen System ausstiegen. Auch heute noch gehören Samoa (nie eingeführt), Palau, die Marshallinseln und die
Vereinigten Staaten von Mikronesien zu den Ländern, die der Meterkonvention nicht beigetreten sind, wie die vielleicht bekannteren Verweigerer der Vereinigten Staaten von Amerika,
Myanmar und Sierra Leone/Liberia. Vera (2012), The Social Life of Measures, S. 494-497.
64
ANNA ECHTERHÖLTER
metrischen Systems und gültigen Reglement der Standardisierung von Maßen
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STEFAN RIEGER
STILLE POST.
AUTOMATISMEN DER FORMERZEUGUNG
Beim Anschauen regelmäßiger geometrischer Linieen, Schnecken- Kreis- und
Wellenlinieen, symmetrischer Gestalten, Zierrathen, Schnörkeln, wo überhaupt
Gesetz und Nothwendigkeit herrscht, fühlt sich das Auge unwillkürlich von den
Umrissen der Gegenstände fortgezogen, die Bewegungen sind erleichtert, ja halb
automatisch, so daß sie auf die angeschauten Gegenstände übertragen werden in
denen nun ein eigenes Leben und Bewegen erscheint, was einen eigenthümlichen
Eindruck gewährt, und ebenfalls von leisen Spannungsgefühlen am Augapfel
begleitet ist. Es wäre der Mühe werth diese Art Augenmusik die uns allenthalben
aus der Natur und Kunstwelt entgegenwinkt als einen eigenen Kunstgegenstand
zu bearbeiten. Gewiß würde hier für das schaffende Genie eine neue Bahn gebrochen wenn die Ausführungen hinlänglich ins Große getrieben würden.1
I. Im Außenbereich bewusster Planung
Der Beitrag setzt an einem Schwerpunkt des Graduiertenkollegs Automatismen an und diesen in Szene. Situiert ist er nämlich dort, wo Automatismen als
Dynamiken einer Strukturentstehung gefasst werden, die sich jenseits bewusster Planung vollziehen. Solche Prozesse sollen stellvertretend am Fall von
Bildern und ihrer zunehmenden Automatisierung in den Blick genommen
werden. Die verwendeten Bilder oder genauer noch Bildtypen sind dabei so
unterschiedlich wie die Anlässe, an denen diese Verarbeitung jeweils stattfindet. Bei all dieser Streuung gibt es aber dennoch einen gemeinsamen Fluchtpunkt, der die unterschiedlichen Teilaspekte fokussiert. Für die Benennung
dieses Fluchtpunkts bietet sich das im Titel genannte Kinderspiel von der Stillen Post an – und zwar als Modell für die Beschreibung von Prozessen der
Transformation, das Momente von Intentionalität und Gesteuertheit, kurz, die
bewusste Planung und Kontrolle gezielt außer Kraft setzt. An Beispielen aus
sprachlicher, gezeichneter, fotografierter und nicht zuletzt filmischer Darstellung soll im Prozess der allmählichen Verfertigung von Bildern mit deren
transrationaler Konstruiertheit zugleich das Unterlaufen stabiler Zuordnungen
zu Natur und Kultur sichtbar werden.2
1
2
Johann Purkinje, Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht, Prag, 1819, S. 161 f.
Das eröffnet regelrechte Schauplätze der Transrationalisierung. Vgl. dazu stellvertretend
Willy Hellpach, „Psychotechnik des Unbewußtseins“, in: Walther Moede (Hg.), Industrielle Psychotechnik. Der Mensch. Eignung – Leistung – Charakter – Verhalten, 13. Jahrgang
70
STEFAN RIEGER
Hinter diesen Beispielen steckt ein für die kultur- und medienwissenschaftliche Analyse unabdingbarer Fragenkomplex: Wie stellt man sich vor, dass es
so etwas wie Konstanz und Persistenzen überhaupt geben kann, die es erlauben, Transformationen, also Veränderungen jedweder Art, an Bildern als solche überhaupt wahrzunehmen? Die Beobachtung von Veränderung setzt einen
wie auch immer gearteten Überlieferungszusammenhang, einen wie auch immer gearteten Übertragungsraum voraus, der die Folie für die vielfältigen
Veränderungen bereitstellt. Wie kann man also an individuellen, aber auch an
kollektiv organisierten Überlieferungszusammenhängen (etwa in Form von
Institutionen, Archiven, Bildsammlungen, Archetypenlehren u. Ä.) solche
Folien plausibilisieren? Was für ein Konzept von kulturellem Gedächtnis kann
das leisten? Wer ist für die Formüberlieferung zuständig, wer also sind die
Agenten und wo sind die Agenturen? Man gerät auf der Suche nach Antworten schnell an sehr großräumige Ansätze, wie etwa dem der Kulturtheorie Aby
Warburgs. Neben solchen universalen Theorieangeboten steht eine eher kleinteilig vorgehende Praxis, die sich an der Operationalisierung von Persistenzen
und Konstanz in einem Überlieferungsgeschehen versucht, das keiner bewussten Kontrolle unterliegt. Von diesem Außerkraftsetzen intendierter Steuerung
durch Prozesse einer technischen Automatisierung handeln die folgenden fünf
Fallgeschichten. Sie sollen zeigen, wie und wo das Durchhaltevermögen von
Formen überhaupt verhandelt wird, welche Rolle dabei Aspekten zukommt,
denen sich die Forschung des Graduiertenkollegs verschrieben hat – Aspekten
der Normalisierung, der Standardisierung und nicht zuletzt der Automatisierung. Die fünf Fallgeschichten spielen aufeinanderfolgend in der Sprachwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Neurologie, der Wissenschaftsgeschichte
und der Neurowissenschaften. Abgeschlossen werden sie durch Warburgs
Kulturtheorie. In allen Fällen geht es um eine Kulturtheorie, die wissenschaftliche Argumentationen und Experimentalanordnungen heranzieht, um Persistenz und Variation sowohl beobachten als auch erklären zu können. Für wie
plausibel diese der Sache nach im Einzelnen erachtet werden, tut dabei ihrer
Verwendung als kulturtheoretischer Begründung keinen Abbruch.
II. Probanden müssen Linien zeichnen
Auch die Sprache ist, als Einheit genommen, eine Welt der Gegenstände und so
können wir auch ihr gegenüber eine mehr sachlich-begriffliche oder eine mehr
physiognomische Fassung vollziehen. Die sachliche Fassung der Sprache in
höchstmöglicher Vollendung wird in der theoretischen Philosophie und Wissenschaft erreicht. Hier ist Sprache, ist jedes Wort ,Zeichen‘ eines Dinges oder Begriffes. Je naiver aber das Spracherlebnis ist, um so weniger trägt Wort und Satz
(1936), Berlin, S. 104-116, sowie Friedrich Giese, Das außerpersönliche Unbewußte. Theoretische Bemerkungen zum intuitiven Denken, Braunschweig, 1924.
STILLE POST
71
Gesicht und Ausdruck. Menschen, die diese innige Nähe zur Sprache haben, sind
auch noch in unserem Bereiche imstande, die Sprache gesichthaft zu erleben.3
Bei dem Schreiber dieses Zitats handelt es sich um den Hamburger Psychologen Heinz Werner, einen Kollegen Ernst Cassirers und Gewährsmann für
dessen Philosophie der symbolischen Formen.4 In Erscheinung trat Werner
immer wieder mit Arbeiten zur sogenannten Sprachphysiognomik, ein Ansatz,
der, wie es der Titel schon sagt, Sprache und Physiognomik direkt aneinander
koppeln und, über die bloße Behauptung hinaus, diese Kopplung vor allem
experimentell überprüfen will.5 Dieses gesichthafte Erleben von Sprache ist
daran interessiert, Formen zu finden, wo man sonst die Beschäftigung mit
sprachwissenschaftlich einschlägigen Kategorien wie etwa der Bedeutung
erwarten würde. Umsetzung findet das Ganze in aufwendigen Experimentalreihen, in denen Werner „die sinnlichen Erscheinungsformen sprachlicher
Ausdrücke in verschiedenen Sprachen graphisch fixieren“ ließ.6 Diese Erscheinungsformen haben, um gleich einem Missverständnis vorzubeugen,
nichts mit der wissenschaftlichen Grafologie zu tun, beziehen sie sich doch
über die individuelle Handschrift als deren genuinen Gegenstandsbereich hinaus auf sämtliche Formen der schriftlichen Darbietung, damit eben auch auf
Drucktypen und Maschinenschrift, also auf die technischen Standards eines
Schriftverkehrs und nicht nur auf die Besonderheiten eines individuellen Ausdrucks.
4.1 und 4.2 – Sprachphysiognomische Proben
3
4
5
6
Heinz Werner, „Über Sprachphysiognomik als einer neuen Methode der vergleichenden
Sprachbetrachtung“, in: Zeitschrift für Psychologie, 109 (1929), S. 337-363: 338.
Vgl. dazu Stefan Rieger, Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt/M.,
2009.
Zur Würdigung aus linguistischer Sicht und unter Berücksichtigung des Auditiven vgl. Stefan
Volke, Lautphysiognomik. Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der
Lautwahrnehmung, Freiburg, 2007.
John Michael Krois, „Cassirer und die Politik der Physiognomik“, in: Claudia Schmölders
(Hg.), Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin, 1996, S. 213-226: 222.
72
STEFAN RIEGER
Eine Arbeit des Psychologen Richard Krauss mit dem Titel „Über graphischen
Ausdruck. Eine experimentelle Untersuchung über das Erzeugen und Ausdeuten gegenstandsfreier Linien“ von 1930, die sich bei Werner orientiert, informiert über dessen Vorhaben wie folgt7:
Auf das Ziel und die Einzelheiten dieser Untersuchung kann hier nicht weiter
eingegangen werden, sondern es sei nur berichtet, daß sich eine Tendenz bei einzelnen Vpn. herausstellte, Wortbilder in einem anderen als dem dargebotenen
Schriftzug zu erleben, der den Inhalt des Wortes besonders adäquat ausdrückt.
So ging es nicht nur mit Eigenschaftswörtern (wie spitz oder rund) sondern auch
mit Dingwörtern und sogar mit Materialien.8
Bestimmte Wörter, so lautet eine der Grundannahmen, bewahren die Form des
Spitzen, des Runden bis hin zur Beibehaltung dinglicher oder materialer Qualitäten. Lässt sich die von Werner behauptete Physiognomik im Experiment
nachstellen? Kann man das überindividuell verhandeln? Lässt sich eine objektive, weil inter- oder sogar asubjektive Gültigkeit für dieses Formenrepertoire
feststellen? Kurz: Gibt es nachweisbare Mechanismen der Standardisierung
und Normalisierung?9 Die Überprüfung dieser Fragen führt zu Nachstellungen, wie derjenigen von Richard Krauss, bei denen die Versuchspersonen
Reflexion und Intention so weit wie nur immer möglich ausschalten sollen,
um sich also völlig zu Medien der Form bzw. der Formwiedererkennung zu
machen. Einen Eindruck über die Eigenlogik solcher Experimentalanordnungen vermittelt folgende Selbstreflexion ihres Versuchsleiters:
Natürlich kann ich Ihnen nicht sagen, Sie dürfen nichts denken, sonst würden Sie
die ganze Zeit dasitzen und denken: ,O Gott, ich darf nichts denken.‘ Aber Sie
sollen Ihre Gedanken nicht damit beschäftigen: Wie mache ich eine Linie, die
fröhlich aussieht, sondern wenn Sie schon durchaus etwas denken müssen, so
soll es in die Richtung gehen: ,Wie ist mir zu Mute, wenn ich fröhlich bin, wenn
ich einmal ganz lustig bin, ich bin schon ganz fröhlich, ganz vergnügt.‘10
7
8
9
10
Für die Nachstellung hier ist folgende Studie einschlägig, auf die in diesem Zusammenhang
allerdings nur angespielt wird: Richard Krauss, „Über graphischen Ausdruck. Eine experimentelle Untersuchung über das Erzeugen und Ausdeuten gegenstandsfreier Linien“, Leipzig,
1930 (Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psychologie; 48).
Ebd., S. 1.
Heinz Werner, der dazu die Statistik bemüht, gesteht den letztendlich den subjektiven Stellenwert solcher Befunde durchaus ein. Zum Verlust des exakt-wissenschaftlichen Charakters
vgl. ders. (1929), Über Sprachphysiognomik, S. 346.
Krauss (1930), Über graphischen Ausdruck, S. 5.
STILLE POST
73
4.3, 4.4 und 4.5 – Sprachphysiognomisch lesbare Linienzüge;
von links nach rechts: fröhlich, traurig, angespannter Wille
Auf der Suche nach Erklärungsmodellen für die Bedeutung bestimmter Linienzüge kommt ein Argumentationstopos der Moderne ins Spiel, nämlich die
Verschränkung von Ethnologie und Entwicklungspsychologie.11 Als einen
geradezu mechanischen Erklärungsansatz zieht Krauss das sogenannte Partizipationsgesetz des französischen Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)
heran. Es handelt sich um ein Gesetz, das dem Erforscher gegenstandsfreier
Linien im Rückgriff auf den Entwicklungspsychologen und Sprachphysiognomen Heinz Werner nicht weniger als die Konstatierung einer physiognomischen Umwelterfassung erlaubt.12 Diesem Gesetz zufolge kommt es im primitiven und – so jedenfalls ergänzt Werner den Ansatz von Lévy-Bruhl unter
Rekurs auf weitere ethnologische Kompetenz und namentlich mit Blick auf
Theodor-Wilhelm Danzel, der mit seiner Ethnologischen Kulturkunde immerhin den Versuch einer uníversalen Systematik der Kulturwissenschaften unternommen hat – im künstlerischen Denken zu einer Angleichung an die Umwelt, zu einer Wandlung und Verwandlung, die bis zur Behauptung einer
regelrechten Wesensidentität reicht.13 Dazu zitiert Krauss die Einschätzung
Danzels durch Ernst Vatter in dessen Religion und Plastik der Naturvölker
von 1916: „,Mit feinem Gefühl hat DANZEL erkannt, daß die Partizipation
mit dem Außermenschlichen, die Ausweitung des Ichbewußtseins und Ichgefühls auf die Materie, die sozusagen ein Stück des Menschen wird, am ehesten
11
12
13
Verwiesen wird auf einschlägige Arbeiten, etwa Felix Krueger, Über Entwicklungspsychologie. Ihre sachliche und geschichtliche Notwendigkeit, Leipzig, 1915 (Arbeiten zur Entwicklungspsychologie, Bd. 1, Heft 1); Heinz Werner, Einführung in die Entwicklungspsychologie,
Leipzig, 1926.
Dazu Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, Wien, Leipzig, 1926, sowie in der
Übertragung auf die Sprache: Werner (1929), Über Sprachphysiognomik und ders., Grundfragen der Sprachphysiognomik, Leipzig, 1932.
Unmittelbar im Kontext der Danzel’schen Erweiterung von Lévy-Bruhls Ansatz, die darin
besteht, bloß beschreibende Ergebnisse durch eine Art der Erklärung zu ergänzen, taucht in
einer Fußnote Kassner auf: „Es sei darauf hingewiesen, daß bei Kassner für ähnliche Probleme der Begriff der ,Verwandlung‘ des ,Sichverwandelns‘ zentral ist.“ (Werner [1929], Über
Sprachphysiognomik, S. 70.)
74
STEFAN RIEGER
das außerordentlich entwickelte Empfinden des primitiven Künstlers für materialgerechte Formengestaltung zu erklären vermag.‘“14
Um die Sprachphysiognomik zu plausibilisieren, wird ein Schichtenmodell
mit unterschiedlichen zeitlichen Tiefen unterstellt. In den genetisch tiefer liegenden Schichten hätte der physiognomische Sinn seinen angestammten Ort,
dort verharren die Persistenzen bis zu ihrer Reaktivierung. Zugänge dazu bieten neben Entwicklungspsychologie und Ethnologie die Kunst: „[Z]wingt
doch der wahre Künstler durch sein Werk den Betrachter in jene ursprünglichen Schichten seiner selbst hinabzusteigen und sie in sich lebendig werden zu
lassen“.15 Unterstellt wird also ein Mechanismus der Vorzeitigkeit, der die
physiognomische Bedeutung absichern und der durch Erfahrungen etwa der
Kunst zutage treten soll – als überindividuell gültiges Repertoire.
III. Naivität der Medien: die Stille Post kopierender Kinder
Für den zweiten Überlieferungszusammenhang steht ein Kinderspiel Pate,
nämlich das der Stillen Post. Eine Stille oder Flüster Post funktioniert nicht
nur mit kleinen narrativen Sequenzen, deren Veränderung man ausgehend von
einem Original im Prozess der Mitteilung beobachtet, sondern es funktioniert
auch mit Bildern als Träger von Formen.16 So fand das Prinzip Stille Post Eingang in eine Debatte über kunstgeschichtliche Überlieferungen, wie sie namentlich der Physiologe (und nebenbei auch als Archäologe tätige) Max Verworn (1863-1923) entwickelt hat. Der Anlass ist ein Vortrag Verworns aus
dem Jahr 1914 mit dem Titel Ideoplastische Kunst. Um zu klären, wie es zu
bestimmten realen Effekten der Formveränderung in lang angelegten Etappen
der Malerei ausgehend von der Steinzeit hat kommen können, und noch konkreter, wie es zum Übergang von einer älteren physioplastischen zu einer neueren ideoplastischen Kunst hat kommen können, versucht er, den Prozess
malerischer Überlieferung nachzustellen und kurzerhand zu simulieren.
14
15
16
Krauss (1930), Über graphischen Ausdruck, S. 70.
Werner nach Krauss (1930), Über graphischen Ausdruck, S. 124. Vgl. zum Verhältnis von
Ästhetik, Experiment und Linie: Sabine Mainberger, Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin, 2010 (Kaleidogramme; Bd. 53).
Ernst Ketzner, „Zur Analyse der Gestaltperseveration an gezeichneten und gelegten Figuren“,
in: Archiv für die gesamte Psychologie 97 (1936), S. 435-449.
STILLE POST
75
4.6 und 4.7 – Umgestaltende Wirkung fortgesetzten Kopierens.
A: Originalvorlage, B: zehnte Kopie, C: achtzehnte, D: siebenundzwanzigste Kopie
Dazu legt er einer mit Bedacht ausgewählten Gruppe von Schulkindern Zeichnungen mit dem Sujet der Höhlenmalereien vor und fordert die Kinder auf,
diese wiederholt und unter Vermeidung des originalen Originals immer weiter
abzumalen und so jene Mechanismen sichtbar werden zu lassen, die im Realen
der Bildwerdung den einzelnen Agenten ihr Malwerkzeug führte.17 Jene
gleichermaßen simulierten wie stimulierten Transformationen, die im allmählichen Prozess der unwissentlichen Bildverfertigung bei den Kindern zutage
treten, versucht Verworn für eine Theorie kunstwissenschaftlicher Formveränderung und damit für die Beschreibung von Sachverhalten zu bemühen, die
einem sehr langen Prozess entstammen. Der Versuch mündet, kurz gesagt und
schnell gezeigt, in einen Prozess der zunehmenden Abstraktion, genauer noch,
der ornamentalen Umformung figuraler Motive, die Verworn für die nachpaläolithischen Perioden und damit für die ideoplastische Kunst geltend macht.
Wie er – performativ stimmig – ausgerechnet an einem Mammut veranschaulicht, werden dabei „die ornamental wirksamen Elemente des figuralen Gegenstandes“ zunehmend betont. Die visuelle Umsetzung seiner Stillen Post
beschreibt Verworn wie folgt:
Die Vorlage bildete eine genaue Kopie des Bildes eines Mammuts aus der Höhle
von Combarelles. Die Kopien wurden angefertigt von 9- bis 12-jährigen Kindern
in verschiedenen Dörfern. Die erste Kopie diente als Vorlage für die zweite, die
17
Zu den Details vgl. Stefan Rieger, „Ungewollte Abstraktion. Zur Auflösung in der optischen
Datenverarbeitung“, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.), Struktur – Figur – Kontur.
Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich, Berlin, 2007, S. 159-171.
76
STEFAN RIEGER
zweite als Vorlage für die dritte usf., so daß jedesmal ein anderes Kind kopieren
mußte. Das Resultat war das Beifolgende (Fig. 6) [Abb. 4.6 und 4.7; S. R.]. Aus
dem Bilde eines Mammuts, das sehr bald entstellt und unverständlich wurde, war
schließlich ein hausähnliches Gebilde geworden.18
Dieser Versuch einer Operationalisierung von Persistenzen hat Methode und
erschöpft sich keineswegs in der bunten Beliebigkeit solcher Experimente –
Methode vor allem hinsichtlich der Auswahl der Agenten. Kinder, noch dazu
solche, die in entlegenen Bergdörfern aufgewachsen sind, taugen für Verworns Stille Post als Posten im Transformationsgeschehen deswegen so gut,
weil sie, ohne es selbst zu wissen und deswegen intentional steuern zu können,
ihrerseits Wissen preisgeben bzw. produzieren.19 Sie sind somit Agenten einer
positiv, weil als Erkenntnisgenerator angesetzten Naivität. „Das moderne
Kind“, also dasjenige das den Städten und nicht irgendwelchen Dörfern entstammt, so heißt es bei Verworn über den Regelkreis zwischen Wahrnehmung
und kognitiver Verarbeitung und damit zur Motivation seiner Agentenwahl,
„zeichnet gar nicht, was es gesehen hat, sondern was es gelernt hat und
weiß.“20 Diese Dorfkinder aber stellen in der Stillen Post etwas nach, was man
im Großen sucht: nämlich einen Mechanismus für Formbildungsprozesse, ein
nicht in Einzelindividuen und in deren Sozialisation begründetes operationales
Wissen, ein implizites Wissen über Formen, ein unbewusstes, aber zugleich
sicheres Wissen über Form.21
18
19
20
21
Max Verworn, Ideoplastische Kunst. Ein Vortrag, Jena, 1914, S. 11.
In einem anderen Text heißt es zur Auswahl von Kinderprobanden: „Die Kunst der Kinder ist
von Anfang an durch und durch ideoplastisch. Ich habe meine Experimente gerade an Bauernkindern aus entlegenen Gebirgsdörfern angestellt, die mehr Gelegenheit zur Beobachtung
der Natur haben und weniger mit Vorstellungsmaterial durch die Erziehung überfüttert werden, weil ich sehen wollte, ob man hier nicht wenigstens in einem früheren Entwicklungsstadium physioplastische Charaktere der Zeichnung finden würde.“ Max Verworn, „Zur Psychologie der primitiven Kunst“, in: Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Neue Folge, VI. Bd.,
Nr. 46, 17. November 1907, S. 721-728: 724.
Verworn (1914), Ideoplastische Kunst, S. 45.
Zu einer Formalisierung der Auflösung aus Sicht der Informationstheorie vgl. Karl Steinbuch,
Automat und Mensch. Auf dem Weg zu einer kybernetischen Anthropologie, 4., neubearb.
Aufl., Berlin (u. a.), 1971.
STILLE POST
77
4.8 – Rasterung eines Elefanten
IV. Unwissentlichkeit der Medien: die Geometrie der optischen Treue
Die dritte Fallgeschichte bringt, weil sie im Umfeld der Psychoanalyse spielt,
mit deren Tiefensemantik dann doch noch die Archäologie ins Spiel.22 Wie
lassen sich Formpersistenzen im Unbewussten und damit fernab aller Intention
der Beteiligten nachstellen? Um dieses anspruchsvolle Unterfangen geht es
dem Wiener Psychiater Otto Pötzl. Sein Text „Experimentell erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen“ stammt aus dem Weltkriegsjahr 1917 und aus dem psychologischen Laboratorium der neurologischen Station für Kopfschussverletzungen in Wien. Was im Zentrum seiner
Mitteilung steht, ist weniger das Trauma von Weltkriegsteilnehmern, als vielmehr der Traum; ein experimenteller Zugriff auf den Traum oder genauer
seine experimentelle Modellierung. Und so verlässt Pötzl schon nach zwei
Seiten das Verhältnis von Kopfschüssen zur Pathologie der Sehsphäre und
wendet sich 70 Seiten lang den experimentell erregten Traumbildern zu. Den
Theoriestand der Psychoanalyse von 1917 berücksichtigend, hat das sehr konkrete Folgen auf die Auswahl der Versuchspersonen.
22
Vgl. Michael Rohrwasser/Gisela Steinlechner/Juliane Vogel/Christiane Zintzen (Hg.), Freuds
pompejanische Muse. Beiträge zu Wilhelms Jensens Novelle ,Gradiva‘, Wien, 1996.
78
STEFAN RIEGER
Experimentiert wurde im streng unwissentlichen Verfahren. Zur Exposition
wurde eine Serie von Diapositiven benützt, die für die Firma Reichert hergestellt
worden waren; sie waren der Öffentlichkeit bisher unbekannt geblieben und
auch Verf. hat sie erst bei den Versuchen kennengelernt; jedes Bild wurde im
allgemeinen nur zu diesem einzigen Versuch verwendet; die Vp. [Versuchspersonen] wurden aus möglichst verschiedenen Kreisen gewählt und es wurde mit
jeder, eine einzige ausgenommen, nur ein einziger Versuch gemacht. […] Im
allgemeinen wurden Personen, die sich selbst mit Traumanalysen im Sinne der
Freudschen Schule beschäftigten, vermieden, da die Versuche Personen betreffen sollten, die möglichst wenig in die Mechanismen des Traumes eingeweiht
sind.23
Die technische Umsetzung des Experimentes wird prekär, stellt sie doch an
das exponierte Bildmaterial die Anforderung einer vollständigen Ungeläufigkeit für alle Beteiligten. Wie aber gelangt man unter den Bedingungen einer
massenmedial eingespielten Bildpolitik an Bilder, die keiner visuellen Geläufigkeit, keiner visuellen Topik entsprechen? Als Bildmaterial wurde eine Serie
mit Diapositiven benutzt, die eigens für eine Wiener Firma hergestellt wurde
und die bis zum Einsatz ihrer Uraufführung selbst ihrem Versuchsleiter unbekannt blieb. Theoretische Blindheit und visuelle Ungeläufigkeit stellen sicher,
dass Pötzls Experimente tatsächlich im streng unwissentlichen Verfahren stattfinden konnten. Pötzl nimmt das Ergebnis der Versuchsreihen vorweg und hält
fest, dass von seinen insgesamt zwölf Versuchspersonen neun „eine deutliche
Beeinflussung ihrer Traumvisionen durch die tachistoskopische Exposition“24
zeigten. Um das nachzuweisen, bedarf es der Schrift und so werden im Verlauf des Experiments insgesamt drei unterschiedliche Protokolle und im Anschluss daran Skizzen angefertigt. Um diesen Übergang von der Schrift zum
technisch erzeugten Bild zu veranschaulichen, sei eine von Pötzls Versuchsreihen skizziert. Am 19. Februar 1917 blitzt für die Dauer einer Hundertstelsekunde ein Diapositiv auf, das bestimmte Tempelruinen von Theben enthält.
Im Traumprotokoll des nächsten Tages gibt die Versuchsperson an, sich nicht
an das exponierte Bild erinnern zu können; nach unruhigem Schlaf träumt sie
davon, eine bestimmte Person in einem bestimmten Garten im Vorübergehen
gesehen zu haben. Pötzl fordert seinen Informanten nun auf, die Situation zu
zeichnen:
23
24
Otto Pötzl, „Experimentell erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen“,
in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 37, (1917), S. 278-349: 283.
Ebd.
STILLE POST
79
4.9 – Tempelruinen
[D]ie Zeichnung reproduziert in absoluter Formentreue die lang über das ganze
Bild verlaufende Grundmauer der Tempelruine mit der Andeutung ihres Quaderwerks. Nur die schwarze viereckige Fläche des fahnenartigen Schattens, der
gesehen worden war (,Buchstabe, oben breit ...‘) findet sich nicht; sie ist vom
Traumbild exkludiert, schon im Wachen entwickelt gewesen; dafür erscheint der
Schatten, der einer menschlichen Figur ähnlich ist; dieser war unbemerkt geblieben; jetzt erscheint er [...] verspätet im Traumbild nachgeliefert.
Y., die geträumte Person, ist hoch, schlank, brünett. Y. trägt eine Frisur, die den
Eindruck vollendet, daß der Schatten in der Exposition ganz gut der Schatten
von Y. auf einer Mauer sein könne. Die Zeichnung [...] reproduziert alle Einzelheiten dieses Schattens in einer Weise, die nur von der Bildfigur, nicht von der
Vorstellung oder Silhouette von Y. herstammen kann. Y. ist eine Frau. Sie wird
anders dargestellt [...].25
Die Tempelruine wird zur Gartenmauer, die Schattengestalt zu einer Person
aus dem biographischen Umfeld des Träumers. Das Resultat bestätigt Pötzls
Hypothese: Es gibt eine Reihe von Deckungsstellen und Decksituationen, die
25
Ebd., S. 286.
80
STEFAN RIEGER
das Gefüge des Traums ausmachen, die im Traum als Form persistieren. Die
Überlagerung von unbewusst Erlebtem und bewusst Aufgenommenem ist
„durch eine besondere Konstellation hier eindeutig nachweisbar“. Wenn – wie
Pötzl schreibt – kongruente geometrische Formen die Deckung vermitteln,
liegt es nahe, diesen Vorgang nun seinerseits illustrieren zu wollen. „Die geometrisch-optische Treue vieler Deckungsstellen zwischen Traumbild und Exposition [...] ließ es als verhältnismäßig leicht erscheinen, die Versuche auf
rein photographischem Weg zu illustrieren.“26 Dafür zuständig ist ein Fotograf, der nach den strengen Angaben Pötzls versucht, mittels ausschließlich
fotografischer Verfahren, nämlich mit Unter- und Überexposition sowie mit
Retusche die Wirkung der tachistoskopisch eingespielten Fotos zu veranschaulichen. Mit dieser Verbundschaltung unterschiedlicher optischer Medien
wird das Unbewusste selbst experimentell zugänglich und figurierbar – als
persistente Momentaufnahme im Modus des Unwissentlichen.
V. Körnung und Evolution: Standards für die Bewegungserfassung
Die vierte Fallgeschichte setzt bei den bewegten Bildern an. Dieses Arrangement soll nicht einer Medienevolution von Schrift, Bild, Foto, Film und Computersimulation das Wort reden, sondern auf ein grundsätzliches Problem
hinweisen, das unterschiedliche Teilbereiche durchzieht. Diese Fallgeschichte
ist angesiedelt in der Wissenschaftsgeschichte und betrifft die in Medienwissenschaftskreisen berühmte Encyclopaedia Cinematographica.27 Unter ihrem
Gründungsdirektor Gotthard Wolf hat sich die Encyclopaedia Cinematographica seit 1952 dem Versuch verschrieben, bewegte Bilder enzyklopädisch zu
erfassen. Der Hintergrund ist eine großangelegte medienpädagogische Initiative, die auf die Bereitstellung wissenschaftlicher Dokumentationsfilme für
Schulen und Universitäten abzielt und zu diesem Behufe ein Archiv bewegter
Bilder anlegen will, um Dinge sichtbar zu machen, die man sonst nicht sehen
kann: Weil sie zu schnell oder zu langsam verlaufen, etwa Prozesse in der
Biologie oder in der Botanik, aber auch in den Bewegungsformen technischer
Apparate; um – etwa im Rahmen der Ethnologie – Bewegungsformen zu erhalten, die davon bedroht sind, auszusterben und damit für immer unerfasst zu
bleiben. Als Beispiele werden soziale Rituale (Tänze, Initiationsriten) und
bestimmte historische Produktionstechniken genannt. Dieses Archiv soll universalen Charakter haben, soll übernational und über mehrere Jahrzehnte an26
27
Ebd., S. 295. Pötzl ist bemüht, die Mathematik stark zu machen und die Deckungsstellen
nicht zuletzt über Wahrscheinlichkeiten abzusichern. Zu einer Variation des Grundanliegens
vgl. auch Jaromir Lhotsky, Der Film als Experiment und Heilmethode. Mit einem Beitrag
,Vergleichspunkte zwischen Film und Traum‘ von Univ.-Professor Dr. Otto Pötzl, Wien,
1950.
Gotthard Wolf, Der wissenschaftliche Dokumentationsfilm und die Encyclopaedia Cinematographica, München, 1967.
STILLE POST
81
gelegt sein, wobei es seinem Begründer als ein offenes Projekt ohne ein absehbares Ende gilt – ein gigantisches Unterfangen mit Zügen der Hypertrophie. Als Plattform dient das Institut für wissenschaftlichen Film in Göttingen,
hervorgegangen aus der Reichstelle für den Unterrichtsfilm. Dort findet dieses
Projekt einer Bewegungsinventarisierung seine Heimstatt, dort werden die
Filme archiviert, von dort aus erfolgt die koordinierte Anschaffung entsprechenden Filmmaterials und dort werden auch selbst entsprechende Filme produziert. Damit diese ihren Anspruch einlösen, nämlich Bewegungsformen vor
Augen zu halten und somit auch vergleichbar zu machen, müssen sie standardisiert sein. Und dieser Standardisierung ist das ganze Projekt gewidmet. Es
geht also in weiten Teilen um die methodisch zentrale Frage, wie solche Filme
überhaupt anzufertigen sind und wie sie mit einer ebenfalls standardisierten
Begleitpublikation zu versehen sind – so, als ob man der Evidenz des Films
dann doch nicht so ganz trauen würde.
4.10 – Enzyklopädie-Schema –Zoologie
Im Rahmen dieser technischen und institutionell gesicherten Standardisierung
werden Formveränderungen sichtbar. Um etwa zu sehen, ob ein Tier besser an
das Wasser angepasst ist als ein anderes, werden die Bewegungsformen beider
Tiere standardisiert aufgezeichnet und nebeneinandergehalten. An den jeweiligen Abläufen werden so Momente der Evolutionsgeschichte selbst sichtbar.
82
STEFAN RIEGER
Anhand zweier Filme: E 4 über das Wasserschwein (Hydrochoerus capybara)
und E 3 über den Sumpfbiber (Myocastor coypus) werden aufgrund technischer Gleichheit – dreifache Zeitdehnung, Naheinstellung in einem Aquarium
– die Unterschiede deutlich.
4.11 – Tiere in Bewegung
Wir wollen hier einmal genauer betrachten, wie ein solcher Vergleich mit Hilfe
des Filmes durchzuführen ist. Es sei etwa die Aufgabe gestellt, das Schwimmen
und Tauchen des Wasserschweins und des Sumpfbibers zu vergleichen. [...]
Während das Wasserschwein seine Bewegungen in der Art eines schwimmenden
Landtieres vollführt, ist der Sumpfbiber an das Leben im Wasser offensichtlich
besser angepaßt.28
28
Ebd., S. 21.
STILLE POST
83
Das länger im Wasser sozialisierte Tier kommt mit diesem Medium besser
zurecht als ein vorrangig landbewohnendes Tier, das sich nur gelegentlich ins
Wasser verirrt. Was in den Horizontalanordnungen und in den Vertikalanordnungen jeweils sichtbar wird, sind Aspekte evolutionärer Formveränderung
unter der Bedingung möglichst weitgehender formaler Konstanz. Und selbstredend gilt das Interesse nicht nur den Bewegungsformen der Tiere: Schwimmen, Schweben, Fliegen, sondern einem Kosmos an Bewegungsweisen, also
von Pflanzen, Tieren, Menschen und nicht zuletzt von Maschinen. Diese auf
ein Format zu bringen – dem Enzyklopädie-Schema – setzt voraus, dass man
aus dem Kontinuum von Bewegungsflüssen Enzyklopädie-Einheiten isoliert.
Dieses Finden, dieses Isolieren kleinster thematischer Einheiten und ihre Betitelung ist die Voraussetzung dafür, Bewegungsformen in ihrer Persistenz, aber
auch in ihrem Wandel sichtbar zu machen. Das Erfassen von Grundbewegungsvorgängen geht dem Inventar voraus. Auf welche Detailfragen die Macher geraten, wird an einer Begebenheit um die Gangart von Pferden deutlich.
Konrad Lorenz machte in der Anfangszeit der Enzyklopädie, als man sich mit
der tierischen Lokomotion beschäftigte, den Vorschlag, bei der Lokomotion des
Pferdes die Gangarten auch im Zusammenhang mit der ,Hohen Schule‘ aufzunehmen. Er argumentierte damals, daß diese Dressurerfolge nicht erzielt werden
könnten, wenn nicht im Tier die Anlage für die entsprechende Bewegungsweise
vorhanden wäre. Wir haben damals die ,Hohe Schule‘ nicht aufgenommen, aber
als zehn Jahre später das Paarungsverhalten von Wildpferden der Dülmener
Herde dokumentationsmäßig erfaßt wurde, konnten die Lorenzschen Gedankengänge laufbildmäßig bestätigt werden. Der Hengst zeigte in seinem Verhalten
Bewegungsweisen, die auch in der ,Hohen Schule‘ vorkommen.29
Dieser Befund ist besonders bemerkenswert, verortet oder diskutiert er doch
die Frage nach der Stabilität und der Varianz von Formen ausgerechnet an der
Schnittstelle von natürlichen und dressierten Bewegungsformen. Was die
Encyplopaedia Cinematographica sichtbar macht, und zwar gegen die Intuition ihrer Veranstalter und damit nachträglich, ist die Übergängigkeit zwischen
Instinkt und Dressur, zwischen Natur und Kultur. Was sie aber vor allem
sichtbar macht, ist die Tatsache, dass hier neben Unwissentlichkeit und Naivität, wie in den Fällen zuvor, wiederum eine neue Option zu den Beobachtungsermöglichungen von Persistenz und Wandel hinzutritt: Erst die Sequenzierung und damit die Kleinteiligkeit der Einheiten ermöglicht die Sichtbarkeit
von Persistenzen.
VI. Gehirnkino: Reprojektionen aus der Blackbox
Natürlich zuständig für diese letzte Episode des Wissens sind, und das ist wenig erstaunlich, die Neurowissenschaften zuständig. Einem Team amerikani29
Ebd., S. 46 f.
84
STEFAN RIEGER
scher Wissenschaftler um Jack L. Gallant von der University of California in
Berkeley scheint etwas gelungen, was in den populärwissenschaftlich gehaltenen Rezeptionen reflexartig die Rede vom Gedankenlesen in den Raum stellt
und damit entsprechenden Spekulationen Vorschub leistet. Florian Rötzer
etwa kommentiert diese Forschung für Teleopolis unter dem Titel „Weiterer
Erfolg im ,Gedankenlesen‘“, wobei er typografisch eine Form der Distanzierung unternimmt und auch sonst die futuristischen Erwartungen der Forscher
einigermaßen dämpft.30 Und Markus Becker fasst für Spiegel Online vielversprechend unter dem Titel „Computer rekonstruiert Filme aus Gedanken“ die
Befunde wie folgt zusammen: „Das Experiment ist spektakulär, das Ergebnis
gespenstisch: Forscher haben erstmals allein aus der Gehirnaktivität Filme
rekonstruiert, die Testpersonen zuvor gesehen hatten. Ist das der Durchbruch
zum Gedankenlesen?“31
Ein Text der Forschergruppe mit dem Titel „Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by Natural Movies“, veröffentlicht in der
Zeitschrift Current Biology im Oktober 2011, gibt über das Verfahren Auskunft.32 Die Forscher um den Neurowissenschaftler Gallant weisen darauf hin,
dass es ihnen gelungen sei, eine grundlegende Begrenzung in entsprechenden
Untersuchungen zu umgehen: Sie könnten mit ihrem Verfahren endlich auch
Bewegtbildern Rechnung tragen. Damit unterscheiden sie sich von bisherigen
Verfahren auf Grundlage der funktionellen Magnetresonanztomogorafie
(fMRT), die auf statische Bilder und auf die Logik ihrer Lokalisation fokussiert waren – allen voran die berühmte Studie von Tom M. Mitchell et al. mit
dem Titel „Predicting Human Brain Activity Associated with the Meanings of
Nouns“ von 2008.33
Auf der Grundlage der funktionellen Kernspintomographie könnten mithilfe neuer algorithmischer Verfahren aus den Aktivitätsmustern der Hirnzellen
Rückschlüsse auf den Dateninput gegeben werden, also in einer Art reverse
engineering das Gehirn beim Wahrnehmen beobachtet werden. Anders und
einfacher, nämlich mit einer Überschrift der Wochenzeitschrift Die Zeit gesagt: Wir sehen, was Du siehst. Spektakulär wird das Ganze dort, wo das exponierte Material – Trailer von Hollywoodfilmen – mit dem aus dem Gehirn
30
31
32
33
Florian Rötzer, „Weiterer Erfolg im ,Gedankenlesen‘“, auf: Telepolis vom 24.11.2011, online
unter: http://www.heise.de/tp/artikel/35/35552/1.html, zuletzt aufgerufen am 03.01.2019.
Markus Becker, „Computer rekonstruiert Filme aus Gedanken“, auf: Spiegel online vom
23.09.2011, online unter: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hirnstroeme-computerrekonstruiert-filme-aus-gedanken-a-787867.html, zuletzt aufgerufen am 03.01.2019.
Yuval Benjamini/Jack L. Gallant/Thomas Naselaris/Shinji Nishimoto/An T. Vu/Bin Yu,
„Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by Natural Movies“, auf:
Current Biology vom 22.09.2011, online unter: https://www.cell.com/currentbiology/fulltext/S0960-9822(11)00937-7, zuletzt aufgerufen am 03.01.2019.
Tom M. Mitchell et al., „Predicting Human Brain Activity Associated with the Meanings of
Nouns“, in: Science, 320 (2008), S. 1191-1195. Grundlegend zu den Erkenntnismöglichkeiten
dieses bildgebenden Verfahrens Nikos K. Logothetis, „What We Can Do and What We Cannot Do with fMRI“, in: Nature, 453 (2008), S. 869-878.
STILLE POST
85
ausgelesenen und entsprechend aufgearbeiteten Material gegenübergestellt
wird.
4.12 – Foto und ausgelesenes Gedankenbild
Zwei Dinge sind bemerkenswert: zum einen die direkte Gleichsetzung von
Forschungsqualität und Datenverarbeitung, die Gallant in einem fast schon an
Friedrich Kittler erinnernden Duktus folgendermaßen auf den Punkt bringt:
„Schnellerer Datenzugriff beschleunigt die Forschung, so einfach ist das.“34
Anlass für diesen Befund, der Gallant als Gewährsmann derart zu Wort kommen lässt, ist eine Fallstudie des Speicherherstellers Thecus, die unter dem
Titel „Thecus N5200XXX Case Study by UC Berkeley. Hirnforscher beschleunigen Wissenschaften mit Thecus-Speichergeräten“ ihre Technik nobilitieren. Einer quantitativen Logik ist es vorbehalten, von nicht bewegten Bildern – mit denen sich die Gruppe um Gallant vorher beschäftigt hatte – auf
bewegte Bilder überzugehen.
Bemerkenswert ist zum anderen ein Moment der Evidenz, welches die fraglichen Dinge nicht mehr nur nach abstrakten Lokalisationsmustern, sondern
im Modus einer direkten Ähnlichkeit sichtbar und auch vergleichbar macht:
Im Wortsinne spektakulär an der Geschichte ist, direkt sehen zu können, wie
die Körnung als Ausbund eines quantitativen Moments in Qualität umschlägt.
So kann ein laufendes Bild des gezeigten Films wiedergegeben und gefragt
werden, wie sich das Original zu dem aus den Hirnprozessen abgeleiteten
verhält. Die Suche nach der Persistenz gründet in der technischen Möglichkeit
von Simultaneität von gesehenem und errechnetem Bild.
34
Thecus N5200XXX Case Study by UC Berkeley, „Hirnforscher beschleunigen Wissenschaften mit Thecus-Speichergeräten“, auf: Thecus vom 21.05.2012, online unter: http://german.
thecus.com/media_news_page.php?NEWS_ID=4659, zuletzt aufgerufen am 03.01.2019.
86
STEFAN RIEGER
VII. Warburgs Bildbruch
Wollte man diese fünf Fälle und ihre Figuren (Ontologie, Naivität, Unwissentlichkeit, Körnung und Simultaneität) typologisieren, so hätte man folgende
Befundlage: In der Sprachphysiognomik Werners liegt die Persistenz in der
Dingqualität von Schrifttypen, die die Qualitäten der Dinge, die sie bezeichnen, in der Form wiederholen. Bei Verworn und seinen Kinderkopisten führt
dagegen eine Persistenzanordnung zum Befund von Varianten, wobei die
Persistenz im Versuchsaufbau liegt. Bei Pötzls Experimentalträumern werden
die medialen Bedingungen von Persistenzen sichtbar, indem der Traum medial
und unwissentlich figuriert wird. Und im Projekt der Encyplopaedia Cinematographica werden Bewegungen medial inszeniert, wobei die feine Körnung des Mediums, die eine Zerlegung in Elementarbewegungen ermöglicht,
die Sichtbarkeit der Persistenz erzeugt. Und in der letzten Anordnung scheint
gar das Versprechen der Einsichtnahme in die Blackbox auf Grundlage von
Ähnlichkeitsrelationen vorzuliegen, die eine Gleichzeitigkeit ermöglichen. In
den Wissensgeschichten darüber, wie Ähnlichkeit und wie aus Ähnlichkeit
Variation entsteht, verschaffen sich unterschiedliche operative wie argumentative Züge Geltung: Einmal als Befund, der in genetische Tiefenschichten verweist, dann wiederum als Gebot, das Probanden unwissentlich im Zuge ihres
unablässigen Kopierens erfüllen sollen, und schließlich als Momentaufnahme
eines Unbewussten, das aus einer Geometrie der optischen Treue abgeleitet
wird, als Normierung analog aufgezeichneter Bewegungsfolgen in der Standardisierung der Encyplopaedia Cinematographica und schließlich als eine
simultan sichtbar gemachte Ähnlichkeitsrelation auf der Grundlage aufwendig
betriebener Bildverarbeitung.
Wie gehen die kleinmaschigen Befunde der fünf Fallgeschichten zusammen
mit den Erklärungsangeboten der Kulturtheorie? Ein Angebot für das Durchhaltevermögen von Formen liegt den Pathosformeln Aby Warburgs zugrunde.
Wie aber ist der Überlieferungsraum angelegt, in dem solche Formen überleben und im Mnemosyne Atlas entsprechend kartografiert werden können? Was
ermöglicht Prozesse der Persistenz und Variation und was ermöglicht ihre
Beobachtung? Der vollständige Titel von Warburgs Bildatlas ist programmatisch, verspricht er doch eine Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der
Kunst der europäischen Renaissance. Umsetzung findet das in den schwarz
bespannten Tafeln als Ort der Begegnung unterschiedlicher Bildtypen – vom
Tafelbild über Fotografien von Statuen bis hin zu Briefmarken und Werbebildern.
Warburg organisiert die Möglichkeit seines entsprechenden Überlieferungsraums paradox, weil im Modus des Bildbruchs.35 Im Warenlager gängiger
35
Vgl. dazu Stefan Rieger, „Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne“, in: DVjs, 72 (1998), Sonderheft (Medien des Gedächtnisses), S. 245-263.
STILLE POST
87
Gedächtniskonzepte – so jedenfalls rekonstruiert es Warburgs Biograf
Ernst H. Gombrich – finden sich ganz unterschiedliche Dinge, die Warburg
unbeschadet logischer Kohärenzen zusammenfügt: Dynamogramme, Urprägewerke, Energiekonserven, Eindrucksstempel und nicht zuletzt jene mnemischen Wellen und Engramme, die Warburg der seiner Zeit einschlägigen Gedächtnistheorie Richard Semons entnimmt. Die Präferenz für Semon und nicht
etwa für den auf den ersten Blick nahe liegenden Ansatz von Carl Gustav Jung
mit den Archetypen eines kollektiven Unbewussten begründet sein Biograf
Gombrich theoretisch mit einer intellektuellen Tendenz Warburgs und pragmatisch mit einem aktuellen Bücherkauf: „Getreu seiner ,monistischen Tendenz‘ hielt er sich mehr an Richard Semon, einen begeisterten Anhänger von
Hering, dessen Buch über Die Mneme als erhaltendes Princip im Wechsel des
organischen Geschehens (2. Aufl., Leipzig, 1908) Warburg 1908 erworben
hatte.“36 Statt auf Subjekte und deren individuelle Merklebensgeschichten setzt
Semon eine hochgradige Formalisierung in Szene, deren Schemata veranschaulichen sollen, wie etwa Gedächtnisinhalte aus dem Zustand der Latenz in
den der Manifestation gelangen – ohne dazu ein menschliches Unbewusstes
als intentional agierenden Merkwart bemühen zu müssen. Stattdessen ist ein
physikalischer Automatismus im Gang, der nach den strengen Vorgaben der
Reizsummation und einer Mathematik von Schwellwerten verfährt. Dabei
gewährt die Hypertrophie des organischen Modells seiner Mneme nicht zuletzt
die Annahme einer weitreichenden Verlustfreiheit von Information, die Warburgs Theoriebildung Vorschub leistet.
36
Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M., 1981, S. 326.
88
STEFAN RIEGER
4.13 und 4.14 – Originaler und mnemischer Ablauf
In Warburgs Theoriebildung sind es neben den Engrammen mnemische Wellen, die zum Übertragungsmedium all dessen werden, was in dieser Welt an
Formen jeher der Fall war und ist. Im Anschluss an diese Vorgaben wird es
theoretisch plausibel, dass ein Kulturweltfunk auf Sendung geht, der nur von
STILLE POST
89
ausgewählten Empfängern wie Warburg selbst auch tatsächlich empfangen
wird. Warburg steht damit in einer Reihe von Typen, die ein implizites Wissen
um Formen verbindet: Kinder, Naive, Künstler, Hirnverletzte, Träumer und
Warburg als Theoretiker sind unbewusste Medien der Form. Diese doch weitgehend als anomisch geltende Personengruppe dient der Moderne immer wieder als gern benutzte Faszinationsfigur. Doch hier steht etwas anderes im Vordergrund: nicht ihr Zugang zu einer diffusen Alterität, sondern ihre Leistung
als Wissensfigur.
Was Warburgs Kulturtheorie leistet, ist der Versuch, Konstanz und Änderung von Formen auf ein übergreifendes Gedächtnismodell zurückzuführen.
Bemerkenswert daran ist, dass seine Beleihungen Natur und Kultur gleichermaßen bemühen, so als ob diese Differenz für die Erklärung eines entsprechenden Überlieferungszusammenhangs innerhalb der Kultur keine Rolle zu
spielen brauchte. Vielleicht, so steht zu vermuten, ist der Bildbruch, also die
Fügung von logisch sich ausschließenden Gedächtnismodellen, die einzige
Möglichkeit, die Persistenz von Formen überhaupt zu beschreiben. Um sie
allerdings nachzustellen und zu betreiben, ist der Einsatz von technischen
Medien ebenso unablässig wie die unterschiedlichen Begründungsfiguren und
Experimentalanordnungen aus den Einzelwissenschaften. Der Versuch, für die
Geschichte der Form eine Kohärenz herzustellen und zu plausibilisieren, warum es so etwas wie Persistenz überhaupt gibt oder geben können soll, ist ein
hypertrophes Unterfangen. Derlei Unbescheidenheit hat ihren Preis: Gelingen
kann sie nur im stetigen Rekurs auf wissenschaftliche Begründungsfiguren
und in der Performanz von Kohärenz- und Bildbrüchen.
In den fünf Teilgeschichten oder in ihrer Fügung zu einer Kulturtheorie
selbst spielen Einzelwissenschaften als Erklärungsangebote eine zentrale Rolle. Der Beschäftigung mit Wissenschaftsgeschichte käme damit ein anderer
Stellenwert zu: Fachwissenschaften und das, was sie jeweils treiben, wäre
nicht mehr länger Gegenstand für eine Kulturwissenschaft, die auf der Ebene
ihrer Sujets alles glaubt umfassen zu können und daher auch der Geschichte
von Einzelwissenschaften Raum gewährt. Vielmehr würde die Wissenschaftsgeschichte mit den jeweiligen Argumentationsfiguren und den Versuchsanordnungen ihrer Einzeldisziplinen zu jenem Ort, der eine Kulturtheorie als
solche überhaupt erst zu begründen vermag. Oder noch deutlicher gesagt:
Weil die Experimentalanordnungen erklären, wie kulturelle Formüberlieferung funktioniert, sind die zuständigen Wissenschaften nicht Beiwerk zur
Kulturtheorie, sondern deren Fundament. Die Wissenschaftsgeschichte wäre
so die argumentative Operationsbasis einer jeden Theorie von Kultur.37
37
Der vorliegende Text über die „Automatismen der Formerzeugung“ ist eine überarbeitete
Fassung von: Stefan Rieger, „Persistenz. Eine Kulturtheorie der Form“, in: Ludwig Jäger/
Dietrich Boschung (Hg.), Formkonstanz und Bedeutungswandel, Paderborn, 2014 (Morphomata, Bd. 19), S. 267-292.
90
STEFAN RIEGER
Literatur
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hirnstroeme-computer-rekonstruiert-filme-aus-gedanken-a-787867.html, zuletzt aufgerufen am 03.01.2019.
Benjamini, Yuval/Gallant, Jack L./Naselaris, Thomas/Nishimoto, Shinji/Vu, An T./Yu,
Bin, „Reconstructing Visual Experiences from Brain Activity Evoked by Natural
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SUSANNE JANY
DIE FABRIKATION DES BETRIEBSUNFALLS
Auf einer Warntafel, die in einer Fabrik in den 1920er Jahren aufgestellt ist,
wird auf die Konsequenzen eines Arbeitens an den Maschinen mit offenem
Haar und ohne Schutzmütze hingewiesen.1 Mittig zwischen zwei Fotografien
gesetzt, ist folgender kurzer Text zu lesen: „Wichtige Bekanntmachung. Auf
den nebenstehenden beiden Bildern sind die Folgen der Zuwiderhandlung
gegen die nachstehende Vorschrift ersichtlich. Der Arbeiterin wurden die
losen Haare von der Transmission erfasst und zum Teil mitsamt der Kopfhaut
von der Schädeldecke getrennt. Die Haare wachsen nicht mehr nach.“ In der
beigefügten Vorschrift wird den Arbeiterinnen streng untersagt, „die Haare
offen oder in herabhängenden Zöpfen zu tragen.“ Rechts neben dem Text
findet sich das frontale Portrait einer Frau. Auf dem Bild links sieht man ihren
Hinterkopf, der mit Narben bedeckt ist, die von einer schweren Kopfverletzung zeugen. Dieses drastische Ausstellen eines Einzelfalls mahnt zum Unterlassen gefährlicher Gewohnheiten, die einen spezifischen und häufigen Unfalltypus provozieren: In Produktionsbetrieben des 19. Jahrhunderts wird die aus
Dampf- oder Wasserkraft gewonnene Energie mittels offener Riemengetriebe
durch die Werkhallen hindurch auf die Arbeitsmaschinen übertragen. Geraten
die Arbeiter_innen mit Haaren, Kleidung oder Körperteilen zwischen Teile
der Anlage, hat dies schwerwiegende Verletzungen zur Folge, die nicht selten
zum Tod der Verunfallten führen.2 Betriebsunfälle wie diese gehören in den
Fabriken der Jahrhundertwende zum Alltag. Sie geschehen mit einer Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit, die der Routine der Arbeitsabläufe kaum
nachstehen. Gerade deswegen lassen sich Arbeitsunfälle nicht als singuläre
Unglücksfälle, katastrophale Ausnahmezustände oder fatale Einbrüche in ein
anderweitig funktionierendes System bestimmen.3 Als Betriebsunfälle sind sie
nicht die Kehrseite des Betriebs, sondern ihm wesentlich. Entsprechend möchte ich sie im Folgenden nicht in Kategorien des Dysfunktionalen, sondern aus
1
2
3
Die Warntafel ist abgedruckt in: Friedrich Syrup (Hg.), Handbuch des Arbeiterschutzes und
der Betriebssicherheit, Berlin, 1927, S. 547.
Vgl. Sophie Kritzler, Der Betriebs-Unfall der Fabrikarbeiterin (mit Untersuchungen in der
Textil-, Nahrungsmittel und Chemischen Industrie), Chemnitz, 1933, S. 57; Jamie L.
Bronstein, Caught in the Machinery: Workplace Accidents and Injured Workers in Nineteenth-Century Britain, Stanford, CA, 2008, S. 16.
„Wie es die englische Homonymie accident nahelegt“, so Nicolas Pethes, „ist ein Unfall
zunächst nichts anderes als ein Zufall, d. h. ein kontingentes und nicht planbares Ereignis, das
durch eine spezifische Abweichung vom Erwarteten, Regelhaften oder Normalen auffällt.“
Nicolas Pethes, „Accidental Experiments“, in: Christian Kassung (Hg.), Die Unordnung der
Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld, 2009, S. 381-398: 385.
94
SUSANNE JANY
ihrem betrieblichen Funktionieren heraus beschreiben.4 Paul Virilio hat auf
den Zusammenhang zwischen der Serialisierung als industriellem Prinzip und
der Serialität des industriellen Unfalls aufmerksam gemacht.5 Ich werde zeigen, unter welchen Umständen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Betriebsunfall neben anderen Unfalltypen zur Erscheinung kommt.6 Im Unterschied zum technischen Unfall, der seine Ursprungsszene in der Dampfkesselexplosion hat, oder zum Verkehrsunfall von Schiffen, Eisenbahnen oder Automobilen liegt das Spezifische des Betriebsunfalls darin, dass er nicht allein auf
technische Fehler, menschliches Versagen oder eine Verkettung unglücklicher
Umstände zurückzuführen ist.7 Er resultiert vielmehr aus einem betrieblichen
Komplex, der sich aus Arbeitsabläufen, Maschinen, Menschen und Architekturen zusammensetzt. Mit der Normalisierung industrieller Arbeit in der europäischen Hochindustrialisierung geht die Normalisierung von Arbeitsunfällen
einher.8 In dieser Perspektive rücken die infrastrukturellen Voraussetzungen
des Unfalls in den Vordergrund, die zu einer gewissen Stabilisierung betrieblicher Unfallszenen um 1900 führen. Zum unerwünschten Zwischenfall, zur
Störung oder zum Unglück wird der Arbeitsunfall schließlich nicht auf struktureller Basis, sondern erst durch die Produktion einer symbolischen Differenz
zum Normalbetrieb, die, so die These, seit den 1880er Jahren durch Warnhinweise, Verhaltensvorschriften, Sicherheitsvorkehrungen und Unfallversicherungen umgesetzt wird. Diese Maßnahmen führen den Unfall als neuartigen
Ereignistypus ein, um ihn als Realität in den Betrieben um 1900 möglichst zu
eliminieren.
1.
Die Gefahren für die Arbeiter_innen in industriellen Produktionsbetrieben
sind derart eng mit den Anlagen und ihren betrieblichen Abläufen verbunden,
dass gelegentlich von der „Gefährlichkeit der Betriebe an sich“ gesprochen
4
5
6
7
8
Vgl. Perrows Darstellung von Unfällen in technischen Systemen: Charles Perrow, Normale
Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik, Frankfurt/M., 1988.
Vgl. Paul Virilio, „Der integrale Unfall“, in: Kassung (2009), Die Unordnung der Dinge, S. 7-8.
Zum Unfall aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Kassung (2009), Die Unordnung der
Dinge; Lars Koch/Christer Petersen/Joseph Vogl (Hg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften:
Störfälle, Bielefeld, 2011.
Zu diesen Faktoren: Eva Horn, „Die Verkettung unglücklicher Umstände. Über unwahrscheinliche Unfälle“, in: Stefan Rieger/Manfred Schneider (Hg.), Selbstläufer/Leerläufer.
Regelungen und ihr Imaginäres im 20. Jahrhundert, Zürich, 2012, S. 199-217.
Der Begriff der Normalisierung zur Jahrhundertwende, darauf weist Jürgen Link hin, kommt
dem nahe, was heute Standardisierung heißt. Vgl. Jürgen Link, „‚Normativ‘ oder ‚Normal‘?
Diskursgeschichtliches zur Sonderstellung der Industrienorm im Normalismus, mit einem
Blick auf Walter Cannon“, in: Werner Sohn/Herbert Mehrtens (Hg.), Normalität und Abweichung. Studien zur Theorie und Geschichte der Normalisierungsgesellschaft, Wiesbaden,
1999, S. 31-34.
DIE FABRIKATION DES BETRIEBSUNFALLS
95
wird.9 Besonders häufig und folgenschwer treten Betriebsunfälle im Minenwesen, im Eisenbahnbetrieb und in der Metallverarbeitung auf. Im Jahresbericht
des Hamburgischen Gewerbeaufsichtsamtes findet sich folgender Bericht:
In mehreren Fällen entstanden wieder schwere oder tödliche Quetschungen
dadurch, daß Arbeiter zwischen feste Gebäudeteile und den fahrenden Kran oder
die beförderte Last gerieten; auch schwere Unfälle durch ungenügende Befestigung und den hierdurch herbeigeführten Absturz der Last waren wieder zu beklagen. – In einem Kohlenbunkerungsbetrieb wurden weibliche Kontorangestellte mit dem Aufschreiben der im Kranbetrieb beförderten Kohlenmengen beschäftigt; als hierbei eine Kranschreiberin ihren Arbeitsplatz im Führerstand des
Krans auf unvorschriftsmäßigem Wege zu erreichen suchte, geriet sie in das Getriebe und wurde tödlich verletzt[.]10
Gefährdungen gehen auch in Schmieden, Bergwerken, Spinnereien, Brauereien, Holz- und Metallwerkstätten, Gießereien und Schlachthöfen von ungesicherten Plattformen aus, von rotierenden Maschinenteilen, sich bewegenden
Kränen und herabfallenden Lasten. Unfälle geschehen, wenn Arbeiter_innen
bei der Reinigung in laufende Maschinen fassen, wenn ihre Kleidung von
Transmissionen erfasst wird oder wenn sie versehentlich auf Schienen geraten
und von Förderwagen überrollt werden. Ferner zählen zu den Unfallursachen
Nachlässigkeiten, Regelverstöße oder gefährliche Angewohnheiten. Die
Gleichförmigkeit von Routinearbeiten birgt ebenso Unfallpotenzial wie Zeitdruck durch enge Arbeitsvorgaben.11 Der Sozialhistoriker Klaus Weinhauer
hat die Arbeitsbedingungen von Arbeitern und Arbeiterinnen im Hamburger
Hafen zur Jahrhundertwende rekonstruiert und festgestellt, dass allein technische Vorkehrungen zur Gefahrenkontrolle nicht ausreichten: „Was nützen die
bestüberprüften Seile und Ketten, wenn [die Arbeiter] in Winden oder Kränen
arbeiteten, mit deren Hilfe eine möglichst rasche Schiffsabfertigung erreicht
werden sollte, und die Arbeiter kaum genügend Zeit hatten, die Hieven fachgerecht zusammenzustellen.“12 Die konkreten Unfallorte sind diejenigen Stellen, an denen bewegliche und unbewegliche Elemente, Maschinenteile und
Architektonisches aufeinandertreffen. Entsprechend entstehen Gefährdungen
9
10
11
12
Georg Bitta, Die Betriebsunfälle in der Eisen- und Stahlindustrie von Posen, Mittel- und
Niederschlesien in den Jahren 1910-1920, Breslau, 1925, S. 18.
Rasch, Jahresbericht des Hamburgischen Gewerbeaufsichtsamts über das Jahr 1922.
Sonderabdruck aus dem vom Reichsarbeitsministerium herausgegebenen Jahresberichten der
Gewerbeaufsichtsbeamten, Hamburg, 1923, S. 37.
Entsprechend wurde ein Zusammenhang zwischen den Maßnahmen der Rationalisierung zu
Beginn des 20. Jahrhunderts – höhere Taktung der Betriebsprozesse, engere Stellung der Maschinen, Reduktion der Arbeitsschritte und daraus resultierende Monotonie – und der (weiteren) Zunahme an Betriebsunfällen festgestellt (vgl. Kritzler (1933), Der Betriebs-Unfall der
Fabrikarbeiterin, S. 54). Evident wird dies jedoch bereits im 19. Jahrhundert.
Klaus Weinhauer, „Unfallentwicklung und Arbeitsprozeß im Hamburger Hafen 1896/971936: Ein Beitrag zu vernachlässigten Perspektiven der Arbeiter(innen)geschichte“, in: Karl
Lauschke/Thomas Welskopp (Hg.), Mikropolitik im Unternehmen. Arbeitsbeziehungen und
Machtstrukturen in industriellen Großbetrieben des 20. Jahrhunderts, Essen, 1994, S. 107122: 119.
96
SUSANNE JANY
auch, wenn aufgrund enger Raumverhältnisse ein Ausweichen eingeschränkt
oder unmöglich wird.13 Das Problem des Arbeitsunfalls ist so kein ausschließlich maschinelles, sondern in gleichem Maße ein architektonisches. Festzustellen, dass die Arbeiter_innen lediglich an Maschinen verunglücken, greift also
vor dem Hintergrund des hier Gesagten in vielerlei Hinsicht zu kurz.14 Denn
der industrialisierte Betrieb stellt sich als Dispositiv aus Arbeitsoperationen,
maschinellen Einrichtungen, architektonischen Elementen, Raumdispositionen, menschlichen Akteuren, Verkehrsmitteln, betriebswirtschaftlichen Vorgaben, Betriebsabläufen und Zeitplänen zusammen. All diese Elemente sind in
ihrem Zusammenspiel daran beteiligt, dass die Fabrik zum gefährlichen Ort
werden kann. Insofern wäre auch Roger Cooters und Bill Luckins Beobachtung weiter zu präzisieren. Die Historiker schreiben:
It is important to recall that accidents became normalized and legitimated in the
nineteenth century in synchronization with the extension of automatically driven
machinery. This was a process which went hand in hand with claims that the
sites where mishaps would most likely to occur were inherently predictable and
manipulable.15
Was Cooter und Luckin hier als „machinery“ bezeichnen, sind also nicht nur
die technischen Anlagen der Fabrik, sondern ebenso die infrastrukturellen
Voraussetzungen, die in ihrem Dispositivcharakter den Betrieb als solchen
ausmachen.
Um 1880 entdecken Architekten und Bauingenieure den Zusammenhang
zwischen funktionalen Architekturen und ihren betrieblichen Abläufen und
machen dieses Bedingungsgefüge für die Gestaltung der Gebäude produktiv.
Zweckbauten geben Arbeitsprozessen eine Form und erhalten durch sie zugleich ihre architektonische Gestalt. Viele der hier erwähnten Betriebe, darunter Produktionsanlagen, mechanisierte Wäschereien, industrielle Schlachthäuser oder Bahnhöfe, stellen im 19. Jahrhundert neuartige Bauaufgaben dar.
Folglich sehen sich die Baupraktiker und Planer mit der Herausforderung konfrontiert, diese Bauten ihrem Betrieb entsprechend zu entwerfen. Verhandelt
wird dies über den Diskurs der „zweckmäßigen Anlage“.16 So heißt es im
Handbuch der Architektur über landwirtschaftliche Betriebe von 1884: „Zur
Zweckmäßigkeit der Wirthschaftsgebäude gehört eine der Benutzung entspre13
14
15
16
Vgl. John Calder, The Prevention of Factory Accidents: A Practical Guide to the Law on the
Safe-Guarding, Safe-Working, and Safe-Construction of Factory Machinery, Plant and
Premises, London, New York, NY, 1899, S. 236.
Ähnlich sieht dies auch François Ewald, wenn er schreibt, es sei ein Trugschluss anzunehmen,
die Arbeitsunfälle des 19. Jahrhunderts würden durch Maschinen verursacht, vgl. François
Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M., 1993, S. 17.
Roger Cooter/Bill Luckin, „Accidents in History: An Introduction“, in: Roger Cooter (Hg.),
Accidents in History: Injuries, Fatalities and Social Relations, Amsterdam, 1997, S. 1-16: 5.
Um ein Beispiel unter vielen zu nennen: Julius Koch, „Mittheilungen über Fabriks-Anlagen
(Vortrag, gehalten in der Fachgruppe für Architektur und Hochbau und der Maschinen-Ingenieure, am 29. März 1882“, in: Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und ArchitektenVereins, 34 (1882), S. 74-81: 74.
DIE FABRIKATION DES BETRIEBSUNFALLS
97
chende Größe und Stellung zu einander, so wie eine solche innere Einrichtung
derselben, welche der Arbeitsförderung nach Möglichkeit Vorschub leistet“.17
Ziel ist die bauliche Umsetzung der Betriebe, so dass sie über ihre architektonische Disposition Arbeitsprozesse auf ideale, d. h. wirtschaftliche Weise ablaufen lassen. Verarbeitungen, Verteilungen oder Montagen sollen, so die
Vorstellung der Verantwortlichen, mit möglichst geringem Aufwand an Kosten, Personal, Material und Zeit umgesetzt werden. Letztlich geht es darum,
Betriebsprozesse mit architektonischen Mitteln zu strukturieren und als reibungslose Abläufe zu realisieren. Für dieses neuartige architektonische Konzept habe ich an anderer Stelle den Begriff „Prozessarchitekturen“ vorgeschlagen.18 Das zugrundeliegende Wissen über die entsprechenden Arbeitsprozesse,
über ihre Ablauflogiken sowie über ihre zeitlichen, räumlichen, technischen
und personellen Voraussetzungen wird zeitgenössisch in Ingenieur- und Architekturhandbüchern, Zeitschriftenaufsätzen und Monografien diskutiert und
vermittelt. Das Konzept der Prozessarchitekturen impliziert dabei ein infrastrukturelles Dispositiv, dessen einzelne betriebliche Elemente in den Publikationen ausführlich beleuchtet werden. Die Autoren beabsichtigen, verallgemeinerbare bauliche Richtlinien zu entwickeln, die auf unterschiedliche Kontexte
übertragbar sind. Auf der Basis der Texte und Zeichnungen, der entwickelten
Raumprogramme, Idealanordnungen und Mustergrundrisse können konkrete
Gebäude umgesetzt werden. Derart in eine räumliche Ordnung überführt, werden die Anlagen architektonisch auf Dauer gestellt. Diese Normalisierung von
Betrieb im ausgehenden 19. Jahrhundert korrespondiert mit der zeitgleichen
Normalisierung von Unglücksfällen – die Zwangsläufigkeit architektonisch
strukturierter Betriebsabläufe geht mit zwangsläufigen Unfällen einher. Das
Schiff zu erfinden, heißt, so Virilio in einem Gespräch mit Sylvère Lotringer,
dessen potenziellen Untergang zu erfinden; die Innovation des Zuges bringt
die Entgleisung mit sich; diejenige des Flugzeugs den Absturz.19 Industrielle
Anlagen als Prozessarchitekturen durchzubilden, hieße dann, den Betriebsunfall zu fabrizieren.
17
18
19
Friedrich Engel/Eduard Schmitt/Georg Osthoff/Albert Geul, Handbuch der Architektur, Vierter
Teil, 3. Halbband: Landwirthschaftliche Gebäude und verwandte Anlagen. Ställe für Arbeits-,
Zucht- und Luxuspferde; Wagen-Remisen. Gestüte und Marstall-Gebäude. Rindvieh-, Schaf-,
Schweine- und Federviehställe. Feimen, offene Getreideschuppen und Scheunen. Magazine,
Vorraths- und Handelsspeicher für Getreide. Größere landwirthschaftliche Gebäude-Complexe.
Schlachthöfe und Viehmärkte. Markthallen und Marktplätze. Brauereien, Mälzereien und
Brunnereien, 1. Aufl., Darmstadt, 1884, S. 3.
Susanne Jany, Prozessarchitekturen: Medien der Betriebsorganisation (1880-1936), Konstanz,
2019.
Vgl. Sylvère Lotringer/Paul Virilio, The Accident of Art, Cambridge, MA, London, 2005, S. 88.
98
SUSANNE JANY
2.
Prozessarchitektonisch organisierte Betriebe entwickeln spezifische Unfallpotenziale, die sich einerseits aus dem Betrieb der Anlagen, andererseits aus
ihrer raumgreifenden und offenen Struktur ergeben. Über den Eisenbahnunfall
schreibt der Historiker Ernst Krafft in den 1920er Jahren: „Das eigentliche
Problem bei der Schöpfung der Eisenbahn, so merkwürdig uns das heute auch
klingen mag, lag nicht in der Lokomotive, sondern im Schienenstrang.“20 Dass
die Schiene – im Sinne der Maschinentheorie Franz Reuleaux’21 – Teil des
Eisenbahnsystems ist, macht vor allem der Unfall deutlich. Denn die gravierenden Verletzungen, die Betroffene von Eisenbahnunfällen erleiden, ereignen
sich genau an jenem gefährlichen Punkt, an dem die Räder der tonnenschweren Eisenbahn auf die Schienen treffen und dort, falls etwas zwischen sie gerät, ihre, wie es heißt, zermalmende, zerstückelnde und zerreißende Kraft entfalten.22 „Dampfkraftwagen und Schienenstrang gehören zusammen, erst aus
der Ehe beider konnte das länderverbindende Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts werden“23 – und der Eisenbahnbetrieb sein spezifisches Unfallpotenzial
entwickeln. Denn viel häufiger als katastrophale Entgleisungen oder Zusammenstöße stellen sich Bahnunfälle als Betriebsunfälle dar24, etwa bei alltäglichen Bau- und Rangierarbeiten oder bei Arbeitsroutinen im Bahnhofsbereich,
wie ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel aus dem Jahr 1916 zeigt:
Um bei dem von Erkner nach Charlottenburg verkehrenden Güterzug 7716 Postsachen ein- und auszuladen, wurde mit dem Postkarren regelmäßig das erste
Gleis des Bahnhofs Friedrichshagen überquert. Am 7. Dezember 1916 kam dieser Zug gegen 8 Uhr abends verspätet an. Die vier mit der Aufgabe beauftragten
Postbeamten (3 männliche und 1 weibliche) wollten diesen Weg gerade in dem
Augenblick machen, als auf dem Gleis der D-Zug 38 durchfuhr. Sie wurden alle
4 überfahren und getötet; der Postkarren zertrümmert.25
Stellt sich das Unfallereignis für die Geschädigten als fatale oder gar letale
Störung vorgesehener Abläufe dar, zeigt sich die maschinell-architektonische
20
21
22
23
24
25
Ernst Krafft, 100 Jahre Eisenbahnunfall, Berlin, 1925, S. 9.
Vgl. Franz Reuleaux, Theoretische Kinematik. Grundzüge einer Theorie des Maschinenwesens, Braunschweig, 1875, S. 164.
Vgl. Ludwig Stockert, Eisenbahnunfälle (Neue Folge): Ein weiterer Beitrag zur Eisenbahnbetriebslehre, Band 1: Chronik einiger in den Jahren 1913-1918 bekanntgewordenen grösseren Eisenbahnunfälle, Berlin, Wien, 1920, S. 65 f.
Krafft (1925), 100 Jahre Eisenbahnunfall, S. 12.
So heißt es 1886: „Als besonders dringlich war schon bei den Verhandlungen des Reichstages
die Ausdehnung der gesetzlichen Unfallfürsorge auf die in den Transportbetrieben beschäftigten Arbeiter bezeichnet worden. Diese Betriebe sind in der That erfahrungsgemäß besonders
gefährlich. Unter ihnen nimmt der Betrieb der Eisenbahnen eine hervorragende Stellung ein.“
Carl Doehl, Die Unfall-Versicherung der gewerblichen, Fabrik- und Betriebs-Arbeiter nach
den Materialien des Gesetzes vom 6. Juli 1884, den erlassenen Ausdehnungs- und Ergänzungs-Gesetzen, den ergangenen Ausführungsverordnungen und den Beschlüssen, Entscheidungen und Mittheilungen des Reichs-Versicherungsamtes, Leipzig, 1886, S. IX.
Stockert (1920), Eisenbahnunfälle (Neue Folge), S. 66.
DIE FABRIKATION DES BETRIEBSUNFALLS
99
Anlage den Verunfallten ebenso wie dem Unfall gegenüber weitgehend indifferent. Der Unfall bringt meist weder Maschinen noch automatisierte Arbeitsprozesse zum Stillstand – geschweige denn D-Züge. Selbst wenn sich schwere
Unfälle ereignen, arbeiten die Anlagen oft weiter und müssen manuell gestoppt werden, um den Verunglückten zu Hilfe kommen zu können. Erst diese
nachträgliche Unterbrechung des Betriebs inauguriert den Unfall als Ereignis.
Aus struktureller Perspektive kommt ihm zunächst eine eigentümliche NichtEreignishaftigkeit zu; der Betrieb führt zum Betriebsunfall und bleibt doch
von ihm nahezu unberührt.
Treten betriebliche Anlagen derart als Unfallmaschinen auf und nehmen sie
dabei architektonische Ausmaße an26, kann der Mensch in sie hinein geraten:
d. h. auf die Gleise der Bahnhöfe, zwischen rotierende Räder oder in das Riemengetriebe der Transmissionsanlage. Charlie Chaplin hat dazu in seinem
Film Modern Times die passenden Bilder gefunden27: Die Hauptfigur des Fabrikarbeiters fällt aufgrund akuter Überforderung auf das Fließband und gerät
zwischen die übergroßen Zahnräder der Fabrikmaschinerie. Erst wenn das
Subjekt derart in der Anlage verunglücken kann, tut sich eine Differenz auf:
Hat die prozessarchitektonische Infrastruktur vorher lediglich die Voraussetzungen dafür geliefert, dass sich Abläufe jeglicher Art ereignen können, macht
die unbeabsichtigte Intervention des Subjekts aus den normalen Arbeitsroutinen das Geschehen des Betriebsunfalls. Erst angesichts der Gefahren für das
Individuum, das in die laufenden Anlagen hineingerät, wird eine Bedeutungsdifferenz zwischen Normalbetrieb und Betriebsunfall etabliert, die es auf
struktureller Ebene zunächst nicht gibt. Martin Heidegger hat festgestellt, ein
‚Zeug‘ würde erst dann als solches in den Sinn kommen, wenn es seine Funktion versagt oder in medienwissenschaftlicher Wendung: „[I]mmer dort, wo
eine Störung auftritt, [wird] das Medium selbst thematisiert“.28 Dieser medientheoretische Topos findet sich auch in Bezug auf den Raum29 und auf Infrastrukturen formuliert: „[S]ie treten in der Regel nur im Moment der Bildstörung, des Systemfehlers, des Verkehrsstaus überhaupt in die Alltagserfahrung“.30 Diese Aisthetisierung von Infrastrukturen im Moment ihres funktionalen Versagens ist dem Akt einer (subjektiven) Bedeutungszuschreibung geschuldet. Es ließe sich auch anders argumentieren: Zwischen Rauschen und
Information kann allein aus den medialen Voraussetzungen des Kommunikationskanals, so eine andere medienwissenschaftliche Erkenntnis, nicht ohne
26
27
28
29
30
Zur Referenz auf die Maschine im Kontext prozessarchitektonischer Anlagen: Susanne Jany,
„Making Buildings Work“, in: Laurent Stalder/Moritz Gleich (Hg.), Architecture/Machine,
Zürich, 2017, S. 70-81.
Modern Times, USA 1936, 87 Minuten, Regie und Buch: Charles Chaplin.
Albert Kümmel, „Störung“, in: Bernd Stiegler/Alexander Roesler (Hg.), Grundbegriffe der
Medientheorie, München, 2005, S. 229-236: 230.
Vgl. Stephan Günzel, „Medialer Raum: Bilder – Zeichen – Cyberspace“, in: ders. (Hg.),
Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar, 2010, S. 219-233: 222.
Gabriele Schabacher, „Medium Infrastruktur. Trajektorien soziotechnischer Netzwerke in der
ANT“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4, 2 (2013), S. 129-149: 129.
100
SUSANNE JANY
Weiteres unterschieden werden. Ähnliches gilt für betriebliche Infrastrukturen: Sie stellen zunächst nichts weiter als die Voraussetzungen dafür her, dass
Prozesse ablaufen können. Die Symbolisierung als ‚Störung‘ oder ‚Unfall‘ ist
eine nachträgliche, die vom Subjekt ausgehend entworfen ist.
3.
Ist der Unfall derart subjektiviert, können Disziplinierungen als Schutzmaßnahmen veranlasst werden. In den 1880er Jahren entwirft man bei der Bahn
Betriebsrichtlinien und ab 1907 Fahrdienstvorschriften, die die Bahnarbeiter in
Sicherheitsfragen unterrichten und besondere Verhaltensweisen vorschreiben.
Vermieden werden soll, dass Menschen, Tiere oder Gegenstände zwischen
Züge und Elemente der Bahnhofsarchitektur – Gleise etwa, Bahnsteige, Tunnelwände, Barrieren, Schranken, Prellböcke oder Rampen – geraten. Bei der
Reichs-Eisenbahn Elsass-Lothringen spricht man dafür eine ganze Reihe an
Verboten aus:
Insbesondere ist untersagt:
a) Die Geleise kurz vor einem in Bewegung befindlichen Zuge oder Fahrzeug zu
überschreiten;
b) innerhalb eines Geleises zu stehen oder zu gehen, sofern dies die dienstliche
Verrichtung nicht unbedingt nothwendig macht;
c) über stehende Wagen zu klettern oder unter solchen durchzukriechen, wenn
eine Lokomotive vor oder hinter denselben steht, oder wenn auf dem betreffenden Geleise rangirt wird;
d) zwischen stillstehenden Wagen hindurch zu gehen, wenn dieselben weniger
als eine Wagenlänge auseinander stehen;
e) während der Fahrt einen unsicheren Platz einzunehmen, von welchem das
Herabgleiten oder Herabfallen möglich ist;
f) bei stillstehenden Wagen an die Buffer oder sonstigen Wagentheile zu lehnen;
g) auf einen in Bewegung befindlichen Zug resp. auf Lokomotiven, Wagen oder
Schiebebühnen auf- bezw. davon herunter zu springen;
h) die Decke eines bewegten Wagens zu betreten und während der Fahrt von der
Decke des einen Wagens auf einen anderen zu klettern;
i) Materialien, Geräthe, Ladungsstücke u.s.w. zwischen den Geleisen sowie neben denselben auf eine Entfernung von weniger als ein Meter von dem nächsten
Gestänge liegen zu lassen;
k) bei in Bewegung befindlichen Dampfschiebebühnen sich in den von den vorstehenden Auflauframpen bestrichenen Bereich zu begeben.31
31
Reichs-Eisenbahnen in Elsass-Lothringen, Anleitung zur Instruirung der im äusseren Dienste
beschäftigten Eisenbahn-Beamten und Arbeiter behufs Verhütung von Unfällen, Strassburg,
1880, S. 12 f. Ähnliche Hinweise gelten auch für die Eisenbahnwerkstätten: Reichs-Eisenbahnen in Elsass-Lothringen, Instruktion zur Verhütung von Unfällen in den Werkstätten,
Strassburg, 1882.
DIE FABRIKATION DES BETRIEBSUNFALLS
101
Neben sicherheitstechnischen Verhaltensrichtlinien in diversen Betrieben und
Fabriken32 werden materielle Abschirmungen vor allem der gefährlichen Bereiche zwischen fixen und beweglichen Teilen der Anlage vorgeschrieben.33
Unfallprävention wird zur architektonischen Aufgabe. An Bahnhöfen wird
empfohlen, riskante Bahnübergänge durch Über- und Unterführungen zu ersetzen.34 In Produktionsanlagen und mechanisierten Betrieben kommen teils
raumgreifende Vergitterungen, Geländer, Distanzhalter und Abdeckungen (der
Transmissionen etwa) zum Einsatz. Ebenso wie die zu sichernden Strukturen,
nehmen auch die sicherheitstechnischen Anpassungen architektonische Ausmaße an und entfalten sich entlang der prozessarchitektonischen Anlage. Die
Umwandlung von dysfunktionalen in möglichst funktionale Konstellationen
verläuft in den meisten Fällen nicht konfliktfrei, sondern lässt sich nur als
Aushandlungsprozess im Modus des trial-and-error charakterisieren.35
Das Unfallversicherungsgesetz von 1884 überführt betriebliche Unglücksfälle in eine politisch-juristische Sichtbarkeit.36 Dem Erlass des Unfallversicherungsgesetzes gehen ausführliche Diskussionen im Reichstag bezüglich
staatlicher Fürsorge bei Erwerbsunfähigkeit oder Todesfall als Folge betrieblicher Unfälle voraus. Beim 1871 eingeführten Haftpflichtgesetz muss der oder
die Verunfallte noch selbst nachweisen, dass es sich um einen Arbeitsunfall
gehandelt hat.37 1876 gibt es eine erste Ordnung zum Schutz von Fabrikarbeitern vor Krankheit und Unfall, die jedoch keinen allgemein verbindlichen
Rechtsstatus hat und daher auch nur sporadisch umgesetzt wird. 1881 scheitert
eine erste Vorlage des Unfallversicherungsgesetzes, das am 6. Juli 1884
schließlich verabschiedet wird. Es gilt zunächst ausschließlich für Produktionsanlagen, bevor es 1885 auf Post- und Verkehrsbetriebe, 1886 auf den Soldatenstand und die Landwirtschaft und 1887 auf das Bauwesen und die Schifffahrt ausgeweitet wird. Monetäre Absicherungen bei Schadensfällen werden
nun im öffentlichen Recht verankert. Der Gesetzestext hebt folgendermaßen
an:
32
33
34
35
36
37
Vgl. Calder (1899), The Prevention of Factory Accidents, S. 46.
Konkrete Sicherheitsmaßnahmen, die in den Betrieben umzusetzen sind, werden durch die
Gewerbeordnung vorgeschrieben, die 1891 vom Reichstag verabschiedet wird. Vgl. Arne Andersen, „Arbeiterschutz in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, in: AfS, 31 (1991),
S. 61-83: 75.
Vgl. Hans Wegele, Bahnhofsanlagen, Berlin, Leipzig, 1931, S. 17.
Nachzuverfolgen bei Calder (1899), The Prevention of Factory Accidents.
Vgl. das Argument Ewalds, der am Beispiel Frankreichs den Arbeitsunfall nicht als ein an sich
neuartiges Phänomen beschreibt, sondern als eines, das um 1880 erstmals im Medium des
Rechts verhandelt wird. Das dem deutschen Unfallversicherungsgesetz vergleichbare französische Gesetz „über die Haftung für Unfälle, denen die Arbeiter während ihrer Arbeit zum Opfer
fallen“ tritt erst am 9. April 1898 in Kraft. Ewald (1993), Der Vorsorgestaat, S. 280.
Vgl. Dietrich Milles, „What Are Occupational Diseases? Risk and Risk Management in Industrial Medicine in Germany, c. 1880-1920“, in: Cooter (1997), Accidents in History, S. 179195: 184.
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SUSANNE JANY
§ 1. Alle in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen, Gräbereien (Gruben), auf Werften und Bauhöfen sowie in Fabriken und Hüttenwerken
beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamte, letztere, sofern ihr Jahresverdienst
an Lohn oder Gehalt zweitausend Mark nicht übersteigt, werden gegen die Folgen der bei dem Betriebe sich ereignenden Unfälle nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes versichert. [...] Die in Abs. 1 aufgeführten gelten im
Sinne dieses Gesetzes diejenigen Betriebe gleich, in welchen Dampfkessel oder
durch elementare Kraft (Wind, Wasser, Dampf, Gas, heiße Luft u.s.w.) bewegte
Triebwerke zur Verwendung kommen [...].38
Hauptkriterium für die Feststellung eines Betriebsunfalls und die Gewährung
von Zahlungen ist der zeitliche, räumliche und kausale Zusammenhang mit
dem Betrieb, in dem sich der Unfall ergeben hat. Dieser Zusammenhang ist im
Gesetzestext von 1884 noch recht lose als „in einem versicherten Betriebe vorkommende[r] Unfall“ bestimmt und vom explodierenden Dampfmaschinenkessel aus gedacht. Als Fabriken gelten „im Sinne dieses Gesetzes insbesondere
diejenigen Betriebe, in welchen die Bearbeitung oder Verarbeitung von Gegenständen gewerbsmäßig ausgeführt wird.“39 Spätere juristische Schriften versuchen sich an einer näheren Bestimmung und meinen mit ‚Betrieb‘ nicht mehr
den Ort des Unfalls, die industrielle Anlage, sondern die Abläufe, die unauflöslich mit ihr verbunden sind:
Betriebsunfall im Sinne der Unfallversicherungsgesetze ist das Ereignis der mit
dem Betriebe in Verbindung stehenden, plötzlichen und abnormen Einwirkung
eines äußeren Vorganges oder Zustandes auf einen freiwillig oder gesetzlich
Versicherten mit der von Letzterem nicht beabsichtigten Folge von Körperverletzung oder Tod.40
Der „Betriebsunfall“ wird hier als unbeabsichtigte und „abnorme[]“ Störung
des Normalbetriebs bewertet. Seiner Ablauflogik wird ein eigenständiger Status zugesprochen. Als juristischer Sachverhalt wird der Unfall so dem regulären Betriebsgeschehen enthoben. Über das Unfallversicherungsgesetz wird das
Unfallereignis nicht nur rechtlich adressierbar, sondern auch analysierbar. Der
Gesetzeskonzeption gehen 1881 via amtlicher Anweisung vom Reichskanzler
statistische Erhebungen voraus, um Vergleichbarkeiten herstellen zu können
und eine Basis für die Berechnung der Entschädigungsleistungen zu gewinnen.41 Fabriken, Bergwerke, Salinen, Werften, Bauhöfe, Aufbereitungsanstalten, Eisenbahn-, Schifffahrts- und andere Betriebe haben über einen Zeitraum
von vier Monaten des Jahres 1881 „statistisches Material“ über Betriebsunfäl38
39
40
41
Doehl (1886), Die Unfall-Versicherung, S. 3-5.
Ebd., S. 5.
Friedrich Meyer, Land- und forstwirtschaftlicher Betriebsunfall, München, 1893, S. 12.
Vgl. o.A., „Die Statistik und das Unfallversicherungsgesetz. Teildruck aus Volkszeitung Nr. 238
vom 8. Oktober 1881 (Quelle Nr. 8)“, in: Karl Erich Born/Hansjoachim Henning/Florian
Tennstedt (Hg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914.
II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II.
(1881-189