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Standardisierung des Deutschen

2005, Standardvariation

Stephan Elspass Standardisierung des Deutschen Ansichten aus der neueren Sprachgeschichte‚von unten‘ Abstract Angelehnt an die ‚neue‘ deutsche Sprachgeschichtsforschung und gestützt auf eigene Forschungsergebnisse im Rahmen einer ‚Sprachgeschichte von unten‘ wird im vorliegenden Beitrag die gängige Darstellung von einem Abschluss der Standardisierung des Deutschen im 19. Jahrhundert in Frage gestellt. In einer Verengung der Begriffe von ‚Standardsprache‘ und ‚Schriftkultur‘ – so die Ausgangsthese – wurde bisher die elitär-hochkulturelle und distanzsprachliche Schriftlichkeit einer kleinen, dominanten, aber nicht repräsentativen Minderheit der deutschen Sprachgemeinschaft in den Vordergrund gerückt. Damit ging eine letztlich teleologische Auffassung der sprachgeschichtlichen Entwicklung einher, die das Ende des ‚Weges‘, nämlich das ‚Erreichen‘ des Standards, und eine eher gewünschte als tatsächlich vorhandene Einheitlichkeit im Blick hatte. Diese verengten Begriffe lassen sich nicht mit weiter gefassten Vorstellungen von ‚Standardisierung‘ in Übereinstimmung bringen, die außerhalb des deutschen Forschungsdiskurses bestehen. Überdies hat diese Sichtweise in der Sprachhistoriographie und der Grammatikographie zu einer Vernachlässigung von (regionalen) alltagssprachlichen Gebrauchsnormen innerhalb der hochdeutschen Schriftsprache geführt, deren Existenz anhand zahlreicher grammatischer Einzelphänomene belegt werden kann. Im Interesse einer notwendigen Klärung dessen, was als ‚Standardsprache‘ zu gelten hat, sowie einer theoretisch adäquaten Darstellung der Grammatik der Gegenwartssprache wird für einen Perspektivenwechsel plädiert: Varianten und Tendenzen der gegenwärtigen deutschen Standardsprache lassen sich nur dann bruchlos und stimmig in die Entwicklungstendenzen der neueren Geschichte der deutschen Sprache einfügen und erklären, wenn man nicht auf der Ansicht ‚von oben‘ beharrt, sondern sie gerade für die jüngere Sprachgeschichte aus einer Perspektive ‚von unten‘ betrachtet. 1. Vorstellungen von ‚Standardisierung‘ Man darf wohl davon ausgehen, dass das im Folgenden skizzierte Bild von der Standardisierung der deutschen Sprache verbreitet und anerkannt ist: Im späten 15. und im 16. Jahrhundert kommt es zu einem überregionalen Sprachausgleich auf ostmitteldeutsch-ostoberdeutscher Grundlage. Im 17. und 18. Jahrhundert wird die deutsche Schriftsprache ausgebaut und erreicht schließlich in der Weimarer Klassik ihre bis heute gültige Vereinheitlichung, so dass sich spätestens für den Beginn des 19. Jahrhunderts von einer deutschen Standardsprache sprechen lässt. 1 1 Vgl. hierzu im Überblick zuletzt Besch (2003) und Mattheier (2003). 64 Stephan Elspaß Diesem Bild liegt ein Begriff von Standardsprache zu Grunde, wie er etwa im „Lexikon der Sprachwissenschaft“ zum Ausdruck kommt. „Standardsprache“ wird dort definiert als „[s]eit den 70er Jahren in Deutschland übliche deskriptive Bezeichnung für die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittelbzw. Oberschicht; in diesem Sinne synonyme Verwendung mit der (wertenden) Bezeichnung ‚Hochsprache‘. Entsprechend ihrer Funktion als öffentliches Verständigungsmittel unterliegt sie (besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung) weit gehender Normierung […].“ (Bußmann 2002, S. 648) Ich beabsichtige in meinem Beitrag, die Entwicklung der Standardisierung in Deutschland aus dem spezifisch deutschen Standardsprache-Diskurs herauszulösen, und bediene mich deshalb einer ‚internationaleren‘ Definition von Standard: „Any vernacular (language or dialect) may be ‚standardized‘ by being given a uniform and consistent norm of writing that is widely accepted by its speakers. It may then be referred to as a ‚standard‘ language.“ (Haugen 1994, S. 4340) Die Unterschiede zwischen diesen beiden Definitionen sind augenfällig: – Bei Bußmann ist von einer Normierung auf gesprochener und geschriebener Ebene die Rede, bei Einar Haugen nur von einer einheitlichen Schreibnorm. Dass eine Standardsprache eine Rechtlautung aufweisen muss, scheint – etwa im Vergleich mit der englischen Sprache – eine deutsche Spezialität zu sein. 2 Außerdem fällt die sozialschichtspezifische Einschränkung in der deutschen Definition auf, durch die offenbar rein deskriptive nicht mehr recht von wertenden Kriterien zu trennen sind. 3 Die Rede von „speakers“ bei Haugen ist dagegen schichtneutral. Ein notwendiges Kriterium für Standardsprache bei Haugen, das im „Lexikon der Sprachwissenschaft“ fehlt, ist das der breiten Akzeptanz der Schreibnorm in der Sprachgemeinschaft. – – Wenden wir auf das übliche Bild von der Standardisierung des Deutschen die Definition bei Bußmann an: „Weit gehende Normierung“ müsse danach „besonders in den Bereichen Grammatik, Aussprache und Rechtschreibung“ gegeben sein. Aussprache und Rechtschreibung wurden im Deutschen allerdings erst an der Wende zum 20. Jahrhundert normiert (mit welch wirklichkeitsfernen Normen auch immer), also wäre schon insofern das Bild vom Standard ab dem 19. Jahrhundert zu korrigieren. Es bleibt also nur die Grammatik. Erst 2 3 Ich verweise auf Durrell (1999), Milroy (1999, S. 18, 27) und Barbour (in diesem Band). Dass ‚Standardsprache‘ erst „seit den 70er Jahren“ in diesem Sinne in Deutschland gebraucht wird, wie es in der Definition des „Lexikons der Sprachwissenschaft“ heißt, ist sicherlich kein Zufall. Standardisierung des Deutschen 65 für diese Ebene findet sich in vielen Handbüchern die gewünschte Bestätigung, dass man seit den Klassikern von einem „System“ bzw. einer „standardsprachlichen Norm“ mit relativ stabil gebliebenen Merkmalen ausgehen könne. 4 Ich möchte im Folgenden die Konsequenzen eines weiter gefassten Standardisierungsbegriff, wie er sich etwa unter Berücksichtigung des Haugen’schen Akzeptanz-Kriteriums ergibt, für die neuere Sprachgeschichte des Deutschen darlegen. 5 Dies schlägt sich im Aufbau des vorliegenden Beitrags wie folgt nieder: Zunächst werden relativ knapp wichtige Entwicklungslinien in der Standardisierung des Deutschen anhand eines Phasen-Modells nachgezeichnet (2.). Die darauf folgende Darstellung konzentriert sich auf (grammatische) Entwicklungen in der jüngeren Sprachgeschichte, also seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (3.). Diese jüngeren Entwicklungen sind von besonderem Interesse, da sie eben nicht nur unser Bild vom ‚Standarddeutschen‘ geprägt haben, sondern in ihnen auch die „sprachgeschichtlichen Wurzeln des heutigen Deutsch“ 6 liegen, die sich auf Tendenzen der Gegenwartssprache auswachsen und somit einen unmittelbaren Einfluss auf diese zeitigen – dies wird in einem eigenen Punkt zu diskutieren sein (4.). Zum Schluss wird von der Erörterung der sprachhistorischen Entwicklungen auf die Frage nach der „Standardvariation“ in der Gegenwartsgrammatik zurückzukommen sein (5.). Der Ausdruck „neuere Sprachgeschichte“ im Titel ist bewusst ambig gewählt: Zum einen deutet er auf den Gegenstand selbst, also die Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Zum anderen verweist er auf die neuere Sprachgeschichtsforschung, insbesondere die sozio-pragmatischen Ansätze, die u.a. unter programmatischen Titeln wie „Neue deutsche Sprachgeschichte“ firmieren (Cherubim/Jakob/Linke 2002). In diesen Forschungsrahmen will ich auch meine eigene „Sprachgeschichte von unten“ einreihen (Elspaß 2003 [2005]). 2. Phasen der Ausformung der Schriftsprache im Deutschen seit der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Für die Darstellung der Entwicklungen seit der Frühen Neuzeit bediene ich mich zunächst der Termini ‚Schreibdialekte‘ und ‚Schriftsprache‘, wie sie von Werner Besch (1983, S. 2003) verwendet werden. ‚Schreibdialekt‘ dient Besch (1983, S. 968) als „Klammer-Terminus für alle Ausprägungen deutscher Schriftlichkeit vom 8.–15. Jahrhundert“. Als ‚Schriftsprache‘ ist nach ihm die überregionale Existenzform des Deutschen zu bezeichnen, die durch einen Prozess der Selektion aus einem Pool schreibdialektaler Varianten entstanden 4 5 6 Admoni (1990, S. 219), Mattheier (2003, S. 227) u. a. Die Frage ist in der Forschung bisher kaum aufgeworfen worden. Eine Ausnahme bildet etwa Naumann (1989, S. 73). So der Titel des IDS-Jahrbuchs 1990 (Wimmer 1991). 66 Stephan Elspaß ist (ebd., S. 976). Besch (1988, S. 203 u.ö.) unterscheidet drei Phasen der Ausformung der Schriftsprache im Deutschen seit Beginn der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts: 1. Die Phase der Grundlegung einer überregionalen Schriftsprache im 16. Jahrhundert. 2. Die Phase des Ausbaus von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 3. Die Phase der abschließenden Bereinigung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Man vergleiche dazu die vier Aspekte der sprachlichen Standardisierung nach Haugen (1972, S. 252; vgl. auch Besch 1983, S. 968), nach denen etwa auch die Beiträge in einem neuen Handbuch zur Standardisierung in den germanischen Sprachen ausgerichtet sind (Deumert/Vandenbussche 2003): 1. 2. 3. 4. Selektion der Varianten Kodifizierung Elaborierung der sprachlichen Funktionen Akzeptanz durch die Sprachgemeinschaft Die ersten drei Aspekte, die Haugen beschreibt, finden sich in Beschs Phasenmodell wieder, die vierte – die Akzeptanzphase – allerdings nicht. Zunächst zur Standardisierung nach dem Besch-Modell: zu 1.) Die Phase der Grundlegung einer überregionalen Schriftsprache im 16. Jahrhundert: In der Phase der Grundlegung fanden die erwähnten Ausgleichserscheinungen statt, und zwar – nach heute weithin herrschender Forschungsmeinung – auf der Ebene der geschriebenen Sprache (Besch 2003, S. 2259ff. u.ö.). Arend Mihm (2003 u.ö.) hat in verschiedenen Aufsätzen der letzten Jahre die These von einem primär mündlichen Ausgleichsprozess wieder in die Diskussion gebracht, allerdings beziehen sich seine Forschungsergebnisse in erster Linie auf den Sprachwechsel zum Hochdeutschen in der Duisburger Stadtsprache. 7 Einigkeit besteht jedoch darüber, dass es wechselseitige Beziehungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache in der Phase des Sprachausgleichs gegeben hat. 8 Unbestritten ist die herausragende Rolle der Schriften Martin Luthers und der Reformation überhaupt für die Diffusion der neuhochdeutschen Schriftsprache. 7 8 Da die Debatte um die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache nicht im Fokus des vorliegenden Beitrags liegt, begnüge ich mich mit einem Hinweis auf die kritische Würdigung des Mihm’schen Ansatzes von Elvira Topalović (2003, 52ff.). Auch Besch (2003, S. 2261) konzediert – nach Erben –, dass es gewisse „Wechselwirkungen“ zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gegeben habe, hält aber letztendlich entschieden daran fest, dass sich der Einigungsprozess zuerst und vor allem auf der Schriftebene vollzog. Standardisierung des Deutschen 67 zu 2.) Die Phase des Ausbaus von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts: Für die „Phase des Ausbaus“ wird in den Handbüchern immer wieder die Arbeit der Sprachgesellschaften des 17. und der Grammatiker des 18. Jahrhunderts herausgestellt. Ein Grundkonflikt der Grammatikschreibung zum Neuhochdeutschen zeichnete sich schon in den zwei widerstreitenden Positionen innerhalb der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ ab, der „anomalistischen“ und der „analogistischen Auffassung“, für die die Spracharbeiter Christian Gueintz und Justus Georg Schottel stehen: 9 Während Gueintz für eine Ausrichtung von Sprachnormen am tatsächlichen Sprachgebrauch plädierte (wenngleich hier ein bestimmter regionaler Gebrauch als ‚Leitvarietät‘ Vorbildfunktion hatte), ging Schottels normativer Ansatz vom Prinzip der „Grundrichtigkeit“ der „HaubtSprache“ aus, die über der gesprochenen Sprache und insbesondere über den Dialekten zu stehen habe. Im Vordergrund standen dabei abgeleitete strukturelle Prinzipien, „die dann in Zweifelsfällen als Leitlinien für die Normierung dienen“ konnten (Gardt 1999, S. 128). Für diese Auffassung stand im Grunde auch Gottsched, obgleich er sich selbst nicht als Normierer sah, sondern als Grammatiker, der existierende Sprachnormen formulierte und verbreitete (Mattheier 2003, S. 227). 10 Für die Frage nach der Standardisierung ist freilich bedeutsamer, welchen tatsächlichen Einfluss die Grammatiker auf die zeitgenössische Sprachnormierung hatten, ob sich die Vorschläge der Grammatik also im Sprachgebrauch niederschlugen. Hier beginnt, was handfeste Ergebnisse betrifft, die Luft in der Forschungsliteratur doch recht dünn zu werden. Über den wirklichen Anteil der Grammatiker an Normierungs- und Standardisierungsprozessen entscheidet ja nicht schon die Güte ihrer grammatischen Modelle und Ideen, sondern vielmehr ihre Rezeption. Voraussetzungen dafür waren Bekanntheit und Ansehen der Grammatiker, eine große Verbreitung ihrer Werke sowie deren Wirkung auf Personen und Instanzen mit Sprachvorbildfunktion. Wichtige Faktoren dafür waren schließlich vor allem das Wissen ihrer Autoren um die Bedürfnisse der Benutzer von Grammatiken, Wörterbüchern und Sprachlehren sowie die sozial- und bildungshistorischen Bedingungen, also etwa die Marktlage für (Schul-) Grammatiken, der Alphabetisierungsgrad in der Bevölkerung usw. 11 Solche Fragen scheinen vor den 1980er Jahren kaum aufgeworfen worden zu sein, so dass entsprechendes Handbuchwissen, wie Rolf Bergmann (1982, S. 278) bemerkte, „in den meisten, wenn nicht in 9 10 11 Vgl. dazu Gardt (1999, S. 128ff.) und Mattheier (2003, S. 225f.). Der Grammatiker habe die Regeln „aus der Sprache selbst“ zu gewinnen, und „zwar hauptsächlich gegründet auf den heutigen Gebrauch der besten Mundart“ – gemeint ist allerdings nur der mündliche Sprachgebrauch der Gebildeten in den Residenzstädten – „und der beliebtesten Schriftsteller“ (Gottsched 1762, S. 6, 10; zum Begriff der „Analogie“ bei Gottsched vgl. ebd., S. 4f.). Vgl. Bergmann (1982, S. 272ff.), Erben (1989, S. 15f.). 68 Stephan Elspaß allen Fällen gar kein Wissen“ war. Fruchtbringend sind deshalb Untersuchungen, die das Verhältnis von Grammatik und Sprachwirklichkeit beleuchten. Genannt seien nur die Arbeiten von Hiroyuki Takada (1998) für das 17. Jahrhundert, Marek Konopka (1996) für das 18. Jahrhundert sowie die von John Evert Härd (1981) und Nils Langer (2001) zu Einzelaspekten der Syntax. Konopka (1996, S. 232) etwa kann als Ergebnis seiner Untersuchung feststellen: Wichtige Voraussetzung für einen breite und nachhaltige Wirkung grammatischer Forderungen sei, dass diese „die im Sprachgebrauch existierenden Tendenzen aufgreifen müssen“ (dies spricht für die Werke der „anomalistischen Tradition“); demgegenüber würden Normierungsversuche eher unwirksam bleiben, wenn sie sich an rationalistischen Kriterien wie der „darstellungsfunktionalen Eindeutigkeit“ orientierten, dabei aber die kommunikative Wirklichkeit vernachlässigten. zu 3.) Die Phase der abschließenden Bereinigung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die letzte Phase, die Besch beschreibt, ist die „Phase der abschließenden Bereinigung“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Erst in dieser Zeit schlossen sich die süddeutschen Territorien der hochdeutschen Schriftsprache an, nachdem sie die alte oberdeutsche Schreibsprachtradition zu Gunsten der Gottsched’schen Leitlinien aufgegeben hatten. 12 Danach könne man am Ende des 18. Jahrhunderts „von einer einheitlichen deutschen Schriftsprache ausgehen“ (Besch 1988, S. 202). So weit in groben Zügen die Entwicklungen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Eine differenzierte Erläuterung der Prozesse – vor allem der beiden ersten Phasen – stand im Vordergrund der bisherigen Arbeiten zur neuhochdeutschen Schriftsprache. Da es an einschlägigen Übersichtsdarstellungen nicht mangelt, will ich es mit einem Hinweis auf diese belassen. 13 Nur auf einen Punkt, der bisher noch nicht erwähnt wurde und der in meiner weiteren Argumentation eine wichtige Rolle spielen wird, sei schon jetzt hingewiesen: Hatte die Entwicklung bis zur „Phase der Grundlegung“ noch weitgehend unter den Vorzeichen der Polyzentrik und des horizontalen (sozialen wie räumlichen) Nebeneinanders von Varianten gestanden, so waren die weiteren Phasen ab dem 17. bis zum 19. Jahrhundert, den Jahrhunderten der Sprachkultivierung, von einer stärkeren Zentrierung (auf vorbildliche Sprachlandschaften), der Vertikalisierung (mit bestimmten prestigereichen Leitvarietäten) sowie einer zunehmenden Dominanz der konzeptionellen Schriftlichkeit 12 13 Besch (2003, S. 2279), nach Reiffenstein und Wiesinger. Sieh vor allem Besch (1983, S. 968–983; 1988, S. 189–203; 2003, S. 2259–2286) und Mattheier (2003, S. 214–234). Standardisierung des Deutschen 69 geprägt. 14 Für die weitere Darstellung der Sprachverhältnisse im 19. Jahrhundert und für die Frage der Standardisierung, die im Folgenden ausführlicher behandelt werden, ist das Modell der ‚Vertikalisierung des Varietätenspektrums‘ grundlegend. 3. Standardisierung des Deutschen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts – Notwendigkeit und Möglichkeiten eines Perspektivenwechsels Nach Werner Besch (2003, S. 2252f.) und Klaus J. Mattheier (2003, S. 234) besteht der letzte Schritt von der Schriftsprache zur Standardsprache darin, dass erstere „polyvalent“ wird, d.h. insbesondere, dass sie auch in der gesprochenen Sprache Gültigkeit erlangt. 15 Hierin zeigt sich in gewisser Weise wieder der deutschgermanistische Sonderweg in Standardisierungsfragen: Denn die Ebene des Gesprochenen, und besonders die Vereinheitlichung der Aussprache, spielt nach der Definition von Haugen für die Qualifikation einer Sprache als Standardsprache keine Rolle. 16 Wollte man die ausgeformte Schriftsprache mit der Standardsprache gleichsetzen und dann für das 19. und 20. Jahrhundert nur noch davon sprechen, dass sich die Standardsprache in einem ‚Sickerprozess‘ von oben nach unten und von der Schriftsprache in die gesprochene Sprache durchsetzte, könnte ich mit diesem Aufsatz schnell zum Schluss kommen. 17 Bleiben wir also zunächst bei der Schriftsprache. Die so genannte „Phase der Bereinigung“ der Schriftsprache lässt sich kaum von der Spracharbeit und vom Wirken Johann Christoph Adelungs trennen. Aber auch mit seinem Werk hat lediglich – ich übernehme die vorsichtige Formulierung von Johannes Erben (1989, S. 15) – „die Kodifizierung der neuhochdeutschen Schriftsprache um das Jahr 1800 einen gewissen Abschluß gefunden“ (Hervorhebungen von mir, S.E.). Doch lässt sich darüber hinaus mit Recht fragen, von welcher Schriftsprache eigentlich die Rede ist. Dass Adelung etwa mit den Kodifizierungen der Schriftsprache in seiner „Deutschen Sprachlehre“ von 1781 einen weitreichenden Einfluss auf die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts hatte, bezweifelt niemand. Man muss sich allerdings klar machen, für wen die Schulgrammatiken geschrieben waren und wen sie erreichten. Dieser Aspekt kann für das 19. Jahrhundert nicht vernachlässigt werden, denn durch die Massenalphabetisierung ergab sich eine völlig neue, bisher in der deutschen Sprachgeschichte beispiellose Situation: Zum ersten Mal war die Mehrheit, am Ende 14 15 16 17 Dazu im Einzelnen Reichmann (2003, S. 38ff., 48ff.). Ähnlich schon Besch (1983, S. 964; 1988, S. 187) und Mattheier (1988, S. 5f.). Ebenso wenig etwa im britischen Standardisierungsdiskurs, vgl. Milroy/Milroy (1985, S. 24) oder Durrell (1999, S. 292). Zur Kritik an solchen Sickermodellen jetzt auch Maas (2003, bes. S. 2404f.). 70 Stephan Elspaß des 19. Jahrhunderts sogar nahezu „die gesamte Sprechgemeinschaft in der Lage, an der deutschen Schriftsprache aktiv und passiv als Schreiber und Leser teilzunehmen“ (Grosse 1989, S. 12). Die „Demotisierung“, also das „Unter-das-Volk-Kommen“ der Schrift (Maas 1985) erreichte im 19. Jahrhundert ein atemberaubendes Tempo: Nach den neueren Schätzungen von Maas (2003, S. 2414) waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ca. 30–40 % der Bevölkerung alphabetisiert, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon ca. 90 %. Von den Überlegungen zur Alphabetisierung kommend, will ich die Frage nach der Schriftsprache noch zuspitzen. Gab es wirklich eine einheitliche Schriftsprache? Für das Ende des 18. Jahrhunderts unterscheidet Otto Ludwig (1998, S. 161) interessanterweise zwischen „Schrift- oder Buchsprache“ und „Literatursprache, der Sprache der Schriftsteller“. Bedeutsam ist diese Differenzierung nun in Bezug auf das Problem, welche Schriftsprache im 19. Jahrhundert unterrichtet wurde. Die Literatursprache war nach Ludwigs Darstellung einzig an den Gymnasien Unterrichtsgegenstand und -sprache, denn „die Sprache der Schriftsteller war nicht die Sprache des Volkes und sollte auch nicht zu seiner Sprache werden“ – auf der Ebene der Volksschule dagegen konnte einzig die Buchsprache diejenige Schriftsprache sein, die vermittelt und durchgesetzt werden sollte (ebd.). Nun ließe sich neben diese beiden Ausprägungen der Schriftsprache noch die ungedruckte Schriftsprache stellen, also die Sprache nicht-literarischer Handschriften der Zeit. Diese könnte man wiederum nach öffentlicher Schriftsprache und privater Schriftsprache trennen. Erstere hatte durchaus didaktische Relevanz: Gerade Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur anhand gedruckter, sondern auch handgeschriebener Texte nach alten kanzleisprachlichen Vorbildern Schreiben gelernt wurde. 18 Ich möchte – ausgehend von den verschiedenen Ausformungen der Schriftsprache und angelehnt an Haugens Akzeptanz-Kriterium – die Möglichkeit zur Diskussion stellen, dass die Geschichte der Standardisierung mit dem 19. Jahrhundert noch nicht endet. Dazu nehme ich zunächst einen Wechsel der Perspektive vor, nämlich von einer ‚Sprachgeschichte von oben‘ zu einer ‚Sprachgeschichte von unten‘. Dies bedarf der Erläuterung: Hinter allen Darstellungen, die von einem erreichten Standard im 19. Jahrhundert ausgehen, stehen im Grunde teleologische Vorstellungen vom Erreichen einer einheitlichen deutschen Literatursprache, die das Ziel der vorausgegangenen ‚Spracharbeit‘ der Grammatiker im 17. und 18. Jahrhundert war. Der Endzustand stand nach diesen Vorstellungen also schon fest – denn wer wollte ernsthaft bestreiten, dass die gedruckten Werke unserer größten Schriftsteller das ‚beste‘ Deutsch darstellten? Peter von Polenz (1999, S. 1) hat dagegen nachdrücklich erklärt, dass die insbesondere „belletristische Auffassung eines literarischen 18 Vgl. etwa Gessinger (1995) und Messerli (2000). Standardisierung des Deutschen 71 Kontinuums von der Goethezeit bis heute zu korrigieren“ sei. Darüber hinaus haben von Polenz, Oskar Reichmann und andere aufgezeigt, dass die Sprachgeschichtsschreibung „bis weit in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts“ einer Tradition verhaftet war, die die Konstruktion einer Standardsprache und die Verklärung der Klassikersprache in den Dienst der kulturellen Identitätsfindung der deutschen Nation stellte. 19 Für die Zeit ab der Weimarer Klassik wurden zu diesem Zweck große Bereiche der Sprachwirklichkeit systematisch ausgeblendet. Bestimmend war bis in neuere Grammatiken hinein immer die Sicht ‚von oben‘, vor allem aus der literatursprachlichen Perspektive, von der aus sich – außer im stilistischen Bereich – keine wesentlichen grammatischen Veränderungen in den letzten 200 Jahren erwarten ließen. Die Sicht ‚von unten‘ geht dagegen vom alltäglichen Sprachgebrauch breiter Bevölkerungsschichten aus. Eine ‚Sprachgeschichte von unten‘ ist als Teil einer ‚Sprachgeschichte als Gesellschaftsgeschichte‘ zu verstehen. 20 Die Formulierung ‚von unten‘ soll auf zwei Bedeutungsdimensionen verweisen: Zum einen geht es um die Sprachverwendung der Bevölkerungskreise, die traditionell als ‚untere Schichten‘ bezeichnet werden, die aber nicht – wie die Bildungsbürger – nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung stellten, sondern die überwiegende Mehrheit. 21 Es geht aber nicht nur um eine ‚Sprachgeschichte der kleinen Leute‘ (auch wenn dies allein schon wichtig genug wäre). Relevanter ist für unseren Zusammenhang der zweite Aspekt, nämlich die Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen nicht nur auf der Basis der ‚hohen Schriftlichkeit‘, sondern auch vom anderen Ende des konzeptionellen Spektrums, nämlich von der Mündlichkeit in seiner ganzen Breite her zu schreiben. Denn „Vertikalisierung“ erweist sich nach der neueren Version des Reichmann’schen Modells nicht nur als soziologische Umschichtung des bis ins 17. Jahrhundert horizontal gelagerten Varietätenspektrums, „sondern auch (möglicherweise sogar: eher noch) [als] eine Entwicklung aus der nicht nur medialen, sondern auch konzeptionellen Mündlichkeit heraus in eine konzeptionelle Schriftlichkeit als sprachkulturelles Orientierungszentrum“ (Reich- 19 20 21 Reichmann (2001, S. 533). Vgl. auch von Polenz (2001, S. 519) und Durrell (2000, S. 21). Zum frühen Hauptvertreter einer ‚Sprachgeschichte als Gesellschaftsgeschichte‘ erklärt Peter von Polenz übrigens keinen geringeren als Adelung, von dem „man heute nicht mehr sagen [kann], er sei nur ein ahistorischer intoleranter Sprachnormer gewesen“ (v. Polenz 2002, S. 3). Adelung habe nicht nur „in soziopragmatischer Weise eine Abkehr von der einseitig oberschichtlichen Geschichtsschreibung“ gefordert, sondern sich auch „gegen eine Sprachstandardisierung nur von den Fürstenhöfen oder von den besten Schriftstellern oder von den Gelehrten her (so noch weithin die Meinung bis zu Gottsched)“ gewandt (ebd. S. 6f.): „Sprachgesetze […] müssen wenigstens von dem größten Theil des Volkes, nicht bloß von den obern und gelehrten Classen anerkannt […] und befolget werden.“ (Adelung 1782, S. 654f., zit. in v. Polenz 2002, S. 7). Dies nachzuvollziehen dürfte nur denjenigen Sprachwissenschaftlern schwer fallen, die davon ausgehen, dass die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung im 19. Jahrhundert in Bezug auf das Hochdeutsche inkompetent war. 72 Stephan Elspaß mann 2003, S. 42). 22 Die auf einen engen Begriff von ‚Sprachkultur‘ abonnierte traditionelle Sprachgeschichtsschreibung und erst recht die Grammatikographie des Neuhochdeutschen hatten nur diese konzeptionelle Schriftlichkeit im Blick – in dieser Tradition wurde also eine „Literalisierungsgeschichte“ des Neuhochdeutschen geschrieben (Ágel 2003, S. 11), in der man insbesondere den belletristischen Rahm der Schriftsprache abschöpfte. Deshalb meine einstweilige Beharrung auf der Erfassung des ‚unteren‘ Bereichs des vertikalen Varietätenspektrums des Neuhochdeutschen: Dieser Bereich ist – aus den genannten sprachideologischen, aus sprachpflegerischen, wohl auch aus verschiedenen wissenschaftsideologischen Gründen, immer jedenfalls auf Grund einer wie auch immer motivierten Abwertung – bisher weitgehend aus der Sprachhistoriographie des Neuhochdeutschen ausgeklammert worden. 23 Natürlich sollte – i.S. der von Vilmos Ágel in Angriff genommenen Neuhochdeutschen Grammatik – möglichst die gesamte Variationsbreite des Neuhochdeutschen erfasst werden. Da der traditionelle Zugang der einer ‚Sprachgeschichte von oben‘ ist, eine ‚Sprachgeschichte von unten‘ dagegen erst am Anfang steht, erscheint es schon deswegen legitim, zunächst letztere zu forcieren. Lässt man sich jedoch auch auf die von Ágel (2003) skizzierten „Prinzipien der (dynamischen) Grammatik“ ein, so erscheint der Zugang ‚von unten‘ geradezu dringlich: Da in der Neuzeit das ‚oral-konnektionistisch geprägte kontextgrammatische Denken‘ von einem ‚literalisiert-kognitiviert geprägtem symbolgrammatischem Denken‘ (nur) überlagert worden ist (ebd., S. 11ff.), erscheint ersteres nicht nur als das ursprünglichere, sondern auch eine Grammatik, die von einem kontextuellen Denken ihren Ausgang nimmt, als die adäquatere, um Entwicklungstendenzen und Veränderungen in der sich der konzeptionellen Mündlichkeit wieder nähernden Gegenwartssprache zu beschreiben und zu erklären. 24 Man könnte auch sagen: Es ist an der Zeit, die Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen in konzeptioneller Hinsicht vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Notwendigkeit eines solchen Perspektivenwechsels wird sich schon daran ersehen lassen, dass allein aus einer so verstandenen Sicht ‚von unten‘ überhaupt sprachliche Einzelentwicklungen erfasst werden können, die von der Alltagssprache ihren Ausgang genommen haben. 25 Um Missverständnis22 23 24 25 Die Redeweise und Begrifflichkeit von „konzeptioneller Mündlichkeit“ und „konzeptioneller Schriftlichkeit“ ist hier wie im Folgenden an das Konzept von Koch/Oesterreicher (1994) angelehnt. Die Rede ist hier wohlgemerkt vom Hochdeutschen, nicht von den Dialekten, die ja gerade im 19. Jahrhundert eine besondere Wertschätzung erfahren und in der Dialektologie ihre eigene sprachwissenschaftliche Disziplin gefunden haben. Methodologische Basis müsse in der (dynamischen) Grammatikschreibung das „Prinzip der Viabilität“ sein, also das „Prinzip der sprachhistorischen Adäquatheit“ (Ágel 2003, S. 2; vgl. auch Ágel 2001). Ich verweise nur auf die mitteldeutsche Koronalisierung (vgl. Elspaß 2000, S. 267), die am-Konstruktion, von der im Exkurs zu 3.2 die Rede sein wird, sowie die unter 3.3 genannten Einzelerscheinungen. Standardisierung des Deutschen 73 sen vorzubeugen: Es soll nicht ein genereller ‚Sprachwandel von unten‘ postuliert werden. (Diesen gibt es genauso unzweifelhaft wie den ‚Sprachwandel von oben‘, vgl. die Entwicklung der tun-Periphrase, s.u. 3.2.3) Es geht um ‚Sprachgeschichte von unten‘, und damit ist nicht mehr und nicht weniger als eine Veränderung der Perspektive auf Sprachgeschichte gemeint. 26 Eine der schwierigsten Hürden einer ‚Sprachgeschichte von unten‘ i.S. einer ‚Sprachgeschichte der historischen normalsprachlichen Mündlichkeit‘ ist die Beschaffung geeigneter Quellen. 27 Sie ist aber nicht unüberwindbar. So habe ich in meiner Untersuchung zur Sprachentwicklung im 19. Jahrhundert (Elspaß 2003 [2005]) den Blick auf die autographische private Schriftproduktion der Bevölkerungsmehrheit gerichtet. Der Grund dürfte nach dem oben Gesagten einsichtig sein: Mit dem bildungsbürgerlichen Deutsch, das so oft mit der Standardsprache verwechselt wird, wurden noch Ende des 19. Jahrhunderts allenfalls fünf Prozent der Bevölkerung sozialisiert. Wie aber 95 % der Bevölkerung im 19. Jahrhundert schrieben und wie diese die deutsche Sprache weiter entwickelten, ist in den letzten 20 Jahren nur ansatzweise erforscht worden. Meines Erachtens ist die Dissertation von Isa Schikorsky (1990) immer noch die einzige publizierte Einzeluntersuchung, in der die geschriebene Sprache der übergroßen Bevölkerungsmehrheit nicht a priori als defizient oder restringiert beschrieben wurde. 28 In meiner Arbeit stehen, wie bei Schikorsky, Texte privater Schriftlichkeit im Vordergrund. Während Schikorskys Material allerdings ausschließlich aus dem norddeutschen Raum stammte, habe ich den Einzugsbereich für die Quellen meiner Untersuchung auf das gesamte Sprachgebiet ausgedehnt. Die Quellentypen, die für ein solches Unternehmen in Frage kommen, sind gewiss dünn gesät, denn das Schreiben gehörte für den Großteil der Bevölkerung nicht zur „Tägliegen Bescheftigung“ (Grosse et al. 1989, S. 13). Aber es gibt diese Quellen – noch. 29 Zu den kommunikativen Ausnahmesituationen des 19. Jahrhunderts, in denen auch ‚einfache‘ Menschen gezwungen waren, zur Feder zu greifen, gehörte die Massenauswanderung, vor allem in die USA. 26 27 28 29 Vgl. in diesem Sinne schon Gessinger (1982, S. 141). „What diachronic linguists need is material as close to actual speech as possible, only in written form.“ (Sević 1999, S. 340). ‚Gesprochene Sprache‘ in literarischen Texten ist davon freilich auszunehmen, da sie wegen der besonderen Probleme der fiktionalen Brechung nur bedingt für Analysen des tatsächlichen Sprachgebrauchs taugt. In diese perspektivische Falle tappten gerade Arbeiten, in denen Texte ‚kleiner Leute‘ in asymmetrischen Kommunikationssituationen, z. B. Bitt- und Beschwerdebriefe, untersucht wurden (Mattheier 1990 u.ö., Klenk 1997 u. ö., Jakob 2000). Während Texte ‚hoher Schriftlichkeit‘ meist öffentlich archiviert und deshalb ‚sicher‘ sind, ist etwa die Aufbewahrung privater Schriftstücke in Familienarchiven etc. nur immer so lange garantiert, wie mindestens ein Familienmitglied solchen Quellen eine gewisse Wertschätzung entgegenbringt. Mit jedem Generationenwechsel sind solche Quellen in ihrem Fortbestand potentiell gefährdet. Eine systematische Archivierung und Aufbereitung alltagssprachlicher Schriftlichkeit aus der jüngeren Sprachgeschichte tut deshalb dringend not. 74 Stephan Elspaß Aus den ca. 10 000 Briefen der Auswandererkorrespondenz, die heute zugänglich sind, wählte ich 650 Briefe von 60 Schreiberinnen und 210 Schreibern aus den deutschsprachigen Ländern aus. 30 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf zwölf grammatische Phänomene, die in drei Gruppen präsentiert und mit Daten aus dem Briefkorpus belegt werden. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um alte, rein schreibsprachliche Varianten, die in den Grammatiken nicht mehr auftauchen, aber – wie sich zeigen wird – im Sprachgebrauch im 19. Jahrhundert usuell waren (3.1). In der zweiten Gruppe liegen Varianten vor, die in gesprochener und geschriebener Sprache üblich waren, heute allerdings in Substandards des Deutschen abgedrängt sind (3.2). Alle sechs Varianten der ersten beiden Gruppen gerieten vor allem im 18. Jahrhundert in den Blick – oder besser: das Schussfeld – der Grammatiker, unterlagen fortan einer normativen Diskriminierung und verschwanden schließlich aus der Schriftsprache und der späteren Standardsprache. Nach einem Seitenblick auf die ‚Verlaufsform‘ im Deutschen stelle ich in der dritten Gruppe fünf Varianten vor, die ebenfalls in den letzten 200 bis 250 Jahren zur Zielscheibe sprachnormativer Anstrengungen wurden, die aber trotz Diskriminierung und Stigmatisierung standardsprachlich geworden sind bzw. auf dem Wege sind es zu werden (3.3). Plakativ könnte man formulieren, dass es in den ersten beiden Gruppen vornehmlich um Phänomene geht, die es nach üblichen Handbuchdarstellungen im 19. Jahrhundert nicht mehr geben dürfte, und in der dritten Gruppe um Phänomene, die es in der Schriftsprache des 19. Jahrhunderts noch nicht geben durfte. 3.1 Alte schreibsprachliche Varianten 3.1.1 Afinite Nebensatzkonstruktionen (1) Ich denke mir imer daß ihr in Angst und Sorgen sind wegen mir, weil ihr so lange keinen Brief bekomen, 31 erstens sind wir hundert u. 5 Tag auf See 30 31 244 dieser Schreiberinnen und Schreiber besaßen lediglich eine Volksschulbildung, 26 eine höhere Schulbildung (bzw. auch mit universitärer Ausbildung). Die Auswahl der Briefe richtete sich nach folgenden Kriterien (vgl. im Einzelnen Elspaß 2003 [2005]): – größtmögliche Repräsentativität für die Gesamtheit der alphabetisierten Bevölkerung, – Authentizität, d.h. es mussten buchstabengetreue Transkripte der Originale vorliegen oder angefertigt werden, – eine möglichst breite zeitliche Streuung vom Beginn des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, – eine möglichst breite regionale Streuung über das gesamte deutschsprachige Gebiet dieser Zeit, – eine möglichst geringe Beeinflussung durch die englische Sprache, d.h. es wurden entweder Briefe nicht ausgewanderter Angehöriger aufgenommen oder Briefe von Auswanderern von der Überfahrt oder aus den ersten Jahren in der Neuen Welt. Durch Kursivsetzungen sind in den folgenden Belegen die besprochenen sprachlichen Merkmale hervorgehoben. Der Wechsel zwischen deutscher und lateinischer Schrift ist der besseren Übersicht halber nicht besonders gekennzeichnet. Standardisierung des Deutschen 75 7 Wochen sind wir Blümuth [Plymouth] gelegen biß unser Schiff gemacht gemacht worden ist. [Anna Maria (Klinger-) Schano aus Korb-Steinrainach bei Waiblingen (schwäb.), 18. 03. 1849] (2) Nun Ihr lieben, muß ich euch bemerken das wir vor einigen Wochen einen Brief von Texas erhalten, und zwar mit der traurigen Botschaft, das es dem lieben Gott gefallen, unseren Vielgeliebten Bruder ins jenseits gerufen, und wodurch, durch den Krieg, Er hatte auch mit in den Krieg gemußt, im September 1865 krank entlassen worden, 1 Monath nachdem an der Leberentzündung zu Hause gestorben, nähmlich den 3. Oktober 1865 […] ja man hat es imer in den Zeitungen gelesen, wie Texas so sehr gelitten, hätte uns der Bruder doch früher geglaubt [Regina (Rückels-) Kessel aus Wiedenbrück (westf.), 11. 01. 1867] Das Auslassen der Hilfsverben haben und sein in Nebensätzen mit Perfektprädikat (‚afinite‘ Nebensatzkonstruktionen) dominierte insbesondere im Kanzleistil des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. 32 Neben anderen Grammatikern des 18. Jahrhunderts kritisierte vor allem Gottsched dies als barocke „Unart“, was ihn aber selbst nicht davon abhielt, afinite Konstruktionen weiterhin zu verwenden – zumindest in entsprechenden Sätzen mit sein, wie John Evert Härd (1981, S. 127) beobachtete. Härd vermutete, dass der von ihm bis zum 20. Jahrhundert festgestellte Rückgang der afiniten Konstruktionen nicht in erster Linie dem Einfluss der Grammatiker zuzuschreiben ist. Vielmehr sei er im Zusammenhang zu sehen mit der „Konsolidierung des Satzrahmens, der als schlussbildenden Pol eben ein finites Verb verlangt“ (ebd.). Die afiniten Konstruktionen liefen jedenfalls nach dem sprachnormativen Verdikt Gottscheds nicht am Ende des 18. Jahrhunderts aus. Vielmehr sind sie, wie v. Polenz (1999, S. 351) schreibt und wie sich anhand meines Korpus bestätigen lässt, auch im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch „literarisch und im Briefstil“ üblich – und zwar unabhängig von der Schreiberschicht, aber abhängig vom Kontext: Afinite Konstruktionen waren immer spezifisch für konzeptionelle Schriftlichkeit; sie gehörten schon in ihrer Blütezeit zu den „syntaktischen Prestigesignalen“ (Lötscher 1995, S. 134), und sie wurden auch in meinen Briefen gerade da verwendet, wo es formeller oder ‚feiner‘ klingen sollte. 3.1.2 ‚Analoges‘ -e im Präteritum starker Verben (3) dieses Schif hielte sich biß dem 11ten nachmittags um 4 Uhr da kam es Glücklich in Hafen eingelaufen und es ging auch auf der Ställe zu Grund [Johann Baptist Weyherder aus Villenbach-Wengen (schwäb.), 24. 12. 1835] 32 Vgl. Härd (1981), v. Polenz (1994 S. 278), Konopka (1996, S. 28 S. f.) und Macha (2003). 76 Stephan Elspaß (4) ich habe mich sehr Gefreut, da ich Löcke Sahe [Christine Elderinck, geb. Klümper, aus Schüttorf bei Bad Bentheim (westf.), 10. 01. 1870] Das alte ‚analoge‘ oder ‚hyperkorrekte‘ -e im Präteritum starker Verben ist im 18. Jahrhundert noch sehr gebräuchlich, vor allem in Schriften schwäbischer Provenienz (Wegera 2000a, S. 1814). Aber auch Goethe schrieb in seinen Jugendwerken noch ich sahe, thate, flohe, hielte, stande, ritte, fande und korrigierte diese Formen erst – unter dem Einfluss der Adelung’schen Vorgaben – in der Revision seiner Werke von 1786/87 (Habermann 1997, S. 462). Gottsched und Adelung lehnten die Verwendung dieses -e im Interesse einer klaren Unterscheidung der Modi ab, während süddeutsche Grammatiker wie Aichinger es weiterhin als korrekt ansahen (v. Polenz 1994, S. 261). Nach Hermann Paul (1917, S. 198f.) ist es im beginnenden 19. Jahrhundert nur noch in Einzelbelegen zu finden; in meinen Privatbriefen hält es sich allerdings noch durchgehend bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Auffällig ist aber wieder, dass es oft in formellen Kontexten steht, wie im Beleg (4), wo allein schon da als temporal-kausaler Konnektor auf eine höhere Stilebene weist. 3.1.3 -gen als Diminutivsuffix (5) diesen Brief will ich meinem Zigel Macher Nahments Valentin Nicklaus bis auf Zinsinati mit geben weil er selbst dahin geht von Teutschland er [und] sein Mädgen dan von Cinsinati könen villeicht etwas 60 Teutsche Stunden dahin sein [Michael Haßfurther aus Riedbach-Humprechtshausen (ostfrk.), 28. 05. 1839] (6) es sind hier in der Willischtz [village] das heißt klein Städtgen oder Dorf es sind hier auf 250 Personnen Deutsche die in der Feckteri [factory] schaffen […] was macht mein Petters Georg u. seyn Christingen hat er eine Stelle und sein Sie verheirathet [Martin Weitz aus Schotten/Vogelsberg (zentralhess.), 29. 07. 1855] Über die Entwicklung der Diminutivsuffixe in gedruckten Texten des Neuhochdeutschen sind wir zuletzt durch den Aufsatz von Klaus-Peter Wegera (2000b) gut informiert: Für die 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts kann -gen noch als Leitvariante gelten. Erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt sich in allen Regionen des Sprachgebiets das heutige -chen durch, während das -gen Ende des 18. Jahrhunderts praktisch nur noch regional auftaucht. (Das Suffix -lein spielte übrigens immer nur in bestimmten phonetischen Umgebungen bzw. in bestimmten Textsorten und Stillagen eine Rolle.) Nach Adelungs Festschreibung des -chen als ‚richtige‘ Form „ist -gen für die Grammatiker kein Thema mehr“; in der Lexikographie wird es gerade noch „bis ins 1. Drittel des 19. Jahrhunderts“ gebucht (Wegera 2000b, 55). Schon die Belege (5) und (6) zeigen jedoch, dass dies noch nicht sein Ende bedeutete: Seine Verwendung ließ Standardisierung des Deutschen 77 sich für das gesamte 19. Jahrhundert bei etwa 13,5 % der Schreiberinnen und Schreiber nachweisen, und wie ein Blick auf die Karte 1 offenbart, ungefähr genau noch in den Gebieten, in denen es Ende des 18. Jahrhunderts als dominierende Variante galt, nämlich im Westen bis hin zum Nordoberdeutschen. 33 Karte 1: Diminutivformen in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. 33 Für das späte 18. Jahrhundert kann wieder Goethe als ein prominenter Verwender dieses Diminutivsuffixes genannt werden. Resthaft erhalten ist es heute nur noch in westdeutschen Personen- und Ortsnamen, z.B. Päffgen, Schnütgen, Röttgen etc. (vgl. Elspaß 2000, S. 254). 78 Stephan Elspaß 3.2 Schreib- und sprechsprachliche Varianten heutiger ‚Substandards‘ des Deutschen 3.2.1 Partizip II ohne ge-Präfix 0(7) Im letzten Krieg sind wir gut wegkomen, kein fremdes Militär haben wir nicht gehabt, in unsrem Lande sind Preußen gewesen aber bei uns nicht. 0 [Johannes Schmalzried aus Münchingen bei Stuttgart (schwäb.), 06. 10. 1867] 0(8) wen ich das gewußt häte häte ich eich den Acker nicht geben jezt hatt sich der Arme Franz so fiel blagt damit und jezt habt ir nichts 0 [Theresia Mandl aus dem Burgenland (mittel-/südbair.), 06. 02. 1923] Das ge-Präfix im Partizip II indigener Stammverben bzw. trennbarer Verben ist erst seit dem 17., spätestens dem 18. Jahrhundert feste Regel im Deutschen (v. Polenz 1994, S. 261). Die letzte präfixlose Form im heutigen Standard ist worden, bis in gedruckte Texte des späten 18. Jahrhunderts finden sich solche Formen jedoch noch zu frequenten Verben wie kommen, finden, gehen, binden, essen, geben, treffen oder bringen. Nach Walter Hoffmann (1988) setzt die präskriptive Normierung des ge-Präfixes erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Adelung (1781, S. 274) schließlich lehnte präfixlose Formen als „pöbelhaft“ und „widerwärtig“ ab. Die Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts behandelt sie immerhin noch als Fehler – was ja nur darauf hindeutet, dass sie noch in Gebrauch waren. Vor allem in Briefen aus dem oberdeutschen Raum finden sie sich bis in die 1920er Jahre, siehe z.B. Beleg (8), in Briefen von Schreibern aus Norddeutschland, wo das Präfix in vielen Dialekten ja ganz fehlt, bis in die 1870er Jahre. Belege (9) und (10) sind schöne Beispiele für Konflikte von Schreibern, die zwischen stigmatisierter und schriftsprachlicher Norm zu entscheiden hatten: 0(9) ihre Krankheit ist die Kolra wesen gewesen [Gerd Hinrich Friemann aus Hestrup bei Bad Bentheim (westf.), 11. 1866] (10) an Samstag abend Mittag kamen wir in St Louis an. Da haben wir erst im Gasthof gessen gegessen und uns angekleidet, und da sind wir dan nach unsere Verwannten gewesen. [Bernhard Große Osterholt aus Steinfurt-Borghorst (westf.), 03. 04. 1883] 3.2.2 Doppelte Verneinung (11) Inigsgeliebter Bruder Roberdt/Keine Minute vergeß ich dich nicht [Georg Heubach aus Steinach (thüring.-ostfrk.), 1849] (12) Nun dieses Jahr wollte zur Hopfenzeit nimand keine Kaufen [Christian Frautschi aus Saanen/Berner Oberland (höchstalem.), 25. 10. 1868] Standardisierung des Deutschen 79 (13) kein geistiges getränk darf nicht verkauft werden [Katharina (Gamsjäger-) Hinterer aus Goisern/Salzkammergut (mittelbair.), 31. 07. 1887] (14) Herzliebste Vera! Ich schike dir hir einen dollar und sag ja zu nimant nichts weil es braucht nimant was wisen [Johann Händler aus Breitenbrunn/Burgenland (mittel-/südbair.), Anf. 1924] Die doppelte Verneinung als Verstärkung der Verneinung gilt – nicht nur im Deutschen – nach verbreiteter Ansicht als unlogisch (Cheshire 1998). Als die Grammatiker des 18. und 19. Jahrhunderts sie für ‚ungrammatisch‘ erklärten und stigmatisierten, orientierten sie sich nicht nur am tatsächlichen Gebrauchsrückgang, wie er vor allem für die Schriftsprache des 17. Jahrhunderts nachgewiesen ist (Pensel 1976, S. 316), sondern auch am klassischen lateinischen Vorbild. So schreibt etwa Heinrich August Schötensack (1856, S. 557) in seiner Grammatik, dass „das im Lateinischen herrschende Gesetz, dass doppelte Negationen bejahen, im Neuhochdeutschen zur allgemeinen Geltung gekommen“ sei (Hervorh. im Original). Wladimir Admoni (1990, S. 187) beschreibt sie zuletzt für das 17. Jahrhundert und merkt für das 19. lapidar an, dass sie „nur bei der Wiedergabe der gröberen Umgangssprache“ vorkomme (ebd., S. 225). Aber was heißt schon „gröbere Umgangssprache“? Man urteile bei den Belegen (11) bis (14) selbst. Es lässt sich immerhin zeigen, dass noch Karte 2: Doppelte Negation in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. (nach Zahl der Schreibenden; die Prozentzahlen in Klammern beziehen sich auf die Gesamtzahl der Schreibenden aus der jeweiligen Region.) 80 Stephan Elspaß mindestens bis in die 1920er Jahre die doppelte Verneinung auch in privater Schriftlichkeit üblich war. Karte 2 zeigt darüber hinaus eine interessante regionale Verteilung: Die doppelte Negation war im mittel- und oberdeutschen Sprachgebiet gebräuchlicher als im niederdeutschen – und dies ist wohl auch in den heutigen Substandards noch so. Die Belege stützen meines Erachtens Karin Donhausers (1996, S. 202f.) Argumentation, dass im Deutschen der „Jespersen-Zyklus“ nicht zum Tragen kommt, in dem eine zyklische Bewegung von einer Mononegativität im Althochdeutschen über ein polynegativisches System im Mittelhochdeutschen (und Frühneuhochdeutschen) zurück zur Mononegativität im Neuhochdeutschen angenommen wird. Die doppelte Negation wäre danach also bis ins 20. Jahrhundert „eine durchgehend präsente Strukturoption“ (ebd., S. 203), und zwar auch in geschriebener Alltagssprache. 34 3.2.3 tun-Fügung (15) jezt tun wir Treschen aber ganz anders wie dort [Josef Schabl aus dem Burgenland (mittel-/südbair.), 13. 08. 1922] (16) ihr werdets euch wohl nicht gedacht haben daß ich Waschen thu aber in Amerika darf man sich nicht schämen wenn mann arbeitet [Anna Maria (Klinger-) Schano aus Korb-Steinrainach bei Waiblingen (schwäb.), Mitte 1850] (17) Bruder Jan seine Tochter war auch recht slimm Krank im Monath Märtz daß wir dachten es wurde nicht wieder besser doch sie brauchten den Doctor der that mehrere Tage 2 mal den Tag ihn besuchen sie wurde auch wieder besser. [Bernd Farwick aus Neerlage bei Bad Bentheim (westf.), 03. 1867] Mein nächstes Beispiel ist die tun-Fügung, deren Stigmatisierungsgeschichte bis in die Schulgrammatiken des frühen 19. Jahrhunderts von Nils Langer (2001) nachgezeichnet wurde. Die tun-Fügung war im Frühneuhochdeutschen schriftsprachlich noch in allen Regionen verbreitet (Langer 2000, S. 293). Von Polenz (1994, S. 263) erwähnt, dass sie zuletzt am Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch war, und zwar nur in „volkstümlichen Textsorten im Oberdt.“. Danach scheint das auxiliare tun endgültig aus der neuhochdeutschen Schriftsprache verschwunden zu sein. Auch diese Darstellung ist nach der Untersuchung meines Briefkorpus zu korrigieren. Die tun-Fügung ist im 19. Jahrhundert in Briefen von fast einem Drittel der Schreiberinnen und Schreiber mit Volksschulbildung (70 von 244 = ca. 28,7 %) nachzuweisen – und zwar, wie die schematische Karte 3 zeigt, im gesamten Sprachgebiet. Grundsätzlich ist die tun-Fügung ja auch in allen Dialekten bekannt. 34 Donhauser führt in erster Linie die Verhältnisse in gesprochenen Varietäten des Deutschen an. Standardisierung des Deutschen 81 Karte 3: tun-Fügung (ohne Phraseme) in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. (nach Zahl der Schreibenden) Exkurs: am-Konstruktion (18) Donnerstag 9 Jul: ist Gerd Schulte Wieking aus Gildehaus so unvermutet zu Tode gekommen er war im einen neügegrabenen Bierkeller am Arbeiten und einen alter Steinere Wand fiel um und traf ihm zu Tode [Bernd Farwick aus Neerlage bei Bad Bentheim (westf.), 12. 07. 1868] (19) in Navare konten wir vorleufig keine Arbeit kriegen darum musten wir nach Masilon, wir sind hir im Steinbruch am Arbeiten ich und Goltschmid [Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr (nfrk.), 15. 05. 1881] Betrachten wir parallel zum Niedergang der tun-Fügung den Aufstieg einer anderen analytischen Konstruktion in den letzten 200 Jahren, nämlich der amKonstruktion. Wie berechtigt sowohl die Bezeichnungen ‚Rheinische Verlaufsform‘ wie auch ‚Westfälische Verlaufsform‘ sind, zeigt die Karte 4, auf der das Verbreitungsgebiet dieser Konstruktion im 19. Jahrhundert nach den wenigen Belegen meines Korpus zu sehen ist. 82 Stephan Elspaß Karte 4: am+Inf+sein-Konstruktionen in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. Durch Untersuchungen der letzten Jahre ist dokumentiert, dass die am-Konstruktion inzwischen fast im gesamten Sprachgebiet gebräuchlich ist. 35 Und auch durch die Duden-Grammatik (1998, S. 91, Anm.1) ist sie insofern geadelt, als sie für „schon auch standardsprachlich“ erklärt wird. Im Vergleich der Entwicklungsgeschichten von tun-Fügung und am-Konstruktion kann die Dynamik grammatischer Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte anschaulich gemacht werden: Die am-Konstruktion ist ein Mittel zur Bezeichnung des Progressiv-Aspekts im Deutschen, wie in Bsp. (18) – 35 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Krause (1997), Reimann (1999) und Rödel (2003). Standardisierung des Deutschen 83 aber nicht nur: In Bsp. (19) kommt Habitualität zum Ausdruck. Dies sind nun auch zwei Aspekttypen, die mit der tun-Fügung ausgedrückt werden können, vergleiche die Bsp. (16) und (17) gegenüber (15). Es sieht also so aus, als würde durch die am-Konstruktion – von einer Region und der alltagssprachlichen Domäne ausgehend – allmählich eine grammatische Funktion restituiert, die durch die Stigmatisierung der tun-Fügung aus dem Hochdeutschen verdrängt worden war. 36 Auslöser aber waren nicht sprachsystemare Verwerfungen, sondern ein normativer Eingriff ‚von oben‘, nämlich die Stigmatisierung der tunFügung. Wir haben es hier sowohl mit regulärem als auch mit reguliertem Sprachwandel zu tun. 3.3 Ehemals substandardliche schreib- und sprechsprachliche Varianten der heutigen Standardsprache Nicht nur nach Meinung von Friedhelm Debus ist das Gegenwartsdeutsch von Nivellierungstendenzen gekennzeichnet, bei denen sich generell eine „Orientierung zur umgangssprachlichen Mitte hin von den Polen Standard-/ Hochsprache einerseits und Dialekten/Mundarten andererseits her“ abzeichnet (Debus 1999, S. 55). Ich bediene mich eines Satzes, den Debus zitiert, um daran einige grammatische Entwicklungstendenzen der Gegenwartsprache aufzuzeigen, und erweitere diesen um einen zweiten: Wegen dem Zeugnis brauchst du nicht weinen, weil meins ist auch nicht besser wie deins. Zeugnisse, da bin ich kein Fan von! In diesen beiden Sätzen sind fünf wohlbekannte Phänomene versammelt, die – wie die am-Konstruktion – in den Umgangssprachen geläufig sind und von da aus zurzeit gute Chancen haben, mit den Weihen der kodifizierten Standardsprache versehen zu werden. Im Gegensatz zur am-Konstruktion haben diese fünf Phänomene allerdings noch etwas anderes gemeinsam: Sie gehören zu den „z.T. 100–200 Jahre alten sprachkritischen Ladenhüter[n]“, wie Walter Dieckmann (1991, S. 363) sie einmal bezeichnete. Es handelt sich um grammatische Formen, die sich trotz normativer Diskriminierung durch die Schulgrammatik einen festen Platz in der konzeptionellen Mündlichkeit bewahrt haben. 36 Sicherlich war die am-Konstruktion in neuester Zeit ebenfalls Stigmatisierungen unterworfen. Allerdings ist sie gewissermaßen zu ‚jung‘, als dass ihre Verwendung schon früh ins Visier präskriptiver Schulgrammatiker hätte geraten können. Ein Indiz: In einer kleinen Schrift über „Niederrheinische Provinzialismen“, die der Aachener Gymnasiallehrer Joseph Müller 1830 veröffentlichte, wird zwar eine andere syntaktische ProgressivForm, nämlich Formulierungen des Typs wir sitzen schon lange auf dich zu warten genannt, auffälligerweise aber nicht die am-Konstruktion. 84 Stephan Elspaß 3.3.1 weil +Verbzweitstellung (20) als wir das getan hatten da war unser akord gebrochen Weil wir wusten nicht daß sei [sie] zusammen hielten [Heinrich Küpper aus Loikum/Niederrhein (ndfrk.), Reiseaufzeichnungen S. 1847ff.] (21) wi wir davon geschbrochen haben das wahr hir beim tag und drausen wahr wahr es nacht weil die uhr di ist um neun stunden schbäter als drausen [Johann Händler aus Breitenbrunn im Burgenland (mittel.-südbair.), 26. 11. 1923] Es ist mit Vilmos Ágel (2000, S. 1887) davon auszugehen, dass das parataktische weil wesentlich älter ist als das Forschungsinteresse an ihm. Beispiele (20) und (21) belegen dies. 37 Über den Fall weil hinaus zeigen die Briefe des 19. Jahrhunderts ein „buntschillerndes Mit-, Neben- und Gegeneinander im Bereich der begründenden Konjunktionen“, 38 in dem neben weil, denn und da verschiedene koordinierende oder subordinierende Kausalkonnektoren, wie z.B. indem, nämlich oder gar wegen gebraucht wurden. Um die Entstehung bzw. mögliche Kontinuität der Verbzweit-Konstruktionen erklären zu können, müsste man sich zunächst ein vollständiges Bild möglicher syntaktischer Einflussfaktoren machen. Dies hat die Forschung, soweit ich sehe, allerdings bisher kaum geleistet. Welche Rolle spielen etwa Verbalkomplexe, die so genannte ‚Ausklammerung‘ oder auch noch die afiniten Konstruktionen bei der ‚Grammatikalisierung‘ der Verbzweitstellung nach weil? So ist bei Belegen des Typs (22) nicht klar, ob der Grund für Verbzweitstellung ein einleitendes ‚parataktisches weil‘ oder die variable Stellung der finiten Hilfsverben in mehrgliedrigen Verbalkomplexen ist, denn nicht einmal die Stellung der finiten Hilfsverben in zweigliedrigen Verbalkomplexen ist nach meinem Belegmaterial im 19. Jahrhundert so gefestigt, wie es oft dargestellt wird. 39 (22) Ich habe schon gleich ums Heumachen um 12 Dollar Heu gekauft da habe Ich 2 Fuhren bekommen weil wir auf unsern Land auch nur zwei Fuhren bekamen Getroschen haben wir auch nicht viel weil man mußte schon den Hafer bald grün verfüttern [Mathes Josef Windirsch aus Müllestau bei Marienbad (nordbair.), 02. 04. 1896] 37 38 39 Vielleicht sind die Belege (20) und (21), aber auch (14) (der Schreiber benutzt weil übrigens überwiegend mit Verbzweitstellung!), erste Ansätze zum Füllen der „Beschreibungslücke“ im Rahmen der These von der historischen Kontinuität von ahd. wanta zu nhd. weil + V2, vgl. insbesondere die Diskussion in Selting (1999) und Wegener (1999, S. 11ff.). Mit diesen Worten charakterisierte Erwin Arndt (1959, S. 396) die Situation im Frühneuhochdeutschen. Siehe Härd (1981), Ágel (2001) und Konopka (2003), die sich im Wesentlichen nur noch mit drei- und viergliedrigen Verbalkomplexen befassen. Standardisierung des Deutschen 85 Zusätzlich mag die Tendenz zur ‚Ausklammerung‘ in der Alltagssprache dazu geführt haben, dass weil als koordinierende Konjunktion (re)analysiert wurde, vgl. die folgende Formulierung des selben Schreibers (23): 40 (23) im Herbst kauften wir uns noch für 8 Dolar Haferstroh wir haben uns jetzt noch 70 Buschel Hafer gekauft es kostet der Buschel Hafer 18 Cent weil wir hatten in Herbste zwei Küh u eine Kalbin dan haben wir die ältere Kuh geschlacht weil die Kalbin tragbar ist [Mathes Josef Windirsch aus Müllestau bei Marienbad (nordbair.), 02. 04. 1896] Überdies erlauben afinite Konstruktionen mit weil wie in Beleg (24) einen gewissen Spielraum im Hinblick auf die mögliche Setzung des finiten Hilfsverbs: (24) So bitte ich Euch liben Eltern nochmahls dringend, Laßt Euch ein Bild von das Orignal Bild abnehmen und schikt uns dan das Bild welches wir an Euch geschikt haben es wird Euch gewiß, nichts aus machen solte es nicht ganz genau so sein weil Ihr das Kind doch nicht gekant [Hermann Reibenstein aus Hamerstorf bei Lüneburg (ostfäl.), 05. 06. 1870] Es erscheint als lohnendes Unterfangen, die Entwicklung der Verbstellung bei Kausalkonnektoren und insbesondere die ‚Entstehung‘ des weil mit Verbzweitstellung im Zusammenhang mit der Entstehung der Satzklammer zu untersuchen. 3.3.2 (nicht) brauchen ohne zu (25) … so wird er vor dem Schwurgericht verurtheilt so brauchst du dir keine Mühe geben um in ausfindig zu machen wir wollen in nicht mehr sehn. [Georg Fettermann aus Ober-Flörsheim bei Alzey (rheinfrk.), 25. 08. 1856] (26) der Joseph braucht sich nicht hierher winschen das ist nichts vier Ihm. [Heinrich Dumsch aus Neu-Altmannsdorf bei Münsterberg (schles.), 1883] Kurz fassen kann ich mich zu (nicht) brauchen ohne zu: Literatursprachliche Belege für dieses neue Modalverb 41 sind schon für den Beginn des 19. Jahrhunderts verzeichnet (v. Polenz 1999, S. 351). In meinem Textkorpus wird bereits in fast einem Viertel (25 von 105 = 23,8 %) aller Belege brauchen+NEGMarker ohne zu verwendet. 40 41 Parataktisches weil ist übrigens auch für den alten böhmisch-deutschen Dialekt dokumentiert, den der Schreiber wohl sprach (Schiepek 1899, S. 42). Differenzierend hierzu Askedal (1997). 86 Stephan Elspaß 3.3.3 wegen + Genitiv bzw. Dativ/Akkusativ (27) Auch habe ich in eurem Brief ersehen, daß ihr sehr bekümert seyd über mich wegen dem Krieg in Amerika. […] Auch habe ich ersehen, daß ihr sehr in Angst seid wegen dem, daß die Mutter hören Rufen hat und an die Thür geklopft wurde. Es hat ihr vieleicht geträmt. [Wilhelm Schöpfle aus Grötzingen bei Karlsruhe (rhfrk.), 14. 04. 1861] (28) ich bin wegen dem Geld nicht Soldat geworden, mein Geschäft was ich verlasse haben hat mir mehr eingebracht. [Carl Niedenhofen aus Siegburg bei Bonn (rip.), 28. 09. 1862] Normgerechter Genitiv bei der Verwendung von wegen, während, (an)statt und anderen Präpositionen findet sich nur in etwa einem Viertel (26,0 %) aller Belege aus dem Briefkorpus. Der Gebrauch solcher Präpositionen mit dem Dativ, zu dem die meisten dieser Präpositionen tendieren, oder gar mit dem Akkusativ liegt entsprechend bei fast drei Vierteln aller identifizierbaren Fälle. Interessant ist die Differenzierung nach dem Bildungsgrad der Schreibenden – die Belegzahlen sind freilich recht niedrig: Über vier Fünftel der Schreiber mit höherer Schulbildung und dagegen weniger als ein Fünftel der Schreiber mit einfacher Volksschulbildung verwenden den ‚korrekten‘ Genitiv. Dafür liegt der Gebrauch mit dem Dativ oder gar mit dem Akkusativ bei den einfach gebildeten Schreibern schon bei fast 84 % (Tabelle 1): Genitiv Dativ oder Akkusativ (Kasusmarkierung nicht eindeutig) Gesamt 27 26,0 % 77 74,0 % (116) – Schreibende mit höherer Schulbildung 13 81,3 % 03 18,7 % 0(28) – Schreibende mit Volksschulbildung 14 16,1 % 74 83,9 % 0(98) – Tabelle 1: Realisierte Kasus nach ‚Präpositionen mit Genitiv‘ in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. 3.3.4 Partikeln nach Komparativ (29) Aber wir wollen Euch so viel schreiben daß es nicht so arg hier als wie es manche machen. Es ist beteudtend besser als wie in Deutschland. Aber man muß auch strenger Arbeiten als wie in Deutschland […] Und ist auch mit unsern Geschäft nicht so gut als hier, sonst währ ich nach gemacht. [Christoph Barthel aus Kirchhagen bei Kassel (nordhess.), 15. 08. 1847] (30) daß doch des Vaters Auge weiter sieth, gewöhnlich, als wie das des Sohnes […] er würde vielleicht beßer ausmachen denn ich […] er wird ein guter americaner abgeben, beßer wie ich, weil er, trotz seines guten benehmen gegen mich, beßer zu sich nehmen kann wie ich [Friedrich Martens aus Delve/Dithmarschen (nordnd.), 18. 04. 1858] 87 Standardisierung des Deutschen Noch eindeutiger ist die Belegsituation bei den Partikeln nach Komparativ: In fast 38 % aller Belege wird im 19. Jahrhundert wie oder sogar als wie verwendet. Auffällig – aber nicht überraschend – ist auch hier wieder, dass Schreiber mit höherer Schulbildung zu über 90 % die korrekte Form gebrauchten. Betrachtet man die Schreiber, die ‚nur‘ eine Volksschulbildung besaßen, liegt der Anteil der nicht-normgerecht verwendeten Partikeln bei über 40 % (Tabelle 2): als wie als wie denn Gesamt 386 62,0 % 186 29,9 % 49 7,9 % 4 0,6 % Schreibende mit höherer Schulbildung 039 90,7 % 004 09,3 % 00 0,0 % 0 0,0 % Schreibende mit Volksschulbildung 347 59,6 % 182 31,3 % 49 8,4 % 4 0,7 % Tabelle 2: Verwendung von Komparationspartikeln in der geschriebenen Alltagssprache des 19. Jhs. Schon Otto Behaghel (1927, S. 205) schrieb, dass es keinen „innerlich begründeten Unterschied zwischen als und wie“ gebe. Friedhelm Debus (1999, S. 44), Maria Thurmair (2001, S. 97) u.a. meinen inzwischen, dass sich wie auch standardsprachlich als Einheitspartikel nach Komparativ und nach Positiv durchsetzen werde. Ein Problem stellt die Verwendung von wie nach Komparativ wohl nur aus symbolgrammatischer Sicht dar, in der man eine „strenge Aufgabenverteilung“ zwischen als und wie postuliert (hier Weinrich 2003, S. 795). Aus kontextgrammatischer Sicht besteht zur Trennung der beiden Funktionswörter keine funktionale Notwendigkeit, da durch den Positiv mit so bzw. den Komparativ mit -er die gemeinten Vergleichsverhältnisse schon hinreichend zum Ausdruck gebracht werden. 3.3.5 ‚Getrennte‘ Pronominaladverbien und verwandte Konstruktionen (31) Doch lieber Bruder wo soll ich dich mitt Trösten […] dann sagte ich, das sollst du nicht, ich will schreiben, und da ist es bei geblieben.[…] und dann haben wir schöne Sachen darin gekauft, was es alles gekostet hat, das weiß ich selbst nicht mehr, da habe ich meine Freude an […] Wir haben die dritte Tonne Mehl, da haben wir auch den ganzen Winter genug an. [Christine Elderinck, geb. Klümper, aus Schüttorf bei Bad Bentheim (westf.), 15. 09. 1869] (32) Die dritte [Schlacht] hat an gefangen den 1. Mai 1863 und wurde zu Ende den 4 Juli nehmlich die Stadt wo wir wollten da wahren wir ungefähr 20 bis 25 Stunde davon [Ludwig Müller aus Massenheim bei Bad Vilbel (zentralhess.), 08. 01. 1865] 88 Stephan Elspaß (33) … und habe dann keine Auslagen dabei als wie Famielie Bedürfniße Diese belaufen sich des Tags ungefähr auf 1 fl und da haben wir aber ein gutes Leben dabei. [Johann Jakob Schwarz aus Blaubeuren bei Ulm (schwäb.), 25. 01. 1854] Der letzte der fünf Fälle in dieser Gruppe ist der der ‚getrennten‘ Pronominaladverbien. Die Trennung von Pronominaladverbien wie davon, wovon, hiervon etc. in den PRO-Teil und den präpositionalen Teil zählte Dieter E. Zimmer (1986, S. 39) einmal zu den „Trends und Tollheiten im neudeutschen Sprachgebrauch“. 42 Allerdings sind solche und ähnliche Konstruktionen keineswegs neu, sondern für ältere Sprachstufen bis hin zur Verwendung bei Goethe, Büchner oder E. T. A. Hoffmann sehr gut belegt. 43 Die Stigmatisierungsgeschichte begann wieder im 18. Jahrhundert, was bei der Gottschedin (2 1750), 44 Adelung (1782, S. 189), Moritz (1794, S. 83) u.a. nachgewiesen werden kann. Sie begegnen in meinen alltagssprachlichen Texten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf Schritt und Tritt, und zwar in einer erstaunlich klaren regionalspezifischen Verbreitung, wie wir sie in den Dialekten und auch in den heutigen Umgangssprachen finden: Im Norden und Westen dominieren bei konsonantisch anlautenden Präpositionen getrennte Konstruktionen/Spaltungskonstruktionen des Typs da weiß ich nichts von oder da ist es bei geblieben (31), im übrigen Sprachgebiet der Typ der so genannten verdoppelten Konstruktionen/Distanzverdoppelung, also: da weiß ich nichts davon bzw. da davon weiß ich nichts, da wahren wir ungefähr 20 bis 25 Stunde davon (32) oder da haben wir ein gutes Leben dabei (33) (vgl. Karten 1 bis 4 in Fleischer 2002). 45 Auch in diesem Fall ist die Tatsache, dass in das Vorfeld kein vollständiges Satzglied, sondern nur das PRO-Element des Pronominaladverbs steht, nur für situations- und kontextentbundene Grammatikmodelle problematisch; aus einer prozessual orientierten grammatischen Sicht erscheint es sehr motiviert, dass das interrogativische oder deiktische PRO-Element am Satzanfang steht und der präpositionale Teil (evtl. mit ‚verdoppeltem‘ PRO-Element) näher am Verb, Substantiv oder Adjektiv, von dem er (valenz)abhängig ist (z.B. dann sagte ich … ich will schreiben, und da ist es bei geblieben). 42 43 44 45 Ins gleiche Horn stoßen Helmut Glück und Wolfgang Werner Sauer (1997, S. 63), wenn sie von entsprechenden „Veränderungen“ schreiben, die sich „vor allem in der gesprochenen Umgangssprache“ vollzögen. Vgl. Paul (1919, S. 157ff.), Behaghel (1932, S. 237, 249), Dal (1966, S. 89). Vgl. v. Polenz (1994, S. 221). Der Typ der getrennten Konstruktion wird im 19. Jahrhundert übrigens auch noch sehr häufig bei vokalisch anlautenden Präpositionen verwendet, sieh da habe ich meine Freude an (31) – eine Form, die es nach Ansicht mancher Grammatikforscher im Neuhochdeutschen überhaupt nicht geben darf (z. B. Oppenrieder 1991, S. 167). Standardisierung des Deutschen 89 4. Diskussion: Die unerforschten Gründe der Standardisierung im Deutschen Es wurden zwölf Varianten präsentiert, die nach Ausweis der Grammatiken, v.a. der Schulgrammatiken, in der Schriftsprache des 19. Jahrhunderts als nicht ‚korrekt‘ galten, in der geschriebenen Alltagssprache der Bevölkerung im 19. Jahrhundert allerdings mehr oder weniger usuelle Varianten darstellten. 46 Das Gesamtbild ist m.E. nicht geeignet, den Eindruck einer Standardsprache im 19. Jahrhundert aufkommen zu lassen – ‚Standard‘ nach der Definition von Haugen verstanden als einheitliche und konsistente Schreibnorm, die von einer breiten Akzeptanz unter den Sprechern einer Sprache getragen ist. Natürlich liegt hiermit nur eine Auswahl von grammatischen Merkmalen vor, und es ließe sich sicherlich darüber diskutieren, wie viele Merkmale als standardisiert gelten müssen, um von einer ‚Standardsprache‘ sprechen zu können. Wichtiger ist mir aber folgendes Argument gegen die Annahme einer Standardsprache im 19. Jahrhundert: Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung die hochdeutsche Schriftsprache erlernte, hatte nur ein kleiner Teil von ihr Zugang zu den kodifizierten Normen vom Schlage der Schulgrammatiken. 47 Die 46 47 Die Liste ließe sich um verschiedene andere Konstruktionen erweitern, die heute im Zusammenhang einer ‚Grammatik der gesprochenen Sprache‘ diskutiert werden, und mit Beispielen aus meinem Korpus illustrieren: – possessives Dativattribut: Kallmeier sein Vetter; dem Johann sein Weib ihr Großvater (s. auch 17) – ‚Linksversetzung‘: Die Ofen die gefalen mir hier sehr gut. sein Bruder der bauet ein neues Haus – Nachträge: wir sind hir im Steinbruch 2am Arbeiten ich und Goltschmid (vgl. 19) – Ausklammerungen: indem wir noch keine Antwort erhalten haben von unserm letzten schreiben; Er hat uns einen Brief geschrieben den 1 Januar (s. auch 23) – elliptische Sätze: Den 3. Dez. Land in Sicht. Hurra und Gesang und Freude, auch Tränen. – Vor-Vorfeld-Besetzungen: Nun, wie geht es Euch Allen noch? Also, den 9. Sebt gingen wier Wentzvill von da nach Flinthill – Verbspitzenstellung: Nun schimpf mich nicht Peter ich weiß es selbst, ist viel Geld für mich usw. Mattheier (2003, 236) geht neuerdings davon aus, dass „for around 1900 […] the German written standard language was accepted in the entire German speech community as a model norm, and also that the standard variety was actively known by large segments of the population“. Und weiter (ebd., S. 238): „One can assume that a linguistically and sociolinguistically stable standard language existed in the first decades of the twentieth century with regard to structure, status and attitudes.“ [Meine Hervorhebungen, S. E.] 90 Stephan Elspaß Normen, die durch die Grammatiken von Becker, Heyse u.a. verbreitet wurden, erreichten nur die höheren Schulen, für die sie auch geschrieben waren. Dagegen lassen die Befunde meiner Untersuchungen vermuten, dass in der Schreibsozialisation der Bevölkerungsmehrheit noch verschiedene, auch regional begrenzte Gebrauchsnormen im Umlauf waren. Unter dem Regionalitätsaspekt, der wieder verstärkt Thema der neueren Sprachgeschichtsforschung ist 48, ließe sich sogar behaupten: Fast jedem Schriftstück aus der Hand eines weniger gebildeten Schreibers des 19. Jahrhunderts kann man auf Grund sprachlicher Merkmale zumindest eine großregionale Herkunft des Schreibers zuordnen. Woher aber kamen etwa die ‚alten‘ Varianten? Es können hier vorläufig nur zwei Indizien genannt werden: – Das erste bezieht sich auf die Ausbildung der Sprachnormvermittler. So begann die institutionalisierte Ausbildung von Volksschullehrern ja im Grunde erst in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. 49 Davor schrieben und lehrten Lehrer, wie ihnen gut dünkte – man vergleiche etwa die Ausschnitte aus dem Tagebuch eines Eifler Volksschullehrers in Beleg (34): 50 (34) Das hier auf der Nebenseite hat der Matthias Huppertz, mein lieber Vater noch geschrieben, und ist das letzte so er diesem Büchelgen einverleibt hat. Er ware seit anfangs July kräncklich, so besonders von einem Bruchschaaden herrührte, das ihme die heftigste schmertzen verursachte. (…) Er war 9 Jahre Kirchenmeister der hiesigen Pfarr Contzen, und zwarn zur zeit des französischen Krieges von 1792 bis 1801, auch hate er ein schönes Stückgen Brod, obwohl mit vieler Mühe zwischen Cölln und Monjoye mit seinem Fuhrwerk verdienet (…) Das Brod, welches im Herbst wegen dem bevorstehenden Kriege nicht wohlfeil war fängt im Januar 1833 an abzuschlagen. Es gilt itzt 4 Sgr. 4 Pf. [Johannes Huppertz aus Konzen/Eifel (wmd.), 21. 12. 1807 u. 05. 01. 1833, Herv. von mir, S.E.] Selbst nach der Ausbildung in Seminaren werden viele Volksschullehrer die Normen der Schulgrammatiken kaum verinnerlicht haben – dies ist auch heute noch ein Problem. 51 48 49 50 51 Stellvertretend seien die Sammelbände von Macha/Neuß/Peters (2000) und Berthele et al. (2003) genannt. In manchen Regionen, wie dem kleverländisch sprechenden und niederländisch schreibenden Niederrhein, mussten auch erst Lehrer angeworben werden, die überhaupt Hochdeutsch beherrschten (vgl. die Dokumentation in Cornelissen 2003, S. 108ff.). Siehe auch den variierenden Gebrauch der Komparationspartikeln in Beleg (30) – dieser Schreiber war ebenfalls Volksschullehrer. Das zeigen z.B. die Untersuchungen von Winifred Davies (2000) im Mannheimer Raum. Standardisierung des Deutschen 91 – Ein zweites Indiz ergibt sich aus den verwendeten Unterrichtsmaterialien. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden etwa in ländlichen Gegenden Lesen und Abschreiben noch an recht bunt zusammengewürfeltem handschriftlichem Material geübt, das vielfach aus dem 18. Jahrhundert stammte oder gar noch älter war. 52 Darüber, welche gedruckten Materialien wie weit verbreitet waren, weiß man kaum etwas. Zumindest empfohlen wurde für den Gebrauch an Elementarschulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sprachlehre von Bohm/Steinert (Engelien 1889, S. 395), die in ihrer Erstauflage von 1851 genau 32 Seiten schlank war und – wie eine Durchsicht schnell bestätigt – sich kaum eignete, etwa zu den meisten der hier vorgestellten grammatischen Zweifelsfälle verlässliche Auskunft zu geben. In der präskriptiven Schulgrammatik des 19. Jahrhunderts – genauer: der Schulgrammatik für die höheren Schulen – war die Messlatte grammatischer Normen so hoch gelegt, dass es nur einer kleinen elitären bildungsbürgerlichen Schicht gelang, sie zu erreichen. In den Volksschulen wird es jedoch ein massives Vermittlungsproblem gegeben haben: Viele der Normen sind zu einem Großteil der alphabetisierten Bevölkerung kaum durchgedrungen und wurden, wie die vorgestellten Daten zeigen, in der Schreibpraxis regelrecht unterlaufen. 53 In jedem Fall zeigen die hier besprochenen Merkmale, dass das 19. Jahrhundert in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive keine abgeschlossene Phase darstellt, die wir zu den sprachhistoriographischen Akten legen könnten. Zur Darstellung von Entwicklungstendenzen der Gegenwartssprache darf man gerade die dritte Variantengruppe nicht ignorieren. Nach Mattheier (2003, S. 237 u.ö.) würden solche Merkmale zu einem „Proto-Standard“ zählen, also einer „speziellen Varietät“ transitorischen Charakters, die sich in dem Moment aufgelöst habe, als die bildungsbürgerliche Schriftsprache die Volksschulen erreichte. Die Merkmale sind allerdings nicht verschwunden. Ich wähle mit Hartmut Schmidt (2002, S. 324) das Bild von der „so lange Zeit geglätteten einheitliche[n] Oberfläche der Schriftsprache“: In der Gegenwart treten manche Merkmale wieder an eben diese Oberfläche – und zwar nicht 52 53 Verwiesen sei noch einmal auf die Untersuchungen von Gessinger (1995) für Nordwestdeutschland und Messerli (2000) für die Schweiz. Man kann mit Wolf Peter Klein (2003) vielleicht sogar das Aufkommen der Zweifelsfälle-Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts als „Bankrotterklärung“ der rationalistischen Grammatikschreibung interpretieren: „[…] anders als die Autoren des 18. Jahrhunderts noch gehofft hatten, waren die Zweifelsfälle im 19. Jahrhundert ja nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil!“ Und weiter: „Man könnte geradezu zu der These verleitet werden, dass die sprachbewusste Literatur die Zweifelsfälle nicht wie erhofft zum Verschwinden gebracht, sondern das Entstehen weiterer Problemfälle verursacht hatte.“ (Klein 2003). 92 Stephan Elspaß nur in der gesprochenen Sprache oder in den so genannten „neuen Medien“, 54 sondern selbst in der gedruckten Sprache. Diese Merkmale sind aber nicht vom Himmel gefallen, sondern existierten immer schon in der Alltagssprache, und zwar unter der Oberfläche einer vermeintlichen Standardsprache – unbemerkt oder wohl eher bewusst ignoriert von der präskriptiven Grammatik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. 55 Um Entwicklungstendenzen der Gegenwart erklären zu können, müssen zunächst die Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit geklärt werden. 56 Jedoch sind die „sprachgeschichtlichen Wurzeln des heutigen Deutsch“, die vor vierzehn Jahren Thema einer IDS-Tagung waren, meines Erachtens noch längst nicht hinreichend erforscht. Wie auch? Vilmos Ágel beklagt in seinem HSK-Artikel zur Syntax des Neuhochdeutschen zu Recht, dass „die Zahl der Untersuchungen auf breiter Materialgrundlage für die Zeit ab der Mitte des 18. Jhs. relativ gering ist“ (Ágel 2000, S. 1896). Entsprechend ist Ágels Artikel weniger als Überblicksaufsatz zu gesicherten Forschungserkenntnissen zu verstehen, sondern als Katalog von Forschungsdesiderata. Will man wirklich zu den Grundlagen der Gegenwartssprache vordringen, genügt der bisher beschrittene Weg über den Höhenkamm mit Panoramablick auf das gedruckte Deutsch nicht; für ergiebig, gangbar und gerade notwendig halte ich den Weg über eine ‚Sprachgeschichte von unten‘, über die Erforschung der historischen Alltagssprache. 5. Welcher Standard? Ich komme zur Ausgangsfrage dieses Beitrags zurück und versuche, diese mit der Grundfrage der Tagung zu verknüpfen: Wie ließe sich die neuere Geschichte der Standardisierung des Deutschen unter Berücksichtigung des 54 55 56 Gerade der Forschungsbereich zur Sprache in den ‚neuen Medien‘, der mit Stichwörtern wie „Sprachwandel“ schnell bei der Hand ist (vgl. Weingarten 1997), zeichnet sich durch einen weitgehenden – und fatalen –Verzicht auf sprachhistorische Reflexion aus. Von der wissenschaftlichen Grammatikforschung eines Hermann Paul oder eines Otto Behaghel ist hier wohlgemerkt nicht die Rede. Man würde sich bisweilen wünschen, dass sich der Forschungszweig, der sich der Grammatik der gesprochenen Sprache widmet, stärker auf die historischen Wurzeln der heutigen Auffälligkeiten dieser Grammatik besinnen würde und sich auch die Sprachgeschichtsforschung die Erkenntnisse der Untersuchungen zur Grammatik in gesprochener Sprache zunutze machte (vgl. schon Sandig 1973). Es kann doch beispielsweise als höchst interessantes Detail vermerkt werden, dass es offenbar zwischen der Wortbildung in einem Korpus gesprochener deutscher Gegenwartssprache mehr Gemeinsamkeiten mit der Wortbildung in einem Korpus des Frühneuhochdeutschen als mit der in einem Korpus der geschriebenen Gegenwartssprache gibt (Reichmann 2003, 43, Anm. 11)! ‚Gesprochene-Sprache-Forschung‘ und eine ‚neue‘ Sprachgeschichtsforschung müssen vor allem dann an einem Strang ziehen, wenn man einigen im „synchronizistischen“ und „skriptizistischen“ Erbe stehenden herrschenden Grammatiken eine andere, übergreifende Grammatiktheorie entgegensetzen will (zur Vision einer „Großen Linguistischen Revolution“ vgl. Ágel 2003, S. 10f.). Standardisierung des Deutschen 93 Haugen’schen Akzeptanz-Kriteriums und der „Standardvariation“ alternativ beschreiben? Nach dem hier Ausgeführten ergeben sich zwei Möglichkeiten zur Bestimmung von ‚Standardsprache‘ in der neueren Sprachgeschichte des Deutschen: – Möglichkeit A: Wenn man unter ‚Standardsprache‘ ein einheitliches sprachliches System verstehen will, das keine Variation duldet 57, dann muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass wir diese seit 200 Jahren besitzen. Was für die Zeit seit Adelung vielfach als ‚Standardsprache‘ bezeichnet und beschrieben wird, ist eine konzeptionell schriftliche, hochkulturelle und bildungsschichtspezifische Varietät, deren Daten in einem selektiven Verfahren gewonnen wurden. 58 Die Sprachwirklichkeit sah in weiten Teilen der geschriebenen Sprache jedoch anders aus – viele Gebrauchsnormen bleiben durch die verengte Sicht auf die ‚hohe Schriftlichkeit‘ ausgeblendet. Eine von strengen Richtigkeitsnormen dominierte Autorität ‚Standardsprache‘ mag ab dem 20. Jahrhundert von der Mehrheit der Sprachgemeinschaft anerkannt worden sein (auch wenn weiterhin nur ein relativ kleiner Teil der Gemeinschaft diese ‚Standardsprache‘ beherrschte). Vor dem 20. Jahrhundert kann man jedenfalls in diesem Verständnis nicht von ‚Standardsprache‘ sprechen, zumal einem Großteil der alphabetisierten Bevölkerung schon allein der Zugang zu dieser Schriftsprache fehlte. – Möglichkeit B: Öffnet man den Standardbegriff in Richtung Variation, so könnten althergebrachte Vorstellungen von einer länger zurückreichenden Standardisierung des Deutschen noch gerettet werden. Danach müsste die Standardsprache allerdings sehr viel Variation vertragen können. Es müsste etwa zugestanden werden, dass grammatische Erscheinungen wie die letzten neun der zwölf vorgestellten Phänomene in der jüngeren Sprachgeschichte nicht substandardlich waren, sondern gebräuchliche Varianten der Standardsprache. Sie wären demnach nichts Besonderes, sondern etwas Normales – so wie Abweichungen und Varianten in einem heterogenen Sprachsystem normal sind (von Polenz 1999, S. 231f.). Das betrifft zum einen regionale Variation – es läge somit schon für das 19. Jahrhundert ein ‚pluriareales‘ 59 Standarddeutsch vor –, und zum anderen überregionale Va57 58 59 Für Milroy/Milroy (1985, 22f.) ist dies ein wesentliches Merkmal der ‚StandardspracheIdeologie‘. Welche Konsequenzen solche Verfahren für die linguistische Beschreibung haben, ist bei James Milroy (1999) ausführlich nachzulesen. Diesen Terminus übernehme ich von Norbert Richard Wolf (1994, S. 74). Gemeint ist damit das Deutsche in seiner großregionalen Variation, das mit den üblichen Termini ‚plurinationales Deutsch‘ und ‚nationale Varietäten‘ nicht hinreichend beschrieben sei, da diese eine weitgehende Übereinstimmung der großlandschaftlichen Standardvariation mit den Staatsgrenzen suggerierten (vgl. zur Diskussion Ammon 1998, S. 316, v. Polenz 1999, S. 413ff. sowie Reiffenstein 2001, S. 88, der – insbesondere historisch argumentierend – von einer „regionale[n] Plurizentrizität des Deutschen“ spricht). 94 Stephan Elspaß riation. So könnten vorgebliche Auflösungserscheinungen des Standards oder Tendenzen einer „Destandardisierung“ 60 in der Gegenwart vielleicht auch anders interpretiert werden, nämlich als Fortführung genau der Entwicklungen, die schon seit mindestens 200 Jahren zu beobachten sind. Was das aber für unsere zukünftige Sprachnormtoleranz bedeuten könnte, braucht man kaum weiter erklären. Literatur Adelung, Johann Christoph (1781): Deutsche Sprachlehre. Berlin. Adelung, Johann Christoph (1782): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. Bd. II. Berlin. Admoni, Wladimir (1990): Historische Syntax des Deutschen. Tübingen. Ágel, Vilmos (2000): Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: HSK 2.2, S. 1855–1903. 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