Zapolska Käthe

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GABRYELA ZAPOLSKA

AUSGEWAHLTE ROMANE

| a ZZ A GII

OESTERHELD © CO. VERLAG / BERLINW 15


GABRYELA ZAPOLSKA

KATHE
DER ROMAN EINES DIENSTMADCHENS

OESTERHELD © CO. VERLAG / BERLIN W 15


SECHSTE AUFLAGE
ie stand immer vor der Tür und war schnodd-
„O rig...“ las die Hausfrau undblätterte unwillig im
Dienstbuche. „Merkwürdige Empfehlung!“ Sie legte
das Buch beiseite und setzte sich auf den Rohrstuhl.
— das einzige noch brauchbare Stück unter den
Gerätschaften, welche die enge und dunkle Küche
überfüllten.
Die noch ziemlich junge, kleine Frau trug einen
blauen Morgenrock. Ihr flaches Köpfchen war wie
eingedriickt und mit gelblichem Haar bedeckt,
welches im harmonischen Verein mit der gelblichen
Gesichtsfarbe und dem ungewissen Kolorit der
Augen sich um so heller vom dunklen Küchenraum
abhob. Schwarze Lava-Ohrringe zerrten die un-
natürlich großen Ohren fast bis zum Halse herab und
die schmalen, bleichen Lippen bedeckten das ebenso
blasse Zahnfleisch. — Alles zeugte deutlich von der
Kränklichkeit dieser Fleischmassen, die in den
feuchten Wänden der ärmlichen Wohnung heran-
wuchsen: Das untätige Leben der Frau eines kleinen
Beamten floß unter dieser geiblichen Haut, die so
dünn und durchsichtig wie Seidengaze erschien, in
trägem Laufe dahin.
Nur die zusammengepreßten, von der Feuchtig-
keit der Mauern gebleichten Lippen, die fleischigen
Hände und die von schweren Lidern halb bedeckten

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Augen verrieten durch ihr Zittern die verborgene
Leidenschaft eines Panthertieres, — diese Eigen-
tümlichkeit blutarmer Frauen, deren Leben allen
hygienischen Anforderungen zuwider in der At-
mosphäre des an die Küche angrenzenden Schlaf-
zimmers sich abspielt.
„Wie heißt du?“ fragte die Hausfrau das an der
Tür stehende Mädchen mit träger, fetter Stimme.
Das Mädchen hob den Kopf und erwiderte: „Käthe
Ölschläger!“ Dann senkte sie den Kopf wieder zur
Brust herab.
„Hast du noch Eltern?“ verhörte die Hausfrau
sie weiter.
Über Käthes Gesicht glitt ein wehmütiger Zug, und
sie gab keine Antwort.
Der sie begleitende Bote der Vermittlungsan-
stalt, ein kleiner, unansehnlicher Mann im grauen
Röckchen, hielt es für angemessen, sich in das Ge-
spräch zu mischen: „Mit Verlaub, gnädige Frau: sie
ist eine Waise und hat keinen Anhang. Sie kam erst
unlängst in die Stadt und war bisher nur in einem
Dienst ...“
„Da wird sie schon viel können ...!*|
unterbrach
ihn die Hausfrau und verzog verächtlich die Lippen.
Ein Weilchen herrschte tiefes Schweigen.
Der Bote schwieg. Käthe aber versuchte garnicht,
sich zu rechtfertigen und senkte den Kopf nur noch
tiefer.
Tausend peinliche Gedanken gingen ihr durch den
Sinn. Gestern urplötzlich, fast ohne Grund, auf die

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Straße gesetzt, hatte sie kaum noch zwei Gulden in
der Tasche. Nachtlager erhielt sie bei ihrer Freundin
Rosa, die in einer Milchhandlung diente.
Von dieser Gastfreundschaft mochte sie aber nicht
länger Gebrauch machen: Rosa wohnte nämlich in
einem kleinen Stübchen mit einem Schneidergesellen
zusammen und die Anwesenheit eines Mannes dort
war natürlich für Käthe höchst peinlich; es erregte
in ihr nie gekannte Wünsche und erfüllte ihr Herz
mit seltsamer Angst.
Nein! Dort konnte sie entschieden nicht wieder
nächtigen. Was aber sollte sie anfangen, wenn die .
Dame sie nicht sofort in Dienst nähme!
In diesem Augenblick erschien ihr diese enge,
dunkle Küche wie ein stiller, sicherer Hafen und jene
geschwärzte Decke wie das Dach, unter dem sie so
gern, so gern ihr Haupt niederlegen möchte —!
„Du bist wohl noch sehr jung?“ fragte die Haus-
frau mit prüfendem Blick auf Käthes kräftige Gestalt.
„Zwanzig Jahre bin ich schon alt“, erwiderte Käthe
und steckte mit nervöser Hast die roten, abge-
arbeiteten Hände unter die Falten des grauen faden-
scheinigen Halstuches.
„Tritt doch näher, daß ich dich besser ansehen
kann!“ rief die Frau und erhob sich vom Rohrstuhl.
Käthe aber blieb regungslos mit an die Wand ge-
lehnten Schultern stehen.
Wieder mischte sich der Bote ein, mit der
Mahnung: „So gehorche doch, du Närrin, wenn die
gnadige Frau dich ruft!“
Jetzt erst trat Käthe einige Schritte vor und stand
mitten in der Küche in dem schmalen Lichtstreifen,
der durchs schräge Fensterchen in der tiefen Mauer-
nische eindrang.
Um so deutlicher hob sich in dieser Beleuchtung
die riesige Mädchengestalt ab und vergrößerte sich
noch im Vergleich zu den übrigen im Dunkel ver-
schwindenden Gegenständen.
Der große, kräftige Kopf war durch breiten
Nacken mit dem Rückgrat verbunden, mit dunklem
Haar bedeckt und vornübergeneigt. In der Form
hatte er etwas statuenhaftes, etwas von den Skla-
vinnen des Altertums, die dazu bestimmt waren,
auf dem Kopfe schwere Weinkrüge zu tragen.
Die niedrige, glatte Stirn, durchzogen von den
dunklen Linien der Augenbrauen, die grade, nur in
den Flügeln etwas gerundete Nase, der frische Mund
mit den tadellosen Zähnen und das rundliche Kinn,
dies alles, bestrahlt von den großen Rehaugen, schuf
ein liebliches, anziehendes Bild.
Aus diesem ganzen, von Wind und Wetter ge-
bräunten Antlitz sprachen nur Sanftmut, Herzens-
güte und Vertrauen.
Die runden vollen Arme, der nur etwas zu breit
gezeichnete Hals und die breiten, kräftigen Schul-
tern zeigten beinahe den Typus eines Arbeitstieres,
das nur zum Tragen schwerer Lasten und zu so-
‚ genannter „grober Hausarbeit“ dient.
Solch kerngesunde Körper mit üppigen Formen
bietet das beste Material zur Mutter eines zahl-

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reichen Geschlechtes, welches sich unzweifelhaft
auszeichnen würde durch unverwüstliche Gesund-
heit, riesigen Körperbau und fast tierische Kraft.
Trotz dieses beinahe männlichen Wuchses war
Käthe ein Weib im vollen Sinne des Wortes. Sonst
streifen meist so kräftige, üppig gebaute Formen
allen Zauber der Weiblichkeit von sich ab und
tragen ihre plumpen Zwitterformen mit der töl-
pischen Keckheit beurlaubter Soldaten umher. Bei
Käthe jedoch verblieb jener Zauber und alle kern-
gesunde Mädchenfrische mit all ihrem Liebreiz und
ihrer sanften Schüchternheit, obgleich sie wie das
klassische „Weib aus dem Volke“ gebaut: mit
breiten Hüften auf kräftigen Füßen.
Die der ebenso breiten Brust entschwebende
Stimme war harmonisch klangvoll und nur etwas
erzitternd, als habe sich das Stimmchen einer kleinen
Blondine in den Brustkasten dieser dunkeläugigen
Walküre nur verirrt.
Wohlgefällig betrachtete die Hausfrau diese
Riesin, die mit ihrem Rücken den vierten Teil der
Küchenbreite bedeckte.
Obgleich also das einzige Zeugnis im Dienstbuch
ausdrücklich lautete: „Sie stand immer vor der Tür
und war schnoddrig“, wollte sie diesen Worten nicht
glauben und nahm Käthe in Dienst: Das würde ein
tüchtiges Mädchen werden, das allein Wasser und
Kohlen trägt, sodaß man keine Aufwärterin zu be-
zahlen braucht ....
So siegte die Sparsamkeit der Hausfrau über die
„Schnoddrigkeit“. Wie konnte das Mädchen
übrigens gerade diesen Fehler haben bei seiner
stillen Bescheidenheit und der trotz der Riesen-
gestalt so sanften Anmut!
Zur allgemeinen Freude verkündete also die Haus-
frau mit eintöniger Stimme, sie wolle es mieten.
Dann belehrte sie es über seinen Dienst, bestehend
in Scheuern und Aufwischen, Putzen und Ausfegen,
Kohlen- und Wassertragen, Waschen und Plätten
und allen übrigen Verrichtungen, die auf seine Schul-
tern fallen sollten.
Käthe stand unbeweglich da und starrte auf den
schmutzigen Fußboden der Küche. Jetzt wußte sie
wenigstens, wo sie schlafen und ihre Siebensachen
unterbringen konnte. Um alles übrige kümmerte sie
sich nicht.
Arbeit blieb immer Arbeit, ob hier oder dort.
Übrigens konnte sie gar nicht begreifen, wozu die
Frau davon so viel Redens machte, während sie
selbst sich doch keiner Verpflichtung entziehen
wollte.
Hierauf reichte ihr die Frau einen zerknüllten
Guldenschein und verlangte von ihr das sogenannte
„Pfand“.
Freudig übergab Käthe ihr den sorgfältig ein-
gewickelten neuen roten Wollrock, den sie unter
dem Arm trug.
Dann entließ die Frau sie mit der Weisung,
spätestens in einer Stunde ihren Dienst anzutreten.

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Käthe versprach dies, küßte der künftigen Brot-
herrin die Hand und verließ mit dem Boten die
Küche.
Beim Heraustreten stieß sie mit der Stirn an die
niedrige Tür und stand ein Weilchen im dunklen
Hausflur, den soeben erhaltenen Guldenschein fest
in der Hand. .
Vor ihr tappte die kleine Gestalt des Boten hin
und her und tastete nach dem Treppengeländer. End-
lich fand er es und rief ihr's zu.
In schwüler, dumpfer und staubiger Stickluft
führte eine Wendeltreppe eng und steil hinab zum
unteren Stockwerk. Wie meist alle Hinter- oder
Küchentreppen war auch diese ziemlich ausgetreten
und schadhaft, dazu noch von Wänden umgeben, die
der Kohlenstaub und der Dunst der abends den
dunklen und engen Raum matt erleuchtenden Petro-
leumlampen geschwärzt hatte.
Fluchend schob sich der Bote die Mütze zurecht
und begann die halsbrecherische Wanderung, wobei
er sich am knarrenden Geländer festhielt,
Schnell folgte ihm Käthe, die Augen weit geöffnet,
um sich an die auf der Treppe herrschende Finsternis
besser zu gewöhnen.
Die dünnen, halbmorschen Bretter bogen sich fast
unter ihrer Riesengestalt, die ihre schweren Massen
in gleichmäßigen Abschnitten hinabtrug, sogar ohne
die Stockwerke zu zählen. War doch Käthe ietzt
vollständig beruhigt über ihre Zukunft, voller Zuver-
sicht und Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit.

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Erschien ihr doch die neue Herrin wie die ver-
kórperte Schönheit und Herzensgüte gegenüber der
häßlichen, immer schreienden früheren, die sich
„Gnädige Frau“ nennen ließ und unaufhörlich in alle
Töpfe guckte.
Schon beim Gedanken an ein freundlicheres oder
beifälliges Wort aus dem Munde jener reizenden
Frau schwindelte ihr der Kopf vor Wonne,
So dachte sie beim Hinabklettern nur daran, jenen
Beifall durch unermüdliche Arbeit bei Tag und Nacht
zu verdienen.

Plötzlich schloß sie unwillkürlich die Augen: grell


traf sie ein gelblicher Lichtschein auf der Wendel-
treppe, die matte Flamme eines Talglichtes in einer
Laterne, die ein junger Mann in grauem Kittel und
langer Linnenschürze in der Hand trug.
Hocherfreut über diesen Zufall, der ihm den
weiteren Weg über die dunklen Stufen erhelite, lief
der Bote schleunigst hinab und ließ Käthe auf dem
engen Treppenflur jenem jungen Manne allein gegen-
über.
Mit gewohnter Schüchternheit drückte sie sich an
die Wand, um dem ihr Nahenden möglichst freien
Raum zu lassen. Trotz ihres guten Willens nahmen
jedoch ihre breiten Schultern zu viel Platz ein und
wohl oder übel mußte der junge Mann sie anstoßen,
um vorüberzugehen.

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„Wer zum Kuckuck kriecht denn hier herum?“
fragte er mit nicht allzu sanfter Stimme und erhob
die Laterne.
„Ich bin’s, die Käthe —“, erwiderte sie hoch-
errötend.
Er lachte und zeigte dabei zwei Reihen blendend
weißer Zähne. Der junge Portier wars, der auf den
Boden eilte, um dort auf Geheiß des Besitzers nach
dem beschädigten Dache zu sehen. Das Dach lief
ihm nicht davon, das Mädchen aber erschien ihm
höchst anziehend.
Erfreut über ihre Verschämtheit blickte er sie
lächelnd an und drängte sie dicht an die Mauer mit
der Berechnung plötzlich in ihm erwachter Leiden-
schaft. |
Sie aber in ihrer Verblüffung und unbewußten
Angst bemühte sich vergeblich, ihm auszuweichen
und sich von der Berührung dieses Burschen zu
befreien, dessen Anblick und Nähe sie in unbeschreib-
liche Verwirrung versetzte.
Dieses große zwanzigjährige Mädchen kannte oder
ahnte die Geheimnisse des Lebens kaum aus den
Mitteilungen der Freundinnen, mied aber sonst un-
willkürlich solch ein Alleinsein, welches nur zu leicht
ihr Flammen in die Adern goß.
Beim Gedanken, vielleicht doch einmal zu heiraten,
wünschte sie sich brav und ehrlich zu erhalten.
Mit Aufbietung aller Kräfte also bemühte sie sich,
dieser zufälligen Begegnung sich zu entziehen, denn

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die Nähe dieses Jächelnden Burschen war für sie un-
beschreiblich peinlich und beängstigend.
Er jedoch gab sie nicht frei und versperrte ihr den
Weg. „Fräulein, was wollen Sie hier? Wo kommen
Sie her? Als Portier muß ich dies alles wissen. Bei
Gott, eher laß ich Sie nicht durch!“
Käthe ward es so seltsam zu Mute, als schnüre
ihr etwas die Kehle zusammen, als diese junge,
heitere Stimme, begleitet von klangvollem Lachen in
diesem engen, dunklen Raume widerhallte und mit
berauschendem Klange ihr auf das gesenkte Haupt
fiel.
Von Natur schon ängstlich und schüchtern, verlor
sie fast die Besinnung in dieser schwülen, dumpfen
Atmosphäre und stemmte sich mit der Hilflosigkeit
eines Kindes an die Wand.
„Aber Fräulein,“ beruhigte er sie, als er ihre Angst
bemerkte. „Was ist da zu erschrecken? Ich werde
Sie doch nicht beißen oder auf die Polizei führen.
Ich fragte Sie nur: Woher und wohin? Und darauf
müssen Sie mir antworten!“
Käthe schwieg. Immer mehr an die Wand ge-
drückt, fühlte sie den heißen Atem des Burschen und
barg vor Angst den Kopf in die Arme. Dieser Atem
erschien ihr wie der eines reißenden Tieres und
daher wehrte sie sich gegen ihn, so gut sie es konnte,
mit dem Instinkte des Selbsterhaltungstriebes.
„Fräulein, hätten Sie mir nicht gesagt, Sie heißen
Käthe, so müßte ich Sie für stumm halten. Jetzt
aber denk’ ich anders und lasse Sie nicht los, bevor

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Sie mir nicht antworten oder ein Küßchen geben, so
wahr ich Johann Viebig heiße!“
Bei diesen Worten leuchtete er ihr mit der Laterne
ins Antlitz, und ihre Kraftlosigkeit benutzend, um-
schlang er sie mit dem linken Arm und zog sie an
sich. „Na, Fräulein,“ fuhr er fort. „Werden Sie
mir jetzt sagen, was Sie hier wollen?“
Jetzt erst bemühte sich Käthe, ihre Gedanken zu
sammeln, denn sie fühlte, daß der Bursche, wenn sie
ihm keine Antwort gab, sie nicht sobald loslassen
werde. Und gerade dies war ihr einziges Bestreben.
Johann Viebig aber beobachtete mit wahrer Wonne
ihre Verwirrung, ganz erstaunt, daß solch ein Weib
voller Kraft und Leben in seinem Arme zitterte wie
ein Kind. Sah er doch sein Leben lang nicht solchen
Hals und Nacken und so reiche Körperformen und
Linien.
Das matte Laternenlicht beleuchtete zwar diese
nur undeutlich. Instinktiv aber erriet er alles und
verstummte vor Bewunderung.
Sonst hatte er es immer nur mit stämmigen, rot-
wangigen Mädchen meist kleineren Wuchses zu tun,
und diese gaben ihm keine deutliche Vorstellung von
solcher Vollkommenheit. Jetzt aber stand vor ihm
ein sowohl an Formen, als an Farben vollendetes
Weib, obgleich er, wie gesagt, bei der matten Be-
leuchtung den Ton der Haare und Augen nicht
deutlich unterscheiden konnte.
Hingerissen von roher Gewalt erhob er ihr ge-
senktes Haupt und näherte seine Lippen den ihren,

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Käthe stieß ihn nicht ganz zurück, weil ihr dazu
die Kraft fehlte. Mit leiser, zitternder Stimme aber
bat sie ihn sanft: „Ich bitt Sie, lassen S mich weiter-
geh'n! Bitt schön.
Und so viel inbriinstiges Flehen zitterte in diesem
leisen Fliistern, so viel maBlose Angst sprach aus
ihren weitgeöffneten Augen, daß Johann langsam
zurücktrat vor dieser echten Unschuld, die mit Ge-
walt sich nicht wehren konnte oder wollte und nur
in sanfter, echt weiblicher Bitte ihren Schutz sah und
fand.
Diese Bitte aber war hundertmal wirksamer, als
alle heftigen Kämpfe, die er so manchmal schon mit
anderen Mädchen aus seiner Sphäre zu bestehen
hatte. Diese Riesin bediente sich nicht ihrer Fäuste
zu seiner Abwehr, obwohl sie sich an Kräften recht
gut mit ihm messen konnte. Seiner Gnade sich
unterwerfend, bat sie ihn demütig um Mitleid mit
ihrer Schwäche.
Mit diesem weiblichen Liebreiz und dieser Demut
vor der männlichen Übermacht besiegte sie ihn un-
bewußt und besänftigte seine Sinne.
Seine törichte, einfache, fast tierische Natur beugte
sich schweigend vor der Überlegenheit des Mäd-
chens, welches sich sowohl äußerlich, als durch sein
Verhalten von allen anderen. auszeichnete, denen
Johann in seinem Leben begegnet war.
Fast beschämt trat er zur Seite und beleuchtete
nur stumm mit erhobener Laterne ihr Antlitz,

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während sie mit zitternder Hand die am Halse etwas
"geöffnete Jacke zuknöpfte.
Plötzlich begegneten sich in dem gelblichen Licht-
streifen, der aus der zerbrochenen Laternenscheibe
fiel, ihre Augen, die dunklen, sanften, von Tränen
verschleierten des Mädchens und die blauen, von
unterdrückter Leidenschaft glühenden des Mannes.
Einen Augenblick verschmolzen sich ihre Blicke
mit seltsamer Unbefangenheit von seiten des Mäd-
chens. Fast gleichzeitig flackerte das Laternenlicht
auf, wie der Blick eines Sterbenden, um sofort zu
verlöschen. Käthe und Johann, die Treppe und die
Wände verschwanden im Dunkel ...
Käthe aber fürchtete sich jetzt nicht mehr. Mochte
es noch hundertma! dunkler sein, sie wußte, daß ihr
nichts geschehen werde.
Und sich in ihr Tuch hüllend, bat sie mit ihrer
rührend sanften Stimme: „O, bittschön, helfen S’
mir hinaus; ich seh nichts mehr und kenn die
Treppen nicht.“
Und mit der Fügsamkeit eines gezähmten Tieres
erfüllte er ihren Wunsch, indem er voranschritt und
sie mit aller Vorsicht hinabführte.
Zwischen den dunklen, engen Treppenwänden
hörte man nur noch den Schall ihrer schweren
Schritte und Johanns beschleunigten Atem.
Die schwüle Stickluft umwehte seine glühende
Stirn und fiel ihm auf die Lungen. In seiner Hand
fühlte er die breite, kräftige, noch immer zitternde
des Mädchens. Dies Zittern erschien ihm unbe-

2 Käthe 17.
schreiblich peinlich. Jetzt erschien ihm Käthe wie
ein kleines kindliches Wesen, welches er tief be-
leidigte durch seinen rohen Angriff und dem er die
ihm angetane Unbill abbitten möchte.
Sie aber schritt langsam weiter und fühlte noch
immer seinen heißen Atem auf ihren glühenden
Wangen. Trotzdem folgte sie ihm beruhigt und voll
Vertrauen.

Als sie plötzlich den hellen Hausflur betraten, in


dem die Sonnenstrahlen des Hochsommers mit
voller Kraft sich ausbreiteten, standen sie beide da,
_wie geblendet.
Käthe erschien dem Burschen noch riesiger, als
sie in der berückenden Schönheit des vollentwickel-
ten Weibes vor ihm stand.
AN seine im Dunkeln gefaßten Vorsätze, ihre
Verzeihung zu erlangen, flogen sofort in den Wind
beim Anblick dieser breiten Schultern und üppigen
Formen.
Droben im engen Treppenraum erschien ihm
Käthe wie ein kleines zitterndes Wesen. Als er sie
herabführte, verschwand sie im Dunkel und er fühlte
nur ihre kräftige Hand in der seinen und hörte ihre
schweren Schritte. Hier aber im hellen Tageslichte
erstrahlte sie vor ihm im unvergleichlichen Glanze
weiblicher Vollkommenheit.

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Trotz seiner sonstigen Keckheit gegeniiber den
Weibern stand er vor Käthe da wie ein schüchterner
Knabe und wiinschte nur, irgend etwas ihr zu sagen,
um wenigstens einigermaßen seinen Fehltritt wieder
gut zu machen und ihr eine bessere Vorstellung von
sich zu geben,
Sie aber setzte ihn vollständig wieder ins mora-
lische Gleichgewicht und zeigte in ihren Blicken
nicht die Spur von Zorn und Ärger, sondern nur
sanfte Wehmut, als fühle sie, daß sie ihm nicht
zürnen dürfe: Daß er sie auf der dunklen Treppe
traf und sein Glück versuchte, war nicht seine
Schuld. Hätten andere Mädchen sich nicht so leicht-
sinnig gezeigt, so wäre er gewiß ihr gegenüber nicht
so dreist gewesen. Überdies war ihr ja doch nichts
Schlimmes geschehen. Und mit ihrer herzerquicken-
den Stimme dankte sie ihm dafür, daß er sie die
unbequeme Treppe hinabgeführt und ihr den Weg
gezeigt habe.
„ich kam die Vordertreppe herauf“, sagte sie,
immer zu Boden blickend. „Die gnädige Frau führte
uns in die Küche. Der Kontorbote ging voran und
ich wußte nicht, wo ich war und was ich tun solle.
Ich liebe nicht die Finsternis.“
Jetzt erst merkte Johann, daß sie sich als Dienst-
mädchen bei der Herrschaft im dritten Stock ver-
mietet hatte.
„Wie, Fräulein“, fragte er, allmählich wieder zur
Besinnung kommend, „Sie wollen da oben dienen
bei den Magistratsleuten?“

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„Ich glaube, der Herr ist beim Magistrate. Ich
vermietete mich dort als Mädchen für alles.“
„Ach, Fräulein“, fuhr er fort mit verächtlicher
Miene. „Da sind Sie schön angekommen ... Das
ist eine nette Herrschaft!“
Käthe erhob jetzt die gesenkten Lider und heftete
erstaunt den Blick auf den Sprechenden.
Für sie blieb Herrschaft immer Herrschaft, wie
eine Art von Halbgóttern, von denen man nur mit
höchster Verehrung spricht. Mußte sie doch ohne
Herrschaft Hungers sterben. Bezahlt und ernährt
sie jene doch und läßt sie vier Stunden täglich
schlafen und Festtags in die Kirche gehen. Ihre
schwere Arbeit berechnete sie dabei gar nicht.
Arbeiten mußte sie ja doch. Stillsitzen und die
Hände in den Schoß legen können ja nur vornehme
Damen. Sie aber wünschte sich das nicht einmal.
Mit maßlosem Erstaunen sah sie daher den vor
ihr Stehenden an, der mit so stolzer Verachtung die
Backen aufblies bei den Worten: „Das ist eine neite
Herrschaft!“ Gleichwohl unterbrach sie ihn nicht
und wartete auf weitere Aufklärung, die ihr auch
zuteil wurde.
„Sehen Sie, Fräulein, Herrschaft und Herrschaft,
das ist ein großer Unterschied. Hier z. B., im ersten
Stockwerke, wohnt eine Frau Gräfin mit ihrem
Sohne. Das ist eine Herrschaft. Die Magistratsleute
aber da droben, zu denen Sie hinziehen wollen, das
ist keine Herrschaft.“

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„Sie bezahlen mir aber doch ebensogut meinen
Lohn,“ glaubte Käthe einwerien zu müssen.
„Das allerdings, Fräulein,“ entgegnete Johann
kopfschiittelnd. „Aber Sie können sich halbtot
arbeiten, bevor Sie Ihren Lumpeniohn erhalten!“
„Arbeiten muß man doch überall.“
„Gewiß. Man läßt sich aber doch lieber von
einem Leutnant befehlen, als von Erstwem, wie der
selige Stefan sagte. Schade, daß sie den nicht
kannten, Fräulein, das war ein strammer Ulan!
Sehen Sie, die Gräfin, die ist solch ein Leutnant, die
Magistratsleute aber, die sind — Erstwer. Obgleich
man bei jener auch lieber Herr sein möchte und
befehlen, als immer nach der Klingel hören, ist bei
den Magistratsleuten doch nichts als Not und Elend.
Sie ist so geizig wie ein Filz, und er ist ein Satan.
Schon zweimal wechselten sie in diesem Vierteljahr,
und weshalb? Weil sie eben keine Herrschaft sind!“
fügte er hinzu, indem er immer wieder zu seiner
Behauptung zurückkehrte, wie ein Pferd im Tretrade
immer zur selben Stelle.
Offenbar hatten sie beide etwas Gemeinsames in
ihrer Gedankenfolge, denn auch Käthe wiederholte
nur ihren philosophischen Ausspruch: „Arbeiten
muß man doch überall!“
Und ungeduldig zuckte sie die kräftigen Achseln,
als verlangte sie stürmisch nach der Arbeit,die ihr
mit derÜbernahme der neuen Pflichten zufallen sollte.
„Fräulein, Sie sind gewiß sehr kräftig zur Arbeit?“
fragte Johann, indem er sie bewundernd anschaute.

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Als Antwort diente ihm nur ihr sanites Lächeln,
wobei sie die von rosigem Zahnfleisch umrahmten
Zähne sehen ließ.
„Das ist noch gut,“ fuhr er fort, „denn, wären
Sie nicht, mit Verlaub, solche Riesin, so hielten Sie
es dort nicht lange aus im dritten Stock. Da heißt
es ewig, Wasser tragen, denn die Frau plantscht
und plätschert Tag und Nacht herum und will immer
den Fußboden spiegelblank haben, knausert aber
dabei mit dem Wachs. OÖ, ich wollte schon einen
Tanz mit ihnen aufführen, wenn auch nur einmal im
Jahre, damit sie selber fühlen, wie angenehm es ist,
sich so Tag und Nacht halbtot zu arbeiten!“
Ein unheimlicher Funke blitzte plötzlich aus seinen
blauen Augen. Der ganze Haß eines gequälten
Tieres, welches sich niemals ausschlaien kann,
sprach aus dieser Stimme, die von einem längst bei
ihm erwachten Gedanken erzitterte.
Alle Winternächte, in denen ihn die Hausglocke
unbarmherzig vom Lager riß, auf daß er, nur halb-
bekleidet, die verspäteten Mieter einlasse, die von
ihren Nachtschwärmereien heimkehrten; al seine
süßen Träume, die ihm berauschte oder bösherzige
Menschen gewaltsam verscheuchten; al’ die An-
fälle des sogenannten Karnevalskatzenjammers, die
er ertragen mußte mit der Fügsamkeit eines abge-
richteten Hundes — dies alles machte sich Luft in
den wenigen Worten: „O, ich wollte schon einen
Tanz mit ihnen aufführen!“
. Käthe aber beachtete das nicht. Sollte sie doch in

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einer Stunde den Dienst antreten und hatte nun
schon nahezu zehn Minuten mit Johann verplaudert.
Daher wünschte sie, sich schleunigst zu entfernen.
Mit aller Galanterie erbot sich Johann, ihr beim
Herbeischaffen ihrer Bettlade behilflich zu sein,
Gern nahm Käthe dies an und noch immer plaudernd
traten sie hinaus in den hellen Sonnenschein auf dem
Hofe.
Dieser war ziemlich klein und von drei Seiten
von Mauern umgeben, auf der vierten aber ganz
offen. Dort grenzte er an eine große Grasfläche,
hinter welcher in der Ferne der Exerzierplatz, gelb-
liches Gemäuer und marschierende Soldaten sicht-
bar waren.
Käthes Blick schweifte zerstreut über den weiten
Raum.
Nach rechts durchschnitt denselben mit grüner,
schräger Wand, wie ein Festungswall, die Böschung
der Eisenbahn. Dieser Anblick war durchaus nicht
traurig. Vielmehr bildeten das städtische Treiben
dort und das ländliche Grün einen angenehmen
Gegensatz, indem beides sich gegenseitig wohltuend
ergänzte.
Mit freudiger Stimme bemerkte daher Käthe, sie
liebe von jeher so frisches Grün und freies Feld und
sobald sie dies nur sehe, werde ihr wohler um das
Herz.
Johann trat ihr mit voller Überzeugung bei und
zeigte ihr einen stattlichen Kehrichtschuppen, der
erst in der vorigen Woche fertig geworden war und

23
sich links auf dem Hofe mit seinen neuen Brettern
brüstete wie ein herausgeputzter Lehrbursche. ,
Mit Wohlgefallen richtete daher Käthe zu ihm den’
Blick, der bisher auf der in Sonne gebadeten grünen
Rasenfläche und einem breitästigen Kastanienbaume
ruhte. i
„Solch’ verschließbarer Schuppen ist gewiß recht
bequem“, meinte sie. „Nur schade, daß er nicht allzu
lange halten wird bei dem vielen Schnee und Regen.“
„O, er ist aus dauerhaftem Holz gebaut,“ ent-
gegnete Johann und klopfte mit dem knochigen
Finger an die Bretter.
So plauderten sie noch ein Weilchen, bis sie
plötzlich verstummten beim Gedanken an die —
Kiichentreppe. i
„Die Treppe war doch recht unbequem,“ begann
endlich Johann, brach aber sofort wieder ab, als er
Käthe feuerrot werden sah. Auch er empfand ein
eigentümliches Gefühl, über das er sich nicht recht
klar werden konnte,
Jedenfalls war es die Erinnerung an ihre erste
Begegnung auf der dunklen engen Treppe, was ihnen
jetzt die Wangen rótete und den Kopf so sonderbar
verwirrte. \
Als Käthes große Gestalt endlich in der Haustür
verschwand, stand Johann noch ein Weilchen da, an
die Bretterwand des Schuppens gelehnt, als wolle
er die heutigen Eindrücke zergliedern.
Diese Käthe hatte ihn vollständig besiegt und ihn
dennoch dies gar nicht fühlen lassen, da sie ihn

24
weder auslachte noch verhöhnte, weil er sie auf ihre
demütige Bitte losgelassen. Was sollte er aber auch
tun, als sie ihn so flehend ansah, daß es ihm fast die
Brust zusammenschniirte,
Einst wollte er aus dem dritten Stock ein Kätzchen
herabwerfen, welches sich im Hause verirrte und
nach dem Boden klettern wollte Ohne sich zu
‘wchren, blickte es ihn nur ganz ebenso flehend an
" wie diese Käthe, als er sie an die Wand drückte.
‚ Wie sonderbar! dachte er. Jede andere an ihrer
Stelle hätte nur dazu gelacht. Denn die Mädchen
lieben sogar meist solche Scherze. Davon war aber
hier keine Rede. Manche lieben eben so etwas,
manche auch nicht. Zu letzteren gehörte also Käthe.
Hierauf versank Johann in tiefes Sinnen über den
Charakter und die Schwächen seiner neuen Bekannt-
schaft ... i

ie Freundin, bei welcher Käthe genächtigt hatte,


hieß, wie schon bemerkt, Rosa und ihr Dienst in
der Milchhandlung währte täglich vierzehn Stunden.
Die übrige Zeit stand ihr zur Verfügung.
Rosa war eine kleine, dralle Brünette mit einer
Gesichtsfarbe, wie geliehen von den Milchschüsseln,
die sie sechs Monate hindurch im Jahr herumtrug
in ihrem unter der rechten Achsel ein wenig auf-
geplatzten Kleide.

25:
Den ganzen Tag tummelte sie sich herum im Ge-
schäft mit der Unverschimtheit eines zum Kellner
verwandelten Mädchens. Ihr rosa Perkalkleid, diese
fast allgemeine Uniform derartiger Mädchen, rieb
sich in derselben frechen Weise ab an den Gästen,
wie der Frack des pomadisierten Kellners. Die Manier,
in der sie die Löffel oder die Brödchen herumreichte
und dem zahlenden Gaste in die Augen schaute mit
dem üblichen „Danke bestens“, schuf aus Rosa den
Typus iener Aufwärterinnen, die sechs Monate jähr-
lich in der Milchhandlung beschäftigt sind, in den
übrigen sechs Monaten aber als sogenannte „freund-
liche Bedienung“ in den Nachtlokalen,
Bei den Besitzern der letzteren war Rosa überaus
gesucht mit ihren immer zu heiterem Scherz ermun-
ternden graugrünen Äuglein. Niemals ärgerlich über
allzu kühne Witzchen, verstand sie es vortrefflich,
die Zahl der geleerten Weinflaschen zu vermehren.
Ihre Laufbahn war also auf lange Zeit gesichert,
wenigstens bis dahin, wo ihr jugendliches Gesicht-
chen aufhörte, so heiter zu lachen mitten im Zigarren-
dampi und im Lärme der Zecher.
Später... Ach was! Wer kümmerte sich darum!
An Schaufeln und Kehricht fehlt es ja nirgends ...
Rosa unterhielt ein Verhältnis mit einem jungen
Schneidergesellen, namens Felix. Obgleich sie nicht
heiraten konnten und wollten, wohnten sie dennoch
zusammen.
Daß Felix ihretwegen Frau und Kinder verlassen
hatte, wußte Rosa längst und schickte ihn bei ihren

26
fast täglichen Zänkereien „zu allen Teufeln, zu
seinem alten Weibe und seinem Haufen Kinder“.
Er aber ging nicht von der Stelle, sondern hörte
mit aller Ruhe ihrem Wortschwalle zu, der sich fast
Tag für Tag in dem kleinen Stübchen voller Ge-
riimpel, Kehricht und — Pomadenbüchsen über ihn
ergob.
“Dann näherte er sich ihr, um sie zu beruhigen, so
gut er Konnte. Anfangs wehrte sie ihn ab, ließ sich
aber dennoch zu guterletzt unwillkürlich von ihm
liebkosen.
Nur so ließ sich erklären, was die drallle Kleine
so fesseln konnte an einen Mann, der doppelt so
alt wie sie nur ihre Jugend ausbeutete und ihre
kleinen Einnahmen vergeudete.
Gleichwohl wagte er es nicht, ihre beiden Hypo-
theken-Pfandbriefe anzugreifen, deren blaue Num-
mern sich deutlich vom weißen Papier abhoben.
Nur das kleine Geld, welches er allwöchentlich
ihrer Schublade entnahm, diente seinem Gaumen zur
Vorkost für leckerere Bissen. Jetzt aber getraute er
sich noch nicht, mit dem Plane einer Versilberung
.der Pfandbriefe hervorzutreten. Denn obgleich er
ihrer Sinne sich vollständig bemächtigt hatte, riß sie
sich dennoch öfters von ihm los, als wolle sie die
fesselnden Bande zerreißen. Leider aber gelang ihr
das nicht,
Kehrte sie abends, fest dazu entschlossen und
außer sich beim Anblick der leeren Schublade, heim,
so ließ Felix den Strom der in der großen Aufregung

27
fallenden, in der schwülen Kneipenluft angesammel-
ten Schmähworte ruhig über sich ergehen, um sich
erst nach einiger Zeit in der nur ihm eigentümlichen
Weise ihr zu nähern.
Schluchzend wandte sie sich von ihm ab, ward
aber zuletzt doch immer wieder schwach.
So fesselten die Sinne sie an diesen Menschen,
ohne dessen Liebkosungen sie nicht leben konnte.
In düsterem Schweigen, zitternd und gesenkten
Hauptes ging sie morgens an ihre Arbeit, um unter-
wegs das kokette Lächeln der Kellnerin anzunehmen
und abends wieder voller Wut und Ärger heimzu-
kehren ...
So lebten sie beide dahin, er — ihr Geld und sie
— ihre Jugend und Gesundheit vergeudend.
Ihr Stübchen war ganz erfüllt von ungesundem,
betäubendem Dunste, Niemals aufgeräumt und aus-
gefegt, sah es aus, wie ein großer, modriger Keh-
richthaufen.
Felix schien dort nur Gast zu sein. Seine sieben
Sachen befanden sich in einer großen Lade unter
dem Fenster. Dort lag alles, was sein Komfort er-
forderte: ein alter Klapphut und sogar ein weißer
Atlasschlips.
Rosa kümmerte sich nicht viel um ihre Garderobe,
Ihr Rosakleidchen ließ sie im Geschäft und im Winter
trug sie immer dieselbe blaue Jacke und einen faden-
scheinigen Kamelotrock. Ihre Schürzen wusch sie
nur in der Schüssel und trocknete sie in der Woh-
nung. Dies erforderte ihr Dienst; für sie war die

28
Schiirze, was die Serviette unter dem Arm fiir die
Kellner ist.
Felix arbeitete nur selten. Zwar war er angeb-
lich Schneidergeselle. Bei welchem Meister aber er
arbeite, das wußte kein Mensch.
Tagelang rauchte er seine „Habanna“ und besserte
seine Anzüge aus. Mittags aß er in Garkiichen. Nie-
mals sprach er von Weib und Kindern ...

Von der Haustür aus lenkte Käthe schnell ihre


Schritte nach rechts.
Einige Straßen durcheilend, ging sie jedem aus
dem Wege und atmete tief und schwer unter dem
Einflusse der Hitze: Das Kopf und Arme ver-
hüllende Tuch belastete sie sehr und drückte sie fast
zu Boden. -
Der blaue Himmel über ihr schimmerte ins Graue,
trotz aller Durchsichtigkeit. In der Mitte die Sonne
erschien ihr so riesengroß und so goldig und rund,
wie ein Dukaten und ganze Ströme ergoß sie von
goldenem Lichte.
Alles verschwand vor ihr in dieser trockenen Flut:
Die Dächer mit den blinkenden Rinnen, die Spring-
brunnen auf den Plätzen, fast beschämt von dem
dunklen Blau des Wassers in den Becken mit ihrer
steinernen Einfassung und die kleinen Bäumchen in
den Vorgärten.

29
Dies alles blitzte und blendete fast in dem gol-
denen Glanze, der sich wiederspiegelte in den langen
Reihen der Fensterscheiben, als brennten dort riesige
Kerzen.
Wie geblendet blieb Käthe ein Weilchen stehen,
um zu bewundern. War sie doch eine empfängliche
Natur, die alles Schöne instinktiv begriff.
Bald jedoch erinnerte sie sich, daß die Zeit ver-
ging, und eilte weiter, um sich keinen Tadel der
neuen Herrin zuzuziehen.
Endlich stand sie vor dem Zaune, dessen offene
Pforte in Rosas Milchhandlung führte. Dort wollte
sich Käthe von der Freundin verabschieden und die
ihr geliehene Kleine Barschaft zurückzahlen.
Durfte sie aber hier durch die Hauptpforte ein-
treten?
In dem kleinen viereckigen Garten tranken einige
Personen an Tischen ihren Kaffee aus dicken grünen
Gläsern. Andere aßen saure Milch aus Fayence-
schüsseln. Die Tische mit roten, weißgewürfelten
Decken standen in gleicher Reihe und gruben ihre
dicken, gekreuzten Füße in den gelben Sand des
Gartens,
Einige breitästige Kastanienbäume warfen dichten
Schatten mit ihren bestaubten und von der Hitze
schon welkenden fächerförmigen Blättern.
Im Hintergrunde stand auf einer Erhöhung hinter
einem kleinen Staketenzaune die Riesengestalt der
Wirtin, so dick wie ein Bettsack.
Ihr graues Kleid und ihr gelbliches Haar standen

30
im Einklange mit der Farbe des hinter ihr sich er-
hebenden Gebäudes und verschwanden daher in un-
bestimmten Linien.
Vor ihr standen auf einem breiten, mit Blech be-
schlagenen Schenktische in langer Reihe die dicken,
grünen Kelchgläser mit den Füßchen nach oben in
der steifen Grazie von Zirkustänzern. Auf einer
schartigen Schüssel blinkte ein ganzer Stoß von
kleingeschlagenem Zucker. Zinnlöffel, von langem
Gebrauch verdünnt und in falschem Glanze schim-
metnd, lagen lang hingestreckt wie Kriegsvolk im
KiiraB harrend des Alarmsignals.
Alle Augenblicke nahte sich eine Kellnerin, um
sich über den Schenktisch zu neigen und nach Zucker
oder Löffeln zu greifen.
Die dicke Wirtin rührte sich nicht, sondern blickte
mur auf die plumpen Finger der Kellnerin, um diese
mit leiser Stimme zu rüffeln, wenn sie zu viel Zucker
in die kleinen länglichen Schalen legte.
Ab und zu erhob sich auch ein Gast, um zum
Schenktisch zu treten und seine Zeche zu bezahlen.
Gemächlich warf die Wirtin mit der fetten Hand
das Geld in die Öffnung der Schenktischkasse und
starrte dann wieder regungslos mit den grauen, fast
farblosen Augen nach dem vor ihr stehenden Sta-
ketenzaun.
Die Kellnerinnen in ihren gestärkten Röcken tum-
melten sich beständig unter den Gästen herum,
meist nur der Bewegung halber, an die sie ge-
wöhnt waren .

31
Unaufhörlich rauschte im Winde das Laub der
Kastanienbäume und der Staub wehte herab auf das
von Pomade glänzende Haar dieser Weiber oder auf
das auf jedem Tische in Drahtkörbchen aufgetragene
Schwarzbrot.

Noch immer stand Käthe an der Pforte und wagte


sich keinen Schritt vorwärts.
Deutlich sah sie, wie Rosa im Garten mit ge-
wohnter Aufdringlichkeit zwei Herren bediente, die
ihre Milch aus hohen, engen Gläsern tranken. Schon
deshalb wagte sie nicht, in den Garten einzutreten.
Bald aber kam ihr der Zufall zu Hilfe.
Rosa blickte nämlich nach der Pforte hin und be-
merkte dort die Freundin. Sofort eilte sie auf sie zu
und stieß dabei mit dem Stuhl einen Damenschirm
um und außerdem eine Bank, die ihr im Wege stand.
„Geh in die Küche!“ flüsterte sie Käthe zu. „Weißt,
dort durch die zweite Tür! Ich komm gleich!“
Dann trat sie im Vorübergehen vor die schwarze
Wandtafel mit der Inschrift: „Preise der Speisen
und Getränke“ und beobachtete in aller Ruhe die
Dame, die ihren Schirm von Staub zu säubern be-
müht war.
„Wozu legt diese Fratze mir ihren Staat in den
Weg!“ murmelte sie mit dem ganzen Haß eines
armen, eifersüchtigen Mädchens.

32
Dann erst schritt sie weiter und verschwand im
Innern des Gebäudes.
Hinter ihr her aber erschallte der Ruf der Dame:
„Fräuleinchen, bitte, ein Glas Wasser!“
„Gleich! Gleich!“ rief sie heraus mit der ge-
wohnten kellnerischen Betonung.
„Die Cholera bring’ ich dir, aber kein Wasser!“
murmelte sie weiter, während sie durch zwei leere
Säle nach der Küche lief, in der Käthe sie schon
erwartete. |
Die Küche, ein heller, großer Raum mit einem
riesigen Rauchfang und großen Kohlenbecken, roch
ganz nach saurer Milch und glich eher einem frisch
gesäuberten Viehstalle, aus dem man die Kühe
herausgetrieben.
Milch in Eimern, Schüsseln und Steinkrügen,
Sahne in breiten, flachen Schalen, Molken in
Flaschen und Gläsern und zitternder Quark in
Riesenbüchsen, umgestürzte Holziisser unter dem
Tische oder sich an den Wänden in Pyramiden er-
hebend, frisch gemähtes Heu voller Feldblumen, wic
Hahnenfuß, Winden und Quendel, so bunt wie ein
türkischer Teppich — diese ganze Milchwirtschaft,
die gemeinsame Arbeit von Menschen und Tieren,
befand sich in diesem lichten Raum. War es doch,
als träten hinter all’ diesen Eimern, Krügen und Heu-
bündeln die Umrisse iener guten, milchspendendes
Tiere mit den großen runden Augen hervor und als
trügen sie allen Duft der Weide und alles Geräusch
beim Abrupfen der Halme mit sich herein.

3 Käthe 33
In dieser Küche voller Geräte mit reichem Milch-
inhalte tauchte unwillkürlich die Erinnerung auf an
ein in Sonne gebadetes, von Bäumen umrauschtes,
von frischem Grün umrahmtes Dörfchen, so lächelnd
und so heiter, wie das Antlitz einer ländlichen
Schönen.
Auch Käthe fühlte sich unsäglich wohl in dieser
Atmosphäre und lächelte unwillkürlich beim Anblick
dieser Vorräte von schneeigem Naß, welches sogar
den Estrich reichlich benetzte.
Einige barfüßige Mägde tauchten die staubigen
Füße in diese Milchpfützen, wenn sie die Krüge und
Schüsseln hin und her trugen oder die Gerätschaften
aufräumten. Kerngesund, wenn auch beschmutzt,
mit breiten Hüften, fast viereckiger Stirn und prallen
Brüsten unter dem groben Hemde zeigten die Mägde
manche Ähnlichkeit mit den nahrungspendenden
Tieren, mit denen sie Tag und Nacht zu tun hatten.
Ihre ganze Kleidung duftete nach Viehstall und
Milch. Mit einem gewissen Neide sah Käthe ihnen zu.
Solche Arbeit entspräche weit mehr ihrer kräftig
entwickelten Natur.
Wie gerne hätte sie ihre Lederschuhe, die sie beim
Auftreten so drückten, ausgezogen, um mit den
heißen Füßen in der kühlen Milchlache auf dem
Estrich herumzuwaten. Mit welcher Wonne hätte sie
die Hände in das frische Heu getaucht, dessen Duft
sie so lebhaft an die Hütte der Mutter und an die so
sorglos im kleinen Dórichen verlebten Kinderjahre
erinnerte,

34
Träumerisch lächelnd folgte ihr Blick den Ge-
stalten der Mägde, die sich mit dem nur ihnen eigen-
tümlichen Faltenwurf der Röcke in der Küche herum-
tummelten und nicht einmal danach fragten, was
unter ihnen jenes Mädchen wolle, welches schweigend
noch fast an der Schwelle stand,
Plötzlich wurde die Saaltür krachend geöffnet und
herein stürzte Rosa, noch immer wiederholend: „Die
Cholera bring’ ich dir, aber kein Wasser!“
Die Mägde zurückstoßend, hob sie den Rock etwas
hoch und zeigte unter dem noch sauberen Kleide die
vor Schmutz grauen, faltenreichen Strümpfe, als sie
die Milchstraße übersprang, die ihr den Weg zur
Freundin fast versperrte.
„Na, wie steht es?“ fragte sie diese, indem sie ihr
das leidenschaftlich erregte Gesicht mit verweinten
und halb schlaftrunkenen Augen zuwandte.
„Ich hab eine Stelle und tret sie heute an!“ er-
widerte Käthe.
Auf Rosas Antlitz trat ein Ausdruck der Be-
friedigung. Diese Zeugin ihres Zusammenlebens mit
Felix lag ihr zu schwer auf dem Herzen, um dies
länger ertragen zu können. Käthe dies zu sagen,
wagte sie jedoch nicht, weil sie ihr zu lieb war wegen
ihrer Sanftmut und ihres freundlichen Blickes.
Jetzt aber war sie zufrieden, daß sie wieder mit
ihm allein blieb in ihrem engen Stübchen, wo wirk-
lich nicht Platz war für drei.

3” 35
„Ich kam nur nach meiner Lade und um dir das
geborgte Geld wiederzugeben“, fuhr Käthe fort, in-
dem sie mit einer gewissen Schüchternheit ihren
Guldenschein hervorzog.
„Wenn du solch’ große Dame bist, daß du Schulden
bezahlen kannst, so bezahle sie“, erwiderte Rosa.
„Besser aber tust du, wenn du sie nicht bezahlst.
Schulden laufen dir nicht fort und an dieser Krank-
heit hat man ohnehin genug!“
Und als sie sah, daß Käthe schwieg, fügte sie hin-
zu: „kol dir bei mir zu Hause deine Lade. Dieser
Strolch, der Felix, raucht gewiß wieder dort seine
„Habanna“. O, das ist eine wahre Strafe Gottes,
dieser Nichtsnutz.“
„Warum bleibst du aber bei ihm?“ fragte Käthe
etwas lebhafter, aber immer noch nur schüchtern die
Freundin anblickend.
„Weiß ich es denn?“ entgegnete diese, die Hand
schwenkend. „Manchmal hab’ ich solchen Groll auf
ihn, daß ich ihn über alle Berge jagen könnte. Denn
er taugt nichts und ist ein Tagedieb. Während ich
den ganzen Tag mich abarbeite, vergeudet er mir
alles. Ach, möcht’ er sich doch einmal ändern.“
Und unwillkürlich ergriff sie dieselbe Wut, wie all-
abendlich beim Anblicke seines blassen Gesichtes,
wenn er sich behaglich auf dem schmutzigen, lange
nicht mehr aufgeschütteten Lager wälzte, während
sie ermattet heimkehrte von der tagelangen Arbeit.
Ihre Leidenschaft aber zu ihm hatte sie allmäh-
lich ganz erfüllt und daher erwiderte sie auf Käthes

36
wiederholte Fragen nur hastig und unsicheren
Blickes an die Wand starrend:
„Aus Gewohnheit nur tu’ ich's, das ist das ganze
Elend!“
Aus Gewohnheit! In diesem einzigen Worte lag
die ganze Wahrheit ihres Lebens, klirrten all‘ ihre
ehernen Fesseln, die sie sich selbst auferlegt mit
diesem sie nur ausbeutenden Manne.
Gewöhnt hatte sie sich an die täglichen Zänkereien,
an die eigenen Klagen, an seinen Müßiggang, sein
„Habanna“rauchen, sein nervöses, abgelebtes
Äußeres, an die allmorgendlich mit kleiner Münze
gefüllte und allabendlich geleerte Schublade, sogar
an das arme Weib mit den kleinen Kindern, dessen
Gespenst sie täglich anklagte mit heiserer Stimme.
Aus Gewohnheit! —
Befremdet heftete Käthe den Blick in das Antlitz
der Freundin, deren Leidenschaft täglich zur selben
Zeit auftrat wie ein Wechselfieber.
Sie konnte Rosa einfach nicht begreifen. Auf sie
machte Felix, dieser häßliche, schon alternde Mann,
geradezu einen widerlichen Eindruck. Dazu kam
noch, daß dieser Faullenzer in wilder Ehe von der
Arbeit einer Frau lebte. Sie selbst hätte kurzen
Prozeß mit ihm gemacht und ihm Respekt bei-
gebracht, indem sie ihn sofort zu Weib und Kindern
und seiner Werkstatt jagte.

37
Inzwischen verabschiedete sie sich von Rosa und
wandte sich dem Ausgang zu. ,
Beide traten sie hinaus vor die Kiiche auf den
kleinen Hof. Derselbe war rings von niedrigen
Stallungen umgeben, deren Türen offen standen,
Stroh- und Düngerhaufen lagerten dort und einige
dünne, schlanke Bäumchen erhoben die jungen
Zweige zum Himmel.
Dort blieben sie beide noch ein Weilchen stehen
und Käthe nahm das schwere Wolltuch ab, welches
ihre Arme bedeckte. |
Darunter trug sie ein Trikotleibchen, welches ihr
die friihere Herrschaft einst in guter Laune geschenkt
und dessen dunkelrote Farbe sich nur wenig unter-
schied von der ihres, von der Hitze etwas ange-
schwollenen Halses.
Dafür aber hob sich ihre ganze Büste um so deut-
licher ab unter dem elastischen Gewebe, indem dieses
sowohl die runden Schultern als auch die hoch-
gewölbte Brust, deren Umfang das offenbar für eine
kleinere Gestalt angefertigte Leibchen schon sprengte,
höchst vorteilhaft hervorhob.
Das Fehlen zweier Knöpfe ließ den Rand des
groben, aber sauberen Hemdes sehen und ein kleines
Dreieck der den Brünetten eigentümlichen dunkel- _
gelben Haut. |
Ermattet von der Last des schweren Tuches erhob
Kathe die Arme und reckte sich, indem sie die Ellen-
bogen streckte und die Fäuste zusammenpreßte.
Plötzlich bemerkte sie einen hervorstehenden

38
Balken etwa eine halbe Elle iiber ihrem Kopfe und
erfaßte das Holz. Unbewußt neigte sie sich dabei
nach vorn, indem sie die Ellenbogen beugte und die
- Hüften etwas einzog. So stand sie ein Weilchen vor
der Freundin, die ihre Klagelied über Felix und
dessen unverbesserliche Faulheit immer aufs neue
anstimmte.
In dieser warmen, von Stalldüften erfüllten Hof-
luft fühlte Käthe sich unbeschreiblich behaglich. Mit
weitgeöffneten Augen und lechzenden Lippen atmete
sie den frischen Heugeruch ein.
Rosas kreischende Stimme hallte in dem engen
Hofraume wieder, bis sie sich im Dunkel der offenen -
Stallungen verlor.
Regungslos und ohne auf die Worte der Freundin
zu hören, stand Käthe da, ganz versunken in den Er-
innerungen, die, durch den Heuduft in ihrer Brust er-
weckt, sie vollständig von der Gegenwart abzogen.
Und wie dort in der Küche beim Anblicke der
schneeigen Milch, trat auch hier die ganze Ver-
gangenheit ihr vor Augen, die Mutter und die
Schwestern, die Fabrikarbeit und die Reise nach der
Stadt.
So vertieft in den Traum ihrer Kindheit, bemerkte
sie nicht, wie ein verstecktes Pförtchen im Zaune ge-
öffnet wurde und zwei junge Männer dort eintraten.
Sofort eilte Rosa ihnen entgegen und fragte sie un-
willig: „Weshalb gehn die Herren hier durch? Das
liebt die Frau Wirtin nicht. Dazu ist doch die große
Pforte da!“

39
„Ei, Sie kleiner Schäker“, erwiderte der eine,
von dem ein strömender Fuselgeruch ausging, der
den rettungslos verlorenen Trinker verriet. „Wozu
sollen wir solchen Umweg machen bei — der
Hitze?“
Hier brach er plötzlich ab, da sein Begleiter ihn
anstieß. Dies war ein kleines, fast noch unent-
wickeltes, aber ziemlich fein aussehendes Kerlchen.
Sein Blick hatte sofort sich Käthe zugewandt, die
mit erhobenen und auf den Balken gestützten Armen,
der plastisch gewölbten Büste und nach vorn ge-
neigtem Kopfe noch immer regungslos dastand, ohne
darauf zu achten, was um sie her vorging.
In ihrer Natur lag es einmal, daß sie öfters unwill-
kürlich in tiefes Sinnen verfiel und dann so unbeweg-
lich dastand, wie eine Bildsäule still und stumm und
mit weit geöffneten Augen.
Auch jetzt „überfiel es“ sie wieder wie sie selbst
sagte, als sie wieder zum Bewußtsein kam!
In der enganschließenden Trikottaille traten ihre
volle Büste und ihre runden Arme überaus plastisch
hervor. Vom Gürtel an bedeckt vom engen Kleide,
erschien sie wie herausgewachsen aus der
schwarzen Erde, auf die sie die kräftigen Füße
stützte. So glich ihre Riesengestalt mit dem zier-
lichen Kopfe und der niedrigen Stirn von klassischer
Schönheit jetzt einer altgriechischen Statue. Und
das von Sonne gebräunte, von Schweiß erglänzende
Antlitz verlieh ihr im Schatten des Hofraumes ganz
den Charakter eines Bronzegusses.

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Bewundernd blickten die beiden jungen Männer
sie an, bis der eine ausrief: „Die reine — Karyatide!"
In diesem Ausdrucke verriet sich der Bildhauer.
Wie die Hammerschläge einer nach griechischen
Mustern gebildeten Hand erschallten dumpf die
einzelnen Silben.
„Karyatide!“
Unter dem Klange dieses Wortes schien die halb-
wüchsige Gestalt in weibisch kokettem grauem An-
zuge förmlich zu wachsen an Kraft und Entschlossen-
heit, als forme sie mit kundiger Hand die Büste
dieses Mädchens, dessen regungslose Haltung in ihm
die Erinnerung an eine ganze Reihe von riesigen, bis
an die vom Gewande verhüllten Hüften nackten
Frauengestalten aus Marmor weckte, wie sie oft
Palästen als stützende Säulen dienen.
In seinen Augen war dies wirklich eine Karyatide,
eine Schwester jener traumhaften Riesinnen, die mit
starren Steinaugen so stolz in ihrer Knechtschaft auf
Wache stehen und Zentnerlasten tragen auf ihren
königlichen Schultern,
Im Halbdunkel des Hofes, umgeben von Heu- und
Düngerhaufen, an das graue Gebälk des Viehstalls
gelehnt, stand sie da in ihrer harmonischen Schön-
heit, wie eine altertümliche Bildhauerarbeit, die hier
unter den Stallungen aufgefunden wurde,
„Karyatide!“
Als dies Wort die Luft durchschwirrte, erwachte
Kätheerst aus ihrem Sinnen. Instinktiv fühlte sie

41
heraus, daB dieser Name fiir sie bestimmt war. Im
iibrigen hatte sie natiirlich keine Ahnung von der
Bedeutung desselben. Gleichwohl drang er durch ihr
Ohr bis in das Hirn und haftete dort unter tausend
alltäglichen Ausdrücken, die sie von Kindheit an
gehört.
Voller Verwirrung und mit glühenden Wangen
hüllte sie sich wieder in ihr Tuch, um sich schleunigst
den Blicken dieser Männer zu entziehen, die so heiß
auf ihr ruhten und sie in die peinlichste Verlegenheit
versetzten, als rissen sie ihr die Kleider herab, um
ihren Körper zu zergliedern. Schon dieser Gedanke
brachte sie fast zur Verzweiflung. Blickten doch alle
Männer nach ihr mit so widerlicher Neugier.
War sie etwa schuld an ihrem üppigen Wuchs
und ihren breiten Schultern? Hätte sie doch nie-
mals dieses Tuch abgelegt, sondern beständig sich
fest darin eingehiilt! Das wäre das beste ge-
wesen! ...

Rosa war wieder in bester Laune, legte die Maske


der freundlichen Kellnerin an und lächelte den
Gästen zu.
Diese näherten sich jetzt Käthe, in den Hüften
sich wiegend, mit Siegermienen und ausgeprägter
Verachtung gegen alle Weiber, wie sie sie in
Spelunken und im Verkehre mit feilen Dirnen sich
angeeignet hatten.

42
Im Scherz schlugen sie ihr vor, ihnen „Modeli zu
stehen“. Und als sie sahen, sie sei zu dumm, um die
Bedeutung dieser Worte zu verstehen, erklärten sie
ihr frei heraus, was sie von ihr wünschten.
Feuerrot wurde sie, als sie vernahm, sie solle vor
ihnen sich hinstellen, wie Gott sie geschaffen. Nein.
Nimmermehr würde sie sich dazu hergeben. Und
mit zitternden Händen hüllte sie sich fester in ihr
Wolltuch, als befürchtete sie, sofort dazu gezwungen
zu werden, hier, am hellen, lichten Tage, mitten auf
dem Hofe! ...
Rosa dagegen kicherte vor sich hin und in ihrer
Sinnlichkeit erwachte plötzlich das Verlangen nach
den Küssen und Liebkosungen ihres Felix .
„Wie dumm du bist“, erklärte der eine Herr,
indem seine Stimme sich nur unter fortwährendem
„Schluckauf“ der Brust entrang. „Dir soll doch gar
nichts Schlimmes geschehen. Einige Stunden nur
brauchst du Modell zu stehen, bis dieser Herr dich
aus Lehm geformt hat, dann siehst du doch
wenigstens, wie du aussiehst!“
Käthe erwiderte kein Wort. Im Geiste sah sie ihre
eigene Gestalt, aus feuchtem Lehm nachgebildet.
Wie häßlich mußte das sein.
„Für die Stunde zahl ich drei Groschen“, fügte
der Bildhauer kinzu.
Rosa war darüber ganz entzückt: Drei Groschen
für eine Stunde müßig gehen! Dafür tat sie es auch!
Sie bot sich selber an, indem sie die Schultern
zurickbog, um die vom Rosa-Perkal bedeckte Brust

43
mehr hervortreten zu lassen. Wie gern stünde sie
„Modell“, wenn nur Felix es erlaubte!
Der Bildhauer aber schüttelte den Kopf und
schlug ihr dies ab. Mit Käthe war dies etwas
anderes: Wenn sie einwillige, solle sie sogar vier
Groschen haben; nur einige Male brauche sie zu ihm
zu kommen und dies habe doch gar nichts auf sich,
Noch immer schweigend, suchte Käthe mit den
Augen nach dem Ausgange, um so schnell wie mög-
lich dem ihr so peinlichen Vorschlage zu entgehen.
Plötzlich fragte sie der andere mit der ironischen
Miene des Literaten: „Kennst du den Katechis-
mus?“
Erstaunt blickte sie ihn an. Was hatte dieser
Herr nach dem Katechismus zu fragen? Freilich
kannte sie ihn ganz genau, da sie ihn in der stillen
Dorfkirche bei dem alten Priester auswendig ge-
lernt. Was aber hatte der Katechismus gemein mit
dem, was die Herren von ihr wollten.
Blitzschnell jedoch traf sie die neue Frage: „Wer
hat dich erschaffen?“
„Der Herrgott“, erwiderte sie mechanisch, wie ein
Leierkasten, der aufgezogen wird, um eine Arie zu
spielen.
„Und woraus?“ fuhr der Literat fort, indem er mit
den geröteten Augen zwinkerte und sie ansah durch
die spärlichen Wimpern,
„Aus Lehm. Und er blies mir die Seele ein und
belebte den Leib“, leierte sie her und drehte die
Finger, wie ein faules Kind in der Schule,

44
„Na, also aus Lehm!“ unterbrach der Literat mit
entsprechender Handbewegung ihren Redestrom.
„Und tat dir das weh?“
Obwohl Käthe die strengsten Erinnerungen ihrer
Kindheit in sich wach rief, vermochte sie sich darüber
nicht klar zu werden und schwieg daher hartnäckig.
„Na, siehst du, Narrin. Hat es dir damals nicht
wehe getan, wird es dir jetzt auch nicht wehe tun.“
„Und drei Groschen erhältst du für die Stunde‘,
unterbrach ihn der Bildhauer, indem er die kleine
Gestalt reckte und mit den Händen auf die Taschen
schlug, um mit den Schlüsseln zu klirren und den
Klang hervorzurufen, als fülle bares Geld die
Taschen seines Sommeranzuges.
Käthe schwindelte es nachgerade im Kopie.
Wie? Dieses Biirschchen wollte so mächtig und
weise sein, wie der Herrgott? ...
Ganz empört war sie über solche Mißachtung des
göttlichen Namens.
Dazu kam noch, daß der widerliche Fuselgeruch
ihr fast die Brust zusammenschnürte, wie die Angst
vor etwas Unbekanntem, als öffne sich vor ihr ein
jäher Abgrund. Ihr war, als habe sie selbst einen
Rausch sich angetrunken, den ihr schwacher Kopf
nicht zu tragen vermochte.
Die Männer aber schütteten sich aus vor Lachen.
Auch Rosa freute sich, daß sie mit ihrer Freundin
so scherzten, und stimmte mit ein in die Heiterkeit.
die den ganzen Hof erfüllte.
Inzwischen blickte Käthe immer ängstlicker nach
der halbgeöffneten Pforte mit dem Wunsche,
schleunigst sich aus dem Staube zu machen, und in
dem Gefühle, als habe sie irgend etwas begangen,
was sie in den Abgrund stürze.
Mit Gewalt also raffte sie sich auf und eilte wie in
heller Verzweiflung auf die Pforte zu.
Der kleine Bildhauer aber folgte ihr auf dem
Fuße nach und rief ihr zu: „Du, wenn du dich be-
sonnen, aber nichts zu essen hast, so komm nur zu
mir! Weißt du, wo das Polytechnikum ist? Nein?
Das große, weiße Haus mit der Freitreppe in der
KrummenstraBe. Weißt du es nun?“
Dicht an der Pforte umschlang er sie halb und
zog sie fast in seine Arme. Wie ein Kind sah der
Halbwüchsige aus gegenüber dem so kräftig ge-
bauten Mädchen. Dies fühlte er auch und sah sie mit
seltsamem Staunen an.
„Herr, lassen S’ mich los! Ich hab Eile!“ rief sie
ihm zu.
Er aber lächelte nur und drängte sich ihr immer
näher. Mit den beschleunigten Atemzügen drang
scharfer Alkoholdunst aus seinen immer feuchten
Lippen.
Mit kräftiger Hand suchte Käthe den Zudring-
lichen von sich abzuwehren. Er iedoch hielt ihren
Arm wie mit einer Zange fest. Wie Stahlringe um-
schnürten ihn seine dünnen Finger.
„Aber, Herr, Sie tun mir weh!“ rief Käthe und sah
ihm mit Tränen in den Augen in das gerötete Gesicht.

46
Aus diesem großen, dunklen Auge sprach der
stille Vorwurf des ohmmächtigen Wesens aus
niederem Stande so beredt, daß die Finger des Bild-
hauers allmählich ihren Arm losließen.
Lange noch sah er ihr nach, als sie durch die
offene Pforte auf die Straße hinausgeeilt war,
während der Literat mit Rosa unter zweideutigen
Scherzen und Klapsen im Innern des Gebäudes ver-
schwand.
Dann blieb er noch ein Weilchen mitten auf dem
Hofe stehen und betrachtete aufmerksam jenen
Balken, an welchem Käthe bei seinem Eintritte ge-
lehnt hatte.
Ja, sie war das beste und einzige Modell zu der
Karyatide, von der er so manchmal geträumt in der
Kneipe, wenn er seinen Entwurf mit dem in Bier
oder Wein getauchten Finger auf den dichtbestaubten
Tisch zeichnete.
All seine Arbeiten entstanden übrigens auf dieselbe
Weise und quälten ihn bei den nächtlichen Zech-
gelagen mit seinen Kumpanen. Dann goß er ein Glas
Wein auf den Tisch und schuf dort ideale Frauen-
gestalten mit schon zitternder Hand, aber trotzdem
in reinen, durchgeistigten Formen. Mitten im Lärm
halbberauschter Literaten und Schauspieler entwarf
er so die kunstvollen Umrisse seiner hold lJächelnden
Büsten, Reliefs und ganzer Statuen.
Ab und zu warf er dabei auch ein Witzwort hin,
oder schlug eine weitere nächtliche Wanderung vor,
trotz umnebelten Kopfes aber zeichnete er ruhig

47
weiter all jene Gestalten, die sich traumhaft seiner
Brust entrangen und sich hinausdrangten in die Welt,
das Leben und den Ruhm.
Da er arm, sich selbst überlassen war und nie-
mand liebte, auch von niemand geliebt wurde,
arbeitete er nur wenig. So ging er einsam durch das
Leben, bis er sich an die Kneipe lehnte, diesen Salon
der städtischen Boh&me.
Anfangs schreckte er davor zurück. Allmählich
aber gewöhnte er sich daran und erschien allabend-
lich, um gegen Morgen erst heimzukehren; dann
lärmte er auf den Straßen, band mit Polizei und
Dirnen an, oder legte sich quer über den Weg, als
habe ilin der Schlag gerührt, und trieb tausend ähn-
liche Possen.
Auf seiner Schwelle aber begrüßten seine keuschen,
weißen Statuen mit traurigen Blicken sein jugend-
liches und doch schon so aufgedunsenes Gesicht, sein
weiches, wallendes, aber mit Strohhalmen, Gras und
Staub bedecktes Haar und die schmutzigen in den
Taschen des fadenscheinigen Überziehers steckenden
Hände.
War das wirklich ihr Schöpfer, dieser Mensch, der
solchen Kneipendunst mit sich hereintrug, der sich
kaum noch auf den Füßen hielt, und zu guterletzt
noch fast umsank vor ihren Marmorfüßen!
Der riesige Herkules auf seinem Felsensitze, in
seiner Nacktheit so gewaltig, senkte traurig das
stolze Haupt. Und die schlanke Nixe, die am Ufer
träumte, errötete fast im Glanz der Morgensonne,

48
Und dennoch erwuchsen all diese blendenden Ge-
stalten aus der dunklen Weinpfütze und der schwülen
Luft der in der Kneipe durchschwärmten Nacht. Und
seine Bestimmung war, noch tiefer zu sinken, als
seine Vorbilder und Entwürfe, sogar als seineModelle!
Hier auf diesem Hofe aber erschien ihm plötzlich
jene Karyatide mit den scharf gezeichneten Linien,
Kraft und Gesundheit atmend.
In seiner Erinnerung hinterließ sie die anmutige
Beugung des Körpers mit der prächtigen Büste,
Sehnlichst aber wünschte er, sie noch vor sich zu
sehen, um den echten Typus eines Riesenweibes zu
schaffen, ohne Übertreibung oder Nachahmung jener
plumpen Statuen, welche die Balkone oder Ver-
zierungen der Paläste schmücken.
Daher stand er noch lange mitten auf dem Hofe,
mit dem Blicke nach der Wand, um im Geiste die
Umrisse zu zeichnen und sie auszufüllen zur —
„Käthe, die Karyatide“, zu iener stolzen, kräftigen
Schönen mit den muskulösen und doch echt weib-
lichen Armen ...

Käthes Truhe nahm, obgleich nicht allzu groß,


dennoch einen beträchtlichen Raum in dem von
Rosa und Felix bewohnten Stübchen ein.
Unmittelbar aus dem Milchgarten begab Käthe
sich dorthin, um so schnell wie möglich ihre sieben
Sachen fortzuschaffen.

4 Käthe i , 49
Als sie eintrat, lag Felix, wie gewohnt, auf dem
schmutzigen Federbett mit der Miene eines Mannes,
dem sein sicher angelegtes Kapital ein anständiges
festes Einkommen bringt. Sein plumpes, falten-
reiches Gesicht verschwand fast in den Rauch-
wolken seiner „Habanna“. Vor kurzem vom Mittag-
essen heimgekehrt, hielt er jetzt in aller Ruhe seine
Siesta ab.
Die schmutziggrauen Wände des Stübchens waren
verräuchert vom Tabaksqualme und beklebt mit
bunten Papierschnitzeln, Zeitungsausschnitten und
Anzeigen oder mit vergoldeten Buchstaben und
Kleiderstoffproben.
Dies war die einzige Arbeit, zu der sich Felix
manchmal noch herbeiließ,
Eingedenk des Grundsatzes: „Utile cum dulci“,
schmückte er die Wände des staubigen Stübchens
mit derartigem Plunder.
„Dann hast du wenigstens noch ein Andenken von
mir“, sagte er einmal zu Rosa, als diese sich ärgerte
über die Mehlverschwendung zum Kleister.
Damit verschloß er ihr sofort den Mund. „Tren-
nung“, das war ihr das schrecklichste Wort, das von
seinen Lippen fiel.
Auch sie sprach es öfters aus in den täglichen
Zänkereien. Sobald aber Felix eine Veränderung in
ihrem Zusammenleben nur andeutete, verging sie fast
vor Angst, wie gegenüber dem Tode oder einer un-
heilbaren Krankheit.

50
Als Kathe die Tür öffnete, erhob sich Felix nicht
einmal von seinem Lager.
Längst schon verlor er alle Aufmerksamkeit gegen
die Weiber und hielt sie nur für untergeordnete
Wesen, lediglich nur dazu bestimmt, dem Manne das
teuere Leben zu erhalten.
Die dumpfe Atmosphäre des niemals gelüfteten
Raumes benahm der Eintretenden fast den Atem,
Obgleich sie Felix nicht leiden mochte, gebot ihr
die angeborene Höflichkeit dennoch, nicht unfreund-
lich gegen ihn zu sein.
„Guten Tag!“ sagte sie daher, indem sie ihre
Truhe öffnete und ihre Sachen sorgfältig hinein
legte.
Felix erwiderte kaum den Gruß und beobachtete
sie nur, wie sie sich nach der Truhe bückte.
Entschieden war sie hübscher als Rosa und konnte
also im Milch- oder Kaffeegarten bei gutem Willen
doppelten Verdienst haben. Bei weiten jünger und
frischer und so kräftig, wie ein Mecklenburgisches
Pferd, bot sie ein weit besseres Material zu Ein-
nahmen, aus denen er mehr und länger Vorteile
ziehen könnte.
Schweigend erwog er diesen längst schon ihm
durch den Sinn gegangenen Gedanken.
Rosa begann schon zu altern. Immer weniger
Bargeld klirrte in der Schublade.
Nachlässig, abgespannt und unlustig, verlor sie
allmählich die kleinen Nebeneinnahmen für ihre Be-
dienung. Dabei verharrte sie in törichtem Starrsinn

+ 51
in einer Treue, die er im Grunde genommen weder
von ihr forderte, noch wünschte. Für seine Liebe
wies sie iede vertrauliche Annäherung der Gäste
mit der schmollenden Miene eines unerzogenen
Mädchens zurück.
Und dadurch entgingen ihr immer mehr jene
kleinen „Trinkgelder“, die zu Anfang ihres Zu-
sammenlebens ihr täglich einige Gulden einbrachten.
Damals lebten sie ganz anständig und aus jener
Zeit stammten auch die beiden Hypothekenpfand-
briefe, die sie, abgesehen von seinem Unterhalte,
für Notfälle zurücklegen konnte.
Manchmal zwar umschlichen ihre Wohnung ver-
schiedene jüngere oder ältere Männer, die ungeduldig
in das Fenster sahen oder laut hüstelten. Und meist
lief dann Rosa unter dem Vorwande eines Kranken-
besuches bei ihrer Tante oder Freundin in die Stadt,.
um erst nach einigen Stunden heimzukehren.
Felix aber stellte sich so, als bemerke er gar
nichts, oder als schlafe er hart und fest. Gleichwohl
sah er alles und erriet die Wahrheit, machte jedoch
davon kein Aufhebens. Wozu auch? War es doch
so am besten für sie beide.
Unwillkürlich lächelte sein fahles Gesicht, wenn
"Rosa mit tödlicher Angst sich über ihn neigte, um
sich zu überzeugen, ob er auch nicht gemerkt habe,
daß sie so spät heimkehrte.
Seinetwegen konnte sie auch erst morgens früh
heimkebren; ihm war dies ganz einerlei.
In seiner Verachtung gegen die Weiber konnte er

52
gar nicht begreifen, was für ein Glück in der Uber-
zeugung vom ausschließlichen Besitze des geliebten
und liebenden Wesens liege.
Dies hinderte ihn jedoch nicht an einem er-
künstelten Stirnrunzeln, als Rosa ihm die haar-
sträubende Geschichte erzählte von ihrem Nachbar,
dem Schuster, der seine Frau auf einer Untreue er-
tappie.
„Passierte mir das“, rief er, seine kleine Gestalt
mächtig aufblähend, „den Hundsfott schlüg’ ich auf
der Stelle tot.“
Rosa aber ließ dann den Kopf hängen und dachte,
zitternd vor Angst, nur an Mord und Todschlag, an
Kriminal und Schwurgericht ...
Und umso ungestümer hing sie sich an Felix, als
lechze sie nach dessen Küssen und Liebkosungen.
Alle ihre Bekanntschaften brach sie ab, blieb ihm
treu mit der Beharrlichkeit eines Weibes, dessen
Leidenschaft endlich ihre Befriedigung gefunden
hatte. Dabei wurde sie immer nervöser und welkte
zusehends dahin in dem ewigen Tabaksqualm und der
feuchten, dumpien Atmosphäre. Um nichts mehr
kümmerte sie sich und sorgte nicht einmal für das
tägliche Brot.
Felix, der seit einiger Zeit sich in seinen Ausgaben
erheblich beschränkt sah, blickte sie öfters mit kaum
verhehltem Unwillen an, machte ihr jedoch niemals
Vorwürfe, sondern fluchte nur in ihrer Abwesenheit,
wenn die geöffnete Schublade ihm keinen befriedigen-
den Anblick bot.

53
Scheinbar war er ein Mann von guter Erziehung
und einem gewissen Zartgefiihi, sobald ihm das
offene Eingeständnis einer Ausbeutung der Weiber
seine weitere Laufbahn verderben konnte,
Schweigend also fügte er sich in die verschlechterte
Lage, sah sich aber dabei schon um nach etwas
„Besserem“, was seine Einkünfte vermehren und
ihm ermöglichen könne, besser zu leben und in
feineren Speisehäusern zu essen.
Daher richtete er jetzt sein Augenmerk auf Kathe.
Wer boł ihim besseres Material zur Ausbeutung, als
dieses sanfte, stille und kräftige, zugleich aber scharf
gestellten Zumutungen gegenüber so widerstandslose
Mädchen?
Als er die lange Linie ihres über die Truhe ge-
beugten Rückens vor sich sah, kam ihm plötzlich der
Gedanke, für sich dies junge Wesen auszubeuten,
welches so viel zu leisten vermochte, ohne sich so
leicht abzunutzen wie Rosa.
„Fräulein, wollen Sie spazieren gehen?“ fragte er
mit ungewohnter Freundlichkeit, als er sie aus der
Lade eine saubere, weiße Jacke herausnehmen und
beiseite legen sah.
„Nein, Herr Felix; ich will nur umziehen“, er-
widerte sie, während sie nach den gestopften
Strümpfen im Weißzeuge herumsuchte.
„In Dienst wollen Sie gehen, Fräulein?“
„Natürlich.“
Ein Weilchen herrschte Schweigen.

54
Zu ihrem Schrecken bemerkte Kathe ein kleines
Loch in der Ferse eines Strumpfes. Sofort setzte sie
sich auf den Rand der Truhe und entnahm einer
Pulverschachtel, die als Arbeitstasche diente, etwas
Baumwolle, einen Fingerhut und eine halbverrostete
Stopfnade. Dann nahm sie den Strumpf in die
Linke, zog die Ferse über die Faust und begann das
Stopfen. Dabei neigte sie bei jedem Stiche den Kopf
und preßte die Lippen zusammen vor lauter Eifer.
„Fräulein, weshalb wollen Sie in Dienst gehen?“
fragte Felix mit verdoppelter Freundlichkeit, indem
er sich langsam vom Lager erhob und sich in seinem
Taschenspiegelchen besah.
„Weshalb? Um nicht Hungers zu sterben“, ent-
gegnete sie, ohne den Kopf zu erheben.
„Ach was! Fräulein, wenn Sie nur wollten, so
könnten Sie auf andere, leichtere Arbeit gehen.
Kasserollen und Scheuerlappen sind nur für Häß-
liche.“
„Spotten S’ doch nicht, Herr Felix!“ rief sie
lachend. „Was sollt’ ich denn sonst anfangen? Ich
fand einen nicht üblen Dienst. Die gnädige Frau
scheint recht gut zu sein.“
„Oho! Die sind alle nicht gut. Ich aber wüßte
etwas Besseres und Feineres; z. B. im Milchgarten,
wie Rosa, oder in einem Kaffeehause. Hm?“
Hier sah er ihr scharf in die Augen, um zu er-
forschen, welchen Eindruck sein Vorschlag auf sie
mache.
Plötzlich ließ Käthe die Hand sinken, in der sie den

55
Strumpf hielt, und rieb sich mit der Rechten den
Arm. Dort iiber dem Ellenbogen hatten die Finger
des jungen Bildhauers schmerzhafte rote Striemen
hinterlassen, als habe er sie mit einem Stricke ge-
knebelt. Daher bemühte sie sich, den Schmerz durch
Reiben zu lindern.
„ich in den Milchgarten? Dazu bin ich viel zu
plump und zu häßlich. Mit Rosa ist das was anderes.“
„Hi! Hi! Fi!“ lachte Felix, der die Saite ihrer
Eitelkeit berühren wollte, ohne die Geliebte zu
schonen. „Gewiß, Fräulein, ist ein großer Uhter-
schied zwischen Ihnen und Rosa: Sie sind weit
jünger, hübscher und frischer. Neben Ihnen sieht
Rosa aus wie eine ausgepreßte Zitrone!“
Käthe empfand jetzt dasselbe Befremden, wie
damals in der Küche, als Rosa im Ärger ihn „Nichts-
nutz und Tagedieb“ nannte, wie er sie jetzt eine
„ausgepreßte Zitrone“. Was fesselte denn diese
beiden aneinander, wenn sie sich gegenseitig so
haßten?
„Warum bleiben Sie aber bei ihr?“ fragte sie ihn
mit denselben Worten wie jene.
„Nur aus Gewohnheit!“ erwiderte auch er, nach-
dem er ein Weilchen nach Worten gesucht. „Das ist
einmal so meine dumme Natur!“
Auch er also nur aus Gewohnheit!
Kopfschüttelnd begann Käthe wieder zu stopfen,
während Felix offenbar noch etwas hinzufügen
wollte, denn er näherte sich der Truhe und ein
Lächeln erhellte sein gleichgültiges Gesicht.

56
„Mit alledem aber kónnt ich jederzeit ein Ende
machen, denn aus Rosa wurde schon solch eine Hexe,
daß es, bei Gott, nicht mehr auszuhalten ist. Ich
aber liebe nur freundliche, wohlerzogene Weiber.
Immer hofft’ ich noch, sie dressieren zu können, aber
vergebens ...“
Ganz verdutzt war Käthe über solche Reden:
Freundlichkeit verlangte er von Rosa und wollte sie
—_ dressieren?.
„Sehen Sie, Fräulein“, fuhr Felix fort und setzte
sich auf den Rand der Truhe. „Rosa faullenzt jetzt
und tut garnichts mehr. Früher war sie ein Blitz-
mädel, jetzt schleppt sie sich kaum noch fort auf den
Beinen. Ich liebe aber solche Weiber nicht, die gar
nichts tun.“ .
Unwillkürlich heftete Käthe den Blick auf seine
dürren, untätig gefalteten Hände. Auf dem vierten
Finger der Linken blitzte kokett ein Ring mit einem
falschen Brillanten. Und ebenso blickte Felix unver-
wandt auf ihre groben, breiten und roten Hände.
Beide aber hatten sie denselben Gedanken;
Wie viel konnten diese Hände täglich verdienen
bei eifriger Arbeit!.
Dann jedoch schweifte sein Blick über ihre ganze
Gestalt mit derselben Berechnung, wie etwa über ein
Grundstück, auf dem er sein Kapital anlegen wollte.
Augenscheinlich fiel diese Prüfung zu Käthes
Gunsten aus. Denn er zog den Schlips zurecht und
begann nach zierlicher Verbeugung mit gedämpfter
Stimme:

57
„Fräulein, ich will Ihnen etwas sagen: Wenn Sie
es wünschen, würde ich mich bemühen, daß Sie
Rosas Stelle erhalten im Milchgarten. Das wird um-
so leichter sein, weil Rosa nicht mehr dazu taugt.
Dafür müßten Sie aber auch bei mir an Rosas Stelle
treten und mit mir zusammenwohnen. Bei Gott, ich
bin ein ehrlicher Mensch und tu niemand etwas zu
Leide. Sie werden sehen, Fräulein, was für ein guter
Mann ich bin.“
Hier suchte er mit den dürren Fingern ihre Hand,
während sie so bestürzt dasaß, als habe man sie
plötzlich mit Kot beworfen.
Er aber hielt ihr Schweigen für ein Zeichen
stummen Einverständnisses und führte seinen Vor-
schlag weiter aus, indem er ihr das faltige, gelbliche
Gesicht eines Müssiggängers zuwandte, der, in Un-
tätigkeit verkommen, die Früchte fremder Arbeit mit
der ganzen Unverschämtheit eines Schmarotzers
verzehrte.
Nein! Womit hatte sie solche Erniedrigung ver-
dient? Was wollten sie nur von ihr, diese Männer,
die sie gar nicht in Ruhe ließen? Zum drittenmal
fühlte sie heute im Gesicht den mit Tabak und Fusel-
dunst gemischten glühenden Atem eines Mannes.
Nein! Das war entschieden zu viel für sie!
Ein unbeschreibliches Wehegefühl erfüllte ihre
Brust, bis sie in lautes Schluchzen ausbrach und die
Tränen sich mit dem Strumpfe in ihrer Hand
trocknen mußte.

58
Solite es so bleiben ihr Lebenlang? Sollte sie nie-
mals frei aufatmen dürfen und Ruhe finden? Hat
jeder Mann das Recht, sie zu überfallen, nur des-
halb, weil sie eine arme Magd ist, die über die Straße
im bloßen Kopie gehen muß?
Felix, der keine Tränen erwartet hatte zum Schluß
seines glänzenden Anerbietens, verstummte vor Ver-
legenheit und erhob sich von der Truhe. Sein tief
verletzter Stolz gebot ihm, sich schleunigst zu ent-
fernen. Deshalb ergriff er in schlecht verhehltem
Grolle den unter den Tisch geworfenen Hut und rief
in befehlendem Tone: „Der Schlüssel wird im Haus-
flar abgegeben!“
Dann rannte er hinaus und warf die Tür hinter sich
zu, daß alles krachte.
Käthe wandte sich nicht einmal um nach ihm,
sondern schluchzte nur weiter und lehnte die Stirn
an die Wand. Diese Tränen erst brachten ihr Trost
und etwas Ruhe. Dann trug sie ihre sieben Sachen
und ihr in ein weißes Laken gehülltes Bettzeug in
eine Droschke.

V: der Haustür ihrer neuen Stelle sah sich Käthe


vergeblich nach Johann, ihrem neuen Bekannten,
um. Wahrscheinlich war er in die Stadt gegangen,
denn er war nirgends zu sehen.
Weshalb seine Abwesenheit sie so peinlich be-
rührte, konnte sie sich selbst nicht erklären.

59
Sie hatte sich so sehnlichst gewiinscht, daB sein
freundliches Gesicht sie beim Eintritt in das neue
Heim begrüße.
Von ihm fürchtete sie keinen neuen Überfall mehr;
sie vertraute ihm und wünschte sich seinen Schutz
herbei.
Mit Hilfe des Droschkenkutschers trug sie Truhe
und Bettsack in den dritten Stock hinauf und die
Hausfrau öffnete ihr selbst die Tür.
Nachdem sie ihr Lager in der aus alten Brettern
zusammengenagelten Schlafbank zurecht gemacht
und ihr grobes Laken darüber gedeckt, auch an die
Wand ihre vier bunten Bilder der Reihe nach ge-
hängt hatte, lächelte sie vor sich hin und fühlte sich
in ihrer Armut vollkommen befriedigt.
Diese Bilder waren ihr einziger Reichtum: Die
heilige Dreieinigkeit mit der blauen Weltkugel, die
Mutter Gottes mit dem schwarzen Antlitz und dem
goldstrotzenden Gewande und der heilige Vinzenz de
Paulo mit dem Christuskindlein auf dem Arme,
Das vierte Bild aber in dieser Galerie stellte
Bogumil Dawison dar im Purpurmantel und mit der
Cäsarenkrone auf dem stolzen Haupte. Ohne diesen
Bühnenhelden zu kennen, hatte Käthe ihn zu den
Heiligenbildern gesellt, da sie auch ihn für „etwas
Hohes“ hielt, wegen des roten Mantels und der
stolzen, herausfordernden Stellung, die er vor der
Urne auf hochragender Säule annahm.
In der Küche fand Käthe eine Menge Staub und
Schmutz vor, in den Winkeln ganze Haufen von

60
Knochen und Kartoffelschałen usw. Bei näherer
Umschau bemerkte sie den Mangel an notwendigen
Gerätschaften, wie Besen, Bürste und Geschirr.
Trotzdem begann sie mit großem Eifer diesen Erden-
winkel aufzuräumen, in dem sie fortan leben sollte.
Nachdem sie den Fußboden aufgewischt, versuchte
sie auch die Wände zu säubern. Dies gelang ihr
aber beim besten Willen nicht, so große schwarze
Flecke bedeckten die längst nicht mehr getünchten
Mauern.
Ein winziges Fensterchen führte nach einem kleinen
Seitengang mit eisernem Geländer, welcher, an der
Ecke gekrümmt, empor bis zum spitzen Dache eines
Anbaues sich fortsetzte. Dies Fensterchen bot natür-
lich nur spärlich Licht und Luft.
Tief seufzte Käthe auf, um möglichst viel Luft in
die breite Brust einzuziehen, — sonst wäre ihr das
Blut in den Kopf gestiegen.
Plötzlich wurde die zur Stube führende Tür ge-
öffnet und herein trat ein älterer Mann im Schlaf-
rocke, augenscheinlich der Hausherr.
Käthe erhob sich und trat ihm näher, mit dem
Wunsche, in den Falten des altersgrauen persischen
Gewebes die Hand des Brotherrn zu finden und sie
ehrfurchtsvoll zu küssen.
Die Hand steckte jedoch in dem viel zu weiten
Ärmel, derder Brust des Mannes aber entrang sich
eine Stimme, so schrill wie Hahnenkrähen:
„Was poltert da für ein neuer Bettsack so herum,
daß man kaum noch denken kann?“

61
„Ich bin's, gnädiger Herr, die Käthe.“
„Die neue Magd! Hm!“ knurrte der Mann. „Wahr-
scheinlich ebenso spitzbübisch und herumtreiberisch
wie die andere! Na, na! Ich werde dich schon aufs
Korn nehmen und du wirst mir gehorchen! Mir,
hörst du? Nur mir, nicht meiner Frau. Denn bei
mir dienst du! Verstanden! Ich bezahle dich.
Meine Frau hat gar nichts. Das gehört alles mir.
Das ist meine blutige Arbeit, die sie nur zu-
schanden macht!“
Und dabei fuchtelte er herum mit dem langen
Ärmel, unter dem wahrscheinlich die Hand steckte,
und zeigte Käthe sein ganzes Eigentum, die Frucht
seiner saueren Arbeit: einige Kasserolle, eine alte
Feuerzange und Lichtscheere, einen blechernen
Samowar, einen zerbrochenen Krug, einen ver-
rosteten Kessel und allerlei sonstiges elendes Ge-
rümpel, welches sich in den dunklen Winkeln ver-
steckte, wie ein zerlumpter Bettler vor Schar.
Dann streckte der Mann im schmutzigen Schlaf-
rocke die Hand aus, um damit einen Kreis zu be-
schreiben, als wolle er mit dem Stolze eines Geiz-
halses, der jahrelang verrostete Münzen zusammen-
scharrte, sagen: „Dies alles ist mein!“
Und so traurig auch all diese Schätze aussahen,
um die sich herumzustreiten eine Torheit wäre, ent-
zog dennoch dieser Mann seiner Frau an ihnen das
Eigentumsrecht, indem er sich für das Haupt und
den Herrn des Hauses im vollen Sinne des Wortes
erklärte. Dies alles gehörte nur ihm: dieser er-

62
loschene Herd, dieses vom Fleische noch blutige
Hackkbrett, dieser Mörser ohne Keule, in dem man
Zucker oder Pfeffer mit einem alten Glocken-
schwengel stoßen mußte.
Und mit derselben herrischen Ärmelbewegung
nahm er Besitz von der neuen Magd, die in stummem
Erstaunen diesen kahlköpfigen, spitzen Kopf vor sich
sah mit der fahlen, hier und da in rundliche Grübchen
eingefallenen Haut. Über den schmalen Lippen hing
die lange Habichtsnase herab fast bis an das hervor-
stoßende Kinn,
Die Vorliebe zum Nörgeln und beständigen Ärger
über sich selbst und andere prägte sich nur zu deut-
lich aus in dieser gekrümmten Gestalt, die sich so
weit vornüber bog, als wolle sie sich auf das von ihr
auserlesene Opfer stürzen.
Kleinen und hageren Wuchses, fuchtelte er, wie
ein Verrückter, fortwährend mit den Ärmeln herum
und verzog die Unterlippe in der nur ihm eigentüm-
lichen Weise.
Trotz all ihrer Hochachtnug vor jeder „Herr-
schaft“ vermochte Käthe sich nicht zu demütigen vor
dieser Gestalt, die im Halbdunkel des Küchenraumes
sich bewegte.
„Wie viel Mietsgeld gab dir meine Frau?“ fragte
der Mann im Schlafrocke, sich wie zum Sprunge auf
die Lauer stellend.
„Einen Guldenschein“, erwiderte sie.
„Heraus mit ihm!“
Vor Bestürzung fand Käthe keine Antwort ...

63
„Heraus mit ihm, sage ich! Wer kennt dich denn?
Gott weiß, was du für eine Herumtreiberin bist, die
morgen mich bestiehlt und davonläuft! Und dafür
soll ich dir noch etwas bezahlen? Die dumme Julia
macht es aber immer so. Mir nichts, dir nichts,
wirft sie das Geld auf die Straße, als wär’ esihr
Eigentum. Barmherziger Gott, was soll noch aus
mir werden!“
Dann trat er einige Schritte vor und kauerte, eine
lange, zerfaserte Schnur hinter sich herziehend, sich
an die Erde und fragte: „Soll hier etwa aufgewischt
sein? Nur der Schmutz ist verschmiert und morgen
schon wieder zu sehen. Das muß sofort besser ge-
macht werden.“
Dabei sah er sich überall um, als erinnere er sich
an etwas oder zähle es: „Da liegen vierzehn Stück
Holz für morgen Mittag. Das muß dir genügen.
Halte das Geschirr nur immer recht sauber; das ist
meine Arbeit und kostet mich nicht wenig!“
Plötzlich sprang er auf und ergriff mit dem
Armelstoffe den auf dem Tische stehenden Samowar.
„Barmherziger Gott!“ rief er aus und verschwand
mit dem Samowar in der nach der Stube führenden
Tür.
Käthe stand eine Zeitlang regungslos da, um die
Eindrücke zu ordnen, die dieser sonderbare Mensch
auf sie gemacht hatte, So erwartete sie seine Rück-
kehr. Schon jetzt fühlte sie, wie schwer dieser
Dienst sein werde. Leider aber hatte sie keine Wahl.
Wo sollte sie einen besseren finden mitten imQuartal?

64
In wahrer Todesangst begann sie den Fußboden
noch einmal aufzuwischen und schwitzte und keuchte
dabei in der Hitze und der hastigen Bewegung. Fort-
während sah sie auch nach der Tür. Der Mann mit
dem Samowar kehrte aber nicht zurück.
Allmählich sank die Dämmerung herab auf den
feuchten Fußboden und die dunklen Winkel, bis alle
Gegenstände nach und nach in der Finsternis des
engen Küchenraumes verschwanden.
Noch immer aber bewegte sich dort, wie eine
formlose Masse, die gekrümmte Gestalt Käthes, die
mit nervöser Hast fast unbewußt immer von neuem
den Fußboden aufwischte.
Endlich ging die Tür auf und herein trat die Haus-
frau, mit dem Samowar in der Hand.
Ihre kleine, breite Gestalt war im Dunkel kaum
noch in unsicheren Linien zu sehen, als sie den
Samowar auf den Tisch stellte und sich an die Wand
lehnte, als falle sie bald um vor Mattigkeit.
So stand sie ein Weilchen schweigend da, ohne
Käthe zu bemerken, die im äußersten Winkel der
Küche mitten im Wasser kniete.
Endlich erhob sie leicht den Morgenrock und schritt
dem Fensterchen zu, durch das noch ein matter Licht-
streifen fiel.
Dort blieb sie stehen, wandte Käthe das bleiche,
kränklich aussehende Gesicht zu und sprach langsam
mit zitternder Stimme die kaum vernehmbaren
Worte: „Hier war es doch wohl sehr schmutzig?“
„Allerdings, gnädige Frau. Das soll aber bald

5 Käthe 65
besser aussehen“, erwiderte Käthe, überglücklich, daß
ihre schöne Herrin sie so freundlich anredete.
„Mein Mann, das heißt der gnädige Herr“, ver-
besserte sie sich, „liebt die Ordnung. Danach mußt
du dich richten, ich bitte dich darum.“
Erstaunt hob Käthe den Kopf.
Wie? Ilre Herrin bat sie um Erfüllung ihrer
Pflichten?
„Noch einen Auftrag habe ich für dich“, fuhr die
Frau nach kurzem Zögern fort. „Du scheinst mir ein
gutes Mädchen zu sein. Diene mir nur immer treu,
du sollst es nicht bereuen. Wenn du den Samowar
hereinbringst und mich am Tische sitzen und eine
Semmel aus dem Korbe nehmen siehst, so geh’ sofort
zurück in die Küche und komme nach einem Weil-
chen wieder herein mit diesem Briefe. Gib ihn dem
gnädigen Herrn und sag’ ihm, ein Bote habe ihn
soeben gebracht. Dann geh’ wieder heraus und
komme nicht eher wieder, bis ich dich rufe.“
Bei diesen Worten streckte die Frau ihr weißes,
weiches Händchen aus, um Käthe den mit großen
Buchstaben adressierten Brief einzuhändigen.
Eine seltsame Verlegenheit ergriff sie beide. Käthe
trocknete sich, ohne von den Knieen aufzustehen, die
nassen Hände, nahm den Brief entgegen und schob
ihn hinter die Jacke.
Die Herrin gebot ihr also zu lügen und den Herrn
zu hintergehen. Im Gefühle, dies sei doch wohl
nicht recht gehandelt, suchte Käthe ihre Verwirrung
im Schatten der Dämmerung zu verbergen.

66
Die Frau aber zeigte beim matten Lichtschein, der
noch durch das kleine Fenster fiel, im bleichen Ant-
litze den Ausdruck leichter Besorgnis über diese er-
zwungene Erklärung vor einer Magd, die sie kaum
seit einigen Stunden kannte.
„Hast du mich verstanden und weißt du, was du
zu tun hast?“
Dies wußte Käthe allerdings, nur nicht, weshalb sie
es tun sollte.
Von ihrem Instinkte geleitet, fragte sie dennoch
nicht weiter, um nicht noch mehr diese bleiche Frau
zu beschämen, die so jämmerlich vor ihr stand und
fast erdrückt wurde von ihrer Lüge.
„Bedenke wohl“, fuhr die Frau mit sanfter Stimme
fort, „daß du vor allem bei mir dienst. Daher ver-
laß ich mich auf dich und befehle dir, zu schweigen.
Verrätst du trotzdem etwas dem Herrn, so jag’ ich
dich fort, mich aber setzest du den größten Unan-
nehmlichkeiten aus.“
Bei diesen Worten klang ihre Stimme jedoch
durchaus nicht drohend, sondern wie traumhaft ge-
dämpftes Schluchzen, welches dumpf verhallte in der
breiten Brust.
Tiefes Mitgefühl empfand Käthe plötzlich mit
dieser Frau, die so lügen mußte mit so schlecht ver-
hehlter Angst. Und mit der gewohnten Solidarität
unter Frauen gegenüber den Männern, beschloß sie,
so viel in ihren Kräften stand, dieser guten, blassen
Frau zu helfen, die so freundlich und offen zu ihr
sprach, während der Herr ihr nur die Stücke Holz

5* 67
zuzählte und mit dem Samowar in heller Ver-
zweiflung davon stürzte.
Mit dem Spürsinn der Mägde erkannte sie in Frau
Julia das willenlose Wesen, die schlechte Wirtin, die,
mit irgend etwas anderem außerhalb des Hauses be-
schäftigt, innerhalb ihrer vier Wände wie im Gast-
hofe lebte, ohne Zweck und ohne Wünsche. Außer-
dem erschien sie ihr höchst unglücklich und trotz
der Körperfülle kränklich.
Als sie zu ihr von den „größten Unannehmlich-
keiten“ sprach, schnürte es Käthe fast das Herz zu-
sammen. Diese Unannehmlichkeiten traten dem ge-
fühlvollen Mädchen vor Augen, wie ein Schreck-
gespenst, welches das Leben ihrer Herrin bedrohte,
„O! Gnädige Frau, Sie können ganz ruhig sein.
Mit eigener Hand will ich diese Unannehmlichkeiten
beseitigen und mit eigener Brust Sie decken vor
diesem Schreckgespenst!“ hätte sie sagen mögen.
Und, knieend zu Frau Julias Füßen, wollte das
wackere Mädchen, für einige sanfte Worte zu Gunsten
der Ärmsten, mit Freuden sich zu einer Lüge her-
geben und ihr ganzes Wesen ihr opfern, wie ein
treuer Hund.
So wurde denn stillschweigend im dunklen Küchen-
raum das Bündnis gegen den Gatten und Herrn ge-
schlossen, einerseits zum ehelichen Verrat, andrer-
seits im Wunsche, mit bliadem Gehorsam ein gutes
Wort zu vergelten. |
Beide Frauen, die soeben noch gar nichts mit
einander gemein hatten, verknüpfte jetzt das Band

68
des Geheimnisses: der in Kathes Jacke verborgene
Brief.
Frau Julia vertraute, dem ihr seltsam sym-
pathischen Wesen Käthes unterliegend, deren Händen
ihre ganze Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
an, unvorsichtig vielleicht, aber geleitet vom weib-
lichen Instinkte.
Dieses große, sanfte Mädchen mit den offenen,
ehrlichen Zügen konnte keinen Verrat im Innern
bergen. Vom ersten Augenblicke an fühlte Julia in
ihr die Bundesgenossin heraus. Hierbei rechnete sie
allerdings auch auf den unangenehmen Charakter des
Gatten, der beim ersten Anblick auf jeden einen
widerlichen Eindruck machte.
Beim Herausgehen befahl sie Käthe noch, die
Lampe anzuzünden und den Samowar sowie die
Tasseıı bereit zu halten, mit den sanften Worten:
„Beeile dich, mein Kind.“
Sofort erhob sich Käthe von den Knieen und stand
ein Weilchen da, das Gesicht mit den Händen be-
deckend.
„Mein Kind!“
Seit dem Tode der Mutter hatte sie diese Worte
nicht vernommen.
Jetzt gehörte sie mit Leib und Seele dieser guten
Frau an, deren Stimme unter der niederen Küchen-
decke noch widerhallte und die Luft mit süßem Duft
erfüllte. Mit der Lüsternheit eines Kindes berauschte
sich Käthe an diesen Worten, die so klein waren

69
gegenüber ihrer Riesengestalt mit den breiten
Schultern.
Während ihr Rock noch triefte vom schmutzigen
Scheuerwasser, stand sie in der dunklen Küche da,
wie betäubt vom süßen Klange dieser Worte.
Dieser ganze, durch die Rohheit der Männer ihr
so verleidete Tag verlor sein düsteres Gewand, als
diese Frau ihr zuflüsterte: „Mein Kind!“
Unbeschreibliche Wonne erfüllte ihr Herz und
schmiedete ihre Riesengestalt in die unzerreißbaren
Fesseln des Gehorsams.
In diesem kurzen Augenblicke verlor Käthe den
eigenen Willen und wurde zur Maschine in den
Händen ihrer Herrin. Diese Verwandlung glich der
Unterwürfigkeit eines Haustieres, welches lieber die
Hand leckt, die ihr Zucker reicht, als jene, die ihr
mit dem Stocke droht.

Als Käthe ins Eßzimmer mit dem Samowar ein-


trat, bot sich ihr ein ungewöhnlicher Anblick,
Auf dem Rohrstuhle saß beim runden Tische der
Hausherr vor einer Menge großer Bücher. Mit der
mageren, totenfahlen Hand wendete er hastig die
vergilbten Blätter um, die von oben bis unten be-
kritzelt und an den Rändern mit Zahlen bezeichnet
waren.
Etwa ein Dutzend dieser Bücher war von gleicher
Größe und rötlichem Einband mit abgestoßenen

70
Ecken. Teils lagen sie auf der Erde, teils auf oder
unter dem Tische. So groß waren ihre Vierecke,
daß der Herr, wenn er etwas suchen wollte, sich vom
Sessel erheben mußte, um die Blätter ganz über-
sehen zu Können.
Am Fenster saß schweigend Frau Julia und wandte
den Blick nach draußen, starr und regungslos, wie
in tiefes Sinnen versunken.
Das nicht große, viereckige EBzimmer mit einem
Fenster nach dem Hofe heraus hatte kahle Wände,
bemalt mit nußbraunen Rosen auf gelbem Grunde.
Ein uralter, kleiner Kredenztisch lehnte sich
schüchtern an die Wand und bildete mit dem stark
abgenutzten niedrigen Ledersofa und einigen
wackeligen Rohrstühlen die ganze Zimmerein-
richtung.
Durch die halb offene Tür sah man in das von
einer erlöschenden Lampe matt erleuchtete Schlaf-
zimmer. Dort standen zwei Betten von gleicher
Größe mit dunklen Überzügen.
An das Schlafzimmer grenzte der kleine Salon,
dessen Tür unmittelbar nach der sogenannten Haupt-
treppe führte. Ein Vorzimmer war also nicht vor-
handen.
Bei Käthes Eintritt wandte sich der Herr nicht
einmal ab von seinen Büchern, sondern sagte zu
seiner Frau mit heiserer, krächzender Stimms,
deren Klang dumpf von den Wänden widerhallte:
„Aha! Jetzt hab’ ich’s gefunden! ... Gekauft im
Iahre.. am 12. August, nachmittags 3 Uhr ... Sieh

71
her ... da steht es ... Ein Samowar mit Zubehör ...
Preis ein Gulden und achtzehn Kreuzer ... Über-
geben an Julia Budowska, geborene Weiß, meine
Ehefrau, und an Grete P., unsere Magd ... Komm
her ... Lies selbst ... Und damals war er noch wie
neu ... Sieh, hier steht es, von deiner eigenen Hand
geschrieben:
‚Einen ganz neuen Samowar erhalten
Julia Budowska, geb. Weiß.‘
Na, was sagst du nun? He?“
Und mit vor Wut zitternder Stimme zeigte er auf
die Unterschrift, Frau Julia aber erwiderte nichts,
sondern starrte unbeweglich hinaus in die Nacht.
„Jetzt aber“, fuhr die krächzende Stimme des
Mannes fort, indem er mit schmerzlichem Gesichts-
ausdruck auf den durch Käthe auf den Tisch ge-
stellten Samowar zeigte. „Barmherziger Gott, wie
sieht er jetzt aus! Sieh nur, ganz verbogen und
zerdrückt!“
Unruhig blickte Käthe nach der noch immer wie
im Traume versunkenen Frau. Hatte sie etwa den
Brief vergessen? Weshalb näherte sie sich nicht
dem Tische, um ihr das verabredete Zeichen zu
geben?
Endlich wagte sie es, sie anzureden:
„Gnädige Frau, das Wasser kocht schon!“ sagte
sie und hob den Deckel von dem Porzellankännchen,
welches den zerbrochenen Hals zwischen den beiden:
Fayencetassen emporreckte.
„Dummkopi!* zischte der Mann wiitend. „Dies

72
alles kommt mir zu. Ich schiitte den Tee ein,
denn das ist mein Tee. Sie hat damit gar nichts
zu tun! Verstanden? Reiche mir also den Tee.
Da oben auf dem Kredenztische steht er, in der
Blechbiichse. Dort nimm auch das Drahtkórbchen
heraus mit den Semmeln!“
Und nachdem er mit den Fingern ein winziges
Prischen Tee der Büchse entnommen, verschloß er
diese wieder sorgfältig und ließ sie wieder auf den
Kredenztisch stellen. Dann erst schüttete er den Tee
in das Kännchen.
Käthe hielt zwar jetzt ihre Anwesenheit im Zimmer
für überflüssig. Was aber sollte sie anfangen mit dem
Briefe? Beständig fühlte sie ihn auf der Brust; bei
jeder Bewegung rieb er sich daran mit seiner glatten
- Oberfläche und erinnerte sie an ihr Versprechen.
Leise schlich sie zur Tür und blieb dort stehen,
um die regungslose Gestalt ihrer Herrin zu beob-
achten. Dabei kam ihr doch der Gedanke, sie handle
unrecht, wenn sie ihr zu solchem Betruge verhelfe.
Dieser Herr war zwar ein böser Mann, ein wider-
licher Nörgler, ihr aber hatte er noch nichts Böses
getan. Und selbst, wäre dies der Fall gewesen, so
durfte sie dennoch nicht so gegen ihn auftreten.
Ungewiß und schwankend, wünschte sie lieber,
sich streng neutral zu verhalten und preßte daher
jenen unheimlichen Brief, der sie jetzt wie mit einer
Zentnerlast belud, immer fester an die breite Brust.
Inzwischen erhob sich der Herr und legte die
Bücher auf die Erde, um den Tee überzugießen.
Dies tat er ziemlich gewandt und suchte sodann
mit den klappernden Fingern die allerkleinsten
Stückchen Zucker heraus. Dann stellte die eine Tasse
an das andere Ende des Tisches und bat die Gattin
mit höflicher Handbewegung, an diesem bescheidenen
Imbisse teilzunehmen.
„Bitte, meine Gnädigste! Ist auch dieses Mahl
weit entfernt von jenen lukullischen im Hause Ihrer
Frau Mama, so geruhen Sie doch, mit Ihrer Be-
teiligung mich zu beehren. Gern biet’ ich Ihnen,
was ich bieten kann. Wie gut, daß dies wenigstens
etwas ist, denn von Ihrer Seite habe ich, außer
Grimassen und allerlei Gerümpel, leider gar nichis
zu erwarten!“
Jene Teestunde war nämlich die gewohnte Tages-
zeit, in der die Ansprüche dieses Mannes in den:
Vordergrund traten, — hauptsächlich wegen der
Enttäuschung, die er erlitten, weil er mit der Frau
nicht die erhoffte Mitgift erhielt. Nur deshalb entzog
er sie allen häuslichen Geschäften und nahm ihr alle
Selbständigkeit, indem er ihr beständig ihre Armut
vorwari und sie mehr als Magd denn als Gattin be-
handelte.
Sie aber nahm ihre Rolle hin in Demut und Ge-
horsam. Im Hause, welches für sie keinen Reiz mehr
hatte, schleppte sie sich von Winkel zu Winkel, ver-
mochte aber nicht, die Leere jenes törichten, schlecht
erzogenen Weibes auszufüllen, welches nicht Unter-
haltung in sich selbst, in Büchern oder nützlichen
Beschäftigungen findet.

74
Von Żeit zu Zeit besuchte sie ihre Mutter, eine ge-
fihmte Greisin, die in ihrer bescheidenen Wohnung
auf der Berlinerstraße dahinsiechte.
Meist ging sie allein dorthin. Denn ihr Gatte
mochte sie in seinem Ärger gar nicht sehen, „diese
alte Hexe, die ihn eingefangen“, wie er sie in seiner
mürrischen Laune nannte. Daher ließ Frau Julia
sich gewöhnlich nur von der Magd begleiten und
kehrte nach einigen Stunden nur noch bleicher und
abgespannter heim.
Budowski hielt seine Frau manchmal für eine Art
von Vampyr, der ihn materiell zu Grunde richtete.
„Bitte sehr, meine Gnädige“, fuhr er fort und
wandte sein Pergamentgesicht nach der noch immer
am Fenster sitzenden Frau. „Vielleicht sehen Sie es
besser bei der Lampe, was aus diesem schönen,
neuen Samowar geworden ist!“
Jetzt erst erhob sich Julia und näherte sich schein-
bar mechanisch dem Tische.
Soeben schlug es neun Uhr auf einem der benach-
barten Türme. Durch das offene Fenster schallte der
dumpfe Klang und verhallte an der niedrigen Decke.
Käthe stand noch an der Tür und zählte die Schläge,
als Julia sich an den Tisch setzte und ruhig ihren
Tee mit den Bewegungen einer Wachsfigur trank.
Mit forschenden Blicken beobachtete sie der Gatte.
Dieses ewige Schweigen und diese leichenähnliche
Starrheit beunrubigten ihn unbeschreiblich. So ver-
hielt sie sich fortwährend seit der Hochzeit, ohne
Spur von Erregung in dem bleichen, runden Gesichte.

75
Auch später, als er sie seelisch marterte, geriet sie
niemals in Aufwallung,
Manchmalwandelte ihn schon die Lust an, sie zu
schlagen, um sich zu überzeugen, ob sie sogar dann
nicht in Zorn ausbreche.
So saß sie auch jetzt ruhig vor ihm und wandte
ihm das wachsbleiche Antlitz mit dem gekräuselten
Blondhaar zu.
„Und heute hast du wieder einmal allein verfügt
ohne mein Wissen?“ fragte er, mit dem Löffel heftig
an die Tasse klappernd. „Eine neue Magd nahmst
du an, einen reinen Grenadier, und gabst ihr Miets-
geld? Vielleicht wieder solch’ einer Spitzbübin?“
Dieses Wort erklang so schrill wie das Klirren
eines scharfen Messers auf glattem Porzellan.
Unwillkürlich griff sich Käthe an die Stirn. Eine
Bewegung Julias unterbrach jedoch diesen peinlichen
Eindruck. Mechanisch, scheinbar unbewußt, streckte
sie die Hand aus und entnahm und zwar in aller
Ruhe dem Drahtkörbchen eine Semmel.
Leis erbebte Käthe, blieb aber doch an der Tür
stehen. Nur die Hände sanken ihr herab mit dem
Ausdruck des Unbehagens, als stehe sie an einem
Irr- oder Scheidewege.
Jetzt erst erhob Julia zu ihr die großen, fast farb-
losen Augen, als bemerke sie nunmehr erst die Magd
und wundere sich über deren Anwesenheit.
„Geh hinaus, mein Kind!“ sagte sie noch sanfter
als vorher in der Küche.

76
Das war ein Befehl und zugleich eine heiße Bitte
um Ausführung des beschlossenen Planes.
Gegenüber solcher Stimme fühlte Käthe sich
ohnmichtig. Ohne es zu ahnen, hatte Julia sie
mit ihrer Sanftmut förmlich hypnotisiert.
Mit völliger Entsagung verließ Käthe das Zimmer,
um den Brief unter der Jacke hervorzuziehen.
Dann schlug sie fromm ein Kreuz vor den Heiligen-
bildern und dem Tragöden, seufzte tief auf und trat
wieder ein.
„Bitte, gnädiger Herr, ein Brief ...“, sagte sie mit
leiser, gedämpfter Stimme.
„Was für ein Brief? Von wem denn?“ fragte
jener, griff hastig nach dem Papier und riß den Um-
schlag ab.
Julia schwieg nach wie vor, aß ihre Semmel und
starrte vor sich hin.
Glücklich, daß sie der für sie so peinlichen Frage:
„Wer brachte ihn!“ entging, eilte Käthe zurück zur
Tür. i
„Halt!“ rief Budowski. „Du wirst noch gebraucht.
Da hast du ihn“, wandte er sich an seine Frau. „Er
ist von deiner Mutter. Ich kann dieses Gekritzel
nicht lesen. Was will sie denn schon wieder, diese
alte ? ?“
Die letzten Worte sprach er mit unverhehltem Ab-
scheu. Langsam nahm Julia den Brief entgegen, um
ihn zu lesen. Ihr Gatte saß noch auf seinem Lehn-
stuhl, ärgerlich über dieses dumme Geschreibsel
einer Frau, die, nach seiner Meinung, auf ihrem Gelde

77
hockte und nicht einmal für die Tochter etwas her-
geben wollte.
Und nur in der festen Überzeugung, daß Julias
Mutter große Reichtiimer besitze, erlaubte er seiner
Frau, sie zu besuchen. Endlich einmal, so meinte er,
werde sie doch gerührt werden und die Tochter für
ihre Anhänglichkeit belohnen, ihn selbst aber für die
Enttäuschung entschädigen betreffs der Mitgift, auf
die er gerechnet, als er jene zum Altar führte.
Aber selbst die Hoffnung, einmal irgend etwas von
ihr zu erhalten, besänftigte nicht seinen Zorn beim
Anblicke dieser plumpen Buchstaben, welche die
arme Alte mit zitternder, halbgelähmter Hand ge-
kritzelt, und zwar immer nur, um die Tochter um
deren Besuch zu bitten.
„Wer hat den Brief gebracht?“ fragte er ur-
plötzlich.
Käthe aber schwieg. Viel tat sie schon ihrer
Herrin zu Liebe; zu schwer aber fiel es ihr, die eigene
Stimme eine Lüge aussprechen zu hören in dieser
Stille. o!
Flehentlich wandte sie daher den Blick nach Julia,
die nur mit Mühe die zitternde, undeutliche Schrift zu
entziffern schien.
Plötzlich kam ihr der Zufall zu Hilfe: Der Samo-
war, dem das Wasser ausging, zischte eine förm-
liche Melodie und schien sich über das Feuer zu be-
klagen, welches seinen Blechkörper zu schmelzen
drohte.

78
„Barmherziger Gott! Hol schnell den Stópseł,
sonst schmilzt die Lötung!“
Sofort eilte Käthe in die Küche und brachte das
Gewünschte herein.
Inzwischen hatte Julia den Brief durchgelesen und
ihn neben ihre Tasse gelegt. Mit unerschütterlicher
Rube trank sie ihren schon kalt gewordenen Tee aus
und starrte wieder vor sich hin.
„Du!“ rief ihr Gatte Käthe zu. „Zieh’ dich schnell
an und begleite die gnädige Frau!“
Seine Stimme war inzwischen kräftiger und lauter
geworden. Obgleich er seiner Frau kein Wort sagte,
wußte sie jetzt, daß sie zu ihrer Mutter gehen dürfe.
Ohne sich zu beeilen, erhob sie sich und schritt
langsam, als wolle sie sich zu einem Spaziergang
ankleiden, nach dem Schlafzimmer.
Zuvor hatte sie jedoch den Brief vom Tische ge-
nommen. Im Schlafzimmer verbarg sie ihn hastig in
einer kleinen Pillenschachtel und legte diese in die
Kommode unter das Weißzeug.
Dann erst zog sie sich an. Wenig besorgt um ihr
Äußeres, tat sie das im Dunkeln und war schnell
damit fertig, Ohne Handschuhe, in Pantoffeln, un-
frisiert, im langen dunklen Radmantel, huschte sie
Schnell durch das Eßzimmer, ohne ihren Mann zu be-
achten, der noch immer über seinen Rechnungs-
büchern hockte.
„Komm nur bald wieder!“ rief er ihr nach.
„Wenn sie schon tot ist, hast du nichts mehr dort

79
zu schaffen! Schließ nur alles fest zu und nimm den
Schlüssel mit dir!“
Beide Frauen atmeten auf, als sie sich auf der
Straße befanden.
Eben schlug es halb zehn Uhr in der Stadt. Wegen
des Feiertages war es heut stiller und menschen-
leerer auf den Straßen. Ein erleuchteter Tram-
wagen rolite klingelnd vorüber, aber unbesetzt. Nur
der Schaffner im hellen Anzuge machte sein Schläf-
chen. Leere Droschken fuhren von der Bahn zurück
mit lautem Gerumpel auf dem holperigen Pilaster.
In den Fenstern der Häuser schimmerte nur noch
mattes Licht hinter den Vorhängen. Nur hie und da
noch brannten helle Schabbeslichter.
. Hastig eilte Frau Julia der Stadt zu und gebot
Käthe mit einer Handbewegung, mit ihr Schritt zu
halten. Schwer atmend sprach sie kein Wort.
Offenbar hatte sie große Eile.
Als Käthe bei Laternenschein ihr ins Gesicht sah,
wunderte sie sich unwillkürlich über dessen Ver-
änderung. Fortwährend zog die junge Frau die
Brauen zusammen und !ieß den Blick, wie spähend,
die Straße hinabschweifen.
Gewiß war sie so unruhig, weil die Mutter so
schwer krank darniederlag ...
Käthe war darüber tief gerührt. Hatte sie doch
auch einst eine Mutter und liebte sie so sehr. Gar
manchmal, wenn diese krank war, lief Käthe un-
ruhig zu ihr aus der Fabrik, zitternd vor einer Ver-'

80
schlimmerung. Ach! Und jener traurige Abend,
als sie die Mutter tot im Bette fand ...
Mein Gott! Wie weh tat ihr damals das Herz.
Welch heiße Tränen weinte sie beim Anblick ihres '
kalten, toten Mütterchens!
Fände diese gute Frau die Mutter auch tot im
Bette, das wäre schrecklich! ...
Plötzlich eilte Julia quer über die Straße. Bei der
Kirche hielt eine geschlossene Droschke und vor
dieser schritt ein Mann von stattlicher Gestalt auf
und ab. Seine brennende Zigarre erhellte manchmal
sein regelmäßiges Gesicht, bis es wieder verschwand
im Schatten, wie eine phantastische Erscheinung.
Auf dem Bocke schlief der Kutscher und wartete
mit philosophischem Gleichmute auf den Befehl, wo-
hin er fahren solle. Der magere Gaul überließ sich
mit gesenktem Kopf und krummen Knieen seinem
Schicksale. Der häßliche, schwarze, verdeckte
Wagen glich dem vor der Kirchentür stehenden
Leichenwagen eines Armen.
Julia eilte auf den Mann zu, der sie am Wagen-
schlag erwartete, ihr dann die Hand reichte und die
Zigarre fortwarf, um sie mit dem Fuße auszutreten.
Ermattet vom schnellen Lauf und wie betäubt von
der Nachtluft, lehnte sie sich ein Weilchen an das
Kutschenleder.
„ich warte schon eine halbe Stunde“, fliisterte er
mit leisem Vorwurf in der Stimme.
„Du weißt ja, wie schwer es hält ... Ich konnte
nicht eher fort“, erwiderte sie, schwer aufatmend.

6 Kathe 81
Jetzt erst erinnerte sie sich Käthes, die im Schatten
stand und nach der vom gelblichen Lichtschein der
Droschkenlaterne matt erhellten Herrin blickte.
Schnell sie herbeirufend, befahl sie ihr: „Geh
nicht gleich nach Haus und erst nach einer halben
Stunde in die Küche. Wenn der Herr dich fragt,
wohin du mich begleitest, so sagst du: nach der
Berlinerstraße. Dann leg dich schlafen und laß die
Tür offen. Schieb den Riegel zurück, wenn der
Herr schläft! Verstanden?“
Käthe schwieg, als sie sah, wie sie unbewußt in
ein immer schlimmeres Labyrinth von Lügen geriet,
die sich aneinander reihten, wie Perlen an der
Schnur.
„iu ja alles, worum ich dich bat“, fügte Julia
hinzu, als sie schon neben dem Manne in der
Droschke saß, Dabei strich sie Käthe die Backen,
vorüber diese unwillkürlich lächeln mußte.
„Heda!“ rief sie dann dem schlaftrunkenen
Kutscher zu. „Fahrt uns durch den Schlagbaum
zum Tore hinaus!“
Und langsam den schwarzen Kasten hin und her
wiegend, setzte sich die Droschke in Bewegung und
rollte über das holprige Pflaster ...
Gepreßten Herzens und wie betäubt begab sich
Käthe auf den Heimweg. Die Herrin fuhr durch den
Schlagbaum zum Tore hinaus und die Mutter wohnte
doch offenbar, wie‘ sie dem Herrn sagen sollte, in
der Berlinerstraße. Wozu fuhr sie davon im ge-
schlossenen Wagen mit jenem Mann, der so Arger-:

82
lich darüber war, daß er „schon eine halbe Stunde
gewartet“? Sie nannte ihn du und ihr Gesicht ver-
klärte sich vor Glück, als er ihre Hand berührte ...
Ihr Bruder konnte es doch nicht sein, sonst wäre
er zu ihr ins Haus gekommen und nicht bei Nacht
und Nebel mit ihr zum Tore hinausgefahren. Also
konnte er nur ihr Geliebter sein! Käthe wurde es
trotz der kühlen Nacht siedend heiß in allen Gliedern.
Ganz allein miteinander fuhren sie, wer weiß wie
weit davon in dem verdeckten Wagen durch die
dunklen Gäßchen der Vorstadt. Mit seltsamer Aus-
dauer mußte Käthe immer wieder daran denken.
Und sie hatte der Herrin zu diesem Stelldichein
verholfen und sie dorthin begleitet, bis an den
Wagenschlag. Das war schlimm, sehr schlimm!
Das ist eine schwere Sünde, wenn eine Ehefrau
einen Geliebten hat! Und ein Teil der Schuld fiel
auf sie, das wußte sie nur zu gut!
Traurig und schweren Herzens wankte sie durch
die Straßen, sodaß sie wiederholt an Vorüber-
gehende anstieß.
Und was wurde aus der alten Mutter, der armen
Kranken? Mein Gott! Ihr war es, als höre sie im
Rasseln der dahinrollenden Droschke das Achzen
der. von der schlaflosen Nacht zermarterten Ge-
lähmten.
Wüßte sie deren Wohnung, eilte sie dorthin, um
nachzusehen, ob sie ihr nicht etwas nutzen könne.
So aber wußte sie nur, sie wohne in der Berliner-
straße.

6* 83
Allmählich bis zur Haustür der Herrschaft gelangt,
überlegte Käthe einen Augenblick, was sie tun solle.
Da die Herrin ihr befahl, erst nach einer halben
Stunde heimzukehren, wollte sie vor der Tür noch
so lange warten und dann sich in die Küche
schleichen, um etwaigen Fragen seitens des Herrn
auszuweichen. Vielleicht würde ihr dies gelingen...
Daher lehnte sie sich an die Wand hinter der
Haustür. Plötzlich erhob sich jemand aus der Ecke
ihr gegenüber und näherte sich ihr. Beim Scheirne
der Straßenlaterne erkannte sie Johann und
flammendes Rot übergoß ihre Wangen. Was mußte
er von ihr denken, wenn er sie abends so vor der
Tür stehen sah. Welches Licht warf es auf sie,
wenn sie gleich am ersten Abende nach Antritt
ihres neuen Dienstes so müßig ging.
Fast grollte sie der Herrin, die sie so dem Ver-
luste der guten Meinung in Johanns Augen aus-
setzte. Gewiß hielt Johann sie für leichtfertig und
darin hatte er ganz recht. Sich entschuldigen oder
ihn aufklären durfte sie aber nicht, ohne das Ver-
trauen der Herrin zu täuschen und sie den größten
„Unannehmlichkeiten“ auszusetzen.
Schweigend mußte sie daher das zweideutige
Lächeln hinnehmen, mit dem Johann sich ihr.
näherte. |
„So allein, Fräulein? Warten Sie vielleicht auf:
— ihn?“ fragte er, kokett seinen abgetragenen:
Kittel glattzupfend.

84
Die Schürze hatte er schon abgenommen und
beim Laternenschein glänzte sein sauber gewaschenes
Gesicht und sein pomadisiertes Haar.
Er liebte Hut oder Mütze nicht und zog es vor,
seinen Schädel in der Abendluft zu kühlen. Dann
dünsteten ihm, wie er sagte, die Gedanken besser
aus, und morgen hatte er den Kopf frei.
„Mein Kopf ist nicht von Stroh!“ fügte er hinzu
und Klopfte mit dem Finger an die Stirn. „Nur des-
halb sitz ich — wenigstens heute — so allein vor der
Tür“, flüsterte er bedeutsam mit dem Lächeln eines
Mannes, der Glück bei den Weibern hat.
Dabei wünschte er, Käthe solle ihn als Eroberer
weiblicher Herzen anerkennen, damit er auch sie
um so leichter moralisch erobern könne.
Sie aber wich scheu zurück, ganz betroffen von
der unerwünschten Begegnung und im Gefühle der
peinlichen Lage, in der sie sich ihm gegenüber be-
fand.
„Fräulein, Sie sind wohl verliebt?“ fragte er
plötzlich, indem er sich breit vor sie hinstellte.
„Ich? Ach, damit hat es keine Not“, erwiderte sie,
laut auflachend, trotz ihres Kummers.
In wen sollte sie verliebt sein? Erst mußte
sie doch einen Mann näher kennen lernen, eh’ er ihr
in den Sinn kam. Übrigens hatte sie dazu gar keine
Zeit. Von Kindheit an mußte sie schwer arbeiten
und nach dem Tode der Mutter noch zwei kleine
Schwestern beaufsichtigen. Zu solch’ einer Lieb-
schaft gehörte viel freie Zeit, wenigstens Sonntags,

85
und bei der Arbeit denkt man nicht an solche Dumm-
heiten.
Johann glaubte ihr jedoch nicht und schüttelte
lachend den Kopf. Wie? Solch’ ein strammes
Mädchen sollte noch keinen Schatz haben, keinen
schmucken Korporal oder Ulanen? Dies erschien
ihm rein unmöglich! In seinen Kreisen kam so
etwas gar nicht vor.
Führte sich Käthe wirklich so gut, so wäre dies
eine seltene Ausnahme. Auf dem Schützenplatze
wurde einst in einer Leinwandbude ein Naturwunder
gezeigt: ein Kalb mit drei Beinen. Dies Mädchen
verdiente, so meinte Johann, in gleicher Weise für
Geld gezeigt zu werden. Ha! Wer weiß, viel-
‚leicht ...
Trotzdem überwog bei ihm der Unglaube und mit
ironischen Lächeln wiederholte er den schalen
Witz, den er einst in einer feinen Bierstube gehört
und zu gelegentlicher Anwendung sich gemerkt
hatte: „Wissen Sie nicht, Fräulein, daß das Narren-
schiff untergegangen ist mit Mann und Maus?“
Dabei sah er ihr keck in das Gesicht, um zu er-
forschen, welchen Eindruck dieser Witz auf sie
mache. Sie aber blieb unempfindlich, aus dem ein-
fachen Grunde, weil sie ihn nicht verstand, In-
stinktiv nur fühlte sie, daß er ihr nicht glaube, und
dies berührte sie höchst schmerzlich.
Als ordentliches Mädchen war sie stets besorgt
um ihre Ehre, und Johanns gute Meinung von ihr
ging ihr über alles. Zwar kannte sie ihn erst seit

86
heute, wünschte aber doch, er sehe sie nicht für die
Erste Beste an.
„Herr Johann, Sie woll’n mich wohl zum besten
halten?“ fragte sie gemessen, indem sie nach- den
Baumwipfeln hinter der Klostermauer blickte. „Aber
spotten S’ nur, soviel Sie woll'n: was wahr is’,
bleibt wahr. An solche Dummheiten dacht’ ich
noch gar nich’, weil ich keine Zeit dazu hatte, und
dann —“
Hier brach sie ab, um sich nicht vor ihm zu ver-
raten mit ihrem süßesten Traume. Innig wünschte
sie einmal zu heiraten und zwar einen braven Hand-
werker.
Ein sauberes, helles Stübchen, ein ehrlicher Name,
ungetrübte Sonntagsruhe und die beseligende Gewiß-
heit, einen guten Mann und ein eigenes Heim zu be-
sitzen, das war ihr süßester Traum.
Da sie jedoch nicht wollte, daß Johann dies er-
fahre, brach sie’mitten im Satze ab. Gleichwohl
schien er ihr Geheimnis zu erraten. Denn er fragte
mit tiefer Verbeugung und schelmischem Augen-
blinzeln: „Aha! Heiraten wollen Sie, Fräulein? O
jal- Das ist ja eine Seltenheit! Das lohnt sich ja
gar nicht!“
„Weshalb denn nich’?“ entgegnete sie und blickte
ihm erhobenen Hauptes in das spöttische Gesicht.
„Besser is es doch, sein eigenes Heim zu haben, als
all sein Leben lang für andre sich abzuplagen!“
„Müssen Sie dies etwa nicht auch für den Herrn
Gemahl?“ rief er, mit der Hand fuchtelnd. „Solch’

87
ein Mann will immer, daß sein Weib für ihn arbeite.
Das ist einmal seine Bedingung! Und nehmen Sie
gar einen ohne den Segen der Kirche, dann ist's
vollends aus. Dann nimmt er sie einfach beim
Schopfe und Sie dürfen gar nicht mucksen!“
„Es gibt aber doch so viele Verheiratete in der
Welt!“ erwiderte Käthe und blickte ihm wieder in
die im Laternenschein seltsam funkelnden Augen.
„Sollen etwa, weil eine so dumm ist, es alle
übrigen sein?“ rief er fast zornig. „Wozu soll man
sich ewig binden? Ist es nicht besser, man lebt so
zusammen? Dann kann man sich frei geben, wenn
man will und braucht sich nicht herumzustreiten
sein Leben lang!“
Noch scheuer wich Käthe vor ihm zurück und
fragte: „Wie kann ein anständiges Mädchen sich
auf sowas einlassen? Halten S’ mich noch immer
zum Narren, Herr Johann?“
Mit unbeschreiblicher Verachtung blickte er sie an.
Jetzt erschien sie ihm geradezu lächerlich. So stolz
war er auf seine angeblich „fortschrittlichen* Ideen,
die er in Kneipen oder von Studenten als deren
Stiefelputzer aufgeschnappt, daß er sie überall als
seine feste Überzeugung verbreitete, und daß er
jeden niederschmetterte, der ihm widersprach.
Daher hielt er es auch nicht für angemessen, die
begonnene Unterhaltung fortzusetzen. Augenschein-
lich hatte er sich in ihr geirrt. Das war keine für
ihn, eine, die sich verheiraten will und dabei die
Fromme spielen!

88
Heiraten wird er sie gewiß niemals! ... Und mit
größter Geringschätzung pfiff er den Gassenhauer
‚Mein Herz ist wie ein Taubenschlag“ und gab da-
mit zu verstehen, daß für ihn dies ganze Zwie-
gespräch beendet sei.
Käthe stand ein Weilchen da und fühlte sich tief
beschämt und gedrückt. Weshalb brach er die
Unterhaltung so plötzlich ab und verzog den Mund
so sonderbar, als er sie ansah? Hatte sie doch
nichts gesagt, was ihn verletzen Konnte, sondern
im Gegenteil die Worte so gewählt, daß sie ihm
nicht als gar zu beschränkt und gewöhnlich vor-
kommen sollte ...
Eben schlug es zehn Uhr auf dem Rathausturme.
Wie schwere Seufzer fielen die dumpfen Schläge
auf die Dächer der schlummernden Häuser. Immer
weniger Leute gingen vorüber. Desto mehr
Droschken aber rollten zum Bahnhofe. Immer
wieder erschienen an der Straßenecke helle Punkte,
wie riesige funkelnde Tieraugen, bald größer, bald
kleiner, je nach der Bewegung der Droschke.
Aufmerksam verfolgte Käthe diese Lichterchen,
in der Hoffnung, endlich werde vor der Tür eine
dieser Droschken halten und die Herrin dort aus-
steigen, um mit ihr zugleich hinaufzugehen.
Dies wäre für sie ein großer Trost gewesen, weil
sie allen Fragen des Herrn auszuweichen wünschte,
die sie nicht anders, als mit — Lügen beantworten
Konnte.

89
Alle Droschken aber rollten voriiber, als ver-
folgten sie sich im Dunkel, bis sie endlich darin ver-
schwanden. Bald darauf tónte es abermals in der
Luft. Die immer falsch gehende Uhr der Pauliner-
kirche schien in verspätetem Echo die vorhin vom
Rathausturm verkündete Stunde zu wiederholen.
Endlich begann Johann sich zu rühren. Die Zeit
zum Türschließen war gekommen, und er liebte bei
diesem Geschäfte die Pünktlichkeit. Daher hielt er
es für angemessen, die noch immer regungslos da-
stehende Käthe zu fragen, wie lange sie hier noch
stehen wolle.
„Fräulein, wenn Sie noch jemand erwarten“, sagte
er anzüglich, „so müssen Sie draußen bleiben, denn
jetzt muß ich die Haustür zuschließen. Wenn der
„Bräutigam“ kommt und Sie genug mit ihm ge-
plaudert haben, so klingeln Sie nur und bezahlen
mir, was mir zukommt.“
Wohl wußte er, daß er sie damit kränke, doch
tat er dies absichtlich. Ihrer Antwort harrend, er-
wartete er, sie werde ihn im Zorn mit einer Flut
von Schmähworten überschütten oder ihn
wenigstens ordentlich abführen.
Käthe aber verließ in aller Ruhe den dunklen
Türpfosten und verschwand, ohne auch nur mit
dem Kopfe zu nicken, im Hausflur.
Auf der Treppe blieb sie ein Weilchen stehen
und lehnte sich an das Geländer.
„Am besten tu’ ich, wenn ich gar nicht mehr mit
ihm spreche“, dachte sie, ohne sich selbst den Un-'

90
willen zu gestehen, den Johanns Worte in ihr er-
regten.
An der Haustür hieß er sie warten auf den
„Bräutigam“ —! Gewiß, darin hatte er vollkommen
“recht: Welches ordentliche Mädchen steht vor der
Tür zu so später Stunde? War dies aber ihre
Schuld? Wäre nicht die Herrin gewesen, sie säße
jetzt in der Küche beim Abwaschen. Er aber mußte
sie auslachen, da er sie noch so wenig kannte.
Noch auf der Treppe beschloß sie daher, jede
weitere Unterhaltung mit ihm zu vermeiden, Redete
er sie zuerst an, so würde sie ihm mit Kopfschiitteln
antworten.
Gleich am ersten Tage wurde er ihr zu vertrau-
lich, und dies liebte sie nicht.

eim Eintritt in die Küche traf Käthe dort den


Hausherrn, der mit einem Zettel in der Hand auf
einem Küchenstuhle saß, bei ihrem Anblicke auf-
sprang, sich aber soforf wieder niederließ.
Mattes Lampenlicht fiel auf seine glänzende
Glatze.
„Bist du endlich wieder da?“ zischte er ärgerlich.
„Schon dacht’ ich, du seiest ins Wasser gefallen oder
der Polizei in die Hände! Weißt du schon, was wir
morgen zu Mittag essen sollen? Kannst du denn
überhaupt kochen? Gewiß gibst du nur unnütz Geld

9
aus und verdirbst alles! Barmherziger Gott, was
soll das werden!...“
Unter schweren Seufzern gab er ihr endlich den
Kiichenzettel und rechnete ihr vor, wie viel Pfund
Fleisch und Mehl und sogar wieviel Petersilienblätter
sie dazu brauche.
Dies alles sprach er hastig, zischend und öfters
aufhustend. i
Fast betroffen stand Käthe vor ihm, durch Ge-
dächtniskraft zeichnete sie sich niemals aus. Daher
fiel es ihr schwer, all diese Kleinigkeiten zu merken,
die er ihr herzählte.
Dieser über alle Töpfe und Kasserollen gebietende
Herr war ihr eine völlig neue, fast nieder-
schmetternde Erscheinung. Bisher hatte sie nur Be-
“fehle aus dem Munde einer Frau vernommen,
In den ihr bekannten Ehen spielte der Herr mehr
die Rolle eines Gastes im Hause, für dessen Wäsche,
Nahrung und Bequemlichkeiten zu sorgen war,
Inihren Augen war daher der Herr ein höheres
Wesen, die Achse, um die sich alle die kleinlichen
Wirtschaftsgeschäfte drehten.
Betrat sie zum Beispiel das Zimmer, in dem sich
ihr früherer Herr gewöhnlich aufhielt, so empfand
sie eine seltsame Angst und seine Blicke brannten
auf ihr wie glühendes Eisen, Für sie war der Herr
eine Art von Donnergott, der sie zu Staub zer-
malmen, der Polizei überliefern und sogar töten
konnte,

92
Der Herrin gegeniiber war sie weit unbefangener;
sie erschien ihr als eine den Launen des Herrn unter-
worfene Sklavin, wie sie selbst es war, nur besser
gekleidet und nicht monatlich bezahlt.
Daher vernachlässigte Käthe sie oft um des Herrn
willen und ließ sie auf zerbrochenen Tellern und mit
schlechtgeputzten Gabeln essen.
So war es bisher gewesen, ganz anders aber bei
der neuen Herrschaft.
Käthe hätte sich weniger gewundert über eine
plötzlich beim Wasserholen von ihr wahrgenommene
Veränderung im Sonnensystem, als über diesen aus-
getrockneten Mann, der im schäbigen Schlafrock
mitten in der Küche saß und mit schnarrender
Stimme herzählte: „Ein halb Pfund Mehl ... Für
fünf Pfennige Gries.“
Diese Worte erfüllten den Küchenraum mit dem
Geruche nach armen Leuten, nach Pfennigfuchserei
und nach angebranntem Fett in zerbrochenen Tiegeln
und Pfannen,
Mit der Peinlichkeit eines Beamten zählte Bu-
dowski alle Zutaten auf für morgen zum Mittag-
essen und bestimmte gleichzeitig den Betrag für den
kleinsten Einkauf.
Dieser Hagel von Ziffern und Zahlen fiel fast er-
drückend auf Käthes armen Kopf herab und
schwächte bei ihr die hohe Vorstellung von dem
„Herrn“, die sie bisher tief in der Seele gehegt.
Von jetzt ab, das fühlte sie, mußte sie über all
ihr Thun diesem Manne Rechenschaft geben, der in

93
sich die Wirtschaftlichkeit der Hausfrau mit der
Macht des Hausherrn vereinte.
Daher stand sie zwar in ehrerbietiger Haltung,
aber hóchst erstaunt, fast verdutzt, da und starrte
auf den Lichtschein, der auf den glänzenden Schädel
des vor ihr sitzenden Mannes fiel. Dieser Lichtschein
beunruhigte und zerstreute sie umsomehr, als er so
grell abstach von der schmutzigen Wand, bald
größer, bald kleiner, je nach den Bewegungen des
Mannes.
Plötzlich erhob sich Budowski und schritt nach
dem Eßzimmer.
„Komm, unterschreib’ das Inventar“, sagte er in
feierlichen Tone, indem er Käthe an den Tisch
führte, auf dem bei hellem Lampenlichte ein
schwarzes Buch lag. „Unterschreibe, was du über-
nommen und in welchem Zustande es ist. Um Gottes-
willen aber zerbrich und beschädige mir nichts!“
Und mit dem Starrsinn eines Verrückten las er
ihr alle die Geräte vor, die sich in der Küche befinden
sollten: Töpfe und Tiegel, Kasserolle und Pfannen,
Krüge und Kannen, Siebe und Durchschläge, dies
alles floß von seinen Lippen, als brüste er sich fórm-
lich mit dem Überfluß rings um sich her. Indem er
jede Kleinigkeit angab, überschätzte er deren Wert
und erhob sie fast zu einem Kleinode.
Der wirre Sinn des Alten drehte sich beständig
im engen Kreise jener drei Stuben nebst Küche
herum und die Überanstrengung seiner geistigen
Kräfte über die einförmige Bureauarbeit hinaus

94
machte ihn zu einem von der Manie des Geizes
heimgesuchten Sonderlinge. In jedem Hausgenossen
sah er eine Art von Vampyr, der sein Blut und seine
Taschen aussauge und sein in jahrelanger Müh’ und
Arbeit erworbenes Eigentum vernichte.
Nachdem er ihr das ganze Verzeichnis vorgelesen,
rief er Käthe an den Tisch, reichte ihr Feder und
Tinte und zeigte ihr die Stelle unten auf der Seite,
wo sie ihren Namen unterschreiben solle.
Beschämt, ohne sich zu rühren, stand sie vor ihm.
Schreiben sollte sie? Mein Gott, das hatte sie nicht
gelernt, kaum lesen konnte sie. Ihr Mütterchen ließ
sie nichts weiter lernen. So lang sie klein war,
kümmerte sich niemand um sie, außer, daß man ihr
siebenmal täglich zu essen gab. Und als sie heran-
wuchs, herrschte Not in der Hütte und Käthe mußte
in die Fabrik auf Arbeit gehen, Dies alles aber konnte
sie doch unmöglich dem Herrn sagen.
Daher drehte sie hartnäckig die Finger, bis die
Gelenke knackten, so beschämt war sie und so ver-
legen. Am liebsten wäre sie samt dem Tische und
dem Unglücksbuche in den tiefsten Keller gesunken,
um nichts mehr zu sehen von der Gotteswelt.
Budowski wurde schon ungeduldig. Warum unter-
schrieb sie nicht? Fiel es ihr vielleicht zu schwer,
die Verantwortlichkeit für so viele schöne Sachen zu
übernehmen? Dann mag sie sich schleunigst einen
anderen Dienst suchen! Das Mietsgeld aber muß sie
berausrücken und eine andere Magd besorgen.

95
Käthe ward es stockdunkel vor den Augen. Wieder
ohne Stelle? Zurück in Rosas Stübchen? Nimmer-
mehr! Diese Gefahr gab ihr Mut.
„Gnädiger Herr!“ begann sie mit leiser Stimme.
„Ich... ich... kann nicht schreiben... deshalb ...“
„Dummkopf!“ unterbrach er sie. „So mach’
wenigstens drei Kreuze darunter, das genügt!“
Mit zitternder Hand ergriff sie die Feder und
machte einen krummen Strich und darunter einen
riesigen Klex. Der zweite (Quer)strich aber durch-
schnitt das Papier und hinterließ auf dem weißen
Blatt einen ungleichen Schlitz.
„Barmherziger Gott! Dies Rindvieh verdirbt mir
das ganze Buch. Wie wirst du erst mit dem dir
anvertrauten Küchengerät umgehen, wenn du solche
Lumperei nicht einmal ordentlich machen kannst!“
Käthes Verwirrung fand keine Grenzen. Mit ihrem
Bauernverstand erriet sie jedoch den Mangel an
Logik in seiner Beschimpfung. Für die Küche war sie
gemietet, nicht zum Schreiben. Wenn sie den Löffel
im Kochtopfe rührt, wird sie diesen nicht zerbrechen.
Mit dem Papier ist es etwas anderes.
Gleichwohl erwiderte sie nichts, denn er war
immerhin ihr „Herr“, wenn er ihr auch etwas ver-
schroben erschien. Daher ging sie still in das Schlaf-
zimmer, um die Betten zurecht zu machen.
Dabei dachte sie bei sich: Wenn der junge Mann,
der auf ihre Herrin wartete, deren Geliebter war,
weshalb plauderten sie nicht lieber vor der Tür oder
gingen nach dem Schloßgarten... War doch die

96
Nacht so wundervoll!... Übrigens mag die Herrin
tun was sie will, Käthe hatte damit nichts zu schaffen.
Das eine wußte sie jedoch, daß jene eine Sünde
tat. Denn mochte der Herr noch so widerlich und
häßlich sein, so ziemte es sich doch nicht, ihn so
schändlich zu hintergehen. Geht die Herrin zur
Beichte, so wird ihr der Priester keine Absolution
geben. Käthe würde lieber sterben, wenn er ihr dies
versagte.
Obgleich sie das brennende Lämpchen vor das
Bett des Herrn stellte, verblieb das Schlafzimmer im
Halbdunkel und nur die matten Umrisse der beiden
Betten mit den rotwollenen Decken traten deutlicher
hervor.
Darüber hingen zwei Heiligenbilder in vergoldeten
Rahmen — die Mutter Gottes und der Heiland mit
der Dornenkrone.
Budowski saß auf seinem Bette und starrte auf die
kaum noch sichtbaren Felder der gewürfelten Bett-
decke, während Käthe die Fenstervorhänge zuzog
und auf das Nachttischchen vor dem Bette der Herrin
eine Wasserflasche stellte.
Eine wahre Karikatur bildeten diese beiden durch
die unzerreißbaren Fesseln der Ehe zusammen-
geschmiedeten Leute. Während er die Felder seiner
Bettdecke zählte, lauschte sie vom Rollen der
Droschke gedämpften Liebesworten! ...
In die Küche zurückgekehrt, um die Tassen abzu-
waschen und den Samowar zu putzen, fühlte Käthe
jetzt erst, daB sie — hungrig war. Hastig aß sie daher

7 Käthe 97
die für sie bestimmte Semmel und trank den schon
ziemlich abgekühlten Tee. Ihr riesiger Körper ver-
langte nach festerer Nahrung, da die Arbeit des
Tages ihren Appetit mächtig anregte. Gleichwohl
mußte sie sich mit der ihr vom Herrn zuerteilten
schmalen Kost genügen lassen.
Das zu Einkäufen in der Stadt bestimmte Geld
blinkte auf dem Küchentische in Gestalt zweier
blanker Zwanziger. Sorgfältig wickelte sie es in ein
Läppchen und legte es beiseite.
Obgleich ihr die Augen fast zufielen, wollte sie vor
der Heimkehr der Herrin nicht einschlafen. Übrigens
sollte sie ja die Tür wieder öffnen, die der Herr
eigenhändig verschlossen hatte. Nachdem sie dies
besorgt, begann sie ihr Abendgebet zu sprechen.
Vor ihrem Bette niederknieend, legte sie die ab-
gearbeiteten Hände auf das Bettlaken. Grunsdätzlich
sprach sie allabendlich sieben Vaterunser, sieben Ave
und ein Credo. Die Abspannung nach all den frischen
Eindrücken trübte aber dermaßen ihren Sinn, daß sie
sich kaum noch wach erhalten konnte.
„Vater unser“, begann sie. aber eine Flut von
anderen Gedanken verwirrte ihren Sinn.
Unwillkürlich nahm dabei die Gestalt Johanns mit
seinen weißen Zähnen und seiner blühenden Gesichts-
farbe den ersten Platz ein.
„Der du bist im Himmel ...“
Johann ist entschieden ein schmucker Bursch und
hat auch so breite Schultern. Warum verhöhnte er sie
nur so unbarmherzig und sah sie dabei so seltsam an?

98
„Geheiligt werde dein Name ...“
O! Auf der Treppe, als sie sich dort im Dunkeln
trafen, wußte sie sich schon zu helfen; vor der Tür
aber lachte er sie geradezu aus.
„Zu uns komme dein Reich! ...
LO

Auslachen aber läßt sie sich nicht gern. Daß sie


dumm und häßlich ist, weiß sie allein ... Was kann
sie aber dafiir? ... War es recht von ihm, sie so aus-
zulachen, weil sie gern heiraten möchte? ... Was ist
dabei?... Soll sie etwa so wie Rosa verkommen bei
einem verheirateten Mann? ...
Immer matter fühlte sie sich und blickte mit tiefem
Seufzer und Aufbietung der letzten Kräfte empor zu
den Heiligenbildern.
„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf
Erden ...“ Weiter kam sie nicht.
Dieser nichtswürdige Johann trat ihr immer wieder
vor Augen und lachte sie aus. Und doch hatte er
ganz das Äußere eines ordentlichen Menschen ...
Übrigens, wenn sie ihn gar nicht mehr beachtete,
wird er sie auch in Ruhe lassen ...
„Unser täglich Brot gib uns heute ...‘

Jetzt empfand sie einen Druck im Magen, als


müsse sie unbedingt etwas essen. Immer mehr aber
übermannte sie auch die Müdigkeit.
Zum letzten Male sich aufraffend, starrte sie auf
ihre riesigen Hände und hatte ganz den Eindruck, als
hätten sie kein Gefühl und gehörten nicht mehr zu
ihr. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, rührte
sie hastig die Finger ...

7* . 99
Allmählich erlosch das an der Wand hängende
Lämpchen und erfüllte den Küchenraum mit uner-
triglichem Qualm. Eine dunkle Rauchsäule erhob
sich bis an die Decke und schwarzer Ruß regnete
herab auf das Küchengerät.
Durch das Gitterfensterchen schallte gedämpft der
Straßenlärm herauf, jenes letzte Aufatmen der selbst
im Entschlafen noch unruhigen Stadt, die niemals
ganz verstummen möchte.
In Käthes ganzer Gestalt prägte sich Übermüdung
aus. Offenbar war sie vom heutigen Tage vollständig
erschöpft, und trockene Semmel und kalter Tee ver-
mochten nicht, sie zu kräftigen.
Gegen Mitternacht knarrte leise die Tür und durch
den kleinen Salon schlich die Hausfrau im Dunkeln
nach der Schlafstubentür.
Als das matte Lampenlicht ihr Antlitz traf, hätte
jeder, der da wußte, woher sie kam, gewiß sich nicht
wenig gewundert, wenn er die vollkommene Ruhe in
den grauen Augen und auf den blutleeren Lippen ge-
sehen hätte.
So kaltblütig kehrte die Treulose unter das Dach
des Gatten zurück und unterschied sich in nichts von
der gleichgültigen Frau, die tagelang den fleckigen
Morgenrock durch den engen Raum ihres eigenen
Heims schleppte.
Gleichgültig legte sie die Kleider ab und warf sie
an die Erde. Ein Weilchen stand sie so da mit ent-
blößten Armen, die unter dem Spitzenhemde hervor-
sahen.

100
Budowski lag mit dem Kopfe tief in den Kissen und
schien hart und fest zu schlafen.
Mit unverindertem Gesichtsausdruck blickte Julia
nach ihm hin, ohne Spur von jenem Abscheu, der bei
einer Treulosen leicht zu erklären gewesen wäre.
Im selben Augenblick erwachte Budowski und
sagte, den Kopf auf den Ellenbogen stützend: „Bist
du endlich da? Ich glaubte, du kämest niemals
wieder?“
Ohne sich umzuwenden oder etwas zu erwidern,
löste sie nur ihr üppiges Haar und warf es in zwei
prächtigen Strähnen nach vorn,
Die Kaltblütigkeit dieser seltsamen Frau schien
alles Maß zu überschreiten:
Zurückgekehrt von einem verbotenen Stelldichein,
zeigte sie die Ruhe eines von der Andacht heim-
gekommenen Mädchens.
„Na, wie steht’s mit der Alten?“ fragte Budowski.
„Ist sie schon tot?“
„Noch nicht, aber bald wird sie sterben“, erwiderte
Julia mit größter Gleichgültigkeit und schlüpfte dann
in das Bett.
Jetzt erst überlief sie ein Schauer, daß die Zähne
knirschten und mit nervöser Hast nach der Bettdecke
“ schnappten ...
Bald darauf aber lag sie wieder ganz ruhig da und
zitterte nicht einmal, als Budowski ihr mit zischender
Stimme die Worte hinwarf:
„Barmherziger Gott! Wann endlich wird die Alte
sterben!“

101
K“ übernahm ihre neuen Pflichten und be-
mühte sich, allen Anforderungen der Herrschaft
zu genügen.
Dies war jedoch keine leichte Aufgabe.
Im Hause ging alles verkehrt und Käthe fühlte sich
bis in das Innerste erschüttert durch dieses neue
System, welches ihr durchaus nicht paßte.
Die an Geiz grenzende Sparsamkeit, die schlechte
Kost und die auf ihre Schultern gewälzte Arbeitslast
hätten jede andere, weniger kräftige Natur zugrunde
gerichtet oder wenigstens erheblich geschwächt.
Käthe erfüllte jedoch alle Pflichten jenes Haustieres,
welches im gewöhnlichen Leben den Namen
„Mädchen für alles“ trägt.
In aller Frühe schon tummelte sie sich in der engen
Wohnung herum, um den mit astigen Brettern
schlecht gedielten Fußboden aufzuwischen und zu
bohnen.
Mit auf die Hüften gestemmten Armen und ge-
rótetem, schweißtriefendem Gesicht hielt sie sich nur
mit Mühe auf den beiden zerfaserten Wachsbürsten
aufrecht, die immer wieder unter ihren nackten
Füßen ausglitten. Wie im Dampibade schwitzte die
Riesengestalt bei der hastigen Bewegung.
Kähte aber liebte diese Arbeit und es bot ihr eine
Art Zerstreuung, wenn sie durch kräftiges Auf-
drücken eine glänzende Furche hinterließ, und der
kleine Salon sich mit dem Dufte von geschmolzenem
Wachs erfüllte, das sie mit den Bürsten hin und
her rieb.

102
Ermattet kauerte sie dann auf dem kleinen Teppich
vor dem Sofa, auf dem ein rundes Tischchen mit
einer riesigen Lampe stand. Letztere war, obgleich
auf einer Auktion für einen Spottpreis erstanden, das
wertvollste Hausgerät. Niemals angezündet und mit
einem grünem Schirm bedeckt, trug sie ihre
Bronceurne mit der Würde der Vorsteherin eines
Pensionats für höhere Töchter.
Budowski schätzte sie über alles hoch und reinigte
sie eigenhändig mit allerlei aufgesammelten und sorg-
fällig verwahrten Lappen von verschiedener und
ziemlich geheimnisvoller Herkunft.
Außer der Lampe befanden sich im Salon noch ein
Sofa, sechs mit Seegras gepolsterte und mit kirsch-
rotem Wollstoff überzogene Sessel und zwei kleine
Landschaftsbilder in Öldruck, auf denen die vorderen
Bäume kleiner waren als die hinteren.
Ferner eine Wandnische mit Porzellanfiguren und
Tassen, Riechilischchen und Nippsachen, sowie
einigen Büchern. Und endlich hingen vor den
niedrigen Fenstern an weißlackierten Stangen
Musselinvorhänge in gewöhnlichem Muster in steifen,
wie gebrochenen Falten.
Obgleich im Salon nur wenig Platz war und die
Gegenstände sich fast berührten, herrschte darin
fast die Öde eines Hotelzimmers mit grauen, ein-
förmigen Tapeten.
Es fehlte die Hausfrau mit ihrem Nähtischchen
und niedrigen, weichen Sesseln, und der einfache
Blumentisch, der die Hauptzierde der ärmeren Woh-

103
nungen bildet. Auch vor dem Fenster lächelte kein '
frisches Grün, nicht einmal ein Fliederzweig
schmückte das düstere Zimmer.
Käthe, die von jeher Blumen liebte, namentlich jene
billigen mit den großen Zweigen, die sie an ihr
Dörfchen erinnerten, kaufte sich einst für drei
Groschen einen ganzen Fliederbusch und kehrte mit
ihm triumphierend vom Markte heim.
Auf dem ganzen Wege atmete sie den Duft der
bläulichen Blüten mit vollen Zügen ein.
Dies erfrischte sie nicht wenig und verdeckte den
scharfen Geruch des Schnittlauches und der
Zwiebeln, die sie im Korbe trug.
Heimgekehrt, goß sie frisches Wasser in einen
kleinen Steinkrug und trug ihn mit den Blumen in
das Schlafzimmer, um ihn dort auf die Kommode zu
stellen.
Budowski, der sich eben rasierte und im Spiegel
Käthe mit den Blumen vorübergehen sah, war ganz
verdutzt beim Anblick dieses unerhörten Luxus.
„Blumen? Wozu? Die sind gut für Verschwender,
die das Geld zum Fenster hinauswerfen ...“
Und bevor Käthe noch ein Wort sagen konnte, fuhr
er auf sie los und machte ihr die bittersten Vorwürfe
über solche Vergeudung.
Sie verteidigte sich, so gut sie konnte: die gnädige
Frau liebe die Blumen, habe sie geglaubt, und dies
sei doch keine so große Ausgabe ...
Julia schwieg, wie gewohnt, während des ganzen
Streites und hörte dem Auftritt mit schlaftrunkenen

104
Augen zu. Nur ab und zu richtete sie den Blick
nach den bläulichen Sternen mit dem zarten Gelb in
der Mitte. Der Fliederduft drang bis an ihr Bett und
die Augen schlieBend zog sie ihn mit den zitternden
Nasenflügeln ein. Die Hand aber nach den Blumen
auszustrecken wagte sie nicht,
Budowski stand inzwischen immer noch vor Käthe
und überschüttete sie mit einem wahren Hagel von
Schmähungen. Ebenso widerlich, wie lächerlich sah
er in seinen riesigen Filzschuhen und der Flanelljacke
seiner Frau aus, die er morgens aus — Sparsamkeit
anzog und die, vor Jahren mit rotem Vorstoß und
hinten einer breiten Falte verziert, sich auf seinen
spitzen Schultern förmlich stemmte, sodaß die Taille
dicht unter den Schulterblättern saß.
Sein Zorn wuchs noch, je hartnäckiger und be-
redter Käthe sich zu verteidigen suchte,
„Alle Frauen lieben die Blumen!“ sagte sie, ihrer
Herrin sich zuwendend, als suche sie dort Unter-
stützung. „Übrigens muß man unter das Mutter-
gottesbild auch Blumen stellen.“
„Hier ist keine Herrin!“ rief Budowski. „Hier bin
ich Herr und die Mutter Gottes mag sich ohne
Blumen behelfen!“
Da Julia sich noch immer nicht rührte, blickte Käthe
nach dem über dem Bett hängenden Muttergottes-
bilde und es war ihr, als verlangten sie beide sehn-
lichst nach dem Flieder. Und mit plötzlichem Ent-
schlusse näherte sie sich Julia, um die alte rote
Decke, unter der sie lag, mit einem duftigen Blumen-

105
regen zu iiberschiitten, indem sie ihr zurief: „Bitte,
gnädige Frau, nehmen Sie die Blumen!”
„Das zieh’ ich dir vom Lohne ab!“ schrie Budowski.
Als Käthe das Zimmer verließ, wußte sie recht gut,
daß die drei Groschen ihr für immer verloren
seien... Der Herr spaßt nicht lange und zieht ihr
sicher das Geld ab ...
Mag es immerhin so sein und die Herrin, die auf
der Gotteswelt sonst keine Blumen riecht, sich
wenigstens an diesen erfreuen! ... Und indem sie die
Fleischbrühe anrichtete, dachte sie bei sich, was die
Herrin wohl anfangen werde mit dem Flieder.
Als der Herr auf sein Bureau gegangen war, begab
sich Käthe in das Schlafzimmer, um nachzusehen.
Den ganzen Fußboden fand sie dort überschüttet mit
zerzupiten Fliederblüten und Blättern. Augenschein-
Yıch hatte Budowski in seiner Wut die Blumen seiner
Frau aus der Hand gerissen, zerzupit und an die Erde
geworfen.
Julia saß in weißem Negligć vor dem Nacht-
tischchen und kämmte sich mit zerbrochenem
Kamme das Haar. Anscheinend ganz ruhig, zeigte sie
keine Spur von Bedauern über die vernichteten
Blumen, während Käthe bei deren Anblick sich eines
höchst peinlicken Gefühles nicht erwehren konnte.
Einige Blütenzweige, die an der Bettdecke hängen
und wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben
waren, hob sie auf und steckte sie hinter den Gold-
rahmen des Muttergottesbildes.
Jetzt erst fühlte sie sich etwas beruhigt.

106
inige Wochen, nachdem Kathe den neuen Dienst
Eaneetreten, kam die Herrin abends in die Küche
und übergab ihr den uns bekannten Brief mit der Wei-
sung, ihren früheren Auftrag auszuführen, d. h. den
Brief dem Herrn zu übergeben, mit dem Hinzufügen,
ein Bote habe ihn gebracht.
Käthe wagte nicht, da sie einmal in die ganze
Sache verwickelt war, zu widersprechen oder un-
gehorsam zu sein,
Wie damals also übergab sie, als sie den Samowar
hereinbrachte, den Brief dem Herrn, nur mit dem
Unterschiede, daß sie jetzt auf dessen Frage, wie ein
Echo die Worte wiederholte: „Ein Bote hat ihn ge-
bracht“ ...
Auch diesmal glückte das Manöver...
Bald darauf verließ die treulose-Frau wieder das
Haus des Gatten, um in die Arme des Geliebten zu
eilen ...
Unterwegs bemerkte Käthe, die sie wie gewohnt
begleitete, in Julias Haar einen der Fliederzweige,
den sie aus dem Rahmen des Heiligenbildes ent-
nommen hatte.
Um keinen Preis der Erde hätte Käthe dies getan.
Was Gott gehört, kommt allein ihm zu, und niemand
hat das Recht, sich mit Blumen zu schmücken, die
man Gräbern oder Heiligenbildern dargebracht.
Als die Droschke die Herrin davon getragen, stand
Käthe noch lange in tiefem Sinnen vor der Kirchen-
mauer, ohne auf die Anreden der vorübergehenden
Soldaten zu achten.

107
Daheim in ihrem Dörfchen ging sie fleißig in die
Kirche, um den Katechismus auswendig zu lernen
und dabei den kleinen Geschichten zu lauschen, die
der Priester in der Predigt manchmal vorbrachte.
Unter anderen erzählte er einmal von einem hart-
gesottenen Sünder, der dem Herrn Jesus die mit
roten Edelsteinen geschmückte goldene Krone
stehlen wollte. Als er jedoch eines Nachts eine Leiter
anlehnte und nach der Krone griff, streckte der
Heiland die ehernen Arme aus, packte die Hand des
Nichtswürdigen und ließ ihn nicht wieder los.
Diese Geschichte hatte Käthe nicht wenig auf-
geregt. Und heute stahl die Herrin dem Heiligenbilde
jenen Fliederzweig ...
Als sie, heimgekehrt, dem Herrn ihre Rechnung
abgelegt, bemerkte er ausdrücklich: „Der Flieder
wird nicht berechnet, sondern dir vom Lohne ab-
gezogen!“
Bei diesen Worten empfand sie einen seltsamen
Druck unter dem Herzen.
Drei Groschen waren zwar noch kein Vermögen,
immerhin aber doch ein Stück Geld, und der Flieder
hatte zu nichts genützt, nur die drei Groschen waren
verloren! ....
Seitdem kaufte sie nie wieder Blumen und ging
auf dem Markte stolz an ihnen vorbei.
Den ganzen Tag über arbeitete sie daheim ohne
Rast und Ruh’, wie in einer Tretmühle, die sie mit
schweren Füßen in Bewegung setzte, indem sie den

108
Nacken willig beugte unter dem Joch, welches ihr die
Hand des Schicksals auferlegte.
Nachdem sie das Essen besorgt, mußte sie sich
die Zeit zum Waschen und Plätten förmlich stehlen.
Das Brennholz wurde ihr zugezählt, ohne Rück-
sicht auf die Größe der Stücke, sowie darauf, wieviel
sie zum Kochen unbedingt brauchte.
Oft weinte sie, wenn das letzte Stück verbrannt
war, und der Reis noch steinhart im Topfe lag.
Lose Bretter von der Bettstelle nahm sie dann
zu Hilfe, und einmal wagte sie sogar, eine alte Fuß-
wanne zu verbrennen, deren Trümmer sie im Keller
zerstreut vorfand.
Die niedrige, dunkle Küche mit all ihren Gerüchen
nach Zwiebeln, Pilzen und ranziger Butter erschien
ihr manchmal wie ein Vorraum der. Hölle, in dem
sie dennoch leben und arbeiten mußte, s i e, die ebenso
von Gott erschaffen war, wie andere. Weiber ...
Jung und kerngesund, opferte sie in dieser Finster-
nis und Schwüle ihre ganze Kraft für magere Kost,
für Knochen, die man ihr zum Abnagen hinwarf,
für altbackene Semmeln, die irgendwo liegen ge-
blieben, und für ein paar lumpige Gulden, die man
ihr vierteljährlich mürrisch auszahlte, nachdem man
alle „Schäden“ abgezogen, wie sie sich bei so hastiger
Arbeit kaum vermeiden ließen.
Ewig erhitzt und abgehetzt, lief sie vom Herde
zum Tische, vom Tische zum Plättbrette, um nach
dem Fleische zu sehen, die Ofentür mit Lehm zu

109
verkleben, die Wäsche zu stärken, die Wischlappen
abzuspülen, oder ein paar Eimer Wasser zu holen.
Und dabei die ewige Angst, daß ihr etwas an-
brenne oder verderbe!
Alle Geräte waren abgenutzt oder durchgebrannt,
die Butter knapp zugemessen, und die Hausfrau
kümmerte sich gar nicht um die Küche.
Käthe liebte es zwar nicht, daß man ihr in die
Töpfe guckte. Immerhin aber gehörte es sich, mit
der Hausfrau sich beraten zu können.
Alles, was sie verdarb, berechnete der Herr ganz
genau und zog es ihr vom Lohne ab ...
Manchmal fiel ihr das glühende Plätteisen auf den
Fuß, oder eine Kohle aus dem Ofen, die sie sofort
mit den Fingern aufheben mußte.
Und so hart und an das Feuer gewöhnt ihre Haut
auch war, nicht selten zeigte sie Blasen, oder die
Kohle haftete so fest am Finger, wie ein Blutegel.
Feuerzangen gab es nicht, weil sie der Herr für
Luxus hielt ...
Und all diese kleinen und großen Leiden mußte
Käthe in ihrer dunklen, engen Küche geduldig er-
tragen, in der sie sich vom frühen Morgen bis in die
späte Nacht herumtummelte, oft keuchend, aber
immer guten Willens und mit noch ungeschwächter
Kraft.
Nachdem sie das Essen aufgetragen und den Tisch
abgedeckt, hatte sie das Geschirr abzuwaschen und
die Kasserolle zu scheuern, knieend auf dem Stein-
fußboden mit um die Schläfen flatterndem Haar.

110
Oft, wenn sie das Spiilwasser hinabtrug, stolperte
sie auf der schmalen, dunklen Hintertreppe.
Dabei hatte sie eine seltene Gabe, sogenannte
Schäden zu machen. Nur mühsam bewegten sich ihre
massigen Glieder in den engen Räumen. So oft sie
die Hand nur ausstreckte, stieß sie stets an irgend
ein Gerät; so oft sie sich nur bückte, warf sie
etwas um.
Dazu kam auch, daß die Küche meist stockfinster
war, weil der Herr aus Sparsamkeit nicht erlaubte,
bei Tage die Lampe anzubrennen.
Selbst das Brot schnitt er ihr selber — natürlich
so dünn wie möglich — ab, und sie aß es meist erst
spät in der Nacht.
Was Wunder also, wenn sie beständig etwas zer-
schlug, und wohl oder übel, aber schweren Herzens,
so manches Glas und so manchen Teller oder Topf
bezahlen mußte.
Und fast mehr noch als über die dunkle Küche
ärgerte sie sich über die eigene Ungeschicklichkeit.
Nachmittags ging es an das Waschen, Bügeln oder
Rollen. Allwöchentlich war sogenannte „kleine“, all-
monatlich dagegen „große Wäsche“. Dann war die
Küche erfüllt vom widerlichen Geruche nach Soda
und Seife, schmutziger Wäsche und fast erstickendem
Dunste.
Alles dazu nötige Wasser mußte Käthe tags vor-
her allein sich herauftragen und in eine Tonne gießen,
die vor der Küchentür auf dem Hausflur stand. Oft
war es ihr dabei ‚als habe die Tonne gar keinen

111
Boden, denn das Wassertragen nahm kein Ende.
Kaum hatte sie, nach links hinüber gebeugt, den
vollen Eimer heraufgeschleppt und in die Tonne ge-
leert, mußte sie wieder hinunter.
Und diese ewige Wanderung war keine Kleinigkeit
auf der steilen Treppe mit den holprigen Stufen,
sodaß der Kopf schwindelte und der Fuß ohne Halt
nur zu leicht ausglitt, zumal wenn eine Last den
Körper vorwärts zog; und nicht einmal ein Geländer
war vorhanden, an dem man sich beim Fallen hätte
anhalten können.
Auch Käthe war es oft, als müßte sie stolpern und
die Treppe hinabstürzen.
Und ebenso ging es ihr beim Holztragen, nur daß
dabei auch manchmal ein Stück herausfiel und die
Stufen hinabrollte. Dann mußte sie noch einmal mit
Licht hinab, um es zu holen, zitternd vor Angst, daB
inzwischen jemand es sich angeeignet haben könnte.
Gegen Abend erst brannte sie ihr Lämpchen an
und beendete ihre Tagesarbeit bei künstlichem Lichte,
Hatte sie viel Arbeit, so wusch oder bügelte sie
noch bis Mitternacht, manchmal auch noch länger.
Barfuß, mit aufgeschürztem Rock und bis über die
Ellenbogen aufgestreiften Ärmeln bewegte sich ihre
Riesengestalt mitten in den weißen Dampfwolken
durch welche die gelbe Flamme des Lämpchens hi-
durch schimmerte, wie das matte Licht eines Sternes
dritter Ordnung. Auch alles Küchengerät verschwand
in diesem Halbdunkel. Nur die gelbe Farbe des
Messings blinkte noch hindurch und der Silberglanz

112
des Bleches und bisweilen erglühte die mit einer
leichten Rostschicht bedeckte Ofentiir und warf pur-
purroten Schein, oft erzitternd vom starken Luft-
strome.
Zu Käthes Füßen lagen ganze StóBe von als-
gerungener Wäsche in kleinen Wannen, Tonnen oder
Tonschüsseln, gewunden wie weiße Schlangen und
noch im Wasser schwamm das gebläute feinere
Weißzeug, wie ein ganzes Nest von totem Gewürm.
Fast die Hälfte des Küchenraumes nahm das breite
und unbedeckte runde Waschiaß ein. Angefüllt mit
heißer Lauge und frisch aus dem Kessel geworfener
Wäsche, stützte es sich auf zwei Lehnstühle, deren
einer wie befranzt war mit zerzaustem Rohr und
anstatt des vierten Beines eine Leiste aus knorrigem
Scheitholz hatte.
Käthe bückte sich über das Waschfaß und tauchte
unverzagt die roten, schwieligen Hände in den heißen
Laugensud, um jedes einzelne Stück Wäsche heraus-
zunehmen und es gehörig ausgerungen in die so-
genannte „Bihrung* zu legen.
Unwillkürlich stöhnte sie dabei, und dicke Schweiß-
tropfen rannen von der Stirn.
Durch das offene Gitterfenster wehte zwar ab und
zu ein schwaches Lüftchen. Die Stickluft der Küche
aber verschlang es sofort mit der Gier eines wilden
Tieres und bot der nach Luft förmlich schnappenden
nicht die Spur von Kühlung.
Feines Weißzeug waschen, das ist kein Spaß:

8 Ratte 113
siebenmal geht jedes Stück durch die Härde, bevor
es auf die Leine gehängt wird.
Die Handflächen schwellen an wie ein Kissen vom
starken Reiben und die Haut löst sich ab in Fetzen.
Käthe wußte, daß dagegen Glycerin etwas hilit.
Zehn Pfennige aber ausgeben für die dummen Hände,
das lohnte sich ihr nicht.
Auf der Kommode stand zwar ein Fläschchen, aber
Käthe wagte nicht, um ein paar Tropfen zu bitten,
damit die Herrin sich über solche Dreistigkeit nicht
ärgere.
Außer ihrer Überbürdung mit Arbeit hatte Käthe
noch anderes zu erdulden.
Obgleich nur eine arme Magd, liebte sie etwas Ge-
sellschaft und Unterhaltung mit irgend einer zugäng-
lichen Person. Bei Budowskis aber war Käthe immer
mutterseelenallein, eingesperrt wie ins Gefängnis in
der engen, dunklen Küche, wo sie hinter den feuchten
Mauern kaum eine Ahnung hatte von den hellen
Sonnenstrahlen des Frühlingsmorgens oder der er-
quickenden Kühle der hereinbrechenden Nacht.
Stumm schritt sie also in ihrem Käfig hin und her
und unterdrückte die Worte, die sich ihr auf die
Lippen drängten, wie auch das Bedürfnis nach Unter- ,
haltung, indem sie sich bemühte, mit tiefen Seufzern,
wie die einer verdammten Seele, sich einigermaßen
zu erleichtern. Die ganze Brust und Kehle trug sie
voller Worte, die sie aussprechen mußte, obgleich sie
sich über deren Sinn oft selbst nicht klar war.
Frau Julia aber saß immer mürrisch und müßig im

114
Schlafzimmer, oder sie lag auf dem Bette, halbange-
kleidet, schweigend und mit zusammengepreßten
Lippen. Sprach sie ja einmal, so geschah dies mit
leiser, sanfter Stimme, ohne sich auf eine Unter-
haltung einzulassen, im Gegenteil bemüht, sie sofort
abzubrechen.
Die übrigen Mägde im Hause behandelten Käthe
von oben herab und mit unbeschreiblicher Gering-
schätzung. Diente sie doch bei einer „Herrschaft“,
die den schlimmsten Ruf im Hause hatte.
Budowskis Geiz war allgemein bekannt und über
Julias nächtliche Ausflüge gingen allerlei dunkle Ge-
rüchte um auf den Hausfluren und Hintertreppen.
Dabei wohnten sie im dritten Stock, hatten nicht ein-
mal ein Vorzimmer und kauften das Brennholz nur
stückweise. Solche Leute können keine Achtung er-
wecken bei der Dienerschaft, geschweige denn die
Dienerschaft, die bei solcher „Herrschaft“ bleibt.
Käthe bemerkte sofort die unfreundlichen Ge-
sichter ihrer Kolleginnen.
Ihre höfliche Verbeugung oder Begrüßung er-
widerten sie mit eisigem Schweigen oder leisem
Brummen.
Die übrigen Mädchen, besonders die bei einer alten
Jungfer dienende Mary, deren Hauptbeschäftigung
es war, die beiden struppigen Pinscher mit den
süßen Namen „Paris“ und „Lala“ spazieren zu '
führen, wandten sich höchst auffällig von Käthe ab,
als wünschten sie keine nähere Bekanntschaft mit
dem „Mehlsack“ aus dem dritten Stock.

8* 115
Dieser Spottname wuchs Kathe allmählich auf den
Leib. Gar manchmal hörte sie ihn beim Vorüber-
gehen vor den offenen Küchentüren, bald genäselt
von der gräflichen Köchin, bald gekreischt von der
übermütigen Mary.
Nur zu bald fühlte Käthe, welch eine undurchdring-
liche Scheidewand sie von den anderen Mädchen
trenne, die in rosa oder bunten Kleidern Sonntags
mit dem „Schatz“ zusammentrafen.
Sie hatte weder solch ein Kleid, noch solch einen
Schatz.
Überdies durfte sie auch nicht jeden Sonntag aus-
gehen, sondern, wie Budowski ausdrücklich aus-
gemacht, nur drei Stunden in iederm Monat.
Nachdem sie sich also sonntäglich angekleidet,
setzte sie sich auf ihre Truhe, um ihre Nägel zu be-
sichtigen oder die Beine übereinanderzuschlagen.
Unzweifelhaft war dies eine ganz angenehme Be-
schäftigung, die jedoch unmöglich die ganzen Nach-
mittagsstunden auszufüllen vermochte, sodaß diese
unsäglich langsam dahinschlichen.
Einst versuchte Käthe ein Liedchen zu singen,
welches sie noch in der Fabrik gehört hatte. Der
Worte zwar erinnerte sie sich nicht mehr, die
Melodie aber hatte sie gut behalten. Anfangs summte
sie diese nur vor sich bin und versank dabei in Er-
innerungen an vergangene Zeiten. Allmählich aber
wurde sie dreister und sang das Liedchen so laut,
daß es an den engen Küchenwänden widerhallte.

116
Plötzlich wurde die Tür vom EBzimmer geöffnet
und herein trat Budowski. Nervöser als jemals, ge-
bot er der Sängerin mit entsprechender Hand-
bewegung Schweigen.
„Barmherziger Gott“, stöhnte der Filz. „Wozu
heulst du so laut?“
Tiefbeschämt verstummte sie. Nur um die eigene
Stimme einmal wieder zu hören, hatte sie sich etwas
vorgesungen und der Herr warf ihr vor, sie „heule
so laut“! Das betrübte sie doch sehr und drückte sie
nieder.
Den Rest ihrer Freistunden verbrachte sie auf der
Truhe hockend und wagte nicht, sich zu rühren, um
ja kein Geräusch zu machen.
Als sie durch das Gitterfensterchen ein Stück vom
blauen Himmel über sich sah, schnürte es ihr fast die
Kehle zu und sie war dem Weinen nahe.
Solch junges Blut sehnt sich doch auch nach der
Welt und nach Menschen.
Käthe beschlich solche Sehnsucht, daß ihr das Herz
wehtat.
So saß sie denn da in ihrem Winkel und blickte
empor zu dem Stückchen Himmel und dachte bei
sich, wie schön es doch sein müßte, an solchem Tag
in die Stadt zu gehen oder mit der Pferdebahn zu
fahren!
In der dritten Woche ihres Dienstes bei Budowskis
sah Käthe, als sie Sonntags nachmittags nach
Wasser ging, durch die halb offene Tür die gräfliche
Köchin am Fenster sitzen mit einem Buch in der

117
Hand, in dem sie durch die Brille eine Andacht las,
oder BuB-Psalmen. .
Käthe besaß kein Gebetbuch, konnte aber, wenn
auch nur notdürftig, lesen.
Ein Buch ist kein Glycerin und die Herrin würde
sich nicht ärgern über ihre bescheidene Bitte, ihr
irgend ein schönes oder frommes Buch zu borgen.
Dann setzte sie sich, wie die gräfliche Köchin, ans
Fenster und läse nach Herzenslust, aber nur ganz
leise, um den Herrn ja nicht zu stören, wie damals,
als er sie beim Gesange überfiel.
Dann verginge ihr der Sonntagnachmittag
wenigstens schneller! —
Nachdem sie sich dies so überlegt, begab sie sich
in das Schlafzimmer, wo Frau Julia, wie gewohnt,
mit offenen Augen auf dem Bette lag.
Für Julia unterschied sich der Sonntag von
anderen Tagen nur dadurch, daß Budowski ihr er-
laubte, ihr dunkelgrünes, mit Samt besetztes Kleid
anzuziehen und daß er sie morgens zur Kirche be-
gleitete.
Dieses Kleid trug sie dann den ganzen Tag und lag,
ohne auf das Nörgeln des Gatten zu achten, daß sie
damit nur den Samt verknülle, völlig angekleidet auf
dem Bette.
Als Käthe vor ihr stand, öffnete sie die wie immer
schläfrigen Augen und blickte mit einer Art von Er-
staunen in das gerötete Gesicht des Mädchens.
Budowski putzte eben, wie stets zu dieser Zeit, die

118
Lampen. Dies war seine gewohnte Beschäftigung,
die ihm die langen Nachmittagsstunden ausfüllte.
Als Käthe mit schüchterner Stimme ihr die Bitte
um ein Buch vorstammelte, geriet Julia sichtlich in
Verlegenheit. Sie hatte Käthe sehr gern und fühlte
gegen sie eine gewisse Dankbarkeit dafür, daß sie
ihr half, den Gatten zu hintergehen ... Gern also
hätte sie ihren Wunsch erfüllt, aber Käthes Bitte er-
schien ihr so sonderbar, daß sie wirklich kaum
wußte, wie sie sich aus dieser Lage herauswinden
solle.
Eine Magd bat sie um ein Buch!
Was sollte sie ihr zu lesen geben, sie, die außer
den Familiennachrichten in der Zeitung fast gar
nichts weiter las? In der Apathie ihres geist- und
seelenlosen Schneckenlebens wäre es ihr niemals in
den Sinn gekommen, daß eine Magd sie um ein Buch
bitten könne.
Gleichwohl fühlte sie die Berechtigung dieser Bitte
und strengte, an den blutleeren Lippen nagend, all
ihr bischen Verstand an, um irgend ein Buch heraus-
zufinden, über welches sie ohne Wissen des Gatten
verfügen konnte.
Denn Budowski um irgend ein Buch zu bitten,
welches dort in der Nische mitten unter den leeren
Riechfläschchen schlummerte, das wäre gerade so,
als träte sie auf ein Otternnest.
Sie selbst besaß gar keine Bücher, außer einem
Gebetbuche mit Samteinband. Hier aber überwog
die Selbstsucht das gute Herz:

119
Käthes plumpe, wenn auch rein gewaschene Hände
mit den breiten Fingern boten ihr dafür keine Ge-
währ, daß jener Samteinband unbeschädigt aus der
Küche zurückkehre.
Und dennoch mußte sie mit der Magd ins Reine
kommen, die in aller Demut vor ihr stand und auf die
Erfüllung ihrer Bitte wartete.
Plötzlich erinnerte sie sich, daß sie zur Hochzeit
von der Mutter ein Buch erhalten, mit dem Titel
„Das Weib, oder eine Geschichte zum Lachen und
Weinen“, Originalarbeit von J. G. ...
Julia hatte dies Buch noch niemals gelesen, viel-
mehr ‚es in der Kommode verwahrt, unter der
Wäsche. Nur beim Öffnen des Schubfaches sah sie
ab und zu den roten Einband zwischen den weißen
Falten des frisch gerollten Leinenzeuges.
So würde es am besten sein. Selbst wenn Käthe
den Einband beschädigte, so wäre dies nicht von Be-
lang, denn er war billig und nicht von Leder, sondern
nur von Pappe.
Ob Form und Inhalt für Käthe verständlich sein
werde, darum kümmerte Julia sich nicht. Mag sie
lesen, wenn sie lesen will, ob sie es versteht und ob
es ihr nützt, das ist Nebensache. Übrigens täte sie
besser, sie legte sich schlafen um zwei Uhr nachts,
nachdem sie den Flur gescheuert.
Trotzdem zeigte sie Käthe, wo das Buch in der
Kommode lag. Sie selbst war zu schwerfällig, um
aufzustehen und es ihr einzuhändigen.

120
Als Kathe, das diinne Biichlein an die Brust
pressend, das Schlafzimmer verlassen, atmete Julia
erleichtert auf, um dann fast das gauze Gesicht in
den Kissen zu bergen und in den blutarmen Frauen
eigentümlichen Halbschlummer zu versinken.
Hochbeglückt kehrte Käthe in die Küche zurück.
Endlich hatte sie eine Unterhaltung und wußte, daß
ihr jetzt die Stunden schneller vergehen würden.
Jetzt war es erst vier Uhr und sie hatte noch vier
Stunden Zeit, bis sie den Samowar zum Tee be-
sorgen mußte. Bis dahin las sie wenigstens die
halbe, vielleicht auch die ganze Geschichte.
Nächste Woche durfte sie zwar ausgehen. Da ihr
aber die Geschichte weit interessanter war, wollte
sie lieber zu Hause bleiben, um sie bestimmt zu Ende
zu lesen,
Und ganz erfüllt von der Wichtigkeit des Augen-
blicks, stellte sie den Küchenstuhl dicht an das
kleine Fenster, durch welches, wenn auch nur spär-
lich, das Tageslicht eindrang.
So hell war es freilich nicht, wie bei der gräflichen
Köchin. Denn dort war die Küche viel geräumiger
und hatte ein breites Fenster.
Was half es aber; das ließ sich eben nicht ändern; -
also hieß es, die Augen gut aufmachen und das
Buch möglichst an das Licht halten.
Und mit freudestrahlendem Gesicht öffnete Käthe
das Buch und bemühte sich zunächst, den Titel und
den Namen des Verfassers und Herausgebers zu
buchstabieren.

120
Dann drehte sie das Titelblatt um und las leis
und langsam, oft stockend und sich verbessernd fol-
gendes:
„Das Weib ist die halbe Menschheit, das Ziel
der Forschungen der Weisen alier Jahrhunderte
und der Verherrlichungen aller Dichter, in Wirk-
lichkeit aber nichts weiter, als eine — Sphinx für
die Menschen, wie für sich selbst ...“
Schwer aufatmend unterbrach Käthe hier das
Lesen, trocknete sich den Schweiß von der Stirn
und setzte sich fester auf den Stuhl.
Noch immer begann die „Geschichte“ nicht. Trotz-
dem aber las sie weiter, immer weiter, erst seufzend,
dann stöhnend und den Mund verzerrend, bis sie
endiich, körperlich und geistig zermartert, im
höchsten Unwillen das Buch fortwarf und den Kopf
zur Brust senkte.
Eine Stunde schon hatte sie gelesen, bis der Angst-
schweiß ihr auf die Stirn trat, und noch immer ver-
stand sie nichts. Worte kamen dort vor, die sie ihr
Leben lang nicht gehört und kaum richtig aus-
zusprechen vermochte.
Frau Julia wollte sie nicht danach fragen. Sollte
sie, nicht genug, daß sie das Buch von ihr erbeten,
sie noch mit der Frage beunruhigen, die sie sich
nicht selbst zu beantworten wußte in ihrer Be-
schränktheit, weshalb
„nicht nur die St. Simonisten usw. als Haupt-
bedingung der Frausn-Emanzipation die ‚Auf-
hebung der Ehe‘ aufstellten?“

122
Und noch lange saß Käthe vor dem kleinen Fenster
und starrte auf das Buch wie ein hungriger Beitler,
dem man anstatt Brot eine aus Holz geschnitzte
Frucht gab.
Langsam schlichen die Stunden dahin und wie im
Schlafe nur rückte der Zeiger vor auf dem schad-
haften Zifferblatte der Küchenuhr.
Fast gedankenlos starrte Käthe nach der rußigen
Wand ...

Nächsten Sonntag mußte sie entschieden einmal


ausgehen; was sollte sie sonst wieder anfangen den
ganzen Nachmittag, Denn hier erstickte sie fast,
so schnappte sie nach frischer Luft.
Zwar hatte sie niemand, der sie auf dem Spazier-
gange begleiten konnte. Muß denn aber jedes
Mädchen einen „Schatz“ haben? Darüber hatte sie
ihre eigene Ansicht:
Nur mit einem Manne konnte sie sich einlassen,
der sie heiraten wollte, und von Liebeleien wollte sie
nichts wissen. Hatte sie doch oft genug schon das
traurige Ende von Mädchen gesehen, die, kaum er-
wachsen, schon an einen „Schatz“ dachten. Weshalb
sie sich damit so beeilten, konnte sie gar nicht be-
greifen. Sie kamen ja doch nur in den Mund der
Leute und trieben sich immer nur auf der Straße
umher.

123
Und da sie selbst erst spät sich so kräftig ent-
wickelte, begriff sie um so weniger, was jene
Mädchen im Blute haben mochten, wenn sie, fast
noch im Kindesalter, schon so herangereift waren,
daß sie, ihren zarten Körper preisgebend, vorzeitig
sich in die Arme des ersten Besten warfen.
Übrigens bestritt sie durchaus nicht, daß das Leben
eines immer alleinstehenden Mädchens ungemein
traurig und beschwerlich sei, zumal wenn es gar
niemand habe, mit dem es Freud und Leid teilen
und einmal ausgehen könne. |
Aber so ganz ohne Wahl, fast ohne sich zu kennen,
einem jeden sich anvertrauen, sich duzen, sich von
ihm traktieren lassen und in später Nacht heim-
begleiten oder mit ihm auf dem Hausflur herum-
stehen, wer das tut, der muß entweder Stroh im
Kopfe haben oder nicht an die Zukunft denken,
Träfe sie jedoch einen braven Mann in sicherer
Stellung, der ihr ehrlich seine Absichten ausspräche,
so ginge Käthe gern mit ihm spazieren oder käme
abends mit ihm zusammen, um ihn, wenn auch nur
auf Augenblicke, wiederzusehen ...
Ein „Schatz“, das ist ein Ärgernis vor Gott, —
ein Bräutigam, das ist schon etwas anderes, fast
ein Ehemann, nur daß die Trauung noch fehlt. Diese
aber läuft nicht davon und immerhin kommt solch
ein Mädchen nicht in der Leute Mund. —
Die zweite unwillkürliche Sorge Käthes aber war
und blieb — Johann.

124
Mit dem jedem auf Verfiihrung ausgehenden Manne
angeborenen Instinkte wurde er geradezu Käthes
Todfeind.
Bei näherer Überlegung gelangte er zu der Über-
zeugung, daß sie eine „Jesuitin“ sei und daß der
Widerstand, den sie ihm bei der denkwürdigen Be-
gegnung auf der Treppe geleistet hatte, nichts weiter
gewesen als der reine „Jesuitismus“.
Dies dumme, einfältige Frauenzimmer spielte die
Heilige und verdrehte die Augen, anstatt, wie alle
anderen, ihn einfach mit Fäusten abzuwehren, als
er ihr auf dem engen Durchgang begegnete und
sie dort ein wenig an die Wand drückte,
Sie verwahrte sich für den Gatten; nur deshalb
war sie so spröde. Unter die Haube will sie und
denkt irgend einen Dummkopf mit ihrer Unschuld zu
fangen.
Und der ganze Zauber ihres sanften Blickes, der
ihn damals vorübergehend so blendete und in seiner
Seele alle Begierden dämpite, verschwand vor der
rohen Bosheit, die unwillkürlich das ganze Wesen
des in seinem Stolze verletzten Mannes erfüllte.
Rücksichtslos überhäufte er sie mit tausend Vor-
würfen, die, je irrtiimlicher sie waren, um so heftiger
wurden, obgleich er ihre Ungerechtigkeit selbst
herausfühlte.
Am meisten ärgerte ihn ihr Wunsch, zu heiraten.
Nach seiner Ansicht war dies das schlimmste Zeugnis
ihrer Moralität: i

125
Gewiß wollte sie sich mit dem Gatten nur den
Rücken decken, um allerlei Unfug zu treiben.
O, er kannte solche Frauen, kannte sie sogar sehr
genau und konnte so manche bei Namen nennen.
Dies führte aber nur zu Hetzereien unter den
Weibern, und das liebte er nicht,
Trotz all seines Grolles aber kamer im Geiste
immer wieder auf jenes stramme Mädchen zurück,
dessen Gestalt er, ungeachtet des Spottnamens
„Mehlsack“, den die anderen Mägde ihr gegeben
hatten, bewunderte.
Unbarmherzig ihrer höhnend, gedachte er mit
wahrer Wonne jenes Augenblickes, da er ihr so nahe
war, daß er ihren warmen Atem auf seiner glühenden
Wange fühlte.
Mochten die anderen Frauenzimmer mit ihren
spitzen Schultern sie verspotten, so viel sie wollten,
tief in der Seele erkannte er Käthe alle körperlichen
Reize zu und wußte aus Erfahrung, daß solch ein
frisches, kerngesundes Mädel unter hunderten nicht
zu finden sei,
Ha! Träfe er sie noch einmal im Dunkeln auf
der Treppe, jetzt verzieh er ihr die ihm zugefügte
Kränkung nicht so leicht, sondern drückte sie so
kräftig an die Wand, daß sie all ihren „Jesuitismus“
verlóre. Dann hülfe ihr kein Augenverdrehen; das
zweitemal sollte sie ihm nicht entgehen; ... dann
streute er ihr einfach Sand in die Augen und machte
sich aus dem Staube.

126
Nur eine guteEigenschaft hatte sie noch an
sich, sie war immer so sauber und rein gewaschen,
daß jeder sie gern ansah. Obgleich sie oft mitten
aus dem Scheuern heraus die Treppe hinablief, um
die Lappen abzuspülen, — ihre Jacke war immer wie
neu und ihre Hände, obgleich dick und rot, waren,
wie auch die Arme, so appetitlich anzusehen, daß ihn
immer die Lust anwandelte, sie zu kneifen. Auch
ihr Kopf war nicht übel und das Haar so glatt ge-
scheitelt und gekämmt und an den Schläfen so
glänzend wie ein Spiegel, wie er es liebte.
Wahrhaftig, es war jammerschade, daß sie dumm
genug war, einzutrocknen und immer solch sauer-
töpfiges Gesicht zu machen, anstatt das Leben zu
genießen.
So umkreisten Johanns Gedanken sie beständig,
um neue Reize herauszufordern, die er dann aber
zu ihrem Nachteile auslegte, indem er sie sowohl sich
selbst als auch anderen gegenüber im schlimmsten
Lichte zeigte.

Seine eifrigste Helfershelferin war dabei die Mary


aus dem zweiten Stock.
Dieselbe war zwar klein und stämmig, aber doch
von zierlicher Figur, weil sie sich mit einem alten
Korsett ihrer Herrin fest schnürte.
Mit Johann hielt sie enge Freundschaft, deren
Quelle jedoch nicht allzu lauter war.

127
Sie nahm das Leben von der leichtesten Seite und
schaltete mit ihrer Jugend so verschwenderisch wie
ein Nabob mit seinen Schätzen. Daher hatte sie
auch immer eine Menge „Bekanntschaften“, ohne sich
jedoch irgendwie an eine zu binden.
Jeden Sonntag ging sie vor das Tor oder in irgend
einen Öffentlichen Garten mit einem anderen. Wegen
„Paris“ und „Lala“, jener Pinscher, die sich immer
im Freien bewegen sollten, hatte sie unbeschränkte
Freiheit.
Sobald sie das Essen aufgetragen, glättete und
brannte sie sich das Haar, schminkte sich die Wangen
und schwärzte sich die Brauen mit einem ange-
brannten Pfropfen. Dann nahm sie beide Hündchen
auf den Arm und rauschte mit den steifgestärkten
Röcken zur Tür hinaus.
Ihre heitere, flatterhafte Natur paßte vortrefflich
zu Johanns Charakter, der in seiner „Freimaurer“-
stimmung ein dauerndes, an den Altar erinnerndes
„Verhältnis“ nicht liebte,
Mary verlangte so etwas auch gar nicht. Vom
Heiraten sprach sie niemals und dachte auch nicht
einmal daran, sich eine so schwere Last auf den
freien Hals zu bürden.
Nach kurzer Einleitung kündigte sie plötzlich der
ob dieses Ereignisses höchst erstaunten Schar ihrer
Bekannten ihr „Verhältnis“ und küßte sich seitdem
mit Johann bei offenen Türen, ohne sich irgendwie
zu genieren, zum großen Ärgernis der gräflichen
Köchin, die fortan nicht mehr ungestört nach Gemüse

18
in den Keller gehen konnte, ohne auf dem schmalen
Durchgange dem im Dunkeln kichernden und kosen-
den Pärchen zu begegnen.
Mary hatte außer
dem dunklen Augenpaar und
dem Stumpfnäschen noch eine besondere Gabe: Sie
verstand es, den Mann „auszuziehen“, d. h. nach
ihrer Meinung, ihn zu allerlei kleinen Opfern für sie
zu verleiten, die sie mit Entzücken entgegennahm.
Auch Johann mußte dies durchmachen. Sein erstes
„Opfer“ war ein kleines silbernes, echt vergoldetes
Kreuzchen mit einem Türkis in der Mitte. Tag und
Nacht sprach sie von diesem Kreuzchen, welches für
lumpige drei Gulden bei dem Goldschmied an der
Ecke des Marktplatzes zu kaufen war.
Dann folgte ein Paar Ohrringe in Form von zwei
goldenen Blättchen auf schwarzer Emaille. Allerdings
war der Preis ziemlich hoch, gegen acht Gulden.
Mary hatte aber „von klein auf“ so zarte Ohren, daß
sie sich vom —- Tombak sofort entzündeten.
Johann kaufte ihr auch die Ohrringe, setzte aber
den Hut schief auf den Kopf und gelobte sich, mit ihr
zu brechen. Dies Gelöbnis erwies sich jedoch als un-
nötig. Denn Mary, die der Roman mit dem Portier
schon langweilte, beschloß, etwas „höher“ zu gehen
und schenkte ihr Herz einem strammen Bombardier
im braunen Wams mit dunkelblauem Käppi.
Mit Freuden trat Johann seinen Platz ab und ohne
Kampf und Streit wurde diese heiße Liebe getrennt,
die noch soeben mit ihrem Lärm Hausflur, Treppe,

O Käthe 129
Keller und Boden erfiillte, alle Mieter stórte und die
öffentliche Moral verhöhnte.
Allem Brauche zuwider währte jedoch die Freund-
schaft zwischen Johann und Mary ungestört fort und
manchmal sogar, wenn letztere sich verspätete, nahm
ersterer sich selbst sein „Sperrgeld“ in Gestalt eines
Kusses auf Marys warme Schultern und von der
Haustür bis auf die Treppe erschallte ihr gedämpftes
Kichern ... — i
So standen die Dinge, als Käthe dort in das Haus
kam. Als daher Johann in seiner verletzten Eigen-.
liebe offen gegen Käthe auftrat und noch dazu sie
„Küchendragoner“ nannte, unterstützte ihn Mary
eifrigst bei seinen Spöttereien.
Mit dem Instinkte, der auch dem auf niedrigster
Stufe stehenden Weibe eigentümlich ist, fühlte sie
heraus, daß Käthe trotz alledem Johann gefiel und
ihn beschäftigte.
Obgleich sie längst einen anderen „Schatz“ hätte,
wollte sie nicht, daß Johann sich so schnell über ihren
Verlust tróste. Daher trat sie entschieden gegen
Käthe auf, indem sie die anderen Mädchen gegen sie
aufhetzte und sie im ganzen Hause lächerlich machte.
Nicht minder half sie Johann bei allerlei Schaber-
nack, für den dann die Ärmste mit ihrem kargen
Lohne aufkommen mußte.
Bald zerrissen sie ihr die alten, zusammengebun-
denen Wäscheleinen, bald gossen sie ihr das Regen-
wasser aus der Tonne, das sie sich mühsam auf-
gefangen hatte. Über die dunkle Treppe zogen sie

130
Bindfaden und freuten sich, wenn sie das Poltern der
einige Stufen hinabfallenden Kathe hórten.
So oft sie iiber den Hof ging, erschallte hinter ihr
her spöttisches Gelächter.
Aus dem Fenster heraus lachte das gräfliche
Stubenmädchen und zeigte dabei in der hellen
Mittagssonne ihr gekräuseltes Blondhaar. Hinter ihr
stand in der schwarzen Haube die Köchin und ebenso
lachte die rappeldürre Krämerin unten im Laden, die
es Käthe nicht verzeihen konnte, daß sie an ihrem
Krame vorbeiging, um auf Geheiß ihres Herrn in
einem benachbarten Geschäfte ihre kleinen Einkäufe
zu machen.
Nicht minder lachten die Mägde des im Seiten-
flügel wohnenden Tapezierers, das schieläugige
Kindermädchen und die dicke Köchin, wie auch die
Tapezierersfrau selber, die sich als frühere Küchen-
fee mit Vorliebe in der Küche beschäftigte.
Am meisten aber lachten Mary und Johann.
Letzterer auf den Besen gestützt, mit der Pfeife im
Munde und der Mütze schief auf dem linken Ohr.
Langsam, gesenkten Hauptes schritt Käthe vor-
über. War es ihr doch, als sei ihr die Kehle zuge-
schnürt, da sie recht gut wußte, sie allein sei die Ur-
sache dieser allgemeinen Heiterkeit, und zwar wegen
ihrer großen, auch nach ihrer eigenen Ansicht viel zu
plumpen Gestalt.
Und immer tiefer beugte sie den runden Nacken,
als müßte sie all’ dies Gelächter auf sich nehmen,
welches allmorgendlich auf dem Hofe erschallte und

9* 131
sich an den Mauern entlang fortsetzte bis zu den
Fenstern, um dort ein Echo hervorzurufen und wie
Stockschläge auf die grausam Getroffene herab-
zufallen.
Was hatte sie denn nur verbrochen, daß man sie
so behandelte? Daß sie viel größer gewachsen war
als die andern, war doch nicht ihre Schuld.
Und sie selbst hätte gewiß nicht so gelacht beim
Anblick einer anderen, und wäre die zweimal größer
als sie selbst. Kann doch nicht jede so aussehen wie
von Porzellan.
Obgleich sie allen so viel wie möglich aus dem
Wege ging, um keinem hinderlich zu sein, lachten sie
dennoch sie aus und ließen ihr keine Ruhe.
In ihrer grenzenlosen Sanftmut fand sie kein
scharfes Wort, um ihre Witze und Spöttereien von
sich abzuwehren. Wußte sie doch, sie könne, wenn
sie nur dazu den Mut hätte, den ganzen Spötter-
schwarm zum Schweigen bringen, der auf sie los-
stürzte, wie auf die Allerverworfenste.
Niemand aber bereitete ihr so viel Kummer, als
gerade — Johann.
In ihrer Einfalt und Biederkeit suchte sie keine
Ausflichte und wünschte nicht, sich selbst zu
täuschen. Gleichwohl fühlte sie, daß Johann ihr sehr
gefiel. Und diesem Gefühle gab sie sich hin mit dem
Gehorsam eines von jeher an Nachgiebigkeit ge-
wöhnten Wesens.
Als er sie damals auf der engen Treppe so roh be-
handelte, erfüllte sie die gewohnte Angst bei An-

132
niherung jedes Mannes. Als er aber dann auf ihre
Bitte zuriicktrat und sie ruhig vorübergehen ließ, war
sie fest davon überzeugt, fortan ihn leiten zu können
und, nachdem sie ihn überwunden, in ihm anstatt
eines Feindes einen Freund gewonnen zu haben. Bei
Tageslicht bemerkte sie dann, daß er ein stattlicher
Mann sei. Und diese Beobachtung machte ihr Freude,
ohne daß sie sich darüber klar werden konnte.
Die Unterhaltung an der Haustür aber und Johanns
Spöttereien beriihrten sie schmerzlich. Damals er-
schien er ihr wie umgewandelt.
Mit der Sicherheit eines Gassenhelden trat er auf
und sein Ton verriet kein Wohlwollen.
Als er später sich den mit ihr feindlich gesinnten
Weibern verband und offen mit ihr in Fehde trat,
war sie tiefbekümmert und konnte nachts lange nicht
einschlafen, da ihr jede Spötterei aus seinem Munde
durch den Kopf ging.
Obgleich sie sehnlichst wünschte, ihm niemals
wieder zu begegnen, trat ihr seine breitschultrige Ge-
stalt überall in den Weg.
War dies ihre oder seine Schuld?
Anscheinend war beides der Fall ...

Fi hatte Käthe den Sonntag erlebt, an dem sie


ausgehen durfte (unter ausdrücklicher Bedingung
schneller Rückkehr).
Von früh an freute sie sich auf diesen kurzen
Genuß der Freiheit und schmiedete Pläne über die
angenehmste Verwendung des freien Nachmittags.

133
Ihr war zumute, als harre ihrer jenseits der engen .
Küchenmauern ein Vergnügen, welches sie reichlich
für die drei Wochen lange Gefangenschaft ent-
schädige.
Zwar hatte sie niemand, mit dem sie spazieren
konnte, und es war ihr fast peinlich, so allein am
Sonntag über die Straße zu gehen.
Aber die heiße Sehnsucht nach Menschen, wenn
auch nur ganz gleichgültigen, nur nicht mit spótti-
schen Gesichtern, hatte sie wochenlang fast verzehrt
und ließ sie jetzt ihre Vereinsamung vergessen und
sich der Hoffnung auf eine, wenn auch nur augen-
blickliche Zerstreuung erfreuen.
Spät in der Nacht noch hatte sie ihren Rock, dessen
violetter Wollenbesatz durch den langen Gebrauch
abgenutzt war, ausgebessert. Für die letzten
Pfennige kaufte sie sich Petroleum, setzte sich dann
auf ihren Lieblingsplatz, die Truhe, und nahte.
Kräftig schwang sie die Hand mit der großen,
schon etwas verrosteten Nadel, die hartnäckig aus
dem Gewebe nicht wieder heraus wollte, sodaß
Käthe sie manchmal mit den Zähnen herausziehen
mußte, samt den violetten Fäden, an denen der Rost
sich festsetzte.
Trotz ihrer nur geringen Eitelkeit nahm das Haar-
machen eine gute halbe Stunde in Anspruch und das
Gesicht-, Hals- und Händewaschen auch noch min-
destens ein Viertelstündchen.
Als sie, gerötet vom Reiben mit dem groben Hand-

134
tuch, den Kopf über dem Waschfaß erhob, fühlte sie
sich vom kalten Wasser höchst erfrischt und warf
den dicken Zopf, der ihr auf die Brust herabgefallen
war, mit Behagen zurück.
Ein Weilchen stand sie so in voller Jugendkraft
und Frische mit halbentblößtem Oberkörper da. Ge-
sicht und Arme bis zu den Ellenbogen waren stark
gebräunt und unterschieden sich dadurch vom
übrigen Körper.
Eine Purpurwelle gesunden Blutes pulsierte in
diesem kernigen Körper, welcher nach Genuß ver-
langte und vom praktischen Verständnis für die sinn-
lichen Seiten des Lebens zeugte, welche die Welt
vor ihr nicht verborgen hatte.
Aufgewachsen unter Leuten, die ohne alles Scham-
gefühl ihre Kinder in die tiefsten Geheimnisse des
häuslichen Zusammenlebens einweihen, wußte sie
von allem und sah nicht selten Bilder, welche die Ge-
bildeten mit dichtem Schleier verhüllen.
In dieser Beziehung war sie also vollständig auf-
geklärt, da man sie schon als Kind in allen Winkeln
herumstieß und sie alles mit ansehen und hören ließ,
ohne Rücksicht auf ihre Jugend und ihr mädchen-
haftes Zartgefühl.
Trotz alledem aber schlummerte ihr Körper noch
lange Zeit und entwickelte sich nur langsam, indem
er das Material zum Prachtbau weiblicher Formen
vorbereitete.
Jetzt, wo diese Entwicklung nahezu vollendet war,
erwachte in dem Riesenkinde das — Weib mit

135
der Ahnung nahen Unheils und dem vollen Bewußt-
sein seiner Bestimmung,
Nur zu bald mußte das Ubermaß der Kräfte in
ihrem Körper stürmisch verlangen, auf ein anderes
Wesen überzugehen, welches, sobald es in das Leben
gerufen, von diesen von Blut strotzenden Gliedern
die Möglichkeit des Daseins, der Bewegung und des
Denkens und Handelns empfangen würde.
Unbewußt wünschte Käthe sich diese Erleich-
terung. Denn instinktiv erriet sie, daß noch eine
Arbeit ihrer harre auf der Welt und daß deren Voll-
endung von ihr selbst ausgehen müsse, von ihrem be-
schleunigten Blutumlauf und der seltsamen Unruhe,
die ihr wie Schauer über den Rücken lief.
Zu beschränkt und geistig zu wenig entwickelt,
um zwischen den Erfahrungen in der Kindheit und
ihrem gegenwärtigen Zustand die richtige Linie zu
ziehen und eine Erklärung zu finden, dachte sie:
„Jeder nach seiner Art“, wenn ihr plötzlich der Kopi
schwindelte.
Ihr Instinkt aber warnte sie, woher die Schwäche
komme: sie hockte zu viel zu Hause und deshalb
stieg ihr das Blut in den Kopf. Daher müsse sie sich
ein wenig ergehen, dann werde ihr gewiß leichter.
Trotzdem aber verließ sie die Unruhe nicht;
manchmal setzte sie ihr sogar um so empfindlicher
zu. Dann war ihr, als stecke ihr unter der Haut ein
andere Wesen, welches dort mit Gewalt den Aus-
gang suche.

136
Als endlich der ersehnte Nachmittag genaht war
und Kithe, nachdem sie ihren Anzug vollendet, die
Straße betrat, war sie wie geblendet von all dem
sonntäglichen Glanz und wie betäubt von dem Lärm,
der in gemischtem Chor bei all dem Staub in ver-
sengender Hitze erschallte.
Die mit Hunderten von Spaziergängern bedeckten
Bürgersteige ergossen von ihren Rändern eine ganze
Flut von Menschen, gleich riesigen Rinnsteinen, die
bei Regengüssen ihr trübes Wasser über das
Straßenpflaster wälzen.
Meist waren es Handwerker mit ihren Frauen und
Kindern; Soldaten, auf der Suche nach irgend einer
nicht allzu grausamen Schönen; oder endlich Unter-
beamte mit ihren Familien, die, ihre mageren,
schlecht genährten Gestalten dahinschleppend, mit
der Menge irgend einen Vergnügungsort aufsuchten,
um dort den sauer verdienten Groschen nach den
langen, farblosen Wochentagen auszugeben.
Dienstmädchen, am Arme des „Schatzes“, dräng-
ten sich durch die Menge, um überall zuerst zu sein.
Überzeugt von der Macht ihrer Reize, hielten sie
sich selber, trotz der unmodernen zerkniillten
Kleider, die ihre plumpen Gestalten bedeckten, für
entzückend schön,
Das heiße Verlangen, die verhaßte Herrin nach-
zuäffen, prägte sich im seltsamen Sonntagsstaate
aus, in den diese derben, grobknochigen Frauen-
zimmer die an die bauschigen Falten des Alltags-
rockes gewohnten Formen einpreßten. Schmutzige

137
Bartgekleider, verziert mit andersiarbigen Fälbeln
und Bändern, zusammengerollt wie in Tuten, oder ınit
ausgefasertem Samt, spannten sich hartnäckig bei
jeder Kniebeuge und wurden fast bei jedem Schritt
mit den Hacken abgetreten. Unter den Tarlatanhals-
krausen sah man ein Stückchen des roten und dicken
Halses, an dem am schwarzen Samtbändchen das
übliche Medaillon hing. Auf dem Kopfe thronten die
seltsamsten Hüte mit wehenden Federn oder Büscheln
von maigriinem Gras mit riesigen Rosen und Vergiß-
meinnicht.
Manche gingen auch im bloßen Kopfe, ohne ihren
Neid beim Anblick eines verblüffenden Hutes auf
dem Kopf einer bemittelten Begleiterin zu verhehlen.
An ihrer Seite schritten meist Soldaten, mit Sieger-
miene sich wiegend.
Ulanen in blauer Ulanka und rotem Käppi spreizten
die Beine und blickten verächtlich auf die Jäger und
das übrige „Fußvolk“ herab. Kanoniere in braunem
Wams, zur Linken das kurze Faschinenmesser, be-
mühten sich, mit den Ulanen Schritt zu halten, deren
Übermut keine Grenzen kannte.
Die Droschken, die vorüberfuhren, waren voll-
gepfropft mit Menschen. Ermuntert nur durch die
Peitsche, schleppten die mageren Gäule sich, ab und
zu stolpernd, über das Straßenpflaster.
Alle zehn Minuten mußten die Leute ausweichen
vor den vorübersausenden Tramwagen.
Auch in diesen herrschte unerhörtes Gedränge.
Und trotzdem stiegen bei jeder Haltestelle neue

138
Fahrgäste ein, die, sich am Geländer anklammernd,
auf der Treppe standen und sich einzudrängen ver-
suchten, um sich fast mit Gewalt ein Plätzchen zu
erkämpfen.
Schmutzige Kneipen, wo lärmende Musik er-
schallte, öffneten ihre morschen Türen. Dumpfe Säle
oder enge Höfe, prahlerisch „Gärten“ genannt, mit
langen Reihen von wackligen Tischen, auf denen
Bierkrüge oder Schnapsgläser standen und mit ver-
blüffender Häufigkeit geleert wurden.
Bei matter Beleuchtung durch Tonlampions
drängten sich Männer, Weiber und Kinder, um den
Sonntag bei Bier oder Schnaps und bei Käse oder
sauren Gurken zu beschließen, mit denen sie sich den
kranken Magen vollstopften, um dann in später Nacht
heimzuwanken und durch wüsten Lärm oft unter
Fluchen und Toben die Einwohner aus dem Schlafe
zu wecken.
Dienstmädchen am Arme ihres „Schatzes“ eilten
ins Freie und verspäteten sich vor der Haustür, um
vor den Augen der Vorübergehenden ihren Roman
weiterzuspinnen.
Die Prüderie und die falschen Anschauungen ihrer
Brotgeberinnen, die ihnen die Erlaubnis versagten,
den „Schatz“ in der Küche aufzunehmen, zwangen
sie gewissermaßen zu solchen Straßenzusammen-
künften, die für die öffentliche Moral gerade nicht
von Vorteil waren.

139
Als Käthe sich plötzlich mitten in diesem Men-
schenschwarme befand, verlor sie fast allen Mut.
Jede Vorübergehende hatte, wenn nicht einen
Mann, so doch wenigstens eine Bekannte oder
Freundin zur Seite, mit der sie plauderte oder deren
Mitteilungen sie anhórte. Sie aber ging ganz allein,
und wenn auch alltags niemand sie begleitete,
schämte sie sich doch in diesem Sonntagstreiben
ihrer Vereinsamung, als sei dies ihre eigene Schuld.
Dazu kam noch, daß sie ohne Hut ging, im bloßen
Kopf, dessen glattgestrichenes Haar in der Sonne
glänzte. Dies zeugte von ihrer Armut, denn nur
ganz mittellose Mädchen gehen Sonntags ohne
Hut aus.
Gleichwohl beneidete sie nicht die anderen um
ihren auffallenden Staat, weil sie wußte, daß sie ihr
gegenüber reich waren. So hat es Gott gewollt und
eingeteilt. Dafür wird er auch sie im Jenseits
hundertfach entschädigen. |
Ubrigens war ihr Rock noch ziemlich neu, auch die
Jacke frisch gebiigelt und am Halse mit rotem Band
eingefaßt. Also war sie ganz sauber gekleidet und
ihre Armut war nicht ihre Schuld.
Nur daß sie so allein ging, war ihr peinlich.
Jeder, der sie sah, mußte, Gott weiß was, denken,
wenn sich nicht einmal irgend ein weibliches Wesen
mit ihr einlassen wollte und sie so mutterseelen-
allein gehen mußte. Das war doch höchst unan-
genehm!
Plötzlich fiel ihr — Rosa ein.

140
Vielleicht hatte auch sie heut ihren „Ausgehetag“.
Das wäre wirklich sehr schön!
Nur ging Rosa leider sehr selten am Sonntag aus,
weil sie im Milchgarten dann am meisten mit den
Gästen beschäftigt war, die dort scharenweis sich
einfanden.
Gewöhnlich aber hatte doch wenigstens eine
Kellnerin frei und vielleicht war Rosa heut gerade an
der Reihe. So lenkte Käthe ihre Schritte nach dem
Milchgarten, erfuhr jedoch dert, daß Rosa entlassen
sei und vom „baren Gelde“ lebe.
So versicherte die Wirtin selbst, die wegen der
großen Hitze den Platz an der Kasse ihrem Gatten
abgetreten hatte und in der Küche beim Milchaus-
schöpfen saß.
Käthe entfernte sich also wieder und stand ein
Weilchen auf der Straße, um zu überlegen, ob sie
Rosa daheim aufsuchen und sie fragen solle, was
diese Veränderung in ihrer Lebensweise zu bedeuten
habe. Nach einigem Besinnen dachte sie an Felix.
Seit seinem denkwürdigen Antrage beim Abholen der
Truhe hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Sie fühlte,
sie habe ihn sich zum Feinde gemacht und fürchtete
sich daher, ihm vor die Augen zu treten. Ihre
Freundschaft mit Rosa gewann jedoch das Über-
gewicht und zehn Minuten später überschritt sie die
Schwelle der Freundin.
Hatte auch für sie dies „Leben vom baren Gelde“
etwas Auffallendes, so wich Käthe doch überrascht
zurück vor dem Anblicke, der ihr dort vor Augen trat.

141
Auf dem Bette gegenüber der Tür saß Felix in
funkelnagelneuem Anzuge mit pomadisiertem Haar
und geschwärztem, zu beiden Seite der Nase empor-
gewichstem Schnurrbart.
Vor ihm war an das Bett anstatt des Tisches eine
Truhe geschoben, bedeckt mit den Resten eines
leckeren Mahles, welches wahrscheinlich aus der
nächsten Garküche herbeigeholt worden war.
Teller und Gläser standen ungeordnet auf der
. Truhe und auch einige Flaschen mit und ohne
Etikette lagen dort umher, wie bis in den Tod getreue
Soldaten auf dem Schlachtfelde.
Neben dem Bette stand Rosa, bleicher als sonst,
aber vollständig angekleidet und glatt gekämmmt, was
bei ihrer früheren Nachlässigkeit im häuslichen An-
zuge etwas ganz Ungewöhnliches war.
Das seidene Kleid, augenscheinlich vom Althändler
gekauft, hing förmlich an ihr herunter und hob sich
mit seinem grellen Ziegelrot wie ein, Schmutzileck
von der geborstenen Wand ab.
Ein abenteuerlicher Hut bedeckte den Kopf und die
Hände steckten in schmutzigweißen Handschuhen,
viel zu kurz, um die Stelle unter dem Ärmelrande zu
bedecken, sodaß ein Stück des vom Zusammen-
pressen geröteten Armes sichtbar wurde.
Offenbar hatten sie sich zum Spaziergange ge-
rüstet. Denn auch Felix preßte den glänzenden, aber
nur aufgefrischten Zylinder auf den Kopf und die
pfefferkuchenbraunen Glacós auf die Hände

142
Das enge Stiibchen erfiilite der widerliche Geruch
der schlecht zubereiteten Speisen; dieses Gemisch
von üblen Gerüchen aber verdeckte nahezu der
Tabaksqualm, der in dichten Schichten langsam zur
Decke stieg, um dann auf alles Gerät bis auf die
Diele herabzufallen.
Käthe, die an Rosas Vernachlässigung im Anzuge
gewöhnt war, stand ein Weilchen ganz erstaunt da
vor all dem Staat, der ihr plötzlich die Augen
blendete.
Diesen Eindruck vervollständigten noch die leeren
Flaschen, die Hühnerknochen und Salatreste und der
glänzende Zylinderhut des Schneiders.
Gewiß war heut hier Geburtstag oder Namenstag.
Und sie wußte nichts von einem so wichtigen Feste.
Ohne diesen Zufall hätte sie es mit Schweigen über-
gangen und die Freundin dadurch tief gekränkt!
Herzlich erfreut, daß sie noch rechtzeitig daran
erinnert wurde, streckte sie beide Hände aus und
trat einige Schritte vorwärts, um ihren Glückwunsch
auszusprechen. : .
Rosa aber runzelte bei Käthes Anblick zornig die
Stirn und verzerrte das Gesicht. Ein ganzer Strom
von Schmähworten wälzte sich von ihren Lippen auf
das Haupt der Eingetretenen herab: „Wie? Du
wagst es noch, hier einzutreten und vor mir dich zu
zeigen, als sei gar nichts vorgefallen? — O, ich weiß
alles: Felix hat es mir gesagt. Und ich mag nichts
mehr zu tun haben mit solch einer, die einer anderen
den Schatz abspenstig machen will!“ ...

143
Dann ergoB sich in den engen Raum des Stiibchens
eine neue Flut von Ausdrücken, wie sie Rosa in den
schmutzigen Winkelgäßchen aufgesammelt hatte, in
denen sie aufgewachsen war.
Käthe aber stand regungslos da, als könne sie
keinen Gedanken fassen und nicht begreifen, um was
es sich handle.
Rosa verbarg inzwischen mit weit geöffneten Augen
ihren Felix wie ein Kleinod, welches man ihr ent-
reißen wolle.
„O, jetzt weiß ich, was unter dieser heiligen Haut
steckt und lasse mir nichts mehr vormachen. Ganz
andere Wunder habe ich schon gesehen und weiß,
woran ich bin!“
Widerhallend an der niedrigen Decke kreischte
ihre Stimme: „Seht doch, dieses Schelmstück! Vor
der Nase wollte sie ihn mir fortschnappen! Aber
hätte sie ihm auch gebratene Hühnchen auftischen
können und ähnliche Leckerbissen? Hat sie doch
selber kaum, womit sie ihre Blößen bedeckt. Sieht
sie nicht aus, wie ein Bettelweib?“

Entsetzt über diesen Angriff wankte Käthe zur Tür


auf den Hausflur hinaus und hörte noch auf der
Treppe, wie Rosas schrille Stimme allerlei Ver-
wünschungen ihr nachschrie.
In ihrer Einfalt und Treuherzigkeit Konnte sie nicht
begreifen, was sie Rosa gegenüber verschuldet. Nur

144
das wußte sie, daß sie die einzige Freundin verloren
hatte. Ach! Jetzt konnte sie sterben vor Kummer
und hatte keine Menschenseele mehr, vor der sie
ihr Herz auszuschiitten vermochte!
Mit Rosa hatte sie einst in derselben Fabrik ge-
arbeitet und dort dieselben schädlichen Diinste ein-
geatmet und abends waren sie zusammen heim-
gekehrt auf dem Straßenpflaster der Vorstadt. So
manches Jahr hatten sie in Eintracht gelebt und sich
gegenseitig ausgeholfen, bis hier ein Mann ihnen
in den Weg trat und sie voneinander trennte, ohne
daß sie wußte, aus welchem Grunde.
Sollte denn immer und überall solch ein Mann
die Ursache ihrer Trübsal werden?
Allmählich gingen ihr allerlei Gedanken durch den
Kopf. Weshalb sagte Rosa, Käthe wolle ihr den
Felix abspenstig machen?
Hatte dieser sie doch selbst überfallen, als sie auf
der Truhe saß, um ihre Strümpfe zu stopfen. Damals
sagte er, Rosa sei ihm zu alt und zu nichts mehr
niitze und dann nahm er sie an der Hand und sagte
ihr Schmeicheleien.
Und heute machte ihr Rosa die bittersten Vor-
würfe, als sei sie daran schuld.
Rosa mußte doch wissen, daß sie nach den
Männern gar nicht hinsieht und auch um Felix sich
nicht kiimmerte, sogar damals, als sie zusammen
wohnten. |
Übrigens war ihr fremdes Eigentum von jeher
heilig. Einer anderen den Gatten oder den Geliebten

10 Käthe 145
abspenstig machen, ist geradezu Diebstahl und sie
hatte ihr Leben lang noch nicht gestohlen!
Jetzt wußte sie wirklich nicht mehr, wohin sie
gehen und was sie mit sich anfangen solle. Auf Rosa
hatte sie ganz sicher gerechnet, und nun darin sich
bitter getäuscht.
Noch länger in den Straßen allein herumzuirren,
war ihr zu langweilig und zu traurig. Alle anderen
gingen in Begleitung und sie nur sollte allein gehen
wie ein Hund ohne Herrn?
Dabei zerriß diese Rosa ihr fast das Herz mit ihrer
Lästerzunge: sie nannte sie... Ach, sie konnte es
gar nicht ausdenken, wie sie beschimpft wurde!...
Am besten wäre es, wenn sie in die Kirche ginge.
In ihrem neuen Dienste hatte sie zu wenig Zeit und
kam mur selten dazu. Wer mit Gott, mit dem ist
Gott! Man muß nur beten, das gibt gewiß Trost
und Linderung ...
Also ging sie in die Kirche, als den einzigen Ort,
zu dem der Zutritt ihr am Sonntagnachmittag móg-
lich war.
Nachdem sie die mit grünem Tuch beschlagene Tür
geöffnet, schlüpfte sie schüchtern hinein, anfangs wie
betäubt von der dumpfen Luft und dem Gesange,
der die hohen, dunklen Mauern erfüllte,
Auf doppelreihigen Bänken saßen dort die Leute,
deren Umrisse sich im Halbdunkel des Raumes fast
verloren. Über ihnen wölbte sich düster die mit
braunem Gewölk bemalte Decke, gestützt auf

146
massige, hohe Pfeiler mit schadhaftem Stuck, von
dem der Gips längst abgefallen war.
Die mit grünen Vorhängen verhüllten Bogen-
fenster ließen keinen Lichtstrahl ein. Nur in der
Nische des Hochaltars blinkten die vergoldeten
Säulen und die Draperien der Engel, die in Lebens-
größe ein riesiges Kreuz trugen.
Käthe kniete vor einem Seitenaltar nieder und
faltete die Hände zum Gebete,
Vor ihr erhob sich der Marienaltar, weiß, mitten
im Grün der Blätter und Blüten, die ihre Papier-
kronen in einfachen Vasen entfalteten.
Darüber neigte sich das liebreiche Antlitz der in
ein glänzendes Blechgewand gekleideten Mutter
Gottes. Vier Korallenschnuren, mit großen Nadeln
auf Leinwand festgesteckt, schmückten den Hals und
zu ihren Füßen lagen auf dem weißen Tischtuche
gelbe Wachsfiguren, von frommen Frauen als Ge-
lübde dargebracht. Dies berührte Käthe höchst
peinlich. Kam sie doch heute mit leeren Händen und
legte kein Opfer nieder!
Gestern kaufte sie sich Petroleum und wohl-
riechende Seife für ihr letztes Geld. Hätte sie sich
mit gewöhnlicher Seife gewaschen, konnte auch sie
jetzt ihr Opfer darbringen.
Was half ihr aller Wohlgeruch. Die Mutter Gottes
bedarf dessen nicht und fragt nicht nach Eleganz.
Zerknirscht kniete Käthe vor den Altarstufen und
gelobte sich, nach drei Wochen mit einem recht

10* 147
schönen Opfer wiederzukommen, etwa einem Herz-
chen oder einem Kreuzchen von gelbem Wachs.
Inzwischen ward es in der Kirche immer dunkler.
Ab und zu schallte durch die immer auf- und zu-
gehende Tür das Rollen einer Droschke bis in das
Kirchenschiff, verstummte aber dort, wie betroffen
über die eigene Keckheit.
Die barmherzigen Brüder sangen nicht mehr und
entfernten sich nach und nach oder lasen beim Lichte
ihrer dünnen Talgkerzen Gebete ab.
Allmählich wurde es still in der ganzen Kirche.
Die Leute verschwanden in der Dämmerung wie
Schatten, die sich in formlose Massen verwandelten.
Tiefer Friede schien aus den dunklen Kapellen zu
wehen, von den Spitzbogen des Gewölbes herab-
zuschweben an den Mauern entlang und die
Menschenherzen zu erfüllen, die an den Stufen des
Altars Trost und Linderung suchten.
AH die formlosen Massen, die in den duriklen
Winkeln auf den Knieen lagen, beugten sich immer
tiefer zur Erde unter dem Eindrucke des Friedens,
welcher die schmerzdurchzuckten Herzen’ beseelte.
Wäre nicht dieser stille Zufluchtsort, wo sie den
ganzen Sonntagnachmittag verweilen konnten, wohin
sollten diese traurigen, vereinsamten Wesen sich
flüchten?
Wohin geriete diese ganze Schar, die nur in ihrem
blinden, fanatischen Glauben sich aufrecht erhält und
die Kraft schöpft zum Kampfe mit der Not und der
Versuchung?

148
Welche Schenke öffnete solcher Trübsal die
gastliche Tür und der heißen Träne, die auf den Fuß-
boden der Kirche fällt?...
Wohin soilte solch ein armes Geschöpf sich be-
geben, wie Käthe, die so heiß und bitterlich an den
Stufen des Altars weinte?
O, sie wußte längst, daß sie nur hier sich aus-
weinen konnte,
Die ganze Not ihres Lebens, ihre frühe Ver-
waisung, die schwere Arbeit bei schlechter Kost, die
Sehnsucht nach der Welt, den Spott der Leute und
endlich — Johanns Gleichgültigkeit gegen sie, — dies
alles konnte sie hier beweinen, ohne sich ihrer
Tränen zu schämen.
Rings um sie her knieten Weiber, die ebenso
traurig waren wie sie und deren Gesichter in deı
Dämmerung verschwanden, während nur noch die
gesenkten Häupter und die auf der Brust gefalteten
Hände zu sehen und die tiefen Seufizer mit dem
Stoßgebete „O, Maria!“ zu: hören waren.
Lange noch lag Käthe auf den Knieen und klagte
stumm der Himmelskónigin ihr Leid.
Denn schöne Worte kannte sie nicht, wußte aber,
daß die Mutter Gottes derselben nicht bedürfe und
auch das Gebet einer armen Magd gnädig hinnehmen
werde...
Erst heute hatte Rosa sie so schlecht behandelt,
ohne allen Grund. Und das war wirklich fast zu
viel des Herzeleids. Aber auch dies wußte gewiß
schon die allerheiligste Jungfrau.

149
Sie selbst aber hatte den besten Willen, alles in
Ordnung zu bringen, nur wollte es ihr nicht gelingen.
Fast täglich zerbrach oder zerschlug sie etwas in
der Küche, sodaß sie am Monatsschlusse fast nichts
mehr erhalten würde von ihrem Lohne. Und doch
mußte sie sich neue Schuhe kaufen, weil die Sohlen
nicht mehr hielten und der Schuster sie nicht mehr
ausbessern wollte.
Dabei zwang die Herrin sie zur Lüge, obgleich
sie selbst wahrhaftig nicht sündigen wollte. Die
Herrin aber drohte und sprach dann wieder so lieb
zu ihr!
Und endlich dieser Johann. Ach! Er grollte ihr
so sehr, weil sie damals auf der Treppe sich nicht
von ihm küssen lassen wollte. Die allerheiligste Jung-
frau aber liebt unsittsame Mädchen nicht und zürnt
allen, die sich nicht gut führen,
Übrigens war dies nicht recht von ihm, daß er
sie wegen eines verweigerten Kusses so vor den
anderen Mädchen verhöhnte ...
Sie hätte ihn niemals ausgelacht, selbst wenn er
eine Torheit beging...
Den Nächsten zu verspotten ziemt sich nicht, und
Johann war doch auch ihr Nächster...
Träfe ihn ein Unglück, so gäbe sie ihm mit Freuden
sogar all ihre Habe und den ganzen Vierteljahrslohn,
um ihm aus der Not zu helfen...
Barfuß ginge sie selber, er aber wüßte dann, daß
er es mit einem ehrlichen Mädchen zu tun habe,
welches er nicht so verhöhnen dürfe...

150
So schiittete Käthe in der düsteren Kirche, vor der
in Dämmerung gehüllten Mutter Gottes knieend, all
ihr Herzeleid aus.
Ab und zu nur noch blinkte das Silberblech des
Gnadenbildes im Widerschein der zu Füßen brennen-
den ewigen Lampe.
Noch immer weinte Käthe still vor sich hin und
wischte sich die Tränen mit der Hand oder zog sie
in die Nase ein in Ermangelung des Taschentuches.
Die anderen Weiber rings um sie her zählten unter
tiefen Seufzern all die kleinlichen Sorgen und Leiden
ihres elenden Alltagslebens auf in kläglichem Flüster-
tone, der sofort verhallte an den feuchten, ge-
schwärzten Mauern.
Endlich verschwand sogar der Hochaltar mit seinen
vergoldeten Säulen im Schatten und nur noch das
schwarze Kreuz erhob im matten Lichte wie trium-
phierend seine scharfe Umrisse.

Als Kathe, aus tiefem Sinnen erwachend, sich um-


sah, erschrak sie nicht wenig über die inzwischen
hereingebrochene Dämmerung.
Wie in Schlummer eingewiegt von dem hier herr-
schenden Gottesfrieden, hatte sie einige Stunden auf
den Knieen gelegen, ohne sich um ihren Dienst zu
kümmern. Gewiß war es schon sehr spät geworden
und die Herrschaft wartete längst auf den Samowar.
Sie aber vergaß, zur rechten Zeit heimzukehren.

151
Daher eilte sie schnell hinaus und stieß dabei die
noch immer auf den Bänken hockenden Bet-
schwestern an.
Auf der Straße war es etwas heller als in der
Kirche. Und dies beruhigte sie ein wenig.
Nach Hause aber hatte sie noch ziemlich weit, denn
ihre Herrschaft wohnte dicht an der Vorstadt. Also
mußte sie sich sehr beeilen, um Ärger und Vorwürfe
vielleicht noch zu vermeiden.
Draußen herrschte noch reges Leben und Hunderte
von Vorübergehenden kreuzten sich nach ver-
schiedenen Richtungen. Hie und da brannte schon
das Gas, blinkte aber nur von fern im Schatten des
Laternenpfahles, wie gelbliche Sternschnuppen.
Mit Anbruch der Nacht steigert sich der Fieber-
zustand der Stadt und erfüllt die Luft mit unge-
sundem Hauche,
Immer aufdringlicher werden die Männer, immer
kecker im matten Gaslicht die geschminkten Weiber.
Auch Käthe fühlte diesen betäubenden Hauch und
ein seltsamer Schauer überlief ihr den Rücken. In-
stinktiv beschleunigte sie ihre Schritte, als wolle
sie der Notwendigkeit ihres Falles entgehen.
Auf dem Fuße folgte ihr ein Mann, der sie fast
anstieb. Dies war irgend ein Kanonier, den sein
„Schatz“ im Stiche gelassen und der nun in der
Menge nach einer anderen suchte, welche nach seiner
Ansicht sich eine Ehre daraus machen würde, seine
Liebste zu werden.
Die so allein gehende Käthe lenkte sofort seine

152
Aufmerksamkeit auf sich, Solch’ großes, strammes
Mädchen war ihm gerade recht. Und mit der ganzen
Roheit eines Mannes, dessen Sinne plötzlich er-
wachten, drängte er sich immer dichter an sie heran,
um sich ihr bemerkbar zu machen..
Sie aber lief immer schneller, um ihm aus dem
Wege zu gehen, bis ihr fast der Atem ausging. Nein!
Das iehlte gerade noch, daß sie ein Mann überfallen
mußte, während sie sich so beeilte, heimzukehren!
Schon fühlte sie am Ellenbogen den Arm des Ka-
noniers, der sie immer dreister anstieß mit der Keck-
heit eines Gassenhelden. Dazu kam noch, daß er ge-
wiß betrunken war, denn sein heißer Atem war ein
Gemisch von Bier- und Schnapsdunst.
Käthe zählte vor Angst schon die Straßen und
maß im Geiste die noch verbleibende Entfernung
bis zu ihrem Ziele. Zwischen Droschken und Trams
hindurch wand sie sich, um auf die engere Straße
nach der Vorstadt zu gelangen.
Dort wohnte ihre Herrschaft und von weitem sah
sie schon die Laterne brennen vor der Haustür.
In zehn Minuten schon, konnte sie zu Hause sein
und die Herrschaft um Verzeihung bitten. Im Geiste
‚beschäftigte sie sich schon mit dem Samowar. Wäre
nur nicht dieser Kanonier immer dreister ge-
worden!...
Er kniff sie sogar schon in den Arm, als sie in der
Menge ein Weilchen stehen bleiben mußte. Jetzt
war er ihr schon so nahe gerückt, daß er sie fast
in den Rinnstein stieß.

153
Und dabei lachte er laut und redete sie an:
„O“, sagte er, „nicht übel wär’ es, wenn wir zu-
sammen vor das Tor gingen, um ein Gläschen Bier
zu trinken. Bis zum Zapfenstreich ist es noch lange
hin; ich habe also Zeit genug, und wir würden schnell
Bekanntschaft schließen. Als Kanonier war ich schon
in so manchem fremden Lande, weiß mit den Weibern
umzugehen und lasse mich nicht so leicht abweisen!“
Ohne ihm zu antworten, eilte Käthe weiter. O,
das sollte ihr fehlen, so in der Nacht herum zu
spazieren.
Daß ein Mann sich ihr aufdrängte, daran war sie
längst gewöhnt. Nur darum handelte es sich ihr, daß
auf solche Weise keine ordentliche „Bekanntschaft“
zu schließen sei. Mit Soldaten läßt sich ein braves
Mädchen überhaupt nicht ein; denn diese halten es
nur zum Narren. Tränke sie also mit diesem Kanonier
ein Gläschen Bier, so würden die Leute sie mit Recht
geringschätzen.
Sie beschleunigte also ihre Schritte noch mehr und
stieß unterwegs fast alle Leute um, nur um sich so
schnell wie möglich von dem zudringlichen Verehrer
zu befreien. Dieser aber ließ sich nicht abschrecken,
sondern lief ihr nach, durch ihren Widerstand an-
gestachelt und über diese wilde Jagd inmitten der
Menge belustigt. Im pausbäckigen Gesichte funkel-
ten die kleinen Äuglein und immer wieder streckte
er die Hand aus, um das große, dralle Mädchen zu
erfassen, welches ihm mit seltener Gewandtheit
immer wieder entschliipfte.

154
Alle Voriibergehenden blieben stehen, um sich das
seltsame Paar näher anzusehen, eilten aber der Ver-
folgten keineswegs zu Hilfe.
„Bah! Irgend eine Köchin!... Sie wird schon
allein sich Rat schaffen!... Etwas Ordentliches ist
dies überhaupt nicht. Wer wird sich also darum
kümmern!“
Endlich hatte sie ihre Haustür erreicht und betrat
keuchend den Flur.
Dort herrschte fast völlige Dunkelheit. Johann
hatte die Flurlampe noch nicht angezündet.
Fast außer Atem lehnte Käthe sich an die Wand
und schloß die Augen, um ein wenig auszuruhen,
bevor sie die Treppe bestieg.
Plötzlich umschlangen sie kräftige Arme und
zerrten sie in den dunkelsten Winkel des Flausflures.
Der Kanonier wollte seine Beute nicht so leicht
loslassen. Fest an die Wand preßte er die dermaßen
Erschrockene, daß sie nicht einmal sich zu wehren
versuchte. Er wollte ihr schon beweisen, daß mit
einem k. u. k. Kanonier nicht zu spaßen sei, daß er
sich nicht behandeln lasse, wie ein Hund (woran sie
gar nicht dachte), dies sollte ihr schlecht bekommen!
Käthe aber verlor all ihre gewohnte Kraft. Die
Arme sanken ihr herab, anstatt den Frechen zurück-
zustoßen. Denn hinter dem Rücken des Soldaten be-
merkte sie — Johann, oder ahnte vielmehr nur dessen
Nähe. Dicht vor ihnen stand er, aber fast ganz im
Schatten verloren. Käthe jedoch wußte bestimmt,
daß er es war.

155
Und Verzweiflung ergriff sie bei dem Gedanken,
daß er sie im Kampfe mit dem betrunkenen Soldaten
sähe. Dies lähmte sie förmlich und benahm ihr allen
Mut und alle Kraft.
Ihrer Brust aber entrang sich nur jener einzige
Schrei des um seine Ehre ringenden Weibes, der, so
erhabenen Klanges, so voller Klage, Schmerz und
weiblicher Ohnmacht ein und derselbe ist und bleibt
in allen Schichten des Volkes.
Auf diesen Hilfeschrei tauchte plötzlich aus dem
dunklen Hintergrunde die Gestalt des hinter der
Haustür stehenden Johann auf und von seinem
starken Arme zurückgestoßen, wurde der Kanonier
mit dumpfen Krachen an die gegenüberstehende
Wand geschleudert.
Auf diese Weise von ihm befreit, trat Käthe einige
Schritte vor, blieb aber beim Schalle der zwischen
den beiden Männern ausgetauschten Hiebe und
Backenstreiche wie angewurzelt stehen.
Vor ihr im dunklen Hausflur wälzten sich die
beiden auf der Erde herum wie ein Riesenknäuel. Mit
dem Schalle der Hiebe mischten sich wilde Flüche
oder kurze, abgerissene Worte unterbrachen die
Schläge.
Augenscheinlich bemüht, den k. u. k. Kanonier zur
offenen Haustür hinauszuwerfen, durch die der
Straßenlärm hereinschallte, drängte Johann ihn mit
Gewalt dorthin nach der Schwelle.
Hartnäckig aber wehrte sich der Kanonier und
wollte nicht vom Platze weichen.

156
Dabei iiberschiittete er Johann mit einem Hagel
von Schmähworten, wie „Verdammter Zivilhund!“,
„Lumpiges Kanonenfutter!“ usw.
Wie erstarrt vor Angst stand Käthe vor den beiden
Männern, die einander vor Wut fast erschlugen und
den Hausflur mit wildem Lärm erfüllten ihret-
halben, die sie gar nicht näher kannten.
Am meisten zitterte sie bei dem Gedanken, deı
Kanonier könne sein Faschinenmesser ziehen, das
ihm an der Linken hing. Ach! Dann wäre Johann
verloren und sie wäre daran schuld!
Und in ihrer namenlosen Angst nagte sie an den
eigenen Fingern, um den Schrei zu unterdrücken, der
sich ihrer Kehle entringen wollte.
Plötzlich atmete sie freier auf:
Der Kampf war beendet...
Der mit braun und blau geschlagenem Auge und
verstauchter Hand zur Haustür hinausgeworfene Ka-
nonier schleppte sich unter lauten Verwünschungen
heimwärts nach seiner Kaserne, von seinem Liebes-
abenteuer höchst unbefriedigt.
Auf dem Kampfplatz blieb Johann als Sieger zurück
und bemühte sich, das seiner tüchtig verhauenen
Nase entströmende Blut zu stillen.
Schüchtern näherte sich ihm Käthe, um ihm ihren
Dank auszusprechen.
Er aber eilte an ihr vorüber in sein Stübchen unter
der Treppe und entzog sich so ihrem Gefühlsaus-
drucke, indem er sogar die Tür hinter sich verschloß.
Käthe stand also ganz allein auf dem Hausflur

157
und lehnte sich an die Wand, um noch einmal die
Vorginge des ganzen Tages sich vor Augen zu
führen. Ach! daß sie doch immer solches Unglück
haben mußte.
Erst wurde sie beschimpft von Rosa... Dann
schlich sie in die Kirche und saß dort bis zum späten
Abend, und endlich überfiel sie irgend ein Soldat! ...
Und dies mußte durchaus Johann mit ansehen!
Jetzt mochte er vielleicht denken, jener sei ihr
früherer Liebster, oder, was noch schlimmer, sie
selbst habe denselben hinter die Haustür gelockt.
Und nicht einmal erklären konnte sie ihm dies
alles. Denn er hatte sich vor ihr in sein Stübchen
geflüchtet.
Unmöglich durfte sie ihm dorthin folgen und hätte
ihm doch so gern ihren Dank ausgesprochen und ihn
um Verzeihung gebeten, wegen der Ungelegenheiten,
die er ihretwegen gehabt.
Das war doch sehr schön von ihm, daß er den
Kanonier so abfertigte! Zwar zerschlug ihm dieser
die Nase; immerhin aber war es gut, daß es dabei
verblieb. Denn es hätte noch weit schlimmer werden
können...
Was also war zu tun?
Vielleicht fände sich morgen, wenn sie nach Holz
oder Semmeln hinunterging. die Gelegenheit für sie,
das Versäumte nachzuholen!
Endlich stieg sie langsam die Treppe empor. Dieser
Sonntag war ihr doch gänzlich mißlungen.

158
Anstatt sich zu zerstrenen, hatte sie nur Verdruß
gehabt!
Ware sie nicht so allein durch die StraBen ge-
gangen, hätte sie sich solchem Überfalle nicht aus-
gesetzt. Wäre sie doch lieber zu Hause geblieben! Nur
ist es nicht gerade angenehm, drei Wochen lang sich
von früh bis spät abzuarbeiten und dann nicht ein-
mal irgend eine Freude zu haben!
Fast beneidete sie jetzt die anderen Mädchen, die,
nachdem sie ihr Sonntagsvergnügen genossen, zur
Alltagsarbeit mit größerer Lust und voller ange-
nehmer Erinnerungen an den froh verlebten Tag
heimkehrten.
Dafür aber gibt es nur ein Mittel: irgend einen
Liebsten zu haben. Mit wem sollte sie sonst spa-
zieren gehen und irgendwo sich niederlassen, um ein
Gläschen Bier zu trinken? Das ist einmal nicht
anders in der Welt!...

Als Käthe die Küche betrat, sah sie zu ihrem höch-


sten Erstaunen im matten Lampenlicht die Gestalt
ihrer Herrin, die sich über den Samowar beugte.
Sie blies mit größter Anstrengung die bleichen
Backen auf und man vernahm im engen Küchen-
raum ihre keuchenden Atemzüge. So versuchte sie
vergeblich, die Kohlen unter dem Samowar anzu-
fachen.

159
Das reichlich vergossene Wasser, die überall
herumliegenden Kienspäne und halbverbrannten
Zündhölzer und Papierfetzen, dies alles zeugte von
den langen und eifrigen Bemühungen dieser trägen
Frau, das Abendessen vorzubereiten.
Ohne Spur von Ärger wandte sie sich um nach
Käthe und sprach mit kläglicher Stimme: „Gut, daß
du kommst! Ich weiß mir gar nicht zu helfen mit
diesem Samowar. Das Wasser will ewig nicht
kochen!“ |
Hurtig ging Käthe an die Arbeit und entschuldigte
sich dabei mit warmen Worten wegen ihres langen
Ausbleibens. Sie habe nicht gewußt, daß es schon
so spät geworden und sei daher zu lange sitzen ge-
blieben. Die gnädige Frau sei so gut gewesen, sie zu
vertreten, und sie wisse wirklich nicht, wie sie ihr
dafür danken solle. Im Nu aber werde das Wasser
kochen und dann bringe sie sofort den Samowar in
das Zimmer.
Und nachdem sie der Herrin die Hand geküßt,
zündete sie die Kohlen an unter dem Samowar und
blies mit der ganzen Kraft ihrer kerngesunden
Lungen, bis der Widerschein der Glut ihr das dar-
über geneigte Gesicht wie Purpur rötete,
Frau Julia lehnte sich dabei an die Wand und
verfolgte mit den Blicken jede ihrer Bewegungen.
Wie seltsam! Sie selbst hatte sich fast eine halbe
Stunde lang mit dem Samowar abgequält und Käthe
erledigte in wenigen Minuten diese langweilige Arbeit.

160
Um Käthe vor dem Zorn des Gatten zu schützen,
hatte sie, als dieser beim Lesen vorjähriger Zei-
tungen eingenickt war, sich leise in die Küche ge-
schlichen, um alles für den Tee vorzubereiten. Dazu
trieb sie übrigens das ganz natürliche Gefühl der
Dankbarkeit. Da Käthe allein ihr die nächtlichen
Ausflüge ermöglichte, hielt sie sich für verpflichtet,
sie wenigstens auf diese Weise für ihre uneigen-
nützigen Dienste zu entschädigen.
In ihrer beschränkten Denkungsart glaubte sie,
auch Käthe kehrte heim von irgend einem zärtlichen
Stelldichein. Daher sah sie mit einer Art krank-
hafter Neugier sie an, als wolle sie erforschen, ob
alle Leute auf dieselbe Weise sich lieben und diese
Liebe ebenso äußern.
Käthes Liebster mußte ebenso kerngesund und
vierschrötig sein, wie sie; sonst wäre dies ein höchst
lächerliches Paar.
„Hast du dich gut unterhalten? Wo warst du
denn?“ fragte sie plötzlich das am Samowar be-
schäftigte Mädchen.
„Ach, gnädige Frau! Wo soll ich wohl gewesen
sein? In der Kirche war ich die ganze Zeit!“ er-
widerte Käthe, indem sie das Haupt erhob.
Frau Julia wunderte sich nicht wenig darüber. Sie
selbst ging nur Sonntags früh zur Messe in die Kirche,
wenn es dort hell war und alle Leute hingingen.
Was sollte sie dort nachmittags in der Keller-
luft anfangen, geschweige denn dort sitzen bis in die
späte Nacht.

11 Käthe 1 61
„Warum gingst du nicht spazieren?“ fragte sie,
indem sie sich auf den wackligen Schemel setzte,
die Augen schloß und gleichgültig auf die Antwort
wartete.
Überhaupt fühlte sie sich in dieser Küchenatmo-
sphäre am wohlsten: da konnte sie ohne viel Worte
und ohne Geist und Stimme anzustrengen, sich am
leichtesten unterhalten.
„Ach, wie gern“, erwiderte Käthe hastig, „wär’
ich bei dem herrlichen Wetter spazieren gegangen,
hätt’ ich nur jemand zur Begleitung gehabt. Deshalb
ging ich in die Kirche und betete dort zur heiligen
Jungfrau. Treibt ein Mädchen sich so allein herum
auf den Straßen, so sieht das immer schlecht aus!“
„Wie? Hast du denn noch keinen Liebsten?“
fragte Julia und riß erstaunt die Augen auf.
„Nein, gnädige Frau!“ entgegnete Käthe verlegen
und verbarg sich im Schatten.
Jetzt, nachdem sie so allein dastand und noch dazu
mit Rosa entzweit war, fühlte sie, daß es so nicht
länger bleiben könne, daß sie jemand haben müsse,
der ihr zugetan und Freud und Leid mit ihr teile.
Fast schämen’ mußte sie sich, daß sie noch keinen
Liebsten hatte. War sie doch weder häßlich, noch
gebrechlich, vielmehr nur zu kräftig und gesund. Und
dennoch ging sie noch immer so allein, als ob jeder
sie meide.
Dies geschah nur, weil sie durchaus heiraten
wollte, die Männer aber immer nur zum Zeitvertreib
solche Bekanntschaften schlossen.

162
Nachdem Frau Julia die Küche verlassen und
Käthe den Tee besorgt, ging ihr, als sie wieder
allein in der Küche saß, der einmal in ihr erwachte
Wunsch nach Anknüpfung irgend einer „ordent-
lichen“ Bekanntschaft mit seltsamer Hartnäckigkeit -
im Kopfe herum.
Entschieden wäre es gar nicht so übel, wenn Sonn-
tags immer irgend ein braver Mann zu ihr käme,
sich an den Tisch setzte und hübsch mit ihr plauderte,
während sie das Geschirr abwüsche, seine Fragen
beantwortete und ihm ihren Tee nebst ihrem Zucker
vorsetzte.
Dies wäre doch weit angenehmer, als so allein
stundenlang auf der Truhe zu sitzen oder sich, Gott
weiß, weshalb, auf der Straße herumzutreiben, sei es
auch nur, um in die Kirche zu gehen.
Mit unbeschreiblicher Wonne schloß sie die Augen,
um mit Hilfe ihrer Phantasie sich das Bild eines
solchen Lebens vorzuzaubern, welches sie mit dem
Reize einer ihr völlig unbekannten Neuheit so
mächtig anzog.
Deutlich stellte sie sich ihn vor, diesen „Jemand“,
wie er mit ihr am selben Tische saß und den Tee
trank, den sie ihm eigenhändig bereitete.
Wer weiß, wenn sie noch ein paar Groschen übrig
hätte, so kaufte sie zum Tee noch einige Semmeln
und etwas geräucherte Wurst.
Das essen die Männer so gern.
Rauchen aber durfte er nicht, um die Herrschaft
nicht zu ärgern. Gewiß jedoch entsagte er gern ihr

11* 163
zu Liebe auf einige Stunden dem Pfeifchen oder der
Zigarre.
Ubrigens kónnte er sich an das Fensterchen
stellen; dann zóge der Rauch auf das Dach, und keine
Spur davon bliebe zuriick in der Kiiche.
Dieser „Jemand“ müßte ein braver, fleißiger
Bursche sein, denn die Faulenzer liebte sie nicht.
Zarte Hände brauchte er nicht zu haben, wohl aber
ein frisches, fröhliches Gesicht, blaue Augen und
gesunde, blendend weiße Zähne. Und unwillkürlich
trat ihr immer wieder Johanns Gestalt vor die
Augen.
Ja, gewiß, er war ein solcher „Jemand“, so fleißig
und immer munter, so stattlich und so brav. Dabei
vergaß sie ganz all seine Spöttereien, die wie Keulen-
schläge auf sie herabfielen. Nur das wußte sie, daß
er zu ihrem Schutze sich auf den Kanonier stürzte
und sich sogar die Nase zerschlagen ließ.
Wäre er kein braver Mann, so hätte er gleich-
gültig zugesehen, wie sie mit dem Kanonier ihre
Not hatte. -
Vielleicht hätte er sie sogar ausgelacht und den
anderen Mädchen alles erzählt. Daß er dies nicht
tat, das war doch sehr hübsch von ihm, und sie
empfand gegen ihn tiefe Dankbarkeit, die sie durch-
aus auch ihm kundgeben wollte.
Übrigens spielte hier nicht nur Dankbarkeit die
Hauptrolle. Unbewußt unterlag Käthe einem stärkeren
Willen, der sie zu Johann hinzog.
Wie glücklich wäre sie, böte sich eine Gelegenheit,

164
sich mit ihm auszusprechen! Ihre einzige Sorge war
nur, daß sie ihn allein treffen und ihm ihr Herz
ausschütten könne.
Das Sprechen fiel ihr zwar schwer und überhaupt
war sie etwas schwerfällig. Gleichwohl hofite sie,
Gott werde ihr schon helfen. So recht von Herzen
wollte sie ihm danken und ihn inständig bitten, sie
nicht mehr so zu verhöhnen, weil ihr dies viel Ver-
druß mache,
Gewiß werde er nur darüber lachen und dabei ihr
seine tadellosen weißen Zähne zeigen, sich aber dann
mit ihr versöhnen und, wer weiß, wenn sie ihn ein-
lüde, auch zu ihr heraufkommen, sich an den Tisch
setzen und mit ihr plaudern und Tee trinken.
Dann wird sie ihn überzeugen, daß er unrecht tat,
sie so sonderbar zu behandeln.
Und sagen wird sie ihm, wer sie ist und woher sie
stammt. Auch Taufschein und Dienstbuch wird sie
ihm zeigen und ihn zu guterletzt zu ihren Gunsten
bekehren,
Wird er aber auch kommen wollen und der Herr es .
erlauben, daß eine Mannsperson in der Küche sitzt?..
Da lag der Hund begraben!...

I aller Friihe trat Johann heraus, um die StraBe


zu fegen und zu sprengen.
Das Trottoir war noch ziemlich leer und auf seiner
grauen Fläche blinkten die Strahlen der Morgen-
sonne. Hier und da eilten halbzerlumpte Arbeiter

165
vorüber, noch beschmutzt vom Staub und Schweiß
des gestrigen Tages. Mägde mit verschlafenen Augen
schleppten Eimer und Kannen, aus denen das Wasser
iiberschwappte. Marktwagen rollten auf dem
holprigen Pflaster vorbei. Und nach und nach wurden
die Haustüren geöffnet und aus den Hausfluren drang
der Lärm der erwachenden Einwohner.
Ab und zu erschallte der matte Klang einer Glocke,
der die Ordensbrüder zur Morgenandacht rief.
Durch das graue Gewölk am Horizont lugten bläu-
liche Streifen und verkündeten der noch schlummern-
den Stadt einen sonnig heiteren Tag. Nur langsam
aber erwachte die Stadt, als sei sie auf all den
Zauber eines Sommermorgens nicht neugierig, oder
vielmehr, als habe sie sich überlebt, wie ein alter
Wüstling, der an den Anblick der noch unberührten
Schönheit gewöhnt ist.
Mit Eifer begann Johann zu fegen.
Sein kerngesunder Körper bedurfte der Bewegung
und ermüdenden Arbeit. Am liebsten fegte er die
Straße am frühen Morgen, wenn die nächtliche Kühle
noch zwischen den Häusern wehte und ihn angenehm
erfrischte. Sein enges Stübchen bot seiner breiten
Brust zu wenig Luft.
Da er früh meist mit schwerem Kopfe aufstand,
ging er sofort auf die Straße, um den Besen zu
schwingen und, wie er sagte, sich den Dunst aus dem
Kopfe zu fegen.
Auch heute stand er schon sehr früh auf dem
Posten.

166
Sein Gesicht trug von der Nase bis zum rechten
Ohre bliuliche Flecken, als Zeichen des gestrigen
Kampfes und als Beweis der derben Faust des k. u.
k. Kanoniers.
Johann liebte es natürlich nicht, daß ihm etwas
weh tat. Die Geschwulst der Nase aber setzte ihm
höchst empfindlich zu.
Der Kanonier besaß ungewöhnliche Kräfte, und
obgleich Johann sich an ihm mit der doppelten Zahl
von Faustschlägen rächte, so änderte dies nichts an
der Sachlage und die Nase schmerzte ihm nach
wie vor.
Unmutig knurrte er daher immer wieder vor sich
hin: „Verdammter Hund! Verwiinschtes Frauen-
zimmer!“
In der Tat, wozu mischte er sich in das ganze
Abenteuer! Mochte der Soldat immerhin die
„Jesuitin* ein wenig abwürgen, kein Hahn hätte
danach gekräht!
Und dennoch war es ihm höchst verdrießlich, mit
anzusehen, wie ein anderer die Käthe küssen wollte.
Zwar hatte er sich von ihr abgewandt, da er in
ihrem Wunsche, sie zu heiraten, ein unüberwind-
liches Hindernis sah.
Seine männliche Selbstsucht aber verlangte, daß
keiner sie ohne seine Einwilligung anrühren dürfe.
Auch gestand er sich jetzt selber ein, daß er von
jeher solche stramme Mädchen liebte und daß Käthes
Blick ihm bis ins Herz drang.

167
So oft sie an ihm voriiberging, hatte er zwar irgend
ein Schmähwort auf den Lippen, sein Blick aber
folgte mit Wohlgefallen ihrer üppigen Gestalt.
Unbewußt zog ihn auch immer wieder ihre gute
Führung an und ihre stete Vereinsamung, über die
sie sich offen bei ihm beklagte, erfüllte ihn mit Be-
wunderung, fast könnte man sagen, mit Hochachtung.
Gewiß war Mary weit munterer und zugänglicher
als die stille und sanite Käthe. Dächte er aber jemals
an das Heiraten, so würde er Mary nicht nehmen;
als Liebste, das wäre etwas anderes. Ginge sie dann
mit einem anderen, so wäre dies keine solche Be-
schimpfung, als wenn sie dies als seine Frau tąte.
Als Frau wäre Käthe entschieden vorzuziehen:
Für ihn aber taugte das Heiraten nicht. Als Liebste
wiederum wollte Käthe nicht mit ihm gehen. Wozu
sollte er da noch an sie denken!
Und dennoch kehrte sein Gedanke immer wieder
zu ihr zurück, wie die Fliege zum Honig.
Am liebsten dächte er an etwas anderes. Fast
schämte er sich. Die Leute könnten am Ende denken,
er wolle für jenen „Bräutigam“ gelten, den Käthe
so sehnlichst erwartete. Wäre dies nicht der Fall,
so hätte er schon längst sich mit Käthe ausge-
sprochen.
Gestern hatte er dies alles nur vergessen, solche
Wut hatte ihn gegen den Kanonier erfaßt, der das
arme Mädchen nicht in Ruhe ließ.
Wie gut war es, daß er sie beschützte und den
Kanonier verscheuchte!

168
Nur mit dieser Nase, das war gerade nicht an-
genehm. Die Bestie schmerzte und schwoll vom
Fausthiebe immer mehr an!...
Inzwischen trat Käthe leise aus der Haustür und
blieb ein Weilchen stehen, offenbar sehr verlegen.
Endlich fand sich der Augenblick, wo sie mit
Johann allein sprechen konnte, wie sie es sich die
ganze Nacht hindurch überlegt hatte. Als sie jedoch
so vor ihm stand, hatte sie alles wieder vergessen
und wurde immer verwirrter.
In der Angst vor seinem Spott hielt sie, anstatt -
ihm ihren Dank herzustammeln, den Wasserkrug
krampfhait fest in der nervös zitternden Hand.
Auch Johann hatte sie längst gesehen und sie er-
schien ihm im Rahmen der etwas niedrigen Haustür
noch stattlicher und größer.
Im hellen Lichte der Morgensonne zeigte ihr Antlitz
ein rosiges, an den Schläfen dunkleres Rot.
Der Hauch der Jugend umwehte sie und die
Frische einer der klaren Flut entsteigenden
Nymphe...
So erschien sie ihm als die „Jungfrau“ im vollen
Sinne des Wortes und Johann wußte nur zu gut,
daß dies keine Täuschung war.
Und plötzlich, angeregt durch den gestrigen Kampi
mit dem Kanonier, unterbrach er zuerst das Schwei-
gen und wandte sich an Käthe mit den Worten:
„Guten Morgen, Fräulein!“
Käthe fühlte sich hierüber hochbeglückt und ihre
Dankbarkeit steigerte sich noch mehr, da er ihr den

169
Anfang mit dieser höflichen Anrede so erleichterte.
Das
war wiederum sehr hübsch von ihm! Jetzt wurde
es ihr weit leichter ums Herz. Mit bei ihr unge-
wohnter Entschlossenheit näherte sie sich ihm und
sagte, die Augen niederschlagend: „Herr Johann,
gestern haben S’ sich so bemüht, mich von jenem
Soldaten zu befreien. Dafür möcht’ ich Ihnen herzlich
danken und Sie zugleich um Verzeihung bitten, daß
S’ durch mich so viel Verdruß gehabt haben!“
„Bah!“ erwiderte er und stützte sich auf den Besen
“mit der Miene eines unüberwindlichen Ritters. „Das
war nur eine Kleinigkeit und nicht der Rede wert!
Zwar zerschlug er mir das Nasenbein; das wird aber
schon wieder heilen und dafür hab’ ich ihn auch so an-
gemalt, daß er sich aus der Haustür kaum heraus-
fand!“
So stolz und verächtlich sprach er über seine
Heldentat! Mit Teilnahme und Bewunderung blickte
sie nach seiner Nase, die in seinem runden Gesicht
in allen Farben schillerte.
„Das muß aber doch sehr weh tun!“ sagte sie
dann förmlich gerührt beim Anblicke des sichtbaren
Zeichens eines Kampfes, dessen unschuldige Ursache
sie war.
„Ei! Das hat gar nichts zu sagen!“ rief er, die
Hand schwenkend. „Wozu aber, Fräulein, kriechen
Sie bei Nacht so mutterseelenallein herum? Das hat
‚immer seine Gefahren und lockt entschieden nur die
Männer an!“

170
- .

Jetzt wurde sie feuerrot. Nein! Denkt er etwa,


sie ging absichtlich so allein, um Bekannischaften zu
suchen? Darüber mußte sie ihn aufklären. Mag er
endlich erfahren, mit wem er es zu tun habe.
„Ach, Herr Johann“, entgegnete sie, allmählich
lebhaft werdend. „Glauben 5’ ja nich, daß ich gern
so allein ging. Mir selbst ist das peinlich, durch die
Straßen zu laufen ohne Bekannte. Leider aber hab’
ich keine Bekannten und meine Familie wohnt weit
von hier, obgleich sie höchst achtbar ist!“
Und in der Betonung dieser Worte prägte sich das
Bischen Stolz aus, welches sie noch tiei in der Seele
bewahrte.
Belebt durch diese plótzlich und unerwartet ihr so
günstige Wendung wurde sie gesprächiger und
blickte, ganz wider ihre Gewohnheit, mit den dunklen,
jetzt lebhaft leuchtenden Augen ihm offen ins Gesicht.
Johann lauschte ihren Worten mit Behagen, hoch-
erfreut, daß er jetzt die für ihn so schwere Rolle eines
Feindes mit der eines Freundes dieses ihn so an-
mutenden Wesens vertauschen konnte,
Als sie zu sprechen aufgehört, blickte er sie noch
ein Weilchen wohlgefällig an.
Mit Unrecht nannten sie die Mädchen im Hause
den „Mehlsack“. Keines derselben konnte sich mit
Käthe vergleichen, so kernig, frisch und hübsch er-
schien sie ihm jetzt.
Beim Sprechen stellte sie die Kanne beiseite und
kreuzte beide Arme anmutig auf der Brust. Diese
vollen, runden, wenn auch etwas geröteten Arme

171
lenkten Johanns Blick auf sich und erregten in ihm
einLiistchen, einmal kräftigüber denEilenbogen hinein-
zukneiien. Die Vernunft aber iiberwog, da er Käthe
nicht beleidigen mochte, die, wie er wußte, solche
Scherze nicht liebte.
Später, wer weiß, vielleicht wird sie sich daran
gewöhnen und er wird schon sehen, was sich machen
läßt. Vorläufig vollständig zufrieden mit der Wen-
dung, welche die Sache genommen, stellte er den
Besen fort und näherte sich Käthe, bis sie einander
gegenüberstanden, nur durch den schmalen Rinn-
stein getrennt, in dem das bläuliche Abwasser de’
nahen Färberei vorüberfloß.
„Fräulein“, hob er an, als interessiere er sich leb-
haft für ihre Vereinsamung, „das muß doch höchst
langweilig sein, beständig so allein zu sitzen.“
„Freilich“, bestätigte sie. „Ich hab mich schon
oft gelangweilt, wenn ich in der Küche nichts mehr
zu tun hatte oder nich arbeiten durfte wegen des
Sonn- oder Feiertages.. Meine Herrin ist herzensgut,
aber entsetzlich wortkarg; der Herr dagegen etwas
mürrisch, und beide reden fast niemals mit mir.
Was Wunder auch: sie sind die Herrschaft und ich
bin nur die Magd, also bin ich ihnen zu dumm.
Immerhin is der Mensch doch kein Hund oder ein
stummes Geschöpf und möchte doch auch gern
manchmal mit jemand sprechen. Dort aber kann ich
nur mit den vier Wänden plaudern, so verlassen
sitz ich da. Am Werktag is es noch erträglich;
kommt aber der Sonntag, ach, Herr Johann, Sie

172
glauben nicht, wie bang mir da ums Herz is! Kein
Waisenkind kann sich so bangen. Und geh ich auf die
Straße, so irr’ ich herum, wie eine Motte. Das is
einmal so meine Bestimmung.“
„Gewiß, Fräulein“, bestätigte Johann mit teil-
nehmendem Kopfnicken. „Ein Mädchen so allein, das
ist wie eine Elster im Walde. Jedes Mädchen muß
seinen Liebsten haben, der ihm zur Seite steht und
es vor Unbill schützt.“
Plötzlich verstummten sie beide, wie verlegen über
diese Wendung des Gespräches.
Sie dachte an Johanns starke Faust, die ihr so
kräftig zur Seite stand. Er hingegen fragte sich selbst,
ob es sich nicht lohne, ihr Liebster zu werden. Wäre
nur nicht dieses Heiraten!
Ei was! Wer kaufen will, muß handeln! Vielleicht
ließe sie noch etwas ab von ihren Bedingungen. Die
Weiber wissen oft selber nicht, was sie wollen!
Manchmal ist eine morgens „Jesuitin“ und abends —
Freimaurerin. Also muß man es versuchen. Gelingt
es nicht, so ist auch nicht viel verloren!
Und mit plötzlichem Entschlusse schlug er ihr einen
gemeinschaftlichen Spaziergang vor nach drei
Wochen, wenn sie ihren Ausgehtag habe.
„Wir gehen vor das Tor oder in die Menagerie.
Fräulein, wohin Sie nur wollen. Mir ist alles einerlei.
Ich bin dort überall bekannt!“
Dabei nahm er die Miene eines blasierten Menschen
an, dem auf der Welt nichts mehr neu oder fremd ist.

173
Kathe stand ein Weilchen da, als kónne sie kein
Wort erwidern. In ihr kimpite irgend ein Instinkt
der Frauenseele am Vorabende ihres Falles mit dem
Wunsche, sich in Johanns Begleitung zu zerstreuen.
Sie hatte das Gefühl, als müsse sie „Nein!“ sagen
und sich von diesem Manne abwenden, der sie so
seltsam anzog.
Bisher hatte sie auf ähnliche Vorschläge stets
„Nein!“ gesagt. Heute aber fühlte sie sich völlig
ohnmächtig. Die Absage wollte nicht über ihre
Lippen, die der Wunsch, mit Johann den ganzen
Nachmittag zu verleben, immer wieder schloß.
Er aber hielt ihr Schweigen für ein Zeichen ihres
Einverständnisses und schilderte ihr mit glänzenden
Farben das Vergnügen solch eines Spazierganges zu
Zweien. Und unwillkürlich gab sie sich diesem Zauber
hin. Mein Gott! So viele Mädchen gehen spazieren
mit Männern! Weshalb sollte sie sich ewig lang-
weilen in der Einsamkeit?
Führte Johann auch öfters recht lose Reden im
Munde, so schien er doch kein schlechter Mensch zu
sein und ein Mädchen konnte unbedenklich mit ihm
durch die Straßen gehen.
Übrigens mußte sie ihn doch wenigstens durch
Höflichkeit für die bei ihrer Verteidigung verhauene
Nase entschädigen. Eine Ablehnung würde ihn be-
leidigen und so durfte sie doch nicht verfahren.
So hiillte sie in ihrer Einfalt den Wunsch, sich zu
zerstreuen, in den Schein der Dankbarkeit, und fühlte
sich nicht abgeneigt, den vorgeschlagenen Spazier-

174
gang anzunehmen. Dadurch würde sie sich doch
noch immer nicht bloßstellen. Die ordentlichsten
Mädchen gingen ja mit Bekannten spazieren, wenn
dies nur brave Menschen waren,
Und mit einem Lächeln der Befriedigung erklärte
sie sich bereit, auf Johanns Vorschlag einzugehen.
Er aber neigte sich zu ihr und entwarf immer leb-
hafter ihr den Plan, der sie mit freudigem Er-
staunen füllte.

eitdem begannen für Käthe bessere, hellere Tage


O nd das veränderte Verhältnis zwischen ihr und
Johann belebte ihr einfórmiges Dasein.
Sofort wurde sie unempfindlich gegen alle Spót-
tereien der iibrigen Madchen. Was konnte sie dies
kümmern, wenn Johann sich nicht daran beteiligte!
O, jetzt konnten sie immerhin sie den „Mehlsack“
nennen. Achselzuckend ließ sie den Hagel von
Schmähworten über sich ergehen.
Jetzt wußte sie, daß sie doch kein Mehlsack sei.
Wäre sie dies, so würde doch gewiß Johann Sonn-
tags nicht mit ihr spazierengehen.
Denn bekanntlich war er höchst wählerisch und
ging nur mit hübschen und ordentlichen Mädchen auf
der Straße.
Sie selbst hielt sich wahrlich nicht für eine Schön-
heit. Die ewigen Spöttereien aber hatten ihr doch
so zugesetzt, daß sie manchmal dachte, sie sei
wirklich ein wahres Scheusal. Johann selbst hatte

175
ihr aber gesagt, sie sei nichts weniger als häßlich,
und daran dachte sie oft im Stillen, wenn sie auf den
Knieen ihr Abendgebet sprach.
Damals ging sie mit dem Handkorb in die Stadt
im sauber gewaschenen Perkaljickchen.
Johann stand vor der Tiir und sprach mit dem
Krämer. Als er sie sah, trat er zu ihr und begrüßte
sie mit jener Schmeichelei. Dabei lachte er und zeigte
seine blendend weißen Zähne. Solche Zähne Hebte sie
und blickte ihn daher an, wie ein Heiligenbild, eilte
aber dann verschämt davon.
Fortan hatte sie nur die eine Sorge: immer recht
sauber und nett gekleidet zu gehen. Dies hielt aber
sehr schwer. Nicht etwa, weil sie aus Trägheit nicht
bei Nacht ihre Schürzen und Röcke waschen und
plätten mochte.
O nein! Mit Freuden säße sie bis an den hellen
Tag in der Küche, um nur morgens mit frischer
Wäsche zu rauschen, wenn sie Johann im Hause
begegnete.
Aber mit ihrem Herrn, das war eine wahre Plage:
Petroleum, Seife und Holz — alles teilte er ihr zu,
ebenso wie das Essen, und die Arbeit für die Herr-
schaft ließ ihr keinen Augenblick Zeit übrig.
Allmählich also gewöhnte Käthe sich das Lügen
an, indem sie irgend eine nächtliche Arbeit ausdachte,
um nur ein Viertelstündchen für sich zu gewinnen.
Anfangs fiel ihr dies sehr schwer. Die jedem Weibe
angeborene Verstellungskunst gab ihr jedoch allerlei
Ausflüchte ein.

176
Ein wenig Zeit für sich selbst ließ sich allerdings
leicht stehlen. Um so schwieriger aber Petroleum,
Seife und Holz. Es kam ihr gar nicht in den Sinn,
etwas von der durch den Herrn zugeteilten Seife
oder Stärke sich anzueignen.
Plötzlich kam ihr der Zufall in Gestalt ihrer Herrin
zu Hilfe.
Budowski versorgte in seinem maßlosen Geize
seine Gattin kaum mit den allernotwendigsten
Toilettegegenständen. Frau Julia wiederum in der
orientalischen Trägheit ihres abgeschlossenen, un-
tätigen Lebens liebte vor allem betäubende Wohl-
gerüche, sei es auch nur von gewöhnlichen Räucher-
kerzen, die sie öfters auf der Kommode anzündete.
Sie hatte aber immer gar kein Geld und ihr Gatte
auch nur wenig und dann stets sorgfältig verwahrt.
Nur ausnahmweise-gab er ihr einen Gulden als Miets-
geld für eine neue Magd.
Daher sann sie unaufhörlich auf allerlei Mittel zur
Befriedigung ihrer Leidenschaft für jene Wohl-
geriiche, die ab und zu die engen, schmutzigen Räume
der Wohnung erfüllten.
Auf Budowskis Frage, woher sie das dazu er-
forderliche Geld genommen, erwiderte sie, ihre
Mutter habe ihr einige iibriggebliebene Räucher-
kerzen gegeben.
Julia log mit der ganzen Seelenruhe einer blut-
armen Blondine und ihre Stimme veränderte sich
dabei nicht einmal.

12 Käthe 177
In ihr schlummerte eine gewisse Niedertrachtigkeit,
die sich in träger Flut nach außen ergoß, auf deren
Oberfläche aber silberklares Wasser trug.
Meist verständigte sie sich mit ihren Mägden, die
den Herrn mit dem Marktgelde betrogen und dann
den Gewinn mit der Herrin teilten. Dieser Gewinn
war zwar immer nur gering und betrug meist nur
einige Pfennige. Julia aber sammelte dieselben ge-
duldig, um nur ihre Neigungen zu befriedigen.
Dabei fühlte sie nicht einmal, wie sehr sie sich
erniedrige, wenn sie mit der eigenen Magd eine
Gemeinschaft einging, um den eigenen Gatten zu
betrügen.
Aufgewachsen wie fast jede Tochter eines Unter-
beamten, verlebte sie ihre Kindheit in der ver-
dorbenen Luft eines Winkelpensionates und trug in
ihrer schlummernden Seele nicht einen einzigen
besseren Trieb und kein einziges Gefühl der eigenen
Würde.
Ihr ausschließliches Lebensziel war, zu — heiraten,
und als sie endlich einen Mann erwischt, schritt sie
mit ihm vom Altar und lebte ohne leitenden Ge-
danken, indem sie den Gatten doppelt betrog, ma-
teriell und moralisch:
Seine Taschen leerend, schleppte sie seinen guten
Namen durch die dunklen Winkel eines Romans mit
einem jungen, ihr fast unbekannten Studenten.
Zuerst sah sie den auf der Straße.
Eine Zeit lang ging er jeden Sonntag in die Kirche
und stellte sich meist ihr gegenüber, um sie schmach-

178
tend anzublicken. Sofort erkannte er eine leichte
Beute in dieser Frau, die nach verbotener Frucht
lechzte und zu schwach und zu träge war, um ihm
ernstlich Widerstand zu leisten.
Die schwächliche Gestalt des Gatten schien ihn
nicht abzuschrecken und Julias hellgraue Augen, die
unverwandt auf ihn gerichtet waren, ermutigten ihn
zu weiteren Schritten.
Obgleich noch jung, war er schon recht gewandt
und ein gründlicher Kenner der Weiber. Er nahm sie,
wo er sie fand, ohne jede Wahl und verließ sie mit
Widerwillen, sobald das Verhältnis ein dauerndes
Joch zu werden drohte.
Sein leichtgekräuseltes Haar, sein hoher Wuchs
und die breiten Schultern erleichterten ihm die Er-
oberungen in den niederen Volksschichten. Auf die
höheren verstieg er sich niemals.
Er liebte, bewundert zu werden und seinen ver-
meintlichen Wert unbedingt anerkannt zu sehen.
Damen von Bildung oder mit seidenen Strümpfen
fürchtete er, im Gefühle, daß er sich ihnen gegenüber
nur lächerlich mache.
Mit Kennerblick durchschaute er Julias flachen
Sinn, den er schon am zweifelhaften Weiß ihrer
Strümpfe erkannte.
Nur kurz war der Kampf ... Natürlich siegte der
flotte Student und Julia wehrte sich nicht einmal ...
Halb im Traume kam sie zum ersten Stelldichein.
Erst später wurde sie allmählich lebhafter ...

12* 179
Ob sie dem jungen Manne wirklich zugetan war,
ließ sich schwer entscheiden. Bei ihren Zusammen-
künften zeigte sie dieselbe träge Gleichgültigkeit, wie
bei den Besprechungen mit ihrer Magd über die Höhe
des ersparten Marktgeldes.
Wenn sie ihre geliebten Räucherkerzen anbrannte,
blinkten ihre Augen mit demselben ungesunden
Glanze, wie beim Besteigen der ihrer harrenden
Nachtdroschke ...
Und ebenso schnell erlosch wieder dieser Glanz
beim rötlichen Schein der verglimmenden Räucher-
kerzen, wie beim letzten Kusse, den der Geliebte ihr
auf den weiBen Nacken preBte...

Julia wollte Käthe wiederholt schon auf ihre Seite


ziehen und ihr den Gedanken jenes kleinen Markt-
zelddiebstahles beibringen.
Immer aber meinte sie, Käthe sei an dieselben
schon selber gewöhnt und werde ihr die Sache schon
erleichtern.
Scheinbar gleichgültig hörte sie die Rechnung mit
an, die Käthe allabendlich vor ihrem Gatten selbst
ablegen mußte. Im Grunde aber lauschte sie gespannt
auf die von Käthe angegebene Zahl, die Budowski
in jenes bekannte schwarze Buch einschrieb.
All ihre Bemühungen waren jedoch vergeblich. Ob-
gleich sie sich mit dem angeborenen weiblichen
Instinkte auf die Kleinlichkeiten der Wirtschaft weit

180
besser verstand als ihr Gatte, konnte sie in Käthes
Berechnung nicht die geringste Ungenauigkeit ent-
decken, oder den Versuch, auch nur einen Pfennig
zu veruntreuen.
Dumpf grollend saß sie im Halbdunkel da und
blickte nach der an der Tür stehenden Käthe.
Also mußte sie wirklich das ABC der kleinen all-
täglichen Sünde diese Magd erst lehren?
Das ärgerte sie und schon der Gedanke daran lang-
weilte sie unbeschreiblich.
Am liebsten käme sie, wenn alles fertig ist.
Wie aber alles ein Ende nehmen muß, so mußte
auch Käthes makellose Ehrlichkeit ein für allemal
in das Schwanken geraten und in die Brüche gehen.
So brav und redlich wie bisher sollte sie nicht
länger durch das Leben gehen, wenn anders sie nicht
zu den nach den Begrifien ihrer Umgebung der Ver-
nunft beraubten Wesen gehören wollte.
Ihre nicht auf festen Grundsätzen beruhende Ehr-
lichkeit mußte in der Finsternis schwanken, in der
sie keinen Grund mehr unter ihren Füßen fand.
Übrigens wurde wieder der Zufall Julias Bundes-
genosse:
Käthe war verliebt...
Diese Liebe war ganz alltäglich und dennoch nicht
ohne sentimentalen Anflug.
Vor allem war Käthe ein Weib, welches in die Welt
erst eintrat, nachdem sie beim ersten Anblick Johanns
ein anderes Gefühl empfand als jene Angst, die
bisher alle Männer in ihr erregten.

181
Sie fühlte das lebhafte Bedürfnis nach einem freund-
schaftlichen Wort und freundschaftlicnem Umgange.
Ohne dies zu wissen, machte Julia sie zur Mit-
schuldigen an ihrem Frevel durch ein einziges freund-
liches Wort, welches sie ihr in der dunklen Küche
hinwari.
Jenes Bedürfnis aber war noch lange nicht durch
die sanfte Stimme eines zweiten Weibes befriedigt.
In Käthe war vielmehr das Weib erwacht, welches
laut seine Rechte forderte, nicht nur in sinnlicher,
sondern auch in geistiger Bedeutung.
Auch ihre Seele träumte gern am Waschfasse,
wenn ein Lied aus der Kindheit mit tiefem Seufzer
der von Rauch und Kochdunst erfüllten Brust sich
entrang und den vom fortwährenden Feueranblasen
aufgedunsenen Lippen entschwebte.
Käthe liebte zum ersten Mal.
Welchen Schlamm sie auch später durchwatete in
ihrem elenden Leben, dieses Gefühl, wenn es sich
auch nur in Form der Sinnlichkeit äußerte, mußte
seine Spuren in der Erinnerung eines Weibes hinter-
lassen.
Dies ist der einzige Winkel im Frauenherzen, der
sich niemals verändert. Diese Erinnerung haftet darin
für immer, oft wie betäubend vor Wehmut und
Schmach, aber in gleicher Weise bei der gicht-
brüchigen Bettlerin, wie bei der vornehmsten
Dame...
Käthe zergliederte die Gefühle nicht, die sie er-
füllten, seit sie Johann kennen gelernt.

182
Ebenso wie seine tadellosen Zähne, die beim
Licheln zwischen den Lippen blinkten, liebte sie
seine Blicke, die er ihr bei jeder Begegnung im Hause
zuwarf und in denen ihr Instinkt allerlei „schöne
Dinge“ erriet.
Oft beobachtete sie, in einer Ecke des Hausilures
verborgen, seine stämmige Gestalt, wenn er so ge-
wandt und kräftig den Besen schwang,
Dann bewunderte sie seine unter der etwas zu
engen Bluse ein wenig gerundeten breiten Schultern
und den gebräunten, teilweise mit blondem Flaum
bedeckten Stiernacken.
In gleiches Entzücken versetzte sie seine Stimme,
wenn er ihr „lustige Geschichten“ erzählte, von
denen sie bisher keine Ahnung hatte.
So wohl war ihr immer zumute, wenn seine sanfte
Stimme in ihr Ohr drang, daß ein süßer Schauer sie
durchrieselte, Dann vergaß sie sogar seine weißen
Zähne und seine breiten Schultern und lauschte, an
die Wand gelehnt, seinen Worten und schloß dabei
die Augen, um ihn gar nicht zu sehen und alles besser
zu hören.
Oft ergriff sie eine förmliche Rührung, gewiß als
Anfang von Nervenerregung,
Da sie eine solche aber bisher gar nicht kannte,
beschränkte sie sich darauf, die Tränen mit dem
Wischlappen zu trocknen und sich eine ganze Reihe
abgerissener Sätze zuzuflüstern, als Ausdruck einer
Wehmut, die sie jetzt häufiger als sonst befiel.

183
Auch jetzt konnte sie nicht sagen, daB er allzu
höflich gegen sie war.
Für die Eroberung der Weiber hatte er sein ganz
besonderes System: Manchmal quälte er sie nur, um
sie die volle Überlegenheit seiner männlichen Würde
fühlen zu lassen.
Käthe gegenüber änderte er zwar dieses System
mit Rücksicht auf. den eigentümlichen Charakter,
hielt aber immer an den Grundsätzen fest, die er
zwischen einem Pieifchen und dem anderen mehr
oder minder in den Worten ausdriickte: „Mit den
Weibern ist es, wie mit schlechten Besen: Nur
immer dreist, sonst sind sie halb Hund, halb Ziege,
so miBtraujsch, Nur immer den Kopf hoch, dann
fallen sie dir von selbst in die Tatzen.“
Dies tat er auch Käthe gegenüber, indem er ihr
zurief, so oft sie über den Hof ging, sie solle ihm
nur nicht die Tür umreißen.
Sie aber lächelte sanit, als sei dies nur die Ein-
leitung zu Zärtlichkeiten.
Manchmal hielt er sie beim Vorübergehen an und
kniff sie, ohne ein Wort zu sagen, nicht allzu stark,
nur wie im Scherz in den Arm.
Auf jeden anderen Mann wäre sie sicher ärgerlich
geworden.
Johann aber durfte sich offenbar viel heraus-
nehmen. Denn wenn sie auch ein wenig schmollte,
mußte sie dennoch im Stillen bekennen, daß ihr bei
jedem solchen „Kneifen“ so wohlig wurde, als tränke
sie Tee mit sechs Stücken Zucker.

184
Nur einmal hatte sie so den Tee bei ihrer friiheren
Herrschaft getrunken, als das Kindermädchen be-
trunken heimkehrte vom Begräbnisse der Mutter und
wahrscheinlich aus übergroßer Trauer nichts in den
Mund nehmen mochte, Damals nahm sie also die
doppelte Menge Zucker und schlürfte den köstlich
versüßten Tee löffelweise ein.
Dasselbe Gefühl hatte sie jetzt, wenn Johann sie
kniff.
So gab sie sich allmählich dem Einflusse dieses
Mannes hin, ohne auch nur die Möglichkeit ihres
nahen Falles anzunehmen .
Zu Johann zog es sie hin wie zu niemand auf der
Welt. An die Folgen dachte sie nicht einmal...
In der Arbeit störte sie das nicht, nur höchst selt-
saın beim Abendgebete, welches sie durchaus nicht
beenden konnte, wenn sie vor dem Bette kniete,
Immer wieder kam ihr der Gedanke an Johann in
den Sinn und an den Sonntag, den sie zusammen ver-
leben sollten.
Wohin werden sie gehen? Was werden sie unter-
nehmen? Was sollte sie anziehen und woher das
Geld nehmen zu der Stärke, die für das „Rauschen“
der Röcke durchaus nötig war?
Fast geriet sie in Verzweiflung, als sie ausrechnete,
wie viel mehr oder weniger sie noch von ihrem
Monatslohn zu erhalten habe.
Mit dem Mietsgulden mußte sie eine Vase, zwei
Tassen und drei Gläser bezahlen, die sie zerbrochen
hatte. Dazu kam noch die zerfallene Wanne im

185
Keller, fiir die der Herr ihr so und so viel abziehen
wollte. Und der Flieder für die Herrin kostete auch
noch drei Groschen ...
Ohne Groll dachte sie jetzt an den Fliederzweig,
den jene zum Stelldichein sich in das Haar gesteckt.
Jetzt war sie schon etwas nachsichtiger gegen solche
Verirrungen ...
Freilich vom Muttergottesbilde hätte die Herrin
nichts fortnehmen sollen. Wenn sie aber keine andere
Blume hatte, so konnte sie zur Not auch dies tun.

Eines Morgens kam Frau Julia in die Küche und


traf dort Käthe, als sie eben die Markteinkäufe aus
dem Korbe herausnahin,
Die frische Luft und die schnelle Bewegung wehten
auf ihre Wangen eine Blutwelle, die wie Purpur
durchschimmerte unter der gebräunten Haut.
Ihre Finger strichen mit einer gewissen Wonne
über die feuchten Salatblätter, die sie auf dem Tisch
ausbreitete, um die verwelkten abzureißen und in
eine danebenstehende Wanne zu werfen.
Bei Julias Eintritt trocknete sie sich die Hände, um
den bekannten Brief entgegenzunehmen, welcher der
Herrin als Vorwand zu ihrem Stelldichein diente.
Julia aber gab ihr heute keinen Brief, sondern
starrte nur auf das kleine Geld, welches auf dem
Tische zwischen den Salatblättern blinkte.

186
Erstaunt iiber diesen ungewohnten Besuch und
förmlich betroffen über das Fehlen des sonst üblichen
Briefes, blickte Käthe ihr in die Augen. _
Die im übrigen seltene Anwesenheit der Herrin in
der Küche kündete meist deren nächtliche Aus-
flüge an.
Heute also mußte etwas Ungewöhnliches geschehen
sein und jene einen anderen Auftrag für sie haben.
Jetzt konnte sie ohne Scheu mit ihr reden. Seit
Käthe erfahren, daß die Männer alle „nichts taugen“,
es aber doch ganz angenehm sei, mit ihnen zu
plaudern und zu lachen, erfüllte sie Julias Wünsche
um so lieber.
Auch diesmal war sie zu jedem Dienste bereit.
Gewiß handelte es sich wieder um jenen jungen
Herrn, und sie würde alles gern besorgen.
Übrigens wäre dies ein Vorwand mehr, um über
den Hof zu laufen, wo sie soeben Johanns Stimmie
hörte, als er die Tapeziererfrau gründlich ausschalt,
weil sie das Spülwasser mitten auf dem Hofe aus-
gegossen hatte,
Die Herrin aber gab ihr diesmal keinen Auftrag
an den Verehrer. Mit geschlossenen Augen lehnte
sie an der Wand und flüsterte ihr zu, auf welche
Weise die anderen Mägde sich ihr nützlich machten.
Dies sei doch durchaus kein Diebstahl. Solchen ver-
abscheue sie selber. Was aber dem Herrn gehöre,
sej auch ihr Eigentum. Was wäre also dabei, wenn
Käthe den „Rest“ vom Marktgelde mit ihr teile?

187
Sie sei sogar mit der kleineren Hälfte zufrieden,
weil sie den Herrn mit der Bitte um solche Kleinig-
keit nicht belästigen wolle.
Regungslos lauschte Käthe der Herrin. Wis?
Diese selbst riet ihr zum Diebstahle? Denn Dieb-
stahl war dies doch und weiter nichts, und „du
sollst nicht stehlen!“ lautet das siebente Gebot.
Käthe ward ganz verwirrt im Kopfe und kaum
noch konnte sie Julias Worte unterscheiden. Nur
deren Sinn verstand sie und wußte, daß jene eine
neue Lüge und Verirrung verlangte. Nein! Dazu
böte sie niemals die Hand.
Und mit aller Achtung, aber voller Entschieden-
heit lehnte sie Julias Verlangen ab und verteidigte
sich ohne weitere Erklärungen nur gegen den Vor-
wurf des Ungehorsams.
„Der Herr würde mir zürnen oder mich ver-
dächtigen und mir ein schlechtes Zeugnis geben. Nein,
das kann ich nicht tun...“
Hier brach sie ab. Auf den Lippen aber schwebten
ihr die Worte: „Denn das ist eine schwere Sünde!“
In diesem Hause jedoch, wo der Name Gottes
niemals ausgesprochen wurde, hielt Käthe diese Be-
gründung in ihrem gesunden Menschenverstande für
überflüssig. Wußte sie doch, daß Julia den gött-
lichen Zorn weniger fürchtete, als den ihres Gatten.
Julia aber verharrte im Eigensinn eines schlecht
erzogenen und dabei beschränkten Weibes auf ihrem
Verlangen mit erhobener Stimme und immer leb-
hafter.

188
Lebenszeichen gab sie iiberhaupt nur gegeniiber
dem Laster, ob es nun das Gepräge eines Ver-
brechens oder nur einer kleinen Alltagssünde trug.
In ihren Adern rollte offenbar etwas verdorbenes
Blut, welches seinen Nährboden nur in der Atmo-
sphäre der Lüge fand.
Mit Geschick stützte sie ihre Behauptungen auf
scheinbar höchst einfache, in Grunde aber trüge-
rische Gründe und traf damit Kathes. beschränkten
Verstand, indem sie sich unbewußt auf dessen
niedrige Stufe stellte, mit dem Verlangen, sich ein
paar lumpige Pfennige zu verschaffen.
„Übrigens“, fuhr sie fort, ohne Käthe anzusehen,
„tu” du, was du willst, mein Kind! ... Ich aber
müßte mich bald um ein anderes, willigeres und mir
mehr zugetanes Mädchen bemühen!“
Plötzlich flimmerte es Käthe vor den Augen.
Mechanisch strich sie mit der Hand einige Salat-
blätter, die an der Schürze hängen geblieben waren,
herunter. Wie? Entiassen werden sollte sie um
solche Kleinigkeit? Das ging ihr doch tief zu Her-
zen. Erschien ihr doch diese schmutzige, düstere
Küche wie ihre beste Freundin, die sie verlieren
solle.
Dazu kam noch, daß Johanns klangvolle Stimme
durch das offene Fenster schallte und sie an dessen
sie jetzt so mächtig anziehende kräftige Gestalt er-
innerte.
Julia entfernte sich gleich darauf und ließ sie
unter dem Eindruck ihrer letzten Wort allein zurück,

189
fest davon iiberzeugt, daB Kathe sich doch noch be-
Sinnen werde, wie die anderen Mädchen auch.
Ubrigens dachte sie gar nicht daran, das durch
Käthe veruntreute Marktgeld auf Heller und Pfennig
mit ihr zu teilen, sondern wollte einfach nur nehmen,
was jene ihr abends beim Bettmachen unter das
Kopfkissen legte ...
Ein Weilchen stand Käthe noch vor dem Tische,
gesenkten Hauptes und mit schlaff herabhängenden
Armen.
Dann begann sie unter schweren Seuizern das
Fleisch in kleine, längliche Stücke zu zerhacken.
Grünzeug in kleinen Bündeln, eine Metze Kartoffeln,
ein viertel Pfund Faßbutter, eingewickelt in eine alte
Zeitung und ein wenig Mehl in grauem Papierbeutel,
das waren die Einkäufe, bei denen sie den Herrn
bestehlen und dadurch die ohnehin schon kargen
Vorräte noch schmälern sollte.
Um sie selbst handelte es sich dabei gar nicht.
Mein Gott, sie nährte sich mit noch Wenigerem und
brauchte kein Marzipan. Was für Speisen aber
«sollte sie auf den Tisch bringen, der ohnehin schon
so ärmlich aussah.
Wahrhaftig, jetzt fühlte sie sich totunglücklich.
Beim Gedanken, sie müsse den Dienst verlassen,
traten ihr die Tränen in die Augen. Wie? Gerade
jetzt sollte sie davongehen, wo sie mit Johann in so
gutem Einvernehmen stand und in fünf Tagen sogar
mit ihm spazieren gehen konnte,

190
Wenn sie jetzt, das fiihlte sie, dies Haus verlieBe,
wäre alles vorbei und ihn sähe sie niemals wieder.
Und voller Verzweiflung bearbeitete sie mit dem
stumpfen Hackmesser das Fleisch, dessen blutige
Masse auf der Tischplatte sich ausbreitete, Dann
nahm sie aus einem Töpfchen das angefeuchtete
Kommisbrot heraus, um es mit dem Fleische zu
mischen. Fleischklößchen sollten dies werden, also
durchaus kein feines Gericht. Dabei aber sparte sie
an Fleisch und nahm die Hälfte Brot dazu.
Dies gab ihr zwar viel zu denken. Der Herr
würde ja doch nicht dahinterkommen, ob mehr oder
weniger Fleisch sich in der Mischung befinde, die
sie mit den Fingern knetete.
Ein viertel Piund Fleisch — das wäre schon viel
erspart,
Die Herrin würde zufrieden sein, und sie selbst
hätte wieder ihre Ruhe ...

So nahm Käthes Ehrlichkeit allmählich eine immer


dunklere Färbung an und der Wunsch, in Johanns
Nähe zu bleiben, gab ihr tausend Ausflüchte ein, mit
denen sie ihr Gewissen einschläferte.
Die schlechten Beispiele, die sie von Jugend auf
umgaben und die Atmosphäre von Lug und Trug,
in der sie aufgewachsen, übten gleichfalls ihren Ein-
fluB auf sie aus und unterdrückten in ihr alle guten
Triebe.

191
Die „Marktgełdgroschen', diese Plage jeder
Hauswirtschaft, nahmen allmählich auch in diesem
Beamtenelend überhand und machten aus einem ehr-
lichen Mädchen eine Diebin, wenn auch vorläufig
nur eine Anfängerin, die aber doch schon mit dem
Makel der Sünde sich befleckte.
Als Julia am nächsten Abende sich schlafen legte,
fand sie unter dem Kopfkissen schon einige
Groschen, für die sie sich allerlei Räucherwerk
kaufte, um die ganze Wohnung mit Wohlgerüchen
zu erfüllen.
Zwar zitterte Käthes Stimme, als sie bei der Ab-
rechnung die Zahlen für Mehl und Fleisch ver-
änderte. Die am Fenster sitzende Herrin schien
jedoch solche Kleinigkeit gar nicht zu beachten.
Durch das geöffnete Fenster drang ein frischer
Luftstrom und das dumpfe Rasseln eines in der
Ferne vorübersausenden Bahnzuges.
Julias Blicke folgten dessen, wie Purpursterne
auf dem hohen Bahndamme dahineilenden Lichtern
in die weite Ferne, wie sie diese sich in ihren nebel-
haften Traumbildern vorstellte,
Dies war ja die einzige Tageszeit, in der auch auf
ihrem Gesichte die Sehnsucht nach Freiheit sich
ausprägte. Daher beachtete sie auch gar nicht die
ihr gegenüber an der Wand stehende Käthe, die zum
erstenmal in ihrem Leben log und mit der ganzen
Unsicherheit der Anfängerin die Worte aussprach,
welche den Diebstahl verdecken sollten.

192
Dieses große Mädchen aus dem Volke trug noch
immer die ganze Schüchternheit eines Kindes an
sich, welches vor jeder Schlechtigkeit mit Abscheu
zurückschreckt.
Nur das Leben und die Verhältnisse stießen
Käthe in den Abgrund, langsam und allmählich
durch kleinliche Alltagssünden, gegen die sie sich
zwar wehrte, aber nicht kräftig genug, wie ein
Wesen olıne jeden Halt ...
Der Herr merkte den Betrug gar nicht und ob-
gleich sie eine Höllenangst ausstand, wenn sie die
Zahlen fälschte, fiel doch kein Schwefelregen auf ihr
Haupt. i
Die Herrin war vollständig befriedigt und
streichelte sie mit der Hand, nachdem sie sogar in
der Küche ein Räucherkerzchen angezündet. Der
süßliche Duft vermischte sich mit dem Geruche des
im Topfe kochenden Weißkohles.
Auch Käthe lächelte befriedigt beim Anblick
Julias, deren glatter Kopf in den blauen Wölkchen
des über das Licht gehaltenen Kerzchens ver-
schwand.
Nur eines konnte Käthe an jenem Abende nicht
fertig bekommen.
Als sie nach beendeter Abrechnung und Küchen-
arbeit niederkniete zum Abendgebet, vermochte sie
dies nicht so wie sonst zu Ende zu sprechen. Un-
willkürlich blieben ihr die Worte in der Kehle
stecken und die Augen starrten hartnäckig an die
Wand, anstatt die Heiligenbilder anzublicken.

13 Käthe 193
Ihre noch reine Seele. meinte im blinden Glauben
aus den Gesichtern der Heiligen wegen ihrer
schlechten Führung einen scharfen Tadel herauszu-
lesen.
Daher kniete sie lange schweigend und wagte
nicht, der Mutter Gottes in das Antlitz zu sehen.
Allmählich jedoch gewöhnte sie sich auch daran.
Dies war der Anfang der Zersetzung einer noch
unverdorbenen Natur, in die nach und nach das Gift
kleiner Alltagsünden geträufelt ward.
Anfangs gab Käthe alle „Marktgroschen* an Julia
ab, um sich gewissermaßen vor sich selsbt zu recht-
fertigen.
Schon am dritten Tage aber teilte sie das unter-
schlagene Geld in zwei gleiche Teile und kaufte sich
für ihre Hälfte Petroleum, Seife und Stärke.
Die ganze Nacht hindurch wusch und plättete sie,
ängstlich lauschend, ob der Herr auch nicht erwache
und Licht in der Küche sehe.
Erst nachdem sie das Schlüsselloch verstopft,
nahm sie das glühende Plätteisen aus dem Ofen.
Dies war am Sonnabend, dem schwersten
Wochentage. Bis Mitternacht hatte sie die Küche
gescheuert und aufgeräumt und fiel fast um vor
Müdigkeit. Und dennoch frischte sie bis an den
hellen Tag ihr rosa Perkalkleid auf, welches seit
drei Jahren ihren höchsten „Staat“ ausmachte. Es
war ihr zwar schon etwas zu kurz geworden und
für die Schultern zu eng. Dafür aber ließ sich
Rat schaffen, indem sie ihr schwarzes gehäkeltes

194
Tuch umlegte und vorne zusteckte. Dies würde so-
gar sehr hübsch aussehen! ...
Morgen sollte sie mit Johann ausgeben. O, wie
werden sie die anderen Mädchen beneiden. Sie
selbst aber würde darüber nicht einmal schadenfroh
sein ...
Drei Stunden wiirde sie mit ihm zusammen sein,
allerlei Schónes sehen und zum erstenmal im Leben
auch ein Vergniigen haben.
Nur eines machte ihr Kumrmer.
Ihr Kleid war zwar sauber und aufgeplättet. Die
Schuhe würde sie so blank wichsen wie die Stiefeln
des Herrn, und Hals und Hände sich gründlich
waschen. Auch ein Taschentuch hatte sie einst auf
der Straße gefunden, als sie morgens nach Sahne
ging. Anfangs hielt sie es für einen Flicken, dann
aber überzeugte sie sich, es sei ein Battisttuch. Jetzt
hatte sie es sich frisch gewaschen und geplättet und
morgen würde sie es in der Rechten tragen, wie an-
ständige Mädchen.
Dies alles aber war nichts gegenüber der Sorge,
ob Johanr sich nicht schämen werde, mit einem
Mädchen, welches nicht einmal einen Hut aufhabe,
spazieren zu gehen.
Sie selbst liebte die Hüte nicht und ging lieber
„im bloßen Kopf“. Johann aber war ein wenig
Stutzer und trug Sonntags Gehrock und helle Bein-
kleider. Jetzt wußte sie wirklich nicht, wie dies
werden solle, und ob er sich überhaupt mit ihr auf
der Straße zeigen würde. Fast bedauerte sie, der

13* 195
Herrin nicht schon friiher gehorcht und sich nicht
noch mehr vom Marktgeld „erspart* zu haben. In
sechs Wochen konnte sie schon Geld genug „zuriick-
gelegt“ haben, um sich einen Hut zu kaufen,
Daran hätte sie längst schon denken sollen.
Morgen aber mußte sie ohne Hut über die Straße
gehen und Johann nur bitten, es ihr nicht übel zu
nehmen. Nach drei Wochen werde sie sich besser
kleiden; jetzt müsse er sie schon nehmen, wie sie sei.
Mattes Frühlicht fiel auf Käthes über die Lade
sorgenvoll gesenktes Gesicht. Steif gestärkt hing
das Rosakleid an einem Nagel für das Küchengerät.
Endlich erhob Käthe das Haupt und blinzelte mit
den Augen nach dem Streifen vom blauen Himmel,
der durch das kleine Fenster lugte. Auf ihrem Ge-
sichte hinterließen Schlaflosigkeit und Abspannung
ihre Spuren.
Unwillkürlich schlossen sich wieder die wie mit
Blut unterlaufenen Augen, wie geblendet von der
übermäßigen Anstrengung. Noch rangen die gelb-
lichen Flecken unter der Haut mit der Purpurfarbe
des Blutes, die nur ein junger Körper an sich trägt.
Auch dies waren nur die Zeichen von schlechter
Ernährung und Mangel an Nachtruhe. Offenbar
waren die Kräfte nahezu erschöpft, die der Organis-
mus zu seiner Unterstützung und Auffrischung be-
durfte. Wer aber kümmert sich um diese Zeichen
von Abspannung im Gesicht einer armen Magd und
wer gewährt ihre jene Erfrischung?

196
Jede Nahmaschine wird von Zeit zu Zeit frisch
geölt und ausgebessert. Das ist aber etwas ganz
anderes:
Eine verdorbene Maschine kann man nicht um-
tauschen, sondern man muB eine neue kaufen, und
das für schweres Geld. Eine kränkliche Magd jedoch
wird man leichter los, und hundert andere warten
schon auf die erledigte Stelle...
Käthe aber sorgte sich mit solchen Kleinigkeiten
nicht ab. Arbeiten mußte sie unbedingt, denn dazu
war sie geschaffen.
Heute fühlte sie sich sogar glücklich und be-
schwichtigte ihr Gewissen mit der wachsenden
Neigung zu Johann.
Woher sonst sollte sie die Seife nehmen und die
Stärke? Lieber wollte sie gar nicht ausgehen, als so
schmutzig!
"Und doch war dies „Ausgehen“ ihre einzige Zer-
streuung, an die sie schon seit drei Wochen be-
ständig dachte. Beim Anblick ihres gestärkten rosa
Kleides und ihrer sauberen Wäsche bereute sie die
Unterschlagung des Marktgeides also gar nicht
mehr ...
Mein Gott! Diese paar Groschen machten doch
den Herrn nicht arm und ermöglichten ihr, vor
Johann anständig zu erscheinen.
Nur dieser — Hut fehlte noch! ...

197
roBe Vorstellung! Wilde Tiere aus Asien und
Amerika! Waldungetüme! Langgeschwänzte
Tiger! Känguruhs und Beuteltiere! Immer herein,
meine Herrschaften! Riesenschlangen, drei Ellen im
Umfange! Sogleich beginnt die Fütterung! Eintritt
zehn Kreuzer, Kinder und Militär ohne Charge die
Hälfte!“ ...
Käthe sperrte Augen und Mund weit auf und
schloß letzteren erst, als Johann sie kräftig anstieB.
Beide standen sie vor der Leinwandbude auf dem
großen Platze voller Schutt und Steine von ver-
schiedener Größe. An der Außenwand der Bude,
nach der Straße zu, hing ein grelles Bild mit zwei
Herren im Frack und einer Dame im piefferfarbigen
Kleide, alle drei in Lebengröße. In den ausgestreck-
ten Armen hielten sie eine Riesenschlange, wie sie
sich im Innern der Bude befand. Über dem Eingange
prangte in großen Lettern die Inschrift: „West-
indische Menagerie“, die ebenso unverständlich war
für den gemeinen Mann, wie für den Gelehrten.
Anderer Meinung war jedoch Johann. Mit dem
Hute schief auf dem linken Ohr erklärte er Käthe
mit ungemeiner Sachkenntnis, was diese Worte be-
deuten.
Dann bahnte er sich unter Püffen und Rippen-
stößen an die den Eingang belagernde Menge, also
auf nicht eben zarte Weise den Weg zu der kleinen
Treppe nach dem Vorraume für die Kasse der Lein-
wandbude.
Kathe, die sich auf seine Anweisung an seinem

198
Rockschoße festhielt, um ihn nicht im Gedränge zu
verlieren, starrte mit Erstaunen nach dem riesigen
Ausrufer im phantastischen grünen Wams, mit
langen Wachsleinwandstulpen auf den krumm-
getretenen Stiefeln und einer großen Reitgerte in
der dicht behaarten Hand. Mit heiserer Stimme,
aber fließend und ohne zu stottern, rief er obige
Worte aus und starrte dabei mit gläsernen Augen
in die Ferne. Dies war offenbar einer der Führer
durch die Menagerie, der einzige, der der Landes-
sprache mächtig, aber ebenso schlecht genährt war
und vor Frost zitterte wie die übrigen.
Aus dem Innern der Bude drang das Brüllen
einer Löwin und das Heulen eines Wolfes, aber nur
gedämpft und weit entfernt von dem gewaltigen
erschütternden Lärm in Wüsten und Wäldern. Mehr
wie Seufzen und Klagen über die unbarmherzigen
Gitter schallte es dumpf durch die Leinwand der
Bude.
Ängstlich kauerte Käthe sich nieder und hielt sich
noch fester an Johannes Rockschoß, während dieser
das Eintrittsgeld bezahlte,
Verächtlich sah er sich um mit den Worten: „Ei!
Fräulein, fallen Sie schon um, wenn der Löwe nur
den Rachen öffnet? Stehen Sie doch auf, Ihnen wird
nichts geschehen. Wozu wär ich denn hier?“
Und den Hut noch schiefer aufdrückend, nahm er
ihren Arm, um sie hineinzuführen.
Auf dem Fuße folgte ihnen jener Führer im
grünen Wams. Mit der größten Gleichgültigkeit

199
leierte er vor jedem Käfige die gewohnten Er-
klirungen her, wie eine beständig arbeitende
Maschine oder ein Perpetuum mobile, welches sich
in die Bude verirrte.
Mit wahrer Andacht betrat Käthe das Innere,
nachdem sie auf der Schwelle verstohlen sich be-
kreuzt, aus Furcht vor den wilden Tieren, die hinter
den geschwärzten Gittern ihre Rachen öffneten.
Johann dagegen verhöhnte nur die „Bestien* und
näherte sich, die Hände in den Taschen, immer mehr
den Käfigen mit einer Keckheit, die Käthe in Er-
staunen versetzte. Noch mehr bewunderte sie ihn,
als er einem Luchs ein langes Stück Holz unter die
Nase hielt. Um nichts auf der Welt hätte sie dies
getan! Nein! Sie sah sich lieber alles von
weiten an.
Johann aber lachte nur über ihre Angst und
wurde immer dreister.
Allmählich ermutigte dies auch Käthe und sie sah
sich aufmerksamer um. Vor ihr auf einer Erhöhung
zog sich eine ganze Reihe von Käfigen hin, die
vorn mit ziemlich dünnen Eisenstäben versehen
waren,
In den Käfigen schliefen die Tiere oder hockten
schlaftrunken in den Winkeln und starrten die an
die Gitter sich drängende Menge mit seltsamen
Blicken an.
Eine wahre Stickluft herrschte in der ganzen
Bude.
Der Geruch von nicht ‚allzu frischem Fleisch,

200
dessen Überreste sich in manchen Kifigen anhäuf-
ten, vermischte sich mit den widrigen Ausdüns-
tungen der Tier und der die Menagerie besuchenden
Menge. Die schrillen Klänge eines klapprigen Leier-
kastens, der unaufhörlich dieselben Stücke spielte,
übertäubten sogar das Brüllen der Tiere und das
Stimmengewirr der Menge.
Einige Petroleumłampen erhellten nur spärlich
dieses Tier- und Menschenelend, welches aus jedem
Käfig und iedem Winkel herausblickte, sogar aus
dem Gesichte des Mannes im grünen Wams.
Jetzt stand er dicht neben Käthe und setzte seine
Erklärungen fort. Eben zeigte.er nach einem Käfig,
in dem zwei Waschbären ruhig schliefen und die
Nasen zwischen die Gitterstäbe steckten.
„Zwei Waschbären! Das Männchen ein halbes
Jahr, das Weibchen zwei Jahre, zusammen also
drittehalb Jahre alt!“
Rings drängte sich die Menge, neugierig, nähere
Kenntnis zu erhalten über all diese den übrigen,
denen sie sonst im Leben begegnete, so unähnlichen
Tiere. Dabei stritt sie sich herum und bedauerte ihre
Dummheit, die sich auch auf den schweißtriefenden
Gesichtern ausprägte.
„Der amerikanische Vogel Strauß!“ fuhr der
Mann im grünen Wams fort. „Macht es nicht
wie der Kuckuck, sondern legt selber seine Eier!“
Hier hielt es Johann für angemessen, zu be-
merken: „Seht doch! Welch seltsame amerikanische
Mode!“

201
Diesen Worten folgte schallendes Gelächter. Nur
Käthe hielt sich wie aus Anstandsgefühl den Mund
zu, um nicht laut aufzulachen.
Wie verwundert über diesen plötzlichen Lärm in
der Bude rissen die Tiere in den Käfigen weit die
Augen auf. Der Luchs zog sich zurück in den dunk-
len Hintergrund und die Eulen schmiegten sich
dichter aneinander.
„Die Hyäne! Scharrt die Leichen aus und frißt
sie lebendig!“
Allgemeine Aufregung herrschte in der Menge.
Nur Johann meinte, sie fresse auch „faule Äpfel“,
und ein Ułan setzte Zweifel in jene „lebendigen
Leichen“ ...
Zu weiteren Bemerkungen fand sich jedoch keine
Zeit.
Man näherte sich dem Bärenkäfig und laute
Beifallsrufe begrüßten die unförmliche Masse, die
ihre Zotten schüttelte im matten Lichte der über
dem Käfig hängenden Lampe.
Beim Anblicke des Mannes im grünen Wams
schleppte sich der Bär dicht an den Rand des Käfigs,
stellte sich auf die Hintertatzen und streckte die
vorderen aus, wie zur Umarmung, indem er die wie
geschwollenen Klauen breit auseinanderspreizte.
Der Mann im Wams näherte sich dem Käfig und
ließ den Bären seine Schultern umfassen, als behage
ihm diese gefährliche Liebkosung.
Ein Weilchen standen sie so eng verbunden da,
wie zwei Leidensgenossen, beide stark und trotzdem

202
schwach, vom Ungliick gefesselt, von dem sie sich
nicht losmachen konnten.
Der Bär war augenscheinlich diesem Manne sehr
zugetan und zog ihn, unaufhörlich brummend, immer
dichter an sich.
In der Menge wuchs das Erstaunen mit jedem
Augenblicke.
„Wie? Dieser Herr fürchtet sich nicht vor dem
Bären? Das muß ein Hexenmeister sein!“
Käthe steckte vor Verwunderung schon das ganze
Taschentuch in den Mund.
Nur Johann bewahrte sich den gewohnten Gleich-
mut und brüstete sich in der nur ihm eigentümlichen
Weise: „Was ist dabei so Großes? Das tw ich
auch, nur hab’ ich keine Lust, mir von der Bestie
den neuen Rock zerreißen zu lassen. Das ist gar
keine Kunst, nur muß man Kraft in den Händen
haben!“
Und mit den breiten, schwieligen Händen vor den
Augen der Menge herumfuchteind, zeigte er die
harte Haut und die unförmlich dicken Finger mit den
kurz abgeschnittenen .Nägeln.
Mit Bewunderung blickte Käthe nach diesen
Händen. Wie kräftig mußten sie sein, wenn Johann
sagte, er könne mit ihnen den Bären festhalten!
Schon aber wandten sich alle nach einer anderen
Seite. In der dunklen Ecke hing dort ein Vorhang,
der augenscheinlich den Eingang zu weiteren Mena-
gerieräumen verhüllte,

203
Der Mann im grünen Wams trat, nachdem er
sich von der Umarmung des Bären befreit, vor den
Vorhang und fragte mit lauter Stimme: „Ein Men-
schenfresser! Wer will ihn sehen?“
Wieder herrschte große Aufregung unter den Zu-
schauern. Ein Teil derseiben konnte nicht begreifen,
was dies heißen solle. Gewiß war dies irgend ein
unbekanntes Tier, und zwar ein ganz besonderes,
weil man es so abgesondert hielt.
Und hunderte von Augenpaaren bemühten sich
voller Neugier, durch den Vorhang hindurchzu-
blicken, der solch ein Naturwunder 'verbarg.
Wieder aber erhob Johann seine Stimme: „Ich
weiß, was für ein Satan hinter diesem Vorhange
sitzt: Schon öfters sah ich ihn. Er ist ein Mensch
wie wir, nur so schwarz wie ein Schlotfeger und da-
bei ißt er — Menschenfleisch.“
Niemand wollte ihm dies glauben. Das ist doch
rein unmöglich. Die Polizei würde so etwas gar
nicht erlauben.
Johann schlug jedoch ärgerlich mit der Faust sich
auf die Brust, um die Wahrheit seiner Worte zu
verbürgen.
Jetzt regte sich in der Menge der Wunsch, dies
Ungeheuer näher anzusehen. Da aber dafür beson-
ders bezahlt werden mußte, entfernte sich so man-
cher entrüstet über diese doppelte Ausgabe und über
den Menageriebesitzer, der sich den Eintritt bezahlen
ließ und trotzdem nicht alles zeigte, was vorhanden
war.

204
Johann aber bezahlte für sich und Käthe, nahm
deren Arm und führte sie hinter den Vorhang.
Ihnen folgte etwa ein Dutzend Leute, die sich Sonn-
tags ein solches Vergnügen leisten konnten.
Zum erstenmal befand sich Käthe in so großer
Gesellschaft und diese Auszeichnung machte ihr viel
Spaß. Dieser Johann verstand es, ein Mädchen zu
unterhalten, und es war eine Lust, mit ihm auszu-
gehen!
Der „Menschenfresser“ saß im Winkel zwischen
zwei Wänden der Bude auf einer mit rotem Tuch
ausgeschlagenen Erhöhung und hob sich dort wirk-
sam ab im hellen Lichte zweier mit Spiegeln ver-
sehenen Lampen.
Es war ein armer Kerl aus Polnisch Brody, nur
schwarz angemalt.
Für zwanzig Kreuzer täglich hatte er sich ver-
pflichtet, lebendige Kaninchen vor den Augen der
Zuschauer zu zerfleischen und aufzuessen.
Anscheinend mit seinem Lose ganz zufrieden,
blickte er behaglich auf die Menge herab, die sich
zu seinen Füßen zusammendrängte.
Gehiilit in eine Tunika aus schmutzigem Woll-
stoff, verziertmit bunten Gänsefedern, streckte er
nur die nackte Brust vor von kohlschwarzer Farbe,
die auch seinen ganzen Körper überzog.
Auf dem Kopfe trug er eine Krone, gleichfalls
von Gänsefedern und in den Ohren riesige Tombak-
ringe, die mit dünnem Draht befestigt waren.

205
Dies alles machte ungeheuren Eindruck auf die
Versammelten, die mit Scheu und Entsetzen diesen
Schwarzen vor sich sahen, welcher sich von Men-
schenfleisch nährte. Nur Johann begann wieder zu
spotten. In der ersten Reihe stehend, achtete er gar
nicht auf Käthes Aufregung und bemühte sich, der
Menge vorzureden, der Menschenfresser werde sich
demnächst auf sie stürzen und sich irgend jemand
auswählen zum Auffressen.
Ein kleiner Schneidergesell verkroch sich sofort
in den entlegensten Winkel aus Angst vor einem
Überfall. Allgemeine Unruhe entstand in dem
kleinen, engen Raume. Unwillkürlich drängten sich
die Leute aneinander, ängstlich besorgt um ihre
elenden Körper, die sie so mühsam ernähren mußten.
Der Ulan glaubte jedoch Johannes Worten nicht
und wünschte Aufklärung. Weshalb ließ man die
Leute hier herein, wenn das Scheusal wirklich
ihnen etwas antun sollte? Nein, dies erlaubte der
Magistrat nimmermehr und erteilte entsprechenden
Befehl. Übrigens, sollte hier wirklich jemand auf-
gefressen werden, so wäre dies gewiß nur das „dicke
Fräulein, welches dicht vor dem Vorhange stand.“
Aller Augen richteten sich jetzt auf Käthe, die in
der Tat in der ganzen Versammlung das beste
Material dazu darbot.
Beschämt und verlegen, schmiegte sie sich unwill-
kürlich dichter an Johann an, als suche sie bei ihm
Schutz und Rettung. Dieser aber spreizte die Beine
und schrie dem Ulanen zu: „Halt’s Maul, du Grün-

206
schnabel, sonst brenn’ ich dir eins auf, daß du die
Engel im Himmel pfeifen hörst!“
Eingedenk seines Faustkampfes mit dem Kanonier,
bemühte sich Käthe, ihn zu beruhigen, zumal da
auch der Ulan eine entsprechend drohende Haltung
annahm.
Zum Glück brachte man soeben ein kleines weißes
Kaninchen und die Neugier überwog die Kampflust.
Beide Gegner verstummten und sahen gespannt
nach dem Schauspiele, welches sich ihren Blicken
bot.
Das Kerlchen aus Brody nahm das unglückliche
Kaninchen in beide Hände, riß es geschickt in zwei
Hälften, entfernte die bluttriefenden Eingeweide und
verzehrte das rohe Fleisch ohne jeden Widerwillen.
Neben ihm erschien jetzt auf der kleinen Bühne
der Mann im grünen Wams und erklärte mit ein-
töniger Stimme: „Sehen Sie, meine Herrschaften,
das ist der Menschenfresser. Stammt vom Berge
Libanon. Im Türkenkriege fingen und zähmten ihn
die Engländer. In Wien fraß er ein altes Weib auf
mit Haut und Haaren.“
Mit seiner Stimme mischten sich die schrillen
Klänge des Leierkastens, die durch den Vorhang
drangen. Wie dieser Leierkasten, der soeben „Ver-
dis Miserere“ schluchzte, ewig dasselbe Stück
spielte, um das in der Bude herrschende Elend etwas
einzulullen, so wiederholte auch dieser Mann seit
Jahren stets dasselbe Geschwätz in allen Städtchen
und Dörfern, in denen er sich herumtrieb.

207
Noch immer war der Menschenfresser mit dem
Kaninchen beschäftigt, dessen Blut sich mit seiner
schwarzen Hautfarbe vermischte. Das Blut des
Kaninchens tropfte an die Erde und erkaltete auf dem
roten Tuche oder bespritzte die Leinwand der Bude.
Die dicht vor der Bühne Stehenden hielten
schweigend den Atem an und beobachteten jede Be-
wegung des vermeintlichen Menschenfressers,
Noch enger schmiegte Käthe sich an Johann, der,
diese Gelegenheit benutzend, sie in den Arm kniff.
Auch jetzt ärgerte sie sich nicht darüber. Denn der
leichte Schmerz bereitete ihr Vergnügen, wenn auch
nicht in dem Maße wie der Anblick Johanns.
O nein, dies war etwas ganz anderes. Jetzt aber
befiel sie eine seltsame Schwäche, wie eine Ohn-
macht, die ihr nicht ermöglichte, sich zu wehren und
seine allzu kühne Hand zurückzuweisen.
Daher stand sie vor der Bühne, wie noch immer
in das Anschauen des Menschen- oder vielmehr
‚Kaninchenfressers versunken, fühlte aber trotzdem
recht gut jenes Kneifen über dem Ellbogen. Früher
hätte sie sich gewiß dagegen gewehrt —. letzt
fehlte ihr einfach dazu die Kraft.
Mein Gott! Johann war heute gegen sie so gut!
Er holte sie selbst aus der Küche ab und sagte, sie
sehe ganz „forsch“ aus. Und doch hätte er die Nase
rümpfen können, weil sie „ohne Hut“ ging, wie ein
Bettelmädchen. Er aber meinte, er sehe sie lieber
„im bloßen Kopf“, das mache sich weit „forscher“.

208
Dann gingen sie zusammen die Treppe herab,
dicht vorbei an der Küche der Frau Gräfin. Die
Köchin saß, wie immer nachmittags, am Fenster und
las im Gesangbuche. Das Stubenmädchen flocht sich
den falschen Zopf, der am Henkel des Samowar
hing.
Als sie Käthe mit Johann erblickten, sprangen
sie beide auf, warfen Buch und Zopf beiseite und
eilten auf die Treppe, um ihnen neugierig nachzu-
sehen.
Käthe errötete vor Freude, als sie an ihnen vor-
über schritt. Ihre frischgestärkten Röcke raschelten
wie Papierschnitzel und die neubesohlten Schuhe
knarrten bei jedem Schritte.
Käthe bedauerte fast, daß Mary schon früher aus-
ging und ihren „Staat“ nicht mit ansah. Wie würde
jene sich gewundert haben, daß Johann heut’ mit
ihr, dem „Mehlsack“, ausging.

Als Käthe endlich die Menagerie verlassen, blieb


sie noch ein Weilchen mitten auf der Straße stehen,
um sich an das Tageslicht zu gewöhnen.
Johann rauchte seine lange „Virginia“, deren
Strohhalm er sich hinter das Ohr steckte.
Langsam schlenderten sie durch die hellen
Straßen, vorüber an den langen Reihen weiß ge-
tünchter Häuser.
Lächelnd und rotwangig trippelte Käthe neben

14 Käthe 209
Johann, der jedem vorübergehenden „Zylinder“ ein
Rauchwölkchen unter die Nase blies,
Als sie den „Stadtberg‘“ erreicht, wandten sie sich
zunächst nach der von hohen Bäumen dicht beschat-
teten Allee. Unter ihren Schritten knirschte der Kies
und die Baumwipfel rauschten im Winde.
Käthe lelinte sich an den kleinen Zaun, der auf
der Anhöhe eine Art von Geländer bildete.
Johann stand vor ihr und bemühte sich, seine
Zigarre wieder anzuzünden, was bei dem starken
Luftzug keine Kleinigkeit war.
Inzwischen erfreute sich Käthe an der pracht-
vollen Aussicht. Tief unter ihr lagerte die Stadt, die
mit ihrem Umfange und der Menge von Pracht-
bauten einen großartigen Eindruck machte. Fast
glich sie einem breiten See mit unregelmäßigen,
zackigen Ufern.
Aus der Flut von Dächern und Schloten ragten
die Kirchtürme empor, deren Kreuze in den Strahlen
der Nachmittagssonne blinkten.
Das schwarze Zifferblatt der Rathausturmuhr
zeigte auf fünf.
Und still und friedlich lag die ganze Stadt zu den
Füßen dieser Anhöhe, die darüber die mit iippigem
Grün bekränzte Stirn erhob.
Unter all jenen friedlichen Dächern und an-
scheinend verloschenen, weil nirgends rauchenden
Schioten hätte niemand so viel moralisches und
materielles Elend geahnt.
So glich die Stadt einem im warmen Sonnen-

210
scheine sanft schlummernden Tiere, welches im
Innern nur Mordgier birgt und Heuchelei.
Lange blickte Käthe auf das Häusermeer hinab.
Wohl wußte sie, daß die Stadt sehr groß sei, nicht
aber, daß sie solche Ausdehnung habe.
Vergebens schweifte ihr Blick nach den Vor-
städten, um das Haus zu suchen, in dem sie wohnte.
Da mußte Johann ihr zu Hilfe kommen. Dieser aber
war jetzt mit etwas anderem beschäftigt.
Soeben ging ein Händler vorüber, der allerlei
Näschereien zu verkaufen hatte. Den ganzen ärm-
lichen Kram trug er in einem Körbchen am Leder-
riemen.
Johann wählte ein Paketchen mit Pfefferkuchen
in Rosapapier und einige Bonbons mit Versen.
Käthe wurde über diese unerwartete Galanterie
feuerrot und öffnete mit vor’ Aufregung zitternden
Händen das Paketchen.
Inzwischen las Johann mit erhobener Stimme die
auf den Bonbons liegenden Verschen vor.
Dieselben erschienen Käthe als etwas ganz Un-
gewöhnliches und besonders ein Vers versetzte sie
in große Verlegenheit, sodaß ihr ein Stück Pfefier-
kuchen fast im Halfe stecken blieb, als Johann mit
schallendem Gelächter wohl zehnmal wiederholte:
„Jeder Käthe auf der Welt i
Ihr — Johann sich zugesellt.“
Nein! Das konnte unmöglich so gedruckt da-
stehen. Gewiß hatte Johann es schnell sich nur so
ausgedacht.

14* 211
Als sie sich mit eigenen Augen zu iiberzeugen
wünschte, zeigte er ihr das verknüllte Papierchen,
auf dem sie wirklich mit vieler Mühe jene Poesie
entzifferte: Wie sonderbar! Das war ja gerade wie
auf sie gemünzt.
Johann aber raunte ihr allerhand kühne Vor-
schläge in das Ohr, die er mit den Worten begrün-
dete: „Da steht es ja gedruckt, Fräulein, Sie müssen
die Meine werden!“
Noch immer nicht völlig überzeugt, ließ sich Käthe
jetzt dennoch den Pieiferkuchen und die Pfeffer-
münzbonbons schmecken. Die Verse erschienen
ihr zwar ganz gelungen, aber gab es denn auf der
Welt nur einen Johann und eine Käthe? ...
Allmählich erlangte sie den scheinbar augenblick-
lich verlorenen Gleichmut wieder und verbarg auf
diese Weise ihre Verwirrung mit einem Lächeln.
Jetzt setzten sie sich auf eine Bank unter eine
breitästige Eiche und blickten einander auf ganz ver-
schiedene Art an. Während Johann mit seinen
Blicken Käthe förmlich verschlang, — so hübsch er-
schien sie ihm im sauber gewaschenen Kleid und im
glatten Haar, — schlug sie die Augen nieder und
erhob sie nur dann und wann, um ihn hold errötend
anzuschauen.
Und beiden war so wohlig um das Herz in dieser
friedlichen Stille, die nur ab und zu das Rauschen
der Blätter oder der Schall der Schritte irgend eines
Vorübergehenden unterbrach.

212
Zu ihren Füßen ruhte die Stadt aus nach der
Arbeit einer ganzen Woche und untitig ragten ihre
Fabrikschlote gen Himmel.
Rings bis zum Horizonte wurde die Ebene durch-
schnitten von den nach den umliegenden Dörfern
führenden Wegen und nach rechts blinkte das Vier-
eck eines Weihers, wie ein Riesenspiegel in grünem
Rahmen.
Über ihnen lugte hier und da durch dichtes Laub-
werk der blaue, wolkenlose Sommerhimmel.
Mit vollen Zügen atmeten sie beide die frische
Luft ein. Ward sie ihnen doch zwischen den Mauern
voller städtischer Dünste nur zu selten geboten.
Käthe, die seit Wochen dieses Lebensbedürfnis
entbehren mußte, und nur den Geruch von Seife,
Spülich oder FaBbutter gewöhnt war, fühlte sich
jetzt wie berauscht, gleich einer Gefangenen, die
plötzlich die Freiheit wieder erlangt.
Die an ihnen vorüberwandelnden Pärchen be-
standen aus Mädchen mit mehr oder minder frechem
Benehmen, und Männern mit herausfordernder
siegesgewisser Haltung.
Bei ihrem Anblick erfüllte Käthe eine unbeschreib-
liche Angst, über die sie sich selber nicht klar werden
konnte. Dies war das instinktive Vorgefühl ihres
bevorstehenden — Falles ..
Mit gestohlenen Akazienzweigen in den Händen,
maßen jene Mädchen sie mit Blicken, die sie vollends
verwirrten.

213
Ohne dies hätte sie sich vollkommen glücklich ge-
fühlt, so angenehm war ihr dieser Sonntag-Nach-
mittag verlaufen.

Johann aber erhob sich von der Bank und lud sie
zur Weiterwanderung ein. Da er seinen Plan bis
aufs Letzte vollständig durchführen wollte, sollten
sie jetzt irgendwo zusammen ein Gläschen Bier
trinken.
Als Käthe ein wenig zauderte, versicherte er, sie
könne getrost mit ihm gehen, nicht etwa in eine
gewöhnliche Kneipe, o nein, er wisse schon, wohin
er ein anständiges Fräulein zu führen habe.
Dies sei ein Konzertgarten für die feinste Gesell-
schaft; sogar Kaufleute und Künstler tränken dort
ihr Bier und lauschten der Musik einer — Damen-
Kapelle.
„Wie? Einer Damen-Kapelle?“ fragte Käthe er-
staunt.
Er aber lachte, hocherfreut, daß er ihr heut’ eine
Überraschung nach der andern bieten könnte und
erklärte ihr, das seien eben Damen, die ebenso Musik
machten wie die Männer. |
Da sie gerade bei der Paulinerkirche vorüber-
gingen, blieb Käthe an der Pforte stehen, als wolle
sie eintreten, um ein Gebet zu sprechen. Gern hätte
sie dies auch getan, da sie seit drei Wochen nicht
in der Kirche gewesen war.

214
„In die Kirche? Wozu?“ scherzte Johann in seiner
Weise. „Das ist gut für kleine Kinder; dazu bin ich
schon zu klug!“
Dabei schob er den Hut auf das Ohr und sah
ironisch nach der Statue des St. Onufry, der in einer
Nische an der Kirchentür auf den Knieen lag.
Käthe wurde ganz verwirrt im Kopfe, folgte aber
trotzdem Johann langsam in der Richtung nach dem
Konzertgarten, aus dem muntre Walzerklänge
herausschallten. Dort ging es gewiß weit lustiger
zu, als in der düsteren, traurigen Kirche, nur daß ...
Nicht ohne Gewissensbisse betrat sie den Garten.
Johann aber saß schon an einem Tischchen und rief
ihr zu, sie möge sich beeilen und auch Platz nehmen.
In der Tat war es schon sehr voll und überall
drängten sich scharenweise die Menschen. Nur
durch Johanns Gewandtheit erhielten sie noch
Plätze an einem Tischchen dicht vor der Bühne.
Sofort bestellte Johann bei dem ziemlich
schmutzigen Kellner: „Zwei Butterbrote mit
Schinken und zwei Glas Bier.“
Käthe sah inzwischen sich um, als suche sie nach
irgend einem bekannten Gesicht. Plötzlich bemerkte
sie unweit an einem anderen Tischchen Mary, die
soeben mit einem feinen Herrchen Brüderschaft trank.
Käthe freute sich nicht wenig, daß Mary sie end-
lich in Johanns Gesellschaft sah. Wenn sie nur
nicht von ihr ausgelacht und „Mehlsack‘“ genannt
wurde vor all den Leuten! Das wäre doch höchst
unangenehm!

215
Daher versteckte sie sich nach Möglichkeit und
duckte ihre große Gestalt, um nicht von ihrer Fein-
din gesehen zu werden.
Auf alle Eigenliebe verzichtend, wollte sie lieber
nicht des Triumphes über die gewonnene Freund-
schaft Johanns sich erfreuen.
Mary aber war mit ihrem Galan viel zu eifrig
beschäftigt, um auf andere zu achten, Feuerrot von
Sonnenglut und erhitzenden Getränken, glättete sie
ihr verknülltes Kleid und zeigte dabei die roten Arme,
die unter den halblangen Ärmeln hervortraten.
Allmählich beruhigte sich Käthe.
Nachdem der Kellner das Bestellte gebracht, aß
sie, ohne sich zu beeilen, ihr Schinkenbrötchen,
während Johann schon nach dem zweiten Glas Bier
rief. Seine Stimme verhallte jedoch in dem den
Garten erfüllenden Lärm.
Hunderte von Leuten mit abgelebten Zügen tauch-
ten die welken Lippen in die mit hellem Bier ge-
füllten Krüge. Andere tranken Kognak und aßen
harte Eier, die sie in grob gestoßenes Salz ein-
tunkten. =
Alle Männer rauchten billige Zigarren oder Ziga-
retten. Manche knöpften sich die Westen auf und
lösten die Kragen, um besser trinken zu können.
Auf: der Bühne saßen in einer Reihe sechs junge
Mädchen. Alle in roten Velvetkleidern und mit dem-
selben Ausdrucke von Abspannung und vorzeitiger
Entwickelung in den von der ungesunden Luft, die
sie umgab, gewelkten Gesichtern. Hinter ihnen stan-

216
den einige Männer, gleichfalls im roten Frack mit
Blasinstrumenten und Trommeln.
Die Mädchen aber stemmten das Kinn auf die
Geigen und strichen, ohne auf die Noten zu sehen,
mit dem Bogen auf die Saiten, unbekümmert um
alle Harmonie.
Jede von ihnen hatte in einem der Männer, die
die Bühne belagerten, ihren Geliebten, der sie ab
und zu prügelte, aber dennoch leidenschaftlich liebte.
Daher waren die übrigen Zuhörer ihnen auch völlig
gleichgültig; sie spielten nur, was auf dem Zettel
stand, um dann heimzukehren zu neuen — Schlägen
und Liebkosungen.
Das Stimmengewirr und das Klirren der Gläser
und Teller überschallte fast die Walzerklänge.
Inzwischen fand Johann auch bald Gesellschaft.
Ein Schlosser setzte sich zu ihnen mit seiner hageren
Ehehälfte,
Käthe machte ihnen bereitwillig Platz und nach
kurzer Einleitung begann die Unterhaltung mit der
Klage über das doch allzu sehr gewässerte Bier.
Dann plauderten sie zusammen über alles Mögliche,
Den Hauptstoff aber bot die „Menagerie“ und be-
ständig war auf Johanns Lippen der „Menschen-
fresser“. Trotzdem vergaß er Käthe nicht, die, nach-
dem sie auch ihr Bier getrunken, ruhig dasaß und
sich nicht viel am Gespräche beteiligte.
Immer wieder wandte er sich an sie mit der Frage,
ob sie auch noch gut sitze und genug Platz habe am
Tische,

217
Dann ließ er noch Semmeln mit Käse bringen und
stellte alles vor sie hin mit der Bitte, selbst davon
zu essen und die Gesellschaft zu bewirten. Sie selbst
nahm sich nur eine Semmel; denn obgleich sie den
Käsegeruch liebte, fürchtete sie, sonst „unfein“ zu
erscheinen,
Der Schlosser aber ermangelte nicht, vier
Schnäpschen zu bestellen und bald standen sie auf
dem Tische. Da die Gläschen winzig klein waren,
leerte auch Käthe eines mit Behagen. Die übrigen
wunderten sich nur, daß man die Gläschen nicht
lieber als Fingerhüte benutzte,
Johann wollte es noch einmal versuchen, weil er
nicht einmal gefühlt habe, daß der Schnaps durch
die Kehle ging, die Zunge sei nicht einmal ange-
feuchtet von den „paar Tropfen“, sondern voll-
kommen trocken.
Daher bestellte er noch „vier Persiko“.
Jetzt rückte die Gesellschaft näher aneinander,
wie gute Freunde. Wenn es an das „Traktieren“
geht, ist es so am besten. Auch Johann näherte sich
noch mehr Käthe, die sich an ihn schmiegte wie im
Halbschlummer.
Sie hatte eben keinen „guten Kopf“ und sobald sie
auch nur ein Schnäpschen getrunken, schon
„gläserne“ Augen. Der „Persiko“ schmeckte weit
besser, zwar etwas süßlich, aber höchst angenehm.
Die Schlossersfrau erzählte, sie leide öfters an
den „Nerven“, und dabei verzog sie kläglich das
Gesicht, um eine Vorstellung von ihren Anfällen zu

218
geben, deren Schauplatz oft die ganze Küche und
Werkstatt sei.
„Wenn es mich ankommt, möcht ich jedem ins
Gesicht schlagen. Dann beruhigt mich nur „Vanillen-
likör“. Der tut mir so gut, daß ich sofort einschlafe“.
Lachend schlug Johann jetzt vor, dies Mittel auch
hier anzuwenden. Auch er leide manchmal an den
„Nerven“, namentlich wenn man ihm den Kehricht
auf den Hof werfe. Daher möchte er versuchen, ob
die „Frau Meisterin‘ die Wahrheit gesagt habe.
Der Schlosser aber wollte dies nicht zulassen,
weil er jetzt an der Reihe sei, zumal, da es sich
einfach um eine Arznei für seine Frau handle.
Nach dem dritten Gläschen wurde es Käthe ganz
eigentümlich zu Mute. Trinken mußte sie, sonst
zürnte ihr die Gesellschaft und nähme sie niemals
wieder mit. Wußte sie doch sehr wohl, was die Höf-
lichkeit verlangt.
Nur schwindelte ihr nach dem letzten Likör der
Kopf, als fühle sie darin etwas Fremdes, irgend
einen Klumpen, den man ihr wider Willen hinein-
gelegt. Bäume und Menschen, Gläser und Tische,
alles verwirrte sich vor ihren Augen, bis sie mit
beiden Händen sich auf den Tisch stemmte, um sich
den Anschein völliger Nüchternheit zu geben.
Ja, gewiß war Johann der bravste Mensch auf
der Welt, da er sie so gut behandelte und wie eine
Gräfin bewirtete.
Womit hatte sie so viel Güte verdient, und wie
sollte sie ihm dafür danken?!

219
Zwei Gulden hatte er schon fiir sie ausgegeben
und jetzt wieder bestellte er einen „Wermut‘“, damit
ihr wieder besser werde.
- Der Schlosser dagegen riet zu einer Tasse Tee
mit Arak und die Schlossersfrau wieder zum
Vanillenlikör ...
Im übrigen ging es im Garten sehr heiter zu. All-
mählich angefacht von den berauschenden Ge-
tränken, plauderten und lachten die Leute immer
lauter.
Manche saßen schon auf den Tischen, um die
Kapelle besser sehen zu können.
Johann aber stellte sich auf die Bank, denn da
unten müsse er, wie er meinte, sich einfach die Ohren
zustopfen.
Ein angeheiterter Ulan stritt sich dort herum mit
einem Infanteristen, dessen Uniform und plumpe Ge-
stalt ihn offenbar reizte.
Auf dem Stuhl sich räkelnd, sang er mit Stentor-
stimme irgend ein Spottlied:
„Die Ulanen allein
Trinken Bier und Wein,
Doch die Infanterie
Glotzt wie das Vieh ...“
Die heisere Soldatenstimme mischte sich mit den
Klängen der Kapelle, sodaß die näher stehenden
Gäste höchst ungehalten wurden über das uner-
wünschte Solo, welches sie im Anhören der Musik
so störte.

220
Der Ulan aber spottete aller Drohungen und sang
immer lauter und schlug den Takt dazu mit dem
Glase auf den Tisch.
„Jenes Tuch, das du mir gabst,
Warf ich in die Lumpen bald —
Głaubst du etwa, daß ich dich
Für ein feines Fräulein halt’?“ ...
„Still dort, du glänzendes Elend!“ schrie Johann,
da er es für angemessen hielt, sich einzumischen.
„Scheer dich in die Kantine und heule dort weiter —
Hier aber laß die Leute zufrieden!“
Mühsam nur öffnete Käthe die Augen und zupfte
Johann am Rockschoß. Wozu sich hier herumstreiten
mit dem ersten Besten? Schließlich würde er noch
gar auf die Polizei geführt.
Dadurch etwas besänftigt, ‘bestellte Johann noch
vier Kognaks.
Obgleich Käthe durchaus nicht mehr trinken wollte,
weil ihr schon so voll auf der Brust sei, drang er
dennoch in sie und nannte sie „Du“. Dabei berührten
sich ihre Köpfe, so dicht saßen sie aneinander.
Übrigens brauchten sie sich durchaus nicht zu
genieren. Denn die allgemeine Aufmerksamkeit
wurde soeben auf eine Familienszene gelenkt, die sich
am Eingange des Gartens abspielte.
Ein Ehepaar zankte sich dort herum nach dem
achten Glase Bier und warf sich gegenseitig allerlei
Verirrungen vor.
Sie wehrte sich wie eine Löwin und erfüllte den
engen Garten mit dem wiisten Geschrei einer halb-

221
betrunkenen Handwerkersfrau: „Ich bin ein eheliches
Kind und lasse mich nicht so schlecht behandeln wie
die erste Beste!“
Mit gleichem Geschrei äußerte der Gatte gewisse
Zweifel an ihrer Abstammung.
Die Gäste wurden unruhig und umringten das
streitende Paar. Das Kreischen der Kinder, die sich
an die Röcke der wutschnaubenden Frau anklammer-
ten, erfüllte das Maß der chaotischen Verwirrung.
Inzwischen sank die Dämmerung auf den Garten
herab. Über die lärmende Menge breitete allmählich
die Nacht ihren Schleier.
Hie und da brannten auf den Tischen schon die
Lichter, geschützt vor dem -Winde durch Glas-
glocken.
Die Schlossersfrau, völlig gestärkt von ihrem
Likör, wurde immer zärtlicher und hingebender
gegen den Gatten.
„Männchen“, bat sie, „gib doch deiner Angetrauten
einen Kuß!“
Mit halberloschenem Blicke sah Käthe diese Zärt-
lichkeit mit an und fühlte dabei, jetzt müsse sie heim-
kehren. Die Herrschaft erwartete sie gewiß schon
längst. Ihre Füße aber waren wie von Blei und die
Müdigkeit übermannte sie vollständig.
Johann jedoch stand auf und bezahlte die Rech-
nung. Dann erhob er Käthe fast mit Gewalt und
wandte sich dem Ausgange zu.
O, er hatte einen weit „stärkeren Kopf“ und hielt
sich viel sicherer auf den Beinen, während Käthes

222
Riesengestalt fast taumelte, als sie bei Mary vorüber-
kamen. Letztere bemerkte sie endlich und beide
maßen sich mit bedeutsamen Blicken.
Käthe empfand, trotz ihrer Sanftmut, unter dem
Einflusse der berauschenden Getränke einen ge-
wissen Haß und dumpfen Groll gegen Johanns
frühere Geliebte. Auch Mary verhehlte ihren Ärger
nicht beim Anblicke dieses „Mehlsackes“, der sich
so Öffentlich an der Seite ihres ehemaligen Verehrers
zeigte. ' |
Nur zu leicht wiire es zwischen den beiden Weibern
zu einem Auftritt gekommen ohne das Dazwischen-
treten Johanns, der einen Wutausbruch mit üblen
Folgen befürchtete ...
Bald darauf befand sich Käthe auf der Straße,
wo die frische Luft sie wieder in das Gleichgewicht
versetzte.
Johann aber umschlang sie halb, als er sie führte,
und flüsterte ihr allerlei zweideutige Worte in das
Ohr. | SE |
Jetzt jedoch ließ sie sich nicht so leicht verleiten.
Dort im Garten am Tische war es etwas anderes.
Die Musik, das erhitzende Getränk und die Sonnen-
glut, dies alles verwirrte sie fast bis zur Bewußt-
losigkeit.
Jetzt auf der Straße wurde ihr wenigstens teil-
weise ihre Lage wieder klar. .
O nein! Daraus wird nichts! Sie war doch kein
Mädchen, welches sich um ein Glas Bier so weit
vergißt. Ein Butterbrot konnte sie auch mit ihm essen

223
und dabei sogar lachen und scherzen. Aber, wo die
Grenze ist, wußte sie ganz genau. Und Johann war
ein braver Mann, der sie gewiß in Ruhe läßt, wenig-
stens für heute ...
Dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Schon
standen sie vor ihrer Haustür und noch immer wies
sie ihn ab, obgleich sie nur zu gern noch in seiner
Gesellschaft geblieben wäre. Und fast mit Gewalt
entwand sie sich seinen Armen, mit denen er sie an
sich preßte. " .
Dabei hatte sie doppelt zu kämpfen: mit ihm und
mit sich selber, mit jener Ohnmacht, die sie jetzt fast
immer befiel bei seiner Annäherung.
Noch auf dem Hofe hatte sie große Lust, wieder
umzukehren, um ihm noch einmal zu danken für den
so angenehm verlebten Nachmittag. Eine unbe-
stimmte Angst aber trieb sie nach oben, wie ein ver-
folgtes Wild, welches hinter sich den sicheren Tod
fühlt. Jedes Weib erfüllt solche Angst vor dem —
Falle,
Erst auf der Treppe wurde sie wieder völlig nüch-
tern. Ihr einziges Bestreben war jetzt, in die Küche
zu gelangen und die Tür hinter sich zu verschließen.
Als sie abends vor dem Bette kniete, empfand
sie eine gewisse Unruhe.
Allerdings hatte sie sich köstlich vergniigt, gut
gegessen und getrunken und allerlei Wunder ge-
sehen, und Johann war gegen sie sehr aufmerksam.
Trotzdem aber fühlte sie ein seltsames Unbehagen
im Herzen. Dabei hatte der Schnaps sie vollends

224
betäubt. Kaum noch die Hände vermochte sie zu er-
heben, um sich zu bekreuzen.
Abgespannt von dem Eindrucke des ganzen Tages,
schlief sie auf den Knien ein und stützte den Kopf
auf die auf dem Bettuche ruhenden Hände.
So hatte sie auch in der ersten Nacht im neuen
Dienste geschlafen, aber nur aus Überanstrengung
und Ermattung. Heute hatte sie Zerstreuung gesucht
und gefunden, fühlte sich aber ebenso zermartert an
Leib und Seele.
Welcher Zustand ihr mehr zusetzte, darüber
hatte sie gar nicht nachgedacht. Sie schlief hart und
fest und stieß nur ab und zu einen Seufzer aus, der
wie Stöhnen klang.

etzt begannen für Käthe Tage voller Unruhe. Die


J in ihrem kerngesunden Körper erwachte große
Leidenschaft wurde nur durch ihre Ehrbarkeit
zurückgehalten, die den Hauptgehalt ihres Wesens
bildete.
Gleichwohl ließ Johann die Sache nicht ein-
schlafen. Mit der Schlauheit eines Straßen-Don-Juan
bemühte er sich, sie zu umgarnen und zum Bösen zu
verleiten.
Sie aber hielt sich tapfer und sagte immer Nein,
obgleich sie nur zu gern in die Arme des Mannes
gesunken wäre, der zum erstenmal in ihrem Leben
solchen Eindruck auf sie gemacht hatte.

15 Käthe 225
Gar manchmal, wenn er sie auf dem Boden oder
im Keller antraf, hielt er sie fast mit Gewalt fest.
Dann aber sah sie ihm nur frei in die Augen, schlüpfte
an die Wand und bahnte sich mit einem Ruck den
Weg an ihm vorüber.
Nein! So tief konnte sie nicht fallen, wie Mary
und andere Mädchen! Sah sie doch nicht selten in
der Fabrik, welchen Ausgang solche Liebeleien ihrer
Genossinnen nahmen: sie verfielen in Schmach und
Schande und keiner mehr gab ihnen ein gutes Wort.
Wenn er sie noch heiraten wollte! ...
Niemals erwähnte sie dies. Und dennoch wußte
sie, dann wäre sie vollkommen glücklich. Dann
wohnte sie mit ihm unter einem Dache und könnte
für die Leute waschen. Darüber brauchte er sich
keine Sorge zu machen; sie könnte sogar noch für
ihre Kinder genug verdienen.
Johann aber war, das wußte sie ja, ein Gegner
der Ehe. Konnte sie doch niemals vergessen, wie er
sie an jenem Abend ausgelacht, da er ihr zum ersten-
mal vor der Haustür begegnete.
Damals fragte er sie, ob sie auf den „Bräutigam“
warte? Wie konnte sie also auch nur daran denken,
daß er selbst dieser „Bräutigam“ sein wolle.
Daher fühlte sie sich totunglücklich in all ihrem
Glücke. Wußte sie doch, wie leicht ein Mann ver-
letzt wird, wenn ein Weib ihn zu lange hinhält!
Und schon der Gedanke, Johann könne sich wieder
von ihr abwenden und ihr feind werden, brachte sie
fast zur Verzweiflung.

226
Die ganze Dienerschaft im Hause hörte allmählich
auf, ihr zuzusetzen, da sie in Johanns Bosheit nicht
mehr ihre Stütze fand.
Jetzt flüsterten sie sich nur verstohlen ihre Be-
merkungen zu und beobachteten eifrig das „Ver-
hältnis“ zwischen ihr und Johann.
Nur Mary blieb der offene Todfeind des „Mehl-
sackes“ und bemühte sich, wenigstens dadurch ihrer
„Nachfolgerin“ ihre Verachtung zu beweisen. All ihre
boshaften Reden, mit denen sie nicht kargte, ließ
Käthe, ohne ein Wort zu erwidern, über sich er-
gehen, indem sie schnell an ihr vorübereilte und so
tat, als höre sie nichts.
Dieser Zustand konnte jedoch nicht lange dauern.
Johanns Stellung zwischen den beiden Weibern er-
forderte irgend einen Eingrifi.
Und dieser erfolgte nur zu bald.
Johann beschäftigte sich nicht nur zum Spaß mit
Käthe, deren Widerstand ihn reizte und seine rohe
Natur entflammte. Im Vergleiche zu all den leicht-
fertigen Weibern, mit denen er bisher zu tun hatte,
war ihm Käthe eine ungewöhnliche Erscheinung.
AIl seine bisherigen Ränke und Schliche hatten das
Ziel verfehlt. Immer wieder sagte sie „Nein!“, ob-
gleich sie dabei zitterte, wie im Fieber.
Da er nur zu gut wußte, worum es sich bei ihr
handle, rechnete er auf diese Empfindlichkeit, über-
zeugte sich aber nur zu bald, daß er sich darin ge-
täuscht habe und daß sich Käthe niemals entschließen
würde, seine — Geliebte zu werden.

15* 227
Wußte er doch, weshalb sie sich weigerte. Hatte
sie es ihm doch selbst gesagt an jenem Abende vor
der Haustür: Nur eine Frau wollte sie werden und
nur die Haube konnte den Kopf beugen, den sie
jetzt so hoch trug!
Er aber wollte eben nicht heiraten und hielt dies
für Torheit. Die Studenten, denen er die Stiefel
wichste, sagten sehr mit Recht, ein kluger Mann
dürfe sich nicht an ein Weib schmieden lassen.
Jetzt wußte er, wie er sich zu verhalten habe. Ein
Weib wird nur zu schnell alt und häßlich. Und dann
wird man es nicht so leicht wieder los. Mit der
„Geliebten“ ist das ganz anders. Sobald sie lästig
wird, erhält sie den Laufpaß. Sobald sie Streiche
macht, wozu wären dann Faust und Besenstiel da?
Mit der Geliebten findet sich immer noch Rat.
Dies also ließ er sich durch den Kopf gehen und
stand davon ab, sich um Käthe zu bemühen.
Unter dem Vorwande, er sei zu beschäftigt, hielt
er sie nicht mehr an, wenn sie ihm auf dem Hofe
begegnete.
Trotzdem vermochte er nicht der Versuchung zu
widerstehen, ihrer üppigen Gestalt nachzusehen,
wenn sie in den frischgestärkten Röcken an ihm
voriiberrauschte. Mit Wonne ruhte sein Blick auf
den reinen Linien ihres Nackens und dem prächtigen
dunklen Haar des enggeflochtenen Zopfes. Und
dann nützten ihm die festesten Vorsätze nichts.
Dann warf er Besen und Gießkanne fort und eilte
ihr nach, um sie im dunkelsten Winkel des Haus-

228
oder Treppenflures festzuhalten. Denn dort erschien
sie ihm am schwächsten und nachgiebigsten.
Bei Tage wehrte sie sich erheblich besser, als
verleihe das Licht ihr neue Kraft. Im Dunkeln stieß
sie ihn manchmal nicht zurück und stand vor ihm da,
wie erstarrt. Dann schöpfte er neue Hoffnung, die
ihn aber bisher noch immer täuschte. Denn meist
besann sich Käthe noch zur rechten Zeit und ent-
floh, indem sie ihn in größter Aufregung stehen ließ.
Auch sie ahnte die Gefahren solcher Begegnung
und instinktiv vermied sie die Dunkelheit, in der sie
sich nicht so sicher fühlte.
Daher beschloß sie, Johann in der Küche aufzu-
nehmen. Dort konnte sie ruhig sein, daß er sich
anständig benehme,
Obgleich er ihre „Herrschaft“ nicht gerade hoch-
schätzte, wollte sie ihn dennoch einladen und auf
diese Weise ihren Verkehr erleichtern. Dort konnten
sie unbesorgt und — menschlich einander wieder-
sehen, nicht in dem Winkel, wie Landstreicher ...
Und die Herrschaft konnte doch auch nichts da-
wider haben.
Ohnehin schon wurden sie, so oft sie zusammen
standen und miteinander scherzten, beständig be-
obachtet von Mary, die ewig im Hause herumschlich,
als suche sie ihre Hündchen. Diese liefen allerdings
fortwährend hin und her. Mary aber erschien unter
diesem Vorwande immer da, wo sie nichts zu suchen
hatte.
Dies ärgerte Käthe nicht wenig, weil sie wußte,

229
daß Mary eine scharfe Zunge habe und, Gott weiß,
was für Klatschereien unter die Leute bringen würde.
Auch Johann wurde öfters schon ungehalten, wenn
Mary ihm in den Weg trat. Jetzt liebte er sie nicht
mehr und sah nur mit Widerwillen ihr Stumpf-
näschen vor sich und ihre boshaften Augen.
Schon hatte er sich so an Käthes sanften Blick
gewöhnt, daß ihm Mary geradezu häßlich und
schlecht erschien. Dabei dachte er an ihren leichten
Sinn und ihre flache, törichte Liebe, in welcher
Ohrgehänge, Ring und Kreuz von Gold die Haupt-
rolle spielten.
Am liebsten nähme er jetzt ihr all dies Geschmeide
wieder ab; er bereute es nicht wenig, daß er ihr
so auf den Leim ging. Denn sie verstand es
gründlich, ihn „auszuziehn“.
Warum verlangte Käthe niemals so etwas von
ihm? Mit Freuden kaufte er ihr das Schönste und
Beste, wenn sie sich nur besänne und ihn nicht
immer so zurückstieße! Dies lohnte sich wenigstens,
aber diese Mary!... i
Eines Nachmittags bemerkte Johann, daß Käthe
mit ihrer wöchentlichen Wäsche fertig war und bald
auf den Boden gehen müsse, um sie dort aufzuhängen.
Als er gegen fünf Uhr hinaufging unter dem Vor-
wande, nach dem beschädigten Dache zu sehen,
traf er wirklich Käthe, die soeben einen großen
Korb nasser Wäsche auf die Erde stellte und mit
den roten, noch feuchten Händen die Waschleine an
den schrägstehenden Balken befestigte,

230
Der Boden war ziemlich geräumig und in mehrere
Bretterverschläge eingeteilt. Jeder Mieter hatte dort
seine verschließbare Abteilung.
Die für Budowskis bestimmte war ziemlich hell,
weil sie mit einem Fenster im Dache versehen war,
von dessen Blech die Sonnenglut in das Innere des
Hauses drang.
Tief atmete Käthe auf und der Schweiß rann ihr
von der Stirn, während das Blut ihr zu Kopfe stieg
und ihr fast die Besinnung nahm. Um sich etwas
abzukühlen, legte sie sich daher ein nasses Tuch auf
die Stirn,
Nachdem sie die Leine befestigt, sah sie Johann
eintreten. Da sie voraus wußte, daß er kommen
werde, wunderte sich sich durchaus nicht, sondern
begrüßte ihn freundlich und hing dann ihre Wäsche
auf. Dabei mußte sie sich beeilen, weil die Herrin
heut abend wieder zum Stelldichein gehen wollte
und daher der Samowar rechtzeitig aufgetragen
werden mußte,
Johann begab sich sofort nach dem anderen Ende
des Bodens, als sei die Besichtigung des beschädigten
Daches sein wichtigstes Geschäft. Dort standen die
Koffer der Frau Gräfin und das Regenwasser war
darauf gestrómt, — so sagte wenigstens gestern die
Köchin. Und mit erhobener Stimme beschrieb er
Käthe die Größe der Spalte, die in dem kaum ge-
deckten Dache zurückgeblieben war.
Käthe, noch immer mit ihrer Wäsche beschäftigt,
gab ihm darin völlig recht, daß der Dachdecker

231
geholt werden müsse, meinte aber, wenn die Spalte
nicht zu groß sei, könne Johann alles allein besorgen.
Dieser aber widersprach ihr, indem er sich ihr
näherte. „Mag doch der Wirt es bezahlen, wenn
er den Hausbesitzer spielt. Ich werde seiner Tasche
nichts ersparen, vielmehr dem Dachdecker noch
zureden, daß er das Dach ııoch schlimmer zurichtet
und sich dann noch mehr bezahlen läßt!“
Käthe schwieg. Früher hätte sie sich entschieden
dafür erklärt, der Herrschaft unnötige Kosten zu
ersparen. Heut aber, da sie selbst den Herrn betrog,
wagte sie nicht, Johanns Verhalten zu tadeln.
Wer weiß, vielleicht hat er auch ganz recht. Mein
Gott! Solch ein Hausbesitzer nimmt eine Miete nach
der anderen ein, während ein armer Dachdecker sich
halbtot arbeiten muß, bevor er ein paar Groschen
einnimmt.
Inzwischen setzte sich Johann auf eine Kiste, die
mitten im Wege stand und zog sein kurzes Pfeifchen
aus der Tasche, um es sich anzuzünden.
Jetzt hielt Käthe es für angemessen, dies zu ver-
hindern: „Bitte, Herr Johann, lassen Sie die Pfeife
in Ruhe, sonst bricht hier noch Feuer aus und alles
geht in Rauch auf!“
Offenbar aber war ihm fremdes Eigentum ganz
gleichgültig, Mit ironischem Blicke nach ihr, brannte
er nicht nur sich das Pfeifchen an, sondern warf
auch das noch glimmende Streichhölzchen sorglos
von sich.
„Oho!“ erwiderte er bedächtig, blaue Ringe in

232
die Luft blasend. „Was wäre dabei, wenn die Bude
abbrennte. Gehört sie etwa Ihnen, Fräulein, oder
mir? Mein Köfferchen würd’ ich schon noch retten
und mein Fräulein trüg’ ich auf dem Buckel heraus.
Mag alles abbrennen, dann verginge dem Herrn schon
die Lust, auf den Straßen herumzubummeln und
nichts zu tun. Haufenweis zieht er das Geld von den
Mietern ein und nichts kostet ihn das Haus. Daher
legt er immer mehr auf die Kante. Ich wollt ihm
schon Beine machen, daß er mit den Hacken auf den
Buckel schlägt! Er ist auch so’n richtiger, verdamm-
ter Zylinder!“
Allen Haß, allen Neid, alle Bosheit legte er in das
Wort „Zylinder“, mit welchem er alle Reichen nach
ihrem von ihm als stolz und dünkelhaft verab-
scheuten Hute benannte.
Käthe erwiderte kein Wort, da sie an solche Auf-
wallungen Johanns längst gewöhnt war.
Nachdem Käthe das letzte Stück aufgehängt,
atmete sie erleichtert auf, denn die Hitze war kaum
noch auszuhalten. Dann nahm sie den leeren Korb
auf, verschloß den Lattenverschlag und wollte sich
entfernen.
Schon längst folgte Johann mit gespannter Auf-
merksamkeit jeder ihrer Bewegungen. Wieder er-
füllte ihn heißes Verlangen und über alles Maß wuchs
seine Leidenschaft.
Als Käthe an ihm vorüberschritt, zog er sie so
gewaltsam an sich, daß sie unwillkürlich auf die Kiste
niedersank. Dort umschlang er sie mit beiden Armen

233
und preßte sie an seine Brust. Halb ohnmächtig ließ
sie sich von ihm auf den Mund küssen, einmal und
immer wieder...
Plötzlich vernahm sie ein gedämpftes Kichern
unter dem niedrigem Dache des Bodens. Betroffen
blickte sie nach der Richtung hin, woher dasselbe
kam. Im hellen Lichte der offenen Bodentür stand
dort Mary und hielt unter dem Arme ein Hündchen,
welches keuchend vor Hitze die Zunge heraus-
streckte, Wie gewöhnlich mußte Mary erscheinen
und zusehen, wie sie sich küßten. Dies war kaum
noch zu ertragen!..,
Hastig sprang Käthe auf, nahm ihren Korb und
wollte den Boden verlassen.
Dies war aber nicht so leicht.
Denn Mary stand immer noch in der Tür und
vertrat ihr den Weg. Dabei kicherte sie mit schlecht
verhehlter Bosheit.
Zwar beanspruchte sie nicht, daß Johann keine
andere Geliebte habe, nachdem sie sich in aller Güte
getrennt, aber Käthe nachih r zu nehmen, erschien
ihr geradezu empörend.
Johann aber war ganz außer sich und offenbar
geneigt, Mary jetzt nicht zu schonen. *
Alles ging so vortrefflich und zum erstenmal wies
Käthe ihn nicht zurück. Wäre diese unausstehliche
Mary nicht dazu gekommen, wer weiß, was ge-
schehen konnte. Daher erhob auch er sich von der
Kiste und zischte durch die Zähne seine Lieblings-
worte: „Verdammtes Frauenzimmer.“

234
Mary jedoch beachtete dies gar micht, sondern sah
nur nach Käthe hin, voller Schadenfreude über deren
Verwirrung.
Endlich fragte sie, noch immer kichernd: „Herı
Johann, sahen Sie hier nicht zufällig den „Mehlsack“,
der sich irgendwohin verkroch. Gewiß ist er hier
auf dem Boden.“
Käthe wurde feuerrot.
In Gegenwart Johanns nannte Mary sie den
„Mehlsack“. Unter vier Augen mochte sie immerhin
dies tun, nicht aber vor ihm, vor ihm...
In Johanns Brust kochte der ganze Groll eines in
seinen Hoffnungen getäuschten Mannes.
Mary war ihm in diesen Augenblick das wider-
lichste Geschöpf unter der Sonne.
Käthe konnte ganz ruhig sein, daß er sie beide
an ihr rächen werde. Und ein ganzer Hagel von
Schmähungen fiel auf die darob höchst Erstaunte
herab.
„Galgenstrick ... Nichtsnutziges Frauenzimmer“,
nannte er sie mit so drohender Miene, als wolle er
sie mindestens drei Stockwerke hinabstürzen.
Sie aber gab das Spiel noch nicht verloren. Was
schadete es, daß sie ihre Liebkosungen unterbrach.
Solch ein Weibsbild wie Käthe ist ein alter Praktikus,
dem es schon noch gelingen wird, ihn wieder in
einen Winkel zu ziehen.
Ob er sich nur gar nicht schämte, sich mit solch
einer einzulassen, die, weiß Gott woher, sich in das

235
Haus eingeschlichen und nicht einmal ein ordentliches
Hemd auf dem Leibe habe!
Johann aber stand schon dicht vor ihr und gebot
mit Donnerstimme ihr Schweigen. Von jeder anderen
diirfe sie so etwas sagen, nur nicht von Kathe, sie,
die kein gutes Wort verdiene und sich jede Woche
mit einem andern herumtreibe. Kathe solle sie nur
in Ruhe lassen: sie sei ein ordentliches Mädchen,
wie man es heutzutage mit der Laterne suchen
müsse...
Leichenblaß wurde Mary bei diesen Worten Jo-
haans. Wie? Jetzt werfe er ihr vor, sie führe sich
schlecht auf? Wer hatte sie denn früher ebenso
geküßt und zu Biere geführt, wie jetzt Käthe?
Konnte er jetzt wagen, dies zu leugnen und sie einen
„Galgenstrick“ zu nennen? Konnte er bestreiten,
daß er sie geliebt und ihr gelobt habe, ein ganzes
Jahr mit ihr zu leben? Nur hatte sie mehr Ver-
stand wie die dumme Käthe und besann sich schnell,
daß er nichts tauge.
„Gab ich dir nicht Gold?“ schrie Johann, auf sie
losstiirzend. „Gieb erst mein Gold heraus, dann
belfere weiter. Aber die Käthe laß mir in Ruh’, sie
ist ein braves Mädchen, dessen Namen du nicht ein-
mal in den Mund nehmen darfst, du Nichtsnutz!“
Dabei schwang er ihr die geballte Faust über dem
Kopie und hätte Mary sicher auch geschlagen, wäre
sie nicht zur rechten Zeit davon gelaufen mit den
Worten: „Warte nur, ich werde dich schon über-

236
zeugen von ihrer Tugend, und du solist sehen,
für wen du mich so schlecht behandelst!“
Wie eine Drohung fielen diese Worte auf die
schluchzende Käthe herab und eine unbestimmte
Angst schnürte ihr das Herz zusammen, obgleich sie
nichts Böses begangen hatte. Johann konnte jedem
ihrer Schritte nachspüren.
Dazu kam noch das peinliche Gefühl, daß ihr
Marys friiheres Verhältnis mit Johann so grell vor
Augen geführt wurde!...

Als Käthe vom Boden herabging, weinte sie bitter-


lich und auch in der Küche konnte sie lange noch
sich nicht beruhigen.
Johann hielt sie auch nicht zurück, im Gefühle,
daß es nicht mehr gut stehe zwischen ihnen.
Sichtlich verlegen über Marys Worte, wünschte
er so schnell wie möglich den Boden zu verlassen,
ais den Schauplatz seiner früheren Liebeleien.
Bis zur Küchentür begleitete er Käthe und ver-
abschiedete sich dann höflich. Nachdem sie die Tür
hinter sich verschlossen, stand er noch lange sinnend
und verdrießlich da.
Gern hätte er Käthe um Verzeihung gebeten
wegen des Verdrusses, den ihr seine ehemalige Ge-
liebte bereitete. Nur wußte er nicht, wie er es an-
fangen solle und sagte ihr deshalb gar nichts, als er
sie die Treppe hinabführte. Nur ihre Tränen sah er,
die ihm wie ein Stein auf dem Herzen lagen.

237
Endlich ging er die Treppe hinab und von dort
schnurstracks in die Schenke, konnte aber auch beim
Glase jenen peinlichen Auftritt nicht vergessen. Fast
bereute er, daß er sich so hinreißen ließ und Mary
so schwer beleidigte. Denn diese wäre imstande,
sich an Käthe und ihm zu rächen und ein rach-
süchtiges Weib ist schlimmer als der Satan,
Käthe trocknete sich inzwischen die Tränen und
machte dann den Samowar zurecht. Die Herrin
übergab ihr den bekannten Brief und sie sollte wieder
ihr das gewohnte Stelldichein ermöglichen. Im
Verlauf einiger Monate hatte sie sich das glatteste
Lügen angewöhnt und alles ging über Erwarten glatt
von statten. Jetzt stotterte sie nicht mehr, wie
früher, wenn ihr eine Unwahrheit durch die Kehle
gehen sollte. Nur die Augen schlug sie in der Regel
nieder und konnte es nicht über sich gewinnen, dem
Herrn gerade in das Gesicht zu sehen.
Das leichte Gelingen der täglichen kleinen Sünden
ermunterte sie allmählich zu größeren.
Als sie sich anschickte, die Wohnung zu betreten,
vernahm sie lautes Stöhnen im Schlafzimmer.
Mitten im Eßzimmer stand die Herrin allein mit
sorgenvollem Gesicht und erklärte ihr mit einigen
Worten den Stand der Dinge.
Der Herr war unwohl vom Bureau heimgekehrt.
Er litt an Gallensteinen, die ihm schon manchmal
arg zusetzten und auch jetzt wieder heftig auftraten.
Daher mußten ihm Leinsamenumschläge gemacht
und Zitronensaft im Wasser gereicht werden. Dies

238
war jedoch Nebensache: Was sollte aus dem Stell-
dichein werden? Unmóglich konnte Julia sich jetzt
entfernen. Denn ihr Gatte war in solchen Fällen ent-
setzlich launisch und ließ sie keinen Schritt vom Bette
fort. Der Geliebte mußte also benachrichtigt werden,
damit er nicht umsonst auf sie warte. Nur Käthe
konnte dies besorgen, da sie allein wußte, wo die
Nachtdroschke stand. Sobald es dunkelte, mußte sie
dorthin eilen. und melden, weshalb die Herrin ihr
Versprechen nicht halten könne.
Käthe fand sich sofort bereit und wartete, nach-
dem sie die Umschläge zurecht gemacht, nur auf den
Anbruch der Nacht.
Inzwischen erfüllte Budowski mit lautem Jamme:n
das Innere der Wohnung. Krampfhaft verzog sich
sein fahles, gerunzeltes Gesicht unter den wütenden
Schmerzen.
Julia wechselte äpathisch die Umschläge und
reichte den Zitronensaft, ohne dabei die geringste
Teilnahme mit seinen Qualen zu zeigen. Wie eine
bezahlte Wärterin sah sie aus, die zur Pflege eines
ihr völlig gleichgültigen Kranken angenommen
wurde. Ihre Gedanken weilten anderswo, als am
Krankenbette ... Wußte sie doch nicht, ob Käthe
alles richtig ausrichten werde über den wahren
Grund, der sie daheim zurückhalte ...
Als es völlig dunkel geworden, warf Käthe sich
ein Tuch über die Schultern und eilte nach dem ge-
wohnten Orte des Stelldicheins. Schon von weiten

239
sah sie die beiden Laternen im gelblichen Lichte
blinken.
Als sie sich der Droschke näherte, lehnte dort am
Schlage schon der junge Mann und rauchte wie ge-
wöhnlich seine Zigarre, warf dieselbe aber fort, als
er Käthe kommen sah.
Ganz erstaunt war er, daß Julia nicht mit kam,
Verlegen und fast außer Atem vom schnellen Laufe,
stand Käthe vor ihm.
„Der Herr ist erkrankt“, sagte sie dann hastig,
ohne den Blick zu ihm zu erheben. „Und die gnädige
Frau muß ihm Umschläge machen, kann also heute
nicht kommen und läßt sich entschuldigen.“
Letzteres fügte sie schon aus eigenem Kopfe hin-
zu, weil ihr dies weit feiner erschien. Die Herrin
hatte zwar dies nicht gesagt, sie aber wußte schon
allein, was sich schickt.
Nachdem sie ihren Auftrag in dieser Weise er-
ledigt, wollte sie sich sofort entfernen.
Der Herr aber hielt sie an der Hand zurück.
„Was macht die Herrin?“ fragte er, um eine
Unterhaltung anzukniipfen.
„Leinsamenumschläge, gnädiger Herr“, erwiderte
sie gern, in der Meinung, er habe nicht verstanden,
was sie zu ihm sagte. „Und deshalb läßt sie sich
entschuldigen.“
„Weshalb entschuldigen?“ fragte er weiter und
näherte sich der immer mehr Verlegenen.
„Weil sie nicht kommen kann“, entgegnete sie,
sich möglichst von ihm entfernend.

240

F
Er aber maß sie mit seltsamen Blicken. Dies
Mädchen gefiel ihm. In seiner Verachtung der Weiber
liebte er die Veränderung ...
Ein Mädchen aus dem Volke ist eine so leichte
Beute, nach der man nur die Hand auszustrecken
braucht, wenn sie sich nicht von selber nähert, schon
beglückt über den Vorzug, der ihr zuteil wird ...
Und im matten Laternenlicht vergegenwärtigte er
sich all ihre Reize... Fürwahr! Dies Mädchen wäre
keine üble Abwechslung unter all den anderen ...
Weshalb sollte er sich nicht mit ihr einlassen, wenn
auch sie, wie er sicher annahm, mit Freuden ein-
willigte? Und ohne weiteres kniff er sie in die
Wangen und gab ihr dadurch zu verstehen, was er
wünsche. .
Ganz verwirrt über diese Wendung, stand sie ein
Weilchen da, wie angewurzelt. Wie? Auch dieser?...
Er, der ihre schöne Herrin liebte, wollte mit deren
Magd anbinden?... Was steckte diesen Männern
unter der Haut, daß sie jedes Weib anfallen, welches
sie zum erstenmal sehen in ihrem Leben?...
Käthe fand hierauf keine Antwort...
Er jedoch wurde immer dringender, da er ihr
Schweigen für Schwanken und Überlegen hielt.
WuBte er doch aus Erfahrung, daß die Tugend unter
den Mägden nicht blüht und daß fast jede nur zu
gern sich überreden läßt.
Julia brauchte er durchaus nicht zu fürchten. Und
ebenso wußte er, daß die Mägde nicht selten mit
ihren Herrinnen den Gegenstand ihrer Liebe teilen,

16 Käthe 241
vor diesen aber das voraus haben, daß sie weit ver-
schwiegener sind ...
Und endlich, Julia wurde ihm geradezu schon lästig
und gern hätte er schon längst mit ihr gebrochen,
hielte dies nicht so schwer bei diesem geheimnis-
vollen, träumerischen und trotzdem so feurigen
Weibe ...
Wer weiß, was sonst noch für ein Feuer glimmt
in diesen halberloschenen Augen ...
Wie leicht könnte solch ein Bruch ihn bloßstellen
vor aller Welt, wenn er ihn herbeifiihrte.
Besser ist es schon, wenn Julia ihm dazu Ver-
anlassung gäbe und ihm eine Szene machte, obgleich
er diese haßte!
Dann fände sicher sich schon Rat!...
„Sei doch nicht so dumm!“ raunte er Käthe zu, als
sie sich mit Gewalt losreißen wollte. „Du bist so
hübsch und gefällst mir. Du wirst es sicher nicht
bereuen, das sollst du sehen!“
Käthe aber hörte ihn gar nicht an und wünschte
nur, sofort sich zu entfernen, so zuwider war ihr
dieser Mensch, der sie mit Gewalt festhalten wollte.
„Lassen Sie mich los, Herr!“ rief sie endlich mit
lauter Stimme. „Oder ich sage alles der gnädigen
Frau!“ Ungewöhnliche Entschlossenheit klang aus
diesen Worten. Sie, die gegen vornehme Leute sonst
so Schüchterne, sah ihm jetzt mit stolzer Verachtung
in die Augen.
Im matten Laternenschein begegneten sich ihre
Blicke: die seinen, umnebelt von der plötzlich

242
erwachten Begierde; die ihren keusch und echt
mädchenhaft.
Ein Weilchen schauten sie sich an, bis Käthe zu-
erst den Kopf abwandte. Eine sonderbare Angst
ergriff ihr ganzes Wesen,
Einst als Kind sah sie einen Holzschnitt, der irgend
ein Zerrbild darstellte, halb Ziegenbock, halb Mensch.
Im Kehricht hatte sie ihn gefunden und lange auf-
bewahrt, um ihn fast täglich sich anzusehen. Jetzt
erinnerte sie sich, daß dieses Zerrbild große Ähn-
lichkeit hatte mit dem Menschen, der vor ihr stand.
Vor solchen bösen Gesichtern fürchtete sie sich
förmlich und war überzeugt, sie gehörten nur den
schlimmsten Leuten an und brächten nichts als
Unglück. Daher zitterte und bebte sie auch jetzt
vor Angst und preßte die noch freie Hand auf das
stürmisch klopfende Herz.
Ärgerlich über ihren Widerstand und namentlich
über ihre Drohung, ließ er sie endlich los und warf
der Davoneilenden die nicht gerade höflichen Worte
nach: „So geh’ zum Teufel!“
Gewiß, lieber ginge sie zum Satan selbst, als noch
länger mit solchem nichtswürdigen Menschen zu
sprechen.
Zum erstenmal im Leben haßte sie jemand. Mein
Gott! Die Herrin war so schön und feingebildet.
Und dennoch läßt er sie, die arme Magd, nicht zu-
frieden! Weshalb?... Das konnte sie nicht be-
greifen. Sie wußte nur, daß sie so schnell wie möglich
tliehen müsse vor diesem verhaßten Menschen!

16* 243
Piötzlich stutzte sie:
Da die Droschke noch hielt, bis der in seinen
Hoffnungen doppelt Getäuschte den Kutscher be-
zahlte, erkannte Käthe beim Laternenschein — Mary,
die mit dem Kruge nach Wasser ging. Wer weiß,
vielleicht war dieser Krug nur ein Vorwand, um
Käthe zu beobachten.
Solches traute diese aber ihr doch nicht zu und
ging an ihr vorüber, noch ganz verwirrt über den
Überfall, den sie erlebte und über die ihr gemachte
Zumutung. Nein! Das konnte sie der Herrin nimmer-
mehr sagen. Die Ärmste hatte ohnehin genug aus-
zustehen. -
Mein Gott! War Johann doch fiir sie noch gar
nichts und hatte sie doch durchaus noch an ihn kein
Anrecht. Und trotzdem wiirde sie sich abhirmen,
wenn sie erführe, daß er mit einer anderen sich
einließ.
Schon bei diesem Gedanken schwindelte ihr der
Kopf und beinahe wäre sie unter die Räder einer
vorüberrollenden Droschke geraten.
Entschieden liebte sie ihn und dies bereitete ihr
neue Qual. Wozu ließ sie sich darauf ein! Jetzt
konnte sie ihn nicht mehr aus dem Herzen reißen.
Wie ein Blutegel sog er sich dort fest. Nur an ihn
denkend, schritt sie weiter, fast ohne Besinnung.
Ein armes Mädchen, wie sie, durfte nicht lieben.
Das führt immer nur zu Tränen, oder zur — Sünde.
Schon jetzt rannen ihr die Tränen über die
Wangen, und mitten auf der, Straße blieb sie stehen,

244
um sich auszuweinen, damit ihr etwas leichter werde,
sonst erstickte sie noch vor Herzeleid.
Dann lehnte sie den Kopf an die Mauer, bis Vor-
übergehende sie anstiefen. Wozu steht dieses vier-
schrötige Frauenzimmer mitten auf dem Wege?
Wahrscheinlich ist sie betrunken, denn sie faßt sich
immer an die Stirn ... Sie aber ‘hatte heute noch
keinen Tropfen Schnaps über die Lippen genommen.
Nur ihr Herzeleid packte sie so, daß sie sich aus-
weinen mußte. Auf der Straße schickte sich dies
allerdings nicht. In der Küche aber fand sie dazu
keine Zeit, denn der Herr war krank und sie mußte
die Umschläge zurecht machen. Auf der Straße ging
es leichter.
Wenn auch der oder jener sich nach ihr umsah,
so brauchte sie sich doch um Unbekannte nicht zu
kümmern.
Daher lehnte sie sich jetzt an die Mauer und
trocknete sich mit der Faust die Tränen, die ihr aus
den Augen strömten.

:hnell war der Sommer vergangen und der Herbst


genaht.
Bei Budowskis schlichen die letzten Wochen träge
dahin und brachten nichts als Krankheit und die
davon unzertrennlichen Sorgen.
Budowski lag im Bette und stöhnte und jammerte,
nicht ohne zu übertreiben.

245
Anfangs pflegte ihn Julia mit gewohnter Gleich-
gültigkeit. Nur zu bald aber langweilte sie diese
Rolle, die beständige Bewegung erforderte.
Daher überließ sie Käthe die ganze Last, den
wunderlichen Alten zu pflegen, ihm die Arznei ein-
zugeben, nachts bei ihm zu wachen und ihm alle
übrigen beim Krankenbette unvermeidlichen Dienste
zu leisten.
Unter dem Vorwande, den Apothekengeruch etwas
zu dämpfen, verbrannte Julia tagelang ihre Räucher-
kerzchen, die sie jetzt zugleich mit den Arzneien aus
der Apotheke holte.
Nichts vermochte dagegen der Einspruch ihres
Gatten, der mit heiserer Stimme rief, all seine saure
Arbeit gehe dabei in Rauch auf.
Julia entschuldigte sich nicht einmal, sondern hüllte
ihre schwankende Gestalt mit Wonne in die blauen
Rauchwölkchen, die alle Räume erfüllten.
Alles übrige kümmerte sie sehr wenig.
Käthe hatte also jetzt sehr viel zu tun. Außer
ihren gewöhnlichen Geschäften mußte sie alle Augen-
blicke im Schlafzimmer nachfragen, ob der Kranke
nicht irgend etwas bedürfe.
Budowski war bekanntlich niemals sehr liebens-
würdig. Die Gallensteine aber machten ihn vollends
bissig und rücksichtslos gegen andere.
Daher hatte Käthe unaufhörlich Scheltworte und
die bittersten Vorwürfe zu erdulden, obgleich sie
redlich bemüht war, jeden Wunsch des wunderlichen
Alten zu erfüllen.

246
Eines Tages, als er beinahe erstickte im Dunst
von Arzneien und Räucherkerzchen, befahl er Käthe,
ihm einen Krug voll — „frischer Luft“ zu holen.
Sofort eilte sie auf den Hof, um diese Luft in
einem irdenen Kruge „aufzufangen“, schnell einen
Blechdeckel darauf zu legen und dem Herrn das Ge-
wünschte zu bringen.
Dies genügte ihm aber nicht. Nachdem er den
Kopf über den Krug gehalten und tief eingeatmet
hatte, erklärte er, sie habe ihm die reine Kehrichtluft
gebracht. Und dennoch hatte sie dieselbe mitten auf
dem Hofe unter den Kastanien „eingefüllt“.
Dies war eine der tausend Launen, die sie be-
friedigen mußte, obgleich sie manchmal beinahe
umfiel vor Mattigkeit und Schläfrigkeit.
Endlich ward ihr ein Trost zuteil, der ihr die
bitteren Tage versüßte.
Eines Abends erschien Johann, den sie ein-
geladen, bei ihr in der Küche, um ein Stündchen mit
ihr zu verplaudern. Seitdem kam er fast allabend-
lich, setzte sich zu ihr an den Tisch und sah zu, wie
sie sich in der engen Küche mit Waschen oder
Plätten beschäftigte.
Als die Herrin in die Küche kam, stand er auf und
verneigte sich höflich, wodurch er Käthe vollends
für sich gewann.
Sogar „Ich küß die Hand!“ sagte er, und dies
war der Gipfel der Höflichkeit von seiner Seite.
Julia, gewiß dadurch für ihn eingenommen, hatte
nichts einzuwenden gegen diese Besuche, sondern

241
blickte nur bald ihn, bald Kathe mit nachsichtigem
Lächeln an.
Fiir Kathe war dies ein so riihrender Beweis von
der Güte ihrer Herrin, daß sie deren Hand ergriff,
um sie dankbar zu küssen.
Obgleich Johann diese Demut sofort tadelte, be-
achtete Käthe dies nicht. Wußte sie doch, daß die
Herrin herzensgut war, und wäre sie doch gern für
sie durch das Feuer gegangen.
Jetzt handelte es sich für sie nur darum, Johann
anständig aufzunehmen, damit er von ihr eine gute
Meinung empfange. Marzipan freilich konnte sie
ihm nicht vorsetzen. Einige kleine Einkäufe aber
erlaubten ihr die „Marktgroschen“. Ein Stückchen
Mett-, Blut- oder Bratwurst fand sich immer noch
für Johann.
Überdies goß, seit der Herr krank lag, Käthe
selbst den Tee über, nachdem sie ihm gezeigt, daß
sie auch nicht zu viel aus der Büchse genommen
habe. Dies hinderte sie jedoch nicht, noch einmal so
viel zuzuschütten, sobald sie das Schlafzimmer
verlassen. Dies konnte der Herr ja nicht sehen.
Käthes Traum war also erfüllt.
An jenem Sonntage, der so traurig verlief, als sie
sich mutterseelenallein durch die Straßen schleppte
und dann in der Kirche kauerte, träumte sie von
einem braven Mann, der bei ihr am Tische saß, um
mit ihr gemütlich zu plaudern und ihr auf diese
Weise das Leben erträglicher zu machen.

248
Fast tollkühn erschien ihr damals der Wunsch,
dieser Mann möge — Johanns Gestalt und Züge
haben. Und heute saß dieser in eigener Person vor
dem mit dem Abwaschgeschirre besetzten Tische
und warf sie mit Brotkügelchen.
Glückstrahlend, wenn auch feuerrot und schweiß-
triefend, tummelte sie sich herum in der kleinen
Küche, wo sie eben eine Wanne scheuerte, schein-
bar nur mit ihrer Arbeit beschäftigt, dabei aber
immer nach ihm hinschielend.
In der Küche hatte sie keinen Angriff zu fürchten
von seiner Seite. Die Nähe der Herrschaft schützte
sie davor. Johann versuchte nicht einmal, sie in den
Arm zu kneifen, sondern warf nur ab und zu ein
Brotkügelchen auf sie oder besprengte sie „mit
Wasser.
Sie aber verstand sich auf solche Scherze und
wußte, was sie zu bedeuten hatten. Nur vor dunklen
Winkeln fürchtete sie sich, in denen sie alle Kraft
verlor.
Hier bei Licht und dicht neben der Herrschaft
fühlte sie sich stark und sicher. Daher lächelte sie
häufiger und wurde fast kokett, wenn Johann ihre
roten nassen Hände ergriff und sagte, er liebe solche
Patschchen, denn sie zeugten von Gesundheit und
Arbeitsamkeit. Seitdem schob sie immer die Ärmel
ihrer Jacke so hoch wie möglich hinauf, um desto
besser ihre roten Hände zu zeigen. Dies war zwar
nur eine harmlose Küchenkoketterie, immerhin aber
doch eine vollendete Gefallsucht.

249
Längst wußte die ganze Dienerschaft im Hause
von Johanns Besuchen bei Käthe und verfolgte ge-
spannt den weiteren Verlauf dieses „Verhältnisses“.
Die Köchin der Frau Gräfin, die eben aus der An-
dacht zurückkehrte, meinte, sie habe noch niemals
unter solchem Dache geschlafen. So etwas könnte
nur in Sodom und Gomorrha vorkommen, wie sie
erst gestern aus dem Munde der Frau Gräfin selbst
gehört. Die Zofe, die bedeutend jünger war, drückte
nur ihr Bedauern aus, daß Johann, dieser stattliche
Mann, sich mit solch einem Frauenzimmer abgebe.
Die Tapeziererfrau und die anderen Weiber und
Mägde im Hause stellten das Liebespaar förmlich
unter Polizeiaufsicht.
So oft Johann die Treppe hinaufstieg, geriet das
ganze Haus in Aufregung.
„Wie? Acht Uhr erst ist es jetzt, genieren sie
sich schon gar nicht mehr? Nächstens sitzt er schon
am hellen Tage oben bei ihr ... Am besten wär’ es,
wenn der Hauswirt Johanns Stübchen anderweitig
vermietete ... Die Käthe nimmt ihn in ihrer Küche
auf, samt seinen Siebensachen.“
Und so wuchs der allgemeine Haß gegen sie, je
mehr Johann ihr seine Neigung zeigte.
Auch Budowskis blieben dabei nicht verschont:
„Das muß eine nette Herrschaft sein, die solche
Wirtschaft bei sich duldet. Übrigens wissen wir ja
alle, was das für Leute sind. Wie der Herr, so das
Geschirr!“
Nur Mary bewahrte sich eine seltsame Mäßigung.

250
Wenn die anderen Mägde sich vor der Haustür
oder auf der Treppe versammelten, um über Käthes
Verhältnis zu klatschen, ging sie ruhig an ihnen
vorüber, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über
ihr eigenes Schicksal. Dabei sah sie aber so düster
aus, als brüte sie über irgend einem Plan, den sie
nächstens auszuführen beabsichtige,
Inzwischen verlebte Käthe stillvergnügt einen
Tag nach dem anderen, trotz schwerer Arbeit und
schlechter Kost, und erwartete mit fieberhafter Un-
geduld Johanns Besuche.
Gegen acht Uhr färbte Purpurglut ihre Wangen.
Mit zitternden Händen zündete sie das Feuer an, um
die eingekauften Vorräte zuzubereiten, namentlich
die Bratwürste, die Johann über alles liebte.
Wie glücklich fühlte sie sich, wenn er alles so mit
Behagen aß und dazu einige Gläser starken Tees mit
Arak trank. Ihren ganzen Lohn verwandte sie auf
diese Bewirtung und dazu noch die „Markt-
groschen‘“, die sie jetzt schon in sehr ungleicher
Weise mit der Herrin teilte. Nur auf diesem Wege
vermochte Käthe ihm ihre Liebe auch äußerlich zu
betätigen. |
Mit glühenden Wangen und leerem Magen er--
forschte sie den Eindruck, den der vom Mittagessen
übriggebliebene Weißkohl und die frischgebratene
Wurst auf ihn mache.
Wollte oder konnte er aber nicht essen, so schlief
sie die halbe Nacht nicht vor Kummer: Gewiß war

251
er bei irgend einer anderen, wo es ihm besser
schmeckte!
Ach! An solchen Tagen wäre sie imstande ge-
wesen, zustehlen, um ihm nur etwas nach seinem
Geschmacke vorsetzen zu können.
Verzehrte er aber alles und rieb mit Brot noch
den Teller rein, so verstopfte sie sich vor Lachen
den Mund mit dem Tuche. O, jetzt sah sie, daß sie
für ihn doch die Einzige war.

Budowskis Genesung schritt inzwischen langsam


fort, sodaß er demnächst aufzustehen hoffte.
Julia, die bisher der Möglichkeit beraubt war, den
Geliebten wiederzusehen, beschleunigte tunlichst
dieses Aufstehen, da sie wußte, daß sie gleichzeitig
sich wieder zum Stelldichein einfinden könne,
Eines Abends erschien Johann noch zeitiger als
sonst in der Küche, eingedenk, daß Käthes Namens-
tag war. Daher brachte er ihr eine mit gelben und
blauen Blumen geschmückte Glückwunschkarte,
unter der sich ein Bildchen befand.
Letzteres stellte einen Garten dar, in dem die
Rosen ebenso groß waren, wie die Köpfe der dort
lustwandelnden Gäste.
Eine Dame im gelben Kleide hielt in der Hand
ein weißes Band mit der Inschrift in großen Lettern:
„Herzlichen Glückwunsch für Fräulein Katharina
zum Namenstage St. Katharina 1. J. als Zeichen
freundschaftlicher Verehrung von Johann Viebig.“

252
Noch niemals hatte Kathe solch schóne Karte ge-
sehen. Mein Gott! Und diese war für sie bestimmt,
Sogleich steckte sie dieselbe unter den Rahmen
des Heiligenbildes. Gewiß wird die Mutter Gottes
sich darüber nicht ärgern!
Dies war aber noch nicht alles:
Johann zog noch ein Paketchen hervor und legte
es ihr auf den Tisch. Darin befanden sich ein Paar
rote, blaugestreifte, warme Strümpfe und ein Paar
violette, grüngesteppte, wollene Handschuhe. Nein!
Wahrhaftig, so viele Beweise von Güte hatte sie
„nicht verdient! Wie konnte er nur so viel Geld für
sie ausgeben!
Und mit Freudentränen in den Augen dankte sie
Johann für all die Geschenke. Er aber blähte sich
auf, stolz über seine Galanterie, die ihn zwar einige
Groschen kostete, der er aber sich nicht entziehen
konnte. Wußte er doch recht gut, was sich gehört
und hatte er doch sehon mit so manchem Mädchen
zu tun gehabt.
Vom Rest ihres Lohnes hatte Käthe auch noch
etwas Bier und Likör gekauft. Als sie die Flaschen
aus ihrem Versteck hervorzog und sie vor ihn hin-
stellte, rief er hocherfreut über diesen Anblick: „Ah!
Darauf hab ich heute just Appetit!“
Und sofort legte er Messer und Gabel beiseite
und labte sich an den ihm dargereichten Getränken.
Mit einem Lächeln der Befriedigung stand Käthe
neben ihm und füllte sein Glas, sobald es geleert war.
Sie selber trank ab und zu auch auf seinen aus-

253
drücklichen Wunsch und nur zu bald wurde ihr so
heiß, daß sie kaum wußte, was sie mit sich anfangen
solle. Daher zog sie versuchsweise die violetten
Handschuhe an, die zwar etwas plump, aber für den
Markt im Winter sehr zweckmäßig waren,
Als Johann ihr vorschlug, auch die Strümpfe an-
zuprobieren, lehnte sie dies lachend ab.
Und beide fühlten sich so recht behaglich in dieser
zwar etwas dumpfen, aber überaus friedlichen Um-
gebung. Das rotglühende Ofenblech sprühte Wärme
genug aus für den naßkalten Herbstabend. Und
Johann liebte solche Wärme dermaßen, daß er sich
mit dem Rücken dem Ofen näherte, obgleich Käthe
ihn ängstlich warnte, sich nicht zu verbrennen oder
den Schnupfen zu holen.
Dumpf rauschte der Regen herab auf das Dach
über der Wand, an der sich das kleine Fenster be-
fand. Letzteres war zum Schutze vor der Kälte jetzt
fest zugemacht und sogar schon verkittet. Zur Not
konnte die Flurtür geöffnet werden, erklärte sie ihrı
und er war ganz damit einverstanden. Übrigens war
er heute sehr munter und sie teilte seine Heiterkeit.
Bald hallte die kleine Küche wieder vom fröhlichen
Lachen der beiden so gut zu einander passenden
Leutchen, die dabei im roten Rahmen der wulstigen
Lippen die blendend weißen Zahnreihen zeigten.
Plötzlich verstummte dieses Lachen und die Hand
Johanns, die eben ein Stück Wurst zum Munde
führte, sank wie gelähmt herab,

254
In der geöffneten Tür des Speisezimmers stand
Budowski, zitternd; auf schwankenden Füßen, hielt
er sich fest an der Türpfoste, wie ein kleines Kind,
welches kaum laufen gelernt.
Seine welke Gestalt glich mehr einem Gespenste,
als einem lebenden Wesen und hob sich scharf ab
im hellen Lichte der über dem EBtische brennenden
Hängelampe. Plötzlich war er aufgestanden, um sich
im Zimmer ein wenig zu ergehen.
Höchst erstaunt war er, als er das Lachen in der
Küche hörte.
„Wie? Gäste lärmen in meiner Küche? Da lohnt
es sich doch, nachzusehen, was dieser Küchen-
dragoner für Bälle gibt? Sollte dies Frauenzimmer
sich wirklich erfrechen, Mannspersonen hier auf-
zunehmen und zu bewirten? Nein, das wäre doch
zu viel!"
Und als er auf der Schwelle stand, verstummte
er zunichst vor Entriistung und rief dann:
„Barmherziger Gott! Was geht hier vor?*
Unwirsch über die unerwartete Wendung der
Dinge erhob sich Johann, während Käthe es für
geboten hielt, sich zu verteidigen:
„Verzeihen Sie, gnädiger Herr“, stammelte sie,
indem sie sich einer Lüge des Stubenmädchens er-
innerte, welches den Geliebten vor dem Zorne der
früheren Frau schützen wollte. „Das ... ist... mein
Bruder!“
„Bruder?“ schrie Budowski, fast auf die Schwelle
sinkend. „Du lügst! Das ist ja unser Johann Viebig.

255
Den kenn’ ich nur zu gut! Bruder! Ihr alle habt
iedes Jahr wenigstens hundert solche Brüder!“
Ach! Das war doch zu viel! Zu tief verletzte
der Herr Käthes Ehre und noch dazu in Gegenwart
Johanns! Hundert Brüder! Als ob sie jemals schon
einen anderen hier aufgenommen hätte! Wahrhaftig,
der Herr war doch zu ungerecht!
Inzwischen trat Budowski einige Schritte vor bis
zum Tische und betrachtete die dort stehenden
Teller und Flaschen.
„Ei! Ihr habt euch nett versorgt, das muß man
sagen. Das ist ja eine fürstliche Aufnahme!“ zischte
er und leckte an den Lippen vor Begierde, das
saftige Fleisch zu kosten, dessen Reste noch auf dem
Teller lagen. Sein durch die lange Diät aus-
gehungerter Magen mahnte ihn an seine Rechte und
lüstern hing sein Blick an den halbgeleerten Flaschen
und Gläsern.
Inzwischen griff Johann nach seiner Mütze und
wollte sich entfernen, im Gefühl, die Wut könne ihn
übermannen, sodaß er etwas sage oder tue, was
er später bereuen müsse.
Budowski aber berücksichtigte keineswegs seine
Eile, sondern rief mit vor Zorn halb erstickter
Stimme: „Hinaus mit dir, du Landstreicher. Daß
mir dein Fuß nie wieder diese Schwelle über-
schreite!“
Johann blieb an der Tür stehen. Dunkle Röte
übergoß ihm Gesicht und Hals. Die Hände preßten

256
krampfhaft die Mütze zusammen und im Menschen
erwachte das wilde Tier:
„Natürlich werd’ ich gehen, Herr!“ brüllte er los.
„Landstreicher aber laß ich mich noch lange nicht
nennen. Und, so wahr ich Johann Viebig heiße,
werde ich jeden verklagen, der meine Ehre angreift.
Und dann wollen wir sehen, wer Recht bekommt!“
Dann riß er die Tür auf und schritt hinaus, mit
den Absätzen den Boden stampfend,
Auf dem Hausflur drehte er sich noch einmal um
und rief mit sanfterer Stimme: „Auf Wiedersehen,
Fräulein Käthe!“
Sie aber erwiderte ihm nichts, so betroffen war
sie von dem ganzen Vorgange.
Mein Gott, was war denn dabei so unschicklich,
daß sie Johann in der Küche aufnahm? Litt doch
darunter keineswegs die Arbeit. Im Gegenteil, weit
rascher ging sie ihr von statten, wenn er so bei ihr
saß und so hübsch mit ihr plauderte, Übrigens ist
es doch weit anständiger, so ruhig zu Hause zu
sitzen, anstatt sich in den Schenken herumzutreiben.
Der Herr aber wollte dies nicht einsehen!
Als er die Küche verließ, verbot er ihr strengstens,
Johann jemals wieder dort aufzunehmen. Träfe er
noch einmal ihn oder irgend eine andere Manns-
person in der Küche, so werde sie sofort entlassen
und erhalte noch dazu ein schlechtes Zeugnis.
Gewiß hätte der Herr dazu das Recht, wenn sie
irgend einen Soldaten aufnähme. — Das gehört sich
nicht für ein anständiges Haus. — Solch ein fried-

17 Kette 257
licher Mann aber, wie Johann, tut der Kiiche, in der
er sitzt, keinen Abbruch. Der Herr hat iiberdies
gut reden; denn er kann jederzeit mit seiner Frau
plaudern und ein gutes Wort hóren. Ihr jedoch ist
es immer so traurig zu Mute in der dunklen Kiiche
mitten unter Töpfen und Trógen. Jetzt muß sie
wieder mit Johann auf der Treppe oder im Keller
zusammenkommen. Und sie fürchtet sich doch so
sehr vor den dunklen Winkeln!...
In der Küche plauderte es sich so schön zu zweien
und die Abende vergingen so schnell. Jetzt wird
alles wieder anders werden!...
Tiefbekümmert lehnte sie den Kopf an das Gitter-
fenster und stand dort lange Zeit mit geschlossenen
Augen.
Den ganzen Tag mußte sie so schwere Arbeit
tun — weshalb sollte sie sich nicht wenigstens
abends ein wenig zerstreuen?
Noch immer rauschte der Regen herab auf das
Dach und plätscherte dumpf aus den Rinnen. Auf
dem Hofe herrschte stürmisches Herbstwetter, der
Schrecken aller Schwindsüchtigen.
Auch Käthe befand sich in so trüber, gedrückter
Stimmung, als ahne sie, daß mit diesen Herbst-
stürmen aller Sonnenschein ihr entfliehe und eine
Stunde ihr nahe, so dunkel wie draußen die Nacht
und so schwer und kalt wie der Regen, der weithin
alles iiberschwemmte.

258
Auch genesen, kehrte Budowski zuriick zu
seiner früheren Beschäftigung. Nur noch
magerer war er geworden und tiefere Falten durch-
furchten sein fahles Gesicht. Trotz alledem über-
nahm er wieder das Steuer des Haushaltes und
bemühte sich, durch unbegrenzte Sparsamkeit die
Lücken wieder auszufüllen, die durch seine Krank-
heit entstanden waren.
Für Käthe jedoch war dies ganz gleichgültig.
Das herbstliche Unwetter gestattete ihr kaum, an
Sonntagsausflige auch nur zu denken, und das
Wiedersehen mit Johann auf der Treppe oder vor
der Haustür war mit keinerlei Ausgaben für sie
verknüpft.
Wenn sie trotzdem noch vom Marktgelde stahl,
so tat sie dies mehr für Julia, die seit ihres Gatten
Krankheit die doppelte Menge von Räucherkerzchen
verbrauchte und demnach auch entsprechend mehr
Geld.
Käthe lebte jetzt immer wie im Fieber. War sie
ja einmal ruhig eingeschlafen, so weckte sie immer
wieder eine seltsame Unruhe voller ängstlicher
Ahnungen.
Dann war ihr, als stürze sie in irgend ein großes
Unglück, dem sie nicht entrinnen kónne.
Ihr Verhältnis mit Johann blieb fast unverändert:
Immer noch sagte sie „Nein!“, fühlte jedoch, daß
die Kräfte ihr allmählich schwanden,
Aus der Küche vertrieben, lauerte Johann ihr in

17* 259
allen Winkeln auf und raunte ihr Worte in das Ohr,
bei denen es ihr schwarz vor den Augen ward.
Überdies stieß das ganze Haus sie förmlich zum
Falle: Die Mägde, indem sie ihr nachblickten, wie
einer Verworfenen, und der Herr, indem er ihr
immer wieder den Männerbesuch in der Küche vor-
warf. Vergebens bestritt sie alles mit Tränen im
Auge, Niemand glaubte ihr.
So glitt sie immer mehr an den Rand des Ab-
grundes, wie ein herabrollender Stein.
Nach Rettung rief sie nicht, obgleich sie manch-
mal eine wahre Todesangst beschlich, zumal wenn
sie niederkniete zum Abendgebet, weil sie fühlte,
daß ihr dies nicht aus dem Herzen kam.
Früher hegte sie den Aberglauben, daß ihr, wenn
sie einschlafe, ohne gebetet zu haben, im Traume
der Satan erscheine. Daran glaubte sie steif und fest
und wäre um nichts in der Welt ohne Gebet schlafen
gegangen.
Johann, dem sie dies anvertraute, lachte sie aus,
mit der Versicherung, er habe, obgleich er niemals
abends bete, trotzdem noch nie den Satan gesehen,
wie sehr er sich dies auch wünsche.
Anfangs befremdete sie dies, allmählich aber
dachte sie darüber nach und gelangte zu einer ge-
wissen Lauheit in dem bisher so eifrig geübten Beten.
Seit einiger Zeit war Johann auffallend miß-
trauisch und eifersüchtig geworden. Auf Grund
eigener Beobachtungen oder fremder Einflüsterungen
redete er sich ein, Käthes Widerstand beruhe auf

260
irgend einer geheimnisvollen Liebe, deren Gegeil-
stand ein ihm Unbekannter sein müsse.
Vergebens versicherte Käthe, sie habe sich noch
niemals in ihrem Leben mit einem andern einge-
lassen.
Johann verharrte auf seiner Verdächtigung, weil
er glaubte, auf diese Weise schneller zum Ziele zu
gelangen. Dies war sein letztes Mittel. Schlug
auch dies fehl, so mußte er auf alles verzichten,
Eine förmliche Wut hatte er, Käthe zu verderben,
jene Wut eines Mannes voller unersättlicher Be-
gierden. Vielleicht glimmte im Innern dieser zügel-
losen, fast vulkanischen Natur noch irgend ein
besseres, edłeres Gefühl. Die Leidenschaft aber
dämpfte die Stimme des Herzens und jede selbst der
tiefsten Volksschicht angeborene edlere Regung
dermaßen, daB in ihm das Tier die Oberhand gewann.
Angstvoll zitterte Kathe vor diesem Tiere, welches
ihr auflauerte in allen Winkeln. Mit der Unter-
wiirfigkeit eines zum Verderben verdammten Wesens
aber hatte sie nicht mehr die Kraft, zu entfliehen
oder um Hilfe zu rufen.
Übrigens, wohin sollte sie sich auch wenden? Etwa
zur Herrin, die sie begleitete zum Stelldichein mit
dem Geliebten? Oder zum Herrn, der ihr die Kaffee-
bohnen zuzählte und jedes Stückchen Holz?
Beten konnte und mochte sie nicht mehr, seit ihr
zu Mute war, als habe Gott sich von ihr abgewandt.
Und auch das junge Blut in ihr forderte seine
Rechte. Noch rang sie mit sich selbst; doch dies

261
waren nur krampfhafte Zuckungen, die sie nicht
mehr zu retten vermochten. Die angeborene Ehr-
barkeit in ihr wurde vom Leben und dessen elenden
Zuständen erstickt. Die edlere Seite ihres Wesens
war zu wenig entwickelt, um ihr einen genügend
starken Schutz und Schild zu bieten gegen die Ver-
suchungen, die sie rings umgaben ...
Auch in ihr war das — Tier unter Johanns
Einfluß erwacht ...
Sein Verdacht bereitete ihr großen Kummer. Wo-
her entstand er? Weshalb warf er ihr immer wieder
jenen anderen vor, von dem sie selbst nichts wußte?
Vor einigen Tagen erwähnte er sogar, dies sei irgend
ein „Zylinder“. Ach! Daß solch ein „Zylinder“ für
sie nichts sei, das wußte sie nur zu gut und nimmer-
mehr hätte sie sich mit solchem eingelassen!
Und dennoch ließ Johann sich dies nicht ausreden
und grollte ihr und sagte ihr gestern nicht einmal
„Gute Nacht!“
Vielleicht läßt er sich heut ein wenig beschwich-
tigen. Die Herrin beabsichtigt abends wieder ihre
Spazierfahrt; dann kann die Magd etwas länger vor
der Tür stehen und sich gründlich aussprechen mit
Johann ...
Leider aber sollte ihr dieser Plan nicht gelingen.
Als Käthe den Samowar zurechtmachte, stürzte
ein Bote außer Atem in die Küche mit einer kaum
leserlich beschriebenen Karte. Dieselbe sollte sofort
der Herrin übergeben werden mit dem Hinzufügen,
die Mutter liege im Sterben.

262
Auf Julia machte diese Nachricht einen gewaltigen
Eindruck und weckte sie auf einen Augenblick aus
dem Halbschlummer, in dem sie sich sonst befand.
Ohne ein Wort zu erwidern auf des Gatten beißende
Bemerkung, daß die Mutter doch gar zu oft im
Sterben liege, eilte sie, halb angekleidet und mit
offenem Haar, hinaus.
Käthe folgte ihr, um ihr behilflich zu sein, Julia
aber hielt sie mit der Hand zurück und flüsterte ihr
nur noch auf der Treppe zu: „Gieb ihm Nachricht!
Du weißt schon, wen!“
Dann verschwand sie im Dunkel und hinterließ
nur den Duft von Patschuli und Räucherkerzen.
Jetzt ilog sie förmlich an das Sterbebett der
Mutter, deren Krankheit ihr so oft als Vorwand diente
zu ihrem frevelhaften Beginnen,
Vielleicht war endlich auch in dieser treulosen
Gattin und schlechten Tochter das Gewissen er-
wacht.
Käthe machte sich gleichwohl darüber weiter keine
Gedanken und wußte nur, daß die Herrin sie be-
auftragte, wieder mit deren Geliebten zu verhandeln,
den sie aus tieister Seele haßte. Dennoch mußte sie
gehen, um den Befehl auszuführen, sonst setzte sie
sich dem Zorn der Herrin aus.

Als die bestimmte Stunde schlug, warf Käthe sich


ein Tuch über den Kopf und eilte auf die Straße.
Vor der Haustür stand Johann und rauchte sein

263
Pieifchen. Ohne sie zu begrüßen, verfolgte er nur
aufmerksam ihre Schritte und eilte ihr nach, sobald
sie sich etwas entfernt hatte. Unheimlich funkelten
seine Augen und durch die zusammengepreBten
Zähne zischte er nur die Worte: „Verdammtes
Frauenzimmer!“
Schneli hatte Käthe die Strecke Weges zurück-
gelegt, die sie von der Stelle trennte, wo der Ge-
liebte ihre Herrin zu erwarten pflegte. Schon sah
sie ihn dort stehen, wie gewöhnlich mit der brennen-
den Zigarre.
Hastig näherte sie sich ihm, um ihm mitzuteilen,
weshalb Frau Julia heute nicht kommen könne.
Diesmal fügte sie jedoch nicht hinzu: „Die Herrin
läßt sich entschuldigen.“ Diese Höflichkeit hielt sie
nach näherer Überlegung für vollständig überflüssig.
Er jedoch blickte sie mit demselben Wohlgefallen
an und wiederholte sein Ansinnen mit der ganzen
Unverschämtheit eines auf diesem Gebiete längst
bewanderten Studenten.
Schweigend wandte Käthe sich ab, um ungesäumt
heimzukehren, als sie plötzlich — Johann mitten auf
der Straße stehen sah.
Ohne die Worte des Studenten zu verstehen, hatte
er dort alles mit angesehen. Aha! Jetzt wußte er,
weshalb sie ihn verschmähe, den armen Portier! Ein
„Zylinder“ wartet auf sie ... zu dem läuft sie
abends — o, diese „Jesuitin!“ und mit ihm spielt sie
nur Komödie. Jetzt wußte er, woran er war mit
dieser Heuchlerin!

264
Käthe aber eilte an ihm vorüber, um so schnell
wie möglich nach Hause zu kommen. Schon war
es dunkle Nacht und nur die Droschkenlaternen
warfen noch fahle Lichtstreifen auf die unheimlichen
Flammen in Johanns Augen und sein wutverzerrtes
Gesicht.
Als Käthe dise bemerkte, fürchtete sie sich vor
einem Auftritt und wünschte sehnlichst, diesem
Sturme vorzubeugen. Unmöglich aber konnte sie
doch Johann sagen, sie habe mit dem Geliebten ihrer
Herrin verhandelt. Wußte sie doch, das wäre kein
Spaß, wenn er dies weiter erzählte. Also lief sie
schnell weiter nach der Richtung ihrer Wohnung.
Auf Schritt und Tritt aber folgte ihr Johann mit
geballten Fäusten und fast blaurotem Gesicht.
Als sie die Haustür erreichten, blieb Käthe plötz-
lich stehen ...
Obgleich vom Regen ihr Tuch schon triefte —
die einzige Hülle selbst bei größter Kälte — beachtete
sie dies gar nicht, sondern flüsterte nur, zitternd
und verlegen, um sich einigermaßen zu rechtfertigen:
„Ach, Herr Johann“, brach aber sofort wieder ab,
da er sie plötzlich am Arm packte und ohne Rück-
sicht auf die Vorübergehenden wütend rief:
„Ha, du Jesuitin! Du Otterngeziicht! Du Pha-
risäerin! Also nachts treibst du dich herum mit
‚Zylindern‘ und mich hältst du zum Narren! Dich
will ich lehren, den Leuten Sand in die Augen
streuen!“

265
Fast erstickte er vor Wut und so zu Kopie stieg
ihm das Blut, daB die Augen ihm purpurrot unter-
liefen. Außer sich, wie ein Rasender, schlug er auf
sie los, bis sie ächzend zusammenbrach. Dann
stürzte er durch die Haustür in sein Stübchen, um
sich dort einzuschließen, als fürchte er sich selbst
vor seinen Wutausbrüchen.
Käthe aber lag noch immer vor der Haustür, halb
betäubt von den Faustschlägen, die die rechte Seite
ihres Kopfes trafen.
Erst als einige Vorübergehende vor der so schwer
Mißhandelten stehen blieben, der das Tuch von den
Schultern herabgefallen war und das zerzauste Haar
den Nacken umwallte, kam sie allmählich wieder
zur Besinnung und taumelte, sich den Kopf haltend,
durch die Haustür.
Geschlagen hatte er sie, sogar mißhandelt! Braun
und blau mußte sie morgen aussehen. Trotzdem
grollte sie ihm nicht. Denn wenn ein Bursch sein
Mädchen schlägt, ist er in seinem Rechte.
Das ist einmal so Bestimmung und keine Polizei
ist befugt, sich in die Händel solch eines Liebespaares
einzumischen.
Übrigens handelte es sich ihr nicht um die blauen
Flecke, sondern nur das schmerzte sie hauptsächlich,
daß Johann eine so schlechte Meinung von ihr hatte
und sie des Verkehrs mit jenem ihr so widerwärtigen
Menschen beschuldigte.
Mein Gott! Was mußte sie doch alles erdulden
um ihrer Herrin willen! Hätte diese nicht sie zu

266
ihrem Geliebten geschickt, so hätte auch Johann
keinen Anlaß zur Eifersucht gehabt! War esihre
Schuld, daß sie die Befehle der Herrin ausführen
mußte?
Und Johann auizuklären über die Sachlage war
ihr rein unmöglich, zumal da er sie so plötzlich über-
fiel, daB sie gar nicht zu Worte kommen konnte,
Dann lief er davon und schloß sich ein, und sie
fürchtete sich, bei ihm anzuklopfen.
Zermartert also, tief seufzend und mit geschwol-
lenem Gesichte, stieg sie langsam die Treppe hinauf,
Was hatte sie nur verschuldet, daß Gott sie so hart
bestrafte! In der Küche angelangt, machte sie sofort
die Lauge zurecht, die sie zum Scheuern brauchte.
Da es Sonnabend war, harrte ihrer eine Menge
Arbeit.
Der Kopfschmerz aber setzte ihr immer ärger zu,
und an den Schläfen klopiten ihr alle Adern. Kalte
Waschungen und Umschläge brachten ihr keine
Linderung, sondern vermehrten nur noch den bren-
nenden Schmerz.
Zwei Stunden schon war sie beschäftigt mit dem
Säubern der täglich gereinigten und immer wieder
beschmutzten Küchengeräte.
Budowski hatte, wider seine Gewohnheit, sich noch
nicht schlafen gelegt, sondern wartete auf seine Frau
und lief ungeduldig in den Zimmern herum mit dem
Lichte in der Hand, dessen Stearin auf den Fußboden
und alle Möbel tropite.

267
Einige Mal kam er auch in die Küche, um Käthe
zur Arbeit anzutreiben, obgleich sie, schweißtriefend
und durchnäßt, einem schlecht genährten, aber trotz-
dem zu nächtlicher Arbeit angespannten Haustiere
glich. ,
Plötzlich erreichte Budowskis Ungeduld ihren
Höhepunkt. Nein! Denkt denn diese Julia heut gar
nicht an die Heimkehr? Will sie etwa dort über-
nachten?
Und mit fester Stimme befahl er Käthe, sofort
nach der Berliner Straße zu gehen und nicht ohne
Julia zurückzukehren.
Käthe trat der Angstschweiß auf die Stirn. Mein
Gott! Was sollte sie jetzt anfangen, da sie nicht
einmal wußte, wo die Mutter der Herrin wohnte?
Der Herr befahl’s und wird davon nicht abstehen.
Und die Magd muß gehorchen ...
Daher hüllte sie sich in das noch vom Regen
feuchte Tuch und eilte hinaus.
Auf der Treppe war es schon stockdunkel. Der
ganze Raum glich einem großen, schmutzigen, übel-
riechenden Brunnenkessel. Mutig aber wagte sie sich
hinab in das finstere Labyrinth.
Da die Haustür schon verschlossen war, mußte
sie Johann wecken,
Ach! Bei dem Gedanken schon überlief sie ein
Schauer. Wie konnte sie so etwas wagen, nach dem,
was zwischen ihnen vorgefallen war!
Aber auch zu dieser Demütigung mußte sie sich
entschließen. Der Herr befahl’s und sie mußte gehen.

268
Nach der Berliner Straße würde sie sich schon durch-
fragen und einmal in der Straße, sicher auch leicht
die Wohnung der alten Frau auffinden.
Zitternd und bebend klopite sie an die Fenster-
scheibe, durch die etwas Licht in des Hausmanns
Stübchen drang.
Ein Weilchen blieb dort alles still.
Daher klopite sie aufs neue ...
Jetzt erst erwachte Johann mit lautem Stöhnen
und Brummen.
Nachdem er eine Art von Drillichmantel über-
geworfen, nahm er den Hausschlüssel vom Nagel an
der Tür und trat zähneklappernd, nur halb bekleidet
und noch warm von Schlafe, hinaus in die naßkalte
Luft, ohne zuvor ein Licht anzuzünden.
Da die Haustür noch ganz im Dunkeln lag,
schmiegte sich Käthe an die Wand, um von Johann
nicht erkannt zu werden und auf diese Weise von
neuen Faustschlägen und Schmähungen verschont zu
bleiben.
In dieser Berechnung aber täuschte sie sich. Schon
beim Öffnen der Haustür erkannte Johann sie am
Wuchse und aufs neue entbrannte in ihm die
ganze Wut.
Wo will sie schon wieder hin so mitten in der
Nacht? Gewiß zu dem „Zylinder“, mit dem sie abends
auf der Straße plauderte. Hat sie noch nicht genug
an diesem Stelldichein? Will sie auch nachts sich
hinausschleichen zum Liebsten? Und er selbst soll
ihr die Haustür Öffnen, um ihr dies zu ermöglichen?

269
Und vor derselben Tür hatte sie ihm versichert, sie
wünsche nur zu heiraten, wie es einem ehrlichen
Mädchen zukomme!
Er aber war töricht genug, ihr zu glauben und
behandelte sie, wie eine, die noch etwas zu ver-
lieren hat!
Und mit roher Hand packte er sie am Arm und
stieß sie zur Tür hinaus.
„Meinetwegen brich dir das Genick!“ zischte er
mit vom Zorn halberstickter Stimme und warf die
mit Eisen beschlagene Tür ins Schloß, daß alles
krachte.
Käthe fiel fast mit dem Gesicht auf das schlüpirige
Pflaster, auf welches noch immer der Regen mit
dumpfen Rauschen herabströmte.
Unwillkürlich riß sie das Tuch vom Kopie, um die
glühenden Schläfen etwas zu kühlen an dem kalten
Naß, welches ihr Gesicht auf der dunklen Straße
förmlich peitschte.
Bis an die Knöchel im Wasser watend, schritt sie
weiter.
Hier und da brannten noch die Gaslichter mit
matten Scheine,
Rauschend überschwemmten die Rinnsteine mit
ihrem Schmutzwasser die Straßen im Vereine mit
dem Inhalte der Dachrinnen, der sich mit eintönigem
Schall, wie ferner Trommelwirbel, unaufhörlich er-
goß.
Blindlings eilte Käthe immer vorwärts, durchnäßt
bis auf die Knochen und zitternd vor physischem und

270
moralischem Schmerze, immer noch das geschwol-
lene Gesicht dem kalten Regen schutzlos preisgebend.
Die menschenleeren Straßen durchrollte nur noch
ab und zu eine Droschke, die das Trottoir mit
StraBenschmutz bewarf. Oder ein verspäteter
Kneipengast eilte vorüber, der sich vergeblich be-
mühte, sich mit dem Schirme vor dieser Sintflut zu
schützen.
Käthe wandte sich nach rechts, ohne zu wissen,
wohin die Straße führe.
Fast verlor sie die Besinnung. Während ihr die
Haut förmlich glühte, war ihr im Innern so eisig
kalt, daß ihr die Zähne klapperten, wie im Fieberfrost.
Mit den ziegelroten Händen wischte sie sich das
Wasser vom Gesicht. Kaum trug sie noch die Last
der nassen Kleider, und das Tuch auf den Schultern
wurde ihr schon bleiernschwer.
Trotzdem eilte sie immer weiter, wie ein ver-
folgtes Wild.
Nur das wußte sie, daß sie nicht nach Hause.
zurückkehren durfte.
An der Haustür mußte sie Johann begegnen und
oben erwartete sie der Herr, der ihr verbot, ohne
die Herrin heimzukehren.
Wo aber sollte sie diese suchen?
Um das Übel voll zu machen, konnte sie sich nicht
einmal erinnern, wie die Mutter hieß. Selbst wenn
sie sich noch fortschleppte bis zur Berliner Straße,
an welcher Tür sollte sie danach fragen.

271
Noch immer durchirrte sie ihr vóllig unbekannte
Straßen und lauschte ängstlich dem Schlage der
Turmuhren, dessen düsterer Schall nur träge die
schwere Herbstluft durchdrang.
Plötzlich blieb sie betroffen stehen.
War es doch einem Mädchen nicht erlaubt, so spät
in der Nacht allein auf den Straßen herumzuirren.
Solche Landstreicherinnen verhaftet der Nacht-
wächter und führt sie zur Polizei. Nein! Alles, nur
das nicht! Lieber wollte sie Johanns Faustschläge
ertragen und das Schelten des Herrn!
Und, obgleich ihr schon die Kniee schlotterten vor
Schwäche, kehrte sie um, nachdem sie noch einige
Straßen durchirrt, und fast instinktiv erriet sie die
Richtung, nach der die rasende Angst sie hinzog.
Schon sah sie im Dunkel sich verfolgt, wie von
Gespenstern, von den Schutzleuten, deren Helme und
Waffen unheimlich drohend blinkten vor ihrer auf-
geregten Phantasie.
Aber schon stand sie auch vor ihrer Haustür und
zog krampfhaft an der Glocke.
Als Johann die Tür öffnete, prallte er betroffen
zurück vor der durchnäßten, unförmlichen Masse,
die so hastig hereinstürzte.
Bald jedoch erkannte er Käthe und wollte, nach-
dem er die Haustür zugeschlagen, sich in sein
Stübchen zurückziehen.
Auf das dumpfe Geräusch eines vorüberschlüpfen-
den Körpers aber wandte er sich um und sah an der
Wand etwas Schwarzes, seltsam Gekrümmtes liegen.

HL
Als er sich näherte und die Hand danach aus-
streckte, stieß er auf das nasse Tuch, welches Käthes
Schultern bedeckte. Und als'er daran zog, stieß er
auf Widerstand.
Käthe war auf die Knie gesunken, wie gelähmt
von physischer und moralischer Qual.
Als Johann sich über sie herabneigte, fühlte sie
den heißen Atem, besaß aber nicht mehr die Kraft,
sich ihm zu entwinden.
Ihm aber war es, als banne ihn etwas hier fest
und gebiete ihm, sich der noch vor kurzem von ihm
Gemißhandelten zu nähern: Die Sinne gewannen
plötzlich die Oberhand über die Eifersucht und den
Haß gegen die Ungetrete.
Obgleich er sie wegen ihres nächtlichen Herum-
treibens mit anderen Männern haßte, hielt er sie
krampfhaft fest, um sie nicht wieder aus seinen
Armen zu lassen.
Jetzt wußte und erkannte sie, daß die Stunde ihres
— Falles da war...
Und gleichwohl fehlte ihr schon die Kraft, sich zu
wehren ...
Als er sie aber plötzlich in seine Arme schloß,
wand sie sich noch einmal hin und her, wie ein tödlich
verwundetes Wild, während er, um sie zu beruhigen,
ihr nur die Worte, die wie Schlangenzischen im
dunklen Raume klangen, zuflüsterte: „Sei doch nicht
so dumm; ich will dich ja — heiraten!“

18 Kathe 273
me Mutter war wirklich in jener Nacht ge-
storben und — hatte kein Vermögen hinterlassen.
Dies brachte Budowski fast zur Verzweiflung, und
immer mehr quälte er seine Gattin, die, durch den
Tod der Mutter nur vorübergehend aus ihrem Halb-
schlummer gerissen, jetzt ihre Trauer mit der rück-
sichtlosen Gleichgültigkeit einer blutarmen Blondine
trug. ”
Getiuscht in seinen Hoffnungen, verwandte
Budowski jetzt noch größere Aufmerksamkeit auf
die häuslichen Ausgaben und seine Knauserei über-
schritt alle Grenzen. Daher konnte Käthe auch nicht
mehr ihre kleinen Diebstähle fortsetzen, da er meist
auf dem Wege zum Bureau alle täglichen Einkäufe
selbst besorgte und sich von Käthe nur mit dem
Korbe begleiten und das Gekaufte heimtragen ließ.
Julia aber lag, nachdem sie all ihrer billigen
Parfüms beraubt war, tagelang seufzend im Bette,
fast immer mit geschlossenen Augen, wie ein halb
lebloses Wesen. Den Geliebten hatte sie seit
Wochen nicht wiedergesehen, da ihr nach dem Tode
der Mutter jeder Vorwand fehlte, abends auszu-
gehen. Und ohne Räucherkerzchen und Geliebten
vegetierte sie vollends nur noch dahin ...
Käthe hingegen empfand nach ihrem Falle ein
seltsames Gefühl von Angst und Scham. Und dieses
Gefühl nahm von Tag zu Tag zu seit jener Stunde,
in der Johann sie an sich riß, ohne mit ihr vor den
Altar zu treten, indem er ihr nur zuflüsterte: „Ich
will dich ja heiraten!“

274
Diese für sie so bedeutsamen Worte wiederholte
sie sich immer wieder in der entsetzlichen Unruhe,
die ihre Seele zerriß.
Gewiß, jetzt mußte er sie heiraten, wollte er sie
nicht für ihr ganzes Leben unglücklich machen!
Er schien doch ein braver Mann zu sein, und sie
hatte ihm versichert, daß jener „Zylinder“ niemals
ihr Liebster war.
Allerdings hatte sie ihm nicht gesagt, daß die
Herrin sie zu ihm geschickt. Dies konnte er sich
aber schon selber denken.
Gewiß glaubte er ihr, denn er hatte selbst zu-
gegeben, daß Mary ihm auf dem Hofe von ihrem
Stelldichein mit „Einem aus der Stadt“ erzählt habe.
Zwar wollte er es dem Leichtfuß nicht glauben.
Nachdem er aber sich selbst davon überzeugte,
konnte Käthe es ihm nicht verargen, daß er ihr den
Kopf ein wenig warm gemacht. Jetzt mochte es
schon so sein, wie sie sagte; fortan aber verbat er
sich solche nächtliche Ausflüge.
Dies versprach sie ihm auch, aber obgleich sie
ihn damit besänftigte, verließ sie selbst die Unruhe
keinen Augenblick. Oft war ihr zumute, als sei sie
ein ganz anderes Wesen, als sei sie eine ihrer guten
Bekannten, die gestorben und bei deren Begräbnisse
sie war.
Die Heiligenbilder konnte sie gar nicht mehr an-
sehen. So oft sie zum Beten niederkniete, bekreuzte
sie sich und stand schleunigst wieder auf, als ver-

18* 275
folge sie jemand auf Schritt und Tritt und raune ihr
etwas in das Ohr.
Im Dunklen fürchtete sie sich und wenn die
Lampe erlosch, verbarg sie den Kopf unter das
Kissen. Entschieden ging etwas Besonderes mit ihr
vor. Dieser Zustand quälte sie über die Maßen.
Dazu kam noch, daß Johann seit jener denk-
würdigen Nacht sich dermaßen veränderte, daß er
kaum wieder zu erkennen war.
Mit der Miene eines Siegers nahm er wieder den
früheren höhnischen Ton an. Und dies schüchterte
sie vollends ein.
Ihr war, als ob Johann sie geringschätze und ihr
‘dadurch alles zu verstehen gebe, was zwischen
ihnen vorgefallen war. Und darin täuschte sie sich
keineswegs.
Nach Mannesart mißbrauchte Johann seine Über-
legenheit und den über sie errungenen Sieg.
Stets erfreute er sich an ihrem Anblick und jede
Annäherung an sie entflammte seine Leidenschaft.
Nur zu bald aber erlosch in ihm jene Glut, die er
sonst gegenüber jeder ihm Widerstand Leistenden
empfand.
Verwöhnt durch seine Erfolge bei anderen, fand
er anfangs einen seltenen Reiz in Käthes Weigerung,
und dies vor allem fesselte ihn. Sobald er jedoch
das ersehnte Ziel erreicht hatte, sah er in Käthe nur
die gewöhnliche Gefallene, ohne zu bedenken, daß
er selbst sie zu Falle gebracht.

276
Als sie zerschlagen und zermartert sich zu seinen
Füßen wand, riß er sie mit roher Gewalt in seine
Arme mit dem Triumphe des sich seines physischen
und moralischen Ubergewichtes bewußten Mannes.
Mit diesem Augenblicke sank sie in seinen Augen
herab auf jenes Niveau, in dem er seine gewohnten
Liebschaften sich auswahlte. Jetzt war für ihn Käthe
ganz dasselbe, was Mary oder jede andere seiner
früheren Geliebten gewesen.
Überdies wünschte er, sich mit seinem Siege zu
briisten. ,
Zu lange schon „ging“ er mit diesem „Mehlsack“,
als daß die ganze Dienerschaft im Hause dies nicht
bemerkt hätte. Mary ermangelte daher auch nicht,
von seiner ungewöhnlichen Liebschaft mit Bu-
dowskis „Küchendragoner“ überall zu sprechen.
Seine falsche Stellung zu Käthe erlaubte ihm
nicht, einen bestimmten Standpunkt gegenüber all
den Spötteleien einzunehmen, die sich in den dunklen
Winkeln des Hausflurs und der Treppe im Flüsterton
verbreiteten.
Seine unersättliche Leidenschaft dämpfte in ihm
die Eitelkeit, welche die unaufhörlichen Sticheleien
über Käthes Äußeres und ärmliche Kleidung oft
empfindlich verletzten. Unter der geflickten Jacke
ahnte er die vollen, kernigen Glieder, die er in seine
Arme zu schließen sich sehnte. Als er sie jedoch be-
rührte und ihre kühle, glatte Haut fühlte, schämte er
sich beim Gedanken an die geflickte Jacke einer so
ärmlichen Liebsten.

277
Gleichwohl wollte er nicht, daß ihm jemand eine
Niederlage nachsage und deshalb bemühte er sich,
Käthes „Fall“ so laut wie möglich zu verkünden.
Lieber mochte er sich zu deren Armut bekennen,
als seinen Ruhm als Sieger geschmälert sehen.
Übrigens, weshalb sträubte sie sich so lange, wenn
es früher oder später doch so enden sollte! ...
Sie dagegen hing seit ihrem Falle mit geradezu
blinder, fast tierischer Liebe an ihm und sah in ihm
den Herrn und Meister aller Geschöpfe, insbesondere
auch ihrer selbst.
Ihre Zukunft und ihr ganzes Leben warf sie ihm
zu Füßen, nachdem sie ihr einziges Gut auf Erden,
ihre Ehre, an ihn verloren.
Welch großer Unterschied war in den Gefühlen
dieser beiden! Während sie erst zu lieben begann,
hörte er damit auf,. wenigstens schien es so.
An Erfüllung seines Versprechens, welches er so
unvorsichtig in der Aufwallung ihr gegeben, dachte
er nicht im entferntesten.
Zwar erinnerte er sich, etwas Derartiges gesagt
zu haben. Dies hatte er aber schon öfters getan,
ohne gleich heiraten zu müssen. Wie töricht, so
etwas zu glauben!
Übrigens, wenn die Männer alle solche Verpflich-
tungen erfüllen wollten, hätten sie wenigstens zehn
Dutzend Weiber! ...
Oho! Johann wußte schon sich herauszuwinden.
Die Mütze schief auf dem Ohr, wiederholte er nur

278
seine Lieblingsredensart: „Das Narrenschiff ist
untergegangen!“
Zu Käthe aber sagte er dies nicht. O nein, dazu
war er zu „politisch“.
Obgleich sie keine Furie war, konnte sie ihm doch
nur zu leicht etwas anhängen. Und dies wünschte er
durchaus nicht.
Im Gegenteil, er lächelte ihr zu, wenn sie über den
Hof ging und folgte ihr auf den Boden oder in den
Keller ...
Sie aber zitterte bei jeder Annäherung und gab
sich nur schüchtern seinen Liebkosungen hin.
In ihrer großen, kräftigen Gestalt war die Ängst-
lichkeit eines kleinen Mädchens, und dies machte sie
umso anziehender.
Nicht aber für Johann, der in seiner Verderbtheit
als Gassenheld und in seiner rohen Natur Käthes
Erröten geradezu lächerlich fand.
Was, zum Henker, nimmt diese „Jesuitin“ jetzt
noch für Mienen an, wo sie doch alle Ziererei ab-
legen sollte, wie einen unnötigen Lappen!
Vordem wäre dies noch angegangen. Jetzt aber
hat es doch gar keinen Zweck mehr.

Und allmählich begann sich Johann nach neuer


Beute umzusehen, indem er jeder Magd frech in die
Augen blickte, die mit den Eimern nach Wasser ging
oder auf den Markt mit dem noch leeren Korbe.

279
. Die beständige Sucht nach Neuem, die im Blute
jedes Mannes schlummert, erlaubte ihm nicht, sich
längere Zeit mit einer Geliebten zu begnügen.
Übrigens, was sollte ihn binden?
Etwa das Gewissen? ... Gegen diesen Wurm hilft
am besten ein Kognak oder eine ähnliche Herz-
stärkung.
Weshalb lief sie ihm übrigens selber in die Finger.
War es seine Schuld, daß sie so dumm war? Und
endlich, was ist ihr denn so Schlimmes geschehen?
Gestorben ist sie davon nicht. Bah! Wenn sie alle
daran stürben, gäb es bald keine Weiber mehr auf
der Welt! ...
Jetzt wußte schon die ganze Dienerschaft im
Hause von Käthes Fall.
Höchst beredt verdrehte die Köchin der Frau
Gräfin die Augen und raffte verächtlich ihr Kleid
auf, wenn sie an Käthe auf der Treppe vorübergehen
mußte.
Die Zofe, eine bleiche Blondine mit blauen
Rändern unter den Augen von all den schlaflosen
Nächten, hatte stets eine höhnische Bemerkung auf
den zusammengepreßten Lippen, so oft Käthes hohe
Gestalt ihr auf dem Hofe begegnete.
Die Tapezierersfrau, deren Mägde und die
Hökerin, alle diese Weiber, noch voller Er-
innerungen an allerlei bedenkliche Liebschaften,
überhäuften sie mit einem Hagel von Schmähworten. .
Sie aber ging scheinbar ruhig vorüber, nur ab und
zu unter dem Drucke dieser Verachtung erbleichend,

280
die sie nicht mehr zuriickzuweisen berechtigt war,
die vielmehr, wie sie fiihlte, ihr zukam.
Seit ihrem Falle gebiihrten ihr all jene Schimpi-
worte, die früher ihr ganzes Wesen erschüttert
hätten und gegen die sich zu wehren sie jetzt weder
das Recht noch die Kraft mehr besaß.
Wäre weniger Treu und Redlichkeit in ihrer Seele
gewesen, hätte sie dreist alle rohen Verdächtigungen
ihrer Gegnerinnen bestreiten können.
Oft schon wollte sie sich umwenden mit dem
lauten Rufe: „Das ist nicht wahr!“ Immer aber ver-
ließen sie die Kräfte und gesenkten Hauptes ging sie
langsam vorüber und trug geduldig das verdiente
Leid.
Jetzt fühlte sie sich totunglücklich und wagte nicht
einmal, Johann zu sagen, welchen Verdruß ihr all
die Spöttereien und Schmähungen bereiteten, die sie
mit anhören mußte.
Vielleicht hätte er sie gar noch ausgelacht! Nein!
Lieber wollte sie diese Demütigungen schweigend
ertragen, zumal da sie dieselben selbst verschuldet.
Am meisten hatte sie von Mary auszustehen. Von
Grund aus schon verderbt in der Atmosphäre ihrer
Eintagsliebschaften, hatte dies Frauenzimmer nur zu
bald den Fall ihrer Nebenbuhlerin gemerkt.
Also auch diese Dummstolze mußte dies schließ-
lich erleben! Jetzt wird sie die Nase nicht mehr so
hoch tragen und, wie ein Pfau sich aufblähend, vor
anderen sich mit ihrer Ehrbarkeit brüsten. Jetzt ist
sie nichts anderes, wie ich selbst, die Johann nur

281
deshalb so beschimpfte und zurücksetzte, weil ich
es wagte, dieser Käthe Übles nachzureden.
O, längst wußt ich, wie dies enden werde!
Diese Stolzen fallen immer am tiefsten!
Heiraten wollte sie? Jetzt hat sies ohne Trauung!
Ich wenigstens wußte immer, wen ich vor mir hatte.
Mein erster Schatz war ein flotter Student und kein
Hausknecht.
Später freilich ging es, wie gewöhnlich, auch mit
mir etwas bergab. Aber wenigstens der Anfang war
höchst anständig. Käthe dagegen fängt mit dem
Hausknecht an. Natürlich: gleich und gleich gesellt
sich gern! |

Inzwischen war es Winter geworden, hart und


kalt, und überall lag Eis und Schnee.
Für Käthe war dieser Winter ungemein be-
schwerlich.
Außer ihrer wollenen Jacke besaß sie zur Um-
hüllung nur noch ein altes schwarzes Kamelott-
tuch, welches sie jedoch nicht einmal im Herbste
genügend vor Kälte schiitzte.
Als sie den neuen Dienst antrat, hatte sie noch ein
neues, wärmeres Tuch. Während Budowskis Krank-
heit aber hatte Johann sie ja fast aliabendlich besucht
und sie mußte ihn doch anständig aufnehmen. Und
obgleich sie so manchen „Marktgroschen“ eriibrigte,
blieb doch noch dies und jenes einzukaufen. Denn
mit dem Essen durfte sie doch nicht knausern.

282
Daher wanderte das Tuch zum Althändler für
einen lumpigen Gulden. Und dieser reichte kaum
hin zu zwei Mahlzeiten, nach denen Johann sich be-
haglich den Magen streichelte.
Mit Freudentränen im Auge bemerkte sie seine
Befriedigung, ohne an die traurigen Folgen ihrer
Gastfreundschaft zu denken.
Auch jetzt, obgleich sie zitternd vor Kälte die er-
frorenen Hände unter dem abgetragenen Tuche
barg, bereute sie nicht den Verlust der wärmeren
Hülle. Dies mußte doch sein, sonst hätte sie Johann
nichts auf den Teller legen können! Überdies war
sie an Pelzwerk und Wattierung gar nicht gewöhnt.
Gar oft war sie barfuß in die Fabrik gelaufen, im
Perkaljäckchen, obne die Kälte zu spüren.
Nur fühlte sie seit einigen Wochen sich etwas un-
päßlich, matt und abgespannt.
Wahrscheinlich, weil sie nur wenig essen konnte
und schon der Geruch von Speisen ihr zuwider war.
Ihre Hauptnahrung bestand in mit Essig getränktem
Brot. Fleisch mochte sie gar nicht sehen. Daher
konnte sie nicht begreifen, was mit ihr vorging.
Früher war sie beständig hungrig. Heut schnürte
ihr schon der Gedanke an Essen fast die Kehle zu
und das Wasser lief ihr aus dem Munde. Alle
Glieder waren ihr so schwer, als wären sie von Blei.
Tagelang könnte sie schlafen und keine Arbeit mehr
ging ihr von der Hand.
Nur mit Mühe konnte sie noch Wasser holen, und
scheuern fast nur mit Tränen in den Augen.

283
Dabei waren ihr Hände und Füße erfroren. Durch
die zerrissenen Schuhe drang aller Schnee ein und
haftete an der blauroten Haut. Die Hände waren ge-
schwollen wie Kissen und glänzten, wie mit Öl ein-
gerieben. Kehrte sie heim aus der Stadt, so mußte
sie erst lange die Finger reiben, bevor sie nur fühlte,
daß sie ihr noch angehörten. Gegen Abend brannten
ihr Hände und Füße wie Feuer und das Plätteisen
konnte sie oft kaum noch festhalten.
Unaufhörlich beschäftigt bei Frost und Hitze, mit
geschwollenen Händen und Füßen und mit ge-
krümmtem Rücken bot Käthe den echten Typus des
sogenannten „Mädchen für alles“, d. h. einer schlecht
bezahlten und genährten, aber wie ein Stück Vieh
zur Arbeit angespornten Magd.
Früher konnte sie wenigstens mit Johann unten
im Hause oder auf dem Hofe öfters ein wenig
plaudern. Jetzt aber mußte sie sich auch diese Zer-
streuung versagen. Denn Johann wurde immer
mürrischer und sah sie manchmal wie mit scheelen
Blicken und boshaftem Lächeln an.
Einigemal sah sie ihn sogar mit Mary plaudern.
Trotz ihrer angeborenen Sanitmut ballte sie da die
Fäuste und wollte auf die Gegnerin losgehen,
Beizeiten aber besann sie sich, als lähme die
Scham ihr die Hände. Und voll Kummer und Eifer-
sucht ging sie ihrer Wege.
Also hatte Johann sich schon wieder versöhnt mit
dieser Mary, die er damals so mit Schmähworten
überhäufte! O, sie wußte es noch recht gut, wie er

284
dort auf dem Boden sie so wiitend gegen Marys
Sticheleien verteidigt hatte.
Jetzt also plauderte er wieder mit dieser in allen
Winkeln und lachte dabei, als sei zwischen ihnen gar
nichts vorgefallen. Das war recht schlecht von ihm.
Denn ein Bursch muß treu zu seinem Mädchen halten.
Bei nächster Gelegenheit machte sie ihn schüchtern
auf das Ungehörige seines Verhaltens aufmerksam.
Er jedoch versuchte nicht einmal, sich zu recht-
fertigen, sondern erwiderte keck, indem er seine rot-
wollenen Handschuhe anzog: „Oho! Was fällt dir
ein? Darf ich etwa ohne deine gütige Genehmigung
mit keiner anderen sprechen?“
Und dabei griff er mit trotziger Miene zum Besen,
um den Hausflur zu fegen, und fuchtelte damit herum
nach rechts und links, sodaß sie ihm ausweichen und
auf den Hof gehen mußte.
Noch heute wollte sie ihn erinnern an die Heirat.
Jetzt aber wagte sie es nicht mehr, so hatte er sie
eingeschüchtert und aus dem Felde geschlagen.
Obgleich er ihr fest versprochen, sie zu heiraten,
erwähnte er dies jetzt gar nicht mehr.
Weshalb nur? ...
Ein wahres Chaos verwirrte ihren Sinn ...
Sollte er es vergessen haben? ...
So etwas vergißt man doch nicht so leicht! ... Mit
förmlicher Todesangst preßte sie die Hände auf den
Busen.
Seit ihrem Falle drückte wie ein Alb sie der Ge-
danke, Johann könnte sein Versprechen nicht halten.

285
Noch war sie sich darüber nicht ganz klar; ' sie
fiirchtete sich aber schon vor diesem Gedanken, wie
vor einem Vampyr, der ihr das Herz aus der Brust
reiBen solle.
So stand sie auf dem Hofe traurig und frierend.
Denn der Schnee drang ihr durch die schadhaften
Schuhe. Ihr Gesicht trug die Spuren schlafloser
Nächte und höchster Abspannung. Die dunkel-
umränderten Augen zeigten den Ausdruck tiefen
Leids und banger Sehnsucht. Die Wangen waren
etwas eingefallen und die Gesichtsfarbe hatte einen
ungesunden, gelblichen Anflug und Mund und Nase
hoben sich schärfer ab,
Solch eine Veränderung war eingetreten bei ihr,
die vorher von Gesundheit strotzte. Verschwunden
waren die runden Linien des Kinns und darin das
Grübchen. Um so voller aber erschien der Busen,
der fast das abgetragene Mieder sprengte.
Nur der Wuchs blieb derselbe, wenn auch die
prächtigen Schultern etwas gebeugt und die runden
Hüften noch breiter wurden.
Unwillkürlich drehte sie sich plötzlich um, als fühle
sie Johann. Und wirklich, dort stand er an der Haus-
tür, plauderte aber mit irgend einem Mädchen.
Dies war jedoch weder Mary, noch irgend eine
andere aus dem Hause.
Bald erkannte sie diesen Kopf und diesen Rücken,
der so steif wie ein Brett und mit dem hellen Perkal-
jäckchen bekleidet war, welches sich deutlich vom
dunklen Hausflur abhob.

286
Ja, sie irrte sich nicht: das war —- Rosa, die sie
besuchen kam, vielleicht, um ihr die ihr zugefiigte
Kränkung abzubitten.
Und alles vergessend, eilte Käthe auf die Freundin
zu, die offenbar bei Johann nähere Erkundigungen
über sie einzog.
Ein Weilchen blickten sie sich an, ohne ein Wort
zu sagen ...
Dann streckte Käthe zuerst ihr die Hand entgegen
und begrüßte die Freundin, nicht ohne sich über
deren Veränderung zu wundern: Rosas Gesicht trug
so deutlich das Gepräge von Not und Elend, daß
Käthe, wie mitgenommen sie auch war, ihr gegen-
über wie eine blühende Rose erschien.
Rosas ohnehin schon hagere Gestalt war noch
mehr abgemagert, soweit dies überhaupt möglich.
Nur Schultern und Ellbogen ragten im spitzen
Winkel unter der abgetragenen Perkaljacke hervor.
An dem dürren Halse sah man Spuren von langen
Fingernägeln, die offenbar erst unlängst wie Habichts-
kralien dort die Haut zerkratzt hatten und sogar an
einer Stelle bis in das Fleisch eingedrungen waren,
wie der BiB eines tollen Hundes. Noch blutete etwas
diese frische Wunde. Unter dem linken Auge war
die Wange grün und gelb gefärbt und erheblich ge-
schwollen.
Rosa bedeckte sie mit der schmutzigen Hand und
bemiihte sich, mit den bleichen Lippen Kathe zu-
zulicheln,

287
„Ich habe mit dir zu reden“, sagte sie endlich mit
vor Frósteln und innerer Aufregung zitternder
Stimme. „Könnten wir nicht in deine Küche gehen?“
Dabei sah sie immer ängstlich nach der Haustür,
als fürchte sie irgend eine Verfolgung, vielleicht von
derselben Hand, deren Finger ihr die gelbliche Haut
am Halse zerkratzt.
Als Käthe schwieg, weil der Herr nicht erlaubte,
daß irgend jemand sie in der Küche besuche, blickte
Rosa sie flehend an und zitterte dabei vor Frost in
ihrem dünnen Jäckchen.
Ihr Rock war unten ganz durchnäßt und auf beiden
Seiten mit Straßenschmutz befleckt, Vorn zerfetzt,
entblößte er die zerrissenen Schuhe, die mit Bind-
faden zugebunden und viel zu kurz waren, um die
nackten vom Frost geröteten Füße zu bedecken.
Tiefes Mitleid empfand Käthe mit der Freundin.
Wußte sie doch selbst, was frieren heißt. Denn ob-
gleich etwas wärmer gekleidet, zitterte auch sie vor
Frost. Schnell entschlossen ergriff sie Rosas Hand
und erwiderte: „Komm! Gehen wir hinauf!“
Plötzlich schlüpfte aus einem dunklen Winkel des
Hausflurs eine Männergestalt: Johann, der während
der Begrüßung der beiden Freundinnen sich zurück-
gezogen, aus seinem Winkel aber Rosa scharf beob-
achtet hatte.
Obgleich sie ihm wie eine zerlumpte Land-
streicherin erschien, erriet er mit tierischem Instinkt
dennoch in ihr das leidenschaftliche Weib voller un-
ersättlicher Begierden.

288
In diesem schwächlich gebauten, schlecht ge-
nährten Körper mit den spitzen Schultern lag eine
Männer anziehende Kraft, wie ein Magnet, der sich
in den Falten des zerfetzten Kleides und des unge-
kämmten Haares verbarg.
Mit Kennerblick also näherte Johann sich Rosa
und fragte mit süßem Lächeln auf den Lippen:
„Fräulein, wollen Sie die Käthe besuchen? Gewiß
sind Sie ihre Freundin?“
Dabei steckte er die Hände in die Taschen und
blinzelte, sich hin und her wiegend, Rosa an. An-
fangs beachtete diese ihn kaum. Gewiß war er ein
stattlicher Mann. Sie aber hatte jetzt andere Dinge
im Kopfe und wünschte so schnell wie möglich bei
Käthe in der Küche zu sein. Daher wandte sie sich
hastig von ihm ab und bedeckte die geschwollene
Wange mit der Hand.
Johann jedoch gab so leicht nicht das Spiel ver-
loren.
„Fräulein“, rief er lachend, „hat jemand auf Ihr
Auge getreten, so weiß ich dagegen ein unfehlbares
Mittel in Gestalt eines Vanillen-Likörs. Das ist ein
starker Tropfen und trotzdem auch geeignet für
Damen“, fügte er galant, aber mit zweideutigem
Lächeln hinzu.
Als er aber sah, daß all sein Reden vergeblich war,
stieß er Käthe an, sie möge ihn dabei unterstützen:
„Lade sie doch ein“, flüsterte er ihr zu, „du Dumm-
kopf, zu einem Gläschen.“
Erstaunt blickte Rosa, als sie dies hörte, die

19 Käthe 289
Freundin an. Dieser RippenstoB und die Bezeichnung
„Dummkopf“ bewies schon eine nähere Bekannt-
schaft zwischen den beiden. Sollte Käthe schon so
weit gegangen und seine Liebste sein?
Neugierig sah sie Johann sich näher an, fand aber
nicht Zeit zu weiteren Beobachtungen, denn Käthe
zog sie schon mit sich fort: „Komm mit in meine
Küche und wärme dich!“
Dann eilten sie beide über den Hof und ver-
schwanden auf der dunklen Treppe.
Ein Weilchen noch blickte Johann nach der Stelle,
wo Rosa soeben vor ihm gestanden hatte: „Meinet-
wegen! Mir ist es ganz recht, daß sie meine Ein-
ladung nicht annahmen. Beide haben sie ja nicht
einmal warme Tücher. Und wenn ich schon eine
ausführe, möcht’ ich mir doch nicht die Augen aus
dem Kopfe schämen!“ ..
Nur erschien ihm die Unbekannte recht annehm-
bar, trotz ihres geschwollenen Auges und ihres zer-
fetzten Kleides. Den Satan mußte sie im Leibe haben.
denn ihn überlief es schon wie mit Ameisen, wenn
er nur an sie dachte.
Solche Weiber gibt es, wenn auch nicht alizu
häufig ... Sofort ziehen sie jeden an und das Blut
kommt in Wallung. Und sehen sie auch noch so
mager und elend aus, wer sich ihnen nähert, dem
wird es ganz seltsam zumute! ...
So verstanden sich diese beiden einander so ver-
wandten Naturen im Nu, die in unersättlicher Leiden-

290
schaft beständig nach Befriedigung der Sinne
lechzten ...
Und Johann bedurfte überdies immer neuer Ab-
wechslung in der Liebe, und dazu waren ja die
Weiber da. Jede war ihm gerade gut genug, nur nicht
auf lange!
Mit den Augen blinzelnd, schob er die Mütze schief
auf das linke Ohr und trat vor die Haustür, um dort
- mit Siegermiene jedes vorübergehende Mädchen zu
mustern und anzureden ...

In der Küche ließ Käthe die Freundin sich an den


Herd setzen, damit sie vor allem sich etwas erwärme.
Dann stellte sie anstatt des Kochtopfes mit den
Knochen, die das Fleisch zum Weißkohl vorstellen
sollten, die Kanne mit dem übrig gebliebenen kalten
Tee an das Feuer.
Sah sie doch, wie Rosa vor Frost die Kiefer
krampfhaft zusammenpreßte.
Wie neugierig sie auch war, zu erfahren, was die
Freundin in diesen Zustand von Elend und Ver-
lassenheit versetzen konnte, wagte sie dennoch nicht
danach zu fragen.
Erst nachdem sie, mit dem Rücken an den Herd
gelehnt, ein Weilchen tief aufgeatmet, kam Rosa all-
mählich unter dem Einfluß der behaglichen Küchen-
wärme wieder zu sich.

19* 291
Jetzt bedeckte sie nicht mehr das geschwollene
Auge und enthüllte, ohne sich irgendwie Zwang an-
zutun, vor Käthe ihr ganzes physisches Elend, wie
sie ihr vor einigen Monaten auch ihre moralische
Armut nicht verborgen hatte,
Als Käthe ihr ein Glas heißen Tee mit etwas Milch
und eine harte Brotrinde reichte, griff sie danach mit
solcher Gier, als habe sie tagelang nichts gegessen.
So heiß trank sie den Tee, daß sie sich fast Zunge
und Kehle verbrannte, und das Brot verschluckte
sie in ganzen Stücken, ohne erst zu kauen.
Nicht genug konnte Käthe sich über diese aus-
gehungerte und so weit heruntergekommene
Freundin wundern.
Mein Gott! Dachte sie doch, ein unglücklicheres
Wesen, als sie selbst, gebe es nicht auf der ganzen
Welt. Und jetzt überzeugte sie sich, daß es noch
weit größeres Elend gab.
War diese Bettlerin wirklich jene stolze Rosa, die
sie das letztemal im seidenen Kleide vor der mit den
Resten von allerlei leckeren Speisen bedeckten
Lade sah?
Wie damals jenen Überfluß, so konnte sie jetzt
sich die Ursache dieses so plötzlichen Elendes nicht
erklären.
Längst hatte sie die ihr zugefügte Kränkung ver-
gessen. Dazu genügte schon der Anblick der unglück-
lichen, ausgehungerten und zerlumpten Freundin.
Voller Mitleid nahm sie ihr Tuch ab, den einzigen
Schutz gegen die Kälte, um es auf Rosas spitzige

292
Schultern mit den sanften Worten zu werfen: „Das
wird dich wärmen!“
Rosa aber bedurfte dessen jetzt nicht mehr und
wünschte nur noch, sich auszusprechen.
Der heiße Tee hatte ihre Kehle aufgetaut und die
Worte strömten nur so über ihre Lippen, als sie,
um sich Linderung zu verschaffen, ihre Beichte be-
gann: „Weißt du, jener Schuft hat mich fortgejagt!“
„Fortgeiagt? Wer denn?“ fragte Käthe voll
naiven Erstaunens, da sie nicht begreifen konnte, wer
Rosa fortjagen sollte aus der eigenen Wohnung, wo-
für sie die Miete bezahlt und die ganze Einrichtung
beschafft hatte.
„Wer denn sonst“, erwiderte Rosa mit unge-
duldigem Achselzucken, „wer sonst, als dieser Land-
streicher und Straßenräuber, der Felix? Fort jagte
er mich und schlug mich braun und blau. Das
Schlagen wäre noch das Wenigste, aber die Wohnung
schloß er mir vor der Nase zu und läßt mich nicht
mehr herein!“
Käthe fiel beinahe um vor Erstaunen. Also soweit
ging die Frechheit dieses Menschen, daß er die Ge-
liebte trotz Schnee und Eis auf die Straße hinaus-
stieß!
Wie war dies zugegangen?
Danach brauchte sie jedoch nicht zu fragen, denn
Rosa ließ sich um eine nähere Schilderung ihres
ganzen Elends nicht erst lange bitten.
„Das ist ja ein Scheusal, aber kein Mensch!“ rief
sie und rieb den Rücken am warmen Herde. „Aus

293
einem Strolche macht ich ihn zum Herren und be-
kleidete ihn vom Kopf-bis zu den Füßen. Und dieser
Schuft, nicht genug, daß er tagelang auf der Bären-
haut lag und die Ritzen an der Decke zählte, richtete
er mich jetzt dermaßen zu, daß ich mich vor der
Welt nicht mehr sehen lassen kann und kaum wieder
in Ordnung komme. Aus dem Milchgarten trieb er
mich in das Kaffeehaus. Und da die Zeiten immer
schlechter wurden, beschwatzte er mich, meine
Papiere, weißt du, die von der Hypothekenbank,
umzusetzen. Also verkaufte ich sie nach und nach
‚und er tat so, als habe ich selber ein Bankgeschäft
und er könne jetzt erst recht den großen Herrn
spielen. Da, nimm’s und stopf dir das Maul, dacht’
ich. Und er nahm’s und kaufte sich einen Anzug
nach dem andern. Für mich aber reichte es kaum
noch zu dem seidenen Kleide, in dem du mich damals
sahst. Aus dem Kaffeehause trat ich auch bald aus,
denn er wünschte, daß ich mit ihm das Leben
genieße. So begannen wir denn bald gründlich zu
bummeln.“
Hier brach sie ab und starrte vor sich hin mit
den trüben Augen. Offenbar war dies „Bummeln“
ihr eine überaus angenehme Erinnerung und er-
forderte einiges Nachdenken.
Käthe unterbrach dies Schweigen nicht, nachdem
sie mit wahrer Andacht den Worten gelauscht und
nur ab und zu verwundert den Kopf geschüttelt.
Ihr Urteil über die ganze Angelegenheit behielt sie
sich vor für später.

294
„So lebten wir drauf los“, fuhr Rosa fort. „Wir
speisten bei meiner früheren Herrin, damit sie sehe,
wen sie in ihrem Dienst vor sich gehabt. Alles mit
Butter, denn Felix war solch ein Feinschmecker, daß
er Schmalz gar nicht in den Mund nahm. Nach dem
Essen trank er seine Tasse Mokka und streckte die
Beine von sich und stocherte in den Zähnen. Wenn
ich ihn ansah, konnt’ ich mich nicht genug wundern,
woher er dieses Protzen nahm. Öfters riefen wir
auch eine Droschke herbei und fuhren spazieren.
Dann legte er dem Kutscher die Beine fast auf den
Kragen und blickte stolz und verächtlich auf die
Fußgänger herab. Abends gingen wir zu Biere und
saßen dort öfters bis an den hellen Morgen. Ach!
Das war ein herrliches Leben!*
„Weshalb aber jagte er dich fort, wenn du ihm
doch alles das geschenkt hast?!“ glaubte Käthe ein-
wenden zu müssen.
„Weshalb?“ flüsterte Rosa. „Weil das Geld nicht
mehr reichte, er aber immer noch den Herrn spielen
und sich die Zähne mit Honig einschmieren wollte,
Alle Tage beging er neue Tollheiten und beschwatzte
mich solange, bis ...*
Wieder brach sie plötzlich ab und sah sich um
nach allen Seiten.
„Weißt du auch, ob uns, niemand belauscht?“
fragte sie ängstlich und die Unruhe verzerrte ihr
bleiches Gesicht.
Unwillkürlich sah auch Käthe sich um. Was in
aller Welt hatte Rosa zu verbergen? Weshalb

295
fürchtete sie sich vor fremden Ohren? Hatte sie
etwas Böses begangen? Etwa auf Zureden eines
solchen Schuftes wie Felix?!
Trotz ihrer eigenen Angst versicherte sie Rosa,.
sie seien hier völlig sicher. Der Herr war längst
ausgegangen und von der Herrin hatten sie nichts
zu befürchten. Diese lag im Bett wie erstarrt und
seufzte nur ab und zu wie ein kleines Kind. Sie
konnte sie also nicht hören. ,
Trotzdem immer noch ängstlich, schmiegte sich
Kathe dicht an die Freundin, um sie besser zu ver-
stehen.
Ihr könne Rosa sich unbedenklich anvertrauen,
sie plaudere nichts aus, und was sie auch höre,
bleibe verschwiegen wie beim Priester in der heiligen
Beichte.
„Wir hatten kein Geld mehr“, fuhr Rosa fort und
krümmte unwillkürlich ihre ganze Gestalt. „Felix
aber drängte ... Und ich ging zur dicken Milch-
wirtin und wollte ihr etwas aus der Ladenkasse ent-
wenden ... Die Dicke aber überraschte mich und
ich lief davon und nur ein Fetzen von meinem Rocke
blieb in ihren Händen ... Jetzt können sie mich
erwischen und einsperren. Das will ich nicht, — so
etwas haftet einem zeitlebens an!“
Ganz erstaunt blickte sie, als sie ihre Beichte ge-
endet, Käthe an, die düster schweigend zu Boden
starrte.
Ein Verdammungsurteil hatte sie erwartet von
der Freundin, die in ihren Augen immer noch den

296
Stempel ehrlicher Dummheit auf der Stirn trug.
Weshalb tadelte gerade sie heute nicht mehr diesen
versuchten Diebstahl bei ihrer früheren Brotherrin,
den sie früher so ernst gerügt? Sollte sie
selbst ... ? ...
Käthe aber unterbrach all ihre Vermutungen. Mit
ihrern gesunden Menschenverstande durchschaute sie
die ganze Sachlage: „Also darfst du jetzt nicht mehr
auf die Straße gehen!“
Allerdings, daran dachte Rosa auch nicht im
Entferntesten. Nach dem unglücklichen Angriff auf
die Kasse der dicken Milchwirtin war sie schnur-
stracks zu Käthe geflohen, mit dem ihr selbst un-
erklärlichen Instinkte des Selbsterhaltungstriebes.
Ihr war, als könne dies große, kräftige Mädchen
sie vor allen „Polizisten“ der Welt schützen.
Jetzt jedoch begriff sie ihre ganze Lage und in
ihren Ohren klang es ihr fortwährend als un-
abänderliche Drohung: „Du wirst im Zuchthause ver-
faulen!“
Was sollte sie jetzt tun? Hinausgehen und sich
damit der Polizei in die Hände geben? Nimmer-
mehr! Lieber wollte sie sich mit Petroleum begieBen
und sich selbst verbrennen. So versicherte sie
wenigstens unter verzweifelten Schluchzen.
Käthe jedoch nahm ihre ganze Tatkraft zusammen,
um die eigenen Sorgen zu vergessen und einzig und
allein an ein sicheres Versteck der Freundin zu
denken.

297
Ja, so wäre es am besten! Rosa mußte sich auf
dem Boden hinter dem Verschlage verborgen halten,
in dem allerlei Gerümpel, wie alte Dachziegel und
dergleichen, aufbewahrt wurden. Johann würde dies
sicher erlauben, wenn sie ihn darum bitte. Und,
erfüllt von den besten Wünschen, nahm sie den
Bodenschlüssel und forderte Rosa auf, ihr in ihren
neuen Unterschlupf zu folgen.
Anfangs zögerte Rosa noch, da Käthes herzliches
Entgegenkommen die Erinnerung an die ihr an jenem
Sonntagnachmittage zugefügte Kränkung weckte.
Heute, da sie in Käthes Hände gefallen, vergaß
diese all jene Unbill und rettete sie vor der ihr
drohenden schimpflichen Strafe. Wie sollte sie ihr
all diese Güte vergelten!
Dies sagte sie ihr mit einer gewissen Besorgnis,
Käthe könne bei der Erinnerung an die Schmähungen,
mit denen sie von ihr überhäuft worden, schließlich
doch noch ihre freundliche Haltung ändern.
Käthe aber richtete nur an der Tür noch sanft an
sie die Frage, womit sie jene schlechte Behandlung
damals verdient habe. i
Dies brachte Rosa wieder ins Gleichgewicht: „Weil
du, wie Felix mir sagte, damals, als du nach deiner
Lade kamst, dich ihm aufgedrungen und an mir kein
gutes Haar gelassen und mich vor ihm so schlecht
gemacht hast!“
„Ach“, erwiderte Käthe, anfangs erstaunt, dann
achselzuckend, „schwatz’ doch nicht solchen Unsinn!
Wie konntest du ihm nur so etwas glauben! Jetzt

298
aber komm auf ’n Boden, sonst kommt der Herr uns
noch über den Hals!“
Zwar konnte sie Rosa sagen, daß vielmehr Felix
sich ihr aufgedrangt. Mit echt weiblichem Zart-
gefühl aber schwieg sie über diesen Punkt, um der
Freundin nicht noch mehr Verdruß zu bereiten.
Dann gingen sie beide auf den Boden. Dort drang
die naßkalte Luft durch die Dachluken und zer-
brochenen Fensterscheiben ein.
Nachdem Käthe die Freundin in dem ziemlich
dichten und verschließbaren Bretterverschlag unter-
gebracht, versprach sie ihr, das Vorlegeschloß zu
holen und sie dort einzuschließen.
„Da wirst du ganz sicher sein. Nur wenn jemand
kommt, um hier Wäsche aufzuhängen, rühre dich ja
nicht und sei mäuschenstill. Ich bringe dir auch
noch ein Kissen. Inzwischen hülle dich nur in mein
Tuch!“
Bei diesen Worten warf sie Rosa ihr abgetragenes
Tuch um die Schultern, ohne zu bedenken, daß dies
ihr einziger Schutz gegen die Kälte sei.
Jetzt sah sie nur die vor Frost zitternde Freundin
und bemühte sich, sie zu erwärmen, ohne Rücksicht
darauf, daß sie sich selbst einer Erkältung oder
anderen schlimmeren Folgen aussetzen könne.
Als Rosa ihr herzlich danken wollte, wurde Käthe
plötzlich leichenblaß, taumelte hin und her und mußte
sich an den Verschlag lehnen.
Mit leiser Stimme versicherte sie, es werde vor-
übergehen, sobald sie an die frische Luft komme.

299
Jetzt werde ihr öfters so „schwarz vor den Augen“,
Bisher sei es aber immer schnell voriibergegangen.
Mit Kennerblick beobachtete Rosa die halb Ohn-
mächtige. Dieser Zustand erschien ihr doch ver-
dächtig. Sie selbst zwar hatte ihn niemals durch-
gemacht, aber bei andern schon öfters wahr-
genommen.
Gleichwohl sagte sie nichts, sondern lächelte nur
zweideutig, als begreife sie selber nicht, weshalb ihr
dieser klare Beweis von Käthes Fall solche Be-
friedigung bereite.
Als Käthe über den Hof ging, traf sie dort Johann,
der, an die Mauer gelehnt, gelangweilt in die Ferne
blickte, Auf Käthes Zuruf wandte er sich mürrisch
um und hörte -nur halb auf ihre Worte. Anfangs
versuchte sie, ihn zu besänftigen und trotz ihres be-
ständigen Ohnmachtsgefiihles mit sanftem Lächeln
zu rühren.
Er aber blieb so unwirsch wie zuvor, und erst als
sie ihn schüchtern bat, er möge gestatten, daß Rosa
eine Zeitlang sich auf dem Boden aufhalte, klärten
seine Züge sich sichtlich auf.
Weshalb sollte er dies nicht erlauben? Meinten
sie etwa, er sei von Stein und besitze kein Ver-
ständnis für menschliches Elend? Wisse er doch
recht gut, was sich Frauen gegenüber gebühre. Nicht
nur gern erlauben wolle er alles, sondern sogar
einen Strohsack besorgen.
Dankerfüllt streichelte Käthe ihm den Arm. Mein
Gott! Hatte sie doch befürchtet, er werde sie an-

300
schnauzen und Rosa davonjagen. Diesen Verdacht
mußte sie ihm jetzt abbitten.
Mit Freuden beantwortete sie all seine Fragen,
die hauptsächlich Rosa betrafen: wer sie sei, woher
sie komme und ob sie einen Liebsten habe.
Um die Freundin im besten Lichte zu zeigen,
schwieg sie zwar vor deren Fehlern, Konnte aber
doch nicht vermeiden, von Felix zu sprechen,
Johann lachte laut auf bei der Schilderung ihrer
fast hündischen Anhänglichkeit an einen älteren,
noch dazu verheirateten Mann.
„O, dieser Racker!“ rief er. „Das dacht’ ich mir
gleich, daß sie ein seltener Bissen sei. Sie hat so
stechende Augen!“
Und lachend rief er noch der sich entiernenden
Käthe nach: „O, dieser Racker!“

I der Kiiche traf Kathe die Herrin, die sie schon


ungeduldig erwartete.
Auf Julias gelblichem Gesichte prägte sich irgend
ein verzweiielter EntschluB aus und das Verlangen,
unter allen Umständen das beabsichtigte Ziel zu er-
reichen.
In der Hand hielt sie einen versiegelten Brief mit
schräg gekritzelter Aufschrift. Diesen Brief reichte
sie Käthe mit dem Auftrage, sofort nach dem Poly-
technikum zu gehen, dort den Bildhauer Wodniecki
aufzusuchen und ihm den Brief zur Weiterbeförde-
rung an die bekannte Person einzuhändigen.

301
„Geh” schnell!“ sagte sie, dem Herde sich nähernd.
„Das Mittagessen will ich schon besorgen. Frage
dich nur gut durch nach jenem Herrn. Ein junger
Mann ist’s, der aus Stein Menschen nachbildet‘, fügte
sie hinzu und hob mit nervöser Hast den Deckel vom
Kochtopfe. „Sie werden dir schon zeigen, wo er
arbeitet. Du bist ja ein kluges Mädchen und findest
ihn gewiß!“
Käthe eilte hinaus, nachdem sie sich ein wenig
zurechtgemacht, den besseren Rock und die Flanell-
jacke angezogen hatte.
Auch ihr Tuch wollte sie vom Boden holen, kehrte
aber an der Tür wieder um. Sie selbst würde schon
warm vom Gehen. Rosa aber fröre weit mehr auf
dem Boden und daher mochte lieber sie das Tuch
behalten.
Auf der Straße blieb Käthe stehen, bis sie sich all-
mählich zurechtgefunden hatte. Dann eilte sie, vor-
wärts hastend, um die Winterkälte nicht gar so arg
zu spüren. i
Vor dem Polytechnikum lag ein kleiner Platz, so
blendend weiß und flaumig vom Schnee, wie ein
Kaninchenfel. Auch der Bronzeschmuck des
schwarzen eisernen Gartenstaketes erschien wie in
ein silbernes Spitzengewebe gehüllt,
Unwillkürlich blieb Käthe am Haupteingange
stehen. Auch dort blinkte und blitzte alles vor
Sauberkeit.
Wie konnte sie nur dort eintreten. Gewiß würde
sie gar nicht eingelassen ...

302
Da aber im Hausflur weder ein Pförtner, noch
sonst ein Wächter stand, raffte sie ihren durchnäßten
Rock auf und betrat schüchtern die schön getäfelten
Fliesen des Hausflurs.
Dann wandte sie sich langsam zur Treppe, deren
steinerne Stufen so grau und düster, fast farblos,
aussahen, wie draußen der Winterhimmel, und stieg
hinan. . !
Nach allen Seiten erstreckten sich geradlinige
Gänge, in der Mitte belegt mit schmalen Fußdecken.
Auf dem Höhepunkte der Treppe aber bildeten diese
Gänge ein wahres Labyrinth.
Hell beleuchtete dort eine Glaskugel den mit
schwarzen und weißen Fliesen getäfelten Raum bis in
die rings ausstrahlenden Gänge, die, allmählich alles
Licht verschlingend, in tiefem Schatten lagen.
Auch alles übrige war so trüb und düster schwei-
gend, als atme es nichts als Spitalluft und Fried-
hofsruhe.
Ungewiß, wohin sie ihre Schritte lenken solle,
blieb Käthe stehen.
Aus den hohen dunkelgestrichenen Türen drang
kein Laut, keine menschliche Stimme. Wie die
Pforten zu geheimnisvollen Grüften erschienen sie,
als ob sie Leichen in sich bargen, gehüllt in Leinwand
mit Hieroglyphenschrift. |
Keine Tiirklinke wagte Kathe zu beriihren. Denn
sie alle blinkten im matten Lichte wie Dolch- oder
Speerspitzen der hinter den Türen verborgenen
Wächter.

303
Lange stand Käthe so da, nur leise atmend, als
fürchte sie, mit einem Seufzer die feierliche Stille in-
mitten dieser kalten grauen Mauern zu stören,
Plötzlich schliipite aus dem Innern eines Ganges
ein Bürschchen heraus in zerfetztem Leinwandanzuge,
ein sonderbares, hochaufgeschossenes Wesen mit
krummer Haltung.
Rotes Haar bedeckte halb die gewölbte Stirn. Das
ganze Gesicht war eine seltsame Mischung der
reinsten Linien mit unregelmäßigen, Krampfhaft ver-
zerrten Zügen und daher auffallend beim ersten Blick.
Der lange hagere Hals, die riesigen Arme, die ein-
gedrückte Brust und die fast bogenförmig gekrümm-
ten Beine machten deren Träger zu einem grund-
häßlichen Menschen, trotz einzelner idealschörer
Züge. SE
Langsam näherte er sich, auf den krummen Beinen
sich wiegend.
In der Rechten hielt er einen ganz mit Gips be-
deckten Hammer. Auch im übrigen trug er Gips im
Überfluß an sich. Ganze Wolken saßen im Haar,
sodaß nur hie und da die roten Strähne durchblinkten.
Rücken, Ärmel, sogar die Stiefel, alles verschwand
unter der weißen Hülle.
Auch im Gesichte hatte er weiße Flecken, sodaß er
einem Zirkus-Clown ahnelte.
Mit den Augen blinzelnd, fuchtelte er herum mit
dem Hammer und verstreute ringsumher Wolken
von Gips.

304
Als er Käthe bemerkte, blieb er ein Weilchen
stehen, als befremde ihn deren Anwesenheit.
Derartige Besuche waren unter der Glaskuppel
nicht allzu häufig.
Auch Käthe blieb stehen, als wage sie nicht, sich
von der Stelle zu rühren.
Die Schlitzaugen waren ihr nicht gerade ver-
trauenerweckend. Dabei schwang er immer noch
höchst zweideutig den Hammer. Wer weiß, welche
Absichten er hatte?
Plötzlich näherte er sich ihr mit Blitzesschnelle
und mit seltsam funkelnden Augen.
Seiner Brust aber entrang sich ein mark-
erschütternder, halb tierischer Schrei.
So scharf wie ein Waidmesser durchschnitt diese
Menschenstimme die Luft und drang wie im Triumphe
bis zur Glaskuppel.
Hundert unausgesprochene Worte zitterten darin
und mit dem verzweifelten Wunsche, verstanden zu
werden, schien sie an all die verschlossenen Türen
zu klopfen in der ringsumher herrschenden Stille.
Niemand aber beachtete sie außer Käthe, die sich
erschrocken nach der Treppe zurückzog.
Noch einmal, nur weit stärker und drohender
wiederholte sich jener Schrei.
Der ihn ausstieß aber starrte Käthe unverwandt
an und zwei blaurote Streifen traten ihm auf die

20 Kathe | 305
Stirn. Augenscheinlich kostete ihn jeder Schrei
große Kraft und Anstrengung.
Jetzt erst merkte Käthe, daß sie es mit einem
Taubstummen zu tun habe.
Dies befreite sie von ihrer Angst, sodaß sie sich
dem Krüppel näherte und sich bemühte, ihm durch
Zeichen zu verstehen zu geben, um was es sich
handle.
Dies war jedoch durchaus nicht leicht, da sie keine
Ahnung davon hatte, wie man sich am besten mit
solchen Leuten verständigt.
Lange standen sie so einander gegenüber mit
allerlei Gesten, ohne sich gegenseitig zu verstehen.
Plötzlich ergriff der Taubstumme Käthes Hand und
zog sie, immer noch schreiend, in einen der Gänge
hinein, auf dem sich, wie auf allen übrigen, rechts und
links Türen und in der Mitte Fußdecken befanden.
Hastig öffnete er eine jener Türen und dort er-
schien die kleine Gestalt des — Bildhauers, welcher
Käthe einst im Milchgarten Geld angeboten für die
Erlaubnis, sie in Lehm nachzubilden.
Sofort erkannte er sie und ein Lächeln umspielte
seine hübschen Lippen.

Hocherfreut zog er sie mit Hilfe des Taubstummen


hinein in seine Kunstwerkstatt,
Dort drehte er sich lächelnd die Schnurrbartspitzen
und bemühte sich, seinem kleinen kindlichen Gesicht
einen diabolischen Ausdruck zu geben.

306
Endlich habe sie also die unnótige Furcht abgelegt
und sich anders besonnen, meinte er. Und daran
habe sie sehr wohl getan, denn zwei Groschen seien
immer bar Geld...
Dabei schlug er mit der Miene eines Krösus auf
die ewig leeren Taschen, um mehr Vertrauen zu er-
wecken. Auf den Taubstummen machte dies jedoch
keinen Eindruck. Offenbar ließ sich dieser Bild-
hauergehilfe auf solche Flunkereien nicht ein. Denn
er bestritt mit lautem Geschrei das Vorhandensein
auch nur eines roten Hellers in den Taschen seines
Meisters.
Dieser jedoch stand, ohne dies Mißtrauensvotum
von seiten seines Schülers zu beachten, noch immer
lächelnd vor Käthe, voller Befriedigung, daß er end-
lich dies vorzügliche Modell zu seiner längst ge-
planten Karyatide vor sich sah.
Sie aber benahm ihm schnell seine vorzeitigen
Hoffnungen. Die Herrin habe sie geschickt mit einem
Briefe an einen gewissen Wodniecki. Vielleicht habe
er die Güte, ihr zu sagen, wo sie denselben finde.
Sie wünsche schleunigst wieder heimzukehren. Denn
hier sei es ja wie auf dem Kirchhofe, wie aus-
gestorben, so öd und leer, daß man keiner Menschen-
seele begegne, die man fragen könne.
„Du Schlaukopf!“ rief lachend der Bildhauer.
„sagen soll ich dir, wo Wodniecki zu finden ist? Der
bin ich ja selbst! Such doch lieber erst den eigenen
Kopf, den du auf dem Hofe gelassen hast!“

20* 307
Der Taubstumme kreischte immer lauter. Ob-
gleich er das Lachen des Meisters nicht hörte, sah
er doch an dessen Mundstellung, daß er irgend eine
Freude hatte. Daher schlug er mit aller Kraft den
Hammer auf ein Stück Blech und schrie aus Leibes-
kräften.
„Schweig, du Erdenkloß“, rief endlich der Meister,
um dieser tollen Heiterkeit ein Ende zu machen.
Dabei nahm er eine Haltung an, wie ein Cäsar, der
das Volk beschwichtigen will.
Das Volk, in Gestalt eines einzigen Krüppels, ver-
stummte sofort und nur noch aus einem Winkel ver-
nahm man dumpfes Winseln. Dort verkroch sich
der Taubstumme hinter eine Gipsplatte und beob-
achtete aufmerksam die Gesichtszüge des Meisters.
Inzwischen schickte Käthe sich an, fortzugehen.
Nachdem sie den Brief eingehändigt, hatte sie hier
nichts mehr zu tun.
Anderer Meinung aber war der Bildhauer. Der
Brief sei nicht an ihn gerichtet, sondern an einen
anderen Herrn, der bald kommen werde. Daher sei
es am besten, wenn sie auf ihn warte und persönlich
mit ihm spreche.
Um so mehr sträubte sie sich jetzt und wandte sich
zur Tür. Die Erinnerung an den vierschrötigen
Studenten erfüllte sie mit Angst.
Noch erinnerte sie sich deutlich, welch unange-
nehmen Eindruck beim matten Laternenschein seine
frechen Blicke und aufgeblasenen Backen auf sie
gemacht.

308
Mit weiblichem Instinkte ahnte sie in ihm die un-
ersättliche, fast viehische Leidenschaft und haßte ihn
daher unwilikürlich.
Mit Fieberhast griff sie jetzt, um sich schleunigst
zu entfernen, nach der Türklinke, die der Bildhauer
aber ihr aus der Hand riß.
„So schnell geht das nicht, du wildes Modell!“ rief
er mit herzlichem Lachen. „Erst muß ich doch einen
Zettel schreiben, daß du mir den Brief richtig abge-
geben hast!“
Jetzt erst entschloß sie sich, zu warten und während
Wodniecki nach Schreibzeug suchte, sah sie sich
im Atelier näher um.
Noch niemals war sie an solchem Orte gewesen.
Der längliche hohe Saal war ursprünglich zu einem
anderen Zwecke bestimmt und nur durch die Be-
mühungen eines Vorstandsmitgliedes und Gönners
des kleinen Bildhauers diesem zum Atelier einge-
räumt worden.
Zwar war dies nur die ärmliche Werkstatt eities
blutarmen Künstlers und weit entfernt von der
märchenhaften Pracht, mit der die Ateliers berühmter
„Meister ausgestattet zu sein pflegen, aber trotzdem
herrschte auch hier der Reichtum des Talentes, die
Pracht genialer, mit kühner Hand oft im Nu ge-
schaffener Entwürfe und ein Vorrat von Gedanken,
die, noch an den Rohstoff gebannt, sich über diese
Armut beklagten.
Auf den weißen Wänden waren mit Kohle Ge-
stalten gezeichnet, die zwar hie und da gegen die

309
anatomische Genauigkeit etwas sündigten, die aber
lebensvolle, wenn auch nur dem Kennerblicke ver-
ständliche Züge trugen.
Diese Skizzen unterbrachen allerlei Medaillons
von Gyps oder Terrakotta in unregelmäßigen
Gruppen, je nach der Zeit ihrer Entstehung oder
der Laune des Augenblickes.
Auf den Medaillons sah man die Profile ver-
schiedener Leute, unförmliche Köpfe mit trotzigen
Stirnen und glatten Schädeln oder klassisch-reine
Züge mit lächelndem Blick oder bedeutungsvoll ge-
furchter Stirn.
Auch Basrelieis gab es dort auf kleinen vier-
eckigen oder länglichen Tafeln mit schlanken nack-
ten Frauengestalten, die zum Tamburin tanzten oder
in leicht gekräuselter Flut badeten.
Lange stand Käthe mitten im Atelier und kam gar
nicht heraus aus dem Staunen.
Die Riesengestalten zweier Apostel erregten ihr
Befremden, die Nacktheit eines Samsons ihr Scham-
gefühl und beim Anblick einer nur von einem durch-
sichtigen Fischernetz bedeckten Nixe wurde sie
feuerrot.
Trotz ihres Falles bewahrte sie sich die Scham-
haftigkeit eines Kindes. Und diese verletzte das
nackte Weib im Fischernetze über alle Maßen.
Weshalb entblößte es sich so? War es so arm,
daß es nicht einmal ein Hemd besaß? Ein solches
hat aber doch jeder, selbst der ärmste Bettler auf
der Welt.

310
Inzwischen bemiihte sich der Kiinstler, Kathe zu
ermutigen und bot ihr jetzt sogar drei Groschen fiir
die Stunde Modelistehen.
Dies schlug sie ihm aber rund ab. Wie sollte sie
dazu Zeit finden? Und dann war sie auch dazu nicht
da...
Um sie vielleicht dadurch zu ermuntern, zeigte
Wodniecki nach der Nixe mit den Worten: „Sieh!
Das ist Terrakotta. Dazu stand mir eine Modell,
die mehr Verstand hatte als du. Nur einige Male
stand sie vor mir, und was schadete es ihr? Das
Geld nahm sie und küßte mir noch die Hand. Dir
will ich weit mehr geben. Also mach keine Um-
stände, sonst schlag ich dich braun und blau und
anstatt Geld, steckst du Gips in die Tasche!“
Käthe stieg das Blut zu Kopfe. Ohne Abschied
* lief sie hinaus und ließ sogar die Tür offen, stehen.
Erst auf dem Gange hörte sie, wie der Taubstumme
mit lautem Kreischen sie zuschlug.
Ängstlich entfloh sie diesen kalten, weißen Mauern,
wo sie sich ebenso nackt vorkam, wie jenes Gips-
weib im Fischernetz, das nach dem Modell eines
Mädchens, einer Magd wie sie selbst, geformt worden
war.
Die Treppe hinabeilend, stellte sie sich jene andere
vor, wie sie unbekleidet bei hellem Tageslichte
mitten in jenem Saale stand.
Wie konnte sie sich so schamlos vor Männern
um schnödes Geld dort hinstellen! Nimmermehr
würde sie selbst dies tun, und müßte sie Hungers

311
sterben! Dies wäre eine schwere Sünde, und sie
hórte sogar einmal, daB solche nackte Menschen der
Teufel holt!
Jene Magd mußte geradezu eine Verworfene sein!
Keine andere ließe sich ein auf solch eine Art von
Verdienst!
Und in ihren sonderbaren Begrifien von Moral,
die so weit in den niederen Volksschichten verbreitet
sind, fühlte Käthe kaum noch den eigenen tiefen
Fall, warf aber das Verdammungsurteil auf das
Haupt deriengien, die sich nachbilden ließ aus Lehm,
ohne jede Hülle, so wie sie Gott geschaffen.
Mit unbeschreiblichem Ekel und Widerwillen ent-
floh sie diesen Mauern, zu denen zurückzukehren
das Schicksal sie doch vielleicht noch zwingen
wird...
Als sie die breiten Steintreppen hinabeilte, war
es ihr, als komme sie aus einem Leichenhause, in
dem sie den eigenen totenstarren, nackten Körper
liegen sah neben dem jener anderen im Fischernetze,
so abschreckend, wie der einer Verdammten.
Überall hin folgte ihr jenes weiße Gipsweib und
streckte die nackten Arme nach ihr aus, als ver-
höhne es ihre Entrüstung, und als brüste es sich
schamlos mit seinem Körper, wie mit einer billigen
Ware oder einem neuen Kleide.
Vergebens rieb Käthe sich die Augen, um jenes
Gespenst zu verscheuchen.
Unwillkürlich stellte sie eine Magd sich vor, eben-
so gekleidet, wie sie selbst, in zerrissener Jacke und

312
vom Schnee durchnäßten Rock, bis sie diese plötz-
lich fallen ließ und so mit ausgestreckten Armen vor
dem fremden Manne dastand, der sie auslachte und
verhöhnte.
Dann war es Käthe zu Mute, als werde sie mit
Ruten gepeitscht. Denn sie wußte selbst nicht mehr,
ob sie oder jene andere sich so versündigte.
Und wie ein verwundetes Wild eilte sie dem Aus-
gange zu.
Ihr schien es, als rissen sogar die Wände ihr die
Kleider vom Leibe und zwängen sie mit Gewalt, die
Arme so auszustrecken, wie jene andere ..

ohann hatte Wort gehalten und Rosa nicht nur


J ungeschoren gelassen, sondern ihr auch den
Bodenverschlag eingeräumt und sogar einen alten,
aber neugestopften Strohsack zur Verfügung gestellt.
Diesen Strohsack trug er selbst hinauf, weil, wie
er meinte, Käthe doch nur auf der Treppe das Stroh
zerstreue und so die Aufmerksamkeit auf sich lenke.
„Jetzt, Fräulein, können Sie sich ruhig aus-
schlafen“, sagte er zu Rosa, die zitternd vor Frost
sich an die Wand lehnte, durch die der übrigens
auf dem ganzen Boden einheimische kalte Wind
wehte,
Als Rosa ihm ihren Dank aussprach, entwickelte
sie dabei die ganze Unverschämtheit der früheren
Kellnerin, sodaß Johann, der doch mit verschiedenen
Weibern zu tun hatte, sich über die „geriebene

313
Schnauze“ seiner neuen Bekannten nicht genug wun-
dern konnte.
Dennoch entfernte er sich nicht gleich, da er
fühlte, daß dies zerlumpte Frauenzimmer gewiß
schon recht viel durchgemacht habe.
Und nach der schüchternen Käthe, die ihm schon
lästig wurde, war es ihm nicht unangenehm, jene
Gassenluit zu atmen, die Rosa in ihren Reden und
in den Falten ihres beschmutzten Rockes trug.
„So, Fräulein“, sagte er, lachend in den Ver-
schlag eintretend, „Sie müssen viel durchgemacht
haben, daß Sie vor Angst so ins Mauseloch kriechen!“
Unwillkürlich drehte sie den Kopf nach der Wand,
so schämte sie sich des geschwollenen Auges und
der blauen Flecken im Gesicht.
Wußte sie doch, dies sei gerade keine Zierde und
mache keinen guten Eindruck.
Johann aber zeigte sich über solche Kleinigkeiten
erhaben: „Fräulein, drehen Sie das Lärvchen nur
nicht so weg. Ich sah schon den Hufschlag unter
dem Auge. Das ist ja weiter keine Schande. Ein
Weib zu schlagen, ist Mannesrecht. Ich selbst
schlage öfters aus Liebe und wenn mir die Galle
überläuft, noch besser. Das ist schon so meine Art,
nicht erst lange zu fragen, sondern gleich zu-
schlagen!“
Neugierig sah ihn Rosa an. Immer mehr gefiel ihr
dieser stramme, vierschrötige Mann. Nach dem ab-
gelebten Felix erschien er ihr wie die verkörperte
männliche Schönheit.

314
Da sie gern Näheres von seiner Liebschaft mit
Käthe zu erfahren wünschte, die sie, in solchen
Dingen wohlerfahren, längst erriet, lenkte sie ge-
wandt das Gespräch nach dieser Richtung, indem sie
im Dunklen kichernd fragte: „Also auch Käthe
schlugen Sie schon öfters?“
„Allerdings“, erwiderte er mit prahlerischem Ton.
„Nicht mucksen darf sie, sonst gibt es Keile!“
Dabei schob er die Mütze auf die Augen und be-
mühte sich, recht überzeugend zu sprechen,
Dies gelang ihm aber nicht, weil er fühlte, daß er
im Grunde damit doch gelogen habe. Nur einmal
hatte er Käthe geschlagen: an jenem denkwürdigen
Abende, als sie weinend und zermartert an der
Haustür niedersank, just zu seinen Füßen.
Seitdem rührte er sie niemals wieder an. Denn
sie war viel zu gut und sanft, als daß er zu solchen
überzeugenden, d. h. schlagenden Gründen seine Zu-
flucht hätte nehmen brauchen.
Immerhin hielt er es für gut, sich der eigenen
Rohheit zu rühmen vor einer, deren Gesicht nicht
geringe Spuren trug von einer nervigen Männer-
faust, und daher wiederholte er hartnäckig: „Nicht
mucksen darf sie, die Bestie!“
Laut auf lachte Rosa, hocherfreut, daß auch Käthe
vom Liebsten so behandelt wurde. Also hatte Felix
nicht allein die üble Angewohnheit, sie zu prügeln
und noch obendrein schlecht zu machen vor auderen.
Darin sind die Männer sich alle gleich!
„O, warum behandeln Sie Käthe so hart!‘ wandte

315
„sie ein, um das Gespriich fortzusetzen. „Kathe 1st
ein Kernmädel, und Sie müssen Vertrauen zu ihr
haben, denn Sie werden doch ein Paar —“
„Wie? Ein Paar?“ unterbrach er sie heftig. „Hat
sie etwa sowas gesagt?“
„Freilich, soeben noch“, log Rosa, um noch
Näheres zu erfahren. |
Und Johanns Aufregung kam ihr dabei zu Hilfe.
„O, diese Jesuitin!“ rief er wütend. „Ich weiß,
daß sie nach dem Altare riecht. Mit mir aber soll
sie dabei keinen Staat machen. Mag sie sich einen
anderen Freier suchen. Ich bin dazu nicht ge-
schaffen.“
„Versprachen Sie ihr denn aber nicht die Ehe?“
fragte Rosa weiter. „Denn ohne dem läßt sich doch
ein ordentliches Mädchen auf so etwas nicht ein.“
„Ei was! Narrenspossen! Ein Narr denkt an
heiraten!“
Im Grunde der Seele aber dachte er anders. Aller-
dings hatte er ihr die Ehe versprochen, komme was
da wolle, und Käthe war noch unbescholten, ehe es
so weit kam. Vielleich tat er sogar unrecht, sich zu
einem Versprechen hinreißen zu lassen, welches er
nicht zu halten dachte. Weshalb aber glaubte sie
ihm?
Wußte sie etwa nicht, daß ein Mann in solchem
Augenblicke das Blaue vom Himmel herunterschwört
und doch nicht ans Heiraten denkt?!
Trotzdem beschlich ihn eine seltsame Unzufrieden-
heit mit sich selbst, die er aber mit der verkehrten

316
Logik eines Mannes, der seinen Fehler sełbst ein-
sieht, auf Käthe ablenkte.
„Da haben Sie ganz recht, Herr Johann“, er-
widerte Rosa. „Sein Leben lang so sich zu binden,
das ist keinen Pffferling wert. Nur die dummen
Mädchen wollen damit Staat machen. Ich lobe mir
ein freies Verhältnis, da kann man jederzeit sich
trennen, ohne Geschrei und Weiterungen.“
Diese Begründung leuchtete ihm vollkommen ein
und galant bestätigte er sie mit den Worten: „Auch
ich lobe mir solche Mädchen, die ihren Verstand
haben und nicht so nach dem Piaffen ausschauen,
der sich mit der Trauung nur die Taschen füllt. Das
ist die beste Trauung, wenn eine nicht so spröde ist,
und durch das Feuer ging ich mit solcher, wenn ich
auch nur in einem ‚freien Verhältnisse‘ mit ihr lebte!“
Und ohne selbst zu wissen, weshalb, log er wieder
ein Versprechen, wie es den Ansichten derjenigen
entsprach, die vor ihm saß.
Offenbar zwang diesen Gasseneroberer von
Weiberherzen seine Natur zum beständigen Lügen
und zum Betrügen der ersten Besten, die ihm in den
Weg trat. Mit großer Gewandtheit wußte er seine
Worte zu wählen, um, ohne etwas zu versprechen,
einfach seine Bereitwilligkeit zur Erfüllung der ihm
betrefis der Eroberung gestellten Bedingungen zu
erkennen zu geben. Umso leichter wußte er sich
mit dieser braun und blau geschlagenen Land-
streicherin abzufinden, die recht gut wußte, daß ein

317
Mann, wie er, sich nicht sein Leben lang mit einem
Weibe begnügen könne.
Dabei liebte gewiß auch sie die Veränderung.
Wenigstens sah sie ganz danach aus. Zwar erschien
sie ihm bleich und elend, fast häßlich. Er aber war
von jeher ein Liebhaber von Gegensätzen, und nach
der kerngesunden Käthe kam ihm die halbverblühte
Rosa ganz erwünscht. Das war sein gewohntes
System bei der Auswahl seiner Geliebten.
Und seltsam aufgeregt, näherte er sich Rosa, die
mit einem Lächeln auf den zusammengepreßten
Lippen ihn durchaus nicht von sich wies.
Vielmehr blickte sie ihn freundlich an, da auch
sie die Gegensätze liebte und den Eindruck des un-
scheinbaren Felix durch die Annäherung des stram-
men Portiers zu verwischen wünschte. So fühlten
diese beiden Naturen ihre Verwandtschaft bald heraus
und näherten sich einander um so leichter auf dem
engen Bodenraume.
Durch die Ritzen in der Bretterwand des Ver-
schlages warfen ab und zu matte Lichtstrahlen auf
den Strohsack und die dort umherliegenden Gegen-
stände hellere Linien, die sich von der ringsumher
herrschenden Dämmerung deutlich abhoben und nur
Johanns Gesicht erhellten, während Rosas ganze
Gestalt im Schatten blieb.
Obgleich sie ihn jetzt unverwandt ansah, fühlte
er nur ihre Nähe und in seiner sinnlichen Erregung
auch die Eindrücke, die ihm bei ihr als Vermittler
dienen könnten.

318
Der Gedanke an Käthe hielt ihn nicht davon
zurück. Um seine frühere Geliebte sich zu kümmern,
war er nicht gewohnt, sondern liebte es vielmehr,
in allem seine Unabhängigkeit und seinen Eigenwillen
zu zeigen.
Dabei versetzte ihn der Gedanke, daß Käthe ihn
zum Heiraten bewegen wolle, in förmliche Wut.
War er doch ein freier Mann und konnte tun, was
ihm beliebte.
Lieber hält er sich an Rosa. Das wird am besten
sein. Dadurch überzeugt er auch Käthe und alle
anderen, daß er an Heiraten nicht denke. Rosas
leichte Zugänglichkeit bestärkte ihn noch in dieser
Absicht.
Jetzt saßen sie beide in voller Übereinstimmung
ihrer Ansichten über das Leben und dessen Be-
dingungen schon dicht beieinander.
Nur zu bald vergaßen sie, wie viel sie beide der-
jenigen schuldeten, der sie so große Unbill zufügen
wollten.
Während er ihr Ehre, Gesundheit, Frieden und
wahrscheinlich auch den Lebensunterhalt raubte und
dafür von ihr Stunden ungeheuchelter, wenn auch
nur sinnlicher Wonnen entgegennahm, wurde sie
von ihr vor Gefängnis, Hunger und noch tieferem
Falle geschützt.
Und zum Lohne dafür erwuchs Käthe hier in der
Stille des Bodenverschlages nur schnöder Verrat und
bittere Herzenstäuschung.

319
Rosa war ganz nach Johanns Geschmack, weder
wählerisch in Scherzen, noch spröde und ablehnend
gegen kühne Anspielungen, die von seinen Lippen
fielen.
Und, sonderbar, mit Käthe war er doch schon so
lange bekannt; immer aber fühlte er sich ihr gegen-
über so lächerlich eingeschüchtert, während Rosa
ihn sogar ermutigte ...
Als er scherzend sich an sie schmiegte und den
Arm um sie schlang, entwand sie sich ihm nicht,
sondern zückte nur leicht die Achseln ...
Augenscheinlich also kannte sie das Leben und
wußte, was dazu gehört...
Inzwischen tummelte sich — unter ihnen — Käthe
beim Kochen in ihrer Küche und öffnete nur ab und
zu die Tür, um frische Luft hereinzulassen.
Fast erstickte sie im Dunste der Kochtöpfe
und ihre Mattigkeit nahm immer zu. Immer empfind-
licher wurde sie gegen alle Gerüche und die der
Speisen bereiteten ihr eine wahre Pein. Was mit ihr
geschehen, konnte sie gar nicht begreifen,
Oft stand sie da, wie von Sinnen und griff sich
bald nach dem Herzen, welches bei jeder Erregung
gewaltig klopfte, bald nach den Zähnen, die ihr wie
verlängert erschienen und aus den schmerzenden
Kiefern hervortraten.
Trotzdem arbeitete sie mit verdoppeltem Eifer und
suchte in körperlicher Anstrengung Linderung in all
den kleinen Leiden, die sie beständig quälten.

320
So verrannen schnell die Tage, ohne eine Ver-
änderung zu bringen, außer Käthes häufige Aus-
flüge nach dem Boden und Johanns ebenso fleißige
Besuche bei Rosa.
Als Käthe den Geliebten öfters dort antraf, wie
er in dem Verschlag auf Rosas Strohsack saß und
gemütlich mit ihr plauderte, freute sie sich aufrichtig
über diesen Beweis seines guten Herzens und dankte
ihm sogar dafür.
Er aber schrie sie so heftig an, daß sie darob
ganz verdutzt war. Wie konnte er sich darüber nur
so aufregen, daß sie sich um die Unterhaltung ihrer
Freundin kümmerte!
Als sie ihm dies vorwerfen wollte, lief er ärger-
lich fort vom Boden und murmelte nur vor sich hin:
„Verdammtes Frauenzimmer!“
Tiefbekümmert wandte sie sich zu Rosa. Eben
hatte sie ihr Fleischbrühe gebracht, welche die
frühere Kellnerin gierig genoB.
Etwas hatte sie sich schon wieder gekräftigt bei
der warmen Kost, die Käthe ihr brachte und dem
kalten Aufschnitt und dem Schnaps, den Johann ihr
heimlich zusteckte. Daher sah sie auch gar nicht
übel aus und Käthe wusch und plättete ihr öfters das
Rosakleid, in dem sie gekommen war.
Allmählich wurde es auch wärmer auf dem Boden
und der Aufenthalt dort war nicht mehr so unan-
genehm.
Rosa schien sogar ihr Versteck förmlich lieb-

21 Käthe 321
gewonnen zu haben. Denn sie erwähnte niemals ihre
Zukunftspläne.
Käthe hatte jedoch das Gefühl, so könne es nicht
länger bleiben und der Boden nur ein vorübergehen-
der Zufluchtsort für ein junges, gesundes Mädchen
sein, Gleichwohl sagte sie der Freudin nichts davon,
aus Besorgnis, sie zu verletzen und wieder jenen
Strom von Schmähungen von Rosas Lippen herbei-
zuführen.
Nach wie vor brachte sie ihr also das Essen,
welches sie sich nicht ohne große Überwindung vom
Munde absparen mußte. Denn mit ihr war abermals
eine große Veränderung vorgegangen. Die seit dem
Herbste sie quälende Hinfälligkeit hatte fast ganz auf-
gehört und dafür sich ein förmlicher Heißhunger ein-
gestellt, der fast schmerzhaft war, wenn sie ihn nicht
befriedigen konnte.
Immer bleicher wurde sie vor Hunger und wankte
in ihrer Küche herum wie ein Haustier, dem man
nicht ausreichendes Futter reicht. Alle Knochen
nagte sie ab, kaute harte Brotrinden und Kartoffel-
schalen und kaufte für ihre „Marktgroschen“ sich
Semmeln und Rauchfleisch, Heringe und Gurken, aber
alles vergebens, als berge sie in sich ein Tier, welches
alles verschlang und immer noch mehr verlangte.
Trotzdem verfiel ihr Gesicht und die Haut am
Halse dehnte sich so aus, daß fast alle Adern.
darunter zu sehen waren.
Als Johann diese Veränderung bemerkte, sagte er

322
mit dem manchen Männern eigentümlichen Mangel
an Zartgefühl ihr das geradezu ins Gesicht.
Zu dem körperlichen Leiden aber gesellte sich bei
der Ärmsten auch noch das seelische. Wie beim
Kochen, Waschen und Wassertragen, so litt sie an-
gesichts der Gleichgültigkeit Johanns, die von Tag
zu Tag zunahm. Jetzt suchte er sie nicht mehr im
Keller und in allen Treppenwinkeln ... Manchmal
grüßte er sie nicht einmal, wenn er ihr begegnete
und wandte absichtlich den Kopf ab.
Mit weiblichem Instinkte fühlte sie diese Verände-
rung und bemühte sich, ihm mehr als bisher zu ge-
fallen.
Früher überließ sie sich sogar nur ungern seinen
Liebkosungen und war niemals leidenschaftlich, son- -
dern wandte, wenn er sie in seine Arme schloß, fast
mit Widerwillen das Gesicht ab vor seinem heißen
Atem. Heute wäre sie gern mit allem einverstanden,
nicht etwa um ihretwillen, sondern nur um jenes
frühere Einvernehmen mit dem Geliebten wiederher-
zustellen, wie es gegenseitig ausgetauschte Wonnen
schaffen.
Ohne viel darüber nachzugrübeln, fühlte sie nur,
daß es „aus sei“ zwischen ihnen und wollte das zer-
rissene Band wieder anknüpfen.
Leider wußte sie nicht, wie dies anfangen. All
ihre besten Wünsche scheiterten an Johanns eisiger
Gleichgültigkeit und sein letztes Urteil über ihr Aus-
sehen schmetterte sie vollends nieder.
In ihrer Ohnmacht quälte sie das Gefühl, daß sie

21* 323
den Geliebten verloren und kein Mittel mehr habe,
ihn wieder zu gewinnen.
Endlich beschloß sie, sich Rosa anzuvertrauen.
Diese aber, anstatt ihr guten Rat zu geben, lachte sie
nur aus: „Unter solchen Umständen gibt es keinen
Rat. Laß ihn ruhig laufen und spar deine Galle. Das
ist einmal der Lauf der Welt. Erst laufen sie sich
die Hacken ab um ein Mädchen und dann lassen sie
es sitzen. So sind die Männer. Ich würde mir
darüber nicht den Kopi zerbrechen.“
Käthe aber wollte nichts wissen von jenem Lauf
der Welt. Sie so zu verlassen ohne jeden Grund,
das war doch zu grausam! ... Hatte sie doch gar
nichts verschuldet. Nur ihr Gesicht war etwas ein-
gefallen; dafür konnte sie aber doch nichts! .
„Ja, ja!“ erwiderte Rosa achselzuckend. „Weiß
der Kuckuck, was den Männern einfällt! Heut nennen
sie dich die ‚Königin der Frauen‘ und morgen einen
‚Mehlsack‘. Und dabei haben sie vielleicht schon
wieder eine andere im Kopfe!“ fügte sie kichernd
hinzu.
„Wie? Eine andere?“ rief Käthe voller Ent-
rüstung und bei ihr ungewöhnlicher Wut. „Dieser
Bestie wollte ich es anstreichen!“
Mehr konnte sie vor Aufregung nicht sprechen,
nur mit geballter Faust drohte sie dieser „anderen“
ganz wider ihr sonstiges sanites, stilles Wesen.
Rosa erhob den Kopf und blickte verwundert nach
Käthes Riesengestalt, die in dem engen Verschlage
noch riesiger erschien.

324
„Und was würdest du ihr antun?“ fragte sie die
Freundin, die sie bisher für die verkörperte Fügsam-
keit hielt und der sie solche Tatkraft gar nicht zu-
traute.
„Ich?“ schrie Käthe, die Fäuste erhebend. „Die
Augen würd’ ich ihr auskratzen, die Zähne aus-
schlagen, den Schädel zerspalten — töten würd’
ich sie!“
Die letzten Worte sprach sie leiser und sank dann
laut schluchzend auf den Rand des Strohsackes.
Jetzt verließ sie schon wieder all ihre Tatkraft,
die nur künstlich durch die unaufhörliche Qual an-
gefacht war.
Immer noch schluchzend beichtete sie Rosa haar-
klein den ganzen Verlauf ihrer Bekanntschaft mit
Johann.
Neugierig höre jene ihr zu und unterbrach sie
plötzlich mit der ungläubigen Frage: „Hattest du vor
ihm noch keinen Schatz?“
„Weißt du nicht“, rief Käthe entrüstet, „daß ich
bis dahin ein unbescholtenes Mädchen war? Nur
durch ihn ist alles so gekommen!“
Tief betroffen fühlte Rosa sich durch diese Worte.
War sie doch selbst niemals unbescholten!
So lange sie denken konnte, trieb sie sich schon
herum in allen möglichen Schlupfwinkeln mit allerlei
Gesindel.
Kathe aber brauchte nicht so zu prahlen mit ihrer
Unbescholtenheit und die Nase deshalb so hoch zu

325
tragen. O, Rosa wußte recht gut, womit sie jene de-
mütigen und in den Staub treten könne.
„Johann sagte mir“, hob sie langsam an, ohne
Käthe anzusehen, „daß er dir gegenüber gar keine
Verpflichtungen habe, weil er bei dir nicht der erste
war; er wisse recht gut, daß die Leute von dir
sagen ...“
Käthe aber ließ sie nicht aussprechen, sondern
packte sie am Arm und schüttelte sie heftig.
Wie? So etwas wagte Johann von ihr zu sagen?
Gerade er? Nicht genug, daß er ihr solche Schmach
angetan, schändete er sie obendrein vor den Leuten?
'Vergebens suchte Rosa sie zu beschwichtigen:
„Was ist dabei? Die Männer sind alle nichts wert,
das weiß doch jedes Weib!“
Davon wollte Käthe durchaus nichts wissen. Ob-
gleich sie schon als Kind all das Elend gesehen,
welches solch armes Geschöpf wie sie durchzu-
machen hat, lehnte sie sich dennoch voller Verzweif-
lung gegen das sie bedrohende Unglück auf.
Die Beschimpfung, die Johann ihr zugefügt, zer-
riß ihr das Herz und erschütterte ihr ganzes Wesen.
Sie sollte nicht unbescholten gewesen sein und
vor ihm schon einen Schatz gehabt haben! Nein,
das war zu viel, zu viel!
Rächen aber würde sie sich, sobald sie die Nichts-
würdige findet, die Johann so in die Augen lief und
ihr den Geliebten abspenstig machte!
Jawohl! Denn Johann versprach ihr die Ehe und
wird gewiß Wort halten trotzalledem!

326
Und voller Verzweiflung sprach sie immer so
weiter, nur unterbrochen vom Schluchzen, welches
sich ihrer Brust entrang.
Dabei achtete sie gar nicht auf Rosa, die nur
höhnisch die Achseln zuckte, sondern ergoß all ihr
Herzeleid, welches sie seit der Stunde ihres Falles
in sich trug, in laute Klagen.

etzt richtete Käthe all ihre Gedanken nur auf die


Auffindung der neuen Geliebten Johanns; sie
wollte gehörig mit ihr abrechnen.
War sie doch fest überzeugt, daß Johann, wenn
sie jene aus dem Wege räume, sein Versprechen
halten und nur sie zum Altar führen werde und daß
nur die Nichtswürdige und nichts anderes ihn davon
abhalte.
„Bald schlägt ihre Stunde!“ schrie sie in ihrer
Aufregung, als sie die zum Boden führende schmale
Leiter hinabkletterte.
Und wieder erwachte in ihr eine ungewöhnliche
Tatkraft zugleich mit dem Verdachte des Verrates
ihres Geliebten.
Um jeden Preis wollte sie Johann wieder für sich
gewinnen, den sie für ihr ausschließliches Eigentum
hielt. Daher spürte sie mit größtem Eifer allen seinen
Schritten nach.
Da sie genau wußte, wann er ausging, folgte sie
ihm ungesehn, um zu erfahren, wohin er gehe. Alles
aber war vergebens.

327
Vormittags ging Johann regelmäßig in die Schenke
und saß dort eine ganze Stunde und ebenso jeden
Abend.
In der Schenke gab es nicht einmal eine Kellnerin.
Nur die Wirtin selbst stand am Schenktisch und da
sie weder jung noch hübsch war, konnte sie nicht an-
nehmen, daß Johann sich mit ihr einließ.
Abgesehen von jenen beiden Stunden blieb Johann
immer zu Hause, um die Straße und den Hof zu
fegen oder das Dach auf dem Boden auszubessern,
wo immer Wäsche aufgehängt wurde.
Anfangs befürchtete Käthe immer, die Dachdecker
könnten Rosa in ihrem Versteck entdecken. Johann
aber übernahm seitdem bereitwillig allein die übrigens
nur unbedeutenden Ausbesserungen.
Käthe war ihm für diese treue Fürsorge für die .
Sicherheit der Freundin herzlich dankbar.
Und seitdem machte sich Johann um so häufiger
auf dem Boden zu schaffen, gewiß nur mit dem — ,
Ausbessern des Daches ..
Käthe aber zerbrach sich immer mehr den Kopf,
da sie nirgends ihre Nebenbuhlerin zu entdecken ver-
mochte, von deren Vorhandensein sie doch so fest
überzeugt war. —
Frauen besitzen in solcher Lage einen merkwür-
digen Instinkt, der sie warnt, wie eine innere Stimme
und der sie niemals täuscht.
Da sie außerhalb nichts entdecken konnte, wandte
Käthe ihre Aufmerksamkeit auf das Innere des
Hauses. Nichts aber vermochte sie auf die richtige
Spur zu führen.

328
Die Dienerschaft der Frau Gräfin kümmerte sich
nicht um Johann. Die Köchin war immer mit dem
Gebetbuch und der Kirche beschäftigt. Und die Zofe
zog die Aufmerksamkeit des jungen Grafen auf sich
und erfreute sich der Gunst des bleichen Jünglings.
Die anderen Mägde und Weiber im Hause waren
entweder schon zu alt oder hatten Liebhaber, denen
sie ungeteilt ihre Herzen schenkten und ganze
Schüsseln vom Mittagessen zusteckten.
Übrig blieb also nur noch Mary, die seit einiger
Zeit sich völlig verändert hatte, fortwährend hustete
und immer blasser und elender aussah.
Vor Mattigkeit schleppte sie sich kaum noch über
den Hof, ohne jede Spur von Ausgelassenheit, die
früher in ihrer ganzen Gestalt sich äußerte.
Der kurze, trockene Husten, der sich ihrer Brust
entrang, schallte dumpf wie Grabgeläute auf der
engen Hintertreppe, auf der sie, am Geländer sich
festhaltend, langsam dahinschlich.
Offenbar hatten die Nachtschwärmereien und der
fieberhafte Lebensgenuß diesen jungen Körper zer-
rüttet und den Keim einer tödlichen Krankheit in
diese Brust gelegt.
Ab und zu raffte sie sich noch wieder auf und
ging vor das Tor, um mit flotten Ulanen Brüder-
schaft zu trinken, aber nur zu bald entsank das Glas
der zitternden Hand und die großen, dunklen Augen
verhüllte ein Nebel, hinter dem das grause Gespenst
des Todes lauerte.

329
Um Johann kümmerte sie sich längst nicht mehr
und ging düster schweigend an ihr vorüber.
Allmählich ging sie auch nicht mehr aus, um
die Gesellschaft von Männern aufzusuchen, die sie
früher jeder anderen vorzog. Ein dumpfer Groll
schien ihre Brust zu erfüllen gegen alle Männer,
denen sie nach und nach in die Arme gesunken war,
ohne Sorge um das Morgen und darum, was später
aus ihr werden solle.
Mit ihnen hatte sie die Schätze ihrer Jugend und
Gesundheit vergeudet, indem sie mit ihren Küssen
und Liebkosungen nicht kargte. Ohne Bedenken
hatten sie ihre Jugendkraft erschöpft und sie dafür
noch ausgelacht oder ihr einen silbernen Ring und
dergleichen Tand für alle ihre Zärtlichkeit gereicht.
Heute, da sie allein dastand in ihrem Jammer,
bereute sie bitterlich ihre Kraftvergeudung und ein
tödlicher Haß erwachte in ihr beim Anblicke ihrer
früheren Liebhaber. Sie alle waren und blieben frisch
und gesund und fähig zu immer neuen Lebens-
genüssen, während sie selbst den welken Körper nur
mühsam fortschleppte und beständiger Husten sie in
schlaflosen Nächten quälte.
Jetzt sah sie Käthe schon mit anderen Augen an.
Fest überzeugt von deren bisheriger Unbescholten-
heit, ahnte sie, welche Wendung ihr Verhältnis mit
Johann genommen und wußte im voraus, daß dieser
sie früher oder später sitzen lassen werde, während
sie von Käthe nicht annehmen durfte, daß diese den
Geliebten jemals aufgeben könnte,

330
Nach ihrer langjährigen Praxis kam sie zu folgen-
dem Schlusse: Wenn ein Weib den Liebhaber nicht
rechtzeitig aufgibt, wird es nur zu bald im Stiche
gelassen. Da Käthe dies versäumte, wurde sie sicher
verraten.
In ihrer Verachtung der Männer sah Mary dies
alles voraus und blickte nach Käthe mit einem ge-
wissen Mitleiden. Trotz allen Grolles, den sie früher
gegen den „Mehlsack“ hegte, bemerkte sie die Ver-
änderung in Käthes Aussehen und erriet deren Ver-
anlassung. -
Dazu kam noch, daß sie zufällig Rosa in Johanns
Armen überrascht hatte und mit seltsamer Veränder-
lichkeit empfand sie aufrichtige Teilnahme an der
Verratenen.
Wiederholt schon wollte sie sie warnen und ihr
andeuten, wo Johanns neue Liebste zu finden sei.
Das jedem Weibe angeborene Zartgefühl aber ließ
sie nicht zu Worte kommen.
Ein Vorfall jedoch regte sie dermaßen auf, daß
sie sich entschloß, die Katastrophe herbeizuführen.
Seit einiger Zeit wurde Johann gegen sie immer
aufbrausender. Als sie einst nur mühsam einen Eimer
mit Wasser die Treppe hinauftrug, vergoß sie dabei
soviel, daß die Stufen teilweise überschwemmt
wurden.
Wütend fiel Johann über sie her und überhäufte
die frühere Liebste mit Gott weiß was für Schmäh-
worten.

331
Sie aber preßte die Lippen zusammen und schlich,
am Geländer sich festhaltend, langsam die Treppe
hinauf,
Bitterer Groil aber erfüllte ihr Gemüt. Was hatte
sie davon, daß sie sich mit den Männern einließ!
Ihre Gesundheit hatte sie zugesetzt und hörte dafür
nicht einmal mehr ein gutes Wort. O, käme sie nur
wieder zu Kräften, dann wüßte sie schon, was
sie zu tun hätte!
Inzwischen häufte sich ihr dumpfer Haß gegen alle
Männer hauptsächlich auf Johann. Ihre anderen
Liebhaber sah sie fast gar nicht mehr, da sie nur
selten ausging. Er aber bewegte sich stets in ihrer
Nähe und verkörperte in ihren Augen einen Teil ihres
gegenwärtigen Unglücks.
Sein roher Überfall und die Schmähungen, mit
denen er ihr vorwari, wozu er selbst sie verleitet,
erschienen ihr als die größte Ungerechtigkeit. Daher
wandte sie ihre volle Teilnahme Käthe zu, die so
bleich und leidend aussah.
Seit sie selbst erkrankt war, fühlte sie um so tiefer
fremdes Leid. Wie sie selbst durch die Männer an
Kräften verfiel, so wurde auch Käthe durch dieselbe
Ursache, geschwächt, und obendrein noch verraten.
Nein! Dies konnte sie nicht gleichgültig mit ansehen!

Eines Morgens trafen sich am Brunnen die beiden


Mädchen, die noch vor Jahresfrist von Gesund-
heit und Jugendkrait strotzten.

332
Rings lichelte der Friihling mit frischem Griin
und goldenem Sonnenglanz. Hinter dem Zanne, der
den Hofraum von dem etwas abschüssigen Platze
trennte, sproßte der junge Rasen, nur leicht mit
Straßenstaub bedeckt. In der Ferne exerzierten die
Soldaten in schnurgraden Linien oder seltsamen
Zickzackwendungen.
Mary sah zuerst die früher ihr so Verhaßte. Im
hellen Sonnenschein erschien deren Gesicht noch
fahler und eingefallener.
Seit dem Auftritt auf dem Boden hatten die beiden
nicht mehr mit einander gesprochen.
Auch Käthe bemerkte nicht minder die Verände-
rung in Marys Gesicht und in beider Herzen erwachte
daher gegenseitiges, weibliches Mitgefühl.
Nur mühsam ergriff Mary den Schwengel, uni
etwas Wasser zu pumpen, bis ein heftiger Husten-
anfall sie daran verhinderte. Ein Weilchen lehnte sie
am Brunnenrohr, gesenkten Hauptes, und der krank-
hafte Husten verzerrte ihr Gesicht.
Unwillkürlich näherte Käthe sich ihr, um sie sanft
beiseite zu schieben und ihr das Wasser einzu-
pumpen. Schweigend nahm Mary diese Hilfe an und
dies erleichterte ihr wesentlich die Annäherung, die
sie so sehnlichst wünschte.
Nachdem Käthe den Eimer gefüllt, stellte sie ihn
fort und schob an seine Stelle den ihrigen, um auch
ihn zu füllen. Dazu fehlte ihr aber schon die Kraft
und das Herz schlug ihr so gewaltig, daß sie, um ein
wenig auszuruhen, sich niedersetzen mußte.

333
„Fräulein —“,

unterbrach zuerst Mary das
Schweigen, „Sie sind auch nicht gesund und waren
doch so frisch und kräftig, als Sie hierher kamen.“
Erstaunt erhob Käthe das Haupt.
War dies wirklich Mary, die sie so freundlich an-
redete? Von der sie nur Schmähungen und boshafte
Sticheleien zu hören gewohnt war?
Obgleich sie diese Veränderung kaum begreifen
konnte, ging sie nicht näher darauf ein, sondern sah
nur vor sich dies freundliche Gesicht, hörte nur diese
sanfte Stimme und wandte sich hochbeglückt und
alle erlittene Unbill vergessend an ihre frühere
Feindin.
Auch sie war jetzt so unglücklich, daß jedes
freundliche Wort sie rührte und mit Dankbarkeit er-
" füllte,
Mary bemerkte den Eindruck, den ihre Anrede
auf Käthe gemacht und ließ daher diese Unterhaltung
nicht fallen.
„Fräulein“, fuhr sie fort, sich ihr nähernd, „Sie
sind hier doch sehr herunter gekommen, und zwar
durch eigene Schuld. Das kommt davon, wenn ınan
sich in so einen vernarrt. Das nimmt immer solch
ein Ende!“
„O, nein“, entgegnete Käthe, um sich gegen diesen
Vorwurf zu verteidigen. „Vernarrt hab’ ich mich in
keinen; nur so matt wurde ich und weiß selbst nicht
warum. Vielleicht hat mich jemand behext....“
„Jawohl“, flüsterte Mary mit ironischem Lächeln.
„Derselbe Satan, der uns alle behext. Für mich ist

334
dies nichts Neues; Sie aber, liebes Fräulein, trifft es
zum erstenmal, das weiß ich, nur wundert es mich,
daß Sie nicht in Ehren Ihren Ersten fanden, sondern
von vornherein solchem Nichtsnutz in die Hände
fielen, wie dieser Johann! Wer nicht fest im Sattel
sitzt, fällt leicht vom Pferde.“
„Sie scherzen, Fräulein“, erwiderte Käthe. mit ge-
zwungenem Lächeln und nahm ihren Eimer, um sich
zu entfernen. „Johann ist nicht daran schuld, nur
durch die schwere Arbeit bei Tag und Nacht im
dritten Stockwerk bin ich so herunter gekommen.“
Mary aber hielt sie am Rocke fest.
Obgleich selbst matt und elend, wollte sie dennoch
einer anderen als Werkzeug ihrer Rache dienen. Und,
wer weiß, vielleicht erbarmt sie sich doch noch über
Käthe und öffnet ihr die Augen, um ihr Johanns Ver-
rat zu zeigen in seiner ganzen Nacktheit. Sind doch
die Launen nervöser Weiber ganz unberechenbar!
„Fräulein, haben Sie denn nie bemerkt, daß Johann
Sie vernachlässigt, daß er also eine andere haben
muß, der er nachläuft?“
Bei dieser Frage blieb Käthe plötzlich stehen.
Freilich hatte sie längst sein kühles Benehmen wahr-
genommen und dieser Gedanke hatte sie Tag und
Nacht gequält!
Mary aber mußte näheres davon wissen und
konnte ihr sicher die volle Wahrheit sagen.
Hastig also wandte sie sich zu der früheren Neben-
buhlerin, die mit zitternden Händen noch immer die
Falten ihres Rocks festhielt. Mit heftigem Rucke riß

335
sie sich los und trat dicht vor sie hin, so daß ihr
heißer Atem sie anwehte.
„Fräulein“, flüsterte sie mit fast stockender
Stimme. „Wenn Sie Gott im Herzen tragen, bitte,
sagen Sie mir: Wo steckt diese Nichtswürdige?
Überall schon sucht’ ich sie, lief ihm nach auf die
Straße und in die Schenke und konnte sie nicht
finden.“
Dabei atmete sie schwer und das Herz schlug ihr
so gewaltig, daß alle Pulse im Kopfe, an den Schläfen
und in den Ohren klopiten.
Unverwandt blickte Mary sie an und tiefes Mit-
leid prägte sich auf ihrem bleichen Gesichte aus.
Gleichwohl erwiderte sie nichts und schien noch mit
sich zu ringen.
Käthe aber bat immer flehentlicher und kniete fast
vor ihr nieder, um der auf dem Brunnenkasten
Sitzenden sich noch mehr zu nähern.
„Sie wissen nicht, Fräulein!“ rief sie, die Fäuste
ballend, „daß Johann mir die Ehe versprochen hat.
Und gewiß hätte er dies gehalten, wäre nicht die
Schändliche, die ihn mir geraubt hat! Ich aber hab
an ihn, als an meinen Verlobten, ein heiliges Anrecht.
Sonst hätte ich mich niemals auf solche Liebschaft
eingelassen und mich der Verachtung der Leute aus-
gesetzt. Ach, goldenes Fräulein, sagen Sie mir,
wen er jetzt hat. Dann will ich mir schon Rat
schaffen und ihn mir wieder gewinnen. Nur wissen
muß ich, wer dieandereist...“

336
Fast raste sie vor Verzweiflung.
Diesen Morgen war sie hungriger als jemals und
dies versetzte sie ohnehin in förmliche Wut.
Noch auf dem Höhepunkt ihrer Aufregung flehte
sie Mary an, ihr das Geheimnis zu offenbaren. Hätte
iene ihr dies noch länger abgeschlagen, sie wäre auf
sie losgestürzt, um sie mit Gewalt dazu zu zwingen.
Zu diesem Äußersten ließ Mary es jedoch nicht
kommen. Jetzt war sie entschlossen, ihr alles zu
sagen. Nachdem Käthe ihr gestanden, Johann habe
ihr die Ehe versprochen, war ihre Geduld zu Ende.
Obgleich sie wußte, daß Männer nur zu oft so etwas
versprechen und nicht halten, empörte sie dennoch
tief das Verhalten Johanns, der die leichtgläubige
Käthe ins Verderben gestürzt hatte,
Jetzt, nachdem zugleich mit dem körperlichen
Leiden sich ihr Seelenzustand verändert hatte, nach-
dem sie anders über die Frauen urteilte, die Männer
aber umso glühender haßte, gelangte sie zu der
festen Überzeugung, daß Käthe ganz uubescholten
war, bis Johann sie so schändlich betrogen hatte.
Daher beschloß sie, diesen nicht länger zu schonen
und zeigte, zu der vor ihr knieenden Käthe sich
herabneigend, hinauf nach dem kleinen dreieckigen
Bodenfenster auf dem grauen Dache.
„Ja, Fräulein“, hob sie hastig an, „die dort oben
im Verschlage sitzt und nur ißt und trinkt, was
Johann ihr Tag für Tag hinaufbringt, ist keineswegs
Ihre Freundin. Das hätten Sie gewiß sich nicht

22 Käthe 337
träumen lassen, daß die beiden sich herbeiließen,
dort einen Roman aufzuführen!“
Alles Blut stieg Käthe zu Kopie.
Wie? Rosa? Das war doch rein unmöglich!
Also, während sie sich das Brot vom Munde ab-
sparte, um sie nur vor Schmach und Schande zu
retten, raubte jene ihr dort den Geliebten, den Ver-
lobten? Nein! Das konnte nur eine Lüge sein! Ent-
weder log Mary, oder sie täuschte sich nur! Das
wäre doch zu nichtswürdig, zu gemein!
Mary aber wünschte jetzt, ihr zubeweisen, daß
sie sich nicht irre und nur zu gut wüßte, was sie sage.
Und mit der ganzen, grausamen Offenheit erzählte
sie Käthe alles, was sie gehört und selbst gesehen im
Verlaufe der letzten Wochen.
Übrigens möge Käthe sich nur verstellen und sorg-
sam acht geben, dann werde sie selbst die Wahrheit
entdecken und sich überzeugen, daß Mary durchaus
nicht lüge.
Käthe aber hörte schon garnichts mehr. Jetzt
glaubte sie alles, wie Schuppen fiel es ihr von den
Augen.
Jetzt erinnerte sie sich atı so mancherlei und konnte
sich erklären, weshalb Rosa den Boden durchaus
nicht verlassen wollte und weshalb Johann immer
davonlief, wenn sie ihn bei der Freundin antraf!
Und sie, sie selbst hatte Rosa in das Haus einge-
führt und Johann gebeten, ihr zu erlauben, daß sie
auf dem Boden schlafe.
Und plötzlich, wie ein verwundetes Wild, sprang

338
sie auf und lief, ohne auf Marys Zuruf zu achten, mit
dem diese sie beruhigen wollte, die Treppe hinauf,
wie rasend, und zerriß sich die Kleider am Geländer
und an der Mauer und zerraufte sich das Haar ...

Wie ein Sturmwind sauste Käthe auf den Boden,


grade los auf den Verschlag.
Mary hatte nicht gelogen ...
Obgleich der Verschlag verschlossen war, sah
Käthe durch eine Spalte ganz deutlich Rosa vertrau-
lich an Johanns Brust geschmiegt. Sorglos saßen sie
beide da, ganz vertieft in ihr Kosen, von dem sie in
ihrer fast krankhaften Leidenschaft niemals genug
haben konnten.
Eine gewaltige Erschütterung der ganzen Bretter-
wand aber unterbrach sie. Eine Faust schlug krampf-
haft an die dünnen, schlecht gefügten Bretter.
Beide sprangen auf, wie vom Blitz von einem
Gedanken getroffen.
Das konnte niemand anders als Käthe sein! In
heller Verzweiflung klammerte sie sich an die Bretter
und rüttelte daran herum, um die Wand einzureißen
und in das Innere des Verschlages einzudringen.
"Ein markerschütternder Schrei, wie der eines
wilden Tieres, entrang sich ihrer Brust und hallte in
voller Schärfe wider auf dem leeren Boden.
Johann entschłoB sich sofort, den Verschlag zu
öffnen, da er mit Recht befürchtete, Käthes Lärm
und Geschrei könne die hierdurch erschreckten Mieter

22* 339
herbeiführen. Also riB er die Tür auf und schlüpfte
hinaus zu Käthe, die halb von Sinnen mit blaurotem
Gesicht und zerrissenen Kleidern mit verdoppelter
Wut auf ihn losstürzte.
Als er die Hände vorstreckte, um sich vor ihren
Faustschlägen zu schützen, stieß sie ihn mit fast über-
menschlicher Kraft zurück und stürmte in den Ver-
schlag, wo die vor Angst zitternde Rosa vor ihr
stand.
Im Nu packte sie die falsche Freundin bei den
Haaren und zerrte sie zu Boden. Die Verzweiflung
und die erlittene Enttäuschung verliehen ihr neue
Kräfte. Ein Hagel von Faustschlägen fiel auf Rosas
Kopf und Rücken.
Käthe verlor alles Maß und Bewußtsein. Der ganze
Seelenschmerz der letzten Tage äußerte sich bei ihr
mit neuer Gewalt.
Jetzt hatte sie die „Andere“, die sie Tag und
Nacht gesucht, unter den Händen, und I eb en d sollte
sie nicht davon kommen. Erfüllen wollte sie ihre
Drohung und sie — tóten ...
Weithin schallte Rosas lautes Jammern. Nur mit
Miihe gelang es endlich Johann, so stark er auch
war, Käthe von ihrem Opfer loszureiBen. Ihr Wut-
geschrei steigerte sich zu fast tierischem Brüllen.
Unter der Wucht ihrer Qualen verwandelte sich
die sanfte Käthe zur blutdürstigen Hyäne und machte
ganz den Eindruck eines reißenden Tieres, welches
in der eigenen Höhle gereizt wurde.
Nur zu bald füllte sich der Boden mit Neugierigen.

340
Das Geschrei der beiden Mädchen durchschallte
das ganze Haus bis auf den Hof. Dazu kam noch,
daß Mary, als sie Käthe die Treppe hinaufeilen sah,
sofort vermutete, die Sache werde nicht gut ab-._
laufen. Daher liefen alle Weiber und Mädchen aus
dem Hause dort zusammen.
Niemand aber wagte, sich dem Verschlag zu
nähern, in dem sich ein Knäuel von drei einander
mißhandelnden Menschen herumwälzte.
Endlich gelang es Johann, Käthe zu packen und
mitten auf den Boden zu schleppen.
Nicht ohne Beschämung sah er den ganzen
Schwarm neugieriger und vor Schreck zitternder
Weiber am Eingang stehen und mit weit geöffneten
Augen die mit Blut überströmte Käthe anstarren, die
mit zerfetzten Kleidern dalag. .
Rosa hatte in der Abwehr Käthes Faustschläge
nach Kräften erwidert und in der Not sich auch der
Nägel und Zähne bedient.
Auch Johanns Anzug war ganz zerfetzt und im Ge-
sicht trug er Beulen und Blutspuren. Jetzt über-
mannte ihn die Wut und das unbezähmbare Ver-
langen, sie vollends tot zu schlagen.
Wie? Sie wagte, ihn zum Gespött der Leute zu
machen? Dieser „Mehlsack“, von dem er nicht
wieder loskommen Konnte?
Und wie rasend warf er sich auf sie, packte sie am
Halse und schlug sie mit den Fäusten auf den Kopf,
mit dem Rufe: „Verdammtes Frauenzimmer! Dich
soll ich heiraten? Da hast du dein Brautgeschenk!“

341
Sie aber rührte sich nicht; die Hände sanken ihr
herab und den Kopf senkte sie bald auf den rechten,
bald auf den linken Arm.
Unter Schluchzen und Tränen flüsterten nur leis
ihre Lippen: „Ach, Johann, mißhandle mich doch
nicht so arg!“
Dieser jedoch schien nicht mehr zu hören, noch
zu sehen.
Daß sie all seine Roheit so ruhig hinnahm, fachte,
anstatt ihn zu besänftigen, seine Wut nur noch
stärker an.
„Wieder spielst du die Jesuitin! Ich aber weiß,
wie ich dir das austreiben kann ...“
Dies alles sah der Weiberschwarm an der Tiir mit
an, wuBte aber nicht, was die Veranlassung zu diesem
Auftritte war.
Rosa schloß sich inzwischen wieder ein im Ver-
schlage, warf sich auf den Strohsack und verbarg
sich vollständig im Schatten.
Die Weiber sahen also nur Johann immer auf
Käthe losschlagen und wußten, daß im Verschlage
noch ein Frauenzimmer stecke, nicht aber, wer dies
war und woher es kam.
Nachdem Johann noch mit einigen Fußtritten seine
Rache an Käthe befriedigt, die halb ohnmächtig vor
ihm lag, trocknete er sich das blutige Gesicht und
ordnete seine Kleidung.
Dabei murmelte er noch: „Da hast du's, du
Jesuitin!“ als er plötzlich verstummte und stirn-
runzelnd nach der Bodentür blickte.

342
Durch den Weiberschwarm dort drangten sich
zwei Männer in Uniform mit blanken Knöpfen, mit
Säbeln an der Seite und dem Polizeischild auf der
Brust.
im blinden Eifer war Mary zur Polizei gelaufen,
weil sie in der Einmischung der Obrigkeit die beste
Lösung dieser Angelegenheit sah.
Ängstlich prallten die Weiber auseinander und die
Polizisten schritten mitten auf den Boden.
Anfangs nicht wenig betrofien, kam Johann bald
wieder zur Besinnung, Die Polizisten waren seine
guten Freunde und tranken längst mit ihm Brüder-
schaft, trotz ihrer grundverschiedenen Ansichten.
Das Gläschen glich dieselben aus und sie Kniipften
Freundschaft an mit dem ewig widersprechenden
Portier. Weil jedoch hier ein „Skandal“ vorlag und
sie die Vertreter der Obrigkeit waren, mußten sie den
Gesetzen genügen und irgend jemand verhaften.
Dies war ganz selbstverständlich.
Sofort wußte Johann, was er zu tun habe. Hastig
zeigte er nach der noch immer daliegenden Käthe
und fügte hinzu, dies Frauenzimmer sei betrunken
auf den Boden gekommen, habe mit ihm Streit an-
gefangen und um sich geschlagen.
„Herr Kommissar, nehmen Sie die Bestie mit ins
Loch, damit sie sich ausnüchtere, sonst läßt sie hier
keinen in Ruhe.“
Mit diesen Worten wandte er sich an den älteren
Polizisten, dessen schwache Seite er mit jenem, ihm
nicht zukommenden Titel traf.

343
In seiner Eitelkeit geschmeichelt, nickte er dem
Portier freundlich zu und befahl Käthe mit einem
Fußtritte, sich sofort zu erheben.
Schweigend gehorchte sie, raffte sich mühsam auf,
und wandte nur noch Johann das blutiiberstrómte
Antlitz zu, auf dem jede Spur der früheren Wut ver-
schwunden war.
Tiefster Seelenschmerz prägte sich in ihren Augen
aus, als die Polizisten sie umringten und nach der
Tür stießen. Natürlich wußte sie, daß man sie zur
„Polizei“ führe, mitten unter Landstreicher und aller-
lei Gesindel, als eine Betrunkene, Verworfene, die
man auf der Straße aufgegriffen. Und in ihrer Seelen-
angst und dem Rest ihres guten Glaubens an das
Herz des Mannes, dem sie alles geopfert, was sie
im Leben besaß, streckte sie die Arme aus, als suche
sie Hilfe und Rettung bei dem, der sie soeben noch
so unbarmherzig mißhandelte.
„Johann!“ rief sie mit bebender Stimme. „Laß
mich nicht mitnehmen auf die Polizei. Das überleb’
ich nicht!“
Dann erstarb ihre Stimme und ihr Schluchzen ver-
stummte auf dem Boden.
Mit roher Gewalt, mit Püffen und Fußtritien
stießen die Polizisten sie durch die gaffenden Weiber.
Noch an der Schwelle wandte sie Johann das
schmerzzuckende Gesicht zu.
Dieser aber wischte sich noch immer das Blut aus
den Wunden und zeigte in den Augen und den fest
zusammen gekniffenen Lippen den finsteren Groll

344
eines Mannes, der die Gemeinheit seines Handelns
selber einsieht, seine Schuld aber trotzdem nicht ein-
gestehen will.
Wohl hörte er Käthes flehenden Ruf und dieser
drang ihm anfangs ins Herz. Schnell aber besann er
sich und blinder Haß trat an die Stelle der augen-
blicklichen Herzensregung.
So stand er mitten auf dem Boden, blind und
taub gegen alles, was um ihn her vorging.
Noch auf der Treppe hörte Käthe hinter sich das
Zischeln der Weiber, ihrer Todfeindinnen, und deren
spöttische, zweideutige Bemerkungen.
In der weitgeöffneten Küchentür stand Frau Julia,
bleicher als sonst vor Schreck, wenn auch noch halb
im Schlafe. |
Als Kathe sie erblickte, schrie sie auf vor Freude.
O! Die Herrin wird sie schon schützen vor der
Polizei und wird nicht zulassen, daß man sie fort- '
schleppt.
Und voller Vertrauen riß sie sich los von den
Polizisten, um schleunigst in die Küche sich zu retten.
Leider aber täuschte sie sich.
Julia wich scheu zurück und verschloß die Küchen-
tür, zitterad vor Angst und Ekel vor Käthes mit
Wunden bedecktem Gesicht.
Vergebens rüttelte Käthe unter lautem Stöhnen an
der Türklinke. Frau Julia schob den Riegel vor und
vernichtete ihre letzte Hoffnung.
Schon packten die Polizisten Käthe an.den Armen
und zerrissen ihr dabei vorn die Jacke bis zu den

345
Ärmeln. Über die blendend weiße Haut rann dunkles
Blut ihr vom Halse und aus dem Gesicht herab.
Jetzt wehrte sie sich nicht mehr, sondern schritt
allein bis zur Haustür mit dem bitteren Gefühl, daß
ein Weib im Unglück nirgends Schutz finde.
Und als draußen die Frühlingssonne ihre goldenen
Strahlen über sie ergoß, bedeckte sie nur ihr Antlitz
mit den Händen, um Frühling, Sonne und Menschen
gar nicht zu sehen. Denn all dies heitere Leben um
sie her schien all ihre Not und Verzweiflung nur zu
verhöhnen.
Wie aus der Erde gewachsen, umringte sie die
Straßenjugend.
An den Ladentüren erschienen die Trödler. Vor-
übergehende blieben stellen und begafiten die
lärmende Menge, die in breitem Strom die ganze
Straße überflutete.
Eine nervöse Dame schloß schnell das Fenster und
zog die blauen Vorhänge vor. Aus dem ersten Stock-
werke bemerkte sie erst in der Menge das blutig ge-
schlagene, zerlumpte Weib und fiel beinah in Ohn-
macht. Mit dem Frühstücken war es heute vorbei.
Inzwischen waren die Polizisten nicht müßig und
fühlten sich vollständig als Helden. Weder mit
drohenden Blicken, noch mit Faustschlägen und
Püffen verschonten sie die vor Schwäche fast um-
fallende Käthe.
Die Straßenjugend aber verspottete die Arme und
zupfte sie am Rocke.

346
Unsicher schwankte sie mitten hindurch und sah
vor Zittern und Tränen kaum noch den Weg. Gleich-
wohl hörte sie alles, fühlte jedes Zupfen und war sich
vollständig über ihre Lage klar.
Die Frühlingssonne bestrahlte ihr gesenktes Haupt,
von dem das üppige, dunkle Haar, hier und da mit
Blut verklebt, herabwallte.
Mit ihrem riesigen Wuchse überragte sie die ganze
Menge und über dieser Flut von Menschenköpfen
erhob sich, wenn auch mißhandelt und gesenkt, ihr
anmutig geformtes Haupt.
Vorüberfahrende Kutscher zeigten lachend auf sie
mit den Fingern und überhäuften sie mit einem
Hagel von Schimpfworten.
Einer derselben schlug sie sogar mit der Peitsche
auf den Rücken,
Erst als man sie in das finstere Tor des Polizei-
gebäudes hineinstieß, fühlte Käthe sich erleichtert.
Die dunkle Wachtstube war voller Schmutz und
übler Ausdünstungen und dabei dicht bestellt mit
Schränken, Tischen und Stühlen, auf denen Papier-
vorräte, Gänsefedern und Tintenfässer herumlagen
oder standen,
Zwei auf dem Markte aufgegriffene Bauern, ein
zerlumptes, bleiches und abgemagertes Weib und
ein etwa vierzehnjähriger Łehrjunge erfüllten die
nicht allzu geräumige Wachtstube.
Durch die angelehnte Tür sah man in ein helles,
sauberes Zimmer, in dem gewöhnlich der wacht-
habende Beamte, der Kommissar, saß.

347
In der Wachtstube herrschte tiefes Schweigen.
Dazu zwang die Anwesenden schon die Gegenwart
einiger Polizisten.
Die Bauern standen mit der Mütze in der Hand
demiitig da, blickten aber mit dem Hasse vollblütiger
Russen nach ihren Gegnern. Das bleiche Weib starrte
gleichgültig nach dem schmutzigen Fußboden. Und
der Lehrjunge schnüffelte ab und zu mit der Nase,
als sei er an ein Taschentuch nicht gewöhnt.
Endlich betrat der Kommissar die Stube.
Als Käthe die stolze Männergestalt vor sich sah
zitterte sie vor Angst, ihr letztes Stündlein sei ge-
kommen, so gewaltigen Eindruck machte auf sie die
von einem Polizeibeamten untrennbare Würde.
Auf den Wink eines Polizisten erhob sie sich aus
dem dunklen Winkel, entsetzlich anzusehen mit den
Blutspuren auf Hals und Gesicht.
Zwar wandte sie sich ab, als sie vor dem Kom-
missar stand. Dieser aber schauderte förmlich
zurück und griff schleunigst nach stärkenden Pastillen.
Dann erst begann er das Verhór.
Nur leise antwortete sie, als schnüre ein Krampf
ihr die Kehle zu. Gleichwohl gab sie Namen und
Wohnung richtig an. Als sie aber nach der Ver-
anlassung des Streites und der Schlägerei gefragt
wurde, verstummte sie und starrte düster zu Boden.
Rings um sie her liefen die Polizisten und führten
immer neue Verhaftete vor. Sollte sie vor diesem
ganzen Schwarme all ihr Unglück und Elend er-

348
YA

zählen, auch Johanns Verrat und Rosas Nichts-


würdigkeit?
Die nervöse Aufregung des Kommissars erreichte
ihren Höhepunkt. Jetzt blieb dies Frauenzimmer
stumm wie ein Fisch und reizte ihn durch solchen
Trotz!
Und ohne weiteres nannte er Käthe: „Du Land-
streicherin, du Schlumpe! Hinaus mit dir!“
Dann befahl er den Polizisten, sie sechsunddreißig
Stunden ins Loch zu sperren bei Wasser und Brot.
Diese Strafe war noch ziemlich mild. Doch mußte
auf Käthes bisherige gute Führung und die daher
fehlenden Vorstrafen Rücksicht genommen werden.
Das „Loch“ war ein langes, schmales Stübchen
mit einem kleinen Gitterfenster. Dort wurden nur
diejenigen untergebracht, die nicht mit Gefängnis,
sondern mit mehrtägiger Hait bestraft waren.
Außer drei mit schadhaften Pferdedecken belegten
Pritschen, einem Kruge mit Wasser und einem
hölzernen Schemel, befand sich nichts in diesem
Raume. Durch das Fenster drang der Lärın der zu
neuem Leben erwachten Stadt.
Unter diesem Fenster saß Käthe den ganzen Tag
und die darauffolgende Nacht und starrte regungslos
mit krampfhaft gefalteten Händen und fieberheiBen
Lippen hinaus.
Längst hatte sie aufgehört zu denken, zu fühlen
und sogar zu leiden, so stumpf wurde sie unter dem
Einflusse des Unglücks und der körperlichen
Schwäche, die sie so niederdrückten.

349
Nur in der linken Seite, mehr nach der Mitte zu,
fühlte sie noch einen empfindlichen Schmerz wie von
einer tiefen Wunde, die bei jedem Atemzuge weher
tat. Ihr übriges Leid zerfloß in ein Chaos, in dem
sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte.
Nur Wasser trank sie ab und zu, ohne das trockene
Schwarzbrot zu berühren, welches auf dem
schmutzigen Schemel lag. Glücklicherweise war
außer ihr dort niemand eingesperrt.
In dieser tiefen Stille beruhigte sie sich allmählich
und begann, über ihre Lage nachzudenken.
Fast bereute sie jetzt ihr Verhalten.
Von unbezähmbarer Wut hatte sie sich hinreißen
lassen, und damit nichts erreicht, aber viel verloren.
Daher beschloß sie, alles wieder gut zu machen,
und sogar Johann es zu verzeihen, daß er sie ver-
raten und der Polizei überliefert hatte.
Ihren ganzen Haß dagegen häufte sie auf Rosa
mit dem seltsam unbezähmbaren Grolł aller ver-
ratenen Weiber. Während sie dem Geliebten nur zu
leicht verzeihen, wird die Nebenbuhlerin zum Gegen-
stande der glühendsten Rache.

Fri wurde Käthe freigelassen undstandplötzlich


wie geblendet auf der Straße.
Auf die anfängliche Erstarrung war stilles Nach-
denken gefolgt und dieses hatte sie allmählich etwas
beschwichtigt. Ab und zu zwar entrang sich ihr

350
ein schmerzliches Stóhnen, zumal wenn Rosas Bild
ihr vor Augen trat. Diese Abgeschiedenheit von der
Welt aber bereitete ihr etwas Linderung.
Auf der Straße herrschte das rege Leben eines
Sonntagnachmittags. .
Schon dunkelte es sogar und eine doppelte
Menschenwoge flutete nach der Richtung des Stadt-
theaters. Die einen kamen aus der Nachmittags-
vorstellung, die anderen gingen zur abendlichen.
Manche lachten noch laut über die lustige Operette
oder trällerten deren flotte Walzermelodien.
Käthe stand ein Weilchen mitten auf der Straße,
als wisse sie nicht, nach welcher Richtung sie gehen
solle.
Obgleich sie von Wangen und Schläfen die Blut-
spuren sich abgewaschen, sah sie doch noch braun
und blau aus und ihre zerfetzte Kleidung stach selt-
sam vom Sonntagsstaate der vorüberziehenden
Menge ab.
Dieser oder jener sah sie verwundert oder lachend
oder unwillig an, sodaß sie fühlte, sie müsse den
Leuten aus dem Wege gehen. Wohin aber sollte:sie
sich wenden? ...
Die Polizei hatte nur ihre Pflicht getan, indem sie
die Ruhestörerin mitgenommen und eingesperrt hatte
bei Wasser und Brot. Dann aber hatte man sie auf
die Straße gestoßen und ihr zum Abschiede noch
einen gehörigen Puff gegeben und, um sie zur
Besserung zu ermuntern, ihr nachgerufen: „Du
Landstreicherin!“

351
Dieses Wort ging ihr immer noch durch den Kopf
und schwirrte ihr beständig vor den Ohren.
Tieigebeugt fühlte sie sich durch diese erste ihr
öffentlich angetane Schmach, und die höhnischen
Blicke der Vorübergehenden peinigten sie vollends.
Nicht einmal ein Tuch mehr hatte sie, um ihr zer-
zaustes Haar zu bedecken, aus dem das angeklebte
Blut mit kaltem Wasser sich nicht abwaschen ließ.
In der nächsten Schenke gingen fortwährend
Männer, Weiber und Kinder aus und ein, um dort in
ihrer Trunksucht sich oft bis zum Vieh zu erniedrigen.
Erschöpft setzte sie sich auf die Stufen vorm Eingang,
Der oder jener stieß Käthe an und nannte sie:
„Du Saufaus!“
Sie krümmte sich immer mehr und hatte kaum
noch die Kraft, sich aufzurichten und weiterzugehen.
Auch dazu aber wurde sie gezwungen.
Als der Schenkwirt aus der Haustür trat und die
dort Kauernde bemerkte, befahl er ihr mit scharfen
Worten, aufzustehen und anständigen Gästen nicht
den Weg zu versperren.
Mühsam erhob sie sich und schleppte sich durch
die Menge nach einem abgelegeneren und weniger
belebten Stadtteile.
Anfangs ging sie mit Aufwand ihrer letzten Kräfte
etwas schneller. Allmählich aber versagten ihr auch
diese den Dienst und die Knie schlotterten ihr unter
der Last des Körpers,

352
Daher schlich sie matt an den elenden Häuschen
entlang, vor deren Türen bleiche Weiber und zer-
“ Jumpte Kinder hockten.
Hier wunderte sich niemand mehr über ihre Er-
scheinung. War sie doch hier nur eine Bettlerin
mehr.
Nach und nach verwandelte sich die Dämmerung
in dunkle Nacht, die den letzten Sonnenglanz in sich
verschlang.
Vor Ermattung sank Käthe vor der Tür einer
schmutzigen Kneipe zu Boden und blieb dort längere
Zeit liegen.
Durch den Fuseldunst, der aus der offenen Tür
herausdrang, fühlte sie sich wie berauscht und
kauerte dort im Schatten als formlose Masse mit
dem sonderbaren Gefühl, als werde sie immer
kleiner, fast so klein, wie sie als Kind war.
Deshalb weinte und wimmerte sie auch wie ein
kleines Kind, welches das Köpfchen an irgend eine
teilnehmende Brust schmiegen möchte.
Auch hier zwangen sie einige Fußtritte seitens des
sie von seiner Tür weisenden Wirtes endlich zum
Aufstehen.
Zitternd und bebend wankte sie zum Tore hinaus,
dessen aufgezogener Schlagbaum beim matten La-
ternenlichte schon von weitem sichtbar war.
Dort gelangte sie allmählich auf das freie Feld,
welches sich längs des Stadtwalles hinzog.
Freier atmete sie auf, als sie keine Menschen mehr

23 Käthe 353
sah und schleppte dann sich weiter in der Richtung
des Invalidenparkes.
Endlich wandte sie sich seitwärts auf immer sich
schlängelnden Wegen nach dem Gebüsche, welches
den steilen Rand des Stadtparkes bedeckte.

Dort war es schon stockfinster.


Im Gebüsche knackten dürre Zweige unter ihren
behutsamen Schritten.
Flüsterworte, ab und zu auch Flüche und Ver-
wünschungen drangen aus dem dichten, vom nächt-
lichen Schatten verhüllten Gebüsche.
Zu Füßen der Anhöhe blinkte mit tausend Lichtern
die Stadt, überragt von der dunklen Masse der
Türme und Kreuze.
Hie und da lag noch Schnee und die dicht an-
einanderstehenden Baumstämme bildeten förmliche
Schlupfwinkel in dem noch unbelaubten Gebüsche.
Feuchtigkeit und Kälte hafteten noch an dem durch
keinen Sonnenstrahl erwärmten Erdboden.
Und dennoch strauchelte Käthe nicht selten über
ein menschliches Wesen, welches, nur in Lumpen
gehüllt und zitternd vor Frost, unter einem Baum-
stamme auf der feuchten Erde kauerte.
Oft stieß sie auch auf eine größere Gruppe von
Leuten, die miteinander in stiller Nacht sich flüsternd
berieten, wie sie am besten zu einem Stückchen Brot
gelangen könnten.

354
Unter den Biumen huschten allerlei Weiber, un-
würdig dieses Namens, so zerlumpt und verlebt, so -
abschreckend sahen sie aus in ihrer Vertierung,
Ab und zu marschierte eine Wache voriiber, be-
stehend aus einigen halbverschlafenen Soldaten.
Blind und taub gegen alles, was um sie her vor-
ging, schien sie wirklichen Verbrechern aus dem
Wege zu gehen und nur auf weniger schädliche
Wesen zu fahnden, die Not und Hunger zum Land-
streichen zwang.
Und doch war dies Gebüsch nichts weiter als eine
einzige Höhle des Verbrechens und der Ziigellosig-
keit, welchem der nächtliche Schatten als Mantel
diente und das Dickicht als Versteck.
Spitzbuben und Dirnen, Strolche und Bettler
zankten und prügelten, wälzten und liebten sich
sogar in diesen Schlupfwinkeln im Kampfe um das
Dasein, um ein Stückchen Brot und ein trockenes
Plätzchen, um ihr Haupt dort niederzulegen.
Auch Käthe schlüpfte in dies Gebüsch und setzte
sich auf einen gefällten Baumstamm.
Jetzt erst fühlte sie einen wahren Heißhunger.
Selbst wenn sie noch einen Groschen in der Tasche
gehabt hätte, wäre sie kaum imstande gewesen,
wieder aufzustehen und weiterzugehen.
Zu Budowskis konnte sie nicht zurückkehren;
dies erlaubte ihr Schamgefühl nicht. Ihre Stelle also
hatte sie verloren. Weiter kannte sie niemand und
wußte keine Tür, an der sie anklopfen konnte.

23* 355
Die voriibergehende Wache versetzte sie in Angst,
daher schmiegte sie sich dichter an den Baumstamm
und verbarg sich möglichst im Schatten,
. Wußte sie doch, was ihr bevorstand, wenn die
Polizei sie hier so zerlumpt und allein im Gebiische
sitzen sah. ,
Die Kälte durchschauerte ihr dermaßen den
Körper, daß ihr die Zähne klapperten. Um dies zu
verhindern, preßte sie die Finger auf den Mund, aus
dem ihr schon der Speichel floß.-
Fast ohnmichtig vor Hunger, hätte sie jetzt einige
Jahre ihres Leben gegeben für ein Stückchen Brot.
So kauerte sie schon eine ganze Weile, als sie
plötzlich vor einem hohen Schatten zusammenschrak,
der vor ihr auftauchte,
Dies war ein hageres, zerlumptes Weib mit
zerzaustem Haar und abschreckendem Gesichts-
ausdruck. Nur zwei Reihen prächtiger Zähne
blinkten hervor unter den Lippen, so blutarm und so
welk wie der ganze Körper, soweit er unter den
Lumpen sichtbar war.
„Was willst du hier, du Nachtgespenst?“ flüsterte
sie mit heiserer Stimme. „Scher dich fort von hier;
das ist mein Platz!“
„erlaubt mir, ein wenig auszuruhen“, erwiderte
Käthe, sich mit größter Anstrengung halb erhebend.
„Den Baum werd’ ich Euch nicht anbeißen. Ich
bin krank; sobald mir besser wird, geh ich meiner
Wege.“
„Wenn du krank bist, geh ins Spital und versperr

356
anderen Leuten nicht den Weg!“ rief das Weib und
stemmte die Arme in.die Seiten.
Käthe wich nicht von der Stelle und flüsterte nur:
„Ihr seid doch auch ein Weib und müßt ein mit-
leidiges Herz haben. Der Stamm ist groß genug, wir
haben beide Platz!“
Ein Weilchen stand das Weib da, unschlüssig, was
es tun solle. Endlich überwog das Mitleid den Un-
willen, und, die Hand schwenkend, setzte sich die
Unbekannte neben Käthe, indem sie die schlecht
beschuhten Füße auf die feuchte Erde stemmte.
„Wie kommst d u hierher, wohin du nicht gehörst,
das sieht man dir an? Denn du hast kein rechtes
Maulwerk. Jede andere hätte längst ihre Galle an
mir ausgelassen. Na, weil ich dich so gut behandle,
so sage mir, was führte dich hierher?“
Käthe zögerte noch mit der Antwort.
Dieses abscheuliche Weib mit seinem Schnaps-
und Schmutzgeruch erregte ihren Widerwillen. Der
Fuseldunst verstärkte ihre Mattigkeit und betäubte
sie vollends.
Gleichwohl mußte sie ihr doch antworten: „Ich
bin jetzt ohne Stelle und weiß nicht, wo ich nächtigen
soll ...*
„Aha!“ entgegnete die Unbekannte, „Das ist dein
Kummer? Ich nächtige hier seit vier Jahren und
mir geht es ganz gut. Ich habe freie Wohnung und
brauche das Bett nicht zu waschen.“
Dabei zog sie ein Brot hervor und begann begierig
zu essen.

857
Hastig wandte Käthe den Kopf ab.
Sie konnte nicht zusehen, wie jene aß und litt
entsetzliche Qualen. Ihr war, als drehten alle Ein-
geweide sich ihr im Leibe herum und Tränen hüllten
ihr die Augen in einen Nebel, durch den sie nichts
mehr unterscheiden konnte.
„Das glaub ich schon, daß dir dies erste Nacht-
lager nicht behagt“, fuhr das Weib fort. „Wenn
man aber keinen Kreüzer Geld hat, nagt man wie ein
Hund am Knochen. Warst du auch schon im Loche?“
„Jawohl“, flüsterte Käthe.
„Na, dann hast du auch ohne weiteres ein Anrecht
hier auf einen Platz. Sollte dich aber so ein Büttel
fortiagen wollen, so sag ihm nur, du warst schon im
Loch. Dann rührt dich keiner an.“
Käthe bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
Ja! Unleugbar war sie schon polizeilich bestraft
als nächtliche Ruhestörerin und Landstreicherin, und
dies gab ihr, wie das zerlumpte Weib ihr mitgeteilt,
ein Anrecht auf diesen Schlupfwinkel.
Auch hier also gab es Rechte und eine Schwelle,
die man überschreiten mußte, bevor man einen Platz
auf feuchter Erde und ein Stückchen Himmel über
sich erhielt! ...
Jetzt blickte das Weib auf die neben ihr Kauernde
und stieß sie plötzlich in die Seite mit den Worten:
„Na, und was hast du ausgefressen? Etwa gemaust
oder einem die Augen ausgekratzt?“
Käthe schüttelte nur den Kopf. So etwas hatte
sie doch nicht getan! Dennoch wollte sie diesem

358
Weibe nichts erzählen von ihren Erlebnissen. Und
wie vor dem Kommissar, so verschwieg sie auch
hier ihren Schmerz und dessen Ursachen.
„Hm“, murmelte die Unbekannte, die sich förmlich
beleidigt fühlte, „du spielst die Geheimnisvolle?
Willst nicht heraus mit der Sprache und fürchtest
dich? Seh ich etwa aus wie eine Spionin? Wie lange
bist du schon heraus aus dem Loche?“
„Seit heute Nachmittag.“
„Hast du schon etwas gegessen?“
„Nein.“
„Da, nimm das und stopf dich voll, zerbrich dir
aber nicht die Zähne. Ha! Ha! Solch Brot schmeckt
wie Ananas. Der Wojtek gab es mir, weißt du, der
Pierdeknecht, das ist mein Liebster!“
Dabei reichte sie ihr eine harte Brotrinde. Mit
zitternden Händen griff Käthe nach dieser elenden
Kost und erhob sie zum Munde mit der Gier einer
ausgehungerten Bestie.
Inzwischen zog das Weib die verbogenen Nadeln
aus dem roten Haar und ließ die spärlichen Büschel
herabhängen.
„Mir brummt der Schädel“, hob sie an und streckte
die Beine vor sich hin. „Sobald die vermaledeite
Dienerschaft endlich herbeikommt, laß ich mir
schwarzen Kaffee kochen und ins Bett reichen. Dies
Lumpenpack verschläft sich nur immer und hier hab
ich keine Klingel.“ '
‚Weißt du“, fuhr sie lachend fort, „einst hatt’ ich
vier Stuben und eine Magd. Den ganzen Tag schlug

359
ich diese aufs Maul und nachts lieb ich sie zehnmal
aufstehen und Kaffee kochen, rein aus Bosheit und
Rache. Denn früher, als ich selbst noch Magd war,
ging es mir ebenso. Später kam ich selber wieder
so weit herunter, aber ich hatte doch wenigstens
alles Gute genossen.“
Jetzt bog sie den Kopf zurück, legte die mageren
Arme unter den Nacken und schloß die Augen.
Dann stieß sie Käthe plötzlich an und fragte: „Hast
du keinen Liebsten?“
Käthe ließ ab vom Essen und war außerstande, zu
antworten, so schnürte ihr ein Krampf die Kehle zu.
Die Unbekannte aber fügte hinzu, ohne auf ihre
Antwort zu warten: „Gewiß hattest du auch solch
einen Sausewind, der dich im Stiche ließ... O, ich
kenne das! — Erst verlockt er ein braves Mädchen
und dann wirft er es auf den Kehrichthaufen! Auch
mir erging es so mit solchem Scheusal! Hol ihn
der Henker! Das erstemal ist's am schwersten:
dann schüttelt man es ab und alles ist vorbei. So
wird’s auch dir ergehen!“
Entsetzt rafite Käthe sich vom Baumstamm empor.
Wie? Sie sollte dasselbe werden, was dies Weib
war. Auf diese Stufe sollte sie herabsinken, ohne
jemals wieder sich zu erheben. Gab es denn keine
Rettung mehr für sie, keinen Ausweg?
„Sieh, wenn du nur kein Kind hättest!“ raunte
ihr die Unbekannte zu. „Aussetzen müßtest du es
irgendwo, wie ich das meine!... Denn in Dienst
nimmt dich keiner mehr mit dem Kinde, und zu einer

360
Amme hast du kein Geld. Das ist schlimmer wie die
Cholera und dadurch gehen wir alle zugrunde!“
Zugrunde! Jawohl! Ein eisiger Schauer überlief
Käthe bei diesem Worte. Suchen mußte sie einen
anderen Dienst, denn Budowskis nahmen sie nicht
mehr an,
„Solch ein Lump“, fuhr das Weib fort, „bezahlt
dir nicht einmal die Windeln und alles, samt dem
Kinde, hast du auf dem Halse. Das ist einmal so
und nicht anders!“
Zusammenschauernd warf Käthe die Brotrinde
fort und drängte sich durch das Gebüsch in der
Richtung nach der Stadt, getrieben von unbeschreib-
licher Angst.
Sie wollte zunächst Johann aufsuchen, ihm zu
Füßen fallen und ihn um Verzeihung zu bitten für
alles, was sie ihm angetan. Alles wollte sie tun, nur
um nicht solch ein Weib zu werden, wie dasjenige,
dessen Brot sie soeben gegessen!...
„Was reckst du so deine Schienbeine und dankst
mir nicht einmal für den Fraß!“ rief ihr die Unbe-
kannte nach. „Lauf nur, lauf, du wirst schon wieder-
kommen, wie vor dir schon so manche!“
Dann warf sie sich auf den Baumstamm und pfiff
einen Gassenhauer.
Inzwischen watete Käthe durch den Schnee und
gelangte, oft auf die Kniee gleitend, endlich auf den
Weg, der sich um die Anhöhe herumschlängelte.
Am Fuße derselben zogen sich strahlenförmig
engzusammengedrängte Gäßchen hin mit niedrigen,

361
fast in die Erde gesunkenen Häusern, deren Fenster
jedoch alle hell erleuchtet waren. Zerlumpte Kerle
durchstrichen gruppenweis diese Gäßchen, um in die
Fenster zu gaffen, aus denen rohes Gelächter und
schrille Fiedelklänge erschaliten,
Dem Vorhofe der Hölle glich diese Anhäufung von
Verbrecherhöhlen und Spelunken, deren weitgeöffnete
Türen zum Eintritt einluden.
Ab und zu drang aus dem Innern ein mark-
erschütternder Schrei oder ein Knäuel sich prügeln-
der Männer und Weiber wälzte sich plötzlich heraus
und erfüllte die Luft mit Flüchen und Schimpfworten.
Dieser ganze Menschenknäuel zerschlug sich die
Köpfe auf den spitzen Steinen und rötete mit seinem
Blute das holprige Pflaster. Dann verschwand er
wieder in der Tür und bald darauf schrillte aufs neue
die Fiedel.
Nur die Blutflecken blieben als Spuren des soeben
beendeten Kampfes.
So flink durcheilte Käthe ein solches Gäßchen, als
sei eine übermenschliche Willenskraft in ihr erwacht.
Auch die übrigen Schlupfwinkel der Trunksucht und
des Lasters ließ sie bald hinter sich und gelangte
in einen anderen Stadtteil.
Die Dunkelheit der Nacht verhüllte ihre auffallende
Erscheinung, sodaß die Vorübergehenden nicht mehr
den Kopf nach ihr umdrehten. Auch schlich sie
möglichst dicht an den Häusern hin, so sehr hatte
sie sich schon daran gewöhnt, sich vor den Blicken
der Leute zu verbergen. Endlich erreichte sie die

362
ENIE
TT

Straße, in der Budowskis wohnten und die nur spär-


lich von matt glimmenden Laternen beleuchtet war.
Da der Mond aber in Wolken gehüllt war, lagerte
dichte Finsternis auf der Straße und warf ihre
Schatten bis auf das Pflaster.
Trotzdem fand Käthe sich schnell zurecht und
stand bald vor der Haustür.
Ohne sich lange zu besinnen, zog sie mit nervöser
„Hast an der Klingel.
MuBte sie doch hier trotz alledem Schutz und
Zuflucht finden vor der Not.
Hatte sie auch Rosa blutig geschlagen, so
konnte Johann sich nicht von ihr lossagen! ...
Da niemand öffnete, klingelte sie noch einmal.
Die Turmuhren schlugen eben eins mit schrillem, die
Luft durchzitterndem Klange.
Eine verspätete Droschke rasselte vorüber mit
ohrzerreißendem Getöse.
Endlich ließen sich hinter der Haustür schwere
Schritte vernehmen.
Vor Aufregung lehnte Käthe sich an die Wand.
Kannte sie doch Johanns Schritt und wußte, daß er
ihr jetzt so nahe war, nur getrennt durch die
hölzerne Tür.
Nachdem diese geöffnet, erschien im Innern eine
weiße Gestalt. Im Nachtanzuge stand dort Johann,
noch halb im Schlafe und gewiß in der Seele den
späten Ankömmling verwünschend. Trotzdem streckte
er mechanisch die Hand aus zum Empfange des ihm
gebührenden Lohnes.

363
Sofort aber erkannte er, anstatt des erwarteten
Mieters, an der großen, zerlumpten Gestalt die ehe-
malige Geliebte.
Was wollte sie hier noch so spät? Etwa neuen
Skandal und Streit mit ihm anfangen bei Nacht und
Nebel?
Dies konnte er nicht zulassen und mußte dem ein
Ende machen.
Und bevor sie noch einzudringen vermochte, stieß
er sie mit einem heftigen Ruck zurück auf die
Straße.
Trotzdem streckte sie die Arme nach ihm aus und
rief mit flehender Stimme: „Johann, Johann, o hör
mich an!“
Er aber hörte nicht.
Nur einen Strom von halblauten Schmähworten
vernahm sie noch hinter der Haustür.
Er fühlte, daB er kurzen Prozeß machen müsse,
sonst hinge sie sich an ihn, wie eine Klette. Braun
und blau hatte er sie geschlagen und dennoch kehrte
sie zurück! Also so scharf wie möglich! Dann
mußte sie doch weichen!
Und zitternd vor Wut schlug er die Haustür zu
und drehte den Schlüssel zweimal um.
Auch die andere vom Boden hatte er davongejagt.
Alle beide langweilten sie ihn. Käthe mit ihren
ewigen Tränen, Rosa mit ihrem fortwährenden
Kichern.
Jetzt war er wieder frei und fühlte sich am
wohlsten!

364
Lange noch stand Käthe vor der Haustür, bevor
sie sich klar wurde über ihre Lage.
Endlich begriff sie. Die letzte Hoffnung, Johann zu
versöhnen, war ihr geraubt mit dem Zuschlagen der
Haustür.
Und plötzlich regte sich etwas, zwar schwach,
aber trotzdem deutlich unter ihrem Herzen, so selt-
sam, daß sie unwillkürlich zusammenschauerte und
die Arme nach der Haustür ausstreckte.
Ein neues Leben war in ihr erwacht. Ein zweites
Wesen gab mit unsicheren Bewegungen sein Dasein
zu erkennen und lebte auf in dieser dunklen Wolken-
nacht, unter dem Einfluß von Not und — Herzeleid.
Schweiß bedeckte trotz der Kälte Käthes Stirn.
Krampfhaft preßte sie die Zähne zusammen,
Trotz ihrer Unerfahrenheit erriet und begriff sie
mit weiblichem Instinkte, was in ihr vorging, daß sie
Mutter werden solite!
Lange noch stand sie mitten auf der Straße, wie
angewurzelt und regungslos, wie eine Säule.
Jetzt litt sie nicht mehr allein unter Johanns
Nichtswürdigkeit, sondern sie hatte einen Leidens-
genossen, der aus ihrem Schoße sich herausdrängte
in die Welt zum — Leiden und Hungern.
Hinter der Haustür war alles still geworden.
Johann war müd und matt auf sein Lager gesunken
und schlief schon hart und fest.
Käthe vergegenwartigte sich ihn in dem engen und
doch so behaglichen Stübchen, eingehüllt in warme

365
Decken, während sie da draußen zitterte vor Frost
. und innerer Aufregung.
Unwillkürlich suchte ihr Kopf vor Ermattung
irgendwo Schutz und Stütze.
Mit weitgeöfineten Augen starrte sie auf die
dunkle Masse der Haustür und preßte die Hände
krampfhaft an die Brust.
Den festgeschlossenen Lippen aber entglitten nur
die mit an Wahnsinn grenzender Hartnäckigkeit
immer wiederholten Worte: „Mein Kind, mein armes
Kind!“

etzt begannen für Käthe Tage voller entsetzlicher


Not und Kümmernis.
Budowski, von allen unterrichtet, schrieb ihr ein
entsprechendes Zeugnis in das Dienstbuch und be-
zeichnete sie darin als das nichtswürdigste Geschöpf.
Dabei bedachte er weder die Veranlassung und die
Umstände, die ihren Fehltritt herbeigeführt, noch,
daß er sie mit solchem Zeugnisse geradezu in den
Abgrund stoBe, ihr die Möglichkeit zu jedem Ver-
dienste benehme und sie zwinge, in die Reihen der
Dirnen und Straßendiebinnen einzutreten.
Auch Frau Julia kümmerte sich nicht um ihre ehe-
malige Vertraute: Als Käthe endlich ihre Lade, ihr
Dienstbuch und den rückständigen Lohn ablıolen
wollte, versteckte Frau Julia sich schleunigst in
ihrem Zimmer aus Furcht vor dem Anblick der-
jenigen, gegen die sie Verpflichtungen hatte.

366
Budowski selbst händigte ihr das Dienstbuch ein.
Was aber den Lohn betraf, so bewies er ihr sehr ge-
wandt, daß sie eigentlich ihm noch schuldig sei für
den Schaden, den sie in der Wirtschaft anrichtete.
So nahm sie denn schweigend ihre Siebensachen
und trug sie mit Marys Hilfe hinunter.
Denn Mary war ihr treu geblieben und setzte sie
von allem Vorgefallenen in Kenntnis.
„Auch die Bestie vom Boden jagte der Schuft in
alle Winde. So macht er es eben mit allen, dieser
Nichtsnutz!“
Kein Wort erwiderte Käthe, obgleich die Nach-
richt, daß auch Rosa dasselbe Los getroffen, ihr
einigermaßen Trost bereitete.
Nur sah sie sich nach allen Seiten um, ob sie nicht
Johann irgendwo bemerke. Vergebens.
Als er sie in das Haus eintreten sah, lief er schnur-
stracks in seine Schenke, um ihr nicht zu begegnen.
Jetzt bei Tage, das fühlte er, konnte er ihr nicht in
die Augen sehen. Daher verfolgte er das System
fast aller Männer, die ihre Geliebte im Stiche lassen,
und machte sich schleunigst aus dem Staube.
Käthe aber trug ihre Sachen zu einem ihr von
früher her bekannten Maurer, der, nachdem er sich
verheiratet, Schlafstellen vermietete.
Für den Erlös aus dem Verkauf ihres Bettes
vegetierte sie dort noch zwei Wochen. .
Während dieser Zeit arbeitete sie auf Tagelohn,
da sie wegen des schlechten Zeugnisses keinen
festen Dienst finden konnte. Also wusch sie in

367
einem nahen Waschhause fiir einige Groschen
tiglich und fiir elende Kost, die ihr jetzt nicht ge-
niigen konnte.
Ihr Zustand, der sich regelmäßig entwickelte, be-
reitete ihr, wie meist jedem allzu kräftig gebauten
Weibe, unsägliche Beschwerden.
Ihr Äußeres veränderte sich nicht wesentlich. Nur
noch voller wurde sie und erschien jetzt vollends
wie eine Riesin, wenn sie mit aufgestreiften Hemd-
ärmeln sich über den Waschtrog herabbog, umwallt
von dichten, weißen Dampfwolken.
Nur das Gesicht war auffallend bleich und die ein-
gesunkenen Augen zeugten von den inneren Qualen.
Wenn sie jetzt ihre Lage bedachte und das in
ihrem Schoße verborgene Kind fühlte, sorgte sie sich
Tag und Nacht ab über ihre Zukunft und das Elend,
dem sie unvermeidlich verfallen sollte.
Jene Worte, die ihr das zerlumpte Weib zugerufen
in jener kühlen, düstern Nacht, da sie aus dem Loche
hinausgeworfen, ohne Dach und Fach im Gebüsche
herumirrte, klangen ihr fortwährend in die Ohren
und ließen sie keinen Augenblick in Ruhe.
Was sollte sie anfangen mit dem Kinde, sobald
es auf die Welt gekommen?
Sollte sie es auf die Straße werfen oder es aus-
setzen vor der Spitaltür, wie andere Weiber?
Nein, das täte sie nimmermehr!
Selbst die Hündin schmiegt ihr Junges an sich und
läßt es sich nicht fortnehmen.

368
In Dienst aber nähme sie niemand mit dem Kinde.
Um es irgendwo in Pflege zu geben, dazu gehörte
vor allem Geld, wenn auch nur einige Gulden. Sie
aber verdiente täglich kaum ein paar Groschen.
Nächtelang lag sie schlaflos da und starrte vor
sich hin und grübelte darüber nach, wie sie die
Kosten dafür aufbringen könne.
Sie selbst — das war das wenigste!
Das Kind aber, das Kind ginge dabei zugrunde,
wie das häßliche Weib ihr vorhergesagt, damals in
jener denkwürdigen Nacht.
Rings um sie her im Dunst und Dunkel des engen
Stübchens schliefen die Mitbewohner, atmeten aber
dabei so tief und schwer, als quälten sie ängstliche
Träume und als beendeten sie die Arbeit, die sie im
Wachen begonnen, als mischten sie Kalk oder
trügen Ziegelsteine oder bauten Gerüste.
Manchmal wimmerte ein Kind in der Wiege oder
ein Hund winselte im Traum in irgend einer Ecke.
Sie alle aber schliefen hart und fest den Schlaf der
Gerechten und der — abgearbeiteten Arme.
Auch Käthe war nicht minder abgespannt und
dennoch wachte sie. Auf die Hand gestützt, ver-
zehrte sie sich in dem ohnmächtigen und eitlen
Wunsche, sich Geld zu verschaffen.
Wie in Fieberglut lag sie da.
Zu verkaufen hatte sie nichts mehr.
Bett und Wäsche gehörten längst dem Maurer.
Die unzureichende Kost im Waschhause zwang

24 Kathe 369
sie, ab und zu sich kleine Lebensmittel zu kaufen,
die sie mit fast tierischer Gier verschlang.
Nicht sie war daran schuld, sondern in ihr jenes
kleine, gierige Wesen, welches die Unzulänglichkeit
und den Mangel an Mitteln zur Stillung des Hungers
noch nicht kannte, welches sie aber sättigen mußte,
unter allen Umständen.
Unerbittlich war es, wenn der Hunger es quälte,
und dann verursachte es ihr die größte Pein,
Nur eine Ware noch hatte Käthe zu verkaufen
— den eigenen Körper.
Vor diesem Äußersten aber schreckte die ihr an-
geborene Ehrbarkeit zurück. Schon beim Gedanken
an solche Erniedrigung stockte ihr fast das Herz.
Plötzlich wurde das Waschhaus wo sie bisher
Verdienst gefunden, geschlossen. Wegen Mangel an
Aufsicht oder wegen Eigenwilligkeit war etwas von
der Wäsche der Feldwebel und Unteroffiziere ver-
loren gegangen,
Käthe stand also wieder auf offener Straße nach
zweiwöchiger Arbeit.
Als die Maurersleute sahen, daß sie wieder ohne
Verdienst war, und daß sie selbst keinen Nutzen
mehr von solcher Bettlerin ziehen konnten, ver-
mieteten sie deren Schlafstelle anderweitig.
So wälzte sich alles Unheil auf ihr Haupt, als
wolle es sie in den Abgrund stürzen.
Trotz aller Not aber kämpfte Käthe erhobenen
Hauptes weiter.

370
Hungrig und zerlumpt schleppte sie sich nach der
Stadt, um nach Arbeit zu suchen, zu der sie mit
Freuden den Rest ihrer Kräfte hingegeben hätte für
ein Stückchen trockenes Brot.

ings lächelte ein wonniger Frühlingstag. Hier und


da lag noch etwas Schnee. Vom Himmel aber
strahlte hinter zartem, durchsichtigen Nebelschleier
die goldene Sonne.
In allen Häusern wurden die während des Winters
sorgfältig geschlossenen Fenster geöffnet, um
Lenzluft und Licht einzulassen in die dumpfen,
dunklen Wohnungen.
Wie Argusaugen spähten sie hinaus auf die Straße.
Die Damen lustwandelten in Lackstiefelchen und
mit bemalten Wangen unter dem dichten Schleier,
während die Herren, obgleich vor Frost klappernd,
im leichten Sommeranzuge, mit Siegermienen ein-
herstolzierten.
Die Schaufenster ergossen ganze Ströme heller
Farben in den Falten der leichten Stoffe und Sonnen-
schirme.
So erschien dieser ganze Frühlingsvormittag wie
das Vorspiel zu der harmonischen Melodie, die dem-
nächst erschallen sollte, um kaum den Mai zu über-
dauern.
Fast gedankenlos schleppte Käthe sich durch die
Straßen und preßte die Falten der zerrissenen Jacke
an die Brust.

24* 371
Schon hatte sie mehrere ebenso ärmlich wie sie
aussehende Weiber gefragt, ob sie ihr nicht Arbeit
zuweisen könnten.
Achselzuckend erwiderten jene, sie hätten selbst
seit einigen Tagen keinen Bissen in den Mund be-
kommen. Später aber hofiten sie Verdienst zu finden
bei Neu- oder Umbauten oder beim Blumenverkauf
auf den Straßen. Sonst habe der Magistrat auch
Weiber zum Schneeschippen angenommen; jetzt be-
sorgten dies aber Gefangene unter Aufsicht von
Wärtern. Dadurch sei ihnen viel entgangen; denn
das habe täglich mindestens zehn Groschen ein-
gebracht.
Seufzend schleppte Käthe sich weiter, bis sie auf
einem blauen Schilde die Inschrift las: „Waschhaus
für Fremde“. Kaum hatte sie dies herausbuch-
stabiert, so schlüpfte sie durch die Haustür.
Auf dem Hofe gossen einige Weiber blaues
Wasser aus oder Seifenschaum. Aus dem niedrigen
Hofgebäude erschalite lautes Gelächter und Dampf-
wolken entschwebten den Fenstern.
Schiichtern betrat Käthe die Schwelle und bat mit
leiser, stockender Stimme um Beschäftigung, sei es
auch nur mit Wassertragen.
Schnell aber mußte sie zurücktreten.
Die Eigentümerin selbst mit Hilfe ihrer
Arbeiterinnen überhäufte sie mit Schmähungen und
nannte sie: „Du Landstreicherin, die nur auf fremdes
Eigentum lauert!“

372
In der Tat erweckten Käthes Lumpen gerade kein
Vertrauen und jedem, der sie sah, drängte sich die
Frage auf: „Weshalb treibt sich dieses kräftige, an-
scheinend kerngesunde Frauenzimmer auf der
Straße herum, anstatt irgendwo Arbeit zu nehmen?!“
Keinem aber kam es in den Sinn, daß der Weg zur
Arbeit für Käthe völlig verschlossen war, sowohl
jeder Dienst durch das schlechte Zeugnis, als auch
durch die sie bedeckenden Lumpen jede andere Be-
schäftigung.
Und in all den Fleischerläden hinter üppigen Blatt-
pflanzen und rosigen Azaleen türmten sich ganze
Fleischmassen auf, zitterte goldgelbe Gallerte und
prangten Würste in allen Farben.
War dies nicht der reine Hohn auf all die Bettler,
die auf dem engen Trottoir standen und nach den
Fleischwaren stierten, deren Geschmack und Geruch
sie nur ahnten hinter den Spiegelscheiben?
Zu dieser Schar gesellte sich auch Käthe und
wurde bald durch die Vorübergehenden in die
vorderste Reihe gestoßen. Lange stierte auch sie
auf die ausgestellten Schinken und Räucherwürste
und ein förmlicher Krampf schnürte ihr die Ein-
geweide zusammen. Wie ein Blitz durchzuckte ihren
Sinn der Gedanke, eine Scheibe einzuschlagen und
irgend ein Stück Fleisch herauszureißen, um sich
endlich einmal satt zu essen.
Schon verfolgte aber ein Polizist die zerlumpte
Schar, die den Verkehr in der engen, lebhaften
Straße hemmte.

373
Beim Anblick der blanken Knöpfe machte Käthe
sich schleunigst aus dem Staube. Denn über alles
fürchtete sie die Polizei.
Nachdem sie mehrere Straßen durchschritten,
stand sie plötzlich vor der Tür der Benediktiner-
kirche,
Dort konnte sie wenigstens einen Augenblick aus-
ruhen, denn die Kirche steht jedem offen.
Kurz vorher wurde sie von einer Steinbank vor
einem dreistóckigen Hause fortgejagt, weil dies kein
Platz sei fiir Landstreicher. In der Kirche aber
konnte sie sich ruhig aufhalten, hatte sie auch ihren
Gott fast vergessen und so lange nicht gebetet in der
Kirche.
Seit ihrem Falle hielt sie etwas zurück, so oft sie
die Schwelle des Heiligtums überschreiten wollte.
Ihr war, als halte sie etwas am Rocke fest und banne
sie an die Stelle,
Auch dies geschah nur anfangs. Später versuchte
sie nicht einmal in die Kirche zu gehen. Heute tat
sie dies ungehindert, ohne jenes seltsame Gefühl,
welches sie davon abhielt.
Die Kirche hatte sich in nichts verändert. Dieselbe
dumpfe Luft unter dem hohen Gewölbe, derselbe
Schatten hinter den Pfeilern, dasselbe fieberhafte
Flüstern, dieselben vergoldeten Engelsfittige und die-
selbe kühle und trotzdem von der Inbrunst der Be-
tenden zitternde Ruhe, dies alles umwehte die
plötzlich Eintretende und machte auf sie einen nieder-
"schlagenden Eindruck.

374
Fast mechanisch schlüpfte sie vor den nächsten
Altar, schlug ein Kreuz und versuchte zu beten. Dies
wollte ihr aber durchaus nicht gelingen. Wie ein
verhaspeltes Garn verwirrten sich ihre Gedanken.
An ihren Eingeweiden nagte der Hunger und ein
dichter Nebel verhüllte ihre Augen.

„Jetzt kannst du ruhig nach Hause gehen!“ sagte


der alte Küster, ungeduldig mit dem Schlüsselbunde
klirrend, den er in den von der Gicht gekrümmten
Fingern hielt.
Und sofort erhob sich Käthe von der Lade, auf der
sie saß und stellte den geleerten Teller beiseite.
Der vor ihr stehende Alte hatte sie bewußtlos und
halb erstarrt auf dem Steinfußboden der Kirche vor-
gefunden. Eben wollte er die Kirche schließen, als
er sie daliegen sah, wie ein Stück Holz. Mit Hilfe
zweier Kirchendiener ließ er sie in sein Stübchen
bringen und ermunterte sie dort nach langen Be-
mühungen.
Der Alte hatte ein gutes Herz. Ein Teller warmer
Suppe und ein Stück Brot waren die besten Heil-
mittel für das entkräftete Mädchen. Daher teilte er
mit Käthe sein Abendessen und goß es ihr fast mit
Gewalt in den geschlossenen Mund.
Unter dem Einflusse der Wärme im Stübchen kam
sie allmählich wieder zu sich und wollte sich nach
kurzen Dankesworten still entfernen.

375
Wußte sie doch, daß für sie dort nur ein vorüber-
gehender Zufluchtsort sei und daß sie denselben
früher oder später verlassen mußte.
Aufmerksam betrachtete sie der Alte und fragte
dann achselzuckend: „Warum gehst du nicht auf
Arbeit, anstatt halb zu verhungern? Du bist doch
so groß und kräftig.“
„Ach, tagelang sucht’ ich nach Arbeit und konnte
keine finden“, erwiderte sie und erhob unter Tränen
die Augen. „Im Waschhause sprach ich vor, aber
sie schlossen es mir vor der Nase zu. Seitdem kam
mir kein Bissen über die Lippen.“
„Fandest du auch keinen Dienst?“
„Wer nähme mich in diesen Lumpen?“
Dabei zeigte sie mit triibem Lächeln auf ihre zer-
fetzte Kleidung.
„im Dienst hab’ ich sie so abgerissen, daß eine
ordentliche Herrschaft mich nicht einmal mehr zum
Wassertragen gebrauchen kann.“
Das schlechte Zeugnis erwähnte sie nicht, um sich
jedenfalls die Gunst des braven Mannes zu erhalten,
der sich zuerst ihrer Not erbarmte und ihr einen
Löffel warmer Suppe reichte.
Er aber versank ein Weilchen in Nachdenken.
Augenscheinlich wollte er seine Unterstützung nicht
auf die einmalige Hilfe beschränken. Vielmehr suchte
er nach irgend einer Beschäftigung, die er dieser
halb verhungerten, aber trotzdem nicht dem Laster
verfallenen Bettlerin anvertrauen könnte.

376
Mit dem Kennerblick des Mannes wußte er Käthes
ingendliche Gestalt zu schätzen und gelangte zu der
Überzeugung, sie könnte, falls sie schlechte
Neigungen hätte, mit Leichtigkeit sich reichlichen
Lebensunterhalt sichern.
Da sie aber vor den Altarstufen umsank vor
Hunger, mußte sie ein ehrliches Mädchen sein.
Und ohne weiter nachzuforschen oder Vorwürfe
auf das Haupt der Unglücklichen zu schleudern,
forderte er sie auf, nach drei Tagen sich in der
Sakristei einzufinden zur Aushilfe beim Ausfegen,
Scheuern und Fensterputzen in der Kirche.
„Das bringt ein paar Groschen; nur mußt du
tüchtig arbeiten“, sagte er.
Nach wiederholten Dankesworten ging Käthe
hinaus auf die Straße, konnte aber doch ihren
Kummer nicht los werden.
Der Küster machte ihr Hoffnung auf Verdienst.
Dieser aber war noch so weitausstehend und nur
vorübergehend. Was sollte sie inzwischen anfangen
und wohin ihr Haupt niederlegen?
Die Sonne neigte sich zum Untergange.
Die Stadt verschlang in sich den ganzen Rest von
Licht und Wärme und hüllte sich in düsteren
Schatten.
Die entlaubten Bäume der Gärten und Alleen
ragten empor wie Gerippe,
die einer Hülle harren.
Gesenkten Hauptes schritt Käthe immer weiter
über große Plätze, durch breite Straßen und enge
Gäßchen. Ohne nach den Menschen zu sehen, die

377
ihr gleichgültig waren, fühlte sie, daß die Nacht
hereinbreche und mit ihr die Notwendigkeit für sie
selbst sich ergebe, irgendwo unter Dach und Fach
zu kommen.
Hunger empfand sie nicht mehr, aber unbeschreib-
liche Angst vor der Nacht.
Und weiter, immer weiter schritt sie an den
Häusern entlang und sah nur nach den dunklen
Kellerfenstern. O, könnte sie nur dort hinein ge-
langen und nächtigen! Das wäre unzweifelhaft das
allersicherste!
Stockfinster schon war es, als Käthe sich plötzlich
vor dem Zaune des Polytechnikums befand.
Völlig menschenleer war es in diesem, fast nur
von der Aristokratie bewohnten Stadtteile.
Hoch ragten die weißen Häuser empor, wie riesige
Grabmäler, die nur Leichen in sich bergen oder
in Untätigkeit oder Schwelgerei verkommende
Menschen.
Die langen Fensterreihen sahen so düster aus, wie
Augenhöhlen von Totenköpfen.
Schon bei Lebzeiten setzten sich dort die Großen
des Landes ihre Grabsteine. i
Lebensfrisch auf diesem Totenhofe erhob sich nur
das Polytechnikum, weit geöffnet zum Empfange
der aus der Stadt herüberschallenden Frühlingslaute.
Unwillkürlich setzte sich Käthe vor dem Zaun auf
einen umgestürzten Baumstamm und lehnte das
matte Haupt an die Planken. Obgleich nirgends ein
Polizist zu sehen war, wußte sie doch, daß sie nicht

378
lange dort sitzen konnte. Also beschloß sie, nur ein
wenig auszuruhen und dann weiterzugehen, immer
weiter ...
Plötzlich zupfte sie jemand am Arm.
Wodnieckis Schüler war es, jener Taubstumme,
der nur zum Abendessen ausgegangen war und bald
wieder zurückkehren sollte, da er im Atelier immer
zu Füßen der „Nixe“ schlief, wo er beim Erwachen
die plumpen Gestalten der „Apostel“ vor sich sah.
Sofort hatte er Käthe erkannte, die in ihm damals
eine gewisse Bewunderung erregt hatte.
Aufgewachsen unter all den Statuen über Lebens-
größe, blickte er mit Verachtung herab auf alle
kleineren Gestalten, mit einer Art von Verzückung
dagegen empor zu so riesigen Gliedermassen, wie die
Käthes, welche die Menge um Haupteslänge über-
ragte und sofort seinen Beifall fand. Er setzte sich
neben sie und zupfte sie unter schrillem Aufschrei
am Arme.
Auch sie erkannte ihn und blickte ihn an, ohne ein
Wort zu sagen. Wußte sie doch, daß dies nichts
nütze, da er sie doch nicht verstehe.
Allmählich erweckte sein Anblick in ihr die
schmerzlichsten Erinnerungen. ,
War sie doch bei dem Bildhauer am selben Tage
gewesen, an dem sie Rosa mit auf den Boden nahm
und Johann mit ihr bekannt machte.
Zwei große Tränen rannen ihr über die welken
Wangen.

379
Sofort sprang der Taubstumme auf und warf sich
vor ihr auf die Knie, um ihr mit der vom Gips ge-
weiBten Hand jene Tränen zu trocknen. So
empfänglich war sein mitleidiges Herz für fremden
Schmerz. Wie mancher Hund, so konnte auch er
keine Tränen und keinen Menschen leiden sehen.
Das Pfauengekreisch, mit dem er Käthe von seinem
Mitgefühl überzeugen wollte, hatte in der Tat etwas
Komisches.
Käthe aber lächelte kaum durch Tränen beim An-
blick seiner Grimassen,
Dabei machte er die possierlichsten Sprünge zum
Ergötzen einiger zerlumpter StraBeniungen, die, wie
aus der Erde gewachsen, plötzlich auftauchten und
laut auflachten über die Affenmienen des Taub-
stummen.
Verwundert blickte Käthe nach dieser Gruppe von
Kindern, deren jiingstes kaum ein Jahr zählen
mochte. Ein etwa zehnjähriges Mädchen hielt es auf
dem Arme. Bleich und abgezehrt, ließ es den fast
kahlen Kopf von fast Kürbisgröße hängen wie ein
Idiot.
Käthe empfand eine sonderbare Beklemmung.
Auch sie sollte einst soich ein Kind haben, und lag
auch ihre Stunde noch fern, so kam doch der Tag,
an dem solch ein Kopf sich auf die Welt drängen und
zu essen verlangen wird.
Nach und nach verlief sich der Kinderschwarm
und durch die Fenster der weißen Grabmäler

380
blinkte mattes, unsicheres Lampenlicht mit unge-
sundem, wie bleichsüchtigem Glanz und rötlichem
oder bläulichem Schatten.
Dort erwachte jetzt jenes künstliche Scheinleben,
um kaum einige Nachtstunden zu überdauern und
ohne jemand etwas zu nützen.
Noch immer hockte der Taubstumme zu Käthes
Füßen, aber ohne sein übermenschliches Kreischen.
Nur bei jedem neu aufblinkenden Licht in den
Fenstern, die er mit gespannter Aufmerksamkeit be-
obachtete, entrang sich seiner Brust ein gedämpfter
heiserer Laut, gewiß ein Ausdruck seiner Freude.
Als, nach seiner Berechnung, das letzte Licht auf-
leuchtete, raffte er sich plötzlich auf und zupfte
Käthe wieder am Arm und fragte sie mit Gesten, ob
sie nach Hause gehe.
Wehmiitig lächelnd schüttelte sie den Kopf und
zeigte nach dem Zaune hin, als nach ihrem letzten
Zufluchtsorte.
Mit wunderbarem Scharfblick erriet er ihre Lage,
und daß sie weder Dach noch Fach habe, wo sie ihr
zermartertes Haupt niederlegen könnte. Befand er
sich doch manchmal selbst in ähnlicher Lage.
Ein Weilchen stand er bekümmert vor ihr, da er
diese Riesin nicht verlassen wollte, zu der er sich
so hingezogen fühlte. Plötzlich kreischte er
triumphierend auf, ergriff Käthes Hand und zog sie
mit sich fort in der Richtung nach dem Poly-
technikum.

381
Weshalb sollte sie nicht in Wodnieckis Atelier
nächtigen?
Gern trit er ihr seinen Strohsack ab und seine
Decke, während er selbst sich irgendwo anders hin-
legte. Hatte er nicht schon öfters irgend einen
herrenlosen Hund dort aufgenommen und an seiner
Seite ruhen lassen?
Nur mußte er dann sich ganz leise einschleichen
mit seiner Begleiterin und schleunigst durch die
stillen hohen Gänge schlüpfen. Nur wie eine
Schmugglerware konnte er solches Elend in diesen
Prachtbau einbringen, dessen Marmorfliesen von
Sauberkeit nur so blinkten.
Mit seltsamer Leichtigkeit ließ sich auch Käthe
dort von ihm einschmuggeln in der Gewißheit, daß
er sie wenigstens unter Dach und Fach bringe und
vor einer möglichen Begegnung mit der Polizei
schütze,
Gleichwohl zögerte sie noch auf der Schwelle des
Ateliers. Trotz des Halbdunkels blinkten dort nasse
Tonhaufen, mit Lappen bedeckt, in Gestalt phan-
tastischer Tiere, während die riesigen Statuen, die
bis zur Decke aufragten, fast im Schatten ver-
schwanden.
Schnell stieß sie der Taubstumme fast mit Ge-
walt hinein und verschloß sorgfältig die Tür.
Dann zog er einen Lichtstumpf aus der Tasche,
brannte ihn an mit einem Streichhölzchen und
stellte ihn auf den Ständer der „Nixe”.

382
Als der gelbliche Lichtschein hauptsächlich auf die
nackten Füße dieser Statue im Fischnetze fiel,
blickte Käthe ängstlich nach der weißen regungs-
łosen Gestalt mit den ausgestreckten Armen.
Ach, sie erkannt dieselbe nur zu gut,
Eine Magd, wie sie selbst, hatte sie unverhüllt sich
in Ton für ein paar Groschen nachbilden lassen.
Bei diesem Gedanken durchschwirrte ein Chaos
Käthes Sinn. Auch ihr hatte man solchen Verdienst
angeboten, den sie aber ablehnte, stolz auf ihre
Arbeitskraft und ihrer Hände Arbeit, in die sie sich
für immer einspinnen wollte. Heut aber, wer weiß —
Hunger und Not, das ist eine harte Schule. Heut
würde sie nicht mehr so entrüstet sein, wenn jener
kleine Herr ihr dasselbe anböte. Vielleicht erklärte
sie sich doch dazu bereit, wenn er ihr erlaubte,
irgend eine Hülle umzubehalten. Dann stellte sie
sich ebenso hin mit ausgestreckten Armen, wie jenes
Weib, das dort im erlöschenden Lichtscheine noch
blinkte ...
Inzwischen breitete ihr der Taubstumme seinen
Strohsack zu den Füßen der Nixe hin und zeigte
lachend auf dies elende Lager. Sie aber dankte ihm
mit einem Kopfnicken für seine Gastfreundschaft.
Als sie vor Ermattung auf den Strohsack sank,
biß sich der Kleine vor Freude in den Finger und
stand noch lange vor ihr, bis sie die Augen schloß.
Nur ab und zu noch warf das erlöschende Licht
wie im Krampf oder im Tanze den flackernden

383
Schein auf Kithes entblóBten Arm, der, aus der zer-
rissenen Jacke hervortretend, wie ein heller Fleck
von den dunklen Lumpen abstach und bałd im Licht-
schein blinkte, bald in Schatten verschwand.
Unwillkürlich neigte sich der Krüppel über die
Schlummernde. Dieser weiße Körper eines lebenden
Weibes zog ihn mächtig an und heischte seine Be-
rührung.
Bisher hatte er nur Gips- oder Marmorarme be-
rührt. Jetzt aber vermochte er der Versuchung nicht
zu widerstehen und streifte mit den Fingern Käthes
Arm. Obgleich derselbe sich ganz kühl anfühlte, lief
es ihm plötzlich wie Feuer bis an die Fingerspitzen.
Betroffen prallte er zurück in die Ecke und
brummte wie ein junger Bär.
Inzwischen schlief Käthe hart und fest und verfiel
in einen an Erstarrung grenzenden Zustand.
Über ihr erhob sich die Nixe, leicht und schlank,
wie eine Wasserlilie und bildete so einen voll-
ständigen Gegensatz zu Käthes üppiger Gestalt.
Trotzdem lieferten deren volle Arme und kräftige
Hüften wie auch Busen Hals und Nacken das vor-
züglichste Material, um den Typus eines Riesen-
weibes und einer Mutter aus dem Volke zu schaffen.
Noch einen flüchtigen Strahl warf das jetzt ganz
erlöschende Licht auf die tote Nixe und auf die
lebende Karyatide —
dann verschwanden sie beide im Dunkel,

384
ei doch nicht so ungeschickt! Zieh’ das Laken
4.7 höher herauf!“
Und Käthe geliorchte und zog mit zitternder Hand
die dünne Hülle auf die entblößten Hüften.
So stand sie halb nackend da im hellen Tageslicht,
vom Gürtel an in schmutzigweißen Perkal gehüllt.
Auch die Füße waren bedeckt und nur die Nägel
sichtbar unter der nicht übel angelegten Draperie.
Am Gürtel war der Perkal mit einigen Nadeln be-
festigt, deren schwarze Köpfe vom weißen Gewebe
abstachen.
Nur die Büste blendete fast die Augen durch ihre
prächtige Nacktheit und hob sich wundervoll ab von
den Gips- und Marmorbüsten der Statuen. Ein heller
Lichtstrom aus dem Fenster überflutete mit Silber-
głanz die vollen Schultern und die kühnen, aber
reinen Linien des Busens, den die Mutterschaft noch
verstärkte zur Größe der vollentwickelten Karyatide.
Vor ihr stand mit entzücktem Lächeln Wodniecki
und formte mit Fieberhast aus den Tonmassen den
üppigen Körper, der im hellen Tageslichte so deut-
lich hervortrat.
Käthes Gesicht kümmerte ihn wenig, da es ihm
zu welk und verändert erschien. Ebensowenig der '
Hals, dessen Haut ihm zu sehr ausgedehnt war.
Die bis zu den Hüften reichende Draperie ließ
von Schenkel und Waden nur die Umrisse erkennen.
So verbesserte der Künstler die Natur, indem er
nur, was noch schön war, dem Modell entnahm und
daraus ein Meisterwerk schuf,

25 zane i . 385
Käthes erhobene und über dem Kopf überein-
andergelegte Arme zitterten schon vor Ermüdung, da
sie schon beinah eine Stunde lang so dastand. Gleich-
wohl wagte sie nicht, sich zu melden.
Auch der Hunger setzte ihr zu. Denn der Taub-
stumme hatte sie nicht bewirtet, da er selber nicht
frühstückte.
Wodnieckis Taschen befanden sich offenbar in
traurigem Zustand und enthielten schwerlich die zur
Ernährung seiner Kunstjiinger erforderliche Summe.
Trotzdem arbeitete er mit verdoppeltem Eifer, nach-
dem er hochbeglückt die in seinem Atelier Nächtigende
aufgefunden und sie zumModellstehen überredet hatte.
Dies gelang ihm leichter, als er erwartete.
Käthe aber verlor vor Hunger und Elend schon
fast alle Willenskraft. Nachdem sie sich anfangs noch
hartnäckig geweigert, gedachte sie ihres Kindes und
ihrer Schwäche und ging endlich auf den Vor-
schlag ein. |
Die Zähne zusammenbeißend, ließ sie nach und
nach all ihre Lumpen fallen, obgleich eine Blutwelle
ihr bis in den Kopf stieg,
Als sie endlich halb unverhiilit dastand
vor dem
Bildhauer, hielt sie noch ein Weilchen den
Kopf ge-
senkt und kämpfte mit dem Reste von Schamgefühl,
der ihr die Tränen aus den Augen preßte.
Anfangs fürchtete sie sich vor dem lustigen
Künstler, in der Meinung, er werde nur Scherz mit
ihr treiben und sie so behandeln, wie sie es an-
scheinend verdiente.

386
Wodniecki aber sah, ganz durchdrungen von seiner
Arbeit, in ihr nicht das Weib, sondern nur das echte
Modell und die in Galizien sich nur selten bietende
Gelegenheit, ein solches zu finden, da das Modell-
stehen hier noch nicht zum Geschäfte geworden ist.
Männliche Modelle mußte der Künstler bisher
unter Kollegen suchen, weibliche dagegen nur in
schmutzigen Kneipen und Gassen unter den niedrig-
sten Volksschichten.
Nur jene „Nixe‘“ schuf er nach einer armen, aber
ehrbaren Magd seiner Schwägerin.
Heute stand die zweite in Käthes Person auf der
aus Brettern hergestellten kleinen Erhöhung, lebhaft
errötend im Glanze des Frühlingsmorgens.
Nachdem er schon eine Stunde eifrig gearbeitet
hatte, dabei aber ganz vernünftig geblieben war,
beruhigte sie sich allmählich bei dem Gedanken, daß
er ihr nichts antun werde, obgleich sie so hall
entkleidet vor ihm stand.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und herein-
trat ein Herr, der durch sein Äußeres sofort seinen
wunderlichen Charakter und sein Haschen nach
Originalität kennzeichnete.
Der Hut saß schief auf dem linken Ohr. Die
Hände steckten in den Taschen des kurzen Sack-
paletots; der Schnurrbart war fast bis zur Nase
hochgedreht und der Blick schweifte unstät von
einem Gegenstande zum andern — kurz, alles an ihm
erschien aufdringlich und erkünstelt, und gab ihm
den Anstrich einer beweglichen Gliederpuppe,

25* 387
Einen Gassenhauer trällernd, näherte er sich, ohne
den Hut abzunehmen, dem Künstler, reichte ihm mit
Gönnermiene die magere Hand und fragte in kurzen,
abgerissenen Sätzen: „Na, wie stehts? Denkmal für
Historiker schon fertig? Möcht’ es gern sehen. Wo
ist es?“
Sein ganzes Auftreten verriet die Sucht, möglichst
aufzufallen oder Eindruck zu machen.
Wodniecki aber schrie, ohne seine Arbeit zu unter-
brechen, nur Käthe zu, sie solle ruhig stehen bleiben,
da sie beim Anblick des Fremden irgend eine Hülle
über sich werfen wollte.
Dann zeigte er nach dem äußersten Winkel und
erwiderte dem vor ihm stehenden Herrn: „Dort ist
das Medaillon.“
Der Schriftsteller oder Zeitungsschreiber aber be-
merkte jetzt Käthe und sah sie verwundert an.
Unwillkürlich schloß sie die Augen, um die Blicke
dieses Mannes nicht zu sehen, die über ihren nackten
Körper glitten und ihr geradezu körperlichen Schmerz
bereiteten. Sah jener sie doch bei hellem Tages-
lichte, kaum verhüllt in ein Stück Perkal!
„Woher nahmen Sie dies?“ fragte endlich der
Kritiker und verzog verächtlich den Mund.
„Ist das nicht ein prächtiges Modell? Sehen Sie
nur diese Büste, diese Arme!“
„Allerdings ... Wo bleibt aber das Schöne, das
Ideal?“
„O, sie ist ja nur eine Magd, aber doch wie ge-
schaffen zu einer Karyatide.“

388
„5000? Das ist etwas anderes! Und ist das
Ihre —“
Hier brach er ab, als wolle er sich die Lippen
nicht beflecken mit dem Worte „Geliebte“, während
seine dünnen Nasenflügel zitterten und die Hände
nervös am Paletot zupften.
„Wieso?“ erwiderte achselzuckend der Künstler.
„Sie wissen doch, daß ich so etwas nicht liebe, son-
dern stets nur platonisch. Übrigens, wenn Sie wollen,
können Sie das Mädchen mitnehmen, obgleich mir
scheint, als würden Sie jetzt mitihr sich eine unnötige
Sorge aufbürden.“
Schnell öffnete Käthe die Augen.
O, sie verstand recht gut, was die beiden soeben
von ihr sprachen. Woher hatte der kleine Bildhauer
das Recht, sie diesem Herren anzubieten, der sie so
boshaft anblickte? Arm und hungrig war sie aller-
dings und ließ sich sogar in dieser Not als Modell
verwenden. Aber nimmermehr würde sie sich auf
solch ein schändliches Anerbieten einlassen.
Der Kritiker jedoch besänftigte sofort ihre Auf-
'regung, indem er, sich von ihr abwendend, ausrief:
„Pfui! Das ist mir zu schmutzig. Ich lasse mich
nicht mit dem Pöbelein. Wozu sind die — Damen da?“
Er ließ sich, den Zylinder schiefer setzend, auf
einem Steinblock nieder und pfifi, die Beine über-
einanderschlagend, einen Walzer aus einer Operette.
Jetzt trat eine lange Pause ein.
Käthe fiel beinahe um vor Müdigkeit, wagte aber
doch nicht, sich zu rühren. Daran hinderte sie die

389
versprochene Bezahlung, für die sie sich etwas
warmes Essen kaufen wollte.
Plötzlich stand der Kritiker, der gelangweilt Wod-
niecki bei der Arbeit beobachtet hatte, auf und trat
dicht an die Erhöhung, auf welche der Bildhauer sein
Modeli gestellt.
Mit boshaften Blicken maß er dies vollenwickelte
Weib, welches nur von den Hüften an in ein weißes
Gewebe gehüllt war und von unten gesehen nur um
so größer erschien.
Gesicht und Hals waren von der Sonne gebräunt
und stachen grell ab von der übrigen Körperfarbe, .
wie auch die Arme bis zu den Ellenbogen mit ihrer
Kupferröte, die sie von den so oft gescheuerten
Kesseln und Kasserollen entliehen zu haben schienen.
Dies war allerdings nicht jenes Ideal mit Marmor-
oder Atlashaut, wie die Salonschriftsteller es so gern
beschreiben. Wohl aber war es der Typus des voll-
entwickelten, wenn auch durch Not und Elend,
Sinnengenuß und Mutterschaft stark mitgenommenen
Weibes, mithin auch einer Mutter, jener Karyatide,
die als Stütze der Gesellschaft zukünftige Ge-
schlechter auf ihrem Nacken trägt.
So stand sie da im Frülingsglanze der Jugend,
riesengroß und unverderbt trotz ihrer Nacktheit,
während zu ihren Füßen jener Pygmäe mit dem
kleinen Kopf und mit dem noch kleineren Hirn immer
nur gedankenlos die Worte wiederholte: „Nur das
Ideale muß man suchen in der Kunst.“

390
Eine ganze Woche schon nächtigte Käthe in Wod-
nieckis Atelier und schlief auf dem zerlumpten
Strohsacke des Taubstummen, um in aller Frühe
aufzustehen und ihre Modellstellung einzunehmen.
Allmählich an ihre Lage gewöhnt, legte sie
schweigend ihre Lumpen ab und hüllte sich in ihre
Draperie, deren Faltenwurf sie dem Künstler überließ.
Das vernünftige Benehmen desselben beruhigte
sie vollends, sodaß sie nicht mehr fieberhaft zitterte,
wenn seine kleine weiße Hand ihre nackten Glieder
berührte.
Ganz aufgehend in seiner Arbeit, vergaß er Blut
und Sinne, obgleich auch seine Wangen ab und zu
sich fieberhaft röteten. Ihre Nacktheit aber reizte
ihn nicht.
Zitternd vor Eifer wünschte er nur, ein Meister-
werk zu schaffen und so bald als möglich zu voll-
enden.
Den ganzen Vormittag verbrachte Käthe beim
Modellstehen, den Nachmittag dagegen in der Sa-
kristei jener Kirche beim Scheuern, Fegen und
Fensterputzen.
Der alte Küster hatte Wort gehalten und gab ihr
täglich einige Groschen zu verdienen.
Freilich mußte sie dafür auch schwer arbeiten
und in gebückter Stellung oft bis an die Knie in
schmutzigem Wasser waten.
Wodniecki gab ihr vier Groschen nach der ersten
Sitzung. Das übrige mußte sie ihm stunden.
Zu mahnen wagte sie ihn nicht, da er immer so

391
gut gegen sie war und nur ab und zu wegen ihrer
Dummheit seinen Scherz mit ihr trieb,
Überdies fürchtete sie, sonst ihr freies Nachtlager
zu verlieren. Nun hatte sie doch immer ein Dach
über dem Haupte, und das war schon viel wert,
Ob Wodniecki freilich imstande war, ihr alles auf
einmal auszuzahlen, wer konnte das wissen?
Inzwischen entstand unter der Hand des Künstlers
eine prächtige Karyatide, die blütenweiß unter der
feuchten grauen Hülle hervorblinkte, mit der sie
nachts bedeckt wurde.
Und dies war Käthe in ihrem ganzen viel-
bewunderten, vollentwickelten Riesenbau, sogar mit
denselben, nur etwas zarteren, dabei aber doch
scharf ausgeprägten Gesichtszügen. Infolge dieser
Ähnlichkeit war auch der Gesichtsausdruck, nament-
lich um den Mund herum, ein auffallend schmerz-
licher. In ihrer Trübsal und Ermattung vermochte
Käthe das Herzeleid nicht zu verbergen, welches sich
in schmerzlichen Zügen auf ihrem Gesichte ausprägte.
Unwillkürlich hatte der Künstler dies getreu nach-
gebildet, später aber, als er das Ungewöhnliche
darin bemerkte, sich anders besonnen und seine
Karyatide mit wehmütigem Lächeln dargestellt.
Mit diesen Spuren des Leids auf dem schönen
Antlitze sollte sie Jahrhunderte überdauern und mit
den Steinaugen herab auf die ganze Schar von
Männern blicken, die wie ein Rudel gieriger Wölfe
auf ihren Körper losstürzten, um ihn auf jede Weise
auszubeuten.

392
Nur der kleine Kritiker konnte nicht unbefangen
diese große traurige Gestalt anblicken, so scheute er
die nackte Wahrheit, die ihm so rücksichtslos vor
Augen geführt wurde.
Vielmehr schwärmte er für die wesenlose Gestalt
der auf einem Felsblock lagernden Venus. Dies war
für ihn der Gipfel aller Schönheit, das letzte Wort
der Poesie. Nur so etwas wirkte auf ihn aufregend,
fast sinnverwirrend, und mit der Menge berauschte
er sich an der Wonnegestalt der mythologischen
Göttin, die nur zweideutig ihre Reize verhiillte.
Käthe dagegen in ihrer üppigen, aber abgehärmten
Gestalt, mit ihrem nicht koketten, sondern weh-
mütigen Lächeln, trat ihm, wie auch der Menge, ur-
plötzlich vor Augen, wie ein Fragezeichen, als riefe
sie ihnen zu: „Ich, ein vollentwickeltes Weib und
eine junge Mutter, wurde dennoch mißhandelt, wie
ein Vieh dafür, daß ich den Zweck erfüllte, zu dem
ich geschaffen bin. Seht, wie ich leide, wie meine
Lippen bitter sich beklagen, trotz ihres Schweigens.
Meine Schuld ist groß, noch größer aber mein Leid.
Ihr aber, die ihr mich in den Abgrund gestoßen, wo
bleibt eure Strafe? ...“
Eine ganze Woche also hatte Käthe schon im
Atelier genächtigt und war immer ruhiger geworden.
Trotz der Besorgnis um die Zukunft schlief sie
oft stundenlang ununterbrochen.
Der Taubstumme hing an ihr wie ein treuer Hund
und bemühte sich auch auf alle Weise, ihre Lage
zu erleichtern. Sogar seine letzte Decke überreichte

393
er ihr mit feierlicher Miene. Sie dagegen teilie mit
ihm alles EBbare, was sie mitbrachte. So unter-
stiitzten und halfen sich gegenseitig diese beiden
Ärmsten.
Jetzt schlief der kleine Stümper in einem Winkel
schon auf der bloßen Erde und legte nur die Faust
unter den Kopf.
Beim matten Scheine des auf dem Gestelle noch
glimmenden Lichtstumpfes beobachtete er Käthe, bis
sie sich zur Ruhe legte,
Nicht wenig beunruhigte ihn ihre Anwesenheit, und
lange wälzte er sich an der Erde, bevor er einschlief.
Gleichwohl wagte er niemals, sie zu berühren, solch
eine Furcht und Achtung flößte sie ihm ein. So oft
ihn auch die Lust anwandelte, ihre weiche Haut zu
streicheln, wenn sie so rosig schimmerte in den
Strahlen der Morgensonne, immer fürchtete er sich
vor ihren kräftigen Fäusten.
Sie dagegen schien die Unruhe gar nicht zu be-
merken, die sie unbewußt in ihm erregte. Müd und
matt schon morgens stand sie auf und fragte, wie
iener Dänenkönig täglich seine Höflinge: „Also
morgen ist auch noch ein Tag?“ ...
An einem trüben, naßkalten Vormittage schlug der
Regen an die Fensterscheiben im Atelier,
Käthe zitterte vor Frost, als sie fast unbekleidet
mitten in diesem großen, hohem Raume stand.
Auch Wodniecki arbeitete nur langsam und in
düsterer Stimmung, da er, ohnehin sehr reizbar,

394
namentlich gegen Witterungswechsel sehr empfind-
lich war. i
Selbst der Taubstumme hockte trübselig im
Winkel, wie ein Hund, dem ein Hundewetter die
gute Laune raubte.
Mit verdoppelter Wucht schlug der Regen an die
Fenster. Die Scheiben trieften förmlich vom Wasser,
welches in blinkenden Furchen herablief. Auch aus
den nahen Dachrinnen plätscherte das Wasser in
schäumender Kaskade hernieder.
Im ganzen Polytechnikum war alles öd und still,
als hätten selbst die fleißigen Ameisen dort sich
verkrochen vor dem Unwetter.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.
Zitternd ließ Käthe die Arme herabsinken, als sie
in dem Eintretenden — Frau Julias früheren Lieb-
haber erkannte. Ganz deutlich erinnerte sie sich
noch jenes breitschultrigen Blonden, den sie einige-
mal bei mattem Laternenscheine gesehen.
Mit einem Lächeln der Befriedigung blickte er sie
an. Das war für ihn keine üble Zerstreuung an
solchem trüben, regnerischen Tage.
An toten Körpern fehlte es ihm nicht, da er sie
Studien halber sezieren mußte. Um so mehr zog ihn
solch lebender weiblicher Körper an, in dem das
Blut so frisch pulsierte.
Schnell warf er den nassen Mantel ab und trat in
die Mitte des Ateliers.
Dort begrüßte er den Künstler und überreichte
ihm ein anatomisches Werk, dessen er für einige

395
Tage bedurft. Dann setzte er sich auf einen Stein-
block, ziindete sich eine Zigarre an und nickte Kathe
zu, die, allmählich wieder zu sich gekommen, ihre
frühere Stellung wieder einnahm.
„Woher, zum Kuckuck, nahmst du diese Ma-
schine?“ fragte er endlich den Künstler. „Das ist
ja ein Haus, aber kein Weib!“
„Auf dem Markt kauft’ ich sie in einem Bündel
Mohrrüben“, erwiderte jener trocken, ohne von der
Arbeit aufzusehen.
„Ach, fasle nicht!“ rief lachend der Student. „Auf
dem Markte kannst du sie schon aufgelesen haben,
aber nicht unter Mohrrüben!“
Dann musterte er Käthe mit größter Aufmerk-
samkeit. Trotzdem erkannte er sie nicht, da er sie
früher nur kurze Zeit und flüchtig gesehen,
Allerdings hatte er damals die Hand nach ihr aus-
gestreckt, als sie ihm den Auftrag ihrer Herrin über-
brachte. Dies hatte er aber schon so oft bei anderen
Weibern getan, deren Gesicht er nicht einmal er-
kennen konnte in der Dunkelheit. Daher erschien
sie ihm völlig neu und unbekannt und seine zügel-
losen Sinne schwelgten in ihren üppigen Formen.
Unsägliche Qualen litt Käthe bei diesen Blicken.
Kannte sie doch nur zu gut diese verzückten Männer-
augen als die Vorboten einer Vertierung des
Menschen. Daher zitterte sie schon bei dem Ge-
danken, daß sie einer solchen zum Opfer fallen
könnte und fühlte sich unbeschreiblich erleichtert, als
Wodniecki ihr das Ende der Sitzung ankündigte.

396
Da ihm die Arbeit heut nicht recht von der Hand
ging, wollte er sie lieber auf später verschieben.
Nachdem Käthe von ihrem Platz herabgestiegen,
mußte sie an dem Studenten vorübergehen, der dicht
neben ihren abgelegten Kleidern saß.
Mit auf der Brust gekreuzten Armen wollte sie an
ihm vorbeischlüpfen, ohne seine ausgestreckten Füße
zu berühren.
Er aber sprang auf und umschlang sie mit den
Armen, denen sie sich jedoch entwand, indem sie ihn
weit von sich stieß mit aller Kraft, über die sie
noch verfügte.
Der Student taumelte zurück auf den Steinblock,
auf dem er bisher gesessen, fand aber zum Aus-
drucke seines Erstaunens nur die Worte: „Ha! diese
Bestie!“
„Ach! laß sie doch zufrieden“, rief ihm der Künst-
ler zu, der sich zum Ausgehen anzog. „Sie ist schon
elend genug!“
Anders aber dachte der Student.
Dieser Trotz fachte ihn nur noch mehr an und
bestärkte ihn in seiner Absicht.
Solche Bettlerin wagte es, ihm zu widerstehen,
ihm, der sogar in den Salons die Wahl hatte!
Und mit verdoppeltem Groll sah er ihr zu, wie
sie sich ankleidete.
Ihre Lumpen waren zwar nicht gerade anziehend.
Was aber fragt danach in der Leidenschaft ein
Mann? Unter der zerlumpten Jacke hervor blinkte
der weiße Arm. Das genügte, daß das Tier in ihm

397
nicht einschlief! Ein Stück weißen Körpers, das ist
alles, was solch ein Mann begehrt!...
Gleich darauf entfernte sich der Student mit dem
Bildhauer, beschloß aber im Innern, bald zurück-
zukehren.
An der nächsten Straßenecke schon verabschiedete
er sich und verschwand in einem engen Gäßchen,
welches eine Art von Engpaß bildete. Von dort eilte
er nach dem Atelier zurück und begegnete auf der
Schwelle der soeben heraustretenden Käthe.
Als er sie hastig mit der Hand zurückhalten wollte,
flüchtete sie sich ängstlich hinter die Statuen und
ihr Gesicht ward vor innerer Aufregung ebenso
bleich wie diese. Wußte sie doch nur zu gut, was
dieser Mensch von ihr wollte, dessen Blick auf ihr
wie ein Backenstreich brannte,
In wahrer Todesangst schmiegte sie sich an die
stummen, kalten Steinbilder, als suche sie dort Schutz
und Hilfe vor den Menschen, die sie in all ihrem
Elend noch überfielen.
Tiefe Stille herrschte im Atelier.
Ohne ein Wort zu sprechen, standen die beiden
eine Zeitlang einander gegenüber. Nur der Regen
plätscherte an die Fenster, und immer keuchender
wurde der Atem des Mannes, während Käthe, den
ihrigen anhaltend und den Feind anstarrend, die
Fäuste ballte, wie bereit zum Kampfe, den sie längst
erlernt, wie ein heimatloses, hin und her gehetztes
Wild.

398
Zuerst trat der Mann mit seltsamem, fast krampf-
haftem Lächeln einige Schritte vor, und streckte, wie
der Herr der Schöpfung, die Hand aus nach dem
Wesen, welches, wie er sich vorgenommen, ihm zur
Beute fallen sollte.
Sie aber hüllte sich hastig in ihre Lumpen und
versuchte mit beiden Händen den Angriff abzuwehren-
Ihre sonst etwas trivialen Gesichtszüge verschwan-
den vor dem Ausdrucke des Zornes und des Ab-
scheues, der sie verzerrte. Die ganze Verachtung,
die sich in ihrem kurzen, aber traurigen Leben an-
gesammelt, prägte sich in den sonst halberloschenen
Augen aus.
So blickte sie ihm starr in das Gesicht und nervös
zuckten ihre Lippen. Fast glich sie einer Löwin,
die auf den Jäger losstürzen will, um ihn abzuwehren.
Der Student jedoch beachtete dies gar nicht. Das
Blut stieg ihm zu Kopfe und benahm ihm beinahe
die Besinnung. Blindlings stürzte er auf sie los, um
sein Ziel zu erreichen...
Doppelte Kräfte verlieh ihm die . Leidenschaft.
Hastig ihre ausgestreckten Arme beiseite schiebend,
preßte er sie an sich.
Jetzt begann ein entsetzlicher Kampf, wie auf
Leben und Tod, der schmachvollste, den je ein Mann
zu führen vermag und bei dem das Blut in den Adern
zu Eis erstarren müßte.
Während das Weib sich selbst, das eigene Ich,
seinen Körper und alles, was noch sein Eigentum
war, verteidigte, schlug der Mann die Unglückliche

399
fast zum Kriippel und zerrte sie hin und her, ohne
auf ihr Angstgeschrei zu achten, nur um sie zu ent-
ehren und in unauslöschliche Schmach und Schande
zu stürzen ...
Plötzlich stürzte mit markerschütterndem Ge-
kreische hinter den aufgesteilten Steinplatten der
Taubstumme hervor und stieß auf die beiden ein-
ander Mißhandelnden wie ein Raubvogel hernieder.
Mit seinen langen, dürren Fingern packte er das
üppige Haar des Mannes und zerzauste es mit aller
Kraft unter fortwährendem Geschrei.
Der rasende Schmerz zwang jenen sofort, Käthe
loszulassen, die hierauf ohnmichtig zu Boden sank,
während der Taubstumme voller Wut sich auf den
durch den unerwarteten Angriff halbbetäubten Stu-
denten warf. Mit affenartiger Geschwindigkeit zer-
kratzte er ihm das ganze Gesicht mit den langen
Nägeln. Dies Mittel half,
Hastig verließ der Blonde das Atelier und warf
die Tür hinter sich zu.
Erst unter dem strömenden Regen kam er wieder
ins Gleichgewicht und eilte nach kurzem Verweilen
auf dem Hofe nach Hause. Sorgfältig verbarg er das
blutig zerkratzte Gesicht unter dem Regenschirm,
aus Furcht vor irgend einer Begegnung.
Inzwischen lag Käthe noch immer krampfhaft
zitternd und stöhnend auf der Erde, so hatte der
Kampf ihre Kräfte erschöpft und ihren ganzen Körper
erschüttert.

400
Vor der Unglücklichen kniete der Taubstumme
und suchte sie zu trösten und zu beruhigen. Dabei
heulte er wie ein treuer Hund, der das Leid seines
Herrn mitfühlt und versteht. In die Augen traten
ihm Tränen, und das ganze Gesicht drückte unge-
heucheltes Mitleid aus.
Obgleich durch die Lumpen ihm Käthes blendend-
weiße Haut entgegenblinkte, berührte er sie nicht,
sondern deckte zartfühlend sie zu und kniete wie
zuvor und weinte bitterlich.
Dies war der einzige Mann auf Käthes Lebens-
wege, der nichts von ihr forderte, der eine Träne
des Mitleids für sie übrig hatte, und der nicht mit
viehischer Leidenschaft vor ihr erschien.
Dieser Mann aber war — bekennen wir die traurige
Wahrheit — eben ein — Blödsinniger.

Tags darauf fühlte Käthe sich so krank, daß sie


außer Stande war, Modell zu stehen.
Fortwährende Krämpfe schnürten ihr die Brust zu-
sammen und zwangen sie, sogar das Stöhnen zu
unterdrücken, welches sich mit aller Gewalt über die
Lippen drängte. Dabei litt sie an heftigen Kopf- und
Kreuzschmerzen.
Tiefbekümmert über ihren Zustand, stand sie ein
Weilchen schweigend da und hielt die eben ausge-
zogene Jacke in der Hand.

26 Käthe 401
Auch der Kiinstler sa8 diister und abgespannt aut
einem Holzschemel. Das Unwetter zog sich in die
Länge und wirkte ungünstig auf seine Nerven.
Ein Weilchen sah er Käthe an, dann nahm er die
nassen Lappen, die seine Karyatide bedeckten.
„Du Kannst schon gehen“, hob er an, seine Arbeit
wieder verhiillend. „Wiederzukommen brauchst du
auch nicht: du bist nicht mehr nötig!“
Nicht mehr nötig!
Allerdings! Welch kühle Abfertigung aber, nach-
dem er ihren Körper, den besten Teil ihres Wesens,
so ausgenutzt!
„Jetzt kannst du gehen, bist nicht mehr nötig!“
Alles ließ sie hier zurück, das Schönste, was sie
besaß als Bettlerin.
Ihr Körper wird ihm Ruhm einbringen, wer weiß,
vielleicht auch eine Menge Geld. Sie aber, das Ge-
rippe, das Gerüst, auf dem er sein Kunstwerk auf-
gestellt, — kann gehn, ist nicht mehr nötig! ...
Schweigend wollte Käthe sich entfernen.
Wieder entging ihren Händen der Verdienst, den
sie erwartet. Denn der Bildhauer hatte offenbar
nicht die Absicht, seinem Modelle die so prahlerisch
versprochenen drei Groschen für jede Sitzung aus-
zuzahlen.
Ruhig saß er da und trällerte eine Walzermelodie
vor sich hin.
„Komm auch nicht mehr hierher über Nacht“, fügte
er hinzu. „Der Hausverwalter hat dich gesehen und

402
mir Vorwürfe gemacht, Du könntest mich sonst
irgend einem Verdachte aussetzen.“
Käthe erwiderte kein Wort.
Wieder verlor sie ihr Obdach über Nacht und
wußte, daß sie wieder im Freien herumirren müsse.
Unwillkürlich schloß sie die Augen, wie beim An-
blicke von irgend etwas Entsetzlichem, welches ihrer
harre, Allmählich jedoch sammelte sie den Rest ihrer
Kräfte und wankte nach der Tür.
Wodniecki sah in ihrer Langsamkeit die Erwartung
der ihr mit Recht zukommenden Bezahlung und rief
ihr nach mit herablassender Handbewegung: „Hör
einmal, du, nach acht Tagen oder nach vier Wochen
kannst du wieder zu mir kommen. Dann werd’ ich
dir ein paar Gulden geben. Na, wirst du kommen?“
In diesem Augenblicke bedauerte er sie wirklich
aufrichtig, diese zerlumpte, barfüßige Bettlerin, die
in solchem Hundewetter in die Welt gehen mußte
ohne einen Pfennig Geld und ohne sicheren Verdienst.
Diesen Morgen war er nur, wie er sich ausdrückte,
selbst vollständig abgebrannt, weil seine Flotte noch
nicht eingelaufen sei. Wäre er irgend bei Kasse ge-
wesen, unzweifelhaft hätte er der Ärmsten etwas ge-
geben, die jetzt vor der Tür stand und mit Tränen
in den Augen vor sich hin starrte.
„Vielleicht finde ich für dich noch irgend eine: Be-
schäftigung“, fügte er hinzu mit eigentümlichem
Lächeln: „Wenn du nur nicht schon so aus der Form
geraten wärest!“
Alles übrige ergänzte sein Blick.

26* 403
Eine Blutwelle überströmte Käthes Antlitz. Ohne
den Scherz ganz zu begreifen, verstand sie doch im
"Nu dies Lächeln und diesen Blick und preßte mit
nervöser Hast ihre Lumpen an sich.
Wie? So auffällig also sah sie schon aus, daß die
Leute ihr nachgafiten, ihr diese Schande in das Ge-
sicht warfen oder sie auslachten? Wie von Sinnen
lief sie hinaus aus dem Atelier, ohne sich noch ein-
mal umzusehen.
Noch niemals fühlte sie ihre Schmach so tief wie
jetzt. Bisher glaubte sie, ihr Zustand sei nur ihr
selbst bekannt und ihre Schande noch nicht auf der
Stirn ausgeprägt. Jetzt aber sahen und wußten es
schon alle Leute! Wie sollte sie sich vor deren Spott
und Verachtung verbergen?
Und, wenn das Kind auf die Welt käme, was sollte
sie mit ihm anfangen und wie es ernähren? ...

Is Käthe die Straße betrat, war es schon stock-


finster. Lange kauerte sie an der Erde und
zögerte und wagte kaum weiterzugehen und den
Leuten in die Augen zu sehen.
Erst als sie sich mitten im Straßenlärm befand,
mußte sie doch einen Entschluß gefaßt haben. Denn
mit Fieberhast eilte sie nach der Vorstadt, in der sie
früher gewohnt hatte, Mit glühenden Wangen, ihre
Lumpen an sich pressend, lief sie so schnell, daß sie
alle Leute anstieß,.

404
Bald darauf stand sie vor der Tür jenes Hauses,
das ihr so wohlbekannt und vordem so teuer war.
Ihr Blick versenkte sich in den dunklen Hausflur, den
sie doch nicht zu betreten wagte.
Offenbar suchte sie in ihrer höchsten Aufregung
Johann. Vielleicht wollte sie sich rächen für all die
Kränkungen, die er ihr zugefügt, seit sie ihn kennen
gelernt hatte,
Nichts Gutes verkündeten die krampfhaft zu-
sammengepreßten Lippen. Denselben Gesichtsaus-
druck zeigte sie, wie damals, als sie Rosa bei den
Haaren faBte, da droben in der dunklen Boden-
kammer.
Endlich erhob das lange mißhandelte Tier in ihr
das Haupt und suchte den Urheber seines Unglücks
und lauerte ihm auf, wie ein schwer verwundetes
Raubtier.
Lang stand sie so, da kam Mary aus der Haustür
und bemerkte beim matten Laternenschein die dort
regungslos stehende zerlumpte Gestalt, die sie sofort
an Käthe erinnerte.
Hastig näherte sie sich ihr und erkannte wirklich
den „Mehlsack aus dem dritten Stock“. Obwohl
Käthe nicht eben erfreut über diese Begegnung, sich
ängstlich abwandte, faßte Mary sie am Rock und
rief: „Käthe, du bist es? Was willst du hier?“
„Fräulein“ sagte sie nicht mehr zu ihr, wie früher,
da sie fühlte, dies sei lächerlich gegenüber einer so
zerlumpten Erscheinung.

405
Kathe zog nur die Brauen zusammen und blickte
sie finster an, erwiderte aber kein Wort.
„Suchst du etwa Johann hier, den Galgenstrick?“
fragte Mary, mit weiblichem Scharfsinn erratend,
weshalb Kathe hierher kam. „Da kannst du lange
suchen! Schon längst haben wir einen andern Por-
tier und jener Lump ging in einen anderen Dienst.
Wegen seiner ewigen Liebschaften in allen Stock-
werken, bald mit dieser, bald mit jener, jagten sie
ihn fort, und mit vollem Rechte. Mag er die Mädchen
hier in Ruhe lassen und nicht so ins Unglück stürzen,
dieser Nichtsnutz!“
Traurig ließ Käthe den Kopf hängen, als sei alle
Rachgier in ihr verweht. Im Herzen empfand sie
nur das tiefste Weh, daß Johann sie so betrogen,
während sie so schwer, so unsäglich schwer zu leiden
hatte...
Endlich zog Mary sie zur Haustür hinein und er-
zählte ihr von ihrer immer zunehmenden Krankheit
und dem trockenen Husten, der sie jede Nacht so
quälte. Dann wandte sie sich mit der ihr eigentüm-
lichen Veränderlichkeit zu Käthe und suchte alles
von dieser zu erfahren, was ihr seit ihrer Verhaftung
begegnet war.
Halb ohnmächtig sank Käthe zu Boden, und heiße
Tränen entrannen ihren Augen.
Jetzt lag sie auf derselben Stelle, auf der sie sich
Johann an jenem Herbstabende hingegeben hatte, als
sie, mißhandelt und durchnäßt, wie ein Vieh, dem
vermeintlichen Geliebten zu Füßen gefallen war.

406
„Sei doch nicht so dumm! Ich will dich ja hei-
raten!“
Diese Flüsterworte schienen ihr noch unter der
Wölbung des Hausflurs in der Luft zu schweben, die-
selben, die sie damals umwehten zugleich mit seinem
heißen Atem und die sie willenlos machten gegenüber
seinem Willen ...
Mitleidig neigte sich Mary über die Weinende und
hörte geduldig die ganze Wahrheit mit an.
Käthe beichtete ihr nach und nach all ihr Elend
und war glücklich, endlich jemandem all ihr Leid
klagen zu können. Sogar ihren Zustand verhehlte sie
nicht vor Mary, die diese Nachricht als ganz selbst-
verständlich aufnahm.
„Wie konnte es auch anders kommen?“ fragte sie
mit naiver Rücksichtslosigkeit. „Das ist einmal die
Strafe für jede, die sich nicht ordentlich auffährt.“
Und nach einigem Nachdenken fuhr sie fort: „Und
was gedenkst du jetzt zu tun?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Käthe achsel-
zuckend. „Ich müßte denn ins Wasser gehen. Denn
ich habe keinen Anhalt mehr und weiß nicht, wo ich
mein Haupt niederlegen soll.“
„Ins Wasser?“ rief Mary, „du bist wohl nicht
klug? Das würdest du doch nicht tun?“
„Weshalb nicht?“
„Aus Furcht! Ich stand auch schon einmal am
Teiche, weißt du, da draußen — mich ergriff aber
solche Angst, daß ich spornstreichs wieder nach

407
Hause lief. Du aber würdest ebenso zittern; denn das
Wasser ist so schwarz wie Schuhwichse und man er-
schrickt schon, wenn man es nur ansieht!“
Käthe bestritt das nicht; Mary hatte gewiß ganz
recht. Man spricht so gern vom Tode; wenn’s aber
soweit kommt, schreckt man davor zurück. Sicher
hätte auch sie nicht den Mut, ins Wasser zu springen,
wenn ihn nicht einmal Mary hatte,
Mit praktischem Sinn überlegte Mary, was wegen
Käthes Zukunft zu tun sei.
Durchaus wollte sie dieser Unglücklichen helfen,
die zermartert und zitternd hinter der Haustür lag.
Nachdem sie sich über den Stand ihrer Kasse und
alles Übrige befragt, kam ihr plötzlich ein Gedanke
in den Sinn, der sich jetzt als einziger Rettungsanker
erwies. Mit strahlendem Blicke rief sie: „Weißt du
was? Ich führe dich zu Frau Schnaglow.“
„Wer ist das?“
„Eine ganz ordentliche Frau, die dich aufnimmt
und verpflegt in den Wochen. Komm nur, sie wohnt
nicht weit von hier!“
„Ich kann sie aber doch nicht bezahlen.“
„Ach, du Närrin! Das bezahlen allein die Herr-
schaften. Wir gehen auf Pump. Sobald du wieder
gesund bist, wirst du irgendwo Amme und wer dich
mietet, bezahlt deine Schulden. Verstanden?“
Ja! Jetzt leuchtete Käthe alles ein.
Daß sie Schulden machte, war Nebensache, wenn
sie nur wieder ein Dach fand und ein Stück Brot
und eine Windel für das Kind.

408
Wer weiB, vielleicht finden sich dann auch mit-
leidige Leute, die ihr erlauben, das Kind bei sich zu
haben, sodaB sie sich nicht ganz von ihm zu trennen
braucht!

ern also erhob sich Käthe und folgte Mary auf


die Straße.
Der Weg von der Vorstadt nach der Wohnung
jener Frau war nicht weit, und Mary wollte die
Freundin dort einführen und empfehlen.
Ihre Herrin war ausgegangen, also hatte sie den
Abend frei und konnte ihn dazu verwenden, die Lage
ihrer einst so verhaßten Nebenbuhlerin zu verbessern.
Bald hatten sie beide den Stadtwall erreicht.
Blütenduft würzte die Luft des Frühlingsabends.
-Auf dem Walle war alles öd und stil. Nur im
Schatten der Gräben huschte ab und zu ein Liebes-
pärchen vorüber.
Rings herrschte eine Dunkelheit wie auf dem
Lande, nirgends unterbrochen vom matten Schein
einer Gaslaterne.
Hier und da blickte durch das Gebüsch ein Licht-
chen aus den dahinter verborgenen kleinen Häusern,
die in langer Reihe, höher oder niedriger, je nach
dem Vermögensstande ihrer Besitzer, am Wege auf-
schossen wie Pilze mit flachen Hüten.
Vor einem dieser Häuschen blieb Mary stehen.
Da es auf einer kleinen Anhöhe stand, führte eine
Holztreppe empor.

409
Nur klein und niedrig war es, fast in die Erde
eingesunken.
Rings von Bäumen umgeben, verschwand es bei-
nah im zarten Frühlingsgrün.
Die Fenster waren matt erhellt.
Eines derselben war dicht mit einem Laken ver-
hängt, durch dessen zerrissenes Gewebe bleiche
Lichtstrahlen in Form eines Kreuzes auf dunklem
Hintergrunde drangen.
Als Käthe von der morschen Holztreppe aus dieses
Fenster bemerkte, vermochte sie den Blick davon
nicht abzuwenden ...
Zwei Frauengestalten standen dicht beieinander
und flüsterten.
Bei der nächtlichen Stille verstand jedoch Käthe
die Worte: „Nehmen Sie davon die Hälfte morgens
und abends. Hat es nach drei Tagen nicht geholfen,
so kommen Sie wieder. Dann geb’ ich Ihnen das
Doppelte.“
„Da ist ja die Frau selbst“, flüsterte Mary und
zog Käthe am Rocke.
„Guten Abend, Frau Schnaglow“, fügte sie dann
laut hinzu. „Hier bring’ ich Ihnen ein gutes Geschäft,
mit dem Sie zufrieden sein werden!“
Sofort prallten die beiden auseinander.
Die eine blieb an der Haustür stehen, die andere
eilte nach der Holztreppe und stieß mit der eben dort
emporsteigenden Käthe fast zusammen. Sie war fein
gekleidet und die Jetperlen ihres Umhanges blinkten
in der Dunkelheit, wie Johannis-Würmchen. Sorg-

410
faltig verhüllte sie das Gesicht mit den von langen,
schwarzen Glacós bedeckten Händen.
Verächtlich lächelte Mary, als sie an ihr vor-
überging.
„Das ist auch so eine“, murmelte sie. „Mag die
Schnaglow sie nur gehörig rupien, denn solch ein
Satan kann gut bezahlen!“
Inzwischen war Frau Schnaglow aus dem Schatten
unter das erhellte Fenster getreten und Käthe sah
deren kleine, hagere Gestalt mit dunklem Aug’ und
Haar und fahler Gesichtsiarbe vor sich.
Schlicht, fast ärmlich gekleidet, sah sie aus, wie
eine einfache Handwerkersirau, die die Heimkehr
ihres Mannes erwartet, In der Hand hielt sie ein
kleines Fläschchen mit einer bräunlichen Flüssigkeit,
welches sie vor Marys forschenden Blicken ängstlich
verbarg.
„Na, Fräulein“, fragte sie gelassen. „Wen bringen
Sie mir da?“
Dabei bemühte sie sich, in der Dunkelheit etwas
zu unterscheiden.
„Meine ' Verwandte“, erwiderte Mary. „Nehmen
Sie die Käthe in Pflege; später dient sie alles ab.
Übrigens, sehen Sie nur, welch eine Maschine dies
ist: sie wird einmal eine gute Amme und Ihnen viel
Geld einbringen.“
„Treten Sie einmal näher, Fräulein, hierher!“
sagte die Frau, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Halb geschoben von der Freundin, trat Käthe

411
dicht vor sie hin, und ein Lichtschein aus dem Fenster
streifte ihre verkommene Gestalt.
Zitternd und demütig stand sie da und wurde
immer bleicher vor den prüfenden Blicken der Frau.
Konnte sie doch auch von hier wieder vertrieben
oder gar nicht aufgenommen werden in dieses Häus-
chen, wo es doch ruhiger zuging, als da draußen in
jenem Gebüsch.
Frau Schnaglow aber erriet mit Kennerblick, daß
dies große, kräftig gebaute Mädchen für sie ein glän-
zendes Geschäft abwerfen werde.
Unbezahlbar erschien ihre Käthe gerade jetzt, da
es an tüchtigen Ammen immer mehr mangelte.
Nach kurzem Überlegen öffnete sie also die Tür
und rief fast befehlend: „Treten Sie nur ein, Fräu-
lein!“
Und Käthe überschritt diese Schwelle, die sie so
heiß ersehnte, wich aber unwillkürlich zurück, als sie
dort der gedämpfte Schmerzensschrei eines Weibes
begrüßte.
Dieser Schrei drang aus einem Stübchen, dessen
Tür fest verschlossen war und zu dem nach Käthes
Berechnung jenes mit dem zerrissenen Laken ver-
hängte Fenster gehörte.
Wer konnte dort so schmerzlich stöhnen hinter
ienem bahrtuchähnlichen Vorhange mit dem Zeichen
des Kreuzes?
Ängstlich lauschend, erriet Käthe mit weiblichem
Instinkte nur zu bald die Bedeutung dieses Klage-
lautes, während Frau Schnaglow, mit dem Gesicht-

412
nach auBen gewandt, noch mit der vor der Tiir
stehenden Mary sprach.
Plötzlich wurde die Tür jenes Stübchens auf-
gerissen und mitten auf den Hausflur lief ein kaum
vierzehnjähriges Mädchen, barfuß und in zerlumptem
Röckchen.
Ohne Käthe zu beachten, eilte die Kleine auf Frau
Schnaglow zu, zupite sie am Kleide und rief: „Mama!
Komm schnell! Es ist tot!“
„Schrei nicht so“ erwiderte das Weib und wandte
sich dem Stübchen zu. „Da nimm den Kommoden-
schlüssel, hole mir Papier und Stecknadeln und koche
Kamillentee für die Kranke.“
Dann verschwand sie durch die Stübchentür,
während die Kleine nach der anderen Seite des
Hauses rannte.
Von allen vergessen, lehnte Käthe sich an die
Wand und starrte vor sich hin.
Rings war es mäuschenstill.
Auch das Stöhnen war verstummt, und man
hörte nur Frau Schnaglow im Stübchen herumwirt-
schaften.
„Es ist tot!“
Gewiß das Kind, welches das Weib hinter einer
Tür mit Schmerzen gebar!
Eine Leiche also begrüßte Käthe an der Schwelle
dieses Hauses, wenn auch nur die eines Kindes,
welches das Licht der Welt nicht erblicken sollte,
aber dennoch gelebt hatte im Schoße der Mutter und
Freud’ und Leid mit ihr geteilt...

413
Unwillkürlich preBte Käthe die Hände auf die
Brust. Sollte auch sie solange leiden, um endlich
nur — eine Leiche zur Welt zu bringen?
Das Aufreißen der Tür und das Rascheln von
Papier erweckte sie aus ihrem Sinnen,
Wie ein Pfeil schoß die kleine Barfüßige an ihr
vorüber und klopfte an die Stubentür. In der Hand
trug sie einen großen Bogen Packpapier und ein
kleines Sametkissen mit Stecknadeln.
Außer Frau Schnaglow erschien jetzt noch eine
zweite Gestalt in der Tür, und zwar ein großes,
üppig gebautes Mädchen in verschossenem Rosa-
kleide, ebenfalls barfuß, aber mit hochfrisiertem Haar
und blauem Kopfputz.
Wie eine Königin schritt sie durch den Hausflur,
ein Biichlein mit schwarzem Holzschnitt auf dem
Titelblatt in der Hand haltend.
„Nicht einmal meine ‚Isabella‘ kann ich zu Ende
lesen bei Eurem Heidenlirm! Verhaltet Euch doch
etwas ruhiger und stört mich nicht immer!“ rief sie
mit gebieterischer Stimme.
Die beiden anderen aber beachteten das gar nicht.
Frau Schnaglow griff hastig nach Papier und Nadeln,
schloß hinter sich die Stübchentür und flüsterte der
Kleinen zu: „Madi, lauf in den Garten! Ich reiche
dir’s durch’s Fenster hinaus!“
Die Liebhaberin spanischer Romane hatte sich in-
zwischen wieder entfernt,
Auch Madi war hinausgelaufen, ohne sich um

414
Käthe zu kümmern, die noch immer an der Wand
lehnte und teilnahmslos zu Boden starrte.
Nach einigen Minuten regte sich jedoch auch in
ihr die weibliche Neugier. Vorsichtig schlüpfte sie
nach der Haustür und blickte hinaus.
Unter jenem verhüllten Fenster stand Madi und
pfiff einen Walzer. Augenscheinlich erwartete sie
etwas. Denn sie streckte weit die Arme aus und ihre
Finger zitterten vor Ungeduld.
Bald darauf wurde das Fenster geöffnet und auch
das Laken unten etwas zurückgeschoben.
Madi griff hastig nach einem ziemlich großen, in
Packpapier eingewickelten und mit Bindfaden zu-
geschnürten Gegenstande, der dicht unter dem er-
leuchteten Kreuze aus dem Fenster herausgereicht
wurde.
„Irag’s nur ja nach den neuen Gruben!“ flüsterte
ihr dort Frau Schnaglows Stimme zu.
Schnell barg Madi das kleine Paket unter der zer-
rissenen Schürze und sprang wie ein Böckchen,
immer noch ihren Walzer pfeifend, davon, bis sie
im Gebüsch hinter dem Häuschen verschwand.
Dann wurde das Fenster geschlossen und das
Laken wieder zugeschoben.
Noch lange aber starrte Käthe nach jenem hellen
Kreuz.
Was mochte sich dahinter verbergen?
Nur Unglück und Schande oder gar ein Ver-
brechen? ...

415
Allmählich wunderte sich Käthe über nichts mehr,
was um sie her vorging.
In den ersten Tagen ging sie wie irrsinnig herum
und stieß alle Augenblicke an irgend ein bleiches,
kränkliches Weib, welches im Hause umherschlich,
sogar in der Nacht.
Oft auch waren es mehrere, wie eine ganze Pro-
zession mit den Fahnen des Unglücks und des Elends.
Nicht selten auch erschienen feine Damen, um-
weht von Heliotropenduft, das Antlitz hinter dichten
Schleier bergend. Beim Überschreiten der hohen
Schwelle rafften sie die rauschenden Seidenkleider
auf und die gelben Sommerstiefelchen schillerten wie
Falterflügel auf dem dunklen Hausflur.
„Liebste, einzige Frau“ nannten sie die Schnaglow,
und mit zitternder Stimme verabschiedeten sie sich
von ihr mit freundlichen „Auf Wiedersehen!“
wünschten aber gewiß nichts sehnlicher, als niemals
in dies kleine Haus zurückkehren zu brauchen.
Frau Schnaglow geleitete sie stets bis zur Holz-
treppe, um, sich fast bis zur Erde verneigend, mit
zischender Stimme ihnen nachzurufen: „Seien Sie
ganz unbesorgt, Gnädige!“
Mit den ärmeren Weibern gab sie sich weniger
Mühe.
Manch bleiches, abgehärmtes Mädchen wies sie
ohne Erbarmen von der Tür.
„Bei mir ist doch kein Spital!“ rief sie dann, be-
reitete schnell einige Pulver und schüttete sie in die
bereit gehaltenen Kapseln.

416
Daß sie eine Ausländerin war, verriet schon ihre
Sprache. Auch die Namen Madi und Fina waren nur
auf Wiener Pflaster gebräuchlich. Woher aber dies
Weib eigentlich kam, welches in kurzer Zeit sich hier
ein Häuschen und sogar ein Stück Land erwarb, das
wußte niemand.
Jedenfalls kam sie arm und elend an mit zwei
kleinen Mädchen und, nachdem sie das Häuschen an-
fangs nur gemietet, hing sie dort ein Schild mit einem
verblichenen „Auge der Vorsehung* auf blauem
Felde heraus mit der Inschriit:
„Frau Schnaglow, Hebamme.“
Dies war ihre ganze Empfehlung.
Nach und nach iedoch zog sie eine bedeutende
Kundschaft an sich und verdiente, wie es hieß, eine
Menge Geld.
Ohne vor einem Verbrechen zurückzuschrecken,
verbarg sie bei sich jede Schande und nach rechts
und links verabreichte sie mörderische Mittel.
Was später geschah, war ihr gleichgültig, wehn
nur reichlich bezahlt wurde, und zwar im voraus.
So manche Matrone im Silberhaar erschien bei
ihr, um ihr einziges Kind vor der hellen Schande zu
bewahren.
Schnell richtete die Schnaglow irgend ein Stüb-
chen ein, und in Nacht und Nebel kehrte dann die un-
glückliche Mutter mit ihrem bleichen, fast ver-
zweiielnden Kinde zu ihr zurück. .
Nach Verlauf einiger Monate aber holte sie es
wieder dort ab, um es später im Brautschleier und

27 Käthe 417
im Myrtenkranze irgend einem ihr vertrauenden
Manne zur Gattin zu geben.
So bargen sich Schande und Unglück gefallener
Weiber und alle Gemeinheit treuloser Männer unter
dem Dache dieses jetzt im frischen Grün des Früh-
lings verborgenen Häuschens.
Jenes Weib mit den ruhigen, dunklen Augen und
dem glattgekämmten Scheitel verbreitete von dort
aus Mord und Verbrechen, schickte nachts geheim-
nisvolle Pakete unter der Schürze ihrer unmündigen
Tochter fort, — tötete junge Leben schon im Mutter-
schoße! Und dies alles tat sie gegen reichliche Be-
zahlung, die zukünftig die Mitgift ihrer eigenen
Kinder werden sollte.
Diese Mädchen aber waren zwei ganz verschie-
dene Wesen.
Die Ältere war von ungewöhnlicher, beim ersten
Blicke fast blendender Schönheit. Eine üppig gebaute
Brünette, hatte sie alle Fehler und Neigungen eines
zum Falle geschaffenen Weibes.
Tagelang hockte sie über einem Roman und wühlte
mit der weichen Hand im Lockenhaar. Am liebsten
ging sie barfuß und liebte vor allem Flieder- und
Rosenduft. Meist trank sie die Weinsuppe aus, die
für wohlhabendere Kranke bestimmt war, und machte
sich auch kein Gewissen daraus, deren gebratene
Hühnchen abzuknabbern.
Vorwiegend las sie spanische Novellen, aber auch
englische Romane in beliebiger Übersetzung rührten
sie auf das Tiefste.

418
Wenn sie ausging, putzte sie sich wie eine Puppe
und tuschte sich die Brauen.
Das schändliche Gewerbe ihrer Mutter verab-
scheute sie, obgleich sie oft in aller Ruhe ihren Roman
beim Röcheln irgend einer sterbenden jungen Mutter
auslas.
Niemand im Hause konnte sie wegen ihrer Hof-
fahrt und Selbstsucht ausstehen. Fina aber zuckte
darüber nur die Achseln und hielt das Haus nur für
eine Art von Vorhalle des Palastes, in dem sie, nach
ihrer Meinung, ihr Leben hinbringen sollte.
Inzwischen trank sie täglich ihren Wein, stahl den
Kranken die Parfüms, wechselte täglich die Farben
der Strumpfbänder und las Romane.
Madi, die Jüngere, die den Walzer an jenem Abende
pfiff, war der vollständige Gegensatz ihrer Schwester.
Auch sie versprach für die Zukunft eine ungewöhn-
liche Schönheit zu werden, war aber jetzt noch ein
magerer, halbwüchsiger und dabei zerlumpter und
barfüßiger Backfisch.
Überaus lebhaft und immer geschäftig, voller Pläne
und Einfälle und von der Mutter in alle Geheimnisse
eingeweiht, trieb sie sich den ganzen Tag im Hause
herum und zirpte wie ein Heimchen.
Mit einer bei einem solchen Kinde seltenen Aus-
dauer beschäftigte sie sich mit den Kranken, beauf-
sichtigte sie und schrieb ihnen die Diät vor und so-
gar manche Arzneien.
Die Mutter vertraute ihr blindlings und rief sie
selbst in schwierigen Fällen manchmal zu Hilfe.

27* 419
So oft sie ausging, beruhigte sie alle mit den
Worten: „Madi wird bei euch bleiben.“
Und — wie seltsam — die Kranken schlossen sich
ungemein leicht an die Kleine an, die immer lachend
und lustig sich ihren Betten näherte und wenn sie
bleich vor Angst und Schmerz dalagen, sie voller
Übermut fragte: „Wollt ihr einen Kautschuk-
menschen sehen?“
Und dann bog und renkte und reckte sie sich in
die possierlichsten Stellungen, als ob sie wirklich
nichts als ein Stück Kautschuk sei.
Madi kannte keinen Unterschied unter den Kranken
ihrer Mutter. Oft stahl sie der reicheren zu Gunsten
der ärmeren die Apfelsinen oder den Fruchtsaft und
steckte dies der ärmsten und verlassensten unter den
Strohsack.
Oft auch half sie, da sie alle Künste der Mutter
kannte, ganz im Geheimen irgend einer armen
Dulderin und handelte dabei ganz auf eigene Faust,
nur aus gutem Herzen.
Aufgewachsen in dieser Atmosphäre des Ver-
brechens, hielt sie dies für ein gutes Werk und pfiff
noch einmal so lustig, wenn es ihr gelang, auf eigne
Rechnung irgend ein Mittelchen zuzubereiten.
Die Schwester haßte sie, nannte sie nur die „Prin-
zessin“ und verbrannte ihr die Romane, wenn sie
ihr in die Hand fielen. —
Außer diesen beiden Mädchen befanden sich im
Hause noch drei Kinder, arme, in Schande geborene

420
und hier untergebrachte Waisen, deren Pflege die
Schnaglow übernommen hatte.
Das älteste zählte kaum drei Jahre und das jüngste
nur einige Monate.
Letzteres lag bleich und abgezehrt beständig in
der Wiege dicht am Ofen, ab und zu winselnd wie
ein blindes Hündchen, obgleich es sich anscheinend
der größten Rücksicht seiner Pflegerin erfreute, weil
diese regelmäßig bezahlt wurde und die Mutter jeden
Sonntag zum Besuche kam und stundenlang an der
Wiege saß. Eine junge abgehärmte Lehrerin, die von
ihrem Brotherrn betört wurde, ihr Kind aber über
alles liebte und für dasselbe zärtlich sorgte,
Fast die Hälfte ihres Monatsgehaltes bezahlte sie
für die Pflege und widmete dem Kinde jeden freien
Augenblick.
Nur Sonntags wechselte die Pflegerin die Wäsche
und badete das Kieine in warmem Wasser, stellte
auch immer frische Milch, Zucker und Reiswasser
auf die Kommode.
An den übrigen Tagen aber erhielt das Kind nur
verdünnte, schon säuerliche Milch mit Kamiilentee, und
die Sauberkeitder WischelieB'viel zu wünschen übrig,
Wußte doch die Schnaglow, daß die Lehrerin all-
tags nicht kommen und das Kind sich noch nicht
beklagen konnte!
Madi aber hatte so viel im ganzen Hause zu tun,
daß sie dem armen Wesen nicht ihre besondere Auf-
merksamkeit widmen konnte.

421
Ab und zu nur nahm sie es auf den Arm und
schwang es hoch, wie eine Puppe und sang dabei
irgend einen Wiener Gassenhauer.
Die beiden anderen Kinder halfen sich so gut sie
konnten und krochen bleich und blutarm im Hause
herum mit ihren Kartofielbäuchen und kürbisgroßen
Köpfen.
Den ältesten dreijährigen Knaben hatte die Mutter
längst vergessen. Sie war aus der Stadt gekommen
und nach der Geburt des Kindes dahin zurückgekehrt
und hatte dann nichts mehr von sich hören lassen.
Als Tochter irgend eines Handwerkers hatte sie
sich gewiß später verheiratet, um eine musterhafte
Familienmutter zu werden ...
Frau Schnaglow war öfters in ihrer Art höchst
ärgerlich über die ihr aufgebürdete Last, obgleich sie
sich so gut wie garnicht um das Kind kümmerte.
Still und schüchtern, nährte dasselbe sich haupt-
sächlich von Knochen- und sonstigen Abfällen und
aß alles, was es irgendwo an der Erde fand, wie ein
herrenloses Hündchen. Niemals erinnerte es an das
Essen, als fühle es, daß es in diesem fremden Hause
weder einen Platz am Tische noch ein Recht dazu
habe.
Niemals lachte dieses bleiche Kind mit den großen
blauen Augen und immer verkroch es sich in die
dunkelsten Winkel, nur um Fina nicht zu begegnen.
die es förmlich hafte. -
Als es einst, auf der Treppe herumkriechend, sich
an ihrem Kleide festhielt, während iene „Martin, das

422
Findelkind* las, stieß sie es mit dem Fuße die Stufen
hinab.
Seitdem ging der Kleine diesem Fräulein aus dem
Wege, weil es ihn immer so bös ansah.
Das mittlere Kind, ein blondes skrophulöses Mäd-
chen, saß tagelang im Garten auf dem Sande und
wärmte die krummen Beinchen und den geschwol-
lenen Hals in der Sonne.
Auch dies Kind war eine Waise, deren Mutter im
selben Hause nach entsetzlichen Qualen gestorben
war. Nur wie durch ein Wunder erhielt es sich am
Leben, und da auch die Mutter gänzlich verlassen
und noch dazu in tiefes Geheimnis gehüllt war,
wußte niemand, wohin es geschickt werden könnte.
Im Hause behielt man es nur noch in der Hoff-
nung, es werde vielleicht doch noch jemand sich
melden und die Pilegekosten bezahlen.
Die Aufsicht über diese Kinder führte Madi. Sie
allein leitete deren Erziehung und verteilte unter sie
die Lumpen, die ihre elenden Körper bedeckten.
So oft die Krankenpflege ihr freie Zeit ließ, wid-
mete sie dieselbe mit vollem Eifer den Kindern.
Zum Glück für diese kam dies nicht allzu häufig
vor. Denn sobald es geschah, erschallte Kinder-
geschrei im ganzen Hause, weil Madi die Kleinen mit
Sand oder Ziegelmehl abscheuerte, oder ihnen Haar-
wickel drehte bis auf die Haut oder die Skrophelbeine
gewaltsam grade zu recken versuchte.
Dies alles tat sie in bester Absicht, bereitete aber,

423
da sie es immer iibertrieb, den armen Kindern wahre
Tantalusqualen. |
Erkrankte eines von ihnen, so versuchte sie an ihm
ali ihre Hausmittel, auf die sie volles Vertrauen
setzte.
Bei solcher Behandlung, oft mit giftigen Tränken,
die sie den Kindern mit Gewalt einflößte, war es fast
als ein Wunder anzusehen, daß die armen Wesen ihr
elendes Dasein noch so mit hingeschleppt hatten,
So glichen sie Gliederpuppen, auf Gnade oder Un-
gnade einem halbwüchsigen Mädchen überlassen,
oder jungen Hunden, gefüttert mit Küchenabfällen,
an der Leine geführt und gebettet auf halbverfaulter
Streu, welche die Luft verpestete.
Oft erhob sich unter den Lumpen hervor, welche
die Bettdecke vorstellen sollten, ein Köpfchen, ge-
schmückt mit den Haarwickeln, weiche Madi ihm
tags vorher in übermütiger Laune gedreht hatte.
Frau Schmaglow übernahm auch die Unterbringung
der in ihrem Hause geborenen oder aus der Stadt
dorthin gebrachten Kinder.
Dann erschienen, wie auf Beschwörung, unheim-
liche Bauernweiber mit eingesunkener, welker Brust,
deren Nahrung längst versiegte. Und trotzdem über-
gab sie ihnen ohne Bedenken die ihr anvertrauten
Kinder zur Pflege und feilschte mit ihnen über die
Bezahlung, die zur Hälfte meist inihre Tasche fiel.
Dann entfernten sich die Weiber mit den weinen-
den Kindern und einem Paketchen Zucker oder auch
Kaffee, um sich nur ab und zu mit den abgemagerten,

424
schmutzigen und trübseligen Kleinen wieder vorzu-
stellen.
Ohne ihnen jemals hierüber Vorwürfe zu machen,
warf die Schnaglow nur einen flüchtigen Blick auf
die elenden Wesen, die sich stumm, aber nicht minder
schmerzlich bei ihr beklagten.
Und so schnell wie möglich fertigte sie dann die
Weiber ab mit der Bezahlung.
Genügte ihr doch die Tatsache, daß das Kind noch
— lebte.
Aus Vorsicht aber bezahlte sie niemals im vor-
aus: mit Rücksicht auf den Tod des Kindes, welcher
in zehn Fällen mindestens sechs- bis siebenmal er-
folgte. .
Dann berechnete sie genau die Tage und wußte
mit größter Schlauheit jedem Weibe, welches sie be-
trügen wollte, die Wahrheit zu entlocken.
Sie dagegen verriet diese Wahrlieit keineswegs
der für das Kind sorgenden Person, und das arme
Wesen schlief oft längst unter dem Rasen, während
das Pflegegeld noch immer fortgezahlt wurde, um
die Mitgift Finas und Madis zu vergrößern.
Die Geschichte von der Wahrheit und dem Öl-
baume bewährte sich nicht unter dem Dache dieses
Hauses.
Mit größter Schlauheit wurde dort alles verborgen.
Bei Nacht und Nebel wurden die Leichen der Neu-
geborenen in die Lehmgruben nahebei geworfen,
Nicht selten starb dort ein Weib an den Folgen
der im Übermaß angewandten Gifte.

425
Man mißhandelte und ließ halb verhungern lebende
Wesen, für welche die Mütter ihren blutsauer ver-
dienten Lohn zahlten.
Man schickte Kinder in den sicheren Tod, in elende
Hütten voller Feuchtigkeit und giftiger Diinste.
Man feilschte mit lebendem Fleisch in Gestalt von
Ammen, die man festhielt durch die aufgelaufene
„Schuld“,
Und trotzalłedem war alles still und ruhig rings
um dies kleine Haus.
BlitenweiB lugte der Flieder durch die matten
Fensterscheiben, hinter denen so Entsetzliches ge-
schah.
Rings rauschten die Bäume und wiegten das junge
Laub und zwitschernd begriiBten die Vóglein den
Sonnenaufgang.
Wie eine abgesonderte, verzauberte Welt erschien
dies Häuschen, frei von allen Polizeivorschriiten, Ge-
wissensbissen und Kriminalgedanken.
Zweideutig lächelte Frau Schnaglow bei Erwähnung
der Polizei und Madi pfiif dann um so lauter den
frömmsten Choral der Burgmusik.

KK gewöhnte sich allmählich an ihre Um-


gebung.
Frau Schnaglow vertauschte ihr die Lumpen mit
Finas abgelegten Kleidern, die zwar vorn zu kurz
waren und hinten schleppten, immerhin aber doch
ganz und sauber waren.

426
Madi gab ihr dazu noch ein Jickchen, welches sich
jedoch für Käthes breite Schultern als zu eng erwies.
Man bedeckte daher diese mit einem Tuche von
schwarzem Kammelot, welches von dem roten
Flanelljäckchen auffallend abstach. Nur Madi war
entzückt über dies ihr Werk und versicherte, so
etwas gebe es nicht einmal in Wien.
Mit dankbarem Lächein nahm Käthe diese Spenden
an. So glücklich war sie, als sie die häßlichen Lumpen
endlich los war, daß ihr Madis Jäckchen wie ein
königlicher Schmuck erschien.
Frau Schnaglow begann jetzt sie förmlich zu
mästen und gab ihr die ihrem Zustande entsprechende
kräftige Kost.
In großen Schüsseln ließ sie durch Madi allerlei
Speisen mit kochender Milch mischen und rief ihr
dann zu, indem sie die Schüssel auf die Bank stellte:
„Na, jetzt iB dich satt!“ -
Während Käthe aß, verfolgte sie schweigend und
regungslos jede ihrer Bewegungen.
Sobald Käthe als gesättigt sich erhob, zwang sie
mit befehlender Gebärde sie immer wieder zum Essen.
Auf der anderen Seite stand mit dem dampfenden
Milchtopfe Madi und goß bei iedem Winke der
Mutter die Schüssel wieder voll mit der Miene einer
Landwirtin, welche Jungvieh mästet.
‚War doch für die beiden auch Käthe nichts anderes,
als eine Ware, die sie binnen einiger Monate nach
Gewicht und Futterzustand loswerden wollten.
Allmählich kam Käthe doch dahinter.
Während sie anfangs halb ausgehungert, da sie
selbst bei Budowskis nur schlechte Kost hatte, gern
und viel aß, widerte sie nach und nach diese Auf-
dringlichkeit der beiden förmlich an und sie begriff
gar nicht deren Ärger über den ab und zu bei ihr ein-
tretenden Mangel an Appetit.
Frau Schnaglow biß dann die Zähne zusammen
und befahl ihr mit zischender Stimme Gehorsam.
Madi dagegen verhehlte ihr gar nicht den Zweck,
weshalb man sie so reichlich fiitterte. Und mit
stummer Ergebenheit fügte sich Käthe in ihr Schick-
sal. Überdies war dies bei weitem noch nicht das
Schlimmste. Hunger und Elend waren doch viel
empfindlicher. Also ließ sie sich ruhig weiter mästen.
Leider aber gelang ihnen dies durchaus nicht nach
Wunsch. Käthe wurde von Tag zu Tag bleicher und
matter und ihre Gesichtsfarbe immer gelblicher, fast
leichenfahl.
Mit Mißvergnügen bemerkte Frau Schnaglow
diese Veränderung.
Offenbar hatte dies Frauenzimmer irgend eine
Gemütskrankheit, die den Körper untergrub und alle
Bemühungen der schlauen und vorsichtigen Frau zu
schanden machte. Für solches Leiden gab es kein
Heilmittel in der Hausapotheke der Hebamme. Be-
fehlen konnte man ihr, zu essen und im Garten sich
zu ergehen, nicht aber: ihren Gedankenlauf zu unter-
brechen, ihre Erinnerung an die Kämpfe der Ver-
gangenheit auszulóschen und die Angst vor der

428
Zukunft zu verbergen. Dagegen wußte die „kluge
Frau“ selbst keinen Rat.
Mit jedem Tage nalım Käthe an Kräften ab. Und
dennoch war sie durchaus keine empfindsame Heldin,
die über ihr eigenes Schicksal in Tränen zerfloß.
Nur tiefbetrübt war sie und konnte nicht anders sein,
gegenüber alledem, was ihr das Leben, die Welt
und die Menschen angetan.
Jetzt aber weinte sie nicht mehr, sondern erfüllte
schweigend alle ihr erteilten Aufträge. Den eigenen
Willen, den sie übrigens fast niemals besaß, hatte
sie vollends verloren.
An Johann dachte sie jetzt häufiger als sonst;
vielleicht weil sie mehr Zeit dazu hatte. Beim Ge-
danken an seinen Verrat ballte sie oft die Fäuste,
als wolle sie sich auf die Gespenster der eigenen
Einbildung stürzen. Dann wieder übermannte sie
eine törichte Rührung.
Sie war nur noch ein halbes Weib und tat alles
nur halb. Ohne völlig vergeben zu können, schwankte
sie hin und her zwischen glühendem Haß und herz-
licher Zuneigung.
Jetzt wurde sie wieder fromm. Oft aber über-
täubte der Schmerzensschrei einer Kranken ihr
gedankenloses Beten.
Zitternd vor Angst schmiegte sie sich dann an
die Wand und hielt sich die Ohren zu, so zerriß
solch ein Schrei ihr das Herz und erfüllte es mit
Furcht und Schrecken. Auch sie sollte noch so leiden

429
und so schreien mitten in der Nacht, um göttliches
Erbarmen anzurufen und menschliches Mitleid!...
O, käme doch niemals diese Stunde!...
Nichts ist so herzerschütternd, wie solch Schmer-
zensschrei, wenn er so plötzlich erschallt in nächt-
licher Stille.
In Schweiß wie gebadet und leichenblaß vor Auf-
regung, vernahm Käthe diese Laute, so grausig, wie
das Geheul eines wilden Tieres.
In die Krankenstübchen selbst wurde sie niemals
eingelassen.
Man befürchtete für Käthe die Aufregung und be-
schränkte ihre Dienstleistungen auf Wasserholen,
Krautkochen und Wäschewaschen.
Überdies hatten vermögendere Kranke die Zu-
sicherung der Verschwiegenheit und deshalb genügten
Mutter und Tochter zur Pflege.
Käthe schloß sich innig an die Kinder an, jene
verlassenen, kränklichen Wesen, die den ganzen Tag
im Hause herumschlichen wie junge Kätzchen ohne
Mutter.
Mit aller Gewalt erwachte auch in ihr das Gefühl
jedes Weibes, welches Mutter werden soll. Trotz
des strengen Verbotes, die Kinder auf den Arm zu
nehmen, trug sie diese in den Garten und spielte
mit ihnen dort stundenlang.
Der Anblick dieser armen, zerlumpten, verlassenen
und halbverhungerten Geschöpfe zerriß ihr fast das
Herz. Also das war die Lage solcher Würmchen?

430
Und so sollte auch ih r Kind sich unter den Menschen
herumstoßen?
Urplötzlich kam ihr der Gedanke an ihren mög--
lichen Tod, zumal da man gestern erst die Leiche
eines kräftigen, gesunden Mädchens hinausgetragen,
welches zwei Stunden nach der Geburt eines toten
Kindes im Hause gestorben war.
Sollte auch sie hier so umkommen, wie ein Hund,
ohne Priester und Gebete und vielleicht ihr lebendes
Kind schutzlos der menschlichen Gnade überlassen
müssen?...
Gleichzeitig erwachte in Käthe auch der Wunsch,
Johann noch einmal wiederzusehen und ihn darum
zu bitten, er möge sich des Kindes für den Fall
ihres Todes annehmen.
Als sie dies Mary anvertraute, die sie ab und zu
besuchte, lachte diese sie aus: „Diese Angst hat jedes
Weib. Das ist eine alte Geschichte. Drum sei nicht
so töricht und rege dich nicht auf. Die Alte hier
allein schon läßt dich nicht sterben. Sie ist mit allen
Hunden gehetzt und versteht nur zu gut ihr Ge-
schäft! Weiß sie doch, daß, wenn du stirbst, niemand
deine Schulden bezahlt. Ebenso, wie sie dich ge-
mästet, wird sie dich auch vor allem Übel bewahren!“
Als Käthe schwieg, obgleich sie durchaus nicht
überzeugt war, dachte Mary noch ein Weilchen über
den Wunsch der Freundin nach und fuhr dann fort:
„Du wirst dir doch nicht die Augen aussehen nach
diesem Schufte, der dich so ins Unglück stürzte?
Ja, ia, ich kenne dich. Nur angeblich willst du über

431
das Kind mit ihm sprechen, in Wirklichkeit aber
handelt es sich bei dir um etwas anderes. Mein Gott!
Was hat solch ein Weib doch alles im Kopie! So
schwach schon ist es, daB es sich kaum noch auf den
Beinen erhalten kann, und móchte den Schurken doch
noch wiedersehen!“
Dabei spie sie-aus und kaute an einem Flieder-
zweige.
Sie selbst war jetzt viel zu vernünftig, um nach
den Männern zu sehen.
Die Köchin der Frau Gräfin hatte sie sogar dazu
überredet, sich in den Rosenkranzorden einschreiben
zu lassen.
Dies sollte Käthe auch tun, sobald sie hier wieder
herauskonnte. Dies sei immer noch das Beste und
Anständigste für ein Mädchen...
Und immer weiter so setzte diese büßende Mag-
dalene ihre Moralpredigt fort, indem sie den ab-
gemagerten Körper der früheren Dirne in der Sonne
wärmte,
Traurig saß Käthe neben ihr und starrte vor sich
hin. Nein! Mary beurteilte sie falsch wegen des
Wunsches, Johann wiederzusehen: ihr handelte es
sich nur um das Kind.
Mary konnte dies gar nicht begreifen.
Als bald darauf Madi die Freundin zum Abend-
essen hereinrief und diese noch trübseliger aussah,
als ie zuvor, hielt sie atm Rocke sie fest und flüsterte
ihr zu: „Käthe, sei doch nicht so albern und setz’
dir nichts in den Kopf, sonst wirst du hier noch

432
herausgejagt, und wolin willst du dich dann
wenden?“
Bei diesen Worten ward es Käthe doch ganz
schwarz vor den Augen.
Ja, Mary hatte recht! Würde sie hier fortgejagt,
wer nähme solch ein Geschöpf, wie sie, noch unter
sein Dach?...
An diesem Tage war ihre Pilegerin ganz mit ihr
zufrieden.
Käthe aß wie mit Heißhunger und blickte dabei
ihrer Herrin so demütig in die Augen, wie ein ge-
züchtigter Hund. Dafür wurde sie auch gelobt von
ihr und sogar gestreichelt und Madi machte Bock-
sprünge, die selbst die im Küchenwinkel kauernden
Kinder in Erstaunen setzten,

Seiten verflossen einige Monate.


Mit jedem Tage mehr näherte sich Käthes
schwere Stunde ...
Bleich und ängstlich schleppte sie sich herum, fast
untätig, auf Schritt und Tritt gefolgt von ihrer
Pflegerin,
Noch immer setzte diese auf sie die glänzendsten
Hoffnungen; sie nalım sogar schon Handgeld von
einem Bankier, in dessen Hause gleichfalls nach
einigen Wochen ein Sprößling erwartet wurde. Dort
sollte Käthe nach der Entbindung als Amme ein-
treten, Frau Schnaglow aber ihren Lohn einziehen,

28 Käthe 433
um zunächst die Kosten der mehrmonatigen Pflege
für sich zu behalten. Da diese Kosten sehr hoch
waren, blieb für Käthe so gut wie gar nichts übrig.
Zwar fühlte diese im voraus, daß sie sich in die
Sklaverei verkaufte, ward aber schon längst un-
empfindlich für alles, was ihr hier begegnete.
Im Vergleiche mit den körperlichen Beschwerden,
der entsetzlichen Mattigkeit und dem wilden Schmerz,
der ihr Inneres durchwühlte, erschien ihr alles übrige
als Nebensache. |
Madi bemiihte sich zwar, ihr Mut einzusprechen,
aber nur ganz in ihrer Art, d.h. sie schilderte ihr
die schrecklichen Qualen junger Mütter, deren Zeugin
sie schon war.
„Käthe, ich sage dir, das ist gar nicht zu be-
schreiben. Du wirst dich übrigens selbst davon über-
zeugen, ob es wahr ist und es mir später bestätigen.
Wie mir aber scheint, übertreiben sie alle etwas.“
Jetzt war es stiller im Hause geworden, weil Fina
für die Sommermonate zu Verwandten verreist und
das kleine skrophulöse Mädchen — einfach an Ent-
kräftung — gestorben war.
Niemand, außer Käthe, hatte es beobachtet, daß
das Kind sichtlich hinschwand und das Köpfchen
hängen ließ, wie ein welkendes Blümlein.
Eines Morgens lag es tot auf dem Strohsacke.
Zusammengekriimmt, wie ein Knäuel, war es ent-
schlafen. Bleich und mit wie vor Verzweiflung
geballten Fäustchen sah es aus, wie ein verhungertes
Kätzchen.

434
Sofort wurde Käthe aus der Küche entfernt und
alles vorbereitet zur Beerdigung.
Nach einigen Stunden schon trug man den ärm-
lichen kleinen Sarg hinaus, der mit keinem Namen
bezeichnet war.
Dies Kind hatte ja überhaupt keinen Namen!..,
Ein Sonntag war es, hell und klar, als Käthe sich
aus dem Garten hinter dem Häuschen mühsam
hinausschleppte.
Am blauen wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne
und warf ringsumher ihren goldigen Glanz.
Das Häuschen stand auf einer Anhöhe, die auf
einer Seite allmählich nach dem Stadtwall, auf der
anderen steil nach dem Rande der sogenannten „alten
Lehmgruben“ abfiel.
Die rege Abfuhr des Lehms schuf dort einen förm-
lichen Abgrund, dessen gelblicher Boden stark durch-
feuchtet war. Über der tiefsten Lehmgrube erhob
sich der Garten. Mitten aus dem frischen Grün senkte
sich fast gradlinig die schroffe Lehmwand herab.
Selten nur betrat ein menschlicher Fuß diese Stätte.
Alle eilten dort auf dem Walle vorüber vor das Tor
hinaus. Nur Liebespärchen, die sich nach Einsamkeit
sehnten, machten dort in der Nähe einmal Halt. Vor
dem Tore begegneien sich alle, und jedes rühmte
sich, den besten Weg gewählt zu haben,
Käthe legte sich dicht am Rande der Anhöhe auf
den grünen Rasen.
Ihre Pflegerin war nach dem kleinen Sarge in die

28* 435
Stadt gegangen, miBmutig über diesen Tod, der ihr
nur Kosten verursachte.
Madi saß an der Wiege des Kleinsten, da sie jeden
Augenblick den Besuch der Mutter, jener bleichen
Lehrerin, erwartete. Daher benutzte Käthe die ihr
jetzt selten gebotene Freiheit. Und dennoch hüllte
sie sich trauriger und verzagter als jemals in ihr Tuch.
Diese Sommerpracht und Wärme und all dies
blendende Sonnenlicht verursachte ihr förmliche
Schmerzen und dabei fühlte sie sich so elend und
verlassen.
Sehnlichst erwartete sie heut Marys Besuch. War
sie doch immer noch die einzige gute Seele, die ihr
ein freundliches Wort gönnte,
Plötzlich raschelte etwas im Gebüsche des Nach-
bargartens.
Dort drängten sich, laut lachend und sprechend,
einige Männer hindurch.
Sonntags kürzten sich Spaziergänger auf diese
Weise öfters den Weg, indem sie durch die Gärten
der kleinen Häuser gingen.
Die niedrigen Zäune reichten nicht bis an den
Rand jenes Abgrundes, und so gelangte man leicht
aus einem Garten in den anderen.
Dort war sogar eine Art von Fußweg ausgetreten,
der nur selten benutzt wurde, manchem aber wohl-
bekannt war.
In den Gärten saßen öfters die Mädchen im
Sonntagsstaate und auch dies bestimmte die jungen
Leute zur Wahl dieses Richtweges.

436
Als Kathe heute durch den Garten ging, hatte
sie an solche ungebetene Gäste nicht gedacht. Und
als sie das Geräusch hinter sich hörte, war es zu spät
zur Flucht.
Also mußte sie ruhig liegen bleiben und hiillte sich
nur so dicht wie möglich in ihr Tuch, in der Hoff-
nung, die Leute würden vorübergehen und sie in
Ruhe lassen.
Darin aber hatte sie sich getäuscht,
Die jungen Leute waren alle sonntäglich gekleidet,
mit blendenweißer Wäsche, riesigen Halskragen und
grellbunten Schlipsen unter dem glattrasierten Kinn.
Lachend und pfeifend und so selbstbewußt, als
gehöre ihnen die Welt, gingen sie an ihr vorüber,
ohne sie zu sehen und warfen Steine hinab in den
Abgrund. Nur der letzte hatte sie bemerkt und eilte
mit einem Scherz auf den Lippen auf sie zu.
Dies dralle Mädchen auf dem grünen Rasen,
fast verhüllt unter den Falten des Tuches, zog ihn
mächtig an.
Lächelnd trat er dicht vor sie hin im vollen
Sonnenglanz und bückte sich sogar schon zu ihr
herab, um die anscheinend Schlafende in den Arm
zu kneifen. Denn Kathe hatte die Augen geschlossen,
als fühle sie eine herannahende Gefahr,
Sein Scherz aber erstarb ihm auf den Lippen, als
er plötzlich ihr Gesicht erblickte.
Vollständig verwirrt, ließ er die ausgestreckte
Hand herabsinken. So stand er eine ganze Weile
da, wie angewurzelt, obgleich seine Begleiter hinter

437
dem Nachbarzaune längst verschwunden waren. Nur
ihre lauten Stimmen schallten noch heriiber durch
das Gebüsch, welches dort eine ziemlich dichte grüne
Wand bildete.
In der Meinung, daß sie alle schon vorüber seien,
schlug Käthe endlich die Augen auf und ihr Blick
fiel auf den vor ihr stehenden Mann.
Eine Blutwelle stieg ihr in den Kopf, als sie in ihm
— Johann erkannte.
Beider Augen begegneten sich.
Die ihren, gerötet von all den Tränen, die sie
in schlaflosen Nächten vergossen, und umrändert von
bläulichen Ringen, blickten in die von Gesundheit
und Leben strahlenden des Mannes,
In diesen beiden Augenpaaren stand die ganze
Geschichte all dieser Monate geschrieben; ihre
Qualen, ihre Trübsal, all ihr Unruhe und Sehnsucht,
und seine Gleichgültigkeit, seine gute Ernährung,
sein ungestörter Schlaf und sein durch keinen Ge-
wissensbiß getrübter Seelenfriede. \
Unverwandt starrte sie ihm in das Gesicht. Endlich
hatte sie ihn wieder, dicht vor ihr stand er und alles
konnte sie ihm sagen, was ihr so schwer auf dem
Herzen lag.
Er aber erwachte jetzt aus seiner augenblicklichen
Erstarrnug. Hastig wandte er sich ab und wollte
davonlaufen, Eingedenk jenes Auftrittes auf dem
Boden, befürchtete er dessen Wiederholung.
Käthe jedoch raffte sich empor von der Erde und
umschlang ihn mit beiden Armen. Dabei zitterte sie

438
wie im Fieber und purpurrot färbten sich die bleichen
Wangen. Das Tuch sank ihr von den Schultern und
vor ihm stand sie in der vollen Majestat der M utte r-
schaft, unbekiimmert um die iibrige Welt und um
die Leute, die jeden Augenblick kommen konnten.
Einen Blick nur warf er auf die ganze Gestalt und
erkannte sofort ihre Lage.
Mit Gewalt wollte er sich losreißen, um so schnell
wie möglich diesem Mutter-Weibe zu entfliehen, er,
der Vater-Mann.
Dieser Schoß, der jetzt noch sein eigenes Kind
in sich barg, erschien ihm geradezu widerlich und
abschreckend.
Käthe aber hielt ihn fest mit ungewöhnlicher Kraft
und preßte um seine Hand so krampfhaft die Finger,
daß sie ihm empfindlichen Schmerz verursachte,
Gleichwohl beabsichtigte sie dies nicht, sondern
wollte ihm nur sagen, sie könne jeden Augenblick
sterben und lasse auf der Welt eine Waise zurück,
für die sie mit Recht seinen Schutz verlange.
„Johann“, sprach sie mit stockender Stimme. „Wie
gut hat Gott es gefügt, daß du mir in den Weg tratest.
So sehnlichst wünschte ich dich wiederzusehen.“
„Laß mich los! Was zerrst du mich so herum?“
unterbrach er sie aufbrausend. „Willst du mich wieder
so zerkrallen, wie damals auf dem Boden?“
„Nein, o nein!“ rief sie, ihn immer fester haltend.
„ich will dir gar nichts antun und dir nur sagen...“
Hier brach sie plötzlich ab, außer Stande, den Satz
zu vollenden. Anfangs erschien es ihr so leicht, ihm

49
alles zu sagen. Jetzt aber erstarb ihr die Stimme
in der Brust und das Wort auf den Lippen,
Vor sich sah sie ihn, so frisch und kerngesund
im Sonnenglanze mit roten Wangen, ganz wie vor
einem Jahre. Sogar denselben Schlips trug er und
dieselbe Weste und sein Haar glänzte und duftete
von Pomade.
So kräftig und fein sah er aus mit dem neuen
Strohhute in der Hand, die noch derselbe Tombak-
ring schmückte.
Und plötzlich schämte sie sich ihrer Not und Armut
und vor allem des Zustandes, der sie jetzt so ver-
unstaltete.
Unwillkürlich ließ sie die Arme sinken und befreite
so Johann aus deren Fesseln.
Hastig griff sie nach dem Tuche, um den halben
Körper zu verhüllen.
Währenddem war Johann einige Schritte zurück-
gewichen, um nach dem Nachbargarten zu ent-
schlüpfen. Käthe aber vertrat ihm den Weg.
So standen sie beide dicht am Rande der alten
Lehmgrube, deren feuchter Boden in den Strahlen
der Sonne blinkte.
„Johann! Warte nur einen Augenblick! So kannst
du nicht von mir gehen!“ rief sie ihm zu. „Wie du
siehst, sitz ich hier im Elend und dazu noch in
Schulden. Vielleicht aber geht es bald mit mir zu
Ende; ich weiß nicht, wie Gott es lenkt!“
„Was willst du von mir? Halt mich nicht länger
auf!“ zischte er durch die Zähne. „Mit dir hab ich

440
nichts zu schaffen, So eine, die sich so lange herum-
treibt und priigelt, bis sie zur Polizei abgeführt wird,
ist nur eine Schande für ordentliche Leute. Geh mir
aus dem Wege, sonst schaff ich mir anders Rat!“
Sie aber war wie im Fieber und hörte seine
Drohung fast gar nicht. Nur den einzigen Gedanken
hatte sie, ihm etwas zu sagen von dem Kinde,
welches sonst verhungern müßte, wie die soeben
nach dem Friedhof getragene Waise,
„Für mich verlang ich ja nichts!“ rief sie hastig,
„nur... für... das... Kind!“
Tief errötend schlug sie die Augen nieder. Endlich
war es heraus, dieses Wort, dies Verbrechen, dieser
Fehiltritt, den sie begangen unter Mitschuld, nein, nur
durch die Schuld des vor ihr stehenden Mannes ...
Dieser aber, nachdem er allmählich das verlorene
Gleichgewicht wiedererlangt, blickte sie an mit
affenartiger Bosheit und pfiff dabei einen Gassen-
hauer. Dann rief er lachend: „Ei, ei! Ein Kindchen?
Na, das ist ja noch schöner!“
Jetzt erst erhob sie das Haupt.
Wie? So also nahm er die Nachricht auf von dem
Kinde? Ohne ihr zu zürnen, pfeift er sogar und
lacht? Wer weiß, vielleicht überlegt er sich’s und —
heiratet sie doch noch? ...
Und voller Freude umschłang sie ihn aufs neue mit
dem Rufe: „Ach Johann, wie gut du bist, daß du
mich nicht ausschiltst. Ich bin ja auch nicht daran
schuld, daß ich so elend bin!“
„Weshalb, zum Henker, sollt ich dich aus-

441
schelten?“ höhnte er achselzuckend. „Dies Kind ist
doch nur deine Sache! Behalt es oder nicht, das
macht mich nicht warm und nicht kalt!“
Jetzt konnte sie sich doch nicht länger täuschen
über seine in diesen Worten ausgesprochene Ge-
sinnung und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen.
Nichts hören wollte er von dem Kinde, dessen
Vater er war! Aufsie allein also sollte dies Wesen’
fallen, welches ihr in diesem Augenblicke fast den
Schoß zerreißt, wie verzweifelt, als fühle es, daß der
leibliche Vater sich von ihm lossagte und ohne Er-
barmen es hinausstoßen wollte in die Welt!
Dieser plötzliche Übergang aus der Freude in die
Enttäuschung versetzte sie in wahnsinnige Wut.
Wieder riß sie das Tuch herab von den Schultern,
packte Johann am Arm und starrte ihm mit großen
Augen gerade in das Gesicht.
Alle Qualen, die sie schon erlitten und noch zu
erwarten hatte, verkörperten sich in diesem Manne,
der deren alleinige Ursache war.
Ein Weilchen stand sie schweigend vor ihm. Dann
reckte sie sich plötzlich kerzengerade. Aus den
Augen zuckten ihr düstere Blitze und der weit-
geöffnete Mund zeigte zwei Reihen scharfer Zähne.
Unbeugsamer Trotz sprach aus ihrer ganzen, sonst
so sanften und fügsamen Gestalt.
„Wie?“ schrie sie laut. „Du sagst, das Kind geht
dich nichts an und macht dich nicht kalt und nicht
warm? Wie kommst du dazu?“
Entsetzt über ihren Gesichtsausdruck starrte er sie

442
an. Dieser Jihzorn konnte von schlimmen Folgen
sein. Daher beschloß er, sich um so schneller aus
dem Staube zu machen. Sah sie doch aus wie eine
Rasende!
Mit kräftigem Ruck sie von sich stoßend, rief er
wütend: „Da hast du mein Kind!“ und lief wie von
Sinnen inder Richtung nach demNachbargarten davon.
Käthes Brust entrang sich ein markerschütternder
Schrei, nur ein einziger ...
Nach dem Stoße der kräftigen Männerhand
schwankte sie auf den Füßen ... taumelte einige
Schritte zurück ... und ... stürzte von der steilen
Höhe in die alte Lehmgrube hinab,
Die gelbliche, aufgeweichte Erde dort nahm willig
den ohnmächtigen Körper auf, dessen dunkle Masse
scharf sich abhob von dem hellen Grunde.
Johann durcheilte inzwischen schnell die Gärten,
um seine Begleiter einzuholen, die ihm schon weit
voraus waren und sich nicht wenig darüber wunder-
ten, was den Lustigsten von ihnen so lange zurück-
halten konnte, daß er zu der längst verabredeten
Kegelpartie zu spät kam.
Als Johann endlich erschien, begrüßten sie ihn mit
allerlei zweideutigen, schlechten Witzen.
Er aber gab zu verstehen, irgend ein kleines Liebes-
abenteuer habe ihn unterwegs etwas aufgehalten.
Und nicht wenig beneideten ihn seine Kumpane,
daß ihm so leicht und am hellen Tage so etwas be-
gegnete, indem sie seufzend ausriefen: „Ach! Wer
doch auch solches Glück hätte! ...“

443
iister groliend stand Frau Schnaglow am Fub-
D ende des Bettes, in welchem die bewußtlos in der
Lehmgrube aufgefundene Kathe lag.
Wie diese dorthin gelangt, konnte sie sich nicht
erklären.
Käthe antwortete ihr, auch als sie wieder zu sich
gekommen war, auf keine Frage, so entsetzlich
waren die Qualen, unter denen sie unaufhörlich
stöhnen mußte.
Eine Frühgeburt stand bevor, die alle Pläne und
Hoffnungen der Hebamme inbezug auf Käthe ver-
nichtete und ihr sogar die Möglichkeit benahm, auf
ihre Kosten zu kommen.
Daher überließ sie Madi die ganze Pflege und be-
gnügte sich mit der Rolle einer Zuschauerin.
Nur ab und zu brummte oder jammerte sie, wenn
sie all ihre Auslagen berechnete.
Auch Madi teilte ihren Kummer über den Verlust
all der Vorteile, die eine so kräftige Amme in Aus-
sicht gestellt hatte.
Daher quälte sich Käthe stundenlang fast immer
mutterseelenallein und biß sich vor Schmerz in die
Finger oder zerraufte sich das Haar oder zerriß die
Bettwäsche.
In dem engen, dumpfen Stübchen fehlte es an
frischer Luft, da auch das Fenster dicht verhängt
war und niemals geöffnet wurde, damit Vorüber-
gehende die Schmerzenslaute nicht hören konnten.
Als die Dämmerung herabsank, lag Käthe noch

444
immer im Bette, mit aufgedunsenem Gesichte, tief
eingefallenen Augen und schweißbedeckter Stirn.
Ein Wort nur kam ófters über ihre bleichen
Lippen.
„Jesus!“ rief sie nur immer wieder, als finde sie
Linderung in diesem Namen, an dem sie von Kindheit
an gewöhnt war in Kummer und Gefahr.
Ab und zu war es ihr, als sterbe sie, und dann
überfiel sie eine entsetzliche Angst beim Gedanken
an den Tod in diesem diisteren Stiibchen, aus dem
schon so manche Leiche herausgetragen wurde.
An das Kind, welches jeden Augenblick auf die
Welt kommen sollte, dachte sie jetzt gar nicht mehr,
so benommen war sie von der ihr bisher vóllig un-
bekannten, schrecklichen Qual.
Unwillkürlich blickte sie nach dem hellen Kreuze,
welches die Risse in dem dunklen Vorhange bildeten.
Jetzt also lag auch sie unter diesem Kreuze. Jetzt
kam auch an sie die Reihe und ebenso mußte sie
stöhnen wie die andern, deren Jammern sie in der
nächtlichen Stille so erschreckt hatte.
Wie und wann wird diese Marter enden? Sie
wußte es nicht und wagte nicht, danach zu fragen.
Als Madi das Lämpchen anzündete und auf die
Kommode dicht vor dem Bette stellte, steigerte sich
noch ihre Angst bei dem Gedanken an die dunkle
Nacht, in die sich jetzt die Erde hüllte,
Ihr war, als liege sie schon im Sarge in gemein-
samer Grube mit verendetem Vieh ...

445
Die Vorbereitungen Madis, die auf das Bett ge-
worfenen Lappen, das schwarze Fläschchen und be-
sonders der große Bogen Packpapier auf der Kom-
mode, der bei jeder Bewegung raschelte, vermehrten
noch ihre Aufregung.
Was sollte mit ihr geschehen in dunkler Nacht?
Würde sie morgen noch Gottes Sonne wiedersehen
oder elend umkommen ohne Rettung und Hilfe?
Inzwischen verkündete die Uhr mit heiserem
Schlage Stunde auf Stunde.
Madi kauerte schlaftrunken an der Erde, miß-
mutig über den bevorstehenden Verlust, während
ihre Mutter die gleichgültige Miene der Hebamme
beibehielt, die selbst die größte menschliche Marter
nicht zu rühren vermag. Nicht einmal zuckte sie zu-
sammen, als Käthes Stöhnen überging in das Brüllen
eines wilden Tieres, welches mit dem Tode ringt.
Auf dem Wege unterhalb des Häuschens zogen
Betrunkene vorüber und sangen zur Harmonika. Die
munteren Weisen eines Walzers oder einer Polka
mischten sich in Käthes Angstgestöhn, aber ihr Ruf
„Jesus!“ überschallte sełbst diese Tanzmusik.
Nachdem die Nachtschwärmer über den Wall zur
Stadt zurückgekehrt, wurde alles mäuschenstill und
nur Käthes Schmerzensschrei erschallte jetzt mit ver-
doppelter Gewalt, dieser Bußeschrei eines Weibes
für einen kurzen Augenblick irdischer Wonne ...
Immer mehr. veränderte sich ihr Aussehen. Wie
ein Schreckgespenst lag sie da, den Kopf tief zurück-
gebogen und zupfte mit zitternden Händen krampf-

446
haft und nervös an der Bettdecke. Allmählich erstarb
sogar der Schrei in ihrer Brust und ging in ein
heiseres Röcheln und dumpfes Heulen über, ähnlich
dem Herbstwinde.
Dann erst erwachte die Hebamme aus ihrer Er-
starrung und näherte sich hastig dem Bette,
Mit irrem Blicke starrte Käthe sie an und stieß
ihre Hände zurück. Dann wieder griff sie nach
ihrem Kleide, wie nach einem Rettungsbalken,
Madi stand daneben und rieb sich, halb im Schlafe,
die Augen.
Nach einigen Minuten erschütterte noch ein durch-
dringender Schrei die Wände und als schwaches
Echo erwiderte diesen das kaum hörbare Wimmern
des — Kindes...
Krampfhaft zuckte Käthe zusammen.
Etwas Unbeschreibliches durchfuhr ihren ganzen
Körper und zerpreßte ihr das Herz. Instinktiv streckte
sie die Arme aus und eine seltsame Rührung über-
mannte sie, so ergriff die tierische Anhänglichkeit an
das Kind ihr ganzes Wesen.
Doch nur zu bald verließen sie die Kräfte, die
Arme sanken herab ... Und, erschöpft von dem un-
natürlichen Geburtsverlaufe, sank sie bewußtlos
zurück in die Kissen ...
Inzwischen beschäftigte sich Madi mit dem Kinde.
Es war ein achtmonatliches Mädchen, kräftig gebaut,
aber stark gerunzelt und versprach kein längeres
Leben, als einige Minuten, im günstigsten Falle kaum
eine Stunde ...

447
Die Hebamme warf, noch bemüht, Käthe zu er-
muntern, nur einen Blick auf das Kind und fällte mit
einer beredten Armbewegung über dasselbe ihr ent-
scheidendes Urteil.
Sofort schritt Madi zu ihrer in solchen Fällen ge-
wohnten Hantierung:
Nachdem sie die rechte Hand in Wasser getaucht,
näherte sie sich dem sterbenden Kinde und besprengte
dessen Köpfchen mit den Worten: „Ich taufe dich,
Maria, im Namen des Vaters, des Sohnes und des
heiligen Geistes, Amen!“
Das Kind öffnete die blauen Äuglein und starrte an
die Stubendecke.
Dann schloß es langsam die Lider, atmete noch
einmal auf mit der kleinen Brust und wieder schwebte
eine Seele zurück in das Reich des ewigen Ge-
heimnisses.
Das in der Ecke noch glimmende Lämpchen warf
seinen matten Schein auf die kleine Leiche, die starr
und fahl auf Käthes Bettdecke lag.
Inzwischen zog der letzte Schwarm starkbezechter
Sonntagsgäste drüben auf dem Walle mit lautem
Gesang und Gelächter vorüber.
Deutlich vernahm man darunter die Stimme
Johanns, des berauschten — Vaters, die mit
heiserem Klang in das Stübchen drang, wo sein
totes Kind lag und die vor Schmerzen noch immer
bewußtlose — Mutter...

448
as bitt ich mir aber aus, Frau Schnaglow;
» das Kind darf nicht etwa in Packpapier in die
Lehmgrube geworfen werden!“ sagte Mary, als sie
tags darauf die Freundin besuchte. „Den kleinen
Sarg will ich gern bezahlen.“
„Gut, Fräulein, wenn Sie eine so große Dame sind,
meinetwegen! Soll ich etwa auch den Leichen-
wagen bestellen mit Federbüschen und Livreen?“
„Spotten Sie nicht so, Frau Schnagiow! Das Kind
soll aber in geweihter Erde ruhen; es ist doch kein
junger Hurd, sondern ein menschliches Wesen!“
„Natürlich! Geben Sie nur das Geld her, Fräulein,
zum Sarge und für den Platz auf dem Kirchhofe!“
„Alles will ich bezahlen, wie es sich gehört.“
Dankbar blickte Käthe die Freundin an, wenn sie
auch vor Schwäche nicht mehr sprechen konnte,
Mary setzte sich an ihr Bett, ganz rot vor Un-
willen über das schändliche Benehmen der Hebamme,
die, ohne Käthes Genesung abzuwarten, schon vom
frühen Morgen an die Kranke unaufhörlich mit Vor-
würfen quälte, während Madi zu Mary geeilt war,
um ihr zu melden, was vorgefallen.
Die Leiche des Kindes war noch im Hause ge-
blieben, weil Madi sich fürchtete, Sonntags Nacht
nach der Lehmgrube zu gehen, wo betrunkene
Arbeiter aus der Ziegelei sich herumtrieben, bis sie
ihren blauen Montag hielten.
Mit dem Auftrage, einen ordentlichen Sarg zu be-
sorgen, händigte Mary der Hebamme drei Gulden-
scheine ein, und diese zog sich mit hóhnischem

29 Käthe 449
Lächeln an und entfernte sich mit dem schmutzigen
Gelde.
Auch Madi schlüpfte hinaus und lief der Mutter
nach bis zur Straßenecke, um ihr noch etwas zuzu-
flüstern und dann wieder nach Hause zu eilen. Dort
schlich sie sich in ihre Schlafstube, nahm aus der
Kommode einen Bogen Packpapier und legte ihn auf
den wackeligen Tisch, Dann steckte sie sich in ihr
Trikotiäckchen einige Stecknadeln und setzte sich
ruhig, ein Liedchen pfeifend, auf einen Lehnstuhl.
Inzwischen blickte Mary mit ungeheucheltem Mit-
leid die Freundin näher an und sie erschien ihr weit
mehr verändert, als sie erwartet.
Das ganze Gesicht war wie mit Asche bestreut
und die Züge hatten sich ungemein verlängert.
Sie selbst hatte so etwas niemals durchgemacht.
Die Quał mußte aber keine geringe sein, wenn sie in
einer einzigen Nacht ein Weib so verändern konnte!
Der Tag war trüb und regnerisch.
Nur fahles Licht warf das Wolkengrau durch den
zerrissenen Vorhang auf die Gestalt der Kranken.
Das Kind lag starr und kalt unter einer dünnen,
fadenscheinigen Serviette.
Als Mary diese erhob, fiel das fahle Licht plötzlich
auch auf das noch nicht völlig ausgebildete kleine
Wesen, welches schon im Mutterschoße halb abge-*
storben war und sich jetzt über den vorzeitigen Tod.
noch zu beklagen schien.
Als Käthe dies sah, zuckte sie krampfhaft zu-

450
saminen und fliisterte halb bewuBtlos: „Er sagte,
dies sei ... nicht ... sein Kind!“
„Wer sagte dies?“ fragte Mary, hastig das Kind
wieder zudeckend und über die Kranke sich neigend.
„Er! Johann!“
„Wo hast du ihn gesehen, diesen Schuft?“ rief
Mary und sprang heftig auf.
Käthe aber schwieg und mochte offenbar nichts
weiter sagen. Fühlte sie sich doch so unglücklich, daß
ihr die Worte fehlten, um ihr Herzeleid zu beschreiben.
Dabei zerwühlten ab und zu die fürchterlichsten
Schmerzen ihr die Eingeweide und ein Fieberfrost
durchschauerte sie nach dem andern, daß ihr die
Zähne klapperten.
Sollte denn die Marter niemals enden? ...
Eine Zeitlang blieb Mary noch bei der Kranken
und bemühte sich, ihr Linderung zu verschaffen. Mit
allen Lumpen, die sie nur auftreiben konnte, sie be-
deckend, versprach sie ihr, aus der Speisekammer
ihrer Herrschaft Arak mitzubringen.
Aufrichtiges Mitleid empfand sie mit der Unglück-
lichen, die so verlassen war, wie ein von seinem
Herrn davon gejagter Hund.
Nachdem Käthe anscheinend sich etwas beruhigt,
schlich Mary mit dem festen Vorsatz hinaus, nach
einigen Stunden wiederzukommen.
Auf der Holztreppe begegnete sie der Hebamme,
die aus der Stadt zurückkehrte und ihr mitteilte, der
Sarg, blau lackiert und ausgepolstert, werde gleich
gebracht werden und solle anderthalb Gulden kosten.

29* 451
Hiermit einverstanden, bat Mary, das Kind nicht
eher in den Sarg zu legen, bis sie wieder da sei.
Nachdem ihr dies feierlich versprochen worden,
eilte sie, so schnell wie möglich, nach der Stadt zu,
mußte aber unterwegs wiederholt stillstehen, weil ihr
sonst der Atem ausging, so hatte die Brustkrankheit
schon ihren ganzen Körper zerriittet.
Frau Schnaglow betrat inzwischen schon das
Häuschen und fand Käthe noch immer mit ge-
schlossenen Augen und in Fieberschauern daliegend.
Wie eine Katze schlich die Hebamme an das Bett,
zog dort das tote Kind an den Beinchen schnell aus
den Lumpen hervor und trug es leise hinaus.
Die Kranke öffnete nicht einmal die Augen und
nur ein dumpfes Ächzen entrang sich ihrer schmerz-
zerwühlten Brust.
Jetzt huschte die Hebamme in die Schlafstube, in
welcher Madi saß.
Hastig übergab sie das Kind ihrer Tochter, die,
noch immer pfeifend, mit ihm dem Tisch sich näherte,
dort es auf einen Bogen Packpapier legte und diesen
so gewandt wie ein Ladenmädchen um das Kind zu
einem Paket herumschlug, welches sie sorgfältig mit
Nadeln zusteckte.
Während dieser Hantierung wechselten Mutter
und Tochter miteinander kein Wort.
Als Madi das Paket, wie gewohnt, unter der
Schürze verbarg, riet ihr die Mutter, wenigstens noch
ihr Tuch darüber zu werfen.
Madi aber zuckte nur die Achseln.

452
Nein! Sie gehe ja nicht den gewöhnlichen Weg
nach der Lehmgrube, sondern einen ganz anderen,
auf dem ihr gewiß keine Menschenseele begegnete,
da sich mittags dort auch die Arbeiter nicht mehr
herumtrieben.
Kopfschüttelnd gab die Mutter der altklugen
Tochter nach. Ein Weilchen noch lauschte sie, wie
diese ihren Walzer pfiff, während sie sich durch das
Gebüsch hindurch drängte. Durch das offene Fenster
schallte das schrille Pfeifen, bis es allmählich in der
Ferne verstummte.
Dies also war das Grabgeläute für das Kind,
welches, in der Nacht gestorben, dort verscharrt
wurde, wie ein Hund am Kreuzwege! ...
Unterdessen öffnete die Hebamme die Kommode,
zog aus der Tasche die drei Papiergulden, dieselben,
die ihr Mary gegeben, und schob sie in einen blauen
Strumpf, in dem das ersparte Geld klirrte.
Dann versteckte sie lächelnd den Strumpi unter
einem Stoß Wäsche, verschloß sorgfältig die Kom-
mode und verfertigte in aller Eile aus schwarzem
Papier einen ganzen Vorrat von Trauermalven.
„Jetzt konnte Mary ruhig kommen.
Die Leiche habe sich nicht länger gehalten, würde
man sagen. Daher habe man sie in den Sarg gelegt
und begraben.
Nach dem frischen Grabe zu sehen, dazu hatte
Mary keine Zeit. Später wird sie es ganz vergessen
und ihre drei Gulden kommen Finas und Madis Mit-
gift zu gute! .

453
. Als Madi endlich ganz durchnäßt und beschmutzt
heimkehrte, sagte sie, das Kind sei in der bequemen
Grube, die sie mit Erde bedeckt, gut aufgehoen.
Dann bereitete sie sich aus Rosenblättern ihr
Konfekt, welches sie über alles liebte.

Still und ruhig verlief der ganze Nachmittag, Mary


erschien nicht wieder.
Käthe, der man etwas Kamillentee eingeflößt, lag
immer noch stöhnend im Fieber, war aber noch bei
vollem Bewußtsein.
Ab und zu warf sie sich unruhig umher, als suche
sie nach dem Kinde. Gleichwohl fragte sie nicht da-
nach, aus Furcht vor der Hebamme, die ihr mürrisch
das Getränk reichte.
Auch Madi zeigte sich nicht. Mit aufgestreiften
Ärmeln stand sie am Kamin und leckte lüstern an
dem rosigen Schaum, den sie sorgfältig von ihren
Konfitüren abschöpfte.
Vor ihr lag noch ein ganzer Stoß Rosenblätter;
dazu aber iehlte ihr der Zucker. Hastig stellte sie
die Kasserolle vom Feuer und lief aus dem Hause.
Auf der Holztreppe aber blieb sie stehen wie an-
gewurzelt.
Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich ihren Augen
dar. Längs des Weges, der sich unterhalb des Häus-
chens hinzog, standen Männer in abgetragenen
Röcken oder Mänteln mit halb gleichgültigen, halb

454
schlauen Mienen und auf der Brust gekreuzten
Armen. Deutlich hob ihre Gestalt sich ab vom
grauen Wolkenhimmel. Einige unter ihnen trugen
die dunkle Polizeiuniform mit blanken Knöpfen.
Aus dem etwa hundert Schritt entfernten Nachbar-
häuschen kamen noch fünf andere Männer, zwei in
Zivil und drei in Uniform, herbei.
Einer der längs des Weges stehenden Polizisten
hielt in der Hand ein großes beschmutztes und durch-
näßtes Paket, aus dem das Wasser trieite.
Weit riß Madi die Augen auf und erkannte sofort
— ihr Paket mit der Kindesleiche.
Sollte diese heut' wieder auferstehen, um sie viel-
leicht zu vernichten?
Die Polizei mußte die kleine Leiche aufgefunden
haben und suchte jetzt nach der Mutter, nachdem fest-
gestellt wurde, daß das Kind erst gestern geboren sei.
Die Polizei fürchtete Madi durchaus nicht, nur die
ihr unbekannten Ärzte, die schon längst danach
forschten, wer den Weibern immer die schrecklichen
Gifte verabfolge, um das keimende Leben zu ver-
nichten. i
Madi wuBte nur zu gut, daB die Mutter viele
Feinde habe.
Fanden diese bei ihr jene Käthe, obgleich deren
Frühgeburt nur ein Zufall war, so begründeten sie
damit sofort gegen sie die Anklage und fanden wohl
gar noch an der Kindesleiche die Zeichen eines ge-
waltsamen Todes.
Was war also zu tun!

455
Fast verlor die sonst so besonnene Madi den Kopf.
Drei Häuser nur trennten noch die Polizei von
dem Hauschen ihrer Mutter ...
Zum Glück gab ein ihr bekannter Polizist unbe-
merkt einen Wink, um sie vor der nahen Gefahr zu
warnen.
Ein Weilchen noch überlegte sie und rang nervös
die von den Konfitüren rosig gefärbten Hände.
Dann eilte sie wie der Wind zurück ins Haus, riß
die Tür auf und schrie: „Mutter! Revision kommt!“
„Mein Gott!“ rief zitternd die Hebamme.
Dann stürzten sie beide wie rasend in Käthes
Stübchen und Madi flüsterte der Mutter zu: „Sie muß
fort.“
Ohne etwas zu erwidern, riß Frau Schnaglow die
Bettdecke von der Kranken herunter, die zitternd vor
Schreck die beiden anstarrte, wie ein tödlich ver-
wundetes Wild die es noch herumzerrende Meute.
„Steh” auf!“ rief Madi, „die Polizei kommt nach
dir! Du mußt fort, sonst nehmen sie dich mit!“
Käthe verstand nur das eine Wort: Polizei.
Also wieder wurde sie verfolgt, nicht einmal jetzt in
Ruhe gelassen?
Dabei wußte sie nur zu gut, daß diese Weiber sie
fortiagen und nicht einen Augenblick länger unter
ihrem Dache lassen würden. Und mit der über-
menschlichen Willenskraft eines verzweifelten Weibes
raffte sie sich aus dem Bette auf.
Die Weiber warfen ihr noch einen zerrissenen Rock
und einen von Motten halb zerfressenen Pelz über

456
und steckten die nackten Füße in große Pantoffeln.
Dann führten sie die totenbleiche, halb Ohnmächtige
durch die Hintertiir zum Hause hinaus,
Noch war es Zeit.
Das Gebiisch verdeckte die Holztreppe nach der
Seite, wo die Häscher schon langsam sich näherten,
und Käthe konnte unbemerkt von ihnen entschlüpfen.
Was übrigens kümmerte dies die Hebamme? Ihr
handelte es sich nur um die Entfernung der Kranken
aus ihrer Behausung, um weiter nichts. War dieser
Hauptbeweis beseitigt, so konnte niemand ihr etwas
anhaben. -
Selbst wenn Käthe erwischt wurde, alles einge-
stand, und ihr Haus als ihren Aufenthaltsort angab,
konnte sie immer noch alles leugnen.
Wer hatte Käthe bei ihr gesehen? Niemand, außer
Mary! Und Mary mußte schweigen aus ver-
schiedenen Gründen.
Inzwischen hatte Madi im Stübchen alles auige-
räumt und das Bett gemacht, auch alle Lappen und
Lumpen in den Keller versteckt.
Nach wenigen Minuten schon war von Käthes An-
wesenheit keine Spur mehr vorhanden,
Madi stand, ihren Walzer pfeifend, wieder am
Kamin, dessen Flammen sie hell beleuchteten, nicht
weit von der Mutter, die mit sanitester Miene im
fahlen Gesicht ruhig ihre Strümpfe stopfte.
Käthe wankte allmählich die Stufen der Holztreppe
hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt oder
daran anlehnte.

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Nur mit gróBter Anstrengung gelang ihr dies und
jeder Schritt verursachte ihr die heftigsten Schmer-
zen, als zerschnitten tausend Messer ihre Einge-
weide. Rote Flecke schimmerten ihr vor den Augen,
die ihr den Blick verhüllten und sie fast blendeten.
Nur einige dunkle Gestalten noch sah sie vor sich,
die langsam den Weg entlang schritten.
Sogar die Gedanken verwirrten sich ihr im Ge-
hirn, Wer waren diese Leute? Was wollten sie von
ihr? Etwa ihr Leben? ...
Sie wußte nur, daß man sie gehen hieß. Also
gehen wollte und mußte sie, weiter, immer weiter,
ohne Ziel, ohne Ende!
Plötzlich blinkten durch das Wolkengrau einige
bleiche Lichtstrahlen, in deren mattem Glanze sich
den Blicken der Häscher und der Polizisten die aus
dem Gebüsche hervortretende Frauengestalt zeigte.
So erschöpft und so leichenblaß sah sie aus, daß
die Männer sofort in ihr die Mutter des toten Kindes
erkannten, welches in dem zerfetzten Packpapier
aufgefunden wurde.
Und so groß mußte die Qual und das Elend sein,
welches sich in der schwankenden, gebückten
Haltung und in den tief eingefallenen, von Tränen
umiłorten Augen ausprägte, die vor Schmerz und
Angst vor sich hinstarrten, daß selbst in den gegen
alle Not des Lebens so abgehärteten, fast ver-
steinerten Herzen dieser Männer sich das Mitleid
regte und der Wunsch, dieser Unglücklichen zu
helfen.

458
Fast alle wandten sie sich ab oder blickten zu
Boden, um Käthe das Vorbeigehen zu erleichtern,
bevor die Untersuchungskommission aus dem nahen
Häuschen zurückkam.
Zitternd wankte sie noch einige Schritte weiter
und taumelte hin und her, wie betrunken.
Auch die Männergestalten sah sie nicht mehr, so
dunkel war es ihr und so drehte sich ihr alles vor
den Augen.
Plötzlich streckte sie die Arme aus und sank laut-
los auf die feuchte Erde, dicht vor die Füße des
Polizisten, der die Kindesleiche in der Hand hielt.
Gleichzeitig wurde die Tür des Nachbarhäuschens
geöffnet und heraus trat der Kommissar mit zwei
Ärzten. Zwei Beamte blieben noch im Häuschen
zurück, um nähere Erkundigungen einzuziehen.
Der Kommissar sah zuerst die mitten im Wege
liegende Ohnmächtige und eilte sofort zu ihr die
Holztreppe hinunter, um ihre kalte, starre Hand zu
ergreifen und sie heftig hin und her zu zerren.
Dabei verschob sich der zerlumpte Pelz und ent-
blóBte ihre nackten Arme und Schultern. Sofort
röteten sich die bleichen, großen Ohren des Kom-
missars und entfalteten sich wie zwei Fächer: er
witterte für sich willkommene Beute und wollte sie
nicht so leicht wieder loslassen.
Wer weiß, dieser Fall konnte ihm vielleicht zu der
längst ersehnten Beförderung verhelfen.
Daher schweiite der Blick seiner kleinen hell-
grauen Augen unaufhörlich von der Kindesleiche

459
herab auf das an der Erde liegende Weib, als suche
er irgend eine Ahnlichkeit in diesen beiden regungs-
losen Körpern, oder eine Gemeinschaft zwischen
ihnen, die ihn auf den richtigen Weg führen könnte.
Einer der Polizisten, die inzwischen hinzugetreten
waren, bog sich herab über Käthe und betastete ihre
Arme.
Dies junge, elende Wesen erregte in ihm so tiefes
Mitleid, daß er es zu retten wünschte, obgleich er mit
seinem Spürsinn die volle Wahrheit längst erriet.
„Herr Kommissar“, hob er an. „Die ist nur be-
trunken und muß ins Loch, um sich auszuschlafen.“
„Nein, nein!“ erwiderte der Kommissar. „Solch
ein großes Frauenzimmer betrinkt sich nicht am
hellen lichten Tage, um der ganzen Polizei in die
Hände zu fallen. Dahinter steckt etwas ganz anderes.
Offenbar hängt dies mit der Kindesleiche zusammen,
die vor einigen Stunden in der Lehmgrube unweit
der Ziegelei gefunden wurde!“
In der Tat hatten Kinder sie dort zufällig beim
Schanzenspiel aus der nur mangelhaft zugeschütteten
Grube ausgegraben und so, wie sie war, in Pack-
papier eingewickelt, zur Polizei gebracht, stolz und
glücklich, daß sie auch einmal die Helden des Tages
spielen konnten.
Jetzt hing nur noch von den Ärzten der Ausspruch
ab, ob dies Frauenzimmer nur betrunken war, oder
eine von den Männern schändlich Betrogene, die in
ihrer Verzweiflung ein Verbrechen verübte,

460
Gleich darauf kamen die Arzte herbei, um die noch
immer Ohnmächtige zu untersuchen.
Einige Minuten herrschte Totenstille, nur unter-
brochen vom Rauschen des Windes im Laube und in
den Zweigen.
Hinter Wolken barg sich wieder die Sonne, als
betrübe sie der Anblick dieses menschlichen Elends,
welches ihr Goldglanz bestrahlte.
Trüb’ und düster ward es rings umher.
Endlich erhoben sich die Ärzte von der Kranken.
Und der ältere, ein Graukopf mit kaltem, gleich-
gültigem Gesichtsausdruck, zeigte erst nach der
fahlen Kindesleiche und dann nach Käthe mit den
Worten: „Das ist die Mutter!“
„Johann! Johann!“ stóhnte diese wie im Traume ..

Saren sie von der Polizei mitten auf dem Wege


aufgehobenwurde, war Käthe nicht wieder zurBe-
sinnung gekommen.
Auf Anordnung der Ärzte ins Spital aufgenommen
und dort in der Abteilung für Wöchnerinnen unter-
gebracht, lag sie bewußt- und regungslos da mit
fieberglühenden Wangen und starrte voller Ver-
zweiflung vor sich hin.
Kein Wort kam über ihre Lippen, außer dein
Namen „Johann“, den sie mit der Hartnäckigkeit des
Wahnsinnes fortwährend wiederholte, und zwar
immer mit anderer Betonung.

461
Die Ärzte, die ihr beim besten Willen nicht helfen
konnten, ließen sie ruhig liegen.
Eine Entzündung nach der andern stellte sich bei
ihr ein.
Die Wärterinnen meinten, die Nahrung sei ihr in
den Kopf gestiegen und von jedem ward ihre Krank-
heit anders genannt und beurteilt.
Sie selbst kannte ihren Zustand nicht und lag Tag
und Nacht stöhnend da, wie zum Tode verurteilt, wie
eine lebende Leiche.
Allmählich kümmerte sich fast niemand mehr um
sie. Die Krankheit zog sich in die Länge und der
Tod schien sich zu verspäten.
Der junge, kräftige Körper rang mit ihm und
wollte sich durchaus nicht ergeben.
Man schaffte Käthe endlich in den Operationssaal
und legte sie in ein Bett mit Rädern, um sie im Falle
des Todes leichter hinauszubefördern.
Dieser nur selten benutzte Saal führte auf einen
langen Gang, der alle übrigen Krankensäle und
Zimmer im ersten Stockwerke miteinander verband.
Ab und zu erschien das schwarze Gewand einer
Aufseherin oder die Gummischürze eines Arztes, der
mit Instrumenten unter dem Arm in den Saal eilte,
oder die Soutane eines Priesters, der das Gefäß mit
der letzten Ölung an die Brust drückte.
Morgens und abends rief ein Glöckchen zum Ge-
bet; manchmal auch verkündete es, daB wieder eine
Duilderin, nachdem sie ihre Bestimmung erfüllt, ein-
ging zur ewigen Heimat.

462
Hin und wieder erschallte auch ein Schmerzens-
schrei hinter der fest verschlossenen Tür, neben
welcher wie auf Vorposten Tragbahren auf Rädern
standen, die auf die der Anatomie verfallenden
Leichen warteten.
Denn diese verlangte, unersättlich, ewig hungrig,
wie eine Hyäne, immer neue Leichen, und das Spital
zahlte seinen Tribut mit all den Körpern jener
Frauen, die dort nach entsetzlichen Qualen an irgend
einer Krankheit starben.
Mit Einbruch der Nacht verstummte dies alles.
Die grauen Schwestern begaben sich nach dem
zweiten Stockwerk, um dort ihre Gebete zu murmeln.
Dann zogen sie die groben Gewänder aus und
legten sich auf die hohen Schlafbänke, die in langen
Reihen an den weißen Wänden standen.
In den sogenannten Fiebersälen aber erschienen
auch nachts die barmherzigen Schwestern und näher-
ten sich den am schwersten Kranken, um die weiken
Hände an Marmorkügelchen zu kühlen, und sie dann
auf die glühenden Schläfen der Bewußtlosen zu legen,
voller Aufopferung des eigenen Ichs, völlig auf-
gehend im Dienste der Menschheit.
Diese wahren Engel der Barmherzigkeit neigten
sich liebreich selbst über das Schmerzenslager der
verworiensten Dirne. Nur war ihre Zahl zu gering,
um allen Bedürfnissen zu genügen. Gleichwohl taten
sie, was sie konnten und wachten die ganze Nacht.
Und dies erst ist das wahre Gebet, solche schlaf-

463
lose Nacht, unter stóknenden und jammernden
Kranken verbracht! ...
Auf dem Gange lagerten sich die Schatten der
Nacht. Nur kleine Lämpchen an der Decke warfen
matten Schein auf die weißen Wände, an denen hier
und da ein schwarzes Holzkreuz hing.
Ab und zu nur wurde mitten in dieser Stille eine
Saaltür geöffnet und heraus trugen einige Männer
eine in ein Laken gehüllte, starre Leiche.
Sie legten sie behutsam auf die Tragbahre und
zogen dann diese auf Rädern, wie einen Leichen-
wagen, so leise wie möglich den mit Decken belegten
Gang entlang.
Beim matten Lampenlichte traten die Umrisse der
Toten deutlich hervor unter dem Laken, als wollten
sie sich stumm verabschieden von ihren Leideus-
genossinnen hinter den verschlossenen Saaltüren.
So verlief der Leichenzug aller Verlassenen und
Vergessenen, um die sich niemand kümmerte und
denen niernand eine Träne nachweinte ...

„Johann! Johann!“
So schalite dumpf und schaurig in jenen öden, fast
stockfinsteren Saale noch immer der Ruf der halb
wahnsinnigen Käthe.
Sie, die vor sich selber sich schämte, ihre Anhäng-
lichkeit an den Mann zu bekennen, der sie in das
Verderben stürzte, in der Todesstunde rief sie un-
aufhörlich seinen Natnen.

464
Immer wieder trat er ihr auf die zitternden Lippen,
bis er in das Röcheln der Sterbenden überging.
Selbst die Bußpsalmen übertäubte er, die man der
bewußtlosen Sünderin vorzubeten versuchte,
Alles verdrängte und dampite er und kam immer
wieder zum Vorschein, als verkünde er jenen ewigen
Triumph des Mannes über das Weib, selbst im letzten
Stündlein aller Erdenqual.
Das Haupt zurückgebeugt auf das harte Wachs-
tuchkissen, mit aufgelöstem Haar, mit starren Augen,
rief diese lebende Leiche, dieses prächtige Weib,
welches als Spielball eines Mannes vernichtet wurde,
immer und immer wieder noch jetzt dessen Namen
und verzieh ihm all ihre Marter und möchte ihm noch
die Hand küssen, wie ein Hund die des Herrn leckt,
die ihn blutig geschlagen.
Und endlich nahte die Nacht, in der all ihr Stöhnen
verstummen sollte und der einzige Ruf ihrer Lippen.
Ihre Wärterin schlief hart und fest in einer Ecke
des Saales nebenan. Also lag sie allein, von allen
verlassen und so entkräftet vom langen Kampf um
ihr Leben, daß sie dem Tode nicht länger Wider-
stand leisten konnte. |
Nur mattes Licht warfen die Lämpchen noch in
den dunklen Saal.
Käthe lag fast regungslos da. Die Hände allein
gewannen plótzlich wieder Kraft. Mit ihnen schien
sie etwas zurück zu stoßen, etwas, das sich zu ihr
drängte und das nur ihr sichtbar war. Weit riß sie
die Augen auf,

30 Kane 465
Ihrer Brust aber entrang sich ein heiserer Laut,
das Röcheln eines Sterbenden. Auf ihr Antlitz fiel
es wie ein Schleier, wie ein grauer Flor, der ihre
Züge verlängerte und Kinn und Nase verschärfte,
Immer mehr fielen die welken Wangen ein und
bildeten rechts und links tiefe Gruben. Das Haar
sogar verlor allen Glanz und wurde immer fahler
und die Augen verglasten, wie mit Emaille überzogen.
So schien alles an ihr zu ersterben, immer grauer
und bleicher zu werden, als verwandle sie sich in
eine Eisscholle, die weder Gutes, noch Böses mehr
tun kann.
Wie vereist auch reckten sich die Beine, so kalt
und starr, samt den ausgestreckten Füßen.
Nur die Arme, so welk und dünn, wie die eines
Gerippes, bewegten sich noch ein Weilchen in der
Luft. Dann sanken sie auf das Bett herab, dicht an
den Körper, als bereiteten sie sich dazu vor, im Sarge
zu liegen.
Käthe lag im Verscheiden ...
Keine Menschenseele befand sich in dem öden,
dunklen Saale. Sie allein lebte noch dort, wenn dies
noch leben zu nennen war.
Manchmal noch trat im Lampenschein ein
schwarzes Holzkreuz an der Wand hervor.
Käthe aber sah es nicht und sah überhaupt nichts
mehr. Nur ihre Lippen regten sich noch einmal und
leise, kaum hörbar, flüsterten sie: „Johann! Jo-
hann!“ ...

466
Dann wurde sie starr und steif und nahm jene.
fahle Leichenfarbe an, die sich öfters sofort nach
dem Tode zeigt.
Durch diesen noch vergrößert, blickte ihr Körper
unter der Decke wie eine riesige Marmorstatue mit
dem Ausdruck einer klagenden Waise in den weit
geöffneten, starren Augen hervor.

D: graue Licht der Morgendämmerung fiel nur


spärlich durch die dicken Fensterscheiben des
Anatomiesaales auf die Marmortische und die darauf
liegenden Instrumente.
In der Mitte des Saales standen einige Herren in
Überziehern mit verknüllter Wäsche und nach schlaf-
loser Nacht bleichen Gesichtern und plauderten leise.
Augenscheinlich gingen sie unmittelbar nach dem
Frühstückskaffee an die Arbeit, um mit zitternder
Hand die scharfen Messer zu führen oder die gestern
präparierten Leichenteile hermetisch in Büchsen zu
verschließen.
Düster und ernst erhoben sich die kahlen, hohen
Wände des Saales. Die hochstehenden Fenster waren
vergittert wie im Gefängnisse. Die Wände entlang
standen Tische, oder vielmehr lange Tafeln mit Mar-
morplatten. Jede Platte war an beiden Seiten mit
einer Blechrinne und einem daran befestigten großen
alten Schwamm versehen.

20* 467
Dies war jedoch nicht das eigentliche Prosekto-
rium, sondern der nur im Sommer geöffnete Pra-
pariersaal fiir Ferienstudien der in der Stadt ver-
bleibenden Studenten, denen zu diesem Zwecke die
Leichen aus dem Spital iiberwiesen wurden.
Durch die halb geöffnete Tür sah man eine ganze
Reihe von musterhaft sauber gehaltenen Sälen mit
gewichstem Fußboden, so blank wie im Ballsaale
und mit allerlei Schränken voll der interessantesten
Gegenstände, wie verschrumpite Mißgeburten in zu
engen Büchsen, oder Totengerippe in den verschie-
densten Stellungen, oder Schädel, so blendend weiß,
wie Marmor, oder einzelne Knochen, sorgfältig ge-
ordnet und mit Zettelchen bezeichnet,
Kurz, alles was vom Menschen nach ausgerungenem
Lebenskampfe übrig bleibt, war dort im Dämmer-
grau des Morgens ausgebreitet und grausig in seiner
Regungslosigkeit anzusehen, wie die Reste eines
Schmauses von Menschenfressern, die nur die
Knochen ihrer Todfeinde übrig ließen und zum
ewigen Andenken aufbewahrten.
Eine wahre Kirchenstille herrschte in jenen Sälen,
als fehle dort nur noch der Wachholder- und Weih-
rauchduft.
Im Feriensaale dagegen enthielten die Schränke
nur Schürzen, Handtücher und Lappen.
Auf Messinggestellen standen Glasgefäße in Re-
tortenform und auf Drahtgeflechten waren Haut-
stücke zum Trocknen ausgespannt wie Fledermäuse.
Auch in den Glasgefäßen hingen an weißen Fäden

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in allen Farben schillernde Körperteile und in herme-
tisch verschlossenen Büchsen wurden unter Glyzerin
oder Spiritus sorgfältig präparierte Hände und Füße
aufbewahrt.
Mitten im Saale standen noch immer die Studenten
und plauderten.
Mit der Arbeit hatten sie es nicht eilig. Mehr oder
minder verlebt und fast lebensüberdrüssig, erzählten
sie sich allerlei Schnurren.
In der Ecke des Saales schien ein bestaubtes
Frauenskelett vornübergebeugt diesen Schnurren,
meist Liebesgeschichten, zu lauschen, die in dieser
Stätte des Todes so seltsam klangen.
Jahrelang schon stand dies Gerippe dort und hörte
so manches und bog sich, längst vergessen, immer
mehr aus den Drähten und lachte mit dem Toten-
köpfen eigentümlichen Grinsen über diese mit ihren
Eroberungen sich brüstenden Männer, oder über sich
selbst, und seinen früheren Leichtsinn ...
Plötzlich verstummten die Plaudernden.
Hinter der Wand erschallte ein Glöckchen, so hell
und rein, als rufe es im Kloster zur Frühmette oder
Vesper.
Sofort veränderte sich vollständig der Gesichts-
ausdruck der Studenten und jede Spur von Ab-
spannung oder Leichtfertigkeit verschwand.
Das Glöckchen rief sie aus dem Bereiche ihrer
Kneipenliebschaften zur Arbeit und zur Wirklichkeit.
Als es zum zweitenmal erschallte, vernahm man
ein dumpfes Geräusch hinter der Wand und einer

469
der Studenten, ein breitschultriger Blondin, näherte
sich derselben, um mit dem Finger auf einen großen
Holzknopf zu drücken.
Langsam schob sich die Wand auseinander und
zeigte eine viereckige Öffnung.
In dieser befand sich eine Art von dunkler Kammer
mit hölzerner Plattform, die auf breiten Eisenspangen
ruhte und auf welcher zwei in grobe Laken gehiilite
Leichen lagen.
„Ein Weib und ein Kind!“ rief der Blondin vorn-
übergebeugt und streckte gleichzeitig die Hand aus
nach der größeren Leiche, deren Umrisse fast die
Falten der Leinwand ausfüllten.
„Das Weib ist für mich!“ rief er und niemand
bestritt ihm dies Eigentumsrecht.
Man scherzte sogar darüber.
„Wie? Sogar die Toten nimmt er ausschließlich
für sich in Anspruch?“
Er aber hörte nicht mehr, sondern zog die Leiche
schon aus der Öffnung heraus mit Hilfe des buck-
ligen Wärters, der gleichzeitig mit dem Glocken-
schall im Saale erschienen war.
Die Leiche war ungewöhnlich schwer, ein Pracht-
exemplar!
Das gab ein famoses Skelett für seine Studierstube.
Dort stellte er’s unter die Photographien all seiner
Geliebten, die schon die halbe Wand einnahmen.
Darunter befindet sich auch die Julias, jener
bleichen Gattin des alten Geizkragens, mit der er
so oft vor das Tor gefahren war.

470
Welch kóstlicher Gegensatz, jenes kleine, dralle
Weib und dieses Riesenskelett.
Wozu aber mußte gerade solch herrlich gebautes
Weib so vor der Zeit sterben?
Kaum lag Käthes Leiche auf der Marmortafel und
schon riß Julias Geliebter die letzte Hülle von ihr
herab.
Und zum letzten Male zeigte sich dieser Körper
in all seiner glänzenden Schönheit und blendete fast,
obgleich schon entstellt von der Krankheit und dem
Tode, noch mit den Resten seiner Pracht die Augen
der Anwesenden.
Obgleich alle Studenten sich dicht um die Tafel
scharten und selbst an schlechten Witzen es nicht
fehlen ließen, rötete keine Scham mehr die bleichen
Wangen. Wie erstarrt in all ihrer Marter lag sie mit
weitgeöffneten Augen ruhig da, trotz ihrer Nacktheit
inmitten dieser noch von der durchschwärmten Nacht
ermatteten Männer.
Ihr Leben lang gequält wie ein Lastvieh, aus-
gebeutet an Leib und Seele, betört, verraten, miß-
handelt und halb verhungert, opferte sie noch den
zermarterten Körper dem Wohle der Menschheit, —
dem Messer, welches nur zu bald ihr Fleisch zer-
wühlen würde.
In der Tat, so ward es zur wahren Karyatide der
Gesellschaft, dies elende Weib aus dem Volke, dieses
Saumtier der Arbeit in den Händen andrer Weiber,
schlecht genährt und Tag und Nacht gequält “und
schlafend auf der nackten Erde.

471
Ohne jeden Strahl von Licht und Sonne trägt
solche Karyatide die ganze Last der Arbeit und des
Unglücks auf ihren Schultern ...
Und will sie als Weib ihre Bestimmung erfüllen,
so muß sie ihr Kind in Not und Elend gebären, und
es entweder auf die Straße werfen wie einen jungen
Hund oder, wenn kein anderer Ausweg sich findet,
es umbringen mit eigener Hand ...
Der Mann dagegen verfolgt solche Unglückliche
wie ein Jagdhund und stößt sie, oft nur, um eine
augenblickliche Laune, ein flüchtiges Verlangen zu
befriedigen, in den Abgrund der Schande und Ver-
zweiflung.
Und nur zu bald vergißt er sogar die Züge und die
Gestalt derjenigen, die er zum Fehltritt förmlich
zwang, und wälzt alle Folgen desselben auf ihre:
Schultern.
So wird sie zur Karyatide, ruft aber, verborgen in
Schatten, in Lumpen gehüllt, mit lauter Stimme nach
Licht und Brot.
Und dennoch nimmt solch ein Wesen eine wichtige
Stellung ein in jedem Hause, verkehrt fast beständig
mit den Kindern und beeinflußt deren Charakter.
Trotzalledem ist und bleibt sie nur eine Sklavin
mit — breiten Schultern und niemand kümmert sich
um ihr Verhalten, niemand fragt nach ihrem Herze-
leid...
Mechanisch legte der Blondin die Hand auf Käthes
entblößte Brust, wie der Herr der Schöpfung auf sein
lebendes oder totes Eigentum.

472
Als er diese mächtige Brust so hart wie Marmor
und so blendendweiß in den Strahlen der Morgen-
sonne vor sich sah, war ihm, als habe er diese
Frauengestalt schon einmal gesehen und in den
Armen gehalten.
„jJawohl!“ murmelte er. „Irgendwo hab’ ich diese
Maschine schon mal gesehen!“ ...
Dann ergriff er mit der Rechten das Messer und
gedachte dabei jenes heißen Kampfes im Bildhauer-
Atelier, wo er mit Fieberglut auf den Wangen mit
Gewalt sein Verlangen befriedigen wollte.
Und zögernd nur senkte er das in der Sonne
blitzende Messer in die schneeweiße Brust ...
Zum letztenmal opferte dem Dienste der Mensch-
heit ihren Körper — Käthe, die Karyatide ...

31 Kśthe
413
GABRYELA ZAPOLSKA
AUSGEWÄHLTE

ROMANE
IN NEU N BA
N D E N

WOVON MAN NICHT SPRICHT /


DIE HOLLE DER JUNGFRAUEN ,
FRAU RENAS EHE „,KATHE,
DER ROMAN EINES DIENST-
MADCHENS , DER POLIZEI-
MEISTERZARISTOKRATEN,
DIE UNBERUHRTE FRAU
SOMMERLIEBE , WORAN MAN
NICHT ZU DENKEN WAGT

OESTERHELD 8 CO. , VERLAG


BERLIN W 15 / LIETZENBURGER STRASSE 48
DRUCK VON
GRASS, BARTH & COMP.
(W. FRIEDRICH), BRESLAU

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