Effi Briest - Literarische Übersetzung

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Erstes Kapitel

In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest
bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die
mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein
rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß
und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes,
in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und
Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in
Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in
kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen
weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der
Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst
wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und
Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes
Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und
angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren
horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing – die
Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich und
Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar mächtige
alte Platanen.
Auch die Front des Herrenhauses – eine mit Aloekübeln und ein paar
Gartenstühlen besetzte Rampe – gewährte bei bewölktem Himmel einen
angenehmen und zugleich allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen
aber, wo die Sonne niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden
bevorzugt, besonders von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute
wieder auf dem im vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem
Rücken ein paar offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine
vorspringende kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das
Hochparterre des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter,
waren fleißig bei der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten
zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und
Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander,
dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen
schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. Rasch und sicher ging die
Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der
Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu Zeit die
Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten Beugungen und
Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik
durchzumachen. Es war ersichtlich, daß sie sich diesen absichtlich ein wenig
ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und

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wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen
hoch über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer
Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen
wollte, wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung
mütterlichen Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß
gestreiftes, halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest
zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war
frei, und über Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem,
was sie tat, paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden braunen
Augen eine große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte
verrieten. Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen mußte,
weil die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war.
Eben hatte sich Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts
ihre turnerischen Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade
wieder aufblickende Mama ihr zurief: »Effi, eigentlich hättest du doch wohl
Kunstreiterin werden müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich
glaube beinah, daß du so was möchtest.«
»Vielleicht, Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre schuld? Von wem hab
ich es? Doch nur von dir. Oder meinst du, von Papa? Da mußt du nun selber
lachen. Und dann, warum steckst du mich in diesen Hänger, in diesen
Jungenkittel? Mitunter denk ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und
wenn ich die erst wiederhabe, dann knicks ich auch wieder wie ein Backfisch,
und wenn dann die Rathenower herüberkommen, setze ich mich auf Oberst
Goetzes Schoß und reite hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er
Onkel und nur ein Viertel Courmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine
Staatskleider? Warum machst du keine Dame aus mir?«
»Möchtest du's ?«
»Nein.« Und dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stürmisch und
küßte sie.
»Nicht so wild, Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer,
wenn ich dich so sehe ...« Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung
ihrer Sorgen und Ängste fortzufahren. Aber sie kam nicht weit damit, weil in
ebendiesem Augenblick drei junge Mädchen aus der kleinen, in der
Kirchhofsmauer angebrachten Eisentür in den Garten eintraten und einen
Kiesweg entlang auf das Rondell und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei
grüßten mit ihren Sonnenschirmen zu Effi herüber und eilten dann auf Frau von
Briest zu, um dieser die Hand zu küssen. Diese tat rasch ein paar Fragen und
lud dann die Mädchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine halbe
Stunde Gesellschaft zu leisten. »Ich habe ohnehin noch zu tun, und junges Volk

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ist am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl.« Und dabei stieg sie die vom
Garten in den Seitenflügel führende Steintreppe hinauf.
Und da war nun die Jugend wirklich allein.
Zwei der jungen Mädchen – kleine, rundliche Persönchen, zu deren krausem,
rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzüglich
paßten – waren Töchter des auf Hansa, Skandinavien und Fritz Reuter
eingeschworenen Kantors Jahnke, der denn auch, unter Anlehnung an seinen
mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde
von Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha
gegeben hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers
einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen, dafür aber
langweilig und eingebildet, eine lymphatische Blondine, mit etwas
vorspringenden, blöden Augen, die trotzdem beständig nach was zu suchen
schienen, weshalb denn auch Klitzing von den Husaren gesagt hatte: »Sieht
sie nicht aus, als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?« Effi fand,
daß der etwas kritische Klitzing nur zu sehr recht habe, vermied es aber
trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen. Am
wenigsten war ihr in diesem Augenblick danach zu Sinn, und während sie die
Arme auf den Tisch stemmte, sagte sie: »Diese langweilige Stickerei. Gott sei
Dank, daß ihr da seid.«
Aber deine Mama haben wir vertrieben«, sagte Hulda. »Nicht doch. Wie sie
euch schon sagte, sie wäre doch gegangen; sie erwartet nämlich Besuch, einen
alten Freund aus ihren Mädchentagen her, von dem ich euch nachher erzählen
muß, eine Liebesgeschichte mit Held und Heldin und zuletzt mit Entsagung. Ihr
werdet Augen machen und euch wundern. Übrigens habe ich Mamas alten
Freund schon drüben in Schwantikow gesehen; er ist Landrat, gute Figur und
sehr männlich. «
»Das ist die Hauptsache«, sagte Hertha.
»Freilich ist das die Hauptsache, 'Weiber weiblich, Männer männlich' – das
ist, wie ihr wißt, einer von Papas Lieblingssätzen. Und nun helft mir erst
Ordnung schaffen auf dem Tisch hier, sonst gibt es wieder eine Strafpredigt.«
Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt, und als alle wieder saßen,
sagte Hulda: »Nun aber, Effi, nun ist es Zeit, nun die Liebesgeschichte mit
Entsagung. Oder ist es nicht so schlimm? «
»Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe Hertha nicht von
den Stachelbeeren genommen, eher kann ich nicht anfangen – sie läßt ja kein
Auge davon. Übrigens nimm, soviel du willst, wir können ja hinterher neue
pflücken; nur wirf die Schalen weit weg oder noch besser, lege sie hier auf die
Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tüte daraus und schaffen alles beiseite.

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Mama kann es nicht leiden, wenn die Schlusen so überall herumliegen, und
sagt immer, man könne dabei ausgleiten und ein Bein brechen.«
»Glaub ich nicht«, sagte Hertha, während sie den Stachelbeeren fleißig
zusprach.
»Ich auch nicht«, bestätigte Effi. »Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag
wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein richtiges
Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiß nicht und deines auch nicht,
Hertha. Was meinst du, Hulda?«
»Man soll sein Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Immer Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer.«
»Und hoffe mich doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.«
»Meinetwegen. Denkst du, daß ich darauf warte? Das fehlte noch. Übrigens,
ich kriege schon einen und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst
hat mir der kleine Ventivegni von drüben gesagt: 'Fräulein Effi, was gilt die
Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.'«
»Und was sagtest du da?«
»'Wohl möglich', sagte ich, 'wohl möglich; Hulda ist die Älteste und kann sich
jeden Tag verheiraten.' Aber er wollte davon nichts wissen und sagte: 'Nein, bei
einer anderen jungen Dame, die geradeso brünett ist, wie Fräulein Hulda blond
ist.' Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an... Aber ich komme vom
Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte.«
»Ja, du brichst immer wieder ab; am Ende willst du nicht.«
Oh, ich will schon, aber freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles ein
bißchen sonderbar ist, ja beinah romantisch.«
»Aber du sagtest doch, er sei Landrat.«
»Allerdings, Landrat. Und er heißt Geert von Innstetten, Baron von
Innstetten.«
Alle drei lachten.
»Warum lacht ihr?« sagte Effi pikiert. »Was soll das heißen?«
»Ach, Effi, wir wollen dich ja nicht beleidigen und auch den Baron nicht.
Innstetten, sagtest du? Und Geert? So heißt doch hier kein Mensch. Freilich,
die adeligen Namen haben oft so was Komisches.«
»Ja, meine Liebe, das haben sie. Dafür sind es eben Adelige. Die dürfen sich
das gönnen, und je weiter zurück, ich meine der Zeit nach, desto mehr dürfen
sie sich's gönnen. Aber davon versteht ihr nichts, was ihr mir nicht übelnehmen

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dürft. Wir bleiben doch gute Freunde. Geert von Innstetten also und Baron. Er
ist geradeso alt wie Mama, auf den Tag.«
»Und wie alt ist denn eigentlich deine Mama?«
Achtunddreißig.«
»Ein schönes Alter.«
»Ist es auch, namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie ist
doch eigentlich eine schöne Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so
weg hat, immer so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn
ich ein junger Leutnant wäre, so würd ich mich in die Mama verlieben.«
»Aber Effi, wie kannst du nur so was sagen«, sagte Hulda. »Das ist ja gegen
das vierte Gebot.«
»Unsinn. Wie kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama
würde sich freuen, wenn sie wüßte, daß ich so was gesagt habe.«
»Kann schon sein«, unterbrach hierauf Hertha. »Aber nun endlich die
Geschichte.«
»Nun, gib dich zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron Innstetten! Als er
noch keine zwanzig war, stand er drüben bei den Rathenowern und verkehrte
viel auf den Gütern hier herum, und am liebsten war er in Schwantikow drüben
bei meinem Großvater Belling. Natürlich war es nicht des Großvaters wegen,
daß er so oft drüben war, und wenn die Mama davon erzählt, so kann jeder
leicht sehen, um wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch
gegenseitig.«
Und wie kam es nachher?«
»Nun, es kam, wie's kommen mußte, wie's immer kommt. Er war ja noch viel
zu jung, und als mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und
Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn
und wurde Frau von Briest ... Und das andere, was sonst noch kam, nun, das
wißt ihr ... das andere bin ich.«
»Ja, das andere bist du, Effi«, sagte Bertha. »Gott sei Dank; wir hätten dich
nicht, wenn es anders gekommen wäre. Und nun sage, was tat Innstetten, was
wurde aus ihm? Das Leben hat er sich nicht genommen, sonst könntet ihr ihn
heute nicht erwarten. «
»Nein, das Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bißchen war es doch
so was.«
»Hat er einen Versuch gemacht?«
»Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht länger hier in der Nähe bleiben,
und das ganze Soldatenleben überhaupt muß ihm damals wie verleidet

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gewesen sein. Es war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den
Abschied und fing an, Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem 'wahren
Biereifer'; nur als der Siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei den
Perlebergern statt bei seinem alten Regiment, und hat auch das Kreuz.
Natürlich, denn er ist sehr schneidig. Und gleich nach dem Kriege saß er wieder
bei seinen Akten, und es heißt, Bismarck halte große Stücke von ihm und auch
der Kaiser, und so kam es denn, daß er Landrat wurde, Landrat im Kessiner
Kreise.«
»Was ist Kessin? Ich kenne hier kein Kessin.«
»Nein, hier in unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine hübsche Strecke
von hier fort in Pommern, in Hinterpommern sogar, was aber nichts sagen will,
weil es ein Badeort ist (alles da herum ist Badeort), und die Ferienreise, die
Baron Innstetten jetzt macht, ist eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas
Ähnliches. Er will hier alte Freundschaft und Verwandtschaft wiedersehen.«
»Hat er denn hier Verwandte?«
»Ja und nein, wie man's nehmen will. Innstettens gibt es hier nicht, gibt es,
glaub ich, überhaupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte Vettern von der
Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl Schwantikow und das Bellingsche
Haus wiedersehen wollen, an das ihn so viele Erinnerungen knüpfen. Da war
er denn vorgestern drüben, und heute will er hier in Hohen-Cremmen sein.«
»Und was sagt dein Vater dazu?«
»Gar nichts. Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt
sie bloß.«
In diesem Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen,
erschien Wilke, das alte Briestsche Haus- und Familienfaktotum, um an
Fräulein Effi zu bestellen: Die gnädige Frau ließe bitten, daß das gnädige
Fräulein zu rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins würde der Herr
Baron wohl vorfahren. Und während Wilke dies noch vermeldete, begann er
auch schon auf dem Arbeitstisch der Damen abzuräumen und griff dabei
zunächst nach dem Zeitungsblatt, auf dem die Stachelbeerschalen lagen.
»Nein, Wilke, nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache... Hertha,
du mußt nun die Tüte machen und einen Stein hineintun, daß alles besser
versinken kann. Und dann wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen
und die Tüte auf offener See begraben.«
Wilke schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fräulein, so etwa gingen seine
Gedanken. Effi aber, während sie die Tüte mitten auf die rasch
zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: »Nun fassen wir alle vier an, jeder
an einem Zipfel, und singen was Trauriges.«

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»Ja, das sagst du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?«
»Irgendwas; es ist ganz gleich, es muß nur einen Reim auf 'u' haben; 'u' ist
immer Trauervokal. Also singen wir:

Flut, Flut,
Mach alles wieder gut ...«

Und während Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier auf
den Steg hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte Boot und ließen von
diesem aus die mit einem Kiesel beschwerte Tüte langsam in den Teich
niedergleiten.
»Hertha, nun ist deine Schuld versenkt«, sagte Effi, »wobei mir übrigens
einfällt, so vom Boot aus sollen früher auch arme, unglückliche Frauen versenkt
worden sein, natürlich wegen Untreue.«
»Aber doch nicht hier.«
»Nein, nicht hier«, lachte Effi, »hier kommt sowas nicht vor. Aber in
Konstantinopel, und du mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so
gut wie ich, du bist ja mit dabeigewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der
Geographiestunde davon erzählte.«
»Ja«, sagte Hulda, »der erzählte immer so was. Aber so was vergißt man
doch wieder.«
»Ich nicht. Ich behalte so was.«

Zweites Kapitel

Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer
gemeinschaftlichen Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfelscher
Unpassendheiten mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich
nicht genug tun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: »Nun aber ist es
höchste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie sag ich nur, du siehst ja aus, wie
wenn du vom Kirschenpflücken kämst, alles zerknittert und zerknautscht; das
Leinenzeug macht immer so viele Falten, und der große weiße Klappkragen ...
ja, wahrhaftig, jetzt hab ich es, du siehst aus wie ein Schiffsjunge.«
»Midshipman, wenn ich bitten darf. Etwas muß ich doch von meinem Adel
haben. Übrigens, Midshipman oder Schiffsjunge, Papa hat mir erst neulich
wieder einen Mastbaum versprochen, hier dicht neben der Schaukel, mit Rahen
und einer Strickleiter. Wahrhaftig, das sollte mir gefallen, und den Wimpel oben

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selbst anzumachen, das ließ' ich mir nicht nehmen. Und du, Hulda, du kämst
dann von der anderen Seite her herauf, und oben in der Luft wollten wir hurra
rufen und uns einen Kuß geben. Alle Wetter, das sollte schmecken.«
'Alle Wetter . . .', wie das nun wieder klingt ... Du sprichst wirklich wie ein
Midshipman. Ich werde mich aber hüten, dir nachzuklettern, ich bin nicht so
waghalsig. Jahnke hat ganz recht, wenn er immer sagt, du hättest zuviel von
dem Bellingschen in dir, von deiner Mama her. Ich bin bloß ein Pastorskind.«
»Ach, geh mir. Stille Wasser sind tief. Weißt du noch, wie du damals, als
Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch schon groß genug, wie du damals
auf dem Scheunendach entlangrutschtest. Und warum? Nun, ich will es nicht
verraten. Aber kommt, wir wollen uns schaukeln, auf jeder Seite zwei; reißen
wird es ja wohl nicht, oder wenn ihr nicht Lust habt, denn ihr macht wieder lange
Gesichter, dann wollen wir Anschlag spielen. Eine Viertelstunde hab ich noch.
Ich mag noch nicht hineingehen, und alles bloß, um einem Landrat guten Tag
zu sagen, noch dazu einem Landrat aus Hinterpommern. Altlich ist er auch, er
könnte ja beinah mein Vater sein, und wenn er wirklich in einer Seestadt wohnt,
Kessin soll ja so was sein, nun, da muß ich ihm in diesem Matrosenkostüm
eigentlich am besten gefallen und muß ihm beinah wie eine große
Aufmerksamkeit vorkommen. Fürsten, wenn sie wen empfangen, soviel weiß
ich von meinem Papa her, legen auch immer die Uniform aus der Gegend des
anderen an. Also nun nicht ängstlich ... rasch, rasch, ich fliege aus, und neben
der Bank hier ist frei.«
Hulda wollte noch ein paar Einschränkungen machen, aber Effi war schon
den nächsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts hin, bis sie mit einem Male
verschwunden war.
»Effi, das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck, wir spielen
Anschlag«, und unter diesen und ähnlichen Vorwürfen eilten die Freundinnen
ihr nach, weit über das Rondell und die beiden seitwärts stehenden Platanen
hinaus, bis die Verschwundene mit einem Male aus ihrem Versteck hervorbrach
und mühelos, weil sie schon im Rücken ihrer Verfolger war, mit »eins, zwei,
drei« den Freiplatz neben der Bank erreichte.
»Wo warst du?«
»Hinter den Rhabarberstauden; die haben so große Blätter, noch größer als
ein Feigenblatt ...«
»Pfui ...«
»Nein, pfui für euch, weil ihr verspielt habt. Hulda, mit ihren großen Augen,
sah wieder nichts, immer ungeschickt.« Und dabei flog Effi von neuem über das
Rondell hin, auf den Teich zu, vielleicht weil sie vorhatte, sich erst hinter einer
dort aufwachsenden dichten Haselnußhecke zu verstecken, um dann, von
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dieser aus, mit einem weiten Umweg um Kirchhof und Fronthaus, wieder bis an
den Seitenflügel und seinen Freiplatz zu kommen. Alles war gut berechnet;
aber freilich, ehe sie noch halb um den Teich herum war, hörte sie schon vom
Hause her ihren Namen rufen und sah, während sie sich umwandte, die Mama,
die, von der Steintreppe her, mit ihrem Taschentuch winkte. Noch einen
Augenblick, und Effi stand vor ihr.
»Nun bist du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie hältst du
Zeit.«
»Ich halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit gehalten. Es ist noch
nicht eins; noch lange nicht«, und sich nach den Zwillingen hin umwendend
(Hulda war noch weiter zurück), rief sie diesen zu: »Spielt nur weiter; ich bin
gleich wieder da.«
Schon im nächsten Augenblick trat Effi mit der Mama in den großen
Gartensaal, der fast den ganzen Raum des Seitenflügels füllte.
»Mama, du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst halb. Warum kommt
er so früh? Kavaliere kommen nicht zu spät, aber noch weniger zu früh.«
Frau von Briest war in sichtlicher Verlegenheit; Effi aber schmiegte sich
liebkosend an sie und sagte: »Verzeih, ich will mich nun eilen; du weißt, ich
kann auch rasch sein, und in fünf Minuten ist Aschenputtel in eine Prinzessin
verwandelt. So lange kann er warten oder mit dem Papa plaudern.«
Und der Mama zunickend, wollte sie leichten Fußes eine kleine eiserne Stiege
hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinaufführte. Frau von Briest aber,
die unter Umständen auch unkonventionell sein konnte, hielt plötzlich die schon
forteilende Effi zurück, warf einen Blick auf das jugendlich reizende Geschöpf,
das, noch erhitzt von der Aufregung des Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens
vor ihr stand, und sagte beinahe vertraulich: »Es ist am Ende das beste, du
bleibst, wie du bist. Ja, bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es
auch nicht wäre, du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurechtgemacht,
und darauf kommt es in diesem Augenblick an. Ich muß dir nämlich sagen,
meine süße Effi ...«, und sie nahm ihres Kindes beide Hände, »... ich muß dir
nämlich sagen ...«
»Aber Mama, was hast du nur? Mir wird ja ganz angst und bange. «
»... Ich muß dir nämlich sagen, Effi, daß Baron Innstetten eben um deine Hand
angehalten hat.«
»Um meine Hand angehalten? Und im Ernst?«
»Es ist keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du hast ihn
vorgestern gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut gefallen. Er ist freilich
älter als du, was alles in allem ein Glück ist, dazu ein Mann von Charakter, von

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Stellung und guten Sitten, und wenn du nicht nein sagst, was ich mir von meiner
klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere
mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.«
Effi schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese finden konnte,
hörte sie schon des Vaters Stimme von dem angrenzenden, noch im
Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und gleich danach überschritt
Ritterschaftsrat von Briest, ein wohlkonservierter Fünfziger von
ausgesprochener Bonhomie, die Gartensalonschwelle – mit ihm Baron
Innstetten, schlank, brünett und von militärischer Haltung.
Effi, als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht auf
lange, denn im selben Augenblick fast, wo sich Innstetten unter freundlicher
Verneigung ihr näherte, wurden an dem mittleren der weit offenstehenden und
von wildem Wein halb überwachsenen Fenster die rotblonden Köpfe der
Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste, rief in den Saal hinein: »Effi,
komm.«
Dann duckte sie sich, und beide Schwestern sprangen von der Banklehne,
darauf sie gestanden, wieder in den Garten hinab, und man hörte nur noch ihr
leises Kichern und Lachen.

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