Das Kind in Brauch Und Sitte Der Völker
Das Kind in Brauch Und Sitte Der Völker
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1
3
DAS KIND
Anthropologische Studien
von
DR. H. PLOSS .
Neue Ausgabe.
ZWEITERBAND.
LEIPZIG .
UNIVERSITY.
A686
867
Inhalt des zweiten Bandes .
Seite
XV . Kapitel : Körperliche Pflege, Abhärtung und Verweichlichung 1
1 . Die Kindespflege vieler Naturvölker 3
2 . Die Kindespflege einiger alter Völker
XVI. Kapitel : Das Baden und Waschen des neugeborenen Kindes IO
1 . Die erste Reinigung des Neugeborenen II
2. Fortgesetzte Reinigung 20
XVII. Kapitel: Das Einhüllen , Wickeln und Kleiden des Kindes 25
1 . Das Kind bleibt ungehüllt und unbekleidet 26
2. Hüllen , Binden und Kleider . 28
XVIII. Kapitel : Das Legen , Tragen , Wiegen , Stehen u . Sitzen des Kindes 40
1 . Das Legen . 50
2 . Das Tragen 60
3. Das Wiegen 88
4 . Das Sitzen 116
5. Das Gehen I 20
XIX . Kapitel : Das Einschläfern 126
I. Der Kindesschlaf und der Aberglaube 127
2. Wiegen- und Schlummerlieder 1 28
XX. Kapitel : Die Ernährung des Kindes 141
1 . Die Mutterbrust 142
2 . Dauer des Säugens . 167
3. Zur Geschichte des Ammenwesens 175
4. Das Entwöhnen und die künstliche Ernährung 180
5. Der Aberglaube beim Entwöhnen . 190
XXI. Kapitel: Die sympathetische Behandlung des Kindes 192
1. Sympathetische Behandlung des gesunden Kindes 198
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes 210
3. Das Zahnen der Kinder und seine Bedeutung 224
XXII. Kapitel: Arzneiliche Behandlung des Neugeborenen 230
1 . Kinderheilmittel verschiedener Völker 231
2 . Deutsche Volksmittel für Kinder 237
XXIII. Kapitel : Missbildung der Neugeborenen 241
XXIV . Kapitel : Der Kindermord und das Aussetzen der Kinder 243
1 . Bei den alten Völkern . 245
Bei den jetzigen Völkern . 250
XXV . Kapitel : Die Behandlung der Zwillingskinder 265
1. Zwillingstödtung in Arika 267
2. Günstige Aufnahme der Zwillinge in Afrika 268
3. Behandlung der Zwillinge in Amerika 274
4. Behandlung der Zwillinge in Australien . 275
IV Inhalt des zweiten Bandes.
Seite
XXVI. Kapitel: Das Kind und die Muttersprache 275
I. Das Lallen des Kindes 277
2 . Wie entstanden die Worte Papa und Mama?. 279
3. Volksgebräuchliche Sprachexercitien . 285
4. Das Sprechenlernen und der Aberglaube 286
5. Die Bezeichnung Kind und Bube . 286
XXVII. Kapitel: Das Kinderspiel und Kinderlied . 287
1 . Aehnlichkeit der Kinderspiele bei allen Völkern 290
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel . 296
3. Nachklänge aus alter Zeit im Kinderspiel 308
4. Die Literatur des Kinderspiels . 320
XXVIII. Kapitel : Die Erziehung der Kinder . 322
1. Pädagogische Bedeutung des Kinderspiels . 324
2. 99 von Schreck und Furcht 326
3. 99 der Religion 327
4. 99 der Sagen und Märchen . 329
5. der Räthsel, Sprüche und Lieder . 331
6, 19 der Disciplin 331
7. der Strafen 331
8. Der Aberglaube in der Erziehung 332
9 . Das Erziehungswesen bei Naturvölkern . 333
10 , Das Erziehungswesen bei alten Völkern 345
11. Erziehung bei Germanen 351
12. Erziehung bei Orientalen 354
13. Erziehung bei modernen Culturvölkern 364
XXIX . Kapitel : Kinderfeste und ihre Bedeutung 367
I. Das Osterfest 369
2 . Das Maifest . 374
3. Das Sommerempfangen 375
4. Sommerfeste 381
5. Das Weihnachtsfest . 382
6. Das Neujahrsfest 387
7. Fastnacht 388
XXX . Kapitel : Recht, Stellung und Pflicht des Kindes 390
I. Das Familiensystem . 391
2 . Andro- und Gynäkokratie 393
3. Germanisches Kinderrecht 396
4. Griechisches und römisches Kinderrecht 400
5. Kinderrecht der Orientalen 402
6. Kinderrecht der Afrikaner 405
7. Kinderrecht der Oceanier 407
8. Kinderrecht der Indianer Amerika's 409
9. Die Adoption . . 410
XXXI. Kapitel : Der Abschluss der Kinderjahre. Die Mannbarkeit 411
I. Australier 413
2. Oceanier 423
3. Indianer Südamerika's . 425
4. Indianer Nordamerika's 429
5. Asiaten 434
6. Afrikaner 437
7. Die alten Mexikaner und Peruaner 446
8. Römer 447
9. Germanen und Deutsche 448
FÜNFZEHNTES KAPITEL .
schädigender Einflüsse aus der Jugendzeit bis in das höhere Alter zu tragen
haben .
Von der gesunden Beschaffenheit des Stainmes hängt aber auch das
Befinden und Gedeihen der Sprösslinge ab. Man hat wohl im Allgemeinen
gesagt: „ Nur eine kräftige Generation kann eine ebenso kräftige hervor
bringen .“ Doch ist dies nur insofern wahr, als allerdings sich die constitu
tionelle Schwäche forterbt , und als gar häufig ein Vater und eine Mutter,
welche kaum im Stande sind , den Einflüssen äusserer Verhältnisse ohne An
wendung künstlicher Schutzmittel zu widerstehen , den Sprösslingen eine
gleiche schwächliche Constitution mitgeben . Am Kinde zeigen sich dann als
Erbtheil recht traurige Erscheinungen : es nimmt in der Regel nur langsam
an Körpergewicht zu , das Colorit bleibt blässlich , die Muskulatur zeigt
schwache Entwickelung, die Gewebe sind schlaff und eine Reizbarkeit des
Nervensystems geht Hand in Hand mit der Neigung zu zahlreichen Erkran
kungsformen .
Die grosse Kunst in der richtigen Pflege des Kindes besteht nun darin ,
überall die richtige Mitte zu halten . Nur selten finden wir , dass bei den
Völkern in dieser Beziehung die nationale Erziehung das Richtige trifft.
Manche Völkerschaften gingen sogar unter durch unrichtiges Gebahren mit
der jungen Generation . Insbesondere ist die Verweichlichung insofern von
schädlichster Wirkung für das Fortbestehen eines Volkes , als wir es hier
mit einem cumulatorischen Process zu thun haben . Denn eine verweichlichte
Generation erzeugt und erzieht wiederum eine weichliche Generation , in deren
Nachkommenschaft sich die Schwäche der Constitution fort und fort steigert,
so dass die Widerstandskraft der Gesammtbevölkerung bis zum endlichen
Unterliegen im Kampfe ums Dasein allmälig abnimmt.
Dagegen kann man ebenso häufig beobachten, dass recht zarte Kinder
in ganz allmäliger Weise aus schwächlichen Individuen sich zu kräftigeren
entwickeln , sobald man sie in rationellem Sinne verpflegt und erzieht. Dies
sind Erfahrungen , die man in allen höher civilisirten Ländern zu machen
Gelegenheit hatte ; namentlich gingen die Engländer auf Grund der gewon
nenen Erkenntniss praktisch vor. Wer in England nur einigermaassen die Mittel
dazu hat, sendet seine Familie aus dem Inneren und aus der unreinen Luft der
grossen Städte hinweg an die Meeresküste ; da sieht man die Kleinen Tage
lang in leichter Kleidung sich dem erfrischenden und festigenden Hauche der
Seeluft aussetzen und im kalten Wasser mit dem Schlage der Wellen kämpfen .
Die günstigen Resultate sind leider noch gar zu wenig in Deutschland ge
würdigt worden ; denn erst vor Kurzem machte Prof. F. W. Beneke, ein
wohlmeinender Arzt , auf den Werth und den günstigen Einfluss aufmerksam ,
den solche diätetische Maassnahmen und klimatische Einwirkungen auf die
schwächliche Constitution jugendlicher Individuen haben . Möchten die deut
schen Familienväter solche ernste Mahnung nicht unbeachtet lassen !
Man darf wohl annehmen , dass wie alle geistigen und gemüthlichen
Eigenschaften , so auch die Liebe zu den Kindern bei den Völkern ungleich
1. Die Kindespflege vieler Naturvölker. 3
vertheilt ist. Es giebt Völker , die Alles , was sie umgiebt und auf sie ein
wirkt, aufs Lebhafteste erfassen und Liebe wie Hass in besonders hohem
Grade äussern ; sie sind vor Allen der Liebe zu den Kindern zugänglich ;
bei ihnen aber stehen auch die Mütter in der Gefahr , ihrer Zuneigung und
Zärtlichkeit leicht eine Richtung zu geben , welche den Kindern durch Ver
weichlichung und Verzärtelung schadet. Auf der anderen Seite giebt es
Völker, die eine bemerkenswerthe Indolenz zeigen ; es giebt sogar einen sehr
rohen Stamm , der unfähig ist, zu lachen ; nemlich die Weddas auf Ceylon . ')
Ohne Zweifel kommt eine besondere Tiefe der Liebe zu den Kindern bei
solchen Völkerschaften kaum zur Erscheinung , und die Indolenz der Eltern
gegen geistige und körperliche Einwirkungen überträgt sich dann auch
auf die Kinder.
Mag ferner die Zuneigung und Liebe zu den Kindern im weiblichen
Theile der Bevölkerung von der Natur ungleich vertheilt sein wir finden
ja auch bei uns die Mütter ihre Kinder bald mit mehr, bald mit weniger
Zartheit, Aufmerksamkeit und Liebeszeichen in sehr verschiedener Weise be
handeln so wird die Härte oder Weichheit des weiblichen Gemüths doch
wohl im grossen Ganzen durch die Stellung bedingt, welche die Frauen unter
dem Einflusse des in einem Volke herrschenden Culturzustandes einnehmen .
Und wie die Mutter, so wird auch der Vater , wenn beide durch die umge
bende Natur in ihrer Lebensweise zu einer gewissen Strenge und Härte des
Charakters hingedrängt werden , der schliesslich als Nationalcharakter er
scheint , dem Kinde eine überaus zarte Sorgfalt in der körperlichen Pflege
eben nicht angedeihen zu lassen suchen.
Wilde Völker haben in der Regel sogar den Wunsch, die Kinder zu recht
kräftigen Menschen zu erziehen . Sie suchen diesem Verlangen freilich
bisweilen in einer Weise nachzukommen , welche vielen Kindern schon recht
früh das Leben kostet. Die Ueberlebenden , die alle Unbilden ertrugen ,
zeichnen sich dann durch eine besondere Widerstandskraft aus. Je nach den
herrschenden Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit , zu welcher die
Lebensweise des Volkes das Individuum zwingt, sind jedoch auch bei
jeder Völkerschaft die Mittel und Wege zur Abhärtung der Jugend ver
schieden . Meist wird in rücksichtsloser Weise schon imzartesten Alter
das Kind allen Einflüssen rauher Witterung preisgegeben ; so ge
wöhnen sich die Nerven der Haut schon früh an das Ertragen hoher
Kältegrade. Der bekannte Naturforscher Georg Steller berichtete
von seinen Reisen in Kamtschatka: „ Wenn ich im Winter in meinem
Bette unter meinen Pelzdecken am Morgen fror, sah ich , dass die
Itelmen , sogar ihre kleinen Kinder, in ihrer Kuklanka, die nicht einmal den
Körper vollständig einhüllte, ohne Decken und Betten da lagen und wärmer
anzufühlen waren als ich .“ Der englische Reisende Kennan erzählt, dass
er bei einer Kälte von 32° R. Jakuten , welche am Lena -Flusse in Sibirien
nomadisiren , antraf, wie sie nur mit einem langen hemdähnlichen Gewande
und einem dünnen Pelz hekleidet, im Freien zusammen sassen und gemüthlich
mit einander plauderten : Um solchen Frost fast ohne Schutzmittel ertragen
zu können und die Empfindlichkeit der Haut abzustumpfen, muss mit der Ab
härtung ohne Zweifel von Anfang an begonnen werden . – Die Tungusen
des Kolyma-Gebietes in Sibirien erziehen ihre Kinder sehr nachlässig ; auch
gewöhnen sie dieselben von frühester Jugend an an die Kälte ; Winters lassen sie
die fast nackten Kleinen ohne jede Aufsicht vor ihren Behausungen . ) Alle
Völker werden fast noch überboten von den Feuerländern . Darwin ,
der sich überzeugte , wie sie bei jedem Wetter in fast gänzlicher Nacktheit
ausharren , gewahrte in diesem Zustande eine Frau und theilte hierüber mit :
„ Es regnete heftig , und das süsse Wasser mit dem Gischt der salzigen
Meeresbrandung rann an ihrem Leibe herunter . In einem zweiten Hafen
besuchte uns eine andere Frau mit ihrem Kinde , das nur wenige Wochen
alt sein konnte , und trieb sich aus lauter Neugierde auf dem Schiffsverdeck
herum ; dabei hagelte es stark und die Schlossen thauten ihr und ihrem
10
Kleinen auf der Haut."
Die Eskimo-Mütter hingegen behandeln ihre Kinder nach Bessels 2)
zärtlich, ja sogar mit übergrosser Zärtlichkeit; bis zum 7. Jahre wird das
Kind von ihnen in der Kapuze auf dem Rücken getragen . So ungleich ist
die Weichheit des mütterlichen Gefühls unter den Völkern vertheilt.
Da der Stolz des nordamerikanischen Indianers vorzugsweise
darin besteht, dass er die Mühseligkeiten des Lebens, Hunger, Schmerz u . s. w .
tapfer aushält, so sucht er die Tugend der Entsagung und einen hohen
Grad von Kräftigung des Körpers seinem Kinde bald nach der Geburt zu
verschaffen . Bei diesem Bestreben , die armen Kleinen sofort und möglichst
schnell abzuhärten , anstatt sie nur allmälig an Ertragung gewisser Einwir
kungen zu gewöhnen , gehen natürlich viele derselben zu Grunde. „ Beau
coup de petits Indiens," sagt Abbé Domenech, succombent en bas
âge. Leurs parents, pour les endurcir à la souffrance et fortifier leur tem
pérament, ne leur donnent pas les soins nécessaires. Les intempéries
des saisons répandent également parmi ces êtres chétifs un grand nombre
de maladies mortelles. "
Die Abhärtung des Indianers Nordamerikas beginnt schon bei dem
ersten Bade. Im nächsten Kapitel zeigen wir, wie viele Indianerstämme den
Neugeborenen kalt baden . Von alten Ansiedlern in Californien wird Fol
gendes über das Benehmen zweier Indianer -Weiber aus dem Stamme der
Nozi erzählt , der heute bis auf wenige Individuen ausgerottet ist.
1) Globus 1881. Bd. 40. No. 8 . S. 123.
2 ) Archiv, f. Anthrop. 1875. Bd. VIII. S. 113.
1. Die Kindespflege vieler Naturvölker. 5
Pflege , welche man den Kindern auf den polynesischen Inseln zuwendet. Die
dem Tode Entgangenen mögen sich nun auch hier eines besonderen Grades
von Abhärtung erfreuen . Auch die Frauen der Eingeborenen in Neuhol
land , welche ihre Kinder allerdings nur unter höchst kümmerlichen Zu
ständen zu verpflegen im Stande sind , zeigen sich gegen dieselben äusserst
zärtlich . Während die Abiponer in Südamerika nach Dobrizhoffer die
schädlichen Einflüsse des Klimas durch sorgfältige Vorkehrungen abzuhalten
suchen , wird bei den Coroaden nach Prinz Max von Neuwied das Kind
wenig gepflegt.
Bei manchen Naturvölkern, welche die Neugeborenen sofort kalt baden ,
bedient sich die Mutter der allereinfachsten Methode, den Säugling bei seinem
völlig nackten Zustande zu erwärmen; die Andamanesin erwärmt am lo
dernden Feuer ihre eigene Hand und überfährt dann mit derselben die frierende
Haut des Kleinen . Ueberhaupt scheinen diese Mütter das Kind jedesmal,
wenn sie es angreifen müssen , mit der kalten Hand nicht gern zu berühren .
Die Fidschi- Insulanerin reichte ihrem Säugling die Brust , nachdem sie
an einem von der Kindsmagd hingehaltenen Feuerbrand die Hände gewärmt
und ihre Brüste gerieben hatte. )
Welcher barbarischen Strafen sich bisweilen manche Völker ganz ge
wohnheitsgemäss als Erziehungsmittel für ihre Kinder bedienen , lässt sich
bei der grossen Mannigfaltigkeit des thatsächlichen Materials kaum eingehend
besprechen . Als ein originelles pädagogisches Hausmittel möchten wir nur
anführen , dass im indischen Madras von den Müttern unartigen Spröss
lingen die Augen mit Pfeffer eingerieben werden, weil sie die Kinder dadurch
folgsam machen wollen . Nebenher sind sie auch der eigenthümlichen Ansicht,
dass solches Einreiben die Sehkraft schärfe und überhaupt ganz erspriesslich
sei. Man hält diese Prozedur für eine gute Methode zur Kräftigung des
Sehorgans.
Körperliche Strafen werden bei den Neuseeländern (nach Hoch
stetter) von den Eltern nur selten bei ihren Kindern angewendet; nicht
selten trägt und wartet der Vater das Kind, wenn die Mutter anderweit be
schäftigt ist (nach Polack ); sehr zärtlich werden indess die Kinder nicht
behandelt (nach Brown). Ist ein Knabe acht Tage alt, so wird er in
einen Fluss getaucht, indem man die Götter anruft, dass sie ibn stark und
mannhaft machen (nach Polack ). In Tabiti ist die Liebe der Eltern
zu ihrern Kindern nicht gering , wie überhaupt in Melanesien ; auf den Loya
litäts -Inseln und den Hebriden straft man sie niemals (nach Cheyne und
Turner). In Tahiti lernen die Kinder , wie auf Neuseeland , eher schwim
men als gehen . Sobald auf den Salomo- Inseln das Kind einigermaassen
laufen kann, wird es mit zur Jagd und zum Fischfang genommen . ) – Auf
Celebes werden bei den Bugis die Kinder im 5. Jahr, damit sie nicht
verweichlicht werden , zu einem Freund gegeben .
1) Dr. Buchner, Reise im Stillen Ocean. S. 268.
2 ) M. Eckardt, Globus 1881. Bd . 39. S. 365.
1. Die Kindespflege vieler Naturvölker. 7
Interessant ist , in welcher Weise sich bei der wilden Bevölkerung der
Andamanen - J. , die sich mit Jagd und Fischerei beschäftigt, die kleinen
Kinder benehmen. Während die Mädchen mit Handnetzen die Korallenriffe
und Sümpfe absuchen , um kleine Fische einzufangen , pflegen die kleinen
Knaben im Walde die Bienenschwärme auszuspioniren und mittels Feuer zu
vertreiben ; ebenso gehört das Holzsammeln zu ihrer regelmässigen Beschäfti
gung. Bogen und Pfeile sind die einzigen Waffen der Andamanesen , und
die Knaben üben sich bereits vom zehnten Jahre an im Gebrauche kleinerer
Bogen und erlangen oft eine grosse Fertigkeit im Schiessen. Da diese
Menschen nackt gehen und viel durch den dornigen Urwald streifen , so
müssen sie, um ihre Gliedmaassen einigermaassen vor den Verwundungen
durch Dornen zu schützen , ein Mittel anwenden : sie schneiden in die
Haut eine Menge kleiner Wunden dicht neben einander ein ,
welche, sobald sie heilen , harte Narben bilden , und in dieser
Weise bereiten sich die Knaben , welche Jahre lang diese Ope
ration an sich vollziehen lassen , für ihre späteren Strapazen
vor. )
Das Tropen klima ist der Entwickelung in den Kinderjahren günstig ,
und die Sterblichkeit im zarten Lebensalter zeigt sich im Allgemeinen um
so geringer , je milder das Klima der betreffenden Länder ist. Die Kinder
der Malayen entwickeln sich in der Regel bald und lernen frühzeitig laufen .
Im Uebrigen bleiben sie sich selbst überlassen , gehen nackt und brauchen
gegen Kälte nicht geschützt zu werden . Allein manche Völker der heissen
Gegenden Afrika's, z. B. die Nilvölker in Sennaar, behandeln die Kinder
zwar nicht gerade lieblos, doch lassen sie denselben immerhin gar zu wenig
Pflege angedeihen ; in Folge dessen sind nach R. Hartmann in den Nilländern
die Kinder vielen Krankheiten (Diarrhöen etc.) ausgesetzt.
Die allgemeine Lebensweise eines Volkes ist freilich immer maass
gebend . So sagt Krebel von den Kalmücken : „ Die Abhärtung ihres
Körpers von frühester Jugend an müsste sie mehr gegen Krankheiten schützen ,
wären sie nicht durch Lebensweise und Wohnung den nachtheiligsten Ein
flüssen und der Witterung blossgegeben."
Bekanntlich werden im Orient die im Harem erzogenen Kinder in vieler
Hinsicht verweichlicht, doch erklärt der Arzt Oppenheim die Behandlung
der Neugeborenen in der Türkei für sehr zweckmässig .
Bei einigen Völkern zeigt schon das Kind gleichsam durch eine natür
liche Anlage einen gewissen Grad von Unempfindlichkeit , die nicht erst
anerzogen zu sein scheint; wenigstens kommen dort minder laute Schmerzens
äusserungen der Kinder vor : Chinesische Kinder schreien nicht, wenn
sie auch heftig fallen ; dies hebt Dr. Kuntze, der es beobachtete, als „ echt
chinesisch “ hervor.2)
Hinsichtlich der möglichst rapiden Abhärtungs- und Erziehungs-Methode
1 ) Ad. de Röpstorff in Zeitschr. der Gesellsch. f. Erdkunde zu Berlin . 1879. XIV . I. S. 10
2 ) Dr. Kuntze, „ Um die Erde.“ Leipzig 1881. S. 176.
8 Körperliche Pflege, Abhärtung und Verweichlichung .
1) Gudrun, 23. 198. Lanzel. 93. Weinhold , „ Die deutschen Frauen .“ S. 80.
2. Die Kindespflege einiger alter Völker. 9
ein wenig ein . So ist sein Magen klein und ist schier voll geworden . Da
kommt die Mume und thut ihm ein wie die erste und kehrt sich nicht daran ,
dass das Kind weint und sich sträubt."
Die Hellenen suchten ihre Kinder zu recht gesunden und kräftigen In
dividuen zu machen , doch herrschten bei ihnen zwei verschiedene Systeme
der Pflege und Erziehung. In Atben war es zugleich die Aufgabe, das Schöne
und Gute im Menschen zu erwecken ; in Sparta galt die Abhärtung als Ideal.
In ganz Griechenland war die Gymnastik hoch ausgebildet und man erzielte
mit ihr die herrlichsten Erfolge. „ Der Hellene" , sagt O. H. Jäger '), „ er
reichte immerhin durch seine Gymnastik , welche mit ätzender kunstschöpfen
der Kraft alle Körperanlagen läuternd durchquoll und harmonisch neu schuf,
einen gewissen , für alle anderen Zeiten und Völker unendlich hohen Grad
vollkommner, edelschöner und sittlicher Bildung und steht in dieser Hinsicht
vor uns als Ideal.“ Eine besondere Richtung aber erhielt die Pflege und
Erziehung des Kindes in Sparta durch den Gesetzgeber Lykurgos ( geb. 926
v . Chr.), der in der Gewöhnung das Hauptmittel der sittlichen Erkräftigung
des Bürgers und eben damit die sicherste Bürgschaft für den Bestand des
Staates erkannte . Hier wurde das neugeborene Kind vor allem untersucht,
ob seine körperliche Beschaffenheit Hoffnung gebe, aus ihm einen tüchtigen
Krieger machen zu hönnen , und , wenn es durch Missgestalt und Schwächlich
keit hierzu untauglich erschien , in die Abgründe des Taygetus geworfen . Bis
zum siebenten Jahre wurde der Knabe zu Hause vorzugsweise von der Mutter
erzogen , doch nahm auch der Vater sein Knäblein mit zum gemeinsamen Essen
der Männer , wo es neben ihm auf einem Sessel sitzend , eine halbe Portion
sehr einfacher Suppe bekam . Grundsatz war es, dem Kinde möglichste Frei
heit zu lassen und es vor Furchtsamkeit und Verzärtelung zu bewahren .
Daher wurden die Säuglinge nicht gewickelt, und gewöhnt, im Dunkeln allein
zu sein . Das Schreien suchte man möglichst zu verhüten , weil es für den
Spartaner überhaupt eine Schande war, seinen Schmerz durch Schreien kund
zu geben . Die Knaben gingen leicht bekleidet und barfuss, sie mussten täg
lich im Fluss baden ; ihr Nachtlager war hart, das Essen sparsam , und
Strapazen , selbst Geiselhiebe mussten sie still ertragen .
Die alten Peruaner verwendeten äusserst wenig Sorgfalt auf die Pflege
ihrer Kinder ; es gab in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen arm
und reich . Sie badeten die Kinder kalt und gaben ihnen keine Hüllen wäh
rend der ersten drei Monate, um sie abzuhärten.2)
Weiteres über die hierhin gehörenden Volkssitten findet man in den
folgenden Kapiteln , insbesondere auch in der Abtheilung : ,,Die Erziehung
der Kinder,“ sowie im Kapitel ,, Abschluss der Kinderjahre," indem mit der
Mannbarkeitserklärung häufig eine Prüfung über die Abhärtung und Ertra
gungsfähigkeit des jungen Menschen verbunden ist.
SECHZEHNTES KAPITEL .
Das Reinigen des Kindes unmittelbar nach seiner Geburt ist eine für
sein körperliches Wohl so nothwendige, so leicht als dringlich zu erkennende
Angelegenheit, dass man sich bei fast allen Völkern keineswegs der Auf
gabe entzieht, die Haut des Kindes durch Baden und Waschen sofort von
den auflagernden schleimigen Stoffen zu befreien . Allein es gibt in dieser
Beziehung auch Ausnahmen ; so wird bei den Völkern in der persischen
Provinz Gilan am kaspischen Meere das Kind niemals gebadet, weder so
gleich nach der Geburt, noch auch später (Häntzsche). Und gerade im
Orient, wo doch die Wärme des Klima's die Menschen auf die Hautpflege
ganz von selbst hinzuweisen scheint, ist eine gleiche Vernachlässigung der
Pflege des Kindes nach dieser Richtung hin vielfach bemerklich . Namentlich
ist in Aegypten die absolute Unreinlichkeit, in welcher die Fellah -Kinder
gehalten werden , für die letzteren höchst verderblich : sie werden bis zum
dritten Jahr aus Vorurtheil nicht einmal gewaschen .“) Das neugeborene
Basuto -Kind wird statt gebadet zu werden , von Kopf bis zu den Füssen
tüchtig mit Fett bestrichen . ) Auch in Kabylien wird das neugeborene
Kind nicht gebadet, man reibt es lediglich an den Gelenken ein.3) In Kamt
schatka wird das Neugeborene mit Werg gereinigt (Steller). Die Apat
ches -Indianerin am Rio Coloredo (Nordamerika) bepudert das Neugeborene
statt der ersten Wäsche mit trockenem Sande.4) Bei den Patagoniern
wird das Kind kurz nach der Geburt mit feuchtem Gyps beschmiert (Mus
ters ). Auf Neuseeland werden von den Maori die Neugeborenen lediglich
trocken abgerieben mit einem alten Stück Opossum -Wolle oder mit einer
Windel; sie baden oder waschen dieselben nicht; so werden die Kinder fort
gesetzt nur abgewischt, nicht gewaschen , bis der Nabel trocken abfällt.5)
Bei den rohesten Völkern besorgt die erste Reinigung des Kindes meist
die Mutter selbst; sie hat und braucht überhaupt keinen Beistand. Bei minder
rohen Völkerschaften übernehmen das Geschäft zunächst die hülfeleistenden
Personen . Jene Naturvölker, wie die Samoa- oder Sandwich -Insulaner, die
Wilden in Brasilien , die eingeborenen Stämme in der asiatischen Türkei
(P. Eram ) baden das neugeborene Kind sogleich im nächsten Bache; die
1) Wiener Medicinalhalle. 1864. No. 33. S. 316.
2 ) Chr. Stech in : „Daheim .“ 1879. 24. S. 382.
3 ) Dr. L. Leclerc, Une mission méd . en Kabylie. Paris 1865.
4) O. Schmitz , Archiv f. Anatomie, III. 1869. 338 .
5) Hooker (nach Morton u . A.) im Journ. of the Ethnolog. Soc. of London. 1869. S. 72.
1. Die erste Reinigung des Neugeborenen. II
Man sollte meinen , dass , wenn nicht der Instinkt , doch die einfachste
Naturbeobachtung der Urvölker zur Anwendung lauwarmer Bäder hinweisen
muss , um den sogenannten Käseschleim von der Haut des Kindes zu be
seitigen. Denn Jedem zeigt die Erfahrung , dass warmes Wasser schleimige
1 ) De sanitate tuenda, lib . I. cap. 10 sagt Galen : „ Die Germanen haben eine gänzlich zu miss
billigende Kindespflege. Wie könnte es Einem , der bei uns lebt, einfallen, ein eben geborenes, vom
Uterus noch heisses Kind an einen Fluss zu tragen , in kaltes Wasser zu tauchen, in Lebensgefahr zu
bringen und gleichzeitig kräftigen zu wollen ?"
2) Raulin , Traité de la conservation des enfants . T. III.
I2 Das Baden und Waschen des neugeborenen Kindes.
Stoffe schneller und leichter auflöst und fortnimmt, als kaltes, dass aber auch
der Wärmegrad , unter dem bis dahin das noch nicht geborene Kind ver
weilte , dem letzteren auch fernerhin angemessener sein muss, als ein weit nie
drigerer. Allein solche Betrachtungen scheinen die meisten Urvölker gar
nicht zu beschäftigen , denn sie halten diese Pflege der Haut des Kindes
durch ein der Körpertemperatur desselben entsprechendes Wasser nicht für
nöthig . Fast nirgends wird unter ihnen beim ersten Bade Rücksicht auf die
Temperatur des Wassers genommen . Manche dieser Völker ziehen sogar
das kalte Wasser dem warmen ausdrücklich deshalb vor, weil sie dadurch
das Kind „ kräftiger " zu machen suchen . Die Ureinwohner Italiens,
Deutschlands und Englands tauchten das neugeborene Kind in kaltes
Wasser oder wälzten es im Schnee, wie noch heute die Lappen und Sibirier.
Soranus, ein altrömischer Arzt, berichtet in seinem Hebammenbuche, dass
Germanen , Skythen und viele Griechen nach vollzogener Abnabelung
die Kinder in kaltes Wasser tauchten , um sie zu stärken , und diejenigen ,
welche dies nicht ertragen hatten , des Lebens unwürdig erachteten (Andere
badeten zu Soranus' Zeit die Kinder im Urin eines gesunden Kindes). In
der asiatischen Türkei sah der französische Arzt P. Eram “) auf seiner Reise
am Ufer eines Baches eine Frau mit der Wäsche beschäftigt; als er hinzu
trat, fand er , dass sie ein kleines Kind badete ; da er sein Erstaunen über
diese Behandlung des Kindes mit zu kaltem Wasser ausdrückte, erzählte ihm
die Frau mit grosser Ruhe, dass sie soeben geboren habe, und dass sie ge
wöhnlich die Neugeborenen zunächst in den Fluss tauchen , um sie stark und
kräftig zu machen , denn ohne dieses Abhärtungsmittel würden die Menschen
schwach bleiben . Diese Frau gehörte einem wilden Volksstamme an , der ,
wie Eram sagt, „ ohne Religion , ohne Gesetz und fast ohne Wohnung lebt.“
Wenn die Ostjaken -Frau ihr Kind auf der Reise im Winter geboren bat,
so verscharrt sie es, wie Joh. Bernh. Müller angiebt, alsbald im Schnee,
damit es hart und der Kälte gewohnt werde, bis es anfängt zu weinen ; als
dann steckt sie es in den Busen und setzt mit den Ihrigen ihren Weg fort.
Auch andere Beobachter 2) führen an , dass das neugeborene Ostjaken - Kind
häufig in den Schnee eingegraben wird, um es gleichsam mit der Strenge
des sibirischen Winters bekannt zu machen; nach diesem Schneebad werden
die Kinder mit kaltem Wasser abgewaschen . Die Frauen der nordamerika
nischen Wilden tauchen nach H. Bancroft's Bericht ihre schreienden Säug
linge unter Wasser , „ um sie zu beruhigen ,“ was namentlich im Winter unter
dem aufgehackten Eise sich als „ sehr wirksam “ erweist.
Mit der Durchblätterung der Reiseberichte würde die Liste der Völker,
deren Kinder in ganz ähnlicher Weise behandelt werden , zu einer bedeuten
den Länge wachsen . Wir wollen nur einige derselben als die Vertreter der
übrigen anführen . Die ohne alle Hülfe niederkommende Negrita auf den
Philippinen stürzt sich mit ihrem Kinde auf dem Arme unmittelbar nach
der Geburt in den nächsten Fluss (Dr. Mallat). Bei den Andamanesen wird
das Neugeborene in der See oder im Seewasser gewaschen (Jagor). Auch
die Kafferfrauen waschen sich und ihr Kind alsbald nach der Entbindung
im nächsten Bache oder Flusse (Purchas ); die Bewohnerinnen der west
indischen Insel Bouro oder Buero thun dasselbe. ) Ebenso waschen die
Schangallas- Frauen in Afrika nach der Entbindung sich und das Kind blos
mit kaltem Wasser.2) Von den nordamerikanischen Indianern heisst es 3) :
„ Aussitôt qu'une sauvagesse est accouchée , elle prend elle-même son enfant,
va le laver à la rivière ou dans un lac, aussitôt qu'il a vu le jour , et cela
l'hiver comme l'été, quelque rigoureux que soit le froid , qui est quelquefois
jusqu'à 27 dégrés au dessous du terme de la glace . Il ne paroit, que l'en
fant souffre d'être lavé en naissant dans eau glacée. Nous avons beaucoup
de Canadiennes et d'Acadiennes, qui accouchent bien comme les sauvagesses,
mais qui ne vont point laver leurs enfants à l'eau glacée.“ Diervillet)
aber sagt von den Frauen in Acadien : „ Ihr Kind wird sogleich in kaltem
Wasser gebadet." Bei den Ranqueles-Indianern in Argentinien werden nach
der Geburt Mutter und Kind , Sommer wie Winter , im nahen Wasser ge
badet. 5)
Es ist vielleicht die Absicht dieser Urvölker , die Neugeborenen sofort
durch Eintauchen in ganz kaltes Wasser zum kräftigen Einathmen anzuregen,
wie man ja auch bei uns bei Scheintod der Neugeborenen letztere mit kal
tem Wasser bespritzt oder übergiesst, um reflectorische Athembewegungen
durch dieses Reizmittel zu erzielen . Wenn die Maori-Frau auf Neuseeland
sogleich nach der Geburt an den Bach geht, um sich und das Kind dort zu
waschen, so sagt hierüber Dr. Tuke ) ganz richtig : „ The immersion in cold
water almost ensures inspiration in a viable child.“ Die Lappen waschen
die neugeborenen Kinder zuerst mit kaltem Wasser oder Schnee, bis sie
kaum mehr Athem holen können. Nachdem das Kind ein wenig wieder zu
sich gekommen ist, taucht man es auf's Neue unter Wasser; nur darf der
Kopf des Kindes nicht mit in das Wasser kommen , bis es getauft ist. Nach
anderen Berichten stecken sie das Kind in einen Kessel mit warmem Wasser ,
doch auch ohne den Kopf mit einzutauchen . 7) Das Nayer- Kind in Indien
(Malabar) wird sofort nach der Geburt in warmem Wasser gebadet. Dagegen
ist es in vielen Hindu-Kasten Sitte , das Neugeborene alsbald mit kaltem
Wasser zu begiessen, um die Seele, die seit ihrer letzten Existenz in einem
Zustande träumerischer Beschaulichkeit verharrte , zum Bewusstsein zu brin
gen , dass sie eine neue Periode der Prüfungen in der Körperwelt durchzu
I) John Nieuhoff, Voyages and travels into Brasil etc. London 1704. Vol. II.
2 ) J. Bruce, Reisen in das Innere von Afrika, übers. v. Cuhn , 1791. II. 426 .
3 ) Unzer, Diss. Lips. 1771. S. 34 .
4 ) Unzer , daselbst S. 35.
5 ) Wien in Bericht der Anthropol. Gesellsch. zu Berlin . 1881. S. 175.
6 ) Edinburgh medic . Joum . 1864. 104. S. 726 .
7) J. Schefferi , Lappland . S. 336 .
en
14 Das Baden und Waschen des neugeboren Kindes.
machen hat. 1) Bei den Vedas, einer südindischen Sclavenkaste , wird das
Kind sofort nach der Geburt in kaltem Wasser gewaschen . 2)
Die Art und Weise, wie überhaupt unter den Naturvölkern die Haut
pflege der Neugeborenen besorgt wird, ist eine höchst mannigfache , keines
wegs auf ein allgemeines Schema zurückzuführen . Die Völker befolgen in
dieser Beziehung sehr differente Grundsätze . AufKusaie , einer der Carolinen
Inseln im Stillen Ocean, werden die Neugeborenen sofort nach der Geburt
mit einem Schwamme gewaschen und bald nachher schon von der Mutter
in fliessendem Wasser gebadet. 3) In Australien scheinen die verschie
denen Stämme der Eingeborenen auch verschiedene Methoden zu befolgen.
Nach den Beobachtungen eines Berichterstatters werden die Kinder mit war
mem Wasser unmittelbar nach der Geburt gewaschen ; dies war früher jedoch
nicht immer der Fall; auch wäscht man es mit Wasser und der gummigen
Substanz , welche im Flachs (rito ) ist, worauf man es in Blätter der Patete-,
Raurekan- oder Mouku- Pflanze einhüllt; wenn die Haut wieder trocken ge
worden , so nimmt man das Kind aus der Blätterhülle heraus . Ein anderer,
wohl mit anderen Stämmen bekannter Beobachter gibt an : In Australien wird
von der eingeborenen Frau das in der kalten Jahreszeit geborene Kind von
seiner Mutter mehrere Wochen lang ohne gebadet zu werden in den
Kleidern umhergetragen , und während des ganzen Winters hält man es in
einem schmutzigen , von Menschen überfüllten Raume umschlossen und ohne
Zutritt der freien Luft; die im Sommer geborenen Kinder hingegen werden
alsbald in das kalte Wasser eines Flusses eingetaucht, ihr Mund und die
Nasenlöcher von Schleim gereinigt, dann reibt die Mutter mit der Fläche
ihrer Hände die Glieder des Kindes, um sie wieder zu erwärmen : diese erste
Taufe nenntman Toto . ) Unter den Sepoys auf der Gruppe der Andamanen
Inseln bei Ostindien wird das Neugeborene in kaltes süsses Wasser ge
taucht und sein nasser Leib mit der über dem Feuer erwärmten Hand
schnell und sanft abgetrocknet (nach Dr. v. Liebig und Dr. Helfer's Be
richten ) ; dasselbe thun die Mincopies , die gleichfalls auf den Andamanen
wohnen.5) Das Neugeborene wird bei den Etas, den ins Innere der Phi
lippinen zurückgedrängten Negritos , mit Wasser gewaschen , das an der
Sonne gestanden hat. )
Auch die Zeit, in welcher man zum ersten Reinigungsbad schreitet, ist
bei den Völkern recht verschieden . Die Reinigung des neugeborenen Kin
des geschieht bei den Süd - Arabern erst zwei Stunden nachdem sie das Licht
der Welt erblickt haben ; so lange bleiben sie in ein Tuch gewickelt liegen .
Man nimmt laues Wasser dazu . Auch die in Ostafrika lebenden Völker, die
Somal, Wakamba, Wanika, Wakikuyu waschen das Kind mit Wasser
ab und salben es die Wakikuyu sogleich , die anderen nach einigen Stun
den oder (Masai) Tagen mit frischer Butter.") Die Japaner waschen
das Kind alsbald nach der Geburt; die Hindus erst am zweiten Tage,
nachdem sie es an der Sonne getrocknet haben . In Südindien wird das
Kind unmittelbar , nachdem der Nabelstrang durchschnitten ist, mit lauem
Wasser gewaschen ; am dritten Tage wird es am ganzen Körper mit süssem
Oel eingerieben und in warmem Wasser gebadet, das mit Knoblauch ver
setzt ist.2) Die Chinesen waschen und baden das Kind erst am dritten
Tage, nachdem es zuvor trocken abgewischt wurde. Das Kind wird bei den
Mongolen, wie Vambéry nach v. Baliut angibt, nicht gleich nach der
Geburt gewaschen , sondern erst nach einigen Tagen , wenn der Nabel be
reits verwachsen ist ; zu dieser feierlichen , mit der Namengebung verbunde
nen Waschung wird ein Lama, d . i. Priester, gerufen , der das Geschäft
unter Gebeten verrichtet. Wenn bei den Maloresen , einem Papua -Stamme
auf Neu -Guinea, das Kind einige Tage alt geworden ist, so wird es an einen
der am Strande ausgegrabenen Brunnen geführt und mit Wasser begossen ;
an Essen und Pinang fehlt es dabei nicht für die ganze weibliche Verwandt
schaft; es ist dies nach A. B. Meyer ein Fest, um das Abfallen der Nabel
schnur zu feiern .
Unter sonst ähnlichen Umständen und Verhältnissen ist ferner der Tem
peraturgrad des Wassers zum ersten Bade sehr different: Bei den Persern
badet man nach Dr. Polak das Kind mit lauem Wasser, während die reichen
und vornehmen Türkionen nach Dr. Eram ihre Kinder in heissem Wasser
baden . In Russland (St. Petersburg ) wird das Kind , nachdem es abge
nabelt ist , in Tücher eingeschlagen und einfach auf dem Bette liegen ge
lassen . Dann geht man daran , die Badestube einzuheizen , worüber oft viele
Stunden vergehen . In der schlecht gebauten , zugigen Badestube wird das
Kind auf die allerprimitivste Weise abgewaschen und häufig genug zu Tode
erkältet oder wiederum mit zu heissem Wasser förmlich abgebrüht.3)
Es gibt ferner gewisse Zusätze und Beimischungen zum Wasser, sowie
anderwärts bestimmte Ersatzmittel für das Wasser , die gewissermaassen na
tional sind. Die in Rom herrschende Sitte, die Kinder mit Wein zu
waschen , verwarf der Arzt Soranus in dem von ihm geschriebenen Lehr
buche der Geburtshilfe, da der Wein , wie er sagt , zu Ausdünstungen und
langem Schlaf führe; auch tadelt er, die Kinder mit dem Urin eines geschlechts
unreifen Knaben zu waschen, weil er übel rieche; desgleichen missbilligt er
das Abreiben der Haut des Kindes mit dem Pulver getrockneter Myrthen
blätter und der Galläpfel, deren Verwendung auch Galen tadelt. Nach An
gabe der altindischen Aerzte wurden die Kinder reicher Leute in Wasser
gebadet , in welchem vorher Gold und Silber abgekocht wurde. Während
die Lacedämonier die Neugeborenen mit Wein wuschen , wird das Kind bei
1) Hildebrandt, Zeitschr. f. Ethnol. 1878. S. 390 .
2) Dr. Shortt, Edinb. med. Journ . 1864. Dec. 554.
3) Dr. Reimer in : St. Petersburger medic . Wochenschr. 1878. 50. S. 411.
16 Das Baden und Waschen des neugeborenen Kindes.
vor allem die Falten und Vertiefungen der Achselgruben , Kniekehle, Daumen
gegend u . s. w . Das bestreute Kind wird dann in alte Lappen gehüllt und
neben seiner Mutter gelagert. Nachdem das Kind zwei bis drei Stunden ,
bei den Armeniern wohl noch länger, in Salz gelegen , wird es in reinem , ge
wärmtem Wasser gebadet, mitunter mit Anwendung von Seife. Bei einzel
nen armenischen Familien wird statt des Bestreuens mit Salz ein einfaches
Bad in Salzwasser gebraucht. Das Bestreuen mit Salz und das Baden voll
zieht die Ortshebamme. ") Während die Armenier des Kreises Scharuro
Daralagesk ihre Kinder einsalzen , findet dieses Einsalzen Neugeborener
bei den Armeniern des Kuban -Districts , die Armawiren oder Armawirzen
heissen , nicht statt ; man nennt dieselben deshalb auch „ ungesalzene"
Armenier . )
Bei den Kirghizen des Gebietes Semipalatinsk wird das neugeborene
Kind zuerst in dem Schaum gebadet, welcher von einer unmittelbar nach
der Geburt bereiteten Suppe aus Schaffleisch geschöpft worden ist. Nach
dem der Nabel des Kindes verheilt ist, wird dasselbe in warmem Salzwasser
gebadet und ohne Weiteres in beliebige Lappen von Baumwollenzeug ge
wickelt; so muss es liegen bis es getrocknet ist. Nun wird es mit einer aus
Gewürznägelchen , Galgantwurzel und Ingwer und geschmolzener frischer
Butter bereiteten Salbe eingeschmiert. Sechs Wochen lang wird das Kind
einen Tag um den andern in gewärmtem Salzwasser gebadet und mit der
beschriebenen Salbe eingerieben . 3)
In Persien wird das Kind nach der Abnabelung eingesalzen und abge
wischt; zwar schreibt das religiöse Gesetz „ Waschung des Kindes vor,
allein Dr. Häntzsche berichtet, dass diese Waschung nie, auch nicht in der
folgenden Zeit vorgenommen wird ; doch genüge diese Art der Reinigung
allenfalls auch dem religiösen Gesetze. Dieser orientalische Gebrauch , die
neugeborenen Kinder mit Salz zu bestreuen , ist in Griechenland auf dem
Lande noch allgemein üblich, und einer Mutter, welche etwa von dieser Be
handlung unangenehme Folgen für ihr Kind fürchtet, wird dagegen von ihrer
Hebamme bedeutet 4): „ Wenn ich dein Kind nicht mit Salz bestreue , so wird
es elend und wird zu nichts taugen .“ Freilich wird das Kind oft zu stark
gesalzen , so dass der Körper ein feuerrothes Ansehen erhält, und unverstän
dige Hebammen übertreiben zuweilen diese stärkende Kur, so dass das arme
Kind in Folge des allzu starken Hautreizes von Krämpfen befallen wird und
stirbt. Der Neugeborene wird bei den Mainoten sofort von Kopf bis Fuss
mit einer Mischung von Salz und Pfeffer abgerieben (Henri Belle ).
Ferner wird in Russland das Neugeborene in den Ofen gesteckt oder in
die Badestube gebracht und hier mit Seife oder Salz und mit Birkenreisig
abgerieben. Auch in einigen Gegenden Böhmens und Mährens, in Daubra
witz, Sejcin , Kosoritz, wird das Kind gleich nach der Geburt mit Salzwasser
gewaschen, damit es abgehärtet wird . ") Schliesslich ist es noch jetzt in
Schottland Sitte, das Kind gleich nach der Geburt in Salzwasserzu baden.2)
Wir finden bei den Völkern noch manche andere Zusätze und Hülfs
mittel: Die Samojeden waschen das Neugeborene mittels eines Schwammes
mit einer warmen Beifussabkochung und reiben es alsdann mit Rennthierfett
ein . Das Samojedenvolk , die Youraks, waschen das Kind in Eiswasser oder
Schnee, und um alle Feuchtigkeit von ihm abzuhalten , bestreuen sie es mit
gepulverter Birkenrinde. – Die alten Inder befleissigten sich einer grösse
ren Sorgfalt beim Baden des Neugeborenen. Nach Susruta wurde das Kind
mit kaltem Wasser zum freien Athmen gebracht, mit Oel ( von Pavonia odorata )
eingerieben und mit einem Aufgusse von Ficus glomerata oder wohlriechen
dem Wasser u . s. w . gewaschen . Sie beräucherten und fächelten das Kind,
benetzten und bestreuten seine Glieder mit verschiedenen Arzneimitteln , zün
deten ein Feuer an u . s . w .
Besonders rohes Verfahren ist in Afrika heimisch . Von den Hotten .
totten erzählte schon P. Kolben , dass bei ihnen das Kind nicht gebadet,
sondern mit frischem Kuhmist gewaschen wird ; nach allerhand anderen Ma
nipulationen , als Trocknung u . s. w ., wird dann der Leib mit Schaffett oder
Butter gesalbt. Nach einem neueren Berichte 3) wird das Hottentottenkind
gleich nach der Geburt mit Kuhmist gereinigt, mit dem Safte einer Feigen
art und Schaffett eingerieben und mit Bukhu -Pulver reichlich bestreut. Nach
Th . Hahn 4) reiben die Hottentotten , um die Haut des Kindes gegen die
Sonnenstrahlen zu schützen , dieselbe des Morgens mit Butter ein , oder
auch mit Fett oder Diosma-Salbe ; des Abends, d . h . wenn man sich
an einer reichen Quelle oder einem Flusse befindet, werden die Kinder wieder
gewaschen ; sonst unterbleibt dieses Waschen , und die zunehmende Staub
kruste macht das Kind einem glattrasirten Pavian ähnlich. Gebadet wer
den auch bei den orthodoxen „ Doppers“ , d . h . Boers in Südafrika die
Kinder niemals ; sie haben vor dem Gebrauche des Wassers eine grosse
Scheu ; in manchen Familien werden die neugeborenen Kinder nach Hotten
totten -Art einfach mit Fett oder Oel eingerieben , das im Laufe der Zeit sich
von selbst an den Kleidern abreiben muss . Das Kind der Makalaka
(Südafrika) wird am Körper, wie C. Mauch fand , mit Oel aus Erdmandeln
(Arachis) eingerieben . Die Masai und Waswaheli (Ostafrika) bestreuen das
Neugeborene mit dem säuerlich -adstringirenden Fruchtmehl der Adansonie ,
wodurch das Reinigen erleichtert wird , welches bei den Masai-Wakwafi ohne
Wasser, mit einem weichen Leder- oder Zeuglappen , bei den Waswaheli durch
Waschen vollendet wird (Hildebrandt). Auf den Fidschi- Inseln reibt man
das Kind während der ersten Tage mit Oel und Curcumä ein (Williams
1) J. V. Grohmann, Aberglaube und Gebräuche aus Böhmen und Mähren . Prag 1865. S. 107.
2 ) J. Napier, Folk -Lore or superstitious Belief in the West of Scotland. Paisley 1879.
3) Novara-Reise, Anthropolog. Th. III. 118.
4 ) Globus 1868 .
1. Die erste Reinigung des Neugeborenen. 19
2. Fortgesetzte Reinigung.
Taufe, nach welcher das Baden drei Tage unterbleibt; dann werden zuerst
mit Wasser die mit heiligem Salböl bestrichenen Körpertheile abgewaschen
und jetzt beginnt wieder das regelmässige Baden 3-4mal in der Woche.
Bei den Kurtinen des Gouv . Eriwan wird das Neugeborene bis zum 40. Tage
nach der Geburt täglich einmal gebadet, später aber nur einmal in der
Woche und zwar am Freitag. Bei den Tataren werden ausser dem ein
maligen Baden bei der Geburt die kleinen Kinder niemals regelmässig ge
badet, sondern nur gelegentlich gewaschen , wenn sie sich beschmutzt baben .
Nach dem jedesmaligen Baden werden bei den Armeniern die Kinder an
den Körperfalten , am Halse , hinter den Ohren mit feingestossener Thon
erde bestreut, mitunter mit einem Gemisch aus Thonerde und Brausethon
(ſette Letten ), welcher letztere vielfach im gewöhnlichen Leben statt der
Seife benutzt wird . Bei den Tataren bestreut man die betreffenden Körper
theile mit Fett, Butter oder nimmt Ziegelmehl oder gebrannte Thonerde.
Bei den Kurtinen spritzt die Mutter etwas Milch auf jene leicht sich röthen
den Stellen und streut dann auch gebrannte Thonerde darauf. ) Bei den
Armeniern des Kuban - Districts in Russisch -Kaukasien , den sogen . Ar
mawiren oder Armawirzen werden die Kinder nur in den drei ersten Lebens
wochen täglich gebadet, später nicht mehr.a)
Andere Urvölker nehmen die Reinigung des Kindes fortgesetzt und mit
einem gewissen Grade von Sorgfallt vor. Unter diesen befinden sich die
Maravis in Südafrika, deren Frauen das Kind nicht blos sogleich nach der
Geburt waschen , sondern bei ihnen setzt sich auch jede Mutter alle Tage
früh morgens vor ihrer Hütte auf die Erde , hier legt sie das Kind nackt
auf ihre ausgestreckten Beine und besprengt und wäscht es mit heissem
Wasser , indem sie es dabei herumrollt. Hierauf reckt sie das Kind an
Armen und Beinen , indem sie es mit der anderen Hand in der Mitte um
fassend in die Höhe hält und es schüttelt, um es zu trocknen . Dies ge
schieht nun so fort alle Tage, bis das Kind gehen kann (W. Peters).
Auch die Frauen der Krus an der Pfefferküste im Westen Afrika's widmen
ihren Kindern grosse Aufmerksamkeit; sie waschen sie , ölen und kämmen
sie, und so fort (Missionär Lighton Wilson ). Sobald das Kind bei den
Negern in Old - Calabar geboren ist, wird es mit feinem Sand abgerieben ,
worauf man es mit Seife und warmem Wasser wäscht ; die Waschung wird
jeden Morgen vorgenommen und hierbei jedesmal Wasser in den Mund des
Kindes geschüttet, um den Unterleib auszudehnen und in Ordnung zu er
halten ( Archibald Hewan ). Im Königreich Loango , im äquatoralien
Afrika, werden die Kleinen täglich mit Palmöl eingerieben.3) Das Kind wird
bei den Loango -Negern mebre male des Tages wenn Perspiration sich
zeigt, in kaltem Wasser gebadet, in welches Fetische getaucht sind.4) Die
Kaffern waschen das Kind nicht blos mit lauem Wasser, von dem sie ihm
auch mittels einer Muschel etwas zu trinken geben , sondern sie färben auch
den Leib mit einer Mischung von pulversirten Muscheln und Wasser, was
sie bis zum Abfall der Nabelschnur wiederholen . Bei den Arabern in Alge
rien wird das Kind, so lange es noch klein ist, von den Müttern jeden
Abend mit Olivenöl eingerieben ; dann legen es die Mütter wie ein Packet
neben sich . Nicht minder werden bei den Makassaren und Bugis auf
Celebes die Kinder täglich gebadet und, damit ihr Leib geschmeidig werde,
mit Kokosöl eingerieben. ) Auf den maldivischen Inseln werden die Kinder
sogar täglich sechsmal mit kaltem Wasser gebadet und dann mit Oel ge
salbt. ) Die Lappen behandeln ihre Kleinen sehr sorgfältig und baden
dieselben öfters; die Kwänen hingegen verfahren in dieser Beziehung mit
weniger Sorgfalt (L. Dahl). Das Kind wird bei den Kanikar's , einem
eigenthümlichen kraushaarigen Zwergvolke Südindiens, kalt gewaschen , so
bald es auf die Welt gekommen , dann werden die Waschungen fast ein
Jahr lang fortgesetzt, so lange bis das Kind läuft. Nach jeder Waschung
wird es mit Cocos -Oel eingerieben.3)
Nachdem wir die Reinigungsweise der Kinder bei mehr oder weniger
rohen Völkern kennen gelernt haben , betrachten wir das Verfahren , welches
in dieser Hinsicht bei den alten Römern herrschte.
Während der altrömische Arzt Oribasius vorschrieb, das Kind täglich
drei mal, Morgens, Mittags und Abends in warmem Wasser zu baden (nach
Ablauf des ersten Lebensjahres soll man an die Stelle des Mittagsbades
eine Oeleinreibung setzen ) eifert der Arzt Soranus aus Ephesus gegen die
zu seiner Zeit herrschende Sitte , das Kind drei mal am Tage und drei mal
des Nachts zu waschen ; vielmehr stellt er (und ebenso Moschion ) als Norm
eine einzige grössere Reinigung , und zwar nur am Tage, auf. Mit grosser
Genauigkeit beschreibt dieser Arzt das Verfahren des Waschens , welches
mit besonderen Manipulationen , inbesondere mit Massiren verbunden sein
sollte . Die Wärterin musste nach seiner Vorschrift das auf einem lei
nenen Tuche und auf ihrem Schoosse liegende Kind zuerst mit warmem
Oel einreiben , dann mit ihrer Linken den Arm unter der Achsel fassen , so
dass die Brust am Ellenbogen der Amme liegt, dabei das Kind ein wenig
nach rechts neigen und nun mit der Rechten etwas warmes und wohl tem
perirtes Wasser über das Kind giessen , wobei darauf zu achten ist, dass
eine Temperatur des Wassers , welche Erwachsenen angenehm erscheint,
auf die zarte Haut des Kindes den Eindruck eines weit höheren Wärmegrades
macht. Dieses Begiessen ist fortzusetzen , bis die Haut sich röthet und gleich
mässig warm wird. Hierauf wird das Kind umgedreht , abgetrocknet, die
Schenkel, der After , der Nacken , die Achselhöhlen , von dem an diesen
Stellen am meisten haftenden Schmutz gereinigt, durch den mit Wasser oder
Oel bestrichenen Zeigefinger die Mundhöhle des Kindes von Schleim befreit,
die Zunge, das Zahnfleisch und die Mundwinkel sanft gerieben , der Unter
bauch etwas comprimirt, um die Entleerung des Harns zu veranlassen . Zuletzt
werden Nase und Ohren durch Aussaugen vom eingedrungenen Wasser be
freit. Nach einigen Tagen folgt auf das warme Waschen des Kindes noch
eine kühle Waschung , um es vor Erkältung zu schützen . Nach dem Bade
wird das Kind an den Fersen gefasst, so dass der Kopf nach unten hängt,
um das Rückgrat auszudehnen und biegsam zu machen. Dann wird es
wieder auf den Schooss der Wärterin gelegt, mit einem leinenen Tuche ab
getrocknet, reichlich mit Oel gesalbt und die einzelnen Theile frottirt, wobei
zugleich darauf geachtet wird , etwaige Fehler der Form zu verbessern . Zu
diesem Behufe streicht die Wärterin mit dem Ballen der rechten Hand , von
dem linken Hinterbacken beginnend, in schräger Richtung nach oben , dann
von dem linken Schulterblatt nach dem rechten Schenkel. Hierauf beugt
sie die unteren Extremitäten in der Weise , dass sie die Spitze des rechten
Fusses der Spitze der linken Hand, die des linken Fusses der rechten Hand
nähert. Auf diese Weise werden die Sehnen und Bänder der Gelenke er
weicht, durch die verschiedenen Streckungen und Beugungen beweglicher
und es wird , wenn etwas Zähes bei diesen Manipulationen dem kleinen Ge
schöpf in die Glieder getreten sein sollte, dies wieder herausgedrückt etc. ')
Sehr zu beachten sind ferner die Gewohnheiten der untergegangenen
Völker Amerika's beim Baden und Waschen der Kinder.
Obgleich die alten Peruaner ihre Kinder im Allgemeinen „ so wenig
zärtlich als nur möglich erzogen“ , so liessen sie es doch bei denselben an
steter Reinigung nicht fehlen . Diese Bewohner des Inka - Reichs wuschen
das Kind , sobald es auf die Welt gekommen , sogleich mit kaltem Wasser
und wickelten es dann in seine Windeln ; dies wurde alle Morgen fortgesetzt.
Wenn eine Mutter dem Kinde eine ausserordentliche Wohltbat erweisen
wollte, so nahm sie Wasser in den Mund und bespritzte des Kindes ganzen
Leib damit , den Wirbel des Hauptes ausgenommen , der niemals damit be
rührt wurde. Die Absicht, die sie angaben , war diese , damit sie die
Kinder in Zeiten zur Kälte und Unbequemlichkeit gewöhnen und ihnen starke
Glieder verschaffen möchten .?)
Wie sieht es nun aber in unseren deutschen Kinderstuben bezüglich
der Kinder-Reinigung aus ? Wir antworten sogleich : „ Wenig erfreulich .“ –
Zunächst werfen wir einen Blick auf frühere Zustände. Die alten Deutschen
waren ursprünglich wohl nur Freunde der kalten oder Fluss-Bäder ; von den
Römern lernten sie, gleichwie die Gallier, den Gebrauch der warmen Bäder
schätzen ; diese hatten sich dann so eingebürgert, dass man Enthaltung vom
Bade als eine Art kirchlicher Strafe belegte, und dass man sich auch zur
Zeit der Fasten als Busse und Trauer des Badens enthielt ; denn Baden ge
hörte unter allen Ständen zu den Genüssen des gewöhnlichen Lebens. Ein
weiteres den Badegebrauch verallgemeinerndes Moment bildete ferner die
durch die Kreuzzüge dem Occident vermittelte Bekanntschaft des Orients.
Ueberall wurden Badstuben angelegt, sowohl öffentliche als private . Bei
dieser allgemeinen Beliebtheit, in welcher das Baden während des Mittel
alters bei den Deutschen stand , lässt sich wohl annehmen , dass man auch
den kleinen Kindern das zu ihrem Gedeihen nöthige regelmässige Baden
nicht vorenthielt. So finden wir denn im Anfang des 16. Jahrh. in den
Preis -Regulativen für die Stadtbäder in mehreren Städten Württembergs
(Esslingen , Sindelfingen, Stuttgart), dass Kinder unter zehn Jahren unent
geltlich gebadet werden konnten ; ') erst später wurden Kinder in den Kreis
der Zahlenden mit eingezogen , indem sich die Unkosten für das Unterhalten
einer Badstube mit dem Steigen der Holzpreise erhöhten. Die Axt , welche
die Urwälder niederlegte, lichtete die Reihen des Badepublikums und entzog
zum Theil auch den Kindern den Genuss des freien Badens.
In Deutschland war es noch zur Zeit des Walther Hermann Ryff,3)
welcher um die Mitte des 16. Jahrh . lebte , Sitte , „ Wasserbäder mehr zur
Wollust des Leibes , denn aus Nothdurft und zur Fristung der Gesundheit
zu gebrauchen ;" er empfiehlt dieselben aber vorzugsweise für die jungen
Kindlein , „ die Tag und Nacht in ihrem Harn und Koth liegen müssen,"
man soll sie zur Sommerzeit in „ lebwarmem “ , im Winter in warmem Wasser
baden . Nach niederländischer Sitte wurden zu Ryff's Zeit die Kinder in
Bier gebadet. Schon zuvor (1513) hatte Eucharius Rösslin das erste
deutsche Hebammenbuch geschrieben ; zu dieser Zeit salbte man das Neu
geborene in Deutschland mit Eichelöl, besprengte es mit Salz und Rosen
pulver und badete es mit lauem Wasser ; dann aber wurde das Kind ferner
hin zwei- bis dreimal täglich gebadet , jedesmal so lange , bis die Haut sich
röthete.
Schlimm geht es heutzutage in Deutschland den jungen Kindlein, „ die
Tag und Nacht in ihrem Koth liegen .“ Denn das Landvolk in manchen
Gegenden Deutschlands unterlässt das Baden der Kinder gänzlich . Der
Süden scheint sich in dieser Beziehung wenig vortheilhaft auszuzeichnen .
Sobald die Hebamme nicht mehr in das Haus kommt, hört in der Regel
auf dem Lande in Württemberg das Baden der Kinder auf, und zwar auf
Lebenszeit.3) Aus dem Frankenwalde schreibt Dr. Flügel: ) „ Die Neu
geborenen zu baden ist sehr wenig gebräuchlich , man ist sogar dem Baden
sehr abgeneigt, redet ihm allerlei Uebles nach , und diese Abneigung scheint
zuweilen durch Bequemlichkeit gestützt zu werden.“ Aehnliche Berichte er
hält man von den Aerzten aus anderen , deutschen Districten . In der bai
1) G. Zappert, Ueber das Badewesen mittelalterlicher und späterer Zeit im Archiv f.Kunde
österreich. Geschichtsquellen . 21. Bd. Wien 1859. S. 158.
2) Vergl. dessen „ Badenfahrt."
3) Württemb. inedic. Corresp.-Blatt. 1868. Beilage zu No. 3.
4 ) Dessen „ Volksmedicin im Frankenwalde.“ S. 51.
Das Einhüllen , Wickeln und Kleiden des Kindes.
25
rischen Oberpfalz ist nach Dr. Brenner - Schäffer ") das Bad, welches
die Hebamme dem Kinde spendet, oft auf viele Jahre die einzige Reinigung
des zarten Säuglings. In Ost- Thüringen (Kreis Querfurt) wird das Baden
der Kinder durch 3—4 Wochen nach der Geburt regelmässig geübt, indem
die Hebammen dieses Geschäft besorgen . Nach dieser Zeit begnügen sich
die Mütter fast in allen Ständen mit Waschungen und fassen allmälig ein
solches Vorurtheil gegen das Baden , dass der Arzt bei Kinderkrankheiten ,
wenn er die so nöthige Hautthätigkeit durch ein Bad herstellen will, auf
ernstliche Schwierigkeiten stösst. )
Im siebenbürger Sachsenlande wird das Kind in der Regel durch zwei
malige Bäder täglich gereinigt (Joh. Hillner ). In einigen Gegenden setzt
man den Kinderbädern gewisse Stoffe und Kräuter zu . In der baierischen
Oberpfalz wird nach Dr. Wolfsteiner 3) das Kind gleich nach der Geburt
gebadet, und damit dem Ungetauften nichts Böses geschehe , wird in's erste
Bad ein Absud von geweihtem Johanneskraut gebracht. In der Schweiz
nimmt man zum ersten Bad Milch und Wasser , darnach säubert man das
Kind allenthalben mit Butter. 4) Auch heisst es in Brugger's altem schwei
zerischen Receptbuch : Des Kindes erstes Bad muss abgekocht werden aus
grüner Rinde des Weidenstocks, es schützt dann vor Freisam (Eclampsie ) und
vor Etiken (Appetitus caninus).
Unsere Uebersicht über die eigenthümlichen Volkssitten beim Baden und
Waschen der Kinder schliessen wir mit der Bemerkung , dass Liebig zwar
die Grösse des Seifen-Consums als den besten Maassstab für den Kulturgrad
eines Volkes bezeichnet, dass wir aber die Grösse der Sorgfalt, mit der die
Völker die Reinigung ihrer Kinder besorgen , im Allgemeinen als eines der
charakteristischsten Merkmale für die Beurtheilung des Kulturzustandes eines
Volkes oder auch nur einer gewissen Volksklasse betrachten dürfen . Unser
deutsches Landvolk sehen wir leider nicht in erster Linie stehen .
SIEBZEHNTES KAPITEL .
Da die Haut des neugeborenen Kindes noch nicht fertig ausgebildet zu sein
scheint, jedenfalls äusserst empfindlich gegen Luftzug und Kälte ist, so bat man
namentlich in den ersten Monaten , vorzugsweise zur Winterszeit, das Kleine
sorgfältig warm zu halten . Eine zweite Aufgabe beruht darin , dass das
Kind, da es sich von Zeit zu Zeit verunreinigt, mit immer erneuter Wäsche
1 ) Dessen „ Darstellung der sanität. Volkssitten " etc. S. 13 .
2) Dr. Schraube, in Monatsbl. f. medic. Statistik , Beilage zur „Deutschen Klinik .“ 1864.
No. 9. 65.
3) Bavaria , 2. Bd. 1. Abth . S. 337 .
4) Rochholz , Allemannisches Kinderlied . S. 282.
26 Das Einhüllen, Wickeln und Kleiden des Kindes.
versehen werde, um die Haut vor dem Wundwerden zu schützen , wobei nur
darauf zu achten ist, dass das Kind einestheils nicht zu lange in der Nässe
liegt, anderntheils beim Wechseln der Wäsche nicht etwa abgekühlt und er
kältet werde. Dazu sind noch zwei Umstände sehr zu beachten : Ein all
zuwarmes Verhalten ist hoch gefährlich , deshalb sind in unserem Klima für
das Kind Wäschestücke und Kleidungsstücke in zweifacher Art zu schaffen ;
theils für den Sommer, theils für den Winter . Ein zweiter Fehler wird oft
durch allzu enges Einschnüren und Bekleiden begangen , so dass die gesunde
Entwickelung des Körpers verhindert wird . Dem Säugling wird in ungemein
vielen Fällen verwehrt, was zur kräftigen Entwickelung des Körpers unum
gänglich ist und keiner Thierbrut vorenthalten wird : der freie Gebrauch
der Glieder.
Das Klima scheint die Eltern zunächst in ihrer Wahl der Umhüllung zu
bestimmen , durch welche sie ihr Kind vor den Einflüssen der Witterung zu schützen
suchen . Allein die Art und die Form dieser Vorsichtsmaassregeln ist oft ungemein
naturwidrig . Die unterste Stufe der Kultur nehmen diejenigen Völker ein , die
dem Kinde kaum eine Decke als Schutz gewähren . Die im hohen Norden
Europa's wohnenden Finnen scheinen einst in vieler Beziehung auf gleicher Stufe
gestanden zu haben, wie noch heute die Australier, denn sie gewährten trotz
des rauhen Klima's ihren Kindern ebenso unzulängliche Schutzmittel, wie
diese . So berichtet Tacitus in seiner Germania (Cap . 46 ) von jenem
Volke, das er Fenni nennt: Bei ihnen haben die kleinen Kinder vor Thieren
und Unwetter keine andre Zuflucht, als ein Geflecht von Baumzweigen ; da
kehrt auch der Mann ein und birgt sich der Greis." In Kamtschatka
wird nach Steller das Kind nur in Werg eingewickelt und in die Kuk
lanka (Kapuze ) gesteckt.
In den warmen Zonen , insbesondere bei den meisten nacktgehenden
Völkerschaften , wird das Kind in der Regel gar nicht umhüllt. Insbesondere
bleibt das Kind frei von jeder Hülle bei manchen Indianern Südamerika's,*)
kesonders Brasiliens , bei den ostafrikanischen Völkern , den Negern , den
Australiern u . s. w .
Die Australier, sowie die Eingeborenen der Philippinen begnügen
sich damit, das Neugeborene durch Einhüllen in warme Asche vor Frost
und Erkältung zu schützen . In Australien (Kolonie Victoria ) wird von den
Eingeborenen unmittelbar nach der Entbindung dem Neugeborenen eine
Mischung von Holzkohle und Fett über den Körper eingerieben zum Schutze
gegen Insekten und gegen die Hitze.2) Im Westen Neuhollands wickelt man
die Säuglinge in ein Opossum -Fell, welches mit Schnüren vom Haar des
Thieres um Hand- und Fussgelenk befestigt ist, wodurch die Kinder, wie
man meint, schön und muthig werden (Grey). In der Mac -Cluer - Bay in
Neu -Guinea gingen die Knaben nackt, wahrscheinlich bis zur Pubertät.
Es ist jedoch weder das Klima noch auch die Gewohnheit der Be
völkerung, sich selbst mehr oder weniger mit Kleidern zu bedecken , was
letztere durchgehends und allein bestimmt, auch die Kinder mit Hüllen zu
versehen oder nicht. Die Pescheräs in der Maghellan - Strasse , welche ein
höchst armseliges Leben führen , bei grosser Kälte als Bekleidung nur ein
Stück Guanaco -Haut über der Schulter tragen und sich zur Erwärmung der
nackten Körpertheile ihrer Hunde bedienen , bekleiden ihre Kinder gar nicht;
das Kind hängt, wie der Arzt und Naturforscher Rochas sah , splitternackt
an der Mutter. Hier sind offenbar Armuth und Indolenz bestimmend. Diese
Wilden sind die Kinder der sie umgehenden Natur; letztere ist arm und un
productiv ; sie gewährt den Menschen nur die kümmerlichsten Mittel zur Er
haltung des Lebens; und so können die Eltern kaum sich selbst vor Wetter
und Frost schützen , geschweige denn die Kinder. Als Gegensätze führen
wie ferner einige Völker aus dem warmen Afrika an . Die völlig nackt
gehenden Schangallas in Ostafrika wickeln ihre Kinder ein ") und auch bei
den Woloff-Negern in Westafrika wird das Kleine sofort nach der Geburt
in einen wollenen Lappen gewickelt und an die Seite der Mutter gelegt ),
während in Algerien bei den Arabern der Sahara , die sich bekanntlich in
ihren Burnus hüllen , die neugeborenen Kinder weder in Betten gepackt, noch
auch zur Unterstützung und zum Halt des Rückgrates mit einem Gürtel ver
sehen werden ; doch kommt daselbst, wie Emma von Rose berichtet, nie eine
Verwachsung bei diesen Arabern vor .
Allein die Sitte, dass das Kind gar nicht gewickelt wird , scheint doch
auch in einer besonderen Hinsicht Nachtheil zu bringen . Es kommen nem
lich , wie ich an einem anderen Orte 3) ausführlich besprochen habe, bei sol
chen Völkern , deren Kinder gar nicht gewickelt werden , insbesondere bei
den Negern der Gegend von Zanzibar an der Ostküste Afrika's, auch an der
Gold- und Guinea -Küste , bei den Fidschi- und Sandwich -Insulanern , auf
Neuseeland, in Britisch -Guiana , in Brasilien , in Nicaragua u . S. W. un
gemein häufig Nabelbrüche vor. Viele Beobachter sprechen den bestimm
ten Verdacht aus, dass diese Leibesschäden die Folgen unzweckmässiger Be
handlung der Kinder sind. Ich sagte in dieser Beziehung : ,, Häufiger als der
angeborene Nabelbruch ist bei den Naturvölkern gewiss der erworbene, der
in der Regel erst einige Wochen nach der Geburt in Folge der ungenügen
den Umwickelung der Nabelgegend des Unterleibes nach heftigem Schreien
und bei Flatulenz der Kinder entsteht.“ Ohne Zweifel werden die Säuglinge
der Wilden auch nicht einmal in den ersten Tagen mit einer einfachen Leib
1) Guhl und Koner , Das Leben der Griechen etc. 4. Aufl. 1876. S. 233.
2) Hippokr. Lib . de aere, aquis et locis .
3 ) Schol. in Callim . Hymn. in Jov. 77 .
4 ) Plautus, Trucul. v . 13 und Amphitr. V. I. 52.
2. Hüllen, Binden und Kleider.
29
Nach Ausspruch des römischen Arztes Galen († um 200 vor Chr.) muss
das Kind vor dem allzugrellen Wechsel von Wärme und Kälte durch Ein
hüllen in warme Windeln geschützt werden . Im alten Rom wurden jedoch
namentlich durch die Aerzte selbst recht unzweckmässige Methoden zur Ein
hüllung des Kindes angegeben . Die von Antigenes empfohlene thessalische
Methode, die Kinder auf einem wannenförmig ausgehöhlten, mit Heu oder
dergleichen ausgestopften Brette festzubinden , verwirft der Geburtshelfer So
ranus, der um 110 n . Chr. lebte, in seinem geburtshülflichen Lehrbuche .
Es ist dies fast dieselbe Art, welche noch jetzt bei den Indianern Nordame
rika's und bei den Nomadenvölkern Asiens gebräuchlich ist. Soranus")
schreibt vielmehr ein sehr umständliches , gewiss auch nicht ganz zweck
mässiges Verfahren vor: Er will, dass man bei der Einwickelung des Kindes
allen Gliedern ihre natürliche Lage gebe , vorher aber die durch den Ge
burtsact verrenkten Gliedmaassen wieder einrichte und durch Druck ange
schwollene mit Cerussa oder Lithargyrum einreibe. Darauf nehmen die Pfle
gerinnen wollene , reine, weiche , nicht abgenutzte, bald drei, bald vier Finger
breite Binden , wollene wegen ihrer Weichheit und deshalb , weil die linnenen ,
mit Schweiss getränkt, allzusehr drücken . Die Binden , sagt Soranus,
müssen glatt und gleichmässig sein , damit sie nicht drücken ; sie dürfen nicht
zu schmal, nicht zu breit sein und keine Falten werfen . Die Pflegerinnen
beginnen die Einwickelung des auf ihren Schooss gelegten und einstweilen
in Wolle oder Windeln gehüllten Kindes mit grosser Sorgfalt und ohne das
Kind zu erkälten um sämmtliche Glieder, so dass dieselben recht gestreckt
seien ; zuerst jede obere Extremität von den Fingerspitzen bis zur Achsel
höhle , führen dann die Binden um die Brust herum , hüllen darauf die un
teren Extremitäten einzeln von den Zehen bis zur Hüfte ein , legen dann die
Arme in straffer Extension an den Rumpf und die Beine ganz nahe an ein
ander und führen im ganzen Umkreise von der Brust bis zu den Füssen eine
gemeinsame Binde. Unter die Knöchel, die Knie und den Ellenbogen aber
legen sie Wolle, damit nicht durch allzuheftigen Druck und die nahe Anein
anderlegung die hervorragenden Theile sich entzünden . Der Kopf werde
ebenfalls ringsum in weiche Wolle eingehüllt. Dann empfiehlt So
ranus, den ganzen Körper vom Scheitel ab noch in eine oder gar zwei
gemeinsame Windeln (orozeipevoy páxos tù šplov, „ Panni“ ) zu wickeln , oder
gar zwei solche dem Kinde unterzulegen , so dass die eine gross und den
ganzen Körper bedeckt, die andere aber nur um die Lenden herum liegt und
als Reservoir für die Ausleerungen dient. Man begreift wohl, wie sehr eine
solche Einkerkerung , die gewiss im alten Rom vielfach befolgt wurde, der
Entwickelung des Körpers hinderlich sein mussten . Ein anderer in Rom
lebender Arzt, Moschion, verbot in seinem griechisch (ursprünglich jedoch
lateinisch ) geschriebenen Hebammenbuche, die Kinder zu fest in Fascien
( d, i. Bandagen ) einzuwickeln ; er sagt: „ Supponentes propriis ejus femori
1) Sorani Ephesii Lib . de muliebribus affect. edit. Fr. Z. Ermerins. Trajecti ad Rhenum
1869. S. 123.
30 Das Einhüllen, Wickeln und Kleiden des Kindes.
nach der Geburt in Flaumfedern und in Betten , gefüllt mit weichen Federn
von Schwänen oder Gänsen ; sie legen es dann auf ein Tuch, wickeln es
darin warm ein und binden dasselbe für eine kurze Zeit zusammen , wie es
heisst, eine Stunde lang. Dann nimmt man es heraus, wäscht es und wickelt
es abermals in das Tuch mit einem neuen Bande. ) Der Abbé Domenech ,
der die Rothhäute wohl als Missionär beobachtete, schreibt: „ Aussitôt après
sa naissance le nouveau -né est souvent enveloppé d'une couche de duvet de
plumes de cygne ou d'oie, puis attaché dans une couverture pendant une
heure environ ; ensuite il est lavé et placé avec soin dans un berceau d'osier
ou de bouleau , orné de broderies, de peintures et de plumes. L'enfant
étroitement émaillotté et maintenu là par des planchettes et des courroies,
au niveau de la tête, du tronc et des pieds, ressemble à une momie dans
une sacrophage de prince." – Bei den Thlinket oder Thlinkiten in Alaska
(hober Nordwesten Amerika's ) wird das Kind, sobald es einige Wochen alt
geworden , auf ein Brett gelegt in Moos gewickelt. )
Auf dem ostindischen Archipel, der unter der Aequatorialzone liegt,
beobachtete man folgendes Verhalten . Die Makassars und besonders die
Bugis auf Celebes erziehen ihre Kinder sehr spartanisch , indem sie die
Kleinen nackt, ohne Windeln und Wickelzeug binlegen und ihnen überhaupt
eine harte Behandlung zukommen lassen ; ja, die Eltern geben sogar ihr
Kind mit dem 5. Lebensjahr zu einem Freund, aus Furcht, sie selbst möchten
es aus Zärtlichkeit verweichlichen.3) Auf den Molukken wissen die Ein
geborenen vom Einwickeln der Kinder nichts ; man schlägt sie aber nach
lässig in ein Tuch , nachdem man ibnen eine Binde über den Nabel gebun
den.“) – Die Kinder werden auf den maldivischen Inseln nicht gewickelt,
sondern man legt sie nackt in kleine Hängematten , welche die Sklaven hin
und her bewegen müssen.5)
Bei den Kindern der Guinea -Neger ist nach den meisten Bericht
erstattern (z. B. schon Bossmann 1707) von Windeln, Bändern u. s. w .
nicht die Rede; doch sagt Purchas (im J. 1625) : „ The take the young
child as soone as it is borne and wrapping a cleane cloth about the middle
thereoff .“ Die Kaffer -Frauen wickeln nach demselben Berichterstatter
ihre Kinder nicht ein . Gleich dem Knaben geht das junge Mädchen bei den
Kaffern bis auf ein Stück gefärbter und bemalter Haut, welches kaum bis
an's Knie reicht, oder einem aus herabhängenden schmalen Lederstreifen
bestehenden Schurz , ganz unbekleidet einher . Doch wird der Körper
reichlich mit Fett eingerieben und allerlei Schmuckgegenstä
nde, bestehend
aus Ringen, Arm- und Beinspangen , Halsketten , Amuleten von Holz- und
Hornstücken , Wurzeln , Zähnen und anderen Dingen mit Vorliebe getragen .
Dagegen wird bei den Sotho -Negern dem Kinde , wenn es das Genick
1) Schoolkraft , III. S. 230.
2 ) Fr. Müller, nach Dall in Mittheil. d . Anthropol. Gesellsch. in Wien. 1871.
3 ) De Rienzi, Oceanien, deutsch. I. 245.
4) Baumgarten , Allgem . Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande.
5) L. L. Finke, Versuch einer medic. prakt. Geogr. 1. Leipzig 1792. S. 688 .
32 Das Einhüllen , Wickeln und Kleiden des Kindes .
noch nicht steif halten kann, ein Riemen mehrmals um den Hals gewunden ,
damit der Kopf aufrecht bleibe (Missionär Endemann ).
Die Kinder der Berabra am Nil gehen nach R. Hartmann bis zum
5 und 6. Jahr und länger nackt. Auch diejenigen der Fellah gehen oft
bis zum 7. - 10 . Jahr nackt und haben , wie zum Hohn für alle Tracht, nur
eine Bindfadenschnur von Dattelfaser um die Hüften . Die Somali- Kinder
gehen , wie Haggenmacher berichtet, bis zum 8. Jahre fast alle nackt.
Während man bei fast allen Negern die Kinder bis in ein ziemlich hohes
Alter hinauf völlig nackt herumlaufen sieht , sind die Knaben und Mädchen
der Fan -Neger an der Westküste Afrika's im Alter von 5-6 Jahren nach
der Beobachtung des Reisenden 0. Lenz ") schon mit etwas Kleidung be
deckt. Die Kinder der Neger an der Loango - Küste werden weder ein
gewickelt, noch in Wiegen , Hängematten oder Kästen gelegt. Sie ruhen
neben der Mutter auf dem Lager, sorgsam locker zugedeckt gegen Zugluft
und Rauch behütet und werden überhaupt mit grosser Liebe und Sorgfalt
gepflegt. )
Bei den Badagas, einem Volksstamm im Nilgiri-Gebirg in Indien , findet
ein Einwickeln oder Einschnüren des Kindes nicht statt.3)
Die Nomadenvölker Asiens können wir in eine Gruppe zusammenstellen .
Während die ärmeren Kirghizen das Neugeborene einfach in Dschabaga
(Winterhaar der Kameele , aus dem ein sehr zarter, weicher Filz bereitet
wird ) einhüllen , lassen die reichen Kirghizen für das Kind Hemden und Ober
gewand nähen.4) Bei den Buräten wird das Neugeborene in ein weiches
Lammfell gewickelt und dann in ein Schafsfell, in welchem es drei Tage
lang unverändert liegen bleibt ; bierauf wird es unter gewissen Ceremonien ,
die das Kind vor bösen Geistern schützen sollen , in die Wiege gelegt (N. J.
Kaschin ). Später aber laufen die Kinder der Buräten bis 'zum 5. oder 6 .
Jahre in der warmen Jahreszeit ganz unbekleidet umher, im Winter nur mit
einem Schafspelz bekleidet.5) – Die Korjäk en stecken das Kind in einen
warmen Fellsack ; später wird es in Felle eingenäht, so dass Jacke, Bein
kleider und Stiefeln Ein Kleidungsstück ausmachen , welche, um der Rein
lichkeit eine Thüre zu lassen , mit einer Klappe versehen ist, die von Zeit
zu Zeit geöffnet wird. Nur wenn das vorgeschrittene Wachsthum es nöthig
macht, wechselt man die Kleidung. ) — Das Samojedenvolk , die Youraks,
wickeln das nackte Kind mit auf der Brust gekreuzten Armen und angezogenen
Füssen in Bänder von Birkenrinde ein ; die Mitte des Körpers wird dann
auf einer Wiege mittels eines Riemens oder mit Stricken fixirt. Die Kal.
mücken -Kinder laufen bis zum siebenten Jahre fast nackt umher, nur bei
Kälte werden ihnen Schafpelze umgeworfen und Filzstrümpfe angezogen .
1 ) Nordenskjöld, Die Umsegelung Asiens und Europa's auf der Vega. Deutsche Ausgabe.
1881. S. 395.
2 ) Ten weeks in Japan. London 1861. S. 89.
3) Das Ausland . 1881. No. 9. S. 166 .
4 ) Isabella L. Bird , Globus 1881. Bd. 39. S. 218.
5) Hureau de Villeneuve, de l'accouch. de la race jaune. Paris 1863. S. 37 .
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 3
34 Das Einhüllen, Wickeln und Kleiden des Kindes.
Körper eine regelmässige Form , „ gerade wie eine Kerze,“ geben zu können .
Der Sicherheit wegen umhüllt man das Kind noch mit einer zweiten Binde .
Diese feste Einschnürung der Kinder macht, wie Eram sagt, , que la plupart
des Orientaux sont de petite taille et que leurs membres, présentant une cour
bure très considérable , font ressembler leur marche à l'allure ridicule du
canard .“ 1) Auch der deutsche Arzt Oppenheim ) bestätigt, das durch die
Einwickelung der Kinder in der Türkei die freiste Bewegung ihrer Arme
und Beine behindert wird ; doch ist, wie er meint , der Bund gehörig lose ;
das Kind wird nicht übermässig warm gekleidet und dann zur Mutter in's
Bett oder in eine Wiege gelegt. Allein , was die von Eram gemachte An
gabe anbetrifft, dass durch die in der Türkei beliebte Einwickelung der
Kinder eine Verkrümmung der unteren Extremitäten erzeugt werde, so tritt
Dr. J. E. Polak aus Wien dieser Behauptung nicht bei; die Verkrümmung
der Beine, welche dort allerdings nicht selten vorkommt, wird nach seiner
mir mündlich mitgetheilten Meinung vielmehr wahrscheinlich dadurch herbei
geführt, dass man dem Kinde, wie er in der Türkei zu beobachten Gelegen
heit hatte , einen Ballen von Leinewand zwischen die Beine stopft. Diese
Einwickelungsmethode ist übrigens im Orient recht weit verbreitet. So
werden auch in der persischen Provinz Gilan am kaspischen Meere die
Kinder sehr fest eingewickelt; dies schrieb mir Dr. med. Häntzsche (jetzt
in Dresden ), und er hatte die Freundlichkeit, mir ein persisches Wickelkind
zu zeichnen . Dr. med . Polak , ehemaliger Leibarzt des Schah's , fand ein
solch festes Einwickeln in ganz Persien gebräuchlich.3) Auch in Bagdad
am Tigris werden bei den dort lebenden Mohamedanern 4) während der
ersten sechs Wochen die Arme des Kindes am Leibe fest eingewickelt, das
arme kleine Wesen macht so sein erstes irdisches Märtyrthum durch .
Ein dem orientalischen sich anschliessender Gebrauch herrscht in
Dalmatien . Hier lässt man zwar in den besseren Klassen die Säug
linge lose bedeckt ohne Wickelbänder und Faschen ; allein bei den ärmeren
Klassen wickelt man die Kleinen vom Scheitel bis zu den Zehen ein , die
Hände werden noch ausserdem gebunden , desgleichen die Füsse. Hierauf
wird das so gefesselte Kind in Decken und Polster und in Windeln gebun
den . Dies geschieht, wie man dem Dr. W.Derblich angab , damit sich die
Neugeborenen nicht die Augen auskratzen oder sonst ein Leid anthun .
Von solchen Vorkehrungsmaassregeln weiss man bei den nordischen Völ
kern nichts. Die Lappen wickeln das Neugeborene, sobald es abgewaschen
ist, ganz einfach in ein Hasenfell, wie vor langer Zeit Scheffer 5) fand .
Nach neuerem Berichte ) versehen die Lappen ihre Kinder mit warmer,
weicher Kleidung, die Kwänen (ebenfalls in Norwegen ) weniger. In Island
1) Eram , Quelques considér. prat. sur les accouch. en Orient. Paris 1860. S. 63.
2) F. W. Oppenheim , Zust. d. Heilk. in der Türkei. S. 47.
3 ) Polak , Persien , das Land und seine Bewohner. Leipzig 1865. I. S. 196 .
4 ) Globus. 1868. Bd. 14. S. 53.
5 ) Scheffer, Lappland . 1675. S. 337 .
6 ) L. Dahl, Norsk Magazin for Laeger. 1862. Heft 7. 8 .
—
2. Hüllen, Binden und Kleider. 35
sah Horrebow , dass die Frauen ihre Kinder ebenso wie bei uns in Win
deln legen ; dagegen geben ältere Berichte ) an : ,,Vom Einbündeln der Kin
der wissen die Isländer nichts ; man zieht dem einige Wochen alten Kinde
Hosen und Wamms an . “ Die Eskimo stecken die Kinder entweder ganz
nackt oder nur roh in Felle gehüllt in die warme Kapuze oder in den Winter
stiefel. Bei den Eskimo in Boothia Felix (70 ° n . Br.) sah J. Ross Mütter
mit nackten Säuglingen an der Brust bei mehr als 25 ° R. Kälte.
Aus diesen Gegenden wenden wir uns zu den Völkern Kleinasiens .
Bei den Armeniern im Gouvernement Eriwan (asiatisch Russland) wird
das Kind bis zur Taufe in Lappen gewickelt, dann nach der Taufe erhält
es ein Hemd aus Baumwollenzeug und später ein wattirtes Jäckchen ,,Ar
draluk .“ Um den Kopf wird ein Tuch geschlagen . Die Tataren und Kur
tinen , die ebenfalls im Gouvernement Eriwan wohnen , geben dem Kinde
unmittelbar nach der Taufe ein Hemd und ziehen ihnen Jacken ohne Aermel,
eine Art Weste ,,Onnjuk " darüber . Auf die grosse Fontanelle des Kopfes
legen sie ein Stück Baumwollenzeug, decken ein weisses Tuch darüber und
setzen dem Kinde noch ein Käppchen auf, welches sie mit den unter dem
Kinn gekreuzten und nach oben zum Scheitel hinaufgeschlagenen Enden des
Tuches befestigen . Die untere Körperbälfte und die Beine bleiben in den
ersten Lebensjahren stets frei.
Das Wickeln und Windeln des Neugeborenen zerfällt bei den Arme
niern in zwei durch die Taufe von einander getrennten verschiedenen Pe
rioden . Nach dem ersten Bade wird das Kind in reine Lappen gehüllt; dabei
beginnt man mit den Beinen , streckt dieselben und wickelt sie ein, dann erst
wird der Leib und die an die Brust gelegten Hände eingewickelt. Der Kopf
wird mit einem Tuche bedeckt, dessen beide Enden von hinten durch die
Achselhöhlen durchgezogen und auf der Brust gekreuzt werden. So liegt das
Kind auf dem Lager der Mutter bis zur Taufe, nach welcher es seine eigene
Wiege bekommt.
Bei den Tataren und Kurtinen wird in folgender Weise verfahren :
die Kinder werden sehr sorgfältig eingewickelt, indem man ebenfalls von
unten anfängt und nach oben weiter fortschreitet; man benutzt dazu Tücher
oder Lappen, welche durch Schnüre oder Binden zusammengehalten werden .
Auf den Kopf setzt man dem Kinde eine Art Mütze oder Käppchen. Nach
Verlauf von 40 Tagen wird erst der rechte, dann der linke Arm drei Tage
nicht eingewickelt, dann bleiben endlich beide ungewickelt . Das Kind liegt
stets auf dem Lager der Mutter . 2)
Die .Umhüllung, die die Tataren des Kreises Nucha (Gouv. Tiflis ) dem
Kinde gewähren , sind ungemein spärlich ; wegen ihrer grossen Armuth ziehen
sie dem Neugeborenen selten ein neues oder reines Hemdchen an ; gewöhn
lich wickeln sie es in irgend welche Lappen und erst nach 3-4 Monaten,
wenn die Umstände es erlauben , giebt man dem Kinde ein Hemd und ein
kurzes Kamisol ohne Aermel , welches aus buntem Zitz gemacht und mit
Watte gefüttert ist. Die Tataren in demselben Kreise setzen dem Neu- '
geborenen ein aus Callico gefertigtes mit Watte leicht gefüttertes Käppchen
(Calottchen ) auf den Kopf und binden darauf irgend einen Lappen oder ein
Tuch . – Dagegen werden die Neugeborenen bei den Tataren und Ar
meniern desselben Kreises in gleicher Weise gewickelt. Das Kind wird
erst in ein dreieckiges Tuch geschlagen und dann vom Kopf abwärts bis zu
den Füssen gewickelt; dabei werden natürlich Schultern und Arme nach
vorn gezogen , über der Brust laufen die Bindetouren kreuzweise. Dann
wird das gewickelte Kind mittels zwei bis drei Binden an einer Wiege be
festigt, welche etwa die Gestalt eines flachen Kästchens hat. In dieser Lage
verharrt das arme Kleine oft länger als 24 Stunden . 1) – Das Wickeln der
Kinder dauert bei den Armeniern des Kuban - Districts , den Armawiren
ungebührlich lange, zwei bis drei Jahre.2) -
Die Russen in Astrachan bringen das Neugeborene unmittelbar nach
dem in der Badstube abgehaltenen Bade und den daselbst mit ihm vorge
nommenen Misshandlungen in das Federbett, wo es in Windeln zusammen
geschnürt so versteckt wird, dass es kaum athmen kann. Dr. H. Meyers on ,
welcher dies mit angesehen hat, sagt : „ Angegriffen und erschöpft liegt hier
das Kind viel länger als gewöhnlich , ohne einen Laut von sich zu geben ;
endlich erwacht es, versucht sich zu bewegen , aber die Windeln lassen es
nicht; es strengt seine zarten Kräfte an , wird blauroth , möchte sich mit
aller Gewalt von den ungewohnten Fesseln befreien , aber vergebens." Im
russischen Gouvernement Samara ist die Bekleidung des Säuglings ungleich ;
oft hängt man ihm zu viel um , dann lässt man ihn entblösst auf dem kalten
Fussboden herumkriechen oder selbst in der äusseren kalten Luft. 3) Nach
einem anderen Berichte , welchen ich durch persönliche Befragung einzog ,
ist die nationale Einhüllungsweise des Neugeborenen in Russland und Polen
folgende: Das Kind wird nur mit drei Windeln umgeben , wovon die erste
die Füsse und den Unterleib , die zweite, gleichsam dreieckig zusammenge
legte, den Oberleib mit Ausnahme des Kopfes, endlich die dritte und grösste
den ganzen Leib so umbüllt, dass nur das Gesicht frei bleibt. Hierdurch
wird selbst die Haube entbehrlich .
Die Neugeborenen der Esten werden immer gewickelt , so verlangt
es die alte Sitte und das Vorurtheil; man meint, ohne Wickeln könne kein
Kind gedeihen ! Das mit einem kurzen Hemdchen versehene kleine Wesen
wird in ein viereckiges linnenes Tuch (Windel) geschlagen, darüber wird eine
zweite wollene Windel gethan und beide werden mittels eines Wickelbandes
befestigt, welches man von den Schultern bis zu den Füssen in Zwickel
touren um das Kind schlingt. Selbstverständlich sind dabei die Arme nicht
1) Nach R. Stojanow , Globus. 1880. No. 16 . S. 253.
2 ) Kawkas 1879. S. 62.
3) J. Ucke, Das Klima und die Krankh. d . Stadt Samara. Berlin 1863. S. 87.
2. Hüllen , Binden und Kleider. 37
frei, sondern werden mit ,,eingewickelt.“ Dass das Wickeln irgend welche
nachtheiligen Folgen für das Kind hätte, lässt sich nach Dr. Kreuzwald's
Ausspruch kaum nachweisen , es erscheint nur als eine überflüssige Quälerei,
durch welche das Kind in seinen freien Bewegungen gehemmt wird . ")
In Ungarn werden die Säuglinge unbarmherzig eingebunden . Johann
v . Csa plovics, ) welcher dies berichtet, meint , dass diese unbarmherzige
Behandlung die Ursache davon ist, dass die Kinder so oft schlimm sind und
viel weinen .
In England ist eine verhältnissmässig gute Methode gebräuchlich ; dem
Säugling wird während der ersten Wochen einfach eine Nabelbinde ange
legt, eine dreieckig zusammengefaltete Windel zur Aufnahme der Unreinlich
keit um die Schenkel geschlagen , der Kopf mit einer gestrickten oder Cotton
Haube, der Leib aber mit einem kurzen Hemde, wie es dem Zuschnitte nach
Frauen zu tragen pflegen , bedeckt, und über dieses ein grösserer Flanell
fleck mit einem Bande locker gebunden. 3) In der Welt-Ausstellung des
Jahres 1873 zu Wien sah man im ,,Pavillon des kleinen Kindes “ die von der
englischen Commission zusammengestellten Gegenstände eines englischen
Kinderzimmers, darunter Ausstattung eines Kinderbettes, einer Wiege und
eines Waschtisches mit der dazu gehörenden Wäsche. Nach englischer Art
halten leichte oder dicke Wollstoffe das Kind trocken und warm . Im übri
gen sind die Wäschstücke und Kleidchen des englischen Kindes so einge
richtet, dass die Kleinen in der freien Bewegung der Glieder wenig behin
dert werden . Von den Angelsachsen Altenglands berichtet Wright: Die
Unsitte des Wickelns der Kinder , heute noch an vielen Orten Europa's ge
bräuchlich , reicht bis auf jene Zeit hinauf; bei ihnen lag das Kind gewickelt
in der Wiege. )
Vom römischen Wickelkind legte mir Prof. Grosse (Lehrer der
Maler -Akademie zu Dresden ) eine Skizze vor, die er nach einem Modell auf
der Strasse in Rom aufgenommen hatte. Das Kind ist vollständig in Laken
eingehüllt, die sich auch um den Kopf herumschlagen und nur das Gesicht
frei lassen ; diese Laken werden , nachdem sie von unten her um die Füsse
geschlagen sind, durch breite leinene Binden , die man in 6- oder 7facher
Tour um die Füsse, den ganzen Leib und die Brust des Kindes windet,
gleichmässig zusammengehalten und befestigt.
Auch in Frankreich war zu festes Wickeln allgemeine Unsitte. „ Die
ersten Geschenke," sagt Rousseau sehr wahr, „,die ein Kind von uns erhält ,
sind Fesseln ." Sind etwa die Bänder und Schnüre, die „ Maschen und
Fatschen ,“ wie man die Hüllen in Oesterreich (nach dem lateinischen Worte
Fascia , Band, Binde) nennt, und womit wir das Neugeborene beglücken
zu müssen glauben , etwas Anderes?
die Bedeckungen des Körpers hie und da ein Jäckchen und die Wickelkissen .
Regt es sich aber zu eigenen , selbständigen Bewegungen , so hindert es kein
beengendes Kleidungsstück . Im kurzen , kaum an die Lenden gehenden
Hemdchen sitzt es im Felde, auf dem Rasen oder auf dem Boden der Stube.“
Wenden wir uns aus südlichen Gegenden nach den nordischen Theilen
Deutschlands, so finden wir nach den Berichten , die mir Prof. Hildebrandt
aus Königsberg gab , Folgendes: Das Kind bekommt in Königsberg
und Umgebung ein breites Wickelband über die Nabelgegend, um den Brust
kasten bis unter die Arme gelegt, darüber ein Hemdchen ; sodann schlägt
man um die unteren Extremitäten Fusswindeln . Darüber kommt eine grosse
wollene Windel, die das Ganze einhüllt ( doch seltener). Meist wird hierauf
dem Kinde ein Jäckchen von dickem Zeuge angezogen , und eine wollene
Windel umgelegt, die bis unter die Beckengegend vorn und hinten reicht.
Jacke und Windel werden mit einem sehr langen breiten Wickelbande fest
gehalten . Auf den Kopf kommt ein Mützchen . Goldschmidt ) sagt : ,,Im
nordwestlichen Deutschland wird das Kind gleich nach der Geburt in furcht
bar dicke „ Luren " und Windeln gepackt, die so befestigt werden , dass die
kleine Kreatur kein Glied rühren kann . Ueberdies wird ein dickes hand
breites Wickelband um den Leibstraff angelegt, damit das Kind „ Stän "
(Unterstützung ) hat, „ es würde ja sonst schief werden.“ Die Folge dieses
zu warmen und festen Einpackens der Kinder ist häufig Wundsein .
Die Kindersachen für das Neugeborene, welche schon vor Ankunft des
Kindes die Mutter der jungen Frau anzuschaffen pflegt, bestehen im sieben
bürger Sachsenlande, wie noch fast überall in Deutschland , aus Fol
gendem : Häubchen, Barttüchelchen , Hemdchen, Kleidchen, Windeln (Kotschen )
und Windelbänder (Fatschen ), welche letztere meist aus sogenannten Sälf-*
rindern (Gewandsäumen ) bestehen . Den Schluss der Ausstattung bildet ein
sog. Flanell,2) d . h . die äussere aus weissem wollenen Tuche bestehende
Hülle des Wickelkindes.
In der vom Urgrossvater „ angestorbenen “ Wiege liegt das Kind bei den
siebenbürger sächsischen Bauern an Armen und Beinen mit Kotsch und
Waekelschneâr gefesselt , mit weissem Hemdchen , Brustlazken und Gûpchen
geschmückt, auf dem Kopf das Stêrebûndchen und das reichverzierte Häub
chen , von dem die durchlöcherte, gegen „ Berufen “ schützende Silbermünze
auf die Stirn herabhängt. Später bekommen die kleinen Beine auch Strümpfe
und Schuhe, wenn nicht die Armuth des Hauses diese Luxusartikel wider
räth und die Füsse dann mit linnenen Bundschuhen (Butschker) bekleidet.3)
An Einhüllung und Bekleidung des Kindes knüpft sich in Deutschland
mancher Aberglaube. Der erste Anzug eines neugeborenen Kindes darf
kein neuer sein , weil das Kind in der Folge zu viel Kleider zerreissen würde.4)
Nach Oberpfälzer Glauben kann nicht nur das Kind , sondern auch seine
Wäsche beschrieen werden ; es bedarf dazu nur eines Wortes aus bösem
Munde. Nach dem Gebetläuten lässt man ungern die Kinderwäsche vor dem
Hause hängen , weil sonst das Kind von einem schmerzlichen Leiden , dem
sogenannten Nachtgeschrei heimgesucht wird. Dasselbe gilt von Sonn- und
Feiertagen während des Singads, des gesungenen Amtes ; denn zu dieser
Zeit fliegen weisse Thierchen und vergiften die Wäsche derartig , dass das
Kind am ganzen Körper von Geschwüren heimgesucht wird . Damit der
Sohn, wenn er sich zum Militär stellen muss, sich womöglich frei lose, bindet
ihm die Mutter in der Oberpfalz das Chriaselhemd ( Chrisonhemd), welches
er als Kind trug , um den Hals, denn dadurch soll seine Hand eine glück
liche werden . Mit demselben Hemde, welches schon drei rechtschaffene
Mütter für ihre Knaben gebraucht haben , wird auch das Kind umhüllt, wenn
sich herausstellt, dass es beschrieen ist. Statt dessen tritt wohl auch die
nasse Windel ein , mit dem die Mutter das Gesichtchen des Lieblings abwischt.
In der Umgegend von Königsberg i. Pr. heisst es : Das Kind muss, sowie
es abgenabelt ist, in des Vaters Hemde gewickelt werden , das bringt ihm
Glück , nie jedoch in das der Mutter. In den ersten Stunden nach der Ge
burt soll, wie es daselbst heisst, das Kind eine grünseidene Mütze tragen ,
das bringt ibm Glück (Mittheil. des Prof. Hildebrandt).
Vor der Geburt darf die Mütze des Kindes nicht mit seinen anderen
Kleidern in die Wiege gelegt werden , sondern man muss sie an die Wand
hängen und die Hebamme muss hinein blasen , so heisst es in Mecklenburg .
ACHTZEHNTES KAPITEL .
1) Illustrationen zu diesem Kapitel siehe in dem unter dem Titel „ Das kleine Kind vom Tragbett
bis zum ersten Schritt" im gleichen Verlag erschienenen Buche des Verfassers.
2 ) Deleutre , Geschichte der Kunst. Aus d . Franz. Leipzig . S. 175.
Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes. 41
„ Man hat noch nie darauf hingewiesen , dass die griechische Kunst die
Mutter mit dem Kinde gar nicht kennt. Man suche in seinen Erinnerungen
und frage sich , ob irgend eine Statue, irgend ein Basrelief des Alterthums,
des griechischen wie des römischen , die Frau und ihre Frucht darstellt, die
Liebe und die Verbindung der Mutter und des Kindes verherrlicht.“
Nachdem Deleutre ferner hervorgehoben , dass die antike Kunst die Kinder
immerdar nur isolirt dargestellt hat, und dass die Mutterschaft in der antiken
Welt überhaupt ausserordentlich wenig Bedeutung hatte , fährt er weiterhin
fort : „ Noch mehr; suchen wir in der antiken Kunst , ob es ein Beispiel
eines Kindes giebt, das mit einer anderen Figur verbunden ist! Ja, es giebt
in der griechischen Kunst und in einer ihrer schönsten Gruppen ein Bei
spiel: den Faun mit dem Kinde. Der Faun trägt das Kind auf beiden Hän
den . Auf diese Idee würde ein Moderner nie gekommen sein . Ein Kind
muss mit der Mutter verbunden sein , wie die Frucht mit dem Baume. Ein
Kind auf den Armen eines Mannes ist wie eine Frucht , die zur Erde ge
fallen und in einen Korb geworfen ist. Und der Kinderträger der grie
chischen Kunst ist nicht einmal ein Mann , sondern ein Mischlingsgeschöpf,
das die zottigen Kennzeichen der Thierheit auf dem Rücken trägt. Welche
Verachtung des Kindes und welche Verachtung der Frau !"
Ich muss hinzufügen , dass es nicht blos solche antike Statuen giebt,
wo der Faun das Kind auf beiden Händen trägt, sondern auch solche, wo
er es auf seinem Nacken reiten lässt, z . B. im Museo Borbonico .
Auch weiterhin scheint mir die Behauptung Deleutre's durchaus nicht
zutreffend zu sein . Denn es giebt noch so manche andere Statuen der
Griechen , welche männliche Personen als Träger eines Kindes darstellen .
Eine prächtige Schöpfung des Praxiteles: Hermes, der das Knäblein Dionysos
auf dem linken Arme trägt, wurde allerdings erst am 8. Mai des Jahres 1877
zu Olympia ausgegraben , und Deleutre kannte sie also noch nicht. Allein
nicht bloss männliche, sondern auch weibliche kindertragende Figuren be
sitzen wir aus altgriechischer Zeit. So befindet sich in München eine von
Kephisodotos gefertigte Statue , Eirene, eine der Horen, welche das Plutos-Kind
auf dem Arme hat. Doch muss man freilich beachten , dass auch hier nicht das
Verhältniss zwischen Mutter undKind, nur dasjenige zwischen Wärterin und Pfleg
ling zur Darstellung gelangt. Auch kommt hier nur eine Allegorie zum Ausdruck :
Die Göttin des Friedens trägt den jungen Reichthum . Und unter den übrigen
Götterbildnissen der Griechen treten eigentlich nur als Mutter und Kind die
Aphrodite mit Eros auf; doch steht oder ruht bei allen diesen Darstellungen
der Liebesgott in der Regel nur neben seiner Mutter. Dagegen existirt ein
berühmtes Kunstwerk aus altgriechischer Zeit, das, wenn auch nur auf mo
derne Weise , in sinniger Gruppirung das Verhältniss zwischen Mutter und
Kind zur Anschauung bringt, und welches der Kenntniss Deleutre's offen
bar entgangen ist. Ich meine das unter dem Namen der Leukothea be
kannte Relief der Villa Albani. Auf einem Sessel ist eine Frau dargestellt,
die ein auf ihrem Schoosse stehendes Kindes in den Armen hält ; letzteres streckt
42 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
die Rechte gegen die Sitzende aus, während eine andere weibliche Gestalt
einen nicht deutlich zu erkennenden Gegenstand dem Kindchen darbringt.
Dies Relief stammt offenbar aus einer frühen Periode altgriechischer Kunst
und wurde schon mehrfach , unter anderm in W. Lübke's Geschichte der
Plastik copirt. Es ist aber nicht nur in kunstgeschichtlicher Hinsicht, son
dern auch insofern wichtig , als es ein Zeugniss dafür ablegt, dass die
Griechen ihren Kunstsinn keineswegs gegen eine innige Auffassung der
mütterlichen Freude und Liebe zum Kinde verschlossen hielten, wie Deleutre
behauptet.
„ Bei den Römern ,“ sagt der eben genannte Kunstschriftsteller weiter, „ giebt
es auch eine Geburt, ein Stillen , eine Erziehung, auf den Monumenten in
Marmor und Stein und auch auf den Denkmünzen dargestellt: Es ist die
Geburt des Romulus und Remus ; die Mutter, die Amme ist eine Wölfin .“
Nachdem Deleutre nun noch den Versuch zurückgewiesen hat, sich auf die
Liebesgötter und auf die Gruppe von Venus und Amor zu berufen , da hier
Amor nicht als Sohn , sondern vielmehr als Attribut der Venus auftritt, hebt
er hervor, dass man lediglich dem Christenthum zu verdanken hat, dass in
der Kunst das Verhältniss zwischen Mutter und Kind zum Ausdruck ge
langt : die jungfräuliche Mutter mit dem Kinde. Wir müssen uns freilich
daran erinnern , dass wir von der antiken römischen Kunst nur einen kleinen
Theil besitzen ; der grössere Theil ist theils zerstört , theils noch im Schutt
vergraben , uns demnach noch unbekannt. Daher kann jeder Tag bei Aus
grabungen neue Thatsachen liefern, die vielleicht recht wohl bekunden , dass
auch die Römer Kunstwerke mit Hinweis auf die schöneren Beziehungen
zwischen Mutter und Kind schufen . So berichtete auch schon im Jahre 1879 die
städtische Alterthumscommission in Rom , dass man im Laufe dieses Jahres
bei den Erweiterungsbauten auf der Via Tiburtina in einer die Vigna Venturi
abschliessenden Mauer eingemauerte Fragmente von Statuen entdeckte , unter
welchen sich auch solche bekleideter Frauen befanden , die dem Kinde die
Brust reichen . Es ist also , wie ich meine, nicht die christliche Kunst, welche
gerade diesem Gegenstande sich zuerst zuwendete ; wohl aber hat sie ihm
zuerst die höchste Sinnigkeit abgewonnen. Denn in den Madonnenbildern,
welche die liebreizende Beziehung zwischen Jungfrau Maria und Christuskind
darstellen , kommt das Motiv der mütterlichen Pflegerin in idealer Anmuth
zur Erscheinung, wie allerdings nie zuvor .
Sollte man aber wirklich daran zweifeln dürfen , dass den Griechen
und Römern der ästhetische Hochgenuss so ganz unbekannt geblieben sei,
der im Anblick und in der Würdigung einer innigen Vereinigung von Mutter
und Kind liegt ? Sollte man ernstlich behaupten können , jenes Gefühl der
zarten Mutterliebe sei noch nicht recht in dem Volksbewusstsein der antiken
Völker zur lebendigen Aeusserung gekommen , denn sonst hätten ihre Künstler
es wohl häufiger zur Aufgabe gemacht, das zärtliche Verhältniss zwischen
Mutter und Kind in ihren Kunstschöpfungen zum bildlichen Ausdruck und
zur Darstellung zu bringen ? Wir dürfen doch nicht verkennen , dass selbst
Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes. 43
bei rohen Naturvölkern , sogar bei denjenigen , welche gar häufig neugeborene
Kinder ohne Weiteres tödten oder aussetzen , die liebevolle Beziehung zwischen
der Mutter und denjenigen Kindern , deren sie sich nicht sofort entledigt
haben , in allgemeiner Achtung steht. Mehrere Züge in Sitte und Brauch
der Urvölker liefern offenbar den Beweis, dass ihnen Werth und Bedeutung
der Mutter- und Kindesliebe keineswegs völlig unbekannt ist, wenn auch
äusserlich die Anerkennung dieses Werthes nicht so bewusst wie bei uns
zum Ausdruck gelangt.
Den Naturvölkern ist es eben noch nicht zum Bedürfniss geworden ,
einer solchen Anerkennung lauten Ausdruck zu geben . So hat sich auch
ergeben , dass manche Naturvölker einen sprachlichen Ausdruck für gewisse
Farben nicht besitzen , obgleich ihrem Auge die sinnliche Erkenntniss der
selben nicht mangelt. Und ebenso richtete sich der ästhetische Sinn der
antiken Culturvölker für die höheren Aufgaben der Kunst nach ganz anderer
Richtung hin , als die ist, auf welche uns der Geist der neuen Zeit hinweist.
Mit der Behauptung, dass irgend einem Volke der Sinn und die Würdigung
für eine gewisse Erscheinung fehle , weil es den rechten Ausdruck dafür noch
nicht gefunden , müssen wir recht vorsichtig sein. Eine Thatsache weist uns
jedoch darauf hin , wie sehr wir uns in unseren Anschauungen und künst
lerischen Neigungen von den antiken Völkern unterscheiden .
Es wurde einmal behauptet, dass den antiken Culturvölkern wohl
schwerlich schon der geistige Sinn für die hohen Schönheiten der grossen
Bergpartien erschlossen gewesen sei, da in ihrer Literatur sich wenig oder
keine poetische Beschreibung und Schilderung solcher Gegenden finden , wie
sie beispielsweise die Alpen darbieten . Und in der That lässt sich im All
gemeinen , wie Karl Wörmann (in Woltmann's Geschichte der Malerei)
schreibt, in den landschaftlichen Motiven der Pompejanischen Wand
malereien ein auf das Leichte, Heitere, Anmuthige gerichteter Charakter
deutlich erkennen , während die einsame, wilde, grossartige Natur hier nicht
dargestellt wird. So war den Alten für landschaftliche Schönheiten gewiss
mehr die Idylle das Ideal; und als Vorwurf für die Plastik wählten sie vor
zugsweise heroische und mythologische Motive . Diese Motive aber gaben
ihnen keine Gelegenheit, das zarte Verhältniss „ Mutter und Kind“ künstlerisch
zur Darstellung zu bringen , wie uns, den christlichen Völkern , die Madonnen
bilder von jeher gegeben haben . Durch die Mittheilungen der antiken
Schriſtsteller erhielten wir auch ziemlich genaue Kenntniss von den Gegen
ständen , mit welchen sich die darstellende Kunst der berühmten griechischen
Maler , wie Polygnotos, Agatharchos , Appollodoros, Zeuxis , Parrhasios,
Timanthes und Andere beschäftigt hat. Nicht bloss die Mythe und die
Heldensage, sondern auch Scenen aus dem Volke fand man in ihren Bildern
dargestellt; doch berichtet man nirgends von einer ganz einfach die mütter
liche Kindespflege verherrlichenden Darstellung. Denn wenn Parrhasios ein
Bild malte : „ Eine thrakische Amme, die ein Kind auf dem Arme trägt“ und
wenn in Aristides ' Gemälde, welches die Eroberung einer Stadt vorführte ,
44 Das Legen, Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes .
ein Kind dargestellt wurde, welches zum Schrecken der an einer Wunde
sterbenden Mutter nach deren Brust verlangt, so sind das doch Momente ,
welche die ethischen Beziehungen der „Mutterliebe" nicht in dem von uns
angedeuteten Sinne zur Anschauung bringen .
Ich gehe in meinen Behauptungen weiter, denn ich meine, dass die
Madonna eines jeden Volkes im Bilde nicht bloss die charakteristischen
nationalen Kennzeichen in ihrem Aeusseren zeigen wird , sondern dass sich
auch in der Art, wie sie ihr Kind hält und trägt, die besonderen Merkmale
des eigenthümlichen Volksgebrauchs bemerklich machen werden . Die künst
lerische Verbindung des Kindes mit der Mutter zu einer Gruppe wird nämlich
bei jedem Volke anders ausfallen , und auch in dieser typischen Verbindungs
weise, d . h . in der Art, wie das Kind im Arme gehalten wird oder aufdem
Schoosse ruht oder steht, muss sich die unwillkürlich zur Richtschnur ge
nommene Sitte des Volkes aussprechen . Würde wohl jemals ein Hotten
tottenkünstler, vorausgesetzt, dass die Hottentotten sich der christlichen
bildenden Kunst befleissigen wollten , eine solche Madonna zu schaffen im
Stande sein , wie Raphael, Murillo oder Holbein ? Ich unterlasse es , weiter
zu untersuchen, ob in diesem Falle das Jesuskindlein ebenso wie die Kinder
bei manchen Hottentottenstämmen auf dem Rücken der Mutter getragen
würde.
Da die Kunst die Aufgabe hat, das Schöne zur Darstellung zu bringen ,
so fragt es sich zunächst: Was ist das ewig Schöne und Ideale hinsichtlich
des Haltens und Tragens der Kinder ? Die Antwort liegt in den Worten :
Nur das hygieinisch Richtige und Zweckmässige darf als schön gelten . So
ist denn nur dasjenige Volk im Stande, wahrhaft schöne Gruppen von Mutter
und Kind zu liefern, welches die Forderungen der Hygieine hinsichtlich des
Haltens und Tragens der Kinder vollkommen erkannt und begriffen hat.
Und auf der anderen Seite kann man die Culturstufe, auf welcher ein Volk
steht, darnach bemessen , wie weit es in dieser Erkenntniss vorgeschritten ist.
Demnach wird es denn theils in culturhistorischer, theils in hygieinischer,
theils auch in ästhetischer Hinsicht von Interesse sein , die Sitten der Völker
in Bezug auf die Art, wie man bei ihnen die Kinder legt, trägt, wiegt u . s. w .,
einer näheren Untersuchung zu unterwerfen .
Bevor wir jedoch an diese Untersuchung herantreten , gedenken wir der
besonderen physiologischen Organisation des Kindes. In seinen frühesten
Entwickelungsstufen empfängt dasselbe nur eine unverbundene Reihe von
Sinneseindrücken , ohne sie geistig verarbeiten zu können , und den Gebrauch
der Bewegungsorgane lernt es erst sehr langsam kennen . Das Kind ist ein
fast unbewusstes Individuum . Dieser Zustand der grössten Unselbständigkeit
macht die mütterliche Pflege so recht bedeutsam .
Kein organisches Wesen kommt in so hülfsbedürftigem Zustand zur
Welt wie der Mensch . Das neugeborene Kind kann durchaus nichts durch
sich oder für sich selbst thun . Betrachten wir dagegen das Hühnchen , das
soeben aus dem Ei geschlüpft ist. Es schaut sich sofort nach allen Rich
Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes. 45
tungen in der Welt um , folgt auf flinken Beinen dem lockenden Rufe der
Mutter, sucht und findet unter Leitung derselben bald seine Nahrung ; es
begiebt sich selbst, wenn es friert, an die wärmende Brust der Mutter und
flieht unter den Flügel derselben, wenn Gefahren drohen . Dagegen kann
das Kind noch längere Zeit, nachdem es das Licht der Welt erblickte,
weder Kopf noch Rumpf heben . Monate lang ist es lediglich darauf ange
wiesen , zu liegen . Einer der besten Kenner der Bedürfnisse des Kindes und
ein guter Lehrmeister der Mütter, Dr. von Ammon , macht letztere in seiner
Schrift „ Die Mutterpflichten," recht treffend darauf aufmerksam , wie das
Kind Anfangs ausser Nahrung, Wärme und Ruhe nur eine zweckmässige
Lagerung verlangt. „ Die einzigen Bewegungen des Neugeborenen sind leich
tes Hin- und Herwerfen der Arme und Beine; diese haben durchaus nicht
ihre später ausgebildete Gestalt. Alle neugeborenen Kinder sind mehr oder
weniger krumm- oder säbelbeinig und stemmen desbalb sehr gern , wenn sie
nackt sind, beim Baden, ihre Fusssohlen gegeneinander. Gewöhnlich erst
nach dem fünften Monate gelangt das Kind zu der Kraft , den Kopf gerade
zu halten und eine sitzende Stellung anzunehmen . Diese Beobachtung führt
zu der wichtigen Bemerkung, dass Mütter und Wärterinnen ja nicht zu früh
das Kind an eine sitzende Stellung gewöhnen dürfen , sondern es auf seinen
Betten oder Decken liegend umhertragen ."
Wir sehen , dass uns hier sofort gesundheitliche Rücksichten entgegen
treten . Was der kindliche Organismus für sein Wohl verlangt, lässt sich
bei einfacher Betrachtung seines körperlichen Zustandes und bei ruhiger
Ueberlegung von einer verständigen Mutter gewiss recht leicht finden . Die
beste Ruhestätte des Kindes ist der Mutterschooss. Auf den Armen , an der
Brust der Mutter ruht das Kind am süssesten , schläft es am liebsten und
daher am ruhigsten . Die Natur weist uns auf diese Betrachtungen ganz von
selbst hin und ist für diesen Theil der Kindespflege ohne Zweifel die beste
Lehrmeisterin .
Allein die Mutter kann sich ihrem Sprössling nicht allein widmen . Sie
ist auch Hausfrau und muss ihre Liebe unter die Kinder theilen . Um An
deres zu besorgen , muss sie ihre Sorgfalt zu Zeiten dem Säugling entziehen .
Da legt sie denn das Kind von sich , wählt ihm einen passenden Ruheplatz
und stattet denselben so aus , wie sie es für das Bedürfniss des Kindes am
zweckmässigsten hält. Was geschieht ? Da ist das Plätzchen in der Stube,
das man wählt, bald zu hell und sonnig , bald zu finster , zu dumpfig ; das
Lager, dicke Federbetten u . s. w ., zu warm ; und soll man dem Kinde ein
Bett oder eine Wiege geben ? soll man es schaukeln , damit es ruhig ein
schläft? Das Alles sind Fragen , die im Volke auf mannigfache Weise be
antwortet werden , und bei welchen althergebrachte Gewohnheiten und Ge
bräuche vor Allem so maassgebend sind, dass der Arzt hierbei nur allzuoft
auf recht grosse Uebelstände stösst, die dem Kinde Nachtheil bringen . Für
das gesundheitliche Wohl des letzteren sind die hier zu berührenden Ange
legenheiten von schwerwiegender Bedeutung. Und so fühlen wir uns denn
46 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
darauf hingewiesen , dass mit den wachsenden geistigen Schätzen die Herr
schaft des Menschen über die Natur immer grösser, seine Abhängigkeit von
den örtlichen Verhältnissen immer geringer werde. So wird in der That bei
Culturvölkern dem zarten Kinde mit grösserem Erfolge für seine Hygieine
eine Reihe von Hülfsmitteln geboten , die ihm Unabhängigkeit und Schutz
gegen äussere Einflüsse sichern .
Nicht minder ist dann auch die Frage von Bedeutung , wie sich die
Frauen unter gegebenen Verhältnissen zu helfen wissen , wie sinnreich mit
unter die Aushülfemittel sind , deren sie sich zum Besten ihres Kindes be
dienen . Hier kommen neben den rein
schliesslich neben anthropologischen
Gesichtspunkten häufig auch gewisse ethische Anschauungen zur Geltung ,
denen wir unsere Aufmerksamkeit nicht versagen wollen . Gerade auf
diesem Gebiete geben sich recht deutliche Zeichen des Gefühlslebens im
Volke kund.
Culturgeschichte und Hygieine sind innig mit einander verwandt. Der
Mensch ist, wie wir soeben andeuteten , namentlich in dem von ihm einzu
schlagenden hygieinischen Verfahren zunächst von der eigenthümlichen Be
schaffenheit der ihn umgehenden Natur abhängig . So wählten denn auch
die Mütter eines jeden Volkes die Mittel zur Pflege des Kindes nicht blos
nach dem jedesmaligen Zustande ihrer Erkenntniss , sondern auch je nach
der Leichtigkeit, mit welcher sie sich in Besitz der Mittel zur Befriedigung
der hygieinischen Bedürfnisse des Kindes zu setzen vermochten .
Das Klima gebietet einerseits gewisse Vorsichtsmaassregeln und bietet
andererseits nur einen gewissen Kreis von Schutzmitteln dar ; dazu kommt
noch in jedem Falle die Eigenthümlichkeit der gewählten Lebensweise des
Bauern-, Jäger- oder Nomadenvolkes , welches dem Kinde und seiner Pflege
mehr oder minder Rücksickt gewähren kann oder will.
In heissen Klimaten wird das Kind wenig oder gar nicht eingehüllt auf
Matten oder auf den nackten Boden gelegt, und nackt auf den Armen oder
Schultern der Mutter herumgetragen . Als ein rechtes Beispiel füt die Volks
sitte des heissen Afrika führen wir einen Bericht über die Zulu -Kaffern an,
die hier als Vertreter der übrigen Nigritier - Völker gelten können : „Kaum
geboren werden die Kinder nach dem ersten Baden in Flusswasser auf die
Strohmatte oder ein weiches Fell niedergesetzt und nach dem Princip
,Hilf dir selbst da sich selbst überlassen , um ihre Lungen ausdehnen und
ihre kleinen runden Gliedmaassen nach Herzenslust recken und strecken zu
können . Rund, glatt und fett mit krausem Kopfe, lernen die kleinen Kobolde
bald laufen und werden nicht viel mit Kleidern geplagt. Nur in kalten
Jahreszeiten bekommen sie einen Kaross , d . i. eine wollene oder Pelzdecke
zum Umhängen . Uebrigens fühlen sich die Mütter nicht belästigt durch die
Ernährung und Erziehung derselben . Auf dem Rücken festgebunden , oder
nach altherkömmlicher Weise auf der Hüfte tragen sie dieselben , bis sie
laufen können. Bei der Haus- und Feldarbeit baben sie ihre Kinder bei
sich , abwechselnd dieselben liebkosend, nährend , abwehrend und dann wieder
n n s
Das Legen , Trage und Wiege , Gehen , Stehen und Sitzen des Kinde .
48
arbeitend Alles in der warmen , freien , frischen Luft unter dem tiefblauen
südafrikanischen Himmel.“ 1)
In kalten Zonen , wo die Mütter ihre Kinder warm einwickeln , dient der
Umhüllungsapparat oft gleichzeitig als Wiege oder als Mittel zum leichteren
Transport. In diesen Apparaten zum bequemeren Transportiren und Tragen
des Kindes sind aber vor Allem nomadisirende und wandernde Völker höchst
erfinderisch . Auch hier wiederum führen wir ein Volk als Beispiel vor , die
Tungusen , die sich ausschliesslich von der Jagd und dem Fischfange nähren
und gezwungen sind , in den kalten und rauhen Gegenden Asiens ein voll
ständiges Wanderleben zu führen , indem sie bald dem Zobelfange, bald dem
Fischfange nachgehen , oder mit ihren Rennthieren neue Weideplätze auf
suchen : „ Um sich an dem mit anderen Familien verabredeten Orte einzu
stellen , packt die Tungusin die tragbare Jurte und alle Habe auf Renn
und Schlitten und begiebt sich mit ihrer Familie auf den Weg . Die jünge
ren Kinder werden mit der Wiege an den Sattel der Rennthiere gebunden ,
Säuglinge aber behält die Mutter in Fell gewickelt bei sich . Bei sehr stren
gem Froste wandert man der kleinen Kinder wegen nicht, sondern rastet
dann gewöhnlich in kleinen Blockhäusern, welche häufig in den Wäldern
aus runden , stehenden Balken aufgerichtet sind, ohne beständig bewohnt
zu werden . “ 2)
Je nach örtlichen Verhältnissen werden allerdings die Bräuche an
derer Völker sich von den hier angeführten unterscheiden . Immerhin ist es
aber Erfahrungssatz, dass stets fast nur Eine Methode des Tragens, Legens
und Wiegens bei einem jeden Volke die herrschende ist. Für uns fragt es
sich nun, ob die herrschenden Methoden auch wirklich den gegebenen Ver
hältnissen gemäss als rationell zu betrachten sind ?
Man beruft sich gern bei Beantwortung solcher Fragen auf die soge
nannte „ Stimme der Natur,“ auf den Instinct. Die Thatsache, dass jedem
Thiere gleichsam eine naturgemässe Sitte in diesen Dingen eigen ist, lässt
sich nicht ableugnen . Bei Affen und Fledermäusen hängt das jüngste Thier
an der Vorderseite der Mutter, indem es mit allen Vieren Brust und Unter
leib derselben umklammert; andere Thiere zeigen wieder andere Gewohn
heiten . Die Lemuren (Halbaffen ) machen den Uebergang von den Affen zu
den übrigen Säugethieren und zeigen dies unter Anderem auch in der Be
handlungsweise des Kindes : während die Weibchen der höher entwickelten
Gattungen der Lemuren , die eigentlichen Lemuren , ihre Jungen stets auf
dem Rücken oder an der Brust tragen , so dass denselben die beiden allein
vorhandenen Brustwarzen leicht erreichbar sind, legen die niedriger stehen
den Arten ihre Jungen in Baumlöcher – so die Arten Lepilemur und Chiro
galeus oder in wirkliche Nester, z. B. die Microcebus. Diesen letzteren
zunächst steht dann der nestbauende Aye-Aye (Chiromys madagariensis).
1) Dr. med. M. Kranz, Natur- und Culturleben des Zulu's nach vieljährigen Beobachtungen.
Wiesbaden 1880. S. 72 .
2) Middendorff, Reise VI. S. 1560 . E. Hiekisch , Die Tungusen. Eine ethnologische Mo
nographie. St. Petersburg. 1879. S. 80.
Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes. 49
1. Das Legen .
stande zu , dass in denselben die Kinder fast immer liegen . ) Dies sei für
die Mortalität der Säuglinge erheblicher , und fordere mehr Opfer als Ueber
füllung der Räume mit Menschen , künstliche Ernährung der Säuglinge und
schlechte Beschaffenheit des Blutes bei denselben . Hervieux behauptet,
dass von den in der angedeuteten Art vernachlässigten Kindern etwa fünf
undsiebenzig Procent zu Grunde gehen , und zwar ganz eigentlich durch
Kälte und Hunger; denn indem diese unglücklichen Geschöpfe elf Zwölftheile
der Zeit in horizontaler Lage zubrächten , sinke wegen Mangels an Bewegung
die Temperatur des Körpers, der Kreislauf verlangsame sich , die Glied
maassen kälteten aus, die Athmung erfahre Beeinträchtigung , das Zellgewebe
verhärte , das Blut stocke in den bedeutungsvollsten Organen und dies be
dinge Ergüsse und führe den Tod herbei.
Die einfachste Lagerungsstätte für ganz kleine Kinder mag wohl, wie
im Orient , die auf dem Boden liegende Matratze sein . Allein es stellten
sich bei uns auch gewisse einfache Apparate und Möbel ein , in welche man ,
wie an einer mehr vor Luft und Licht geschützten Stelle , den zarten Säug
ling bergen konnte . Vorzugsweise ist in manchen Gegenden als primitives
Kinderbett der auch einst vom Wiener Kinderarzte Gölis angelegentlich
empfohlene Flechtenkorb beliebt. Derselbe hat jedoch , wie schon Mauthner
hervorhob , das Nachtheilige , dass er nur für ganz kleine Kinder geeignet
ist, dass das Kind zu tief darin liegt, dass man ihn schwer rein halten , ins
besondere wenig vor Ungeziefer schützen kann, und dass das Kind , sobald
der Korb auf dem Boden stehen bleibt, in der untersten , doch ziemlich
schlechten Luftschicht des Zimmers zubringt. Bequem für die Abwartung
des Kindes ist dieser Flechtenkorb auch insofern nicht, als man sich bei
jeder Hilfeleistung bücken muss .
Frägt man schliesslich ärztliche Autoritäten nach der zweckmässigsten
Lagerungsstätte in unseren Kinderstuben , so verweisen sie uns auf den Ge
brauch entweder des Korbbettes mit feststehenden Füssen oder des Kinder
bettes mit beweglichen Seitenwänden . Jedes Korbbett hat im Allgemeinen
die Gestalt des Kinderwagens, nur ruht es statt auf Rädern auf festen Füssen .
Vermittels Ringe, welche an allen vier Seiten des aus Weidenruthen ge
flochtenen Korbes angebracht sind , lässt der letztere sich leicht von dem
Fussgestell abheben . Als Vortheil ist dabei hier hervorzuheben , wie leicht
das Ganze in ein anderes Zimmer oder an eine andere Stelle der Stube zu
transportiren ist; denn das Korbgeflecht ist nicht schwer und das Fussgestell
besteht aus weichem Holz . Ein auf- und abwärts schlagendes Verdeck er
möglicht zugleich den Schutz vor Sonne und Insecten . An Stelle dieses
Korbbettes wird sehr oft ein einfacher viereckiger oder ovaler flacher
Korb benutzt, der auf Stühlen steht und an Handgriffen weggehoben werden
kann. Allein mehrere Kinderärzte , unter Anderen Dr. Livius Fürsta) in
1) „ De l'abus de la position horizontale dans l'hospice des enfants-trouvés et de son influence sur
la mortalité des nouveaux-nés." Paris . 1852.
2) „ Das Kind und seine Pflege im gesunden und kranken Zustande." Mit 58 in den Text ge
druckten Abbildungen. Leipzig , J. J. Weber. 1876 .
1. Das Legen . 53
Leipzig , warnen mit Recht: „ Sicher ist die Stellung eines solchen Korbes
auf Stühlen nicht, und ebenso unstatthaft das Hinstellen eines solchen auf
den Erdboden , dessen Luftschicht nicht selten die ungünstigste ist;“ doch
genügt natürlich ein solcher Korb auf sicherer Unterlage für die meisten
Fälle.
Am vollkommensten , wenn auch nicht so leicht transportabel wie das
Korbbett, ist das Kinderbett mit beweglichen Seitenwänden . Man hat der
gleichen Bettstellen theils von Holz, theils von Eisen construirt; letzteres
zieht man deshalb vor , weil sich nie Ungeziefer (Wanzen ) in ihm ansiedelt;
allein es hat den Nachtheil, dass es das Kind leicht erkältet. Daher ist das
Holz, wenn es nur reinlich gehalten wird , empfehlenswerther für diesen
Zweck . Ein solches Kinderbett hat eine hohe Brüstung, die noch durch
eine Galerie verticaler Stäbchen wesentlich erhöht wird . Diese Galerie ist
an den beiden Längsseiten so eingerichtet, dass sie leicht entweder aus einem
Falze , in den sie eingelassen ist, herausgehoben werden kann , oder
dass sie losgehackt und heruntergeschlagen werden kann. Auf diese
Weise ist es möglich , das Hineinlegen und Herausnehmen des Kindes zu be
wirken , während andererseits , sobald die Längsseiten geschlossen sind, das
Kind wachend oder schlafend , zeitweise ruhig sich selbst überlassen werden
kann . Ein Herausfallen ist auch dann nichtmöglich , wenn das Kind bereits
steht, so dass ein solches Bett bis ins dritte oder vierte Jahr benutzt werden
kann .
Schliesslich wird am meisten davor zu warnen sein , das Kind durch
Einhüllen in Federbetten zu sehr zu verwöhnen . Am besten legt man es,
sobald es dem Steckbett entwachsen ist, auf eine Rosshaar - Matratze , den
Oberkörper erhöht man mittels eines Rosshaar -Keilkissens; eine Stepp- oder
Friesdecke breite man dann über das Kind aus. Wo das Kind durch eine solche
einfache Zudecke nicht genügend erwärmt wird , ist zu rathen , mehrere
solcher Friesdecken übereinander zu legen , anstatt sogleich zu den ver
weichlichenden Federbetten seine Zuflucht zu nehmen . Statt der Rosshaare
kann man in die Matratze auch Indiafaser und Seegras füllen.
Unsere Vorfahren , die Germanen , konnten freilich bei ihrer harten
Lebensweise dem jugendlichen Nachwuchs keine solche Rücksichten schenken .
Ihre Behandlungsweise des Kindes glich in vieler Hinsicht dem Verfahren
jetzt lebender Naturvölker . Sobald bei den alten Deutschen das Kind das
erste Mal gebadet war, so wurde es in Thierfelle, in späterer Zeit in Tücher
gehüllt oder blieb , wie bei den Armen der Bevölkerung , ganz nackt auf dem
bereiteten Lager liegen (Weinhold ). Mochte nun hierbei manches Kindes
leben zu Grunde gehen, so wurde doch ohne Zweifel ein Geschlecht erzogen ,
das äusserst kräftig und widerstandsfähig war .
Die jetzige Generation ist allerdings nicht mehr so widerstandsfähig gegen
Erkältung ; und dieser Thatsache muss man wohl in der Kindespflege, ins
besondere in der Lagerungsweise Rechnung tragen . Die Erscheinung ist ja
constatirt, dass kleine Kinder sich nicht so sehr bei Tage und im Freien
54 Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
erkälten , wo sie entsprechend gekleidet sind , als vielmehr bei Nacht in der
Kinderstube. Die oft viel zu sehr mit Federbetten zugedeckten Kinder ge
rathen in Schweiss, werden unruhig und entledigen sich , halb unbewusst,
der ihnen lästigen Deckbetten. Diesem lästigen „ Aufdecken “ wird die Ent
stehung nicht weniger Krankheiten zugeschrieben. Unverdrossen steht viel
leicht die Mutter oder die Wärterin auf, um dem Kinde die schützende Decke
wiederzugeben , allein umsonst ; nach kurzer Zeit liegt das Kind wieder bloss.
Daher ist eine neue Form von Kinderbett sehr willkommen , da es Ab
hülfe zu schaffen scheint.
Herr Carl Schmidt in Berlin , der Erfinder eines praktischen , neuen
Kinderbettes, empfiehlt dasselbe mit den folgenden Worten : „ Dieses Kinder
bett ist dem bisherigen gewöhnlichen entschieden vorzuziehen , da es der Ge
sundheit förderlicher ist und die allgemein beklagten Uebelstände, wie nächt
liches Blossliegen, zu übermässige Wärme des Kindes etc. verhütet und be
seitigt. Das Kind kann sich ausserdem in diesem Bett freier und besser
bewegen , ferner weit besser auswswachsen, weil es fortwährend einen festen
Stützpunkt unter den Füssen und einen Halt im Oberkörper hat und liegt
trotzdem viel sicherer, da es ohne fremde Hülfe keine Manipulationen zu
machen im Stande ist, durch welche es aus diesem Bett stürzen könnte .
Ein Entblössen Seitens des Kindes im wachenden wie im schlafenden Zu
stande ist nicht möglich , es kann daher jede Mutter ohne Besorgniss wäh
rend der Nacht ruhig schlafen , denn das Kind ist vor jeder Erkältung ge
schützt. Besonders wesentlich ist ausserdem , dass das Kind in diesem Bette
nur seine normale Wärme behält und dass die Händchen frei bleiben müssen ,
also nicht an den Körper angelegt werden können , was bekanntlich eine
schlechte Angewohnheit ist. Bei allen diesen wichtigen , für die Gesundheit
des Kindes so enormen Vortheilen ist und kann dies Kinderbett weit elegan
ter gehalten werden, macht weniger Mühe und dient zugleich als ein Schmuck
stückchen im Schlafzimmer. Der innere Raum dieses Bettes ist je nach der
Grösse des Kindes stellbar und hierdurch für jedes Alter zu benutzen .“ U. s. w .
Wir können bei unserer bis zur Ueberfeinerung vorgeschrittenen Cultur
für die naturgemässe Lebensweise, so auch für die Kindespflege noch so
Manches von den sogenannten „,wilden " Völkerschaften lernen , wenn auch
nur mit grösster Auswahl, insbesondere nicht auf dem Wege der Nach
ahmung , welchen unter Anderen J. J. Rousseau empfahl. Der Contrast,
der hinsichtlich der Lagerungsweise der Kinder zwischen den civilisirten
Völkern Europa's und den Indianern Nordamerika's stattfindet, war vor Allem
dem Engländer George Catlin recht auffällig ; er ermangelte nicht, uns in
seinem Schriftchen : „ Shut your mouth !" (Mund zu !) in Bildern diese Gegen
sätze vor Augen zu führen , zugleich aber auch uns die Indianerweise als
Muster zu empfehlen . ) Catlin , erst Jurist, dann Maler , litt an Brustbe
1) Die Schrift erschien auch deutsch u. d. T.: „Geschlossener Mund erhält gesund" von G. Catlin;
nach der 4. Auflage des engl. Originals übersetzt von Dr. E. F.Flachs; mit Vorwort von H.E.Rich
ter und 29 Hlustrationen des Verfassers. Leipzig . 1870.
1. Das Legen: 55
schwerden und Blutauswurf; nachdem er bis in sein 34. Lebensjahr als Städter
eine sitzende Lebensweise geführt, begab er sich in die Urwälder von Nord
amerika, campirte viel unter freiem Himmel und verkehrte dabei mit den
Indianern. Da lernte er deren eigenthümliche Behandlung der Kinder kennen ;
letztere werden auf ein Brett mit gerad ausgestrecktem Körper gebunden,
wärend der Kopf durch eine Unterlage so weit erhöht wird , dass das Kinn
im Schlafe nicht herabsinken kann, vielmehr die Lippen des Mundes ge
schlossen bleiben müssen . Darin fand nun Catlin den Hauptvorzug der
Kinderlagerung , à l'Indienne,“ denn er meinte, dass schon das zur Gewohn
heit gewordene Oeffnen des Mundes in der frühesten Jugend die Quelle fast
aller schleichenden und selbst aller ansteckenden Krankheiten sei , und dass
diese Untugend den Kindern bei uns zunächst durch ausgestreckte Rücken
lagerung und durch Einführung eines concaven Keilkissens unter den Nacken
gründlich abgewöhnt werden müsse. Catlin übersah dabei, dass doch auch
die Lagerungsweise der Indianerkinder manches Unzuträgliche hat, indem
namentlich das Einbinden der Arme derselben in die Gesammtumhüllung ge
wiss nicht nützlich ist ; dem ,,Schiefwuchse" kann freilich durch ein solches
Indianer-Steckbett gründlich vorgebeugt werden , nur finden wir es eben aus
andern Gründen keineswegs nachahmenswerth . Es ist nämlich den Kindern
in solcher Einpackung die Möglichkeit activer Bewegung benommen und
hiermit die frühe Uebung des Muskelsystems, besonders der Gliedmaassen ,
wohl auch die freie Bewegung der Brustmuskeln , sowie die Athmung mehr
oder weniger behindert.
Wenn die Kinder, wie dies bei anderen Naturvölkern der Fall ist, auf
dem flachen Erdboden liegen bleiben , ohne dass man ihre Körper durch Um
hüllung oder gar Einschnürung am freien Gebrauch der Extremitäten hindert,
ohne dass man sich aber auch mit dem Tragen derselben viel zu schaffen
macht, so sind die Kleinen lediglich auf die activen Bewegungen der Glied
maassen beschränkt; die passiven Bewegungen des Tragens und Wiegens und
ihre Wirkungen auf Körper und Geist kommen hier nicht zur Geltung . Die
passiven Bewegungen , dies sind diejenigen, welche man mit der betreffenden
Person ausführt, welche sie also nicht selbst vollzieht, wirken , wenn man mit
ihnen das rechte Maass einhält, insbesondere wohlthätig auf den Blutumlauf
im Körper. In anderer Beziehung haben sie etwas eigenthümlich Beruhigen
des für die Nerven . Es ist wahr und die tägliche Beobachtung kann es
bestätigen — , dass ein ruhiges Hin- und Hergehen mit einem Kinde auf den
Armen dasselbe in gar nicht zu langer Zeit in Schlaf verfallen lässt. Das
ist gewissermaassen auch schon ein seelischer Vorgang . Denn das von der
Mutter oder der Wärterin von der Lagerstätte aufgenommene, bis dahin
vielleicht unruhige und unwillige Kind bemerkt sehr bald , dass man sich
seiner angenommen und dass es einen Platz in den Armen der Pflegerin ge
funden hat; in Folge dessen fühlt es sich nach und nach dort ganz heimisch ;
bald haben dann auch seine Nerven die für Eintritt eines wohlthätigen
Schlafes nöthige Ruhe gefunden .
56 Das Legen, Tragen und Wiegen , Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes .
Und wenn wir uns bisher vorzugsweise mit der Wirkung der Lagerungs
weise auf den Körper beschäftigten , so darf auf der anderen Seite der
geistige Einfluss gewiss nicht unterschätzt werden . In der mütterlichen Pflege
liegt zugleich die erste Einwirkung auf die Psyche des Kindes. Denn es ist
für das geistige Wesen eines Menschen keineswegs gleichgültig , ob er in
frühester Jugend zärtlich oder roh behandelt wurde. Insbesondere ist es
ebenso charakteristisch als wichtig für die Erziehung der Jugend, ob die
Mütter ihre Kinder fortwährend mit sich umhertragen , oder ob sie dieselben
den grössten Theil des Tages liegen lassen , ohne sich viel um sie zu be
kümmern . Die „ Anhänglichkeit“ des Kindes an die Mutter ist gewöhnlich
anerzogen ; man erwirbt sie dem Kinde nur dadurch , dass die Mutter das
Kind schon früh und dauernd gleichsam sich selbst anhängt. Die grosse
Mehrzahl der Neger bewahrt auch noch in späteren Altersjahren der Mutter
eine so besondere Anhänglichkeit und Verehrung , dass man einen erwach
senen Neger durch nichts schwerer beleidigen kann, als durch Beschimpfung
seiner Mutter. Diese Erscheinung ist wohl zumeist durch den Umstand zu
erklären , dass die Negerinnen gewohnheitsgemäss ihre gewissermaassen an
ihrem Körper hängenden Kleinen allüberall mitschleppen , und dass der Geist
des Jungen eben so wie der Körper stets innig bei der Mutter ist; er fand
in ihr von frühester Jugend an recht eigentlich seine Beschützerin , seine
Pflegerin in körperlicher , wie geistiger Hinsicht.
Ganz anders entwickelt sich das mütterliche und kindliche Verhältniss
auch für die späteren Altersjahre dort, wo es nur selten geschieht, dass das
Kind von der Mutter auf die Arme oder auf den Rücken gehoben wird , wo
man es vielmehr fast stets auf seinem Schlafplätzchen liegen oder auf dem
Erdboden umherkriechen lässt. Recht charakteristisch versagten im ehe
maligen Reiche der Inka's zu Peru die Mütter ihren Kindern das Tragen ,
aus Furcht, dieselben zu verzärteln ; man setzte die Kleinen in ein Loch in
der Erde, oder legte sie in eine Wiege , allein in die Arme setzte eine Mutter
ihr Kind nie ; selbst der Erbprinz des Inka vurde nie auf den Armen herum
getragen , um ihn nicht zu verwöhnen .
Wir sprachen vorhin davon , dass bei fast allen Negervölkern die Mütter
ihre kleine Nachkommenschaft nur selten ablegen, so lange die Kleinen noch
nicht laufen können ; sie thun dies nur eben des Nachts. Allein auch hier
giebt es unter diesen Völkern Ausnahmen ; wenigstens wird von den Guinea
Negerinnen erzählt, dass sie ihre Kinder viel liegen lassen . Noch auffallen
der aber war das stete Liegenlassen der Kinder bei anderen Völkerschaften .
So bleiben die Kinder der Sandwich -Insulaner fortwährend uneingehüllt auf
einer Matte liegen , die Mütter gen dieselben niemals mit sich herum .
Dasselbe fand man bei einem nunmehr ausgestorbenen Inselvolke, den
Guanchen , den schon im 15. Jahrhundert von den Spaniern ausgerotteten
Ureinwohnern der canarischen Inseln .
Auch viele asiatische Völkerschaften lieben es , das Kind den Tag über
mehr liegen zu lassen als es zu tragen . Die Kalmückin lässt ihr in Schaf
1. Das Legen . 57
pelz eingehülltes Kind fortwährend auf der Erde liegen und nur bei ihren
weiten Wanderungen nimmt sie es zum Transport auf ihren Rücken . Die
Kinder der Araber bleiben fortwährend uneingehüllt auf einer Matte liegen ,
und die Mütter tragen dieselben nie mit sich umher ; will das Kind trinken ,
so nimmt es die Mutter von der Matte, giebt ihm die Brust und legt es dann
wieder auf letztere nieder (Chev. d'Arvieux ). Die wilden Volksstämme
in der asiatischen Türkei hüllen ihre neugeborenen Kinder, nachdem sie im
nächsten Flusse gebadet wurden , in ein Stück Leinen oder groben wollenen
Zeug und tragen es dann in ihre Höhle, in welcher die Mutter schon vor
ihrer Niederkunft eine kleine Vertiefung oder Grube gemacht hatte, gross
genug , um das Kind in sich aufzunehmen . Der Grund dieser Grube ist mit
fein gepulverter Erde bestreut; und nachdem man das Kind hineingelegt,
wird es ebenfalls ganz und gar mit Ausnahme des Kopfes mit derselben Erde
bedeckt. Jeden Tag wird das Kind von Neuem gebadet, umhüllt, mit neuer
Erde bedeckt, und die Grube wird nach und nach vergrössert, je nachdem
das Kind heranwächst; dann zieht man ihm eine Art von Hemd an (Eram ).
Dieselbe Methode , die Kinder in einer mit Sand ausgestreuten Grube auf
zubewahren , soll sich nach Hureau de Villeneuve auch bei den Ein
wohnern des chinesischen Turkestan finden .
Bei den alten Chinesen , deren Sitten der Münchener J. H. Plath aus
alten chinesischen Büchern kennen lernte, hütete man sich, das Kind während
der ersten Tage nach der Geburt zu tragen ; man fing vielmehr erst nach
drei Tagen an , das Kind auf dem Arm zu tragen . In Persien scheint man
die Kinder insofern ganz zweckmässig zu .pflegen , als man sie wohl umher
trägt, ihnen aber auch hinreichend freie Bewegung gestattet. Nach dem
Berichte des Arztes Polak , der 9 Jahre lang am Hofe des Schah war und
das Volk genau kennen lernte, nehmen die Mütter oder Ammen , wenn sie
ausgehen, das Kind auf die Arme; reiten sie aber aus , was dort von den
Frauen ganz nach Art der Männer bei uns geschieht, so halten sie das Kind
vor sich auf den Sattel. Die Kinder gedeihen dabei sehr gut, sie sind über
baupt fett, von gesunder Gesichtsfarbe und von auffallender Schönheit, denn
sie befinden sich die meiste Zeit in freier Luft im Hofe oder auf dem Dache
des Hauses.
Im Lagern der Kinder bemerken wir wesentliche Unterschiede, welche
wir wohl vorzugsweise den Rücksichten auf klimatische Verhältnisse zu
schreiben müssen . Denn es ist beispielsweise dem Klima ganz angemessen ,
dass die nackte Erde von den Negern in Guinea und von den Indiern in
Dekan zur Lagerstätte der Kinder gewählt wird . In Ostafrika wohnen die
Wakamba, ein Volk , welches Hildebrandt besuchte , und bei denen eine
Rinds- oder Ziegenhaut die Schlafunterlage der Erwachsenen bildet, während
diejenige ihrer kleinen Kinder der Reinlichkeit wegen ein Bündel frischer
grüner Blätter bildet. „ Viele Afrikaner, besonders die Kinder," so sagt in
seinem Berichte Hildebrandt, „ schlafen ohne jede Erhöhung des Kopfes
auf ganz ebener Fläche , woran sich der Europäer wohl nur schwer ge
n n n n s
58 Das Legen , Trage und Wiege , Gehe , Stehe und Sitzen des Kinde .
wöhnen würde.“ 1) Auch die Kaffern bereiten ihren Kindern ein weiches
Graslager auf dem Erdboden . Eine Matte gewähren die Bewohner der
Sandwichinseln den Säuglingen zum Lager ; in Arabien aber liegt das nackte
Kind auf einem Lederfleck ; sobald dasselbe zu kriechen beginnt, giebt man
ihm eine Bekleidung, welche derjenigen der Erwachsenen ähnlich ist. Von
den Arabern wird mitgetheilt: „ On n'emmaillotte point les enfants, on les
met tout nuds sur une natte , or tout au plus couverts de quelques linges .
Les mères ne les portent point avec elles, leur donnent à teter quand ils en
ont besoin et puis les remettent sur leurs nattes, où elles les laissent se re
muer tant qu'ils veulent, et il arrive de là, qu'ils marchent seuls dans l'année ,
qu'ils ne sont ni bossus ni crochus et que la nature n'étant point gênée par
tant de bandes et de linges dont on enveloppe les autres enfants, il croissent
plus vivement et sont exemptes de tous ces défauts qu'on remarque dans
les Européens.“ 2) Die Australnegerin schützt ihr Kind , das sie in einer
kleinen Erdgrube birgt , des rauheren Klimas wegen durch eine Bedeckung
mit warmer Asche. Auch im kalten Island lässt man das Kind auf der Erde
liegen und kriechen, bekleidet es aber dort schon nach den ersten Lebens
wochen mit Hose und Wamms.
Man kann es nicht immer sofort aus klimatischen Rücksichten herleiten ,
doch immerhin bei näherer Betrachtung gerechtfertigt finden , wenn einzelne
Völker der wärmeren Zonen in dieser Hinsicht ihre Kinder auffallend warm
lagern. Die Hottentottenkinder werden des Nachts in das Fell, in welchem
sie während des Tags die Mütter tragen , eingebunden und in die ausgehöhlte
Asche der Feuerstelle gelegt (nach Mittheilung des Dr. O. Schneider ).
Man trägt hier offenbar der nächtlichen Abkühlung der Luft Rechnung .
Weiterhin lagern die Indianer der im tropischen Westindien (15. - 30.0 N. B.)
liegenden Antillen ihre Kleinen in ein warmes Bett von Baumwolle, obgleich
es bei ihnen erheblich heiss ist. Da kann wohl die Rücksicht auf Tempera
tursprünge maassgebend sein , die auf jenen Inseln vorkommen mögen ; denn
es herrscht auf ihnen zwar der Passatwind, doch wechseln hier auch täglich
Küstenwinde , die des Nachts die Luft einigermaassen kühlen .
Die Häuslichkeit der Völker und ihre Gewöhnung an eine besondere
Form von Lagerstätten als Hausmöbel spielt bei anderen Völkern eine
Rolle . Betten benutzten schon die alten Inder zur Zeit des Susruta zur
Lagerstätte ihrer Kinder; es waren dies jedenfalls weiche Kissen mit Tüchern
bedeckt. Die jetzigen orientalischen Völker haben keine eigentlichen Betten
für ihre Kinder : in der europäischen Türkei legen die Bürgersleute ihre
Kinder auf Matratzen , die reicheren Türken in Konstantinopel auf ein Sopha
oder in eine Wiege. In Kleinasien legten arme Leute ihre Kinder vielleicht
schon in ältester Zeit nicht in eine Wiege, sondern in die Krippe der Thiere ,
mit welchen die Menschen gemeinschaftlich die Hütte bewohnten . So lag in
Palästina Christus in der Krippe; und noch heutigen Tags dient den Osseten
1) Zeitschrift f. Ethnol. 1878. S. 369.
2 ) Mém . du Chev. d'Arvieux par le P. J. Bapt. Labat. Paris 1735. III.
1. Das Legen . 59
im südlichen Kaukasus, die meist sehr arm sind , die Krippe im Stalle als
Wiege für das Neugeborene. Die Japanesen , welche überhaupt nichts von
Betten wissen , legen sich zum Schlafen auf den mit Matten bedeckten Boden ,
wobei sie einen kleinen hölzernen Schemel als Kopfkissen benutzen . Ein
ähnliches Lager gewähren sie wohl auch ihren Kindern .
In den finnischen Wohnbäusern , die oft nur den Eindruck machen , als
ob sie nur einstweilige Ruheplätze eines unsteten Volkes wären , haben die
Kinder des Hauses keinen bestimmten Schlafplatz , sondern werden bald auf
den Ofen gelegt, bald auf die Scheune, bald auf ein Kalbfell auf dem
Fussboden . ')
Die alten Kulturvölker, die Griechen und Römer, verfuhren , wie es
scheint , mit einer nicht geringen Sorgfalt in Bezug auf Lagerung der kleinen
Kinder ; wenigstens blieben auf diesem Gebiete in den wohlhabenderen Fami
lien die ärztlichen Rathschläge gewiss nicht ganz ohne guten Einfluss. Der
Arzt Moschion , der das erste Lehrbuch für Hebammen verfasste, empfiehlt,
das Kind in ein weiches , doch nicht allzuweiches Bett zu legen und zwar
so, dass Rücken und Hals nicht gekrümmt sind ; auch soll des Kindes Haupt
sanft befestigt auf dem Lager sein . Von Soranus von Ephesus , der als
Arzt in Rom prakticirte und ebenfalls ein Hebammenbuch schrieb , wurde
empfohlen , dass man das Kind , wenn es gereinigt und bekleidet worden , auf
eine Lagerstätte zur Ruhe niederlege und zwar auf ein mit Wolle ausge
stopftes Kissen oder weiche, Spreu . Er sagt: „ das Lager soll rinnenartig
geformt werden, damit sich das Kind darin herumwälzen könne" (doch hat
er es zuvor freilich recht fest einbinden und mit Fascien umwickeln lassen !),
,,der Kopf des Kindes soll immer höher als der übrige Körper liegen . Die
Betten selbst aber müssen , den Jahreszeiten angepasst, der Reinlichkeit wegen
recht häufig gewechselt werden , frei von allen reizenden Gerüchen und über
mässigem Glanze und das Zimmer mässig erwärmt sein .“
Sehen wir uns nun in unseren heimischen Wochen- und Kinderstuben
um , so stossen uns in den Gewohnheiten des Volkes manche Missbräuche
und üble Vernachlässigungen der rationellen Anforderungen der Hygieine
auf. Man legt in Deutschland das Neugeborene zumeist in das Bett neben
die Mutter, nachdem es gebadet und gewöhnlich zu warm eingehüllt worden ;
dort an der Seite der glücklichen Mutter findet es Wärme und Nahrung ; da
bleibt es auch manchmal während des ersten Lebensjahres , bis ein neuer
Ankömmling es von dieser Lagerstätte verdrängt ; oder man legt das Kind
sofort in die Wiege als das ibm einzig angehörende Asyl. In der bayerischen
Oberfalz muss das Kind während der ersten Zeit innerhalb des Vorhangs
der Himmelbettstelle der Wöchnerin liegen , denn das ist ein geweihter Ort,
wobin kein böser Zauber dringen und wo das Kind nicht gegen einen
,,Wechselbalg " ausgewechselt werden kann (J. Wolfsteiner in ,, Bavaria “ ).
Die Lagerung des Kindes in das Bett der Mutter oder Amme unmittelbar
1) J. N. Arosenius in Stockholm , Zeitschr. für wissenschaftl. Geographie. Jahr 1881.
Heft 5. S. 170 .
60 Das Legen, Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
neben dieselbe bringt freilich dadurch das Leben des Kindes in nicht geringe
Gefahr, dass im Schlafe gar leicht das Kind erdrückt wird . Schon im
vorigen Jahrhundert wurde von Schulz ) berechnet, dass in Schweden jähr
lich im Durchschnitt 650 Kinder die verhehlten Fälle abgerechnet
erdrückt wurden . In London sind nach Süssmilch's Angabe 2) vom Jahre
1686–1758 allein von Lohnammen 4,988 Kinder erdrückt worden . Nach
Dr. Windel wurden in Archim (Hannover ), wo jährlich 35–40 Menschen
starben , binnen 4 Jahren 6 Säuglinge im Bett des Nachts erdrückt.3) Im
Jahre 1845 kamen in Russland 25 Fälle officiell zur Anzeige, in welchen
Mütter unbeabsichtigt ihre Säuglinge erdrückt hatten .
Die Art und Weise, wie man bei verschiedenen Völkern die Kinder
lagert, hat schon dem berühmten Anatomen Vesalius, Leibarzt Karl's V.
16. Jahrhundert Anlass zu einer eigenthümlichen Hypothese gegeben.
hielt nämlich die Deutschen fälschlich für kurzköpfig und meint, dass der
platte Hinterkopf der Deutschen und die dadurch hervorgerufene kurze Kopf
form (Brachycephalie) durch mechanische Einwirkung entstanden sei, indem
die Mütter der Deutschen ihre Kinder in den ersten Lebensmonaten fast nur
auf dem Rücken lagerten , wäbrend die Frauen in Belgien die ihrigen aus
schliesslich auf die Seite legten und dadurch lange Köpfe (Dolichocephalie)
erzeugten .
2. Das Tragen .
Motto :
An meinem Herzen, an meiner Brust,
Du meine Wonne, Du meine Lust!
Chamisso .
Das Kind soll immer bei der Mutter sein . Die Mutter, welche sich ihres
Säuglings recht annimmt, um fort und fort auf Erfüllung aller seiner Bedürf
nisse bedacht zu sein, darf entweder, während er auf seiner Lagerstätte ruht,
fast nicht von seiner Seite gehen oder sie muss ihn mit sich tragen . So
nur ist die Pflegerin im Stande, des Kindes Wohl wahrzunehmen , ihm alle
kleinen und berechtigten Wünsche abzulauschen . „ Geh ' fleissig um mit
Deinen Kindern !" so ruft Leopold Schefer jeder Mutter zu , „ habe sie
Tag und Nacht um Dich und liebe sie, und lass Dich lieben ; einzig schöne
Jahre ! Denn nur den engen Raum der Kindheit sind sie Dein , nicht länger !"
Gewiss mag es jeder Mutter durch ihr eigenes Gefühl bewusst sein , dass
das Kind am besten geborgen ist, wenn es im Arme oder auf dem Schoosse
der Mutter bewacht und bewahrt wird. Und herrlich ist das Bild eines im
Mutterarme ruhenden Kindes ; es begeisterte den Dichter Julius Sturm zu
den Versen :
„ Ruhend noch im Arm der Liebe gleicht das Kind der Lotosblume,
Die, auf heil'ger Fluth sich wiegend, Göttern dient zum Heiligthume ;
Von der Gottheit Hauch durchdrungen und durchglüht von ihrem Licht,
Ahnet es in seiner Unschuld seiner Unschuld Schönheit nicht !“
Das Tragen hat jedoch auch einen besonderen , die Gesundheit des
Kleinen fördernden Zweck : als sanftes Mittel zur Fortbewegung kommt dabei
zweierlei zur Geltung, indem es theils eine Luftveränderung vermittelt, theils
sind die passiven Bewegungen beim Tragen auf den Armen für den kind
lichen Organismus gleichsam die Fortsetzung aller jener Bewegungen und
leichten Körperschwingungen , welche dem noch ungeborenen Kinde im Mutter
schoosse zu Theil werden ; oft ist es mit einem Hin- und Herwiegen ver
bunden , das beruhigend und einschläfernd wirkt.
Zumeist trägt nun die Mutter oder die Pflegerin das Kind, so lange es
noch klein ist und liegen muss , d. h . nicht aufrecht sitzen kann , in den
Armen so , dass der eine Arm den Oberkörper von unten , der andere Arm
den Unterkörper von oben umfasst hält. Sobald das Kind eine sitzende
Stellung einzunehmen vermag, geschieht das Tragen auf dem einen der Arme,
wobei sich das Kind an die Brust der Mutter , wie an eine Stütze seitlich
anlehnt. Ein falsches Tragen , insbesondere das fortwährende Tragen auf
nur Einer Seite, statt des abwechselnden Tragens bald auf der einen , bald
auf der anderen Seite hat schon manchem Kinde Verkrümmungen zugezogen .
Die Orthopäden schreiben einen nicht geringen Procentsatz der ihnen vor
kommenden Rückgratsverkrümmungen dem gewohnheitsgemässen falschen
Verfahren als Ursache zu (sog . Trag-Skoliose oder Schiefsein der kleinen
Kinder ). Wird das Kind immer auf dem rechten Arme getragen , so entsteht
eine linksseitige Skoliose und umgekehrt. Anfangs wird sich diese Ver
krümmung noch ausgleichen ; die schon begonnene Schiefheit verschwindet
allmälig mit fortschreitendem Wachsthum , sobald man zeitig genug auf das
Nachtheilige der üblen Gewohnheit aufmerksam wird und von derselben bald
absteht. Allein später, wenn die falsche Haltung fortgesetzt wird bis dahin ,
wo die einseitig verschobenen Wirbelknochen und Zwischenwirbelscheiben
fester geworden sind, bleibt die Schiefheit des Skeletts bestehen . Meist
tragen bei uns die Wärterinnen das Kind auf dem linken Arme sitzend,
um den rechten frei zu behalten ; daher kommt die linksseitige Rückgrats
verkrümmung am häufigsten vor.
Ausser diesem Tragen auf den Armen ist nun auch ein solches in den
verschiedensten Arten : auf dem Rücken , den Schultern , den Hüften u . s. w .
gebräuchlich . Wir werden uns weiterhin darüber orientiren, in wie weit
sich diese mannigfachen Trageweisen bei den einzelnen Völkerschaften ein
gebürgert haben und gleichsam als ein ethnographisches Merkmal gelten
können . Hier beschäftigen wir uns zunächst mit den bei uns heimischen
Sitten und deren gesundheitlichem Werth .
Manche Aerzte warnen mit grossem Eifer vor dem vielen Umhertragen
der Kinder. So sagte Dr. Mauthner Ritter von Mauthstein in Wien ")
1) Vergl. dessen „ Kinder-Diätetik ,“ 3. Aufl. Wien 1857.
62 Das Legen , Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
tragen , während wieder andere dieselben auf der Schulter reiten lassen .
Nach Collins wird bei den Eingeborenen Neuhollands das Kind von
der Mutter in einem Stück weicher Baumrinde herumgetragen , und sobald
es stark genug ist, setzt sie es auf ihre Schultern und legt die kleinen Beine
um ihren Hals, wo es bald genöthigt wird, die Haare der Mutter zu fassen ,
um nicht herabzufallen . Es ist charakteristisch , dass grössere Kinder in
Vandiemens -Land und auch im Innern Australiens fast überall auf den
Schultern reitend getragen werden . Die Frauen gelten hier überhaupt als
Lastthiere, und bei ihrem unsteten Wanderleben halten sie es für bequem ,
ihren kleinen Schlingel über den Nacken reiten zu lassen .
Auf den Inseln des Stillen Ocean kommt dieser Gebrauch schon weniger
vor; vielleicht deshalb , weil hier das Klima meist bessere Subsistenzmittel
bietet und minder weite Wanderstrecken zurückzulegen sind, als durch das
australische Steppenland. Die eingeborenen Frauen auf den Fidschi-Inseln
tragen ihre Kinder auf den Rücken gebunden und haben in solcher Weise
freie Hände zur Verrichtung der häuslichen Geschäfte. Auf den Carolinen
Inseln tragen die Mütter die noch kleinen Kinder an der Brust; die grösseren
sitzen rittlings auf der Hüfte der Mutter oder des Vaters.") Auf der Insel
Vanikoro (Südsee) hockt das Kind einfach auf dem Rücken der Mutter . Cha
rakteristisch ist das Bild einer Frau von der Insel Tanna (Neue Hebriden ),
wie sie ihr Kind auf dem Rücken hat; dasselbe findet sich in dem grossen
Reisewerke Cook's vom Jahre 1777 . Auf den Admiralitäts -Inseln , nordöst
lich von Neu -Guinea (im Archipel von Neubritannia ) werden die kleinen
Kinder entweder auf dem Rücken oder auf den Hüften sitzend getragen.2)
Bei den Alfuren auf Ceram (Niederländisch- Indien ) versehen alte Männer, die
nicht mehr auf's Feld oder in den Busch gehen , das Amt der Kinder
wärterinnen ; sie tragen die Kinder meist auf dem Rücken in Tüchern oder
Binden von Baumbast.3)
Für das Elend , in welchem die australischen Wilden leben , und unter
welchem namentlich die Weiber und ihre Sprösslinge zu leiden und zu dulden
haben , giebt ohne Zweifel die Thatsache ein beredtes Zeugniss ab , dass hier
gar oft das eigene Mutterherz seinem innigsten Gefühle entfremdet wird ,
indem die Mutter selbst gar nicht selten ihr Neugeborenes tödtet oder aus
setzt, damit dasselbe vor den Widerwärtigkeiten des Lebens bewahrt werde,
und weil sie selbst kaum genug hat, ihr eigenes Leben zu fristen . Wie wenig
gilt hier ein Kindesleben ! Und doch fühlt die fort und fort mit der Noth
kämpfende Mutter in dem Falle, dass man das Kind überhaupt behalten will ,
die schwere Verpflichtung, ihren Säugling als eine ihr von der Natur auf
erlegte Bürde fort und fort mit sich umberzuschleppen , wie ein Geräth , das
zum transportablen Hausstand gehört. In ähnlicher Lage befinden sich die
ihren Oberkörper eine aus Rinde geflochtene Matte , setzen das Kind hinten
hinein , unterstützen es von unten her mit einer Hand , während hauptsächlich
die vordere Seite der Brust die Last des Kindes zu tragen hat. Ueber
diese Sitte der Indianerfrauen am Paranafluss berichtet Lieutenant Domingo
Patino ) folgendes : „ Les femmes portent leurs enfants enveloppés dans le
chiripa; elles les portent par derrière, pour ne pas être gênées et avoir le
libre usage de leurs bras. Pour ceux qui commencent à avoir un certain
poid il est nécessaire , que le chiripa soit soutenu par une bande de la
même étoffe, qui traverse les épaules et y trouve un point d'appui pour soutenir
le poids.“ Die Chiripa , welche dort alle Indianer tragen , ist ein Stück grob
gewebten Stoffes , welches sie rings um die untere Partie des Körpers
winden .
Die Sitte , den Säugling , der fünf Jahre lang von der Mutter gesäugt
wird mittels Achselbänder auf dem Rücken zu tragen , ist nach v. Mar
,
tius *) allen brasilianischen Indianern gemeinschaftlich. Die Gês tragen
die Kinder auf dem Rücken in gekreuzten Achselbändern, die von Palm
blättern geflochten und manchmal mit Fäden verziert sind , an denen die
perlartigen Samen des Titirica -Grases (Scleria ) hängen . Diese Schlinge
heisst hier, wie das Hemd der Indianer von Moxos und Chiquitos „ Tipoia .“
Auch auf den Andamanen , einer Inselgruppe in den ostindischen Ge
wässern , werden von den Sepoys die Kinder auf dem Rücken in Schlingen
getragen , die man aus der innern Rinde der Bäume macht. Auf den nörd
lichen Hebriden werden die Kinder von den Weibern in hübsch geflochtenen
Binden auf dem Rücken getragen (nach Bougainville); dasselbe gilt von den
südlichen Hebriden (nach Forster) , sowie von Neukaledonien und , wie
Keyts berichtet, von Neu -Guinea. Am östlichen Theile der Südküste von
Neu -Guinea , gegenüber der Yule-Insel am Papua -Golf, tragen beim Gehen
die Mütter ihre kleinen Kinder in einer Art Netztasche auf dem Rücken oder
lassen diese unter Aufsicht eines alten Weibes oder eines Mädchens in dieser
Netztasche hängend in der Hütte . Um das Kind einzuschläfern, bringt man
das Netz in schwingende Bewegung, wodurch auch Fliegen und Mosquitos
abgewehrt werden.3) Bei den Pauhins oder Fans im äquatorialen Afrika
wird das Kind von der Mutter in einem mit Kaurimuscheln verzierten Ge
hänge getragen.4) In der Pariser Industrie -Ausstellung 1867 sah ich das
Model einer Hindufrau , deren Kind auf der linken Hüfte ritt mit Unterstützung
durch eine Art Bandage, welche sie über der rechten Schulter trug .
Die Patagonierin hingegen hängt ihr Kind über ihren Rücken . Der
Engländer Capitain Musters, der sich lange unter den Patagoniern aufhielt,
bemerkt, dass die Frauen derselben bei weiten Reisen zu Pferde sitzen und
auch dann noch die Säuglinge auf ihren Rücken hängen . So schrieb mir
auch Professor Mantegazza aus Italien nach eigener früherer Wahrnehmung ,
dass manche Indianerinnen Amerika's ihre Kinder zu Pferde in ihrem Sacke
tragen , selbst wenn dieselben zwei bis drei Jahr alt sind. Bei den Crih
Indianern im Norden Amerika's steckt die Mutter ihr Kind nach Franklin's
Beobachtung in einen Beutel, den sie auf Reisen über die Schulter hängt ;
im Winter aber wird dieser gut mit Moos gepolsterte Beutel mit seinem
Inhalte in der Hütte aufgehängt.
In den altamerikanischen Culturstaaten war das Aufbinden der Kinder
auf dem Rücken mittels eines über die Schultern hängenden Zeugstücks, in
welchem das Kind gleichsam sass, ebenfalls Sitte. Wenigstens bezeugen
dies Vasengemälde, die aus dem altperuanischen Chimu-Reich herrühren und
sich im Berliner ethnographischen Museum befinden . Offenbar stellte man
auf diesen Vasen ") humoristische Volksscenen dar , die gewissermaassen als
Carricaturen aufzufassen sind , doch ohne Zweifel die Sitten des Volks typisch
zur Anschauung bringen . Auch hier hockt ziemlich regelmässig das Kind auf
dem Rücken der Mutter in einer Art Schlinge.
Unter den brasilianischen Indianervölkern giebt es Stämme, deren Weiber
ihre Kinder gleichfalls in einem gepolsterten Sacke tragen , welchen sie aber,
wie Prinz Max von Neuwied und Andere sahen , an einem Stirnbande fest
halten ; ganz ähnlich ist die Methode bei den Mexikanern . An Markttagen
sieht man die Mexikanerinnen vom Lande mit grossen Marktkörben zur Stadt
strömen , sie schleppen dabei ihre Kinder mit sich : Die Mutter trägt dann
ausser ihrer Last den in ein „Roboso " ( eine Binde aus geringem und festem
Gewebe) eingewickelten ,,Ninio," indem derselbe an der Seite des Korbes
herabhängt. So beschreibt das Gesehene der mit der französischen Expedition
nach Mexiko gesendete Militärarzt A. Buez. In Quito (Ecuador ) sah der
Maler Charton Frauen , die zwei kolossale Wassergefässe mittelst Stirn
und Brustriemen auf ihrem Rücken trugen und zwischen den Gefässen ihr
Bübchen im Nacken hocken liessen . . Dieses Stirnband als Tragmittel für
das Kind scheint in Südamerika sehr verbreitet zu sein . Eine Coroadofrau ,
die ihr Kind an solchem Stirnbande auf ihrem Rücken trägt, bildete Thomas
P. Bigg -Wither in seinem zu London 1878 erschienenen Buche „ Pioneering
in South Brazil“ (II. S. 257) ab . Namentlich die Botokudinnen , sowie die
Weiber der Krens und anderer benachbarter Stämme tragen die Säuglinge
mittels einer Stirnbinde. Letztere scheint auch eine symbolische Bedeutung
zu gewinnen . Bei den Krens vertauscht die Jungfrau, die als Schmuck ein
straffes Band unter den Knieen trägt, dasselbe bei der Verehelichung mit
einer Stirnbinde; dies ist, wie von Martius vermuthet, vielleicht das Symbol
der Mütterlichkeit. - Hierhin gehört auch die Art, wie die Aïnos, jenes
eigenthümliche Volk in Japan, die Kinder zu tragen pflegen : Ein breites
Band , das die Aïno -Weiber um die Stirn legen , hält die ganze Last des in
In Japan hockt das Kind zumeist auch auf dem Rücken , und sitzt nur
bisweilen auf den Armen der Mutter ; nicht selten übernimmt dies Geschäft
auch wohl der Mann: „ Nichts sieht man auf den Strassen Japans häufiger,
als hochgewachsene Väter mit kleinen nackten Kindern auf dem Arme, die
sie äusserst sorgsam warten und hüten.“ Diese kurze Mittheilung Alcock's
wird in ausführlicher Weise durch die Beobachtungen des Arztes Dr. Wer
nich ergänzt, welcher mehrere Jahre in Japan prakticirte : „ Als Mütter sind
die Japanerinnen unermüdlich um die Kleinen besorgt und von einer in
stinctiven rührenden Liebe. Wie eine Fortsetzung des intrauterinen Ge
meinlebens erscheint schon das fortwährende Herumtragen des Kindes auf
dem Rücken im eigenen Gewande der Mutter, so dass man unter zwanzig
ihre Hausarbeit verrichtenden Frauen gewiss fünfzehn sieht, welche in der
gemeinschaftlichen Schlafrockschale ihr Kleines mit herumschleppen, das so
wie ein Parasit auf der Mutter lebt. Werden der Nachkommen mehrere, so
trägt einer den andern auf dem Rücken (Umbo ), so dass bei der Jugend
des Trägers man oft zweifelhaft sein könnte, welcher Kopf ihm und welcher
dem jüngeren Brüderchen oder Schwesterchen angehört."
Dieses Hocken des Kindes auf dem Rücken im umgeschlagenen Tuche
oder in einem Mantel aus Fellen, oder im weiten Gewande, ist namentlich
bei vielen Völkern Afrika's heimisch. Man findet es ganz allgemein bei den
Congo-Negern in Westafrika , bei den Kaffern , den Hottentotten , Gonaqua
und Wasaramo in Südafrika, bei den Schangalla , Schuwa, Agow und Abes
siniern in Ostafrika, sowie bei fast allen Volksstämmen Centralafrika's. Doch
sind Unterschiede in der Art und Weise zu bemerken, wie man das Tuch
um die Schultern oder unter den Achselhöhlen hindurchsteckt und wie das
Kind dabei mit dem Kopfe oder auch mit den Händchen sichtbar wird. Be
kanntlich wird bei mehreren der hier genannten afrikanischen Völker das
Kind in dieser Stellung gesäugt. Diese afrikanische Sitte, dem Kinde über
die Schulter oder unter der Achselhöhle zwischen Oberarm und Thorax die
Brust darzureichen, ist nur durch die nach und nach eintretende ausser
ordentliche Verlängerung der Frauenbrust möglich . Die schon von Natur
eintretende Verlängerung wird durch diesen allgemeinen Gebrauch wohl noch
befördert. Selbst dann, wenn die reisende Hottentottenfrau auf dem Reit
ochsen sitzt, behält sie ihr Kind auf dem Rücken .
So verrichtet die Kaffernfrau ihre Arbeit mit dem auf den Rücken ge
bundenen Kinde, dem sie von Zeit zu Zeit, wenn es schreit , um es zu be.
rubigen , die Brust durch den Arm hindurch reicht. Die Kaffernfrau trägt
ihr Kind auf dem Rücken in einem Behälter, das durchaus praktisch einge
richtet ist und in welchem der Säugling sich recht wohl befindet. Die Wiege,
aus welcher das Köpfchen herausguckt,') ist reichlich eine Elle lang, hin
länglich breit und aus Antilopenhaut verfertigt; sie kann oben zusammen
gezogen werden , damit das Kleine nicht herausfalle. Die Haarseite ist in
1) Chr. Stech im Daheim 1879. No. 24, S. 383. Abbildung in Wood's nat. hist. of man . und
Globus XX. 149.
2 . Das Tragen .
73
allgemein ; sie heisst ,, aba," d. h . ein Kind auf dem Rücken tragend säugen ;
das Tragfellchen selbst heisst „ aba-khob ." Man sollte fast glauben , der
zusammengebundene Riemen auf der Brust müsse für die Mutter schädlich
durch die Last des Kindes sein . Allein man bedenke, dass das Kind so zu
sagen auf einem Fettpolster, dem Hintertheile (genannt aredi) der Mutter
ruht, und also die Last des Kindes diesem zur grösseren Hälfte anheimfällt.
Die umfangreichen Backen des Gesässes sind eine Raceneigenthümlichkeit
der Hottentotten und Buschmannweiber (die sogenannte Steatopygie ); und
auf diese hervorragenden Theile wird dann auch das etwas älter gewordene
Kind, sobald es sich aufrecht halten kann, gestellt, wobei es die Händchen
auf die Schultern der Mutter stützt; Le Vaillant lieferte die Abbildung
einer Houzouanafrau , die ihr Kind in dieser landesüblichen Weise transportirt.
Er berichtet hierüber Folgendes: „Wenn sie Wanderungen machen und
ein Kind haben , das noch zu klein ist, um mitgehen zu können , so setzen
sie es auf ihr Gesäss. Ich habe eine so laufen sehen ihr dreijähriges
Kind stand hinten aufrecht und hielt sich wie ein Jockei auf einem
Cabriolet.“ 1) Hierzu ist zu bemerken , dass Le Vaillant unter
,,Houzouana" offenbar die Betschuanen oder Buschmänner versteht; er
sagt: „ Ich möchte die Houzouana's beinahe für den Stamm aller der
Nationen halten , die jetzt in dem südlichsten Afrika leben ,' so dass folglich
auch sämmtliche Hottentotten auf der Ost- und Westseite Abkömmlinge von
ihnen sind. “ Wir glauben in seiner Beschreibung ihrer Erscheinung das
Betschuanen - Volk zu erkennen .
Wenn bei den Makalaka in Südafrika 4-5 Tage nach der Geburt die
Mutter wieder so weit genesen ist, dass sie fähig ist, ihren gewöhnlichen
Geschäften nachzugehen, so wird ihr das Kind in einem Fell auf den Rücken
gebunden , wo es in halb sitzender, halb liegender Stellung Arme und Beine
aus den Oeffnungen streckt und gar bald sich daran gewöhnt. Welcher Art
auch die Arbeit sein mag, welche die Mutter in , um oder fern von der Hütte
zu verrichten hat, das Kind bleibt auf dem Rücken , weder Kälte noch Regen
veranlasst zu einer Aenderung (Mauch ).
Die Frauen der Waschimba in Ostafrika tragen als Lendentuch eine
Art doppelten faltigen Unterrock , im Uebrigen sind sie völlig unbekleidet;
wenn sie Mütter werden , fügen sie dieser Tracht noch einen Streifen Baum
wollenzeug bei, den sie schräg über Brust und Rücken gehend und über
eine Schulter gelegt tragen ; in diesem Zeugstreifen werden die kleinen
Kinder während ihrer ersten Lebensmonate getragen , bis sie im Stande sind,
sich auf den eigenen Füssen aufrecht zu erhalten.2)
Das Tragen auf dem Rücken scheint für den Continent Afrika's ziemlich
allgemein zu sein . So trägt auch in Abessinien die Mutter ihr kleines Kind,
1) Le Vaillant's Neue Reise in das Innere von Afrika während der Jahre 1783 bis 1785.
Berlin 1796. Seite 211.
2 ) Nach dem Französischen des Achille Raffray: „ Aus allen Welttheilen " 1879. 10. Heft
S. 296 .
2. Das Tragen . 75
wie Dr. H. Blanc in einer französischen Zeitschrift 1874 angiebt, immer auf
dem Rücken , wo es mittels eines Stückes Leder festgehalten wird , das die
Frau um Taille und Brust geschlungen hat. Sie reicht ihrem Kinde die
verlängerte Brust zur Säugung über ihre Schultern hinweg , und das Kind
trinkt, während die Mutter ihre harte Arbeit vollbringt. Rohlfs berichtet,
dass auch in Marokko die ganz jungen Kinder circa zwei Jahre auf dem
Rücken ihrer Mutter bleiben. Bei den Zeltbewohnern in Marokko befindet
sich der Säugling , mit Ausnahme der Augenblicke, wo ihm die Brust ge
reicht wird , Tags über in einer Falte des Haiks ( grosses Umschlagetuch )
auf dem Rücken der Mutter in reitender Stellung ; das hat zur Folge, dass
die meisten Marokkaner , Männer wie Weiber , Säbelbeine haben . In Dâr
Fur, einem Nillande, trägt nach R. Hartmann die Mutter 2 bis 3 Monate
nach der Niederkunft ihr Kind in ihrer Tób auf dem Rücken ; das ist das
sogenannte Qôqô - Tragen .
Und wie die Kabylin der Wüste ihr Kind meist rückwärts trägt, so
kommt auch das Nomadenweib mit ihrem über die Schulter schauenden
Kindlein nach Tunis , wo Rebatel und Tirant ein schönes Bildniss von
solcher Frau aufnahmen, ') während Freiherr von Maltzan in seiner „ Reise
in den Regentschaften Tunis und Tripolis“ die Skizze einer tunesischen
Bettlerin giebt, welcher ebenfalls das Kind auf dem Rücken hängt.
Wenden wir uns zu den eigentlichen Negervölkern , so finden wir auch
bei ihnen fast überall das Rückentragen heimisch . Offenbar giebt auch hier die
Veranlassung zu dieser Sitte die Absicht, die Arme und Hände für die Arbeit
möglichst frei zu haben .
In Afrika müssen die Weiber so Vielerlei mit ihren Händen be
sorgen , insbesondere die Nahrungsmittel bereiten u . s. w ., dass sie ihren
Säugling , um ihn nur bei sich behalten zu können, auf den Rücken binden .
Zu Hisinene in Centralafrika fand Cameron , dass die Frauen bei der Mehl
bereitung durch Stampfen des Kaffernkorns oft kleine Kinder auf dem Rücken
gebunden haben ; auch in Kisandschi unweit der Westküste sah er die Weiber
bei Herstellung der Mahlzeit in gleicher Weise mit den Kindern verbunden.
Er zeichnete eine solche Mutter, und dieses Bildniss stimmt ganz auffallend
mit einem Bilde überein , welches Gustav Fritsch aus Südafrika mitbrachte
und eine die Nahrung bereitende Ama-Xosa, d . h . Kafferfrau , darstellt. In
gleicher Aehnlichkeit zeigt sich ferner, wie hinsichtlich des Kindertragens die
Weiber des halbcivilisirten Kafferstammes der Ama-Fingu nach G. Fritsch
sich benehmen , und wie sich die Negerinnen auf dem Marsche nach Lupanda
in Ussambi in Centralafrika bezüglich ihrer Kinder und sonstigen Bürden
verhalten . Vergleichen wir die interessanten Werke von Fritsch „ Die Ein
geborenen Südafrika's," S. 89 , und Cameron's ,, Quer durch Afrika“ II.,
S. 130 und 222 , mit einander, so stellen sich wirkliche Analogien heraus.
In gleicher Weise trägt man das Kind bei den Schua am Tschad -See (König
76 Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
reich Bornu), von welchen Wood in seiner „ Natural History of Man ," I.
S. 703 eine Abbildung „ Frau mit Kind“ giebt. Von der Tragweise bei den
Ovambo oder Ovaherero in Südafrika liefert Wood (in demselben Werke I.
S. 354 ) eine Abbildung ; das Kind ist hier bei der Arbeit des Getreidestossens
gleichfalls hinten aufgebunden ; auch das Buschmann-Weib hat in Wood's
Abbildung ( I. S. 272) ihr Kindchen hinten im mantelähnlichen Kleide; letz
teres ist jedoch über die eine Schulter zusammengeknüpft.
Die Negervölker Centralafrika's haben, wie mir Dr. H. Barth kurz vor
seinem Tode brieflich mittheilte, die Sitte , dass die Mütter ihre Kinder stets
auf dem Rücken vermittels des Gewandes aufgebunden tragen . Diese An
gabe stimmt völlig mit den Beobachtungen neuerer Reisenden überein . Die
Monbuttufrauen in Innerafrika gehen fast völlig nackt, nur wenn sie ausgehen ,
tragen sie einen fusslangen und spannenbreiten Streifen aus grobem Gewebe
über den Arm geschlagen , den sie beim Niedersitzen quer über den Schooss
legen und der zugleich dazu dient, ihre Kinder auf dem Rücken zu befestigen.
G. Schweinfurth , der dies berichtet, ') fand weiterhin , dass die Bongo
frauen sich einer einfachen rohen Thierhaut bedienen , um in derselben das
Kindchen Huckepack zu tragen und beim Rauchen der Tabackspfeife u . s. w .
ihre Hände frei benutzen zu können . Er zeichnete eine solche Bongofrau
mit ihrem Kinde ). Als Young zur Aufsuchung Livingstone's das westliche
Gebiet des Nyassa -See's durchzog , gelangte er zum Volk der Babongo, wo
der König Marenga einen grossen Hofstaat von Frauen hält; auch hier ver
harren die Kinder auf dem Rücken ihrer das Getreide stampfenden Mütter.
Dasselbe findet am Schire bei den Mangandscha - Frauen statt, wenn sie bei
Feldarbeit sind, wie Livingstone bei seiner Zambesi-Expedition fand . Zu
Segu am oberen Niger haben die Weiber , während sie Hirse stampfen , nach
Mages' Bericht ebenfalls ihr Kind hinten aufgebunden . Beim Stamme der
Kitsch , d. h . den Eingeborenen um Adaël im äquatorialen Afrika , westlich
vom weissen Nil, tragen die Mütter ihre Kleinen auf dem Rücken in einer
kahnförmig geschnittenen Haut , deren Zipfel vor der Kehle zusammenge
bunden werden; eine Art Pilgerkragen von Leder wird über die Achsel ge
worfen , damit er als Schirm und Dachtraufe den Säugling im Lederkahne
vor dem Regen wie vor der Sonne schütze (Petherick ). Die Negerfrauen
zu Dâkar tragen ihre kleinen Kinder stets bei sich , indem sie dieselben sich
derartig auf dem Rücken befestigen , dass die Beinchen der Kleinen um die
Hüften der Mutter geschlungen sind. Dabei ist allein der Kopf des Kindes
sichtbar, während der Körper desselben ganz durch das Tragetuch , dessen
Enden vorn zu einem Knoten geschützt sind , bedeckt wird. Ganz kleine
Kinder, d. h . Säuglinge , werden in gleicher Art umgekehrt auf der Brust
aufgebunden , so dass das Kind je nach Belieben hier gleich seine Nahrung
zur Hand hat. Die Mütter verrichten mit diesen Anhängseln alle Beschäfti
gungen , ohne den armen Würmern eine weitere besondere Beachtung zu
1) Zeitschr. f. Ethnol. 1873, S. 17 .
2) Globus 1875. Nr. 7. S. 98.
2. Das Tragen. 77
1) „ Indiscretes aus Loango." (Zeitschr. f. Ethnol. 1878. S. 17). Abbildung in : „ Die Loango
Expedition." II. S. 42.
78 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
„ A peine le nouveau -né ouvre-t-il les yeux, qu'il est placé à cheval sur le
dos de la 'mère, qui le soutient par des morceaux d'étoffe qu'elle attache
sur sa poitrine; puis, l'enfant ainsi ficelé , elle se livre à toutes les occu
pations, même les plus pénibles, sans le moindre embarras."
Nachdem das Neugeborene bei den Woloff-Negern gewaschen worden ,
wird es nackt à cheval auf die Gruppe seiner Mutter placirt, indem man
es an ihr befestigt mit Hülfe eines Schurzes, mit dem sie umhüllt ist; dieser
geht dem Kinde bis an das Hinterhaupt, der Mutter nach oben bis an den
Busen , und so beladen nimmt sie ihre täglichen Beschäftigungen wieder im
Innern der Hütte auf. ")
An den Küsten von Loanda und von Angola überhaupt werden Säug
linge nach Bericht des Dr. Max Buchner mittels eines Tuches auf dem
Rücken festgebunden , und zwar so , dass sie die Hüfte der Mutter rittlings
mit den Beinchen umfassen müssen , während der Kopf ohne Stütze bleibt
und es ihm frei steht, beim Schlafen nach vorn oder nach hinten überzu
fallen . In Angola verrichtet die arbeitende Negermutter die meiste Arbeit
mit dem Kinde auf dem Rücken und erfüllt manchmal auch , wie Pogge
sah, ) die mütterlichen Pflichten während der Arbeit. Natürlich gilt dies
aber nicht als Regel, da alle Mütter wohl nicht die natürlichen Vorzüge be
sitzen , sich mit dem Säugling von der Seite aus in Verbindung zu setzen .
Bei den Kioko - Negern , welche P. Pogge von der Westküste Afrika's aus
besuchte , bedienen sich die meisten Frauen zum Tragen der Kinder eines
Riemens, welchen sie ähnlich dem , an welchen unsere Tambours ihre Trom
mel tragen , umgürten ; in diesen Riemen wird das Kind hineingesetzt und
hält sich am Leibe der Mutter fest.3)
Ganz auffallend ist , wie schnell sich die Kleinen an die mannigfachen ,
für ihre eigene Körperhaltung bisweilen recht unbequeme Tragweise ge
wöhnen, so dass sie sich auch, wenn sie in der einmal gewohnten Lage sich be
finden , nicht enthalten , sich dem sanften Schlafe hinzugeben , trotz Rütteln
und Schütteln . Aus seinen Beobachtungen schreibt Hermann Soyaux: 4)
„ Eben saben wir ein Negerweib , ihr Kind in ein grosses Stück Zeug ge
bunden rittlings auf der Hüfte tragend , dort emsig bei der Arbeit . Sie
lockert mit der kleinen Hacke den Boden , jätet das wuchernde Unkraut,
pflückt die langen Bohnenschoten und bricht die Stengel der reifenden Mais
kolben ein .. Ohne aufzusehen arbeitet sie unermüdlich , nur bisweilen sich
den Schweiss aus dem braunen Antlitz wischend , während das Kind auf dem
Rücken , obgleich sein kleines , schon dicht behaartes Köpfchen bei jeder
ihrer Bewegungen hin- und herwackelt, sich nicht im süssen Schlummer
6
stören lässt. "
Allein bei recht vielen Völkern Afrika's ist statt des Rückentragens die
1) Dr. de Rochebrune, Rev, d'Anthrop. 1881. IV . 2 . S. 282.
2 ) Paul Pogge, Beiträge zur Entdeckungsgeschichte Afrika's ; Im Reiche des Muata Jamwo.
7. Heft. Berlin 1880. S. 5.
3) Derselbe. S. 46 .
4 ) H. Soyaux, Aus West- Afrika. 1873-1876 . 2 Thle. Leipzig 1879.
2. Das Tragen . 79
Sitte beliebt, dass die Mutter ihr Kind, um dasselbe fortwährend im Auge
zu haben, und um ihm schnell die Brust reichen zu können , auf einer ihrer
Hüften reiten lässt. Dies ist beispielsweise der Fall bei den Kafferfrauen ,
die nicht blos den kleinen Säugling in solcher Weise bei sich haben , wie
Wood nach einer Photographie darstellte, sondern auch nach Fritsch ihr
schon grösser gewordenes, dem Tragbeutel längst entwachsenes Kind auf
einer von beiden Seiten reitend aufsitzen lassen . Die Frauen der Niam -Niam
in Centralafrika tragen ihre Kleinen , wie die Italiener Antinori und Pi
aggia berichten, an ibrer Hüfte mittels eines Gurtes. So nehmen auch im
Sudan die Weiber ihre Kinder weder auf die Arme, noch auf den Rücken ,
sondern auf die Hüfte, auf welcher das kleine Wesen so reitet, dass ein Bein
über dem Unterleibe, das andere über dem Rücken der Mutter herabbängt.
Mit dem einem ihrer Arme unterstützt die Mutter das Kind in dieser Stellung ;
letzteres schlingt dabei seine eigenen Aermchen um den Leib der Trägerin ,
welche nunmehr wenigstens einen ihrer Arme frei zur Arbeit hat. Auch
hält sich nach Brehm's Bericht das Kind an einer Brust der Mutter fest,
so dass sich dieses Organ in Folge der steten Zerrung bedeutend verlängert.
Die Hüften sind bei den Frauen im Sudahn sehr ausgebildet und vorstehend.
Bis nach Oberägypten herrscht ein ähnlicher Brauch , wie aus einer
Zeichnung Klunzinger's hervorgeht , der in seinen „ Bildern aus Ober
ägypten etc.“ 1) eine Frau darstellt, die mit der Rechten ein Gefäss auf dem
Kopfe, mit der Linken das auf der Hüfte reitende Kind unterstützt.
Die Kalunda -Weiber im westlichen Afrika sah Pogge ihre Kinder nicht
wie die benachbarten Minungo und Kioko mittels eines Riemens tragen ; auch
bedienen sie sich hierzu nicht des Flechtkorbs, der auf ihrem Rücken hängt ;
vielmehr klammert sich das nackte Kind affenartig um den Leib der Mutter ,
so dass es auf deren Hüfte einen Stützpunkt findet, und die Mutter pflegt es
dann mit einem Arm festzuhalten . Schon das kleine Mädchen trägt ihr
jüngeres Brüderchen oder Schwesterchen bei den Woloffen à cheval auf
den Hüften , sogar auch bisweilen ein Kindchen aus der Nachbarschaft in
gleicher Art ; so reitet denn auch ihr eigenes Kind auf der Hüfte, wenn sie
selbst Mutter geworden ist. Diese Gewohnheit kann nicht ohne Folgen auf
die Haltung und Entwicklung des Körpers bleiben , wie namentlich A. T. de
Rochebrunea) hervorhebt.
Bei den Bayaka- wie bei den Bakunya-Negern werden die Kinder von
den Müttern vielfach mittels eines bandelierartigen Riemens getragen , der
von der einen Schulter zur anderen Hüfte geht. Das Kind sitzt auf dem
breiten Riemen und umklammert die Hüfte der Mutter mit den Beinchen.3)
Bei den Bewohnern der westlich von Afrika gelegenen kanarischen
Inseln trägt die Mutter ihr Kind auf der linken Hüfte, auf welcher es gleich
sam reitend hockt, indem ihm , wie im Sudan und in Oberägypten der um
1) 1877. S. 53.
2) Revue d'Anthropologie . IV . 1881. S. 268.
3) Die Loango-Expedition etc. Leipzig 1879.
80 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes .
fangende Arm der Mutter zur Lehne dient. Mac Gregor, welcher dies
meldet, meint, dass dieser Gebrauch sich wahrscheinlich von der afrikanischen
Küste herschreibt. Allein es ist kaum nöthig anzunehmen, dass die Sitte auf
diese Weise importirt wurde; denn sie hat sich auf vielen anderen Inseln ,
z. B. bei den Eingeborenen von Cayenne gewiss selbständig entwickelt ; und
ebenso unabhängig besteht derselbe Brauch in Indien . Unter allen hier ge
nannten Völkern kann derselbe als Folge der besonderen Lebensweise der
Weiber aufgekommen sein , weil jedes Volk das wählt und thut, was ihm
bequem und passend scheint, und weil es sehr leicht ist, eine solche Trage
weise selbständig zu erfinden . In ganz Indien hat das Kindertragen auf der
Hüfte gewiss von früher Zeit her eine grosse Verbreitung , so dass die Sitte
hier durch ihre Allgemeinheit fast als typisch erscheint. Sowohl in Bengalen ,
als auch im südlichen Indien , in Dekhan , tritt sie allen Beobachtern entgegen .
Ein jetzt in Dresden lebender Stabsarzt sah in Ostindien die Kinder so auf
einer Hüfte tragen , dass die Trägerinnen sich ganz schief halten mussten
(nach Mittheilung des Dr. O. Schneider ).
In Port of Spain auf Trinidad tragen die ostindischen Kuli-Frauen die
Kinder seitwärts auf der rechten Hüfte. ")
In Anam trägt man die Kinder auch auf der Hüfte seitlich , wie Dr.
Kuntze2) berichtet.
Die malayische Bevölkerung der Insel Java scheint nicht minder das
Tragen der reitenden Kinder auf einer Hüfte zu lieben . Wenigstens finde
ich dies nicht blos auf einer dem Dr. R. Andree gehörenden Photographie ,
auf der eine Javanesin ihr Kind mittels eines Bandes oder einer Schlinge,
dasselbe mit der Hand unterstützend, auf der linken Hüfte reiten lässt. Viel
mehr zeigt dasselbe auch die photographische Aufnahme einer Kindergruppe,
welche Dr. Pechuel- Loesche aus Djocjocarta von der Südküste Java's
mitbrachte. Auf diesem Bilde hat ein junges Mädchen das kleine Kind in
der Weise bei sich , dass sie ein um ihre Schulter geschlungenes Tuch als
Unterstützungsmittel für ihre kleine Last benutzt. Dergleichen Sitten
wiederholen sich auf den polynesischen Inseln . So wird von den Negritos
oder Etas, welche durch die Malayen in das Innere der Philippinen zurück
gedrängt sind, berichtet,3) dass bei ihnen das neugeborene Kind von der
Mutter meist auf der linken Hüfte getragen wird, wobei es eine Art Reit
stellung einnimmt, doch wird dasselbe auch, sobald es sich festhalten kann,
auf dem Rücken getragen .
Das Gebiet dieser Sitte erweitert sich bis nach Mittelamerika. Denn
auf der Landenge von Darien ist sie völlig heimisch . Der französische
Schiffslieutenant A. Reclus, welcher die Bräuche der dortigen Einwohner
genauer kennen lernte und lebendig schildert, bemerkt über die Lebensweise
der eingeborenen Weiber : „ Sie haben nichts zu thun , als ein bischen zu
Dasein . Dies berichtet der Arzt H. Meyerson. Fängt dann ein Kind zu
kriechen an , so wird es mit einem Strick an die Kibitke gebunden, so dass
es zwar frei herumkriechen , aber nicht bis zum Feuer gelangen kann , das
in der Mitte der Kibitke beständig brennt.
Fälschlich nennt man oft solche Kinder- Tragapparate der Nomaden
Asiens „ Wiegen .“ Denn sie dienen doch nur zur Aufnahme und Lagerung
des Kindes, das man mit ihrer Hülfe leichter und bequemer transportiren
kann. Die Ausstellung zu Paris 1878 brachte dergleichen Apparate zur An
schauung , so dass wir selbst mehrere derselben kennen lernten . Wiegen "
der Ostjaken (Ontob genannt) aus Birkenrinde mit Rückenlehne brachte
Finsch nach Bremen mit; es giebt bei diesem Volke theils niedrige . theils
höhere Wiegen für kleine und grössere Kinder ; sie sind Weiberarbeit. Der
Wiegenboden wird mit zerbröckeltem verfaultem Weidenholz bedeckt, auf
welcher Unterlage ein Einsatz von Birkenrinde ruht, der mit Rennthierhaar
ausgepolstert ist; hierauf wird der in ein Rennthierpelzchen gekleidete
Säugling mit Riemen eingeschnürt.
Wenn die Kurtinen , ein nomadisirender Volksstamm im russischen Gou
vernement Eriwan , sich auf die Wanderschaft begeben , so werden die Kinder
in Säcke gesteckt, welche die Mutter oft paarweise vor sich auf's Pferd
hängt. Es sieht sehr merkwürdig aus, wenn so vor der Mutter am Halse
des Pferdes jederseits ein Kindeskopf aus dem Sacke hervorschaut. Solche
Säcke zur Aufbewahrung des Kindes sind so üblich , dass sie einen unum
gänglichen Bestandtheil der Mitgift bilden . In Ermangelung solcher beson
deren „ Kindersäcke" bedenkt sich die Mutter nicht lange, nimmt ein Paar
ihrer weiten Hosen , bindet dieselben unten zu, steckt oben je ein Kind in
eine Hose und hängt das Paar dem Pferde über. ")
Ein eigentliches „ Tragbett “ besitzen die Kirghizen im Gebiete Semi
palatinsk : eine kleine Bettstelle, welche meist, wenn auch fälschlich, als ,,Wiege
bezeichnet wird, ist aus Weidenruthen geflochten, ruht auf Füssen, hat nicht
hohe Ränder und einen Stab für den Vorhang. Am Gestell ist das eigent
liche, aus Dschabaga (zartem , weichem Filz von Kameelbaar) bereitete Bettchen
befestigt derart, dass „ Wiege“ und Bettchen stets rein sind. Das Kind wird in
die „ Wiege' gelegt, in das weiche Kameelfilz eingeschlagen und dann mittels
eines Bandes an das Bettgestell befestigt. Das gewindelte Kind ruht voll
kommen frei und bequem und kann doch nicht aus der Wiege herausfallen .
Die Mutter trägt die Wiege an der Stange, wie wir einen Korb am Henkel
tragen . Auf dem Pferde stellt sie die Wiege bequem vor sich .
Weil diese Vorrichtung, deren Form in mancher Hinsicht, insbesondere be
züglich der Stange zum Tragen , den Wiegenformen anderer asiatischer
Völker ähnlich ist, so handlich ist, nehmen die Kirghizinnen nur äusserst
selten die Kinder auf die Arme.2)
Die Kamtschadalen schaffen das Kind in ihrer im Nacken hängenden
1) Nach Garril Oganisjan z im Kawkas 1879. No. 54 ff.
2 ) Globus 1881. Bd. 39. S. 110.
6 *
84 Das Legen, Tragen und Wiegen , Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
warmen Kapuze, die sie Kuklunka nennen , auf weiten Touren fort. Ueber
die Schulter der in sehr armseligen Verhältnissen lebenden Aïnos in Japan
schaut fortwährend ein Bübchen oder Mädchen , das auf dem Rücken hockt.
Abbildungen solcher kindertragender Aïno -Frauen findet man in der Zeitschr.
für Ethnol. vom Jahre 1872 Tafel III. Die Tschuktschenfrauen in der
Behringstrasse tragen , wie Dr. Pechuel-Loesche beobachtet hat, die
Kinder in der Kapuze, doch auch bei kurzen Ausgängen im Arme. Derselbe
schrieb mir : „ Ich sah bei den Küsten - Tschuktschen und Namollos die Mütter ,
wenn sie im Fahrzeug auf dem Meere sich befanden , ihre kleinen Kinder
stets hinten in herabgelassener Kapuze tragen , so dass deren Kopf über die
eine oder andere Schulter zu lugen vermochte : so sassen die Kinder im
Pelzwerk warm und bequem , geschützt gegen Sprützwasser und Nässe."
Die im kalten Norden die arktischen Gegenden bewohnenden Völker leben
in fortwährendem Kampfe mit dem rauhen Klima um die eigene und ihrer
Angehörigen Existenz . Als Schutz gegen Frost und schlimme Witterung,
die den zarten , der Wärme noch sehr bedürftigen Säuglingen so verderb
lich ist, bieten die Mütter den letzteren theils die eigene Körpertemperatur ,
theils die Pelzhülle , die sie gleichsam als Wohnung des Kindes auf ihrem
Rücken haben . Die Eskimo stecken die Kinder entweder ganz nackt, wie
Kane fand, oder nur roh in Felle gehüllt in den warmen kapuzenähnlichen
Sack , der wie ein Beutel im Nacken hängt. So sah der Reisende Hall die
Eskimokinder in Labrador und in Grönland bei der höchsten Winterkälte
vergnügt aus der mit der Bekleidung der Mutter eng verbundenen Pelz- und
Fellumhüllung herausschauen ; und das Berliner Publicum fand Gelegenheit,
mit dieser Sitte sich bekannt zu machen , als sich im Jahre 1878 eine Eskimo
familie im Zoologischen Garten zeigte. Doch sieht man die kleinen Es
kimo in ihrer Heimath nicht immer in diesem Nackenbeutel hausen : sie
stecken vielmehr bisweilen auch in den hohen , grossen und weiten Winter
stiefeln an der Seite des Oberschenkels ihrer Mutter. In der That eine nur
den Eskimo eigenthümliche Trageweise ! Der Winterstiefel soll zu diesem
Zweck oben mit Fischbeinreifen versehen sein , um für den Kindeskörper die
gehörige Weite zu haben . Dabei ist er im Innern mit warmen und weichen
Stoffen ausgepolstert.
Wir haben in Europa zwei nomadisirende Volksstämme; der eine der
selben wohnt im hohen Norden , der andere durchwandert den ganzen Con
tinent : die Lappen und die Zigeuner , die wohl beide aus Asien stammen ;
wenigstens wissen wir, dass die Lappen der in Asien heimischen finnischen
Race angehören , während die Stammverwandtschaft der Zigeuner noch immer
nicht ganz sichergestellt ist. Bei den Lappen , die zum Theil auf nor
wegischem , zum Theil auf russischem Gebiet wohnen , werden die Kinder
bis zum zweiten Jahre in hölzernen Kasten bewahrt, und dann ebenso ge
kleidet , wie die Alten . Dieser mit Leder überzogene Kasten oder Holz
klotz, Kont genannt , den man als ,,lappische Wiege" bezeichnet , ist sicher
ein sehr alter Apparat. Denn ich fand ihn schon in dem bekannten Werke
2. Das Tragen . 85
von Joh. Scheffer über Lappland, welches 1675 erschien , auf S. 241 ab
gebildet, wo ihn mit dem darin geborgenen Kinde die Mutter das eine mal
vorn in den Armen , das andere mal hinten auf dem Rücken an einem über
die linke Schulter geschlagenen Tragband hält. In ganz derselben Weise
zeigt sich das Bild der lappischen Mutter mit ihrem Kinde in dem werth
vollen Prachtwerk ,,Description ethnographique des peuples de la Russie,"
welches im Jahre 1862 zu St. Petersburg zur Jubelfeier des russischen Reichs
erschien , Wenn das Kind dem sonderbaren Gehäuse entwachsen ist, so
tragen es die Lappenweiber bei ihrem nomadisirenden Leben noch nach
Jahren mit sich auf dem Rücken umher. Hier hängt nun das Kind in einer
Hängewiege, so dass es den Kopf auf der einen , die Füsse auf der anderen
Seite hat. Die Malerin Emma Ekwall hat vor einigen Jahren (1875 ) eine
solche Nomaden - Lappin mit ihrem Kinde in der Illustrirten Zeitung recht
charakteristisch abgebildet. In jenem Kont ruht das Kind ungemein warm
vor der Witterung geschützt. Der Missionär Lästadius, der in Lappland
predigte , traf in Graträsk einen Mann , der sich nach Arvidsjaur begeben
wollte, um ein Kind taufen zu lassen , das er in solchem Kont trug ; es war
sehr kalt und lag tiefer Schnee.
Die Zigeunerinnen , die ihre 1-2 Jahre alten Säuglinge für gewöhnlich
seitwärts auf dem Arme oder auf der Hüfte reitend mit sich umhertragen ,
wie ich an vielen Orten sah , haben auf der Reise ein über beide Schultern
geschlagenes, vorn am Halse zugeknüpftes und hinten auf dem Rücken eine
sackartige Vertiefung bildendes Tuch gebunden , das als Tragbeutel für das
Kind dient. So ziehen diese heimathlosen Weiber überall umher ; und sie
bleiben in dieser Beziehung immer dieselben , mag man sie in halbcivilisirtem
Zustand auf deutschem Boden oder als Halbwilde in Slavonien, in der
Walachei u . s. w . antreffen .
Es giebt noch in Europa ein Völkchen , bei dem ein nicht geringer
Theil zur Sommer- und Winterzeit seinen Wohnsitz wechselt. Wir meinen
die Schweizer Alpenbevölkerung , wo Sommerwirthschaft im Sommer auf
den Bergen betrieben wird , doch noch vor Eintritt des Winters Personen ,
Vieh und Geräthe wieder thalwärts in das schützende Quartier heimkehren .
Die Bergbewohner lieben es, schwere Gegenstände, die sie hinauf- oder
herabtransportiren , auf dem Kopfe zu balanciren . Eine solche Trageweise
wird denn auch mitunter dem Säugling dort zu Theil. Wenn die Sennerin
im Schweizer Alpenthal Les Ormonts (zwischen den Kantonen Freiburg,
Bern und Wallis ) im Herbst, ihre Sennhütte mit allen ihren Habseligkeiten
verlassend , herabzieht ins Thal, von ihren Heerden umgeben , so hat sie
das gefüllte Reff auf ihrem Rücken , den Strickstrumpf fleissig arbeitend in
den Händen und die Wiege mit dem Säugling balancirend auf dem Kopfe ;
denn namentlich diese Sennerinnen sind gewohnt, bei ihren Alpenwanderungen
die Lasten auf dem Kopfe durch Berg und Thal zu schaffen .
Auch sieht man im Sabinergebirge bei Saracinesco unweit Subjaco die
Frauen der sogenannten Ciociare (welche die Maler oft als Modelle be
86 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
nutzen ) ihren Säugling in einem Korbe auf dem Kopfe tragen , wie der
Maler Pinelli im Jahre 1819 nach mehreren auf der Strasse einherschrei
tenden Modellen trefflich skizzirt hat.
Wir sind nunmehr auf europäischem Boden angelangt und können bei
einem weiteren Blicke , den wir , wenn auch nur flüchtig , auf die Völker
unseres Continents werfen , hinsichtlich der bei denselben gebräuchlichen
Trageweisen des Kindes eine grosse Zahl derjenigen Formen wiederfinden ,
an welche sich verschiedene Völkerschaften anderer Erdtheile von jeher ge
wöhnt haben . Bei einer ziemlich rohen griechischen Bevölkerung , bei den
Mainoten , trägt die Mutter ihr Kind in einem Hammelfell mit sich umber ,
das sie bei der Feldarbeit an einen Baum , bei häuslichen Arbeiten an einen
Nagel hängt. Die serbische Bäuerin trägt nach Professor Valenta's Be
richt das Kind in einer wollenen Tasche am Rücken, den Spaten oder die
Hacke in der Hand und noch an der Tragstange das Essen dem vom Hause
weit weg arbeitenden Manne nach. Auf den Strassen Wiens sah ich ziemlich
häufig Frauen des Landvolks aus der Umgegend, deren Säugling in einem
vorn auf der Brust zusammengeknoteten Tuche auf dem Rücken bing. In
Rom und manchen anderen Gegenden Italiens hält die Wärterin den dicht
gefetschten und gewickelten Säugling zumeist auf dem linken Arm wie ein
Packet mit dem Gesicht abwärts, im Unterschiede gegen die Art, wie man
Kinder bei uns in Deutschland trägt : mit dem Gesicht der Wärterin zu
gekehrt.
In Tirol halten Frauen gar nicht selten ähnlich wie in Italien das Kind
quer vor sich mit dem Gesicht nach abwärts. Wenn in der Schweiz (Kanton
Appenzell) das Wickelkind zur Taufe getragen wird , so geschieht das in
ähnlicher Form , wie bei uns in Deutschland zumeist , auf beiden Armen ,
d . h . in Betten eingehüllt und mit einem grossen , gestickten Tuche über
deckt. Während die wendische Bäuerin in einem Umschlagetuche , das sie
über die Schulter einerseits und um die Hüfte andererseits geschlungen hat,
das Kind vor ihrer Brust haltend trägt, ist in Thüringen, speciell Henneberg ,
eine eigenthümliche Art, die Kinder zu tragen , sehr beliebt ; sie ist für das
Gedeihen derselben höchst unzuträglich , gewährt aber den Frauen den freien
Gebrauch des rechten Arms. Die Kinder werden nämlich in einem soge
nannten Kindermantel, den die Wärterin über ihre linke Schulter trägt, und
der ihr , nach unten bis an die Schenkel reichend, unter der rechten Achsel
nach vorn gezogen wird , auf dem linken Arme sitzend getragen , indem der
Kindermantel über die Beine des Kleinen so fest zusammengeschlagen wird ,
dass das Kind vollständig in der Bewegung seiner Beine behindert wird.
Das fortwährende Tragen des Kindes auf nur Einer Seite gefährdet das
Kind, sich an eine schiefe, gekrümmte Haltung zu gewöhnen . In der Ge
gend von Göttingen schlägt man ein grosses viereckiges Tuch zusammen ,
dass es drei Ecken bildet; dasselbe hängt die Mutter über ihre Schultern und
setzt das Kind hinten zwischen Rücken und Tuch , dessen vorn über die
Brust kreuzweise laufende Zipfel wiederum rechts und links nach hinten ge
2. Das Tragen. 87
führt und auf dem Rücken in der Gegend der Taille zusammengeknüpft
werden .
Dagegen hält bei der keltischen Bevölkerung von Wales die kymrisch
sprechende Mutter ihren Säugling , der ziemlich einfach eingehüllt ist , mit
ihren beiden Armen umfangen.
Im Norden Europa's treten uns wieder mehrere verschiedene Trage
weisen entgegen , bei welchen das Kind mehr oder weniger gut eingepackt
den Einflüssen rauber Witterung bis auf das Köpfchen oder das Gesicht
entzogen ist. Die Russin , selbst mit einem weiten , vorn offenen Pelzrock
bekleidet, steckt das wohleingehüllte Kind vorn an ihren Busen , indem sie
den einen Theil des Pelzrocks um das Kind herumschlägt, wobei dem
letzteren einerseits der Gürtel des Rockes, andererseits der rechte Arm der
Mutter als aufrecht tragende Stütze dient. In jenen nordischen Gegenden
Schwedens, in welchen hohe, kahle Gebirge mit weiten Wüsten und Schnee
feldern , mit Sumpf- und Seeflächen , stellenweise mit grossen , düsteren
Wäldern wechseln , wo ein , die Familien am häuslichen Herd zusammen
haltender, langer Winter und eine lange Nacht die Erde mit Kälte und
Finsterniss bedecken , dann aber wieder ein kurzer Sommer die Bewohner
volkreicher Thäler aus nahen und entfernten Ansiedelungen zu neuem Ver
kehr schnell zusammenruft , in Norrland bängt dann , wenn das winterliche
Dunkel gewichen ist, die Mutter das Kind auf ihrem Rücken querüber und
kommt so zur Stadt, strickend oder die Tabakspfeife im Munde. Ihr Kind
liegt eingebettet in einen den Körper bis zum Hals und einen Arm um
schliessenden Pelz , der an der Vorderseite des Kindes durch Schnüre ge
schlossen ist; am Kopf und am Fussende dieser Pelzhülle ist ein Riemen
oder festes Band befestigt, welches in der Weise über die eine Schulter der
Mutter gehängt wird , dass das Köpfchen des Kindes sich in etwas höherer
Lage befindet als die Füsse desselben . Diese Trageweise , welche in natur
wahrer Aufnahme der Maler Knut Ekwall in der Illustrirten Zeitung ( 1874
No. 1628) darstellte, nähert sich schon jener der noch nördlicher wohnenden
Lappen, über welche wir schon vorher sprachen . Von Skandinavien aus
wurde einst Island bevölkert; der dürftige Boden dieser Insel gewährt wenig
Mittel zu eigenem Lebensunterhalt sowie zur Sorge für das zarte Kinderleben ;
nirgends ist auch die Kindersterblichkeit so gross wie dort. In ein Tuch
eingeschlagen tragen dort die Mütter ihre Säuglinge , von welchen schon
nach Jahresfrist theils durch schlechte Ernährung , theils durch Erkältung
die Hälfte verloren geht, an der vorderen Seite der Brust, indem das sack
artig das Kind umfassende Tuch über die Schulter geschlagen und vom
Nacken getragen wird .
An das Tragen des Kindes knüpft sich so mancher Aberglaube, von
dem wir nur Einiges erwähnen : das Kind darf in Thüringen nicht während
der ersten Lebenswochen ausgetragen werden und dabei einschlafen , denn
sonst sagt man, der Schlaf sei ihm ausgetragen .
Die Woloff-Negerin hütet sich ihr Kind während der ersten Lebens
88 Das Legen , Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
3. Das Wiegen .
Jede Mutter , die ihr Kind in den Armen trägt und dabei ruhig und
sanft auf- und abgeht, versetzt den Kindeskörper in eine Art wiegender Be
wegung In der That ist die beste Wiege jene, welche in ihrer leichten
Bewegung dem sanften Wiegen des Mutterarms am nächsten kommt. Was
versteht man nun aber unter „ Wiege " und welches ist die beste Form
derselben ?
Im Allgemeinen kann man sagen , dass Wiege ein jeder zur Aufnahme
und zur Bergung des Kindes dienender Apparat ist, der mehr oder weniger
leicht in eine hin- und herschaukelnde Bewegung versetzt werden kann . Wir
mussten uns über diese Begriffsbestimmung verständigen , weil wir wissen ,
dass oft auch als „ Wiegen " solche Vorrichtungen bezeichnet werden , welche
manche Völker lediglich als Transport- und Befestigungsmittel für ihre Kinder
benutzen . Hier kommt es besonders darauf an , dass man das Schaukeln
der Wiege als Beruhigungs- und Einschläferungsmittel benutzt.
Gegen dieses Kinderstubenmöbel als Einschläferungsmittel haben nun
Aerzte und Kinderfreunde von jeher Manches eingewendet. So sagt unter
Anderen Sanitätsrath Dr. Livius Fürst : Vielfach ist noch die Wiege in
Gebrauch , wenngleich erfreulicher Weise viel seltener als früher . Denn
wenn wir uns vergegenwärtigen , dass zu den Hauptbedingungen eines guten
Lagers ein gleichmässig ruhiger Stand desselben gehört, und dass durch
die einförmig - schaukelnde Bewegung der Wiege, wenn sie auch von vielen
Kindern ohne Schaden ertragen wird , dennoch nur eine künstliche Betäubung
und Einschläferung bewirkt wird , so muss man sich entschieden gegen die
Anwendung einer wiegenden Lagerstatt erklären. Der durch das Hin- und
Herschwanken in einem bestimmten Tempo fortwährend veränderte Blutkreis
lauf , besonders in der Schädelhöhle , muss ähnlich wie die Einwirkung der
Schaukel, des Wellenspiels auf der See u . s . w . einen leichten Taumel und
Schwindel, bei längerem Bestehen aber einen Zustand von Betäubung herbei
führen , der zwar nach und nach in Schlaf übergeht, aber nicht in den durch
natürliche Erschaffung von selbst eintretenden Schlafzustand , sondern in einen
künstlich erzeugten , welcher dem durch narkotische Mittel herbeigeführten
nabe steht. Ebensowenig , wie die Anwendung solcher Mittel statthaft ist,
kann es die Anwendung der Wiege sein . Das Kind , welches niemals an
eine solche gewöhnt wurde , sondern daran , beim Hineinlegen in ein festes
1) Dr. de Rochebrune. Rev. d'Anthrop. 1881. IV. S. 283.
3. Das Wiegen. 89
Allein es ist für uns wohl weniger die Frage, ob das Kind überhaupt
gewiegt werden darf, als vielmehr, wann, wie oft und wie viel das Kind
gelegt, getragen und gewiegt werden soll? Gewöhnlich verlässt man sich
in dieser Beziehung auf die sogenannte Stimme der Natur, d. h. auf das
Schreien des Kindes. Gerade deshalb aber sehen wir, dass man hinsichtlich
des Tragens und Wiegens des Kindes öfter zu viel als zu wenig thut. In
dem soeben erwähnten , von Lonicerus im Jahre 1561 herausgegebenen
„Hebammenbüchlein “ Rösslin's lese ich Seite 70: „ Item , so das Kind ge
sauget ist, und man es schlaffen legt, so soll man es gemächlich wiegen ,
darumb, dass die Milch nicht hin und her fahre, und bewegt vnrein gebösert
werde.“ Allein hierin liegt wohl ein geringerer Nachtheil als in der unglei
chen Vertheilung des Blutes und der fast narkotischen Wirkung, welche über
haupt das heftige Schaukeln bei kleinen Kindern hervorbringen kann.
Aehnliche Beobachtungen wie Dr. Brenner- Schäffer in der Oberpfalz
hat man auch anderwärts anzustellen Gelegenheit; in seiner „ Darstellung der
sanitätlichen Volkssitten der Oberpfalz“ schreibt derselbe: „ Schnuller und
Wiege sind die Beruhigungsmittel des schreienden Kindes; das Schaukeln
wird oft bis zum Umstürzen der Wiege gesteigert.“ Und aus Dalmatien
berichtet Dr. Derblich: „ Den Mangel an Bewegung der kindlichen Glied
maassen mittels der Einzwängung in Windeln und Polster sucht man hier zu
Lande durch das energische Wiegen und Schaukeln der Kinder zu ersetzen ."
Eine grössere Sorgfalt für das Kind kann erst zu solchen rationellen
diätetischen Grundsätzen führen, die vielleicht zuerst unter allen alten Schrift
stellern von Galen ausgesprochen wurde. Dieser im Jahre 200 n . Chr. zu
Rom verstorbene hochgeachtete praktische Arzt empfiehlt mässige Bewegung
des Kindes in der Wiege , in den Hängematten oder auf den Armen als ein
„ schmerzstillendes Mittel," doch warnt er vor heftigen Bewegungen , und
meint, dass sich die Kinder selbst am besten bewegen , wenn sie kriechen .
Meine eigene, auf vielfache Beobachtung gestützte Ueberzeugung über
den Gebrauch der Wiege geht dahin , dass ich dieselbe in keiner Weise für
3. Das Wiegen . 91
nöthig halte; dass sie allerdings bei richtiger Construction unter vorsichtiger
Benutzung ein nicht schädliches Hülfsmittel bei der Kinderwartung ist , dass
sie aber auch auf der andern Seite bei übler Anwendung, zu der man sich
gar zu leicht verleiten lässt, nicht geringe Nachtheile hat. Am gegründetsten
ist jedenfalls die Einwendung gegen den Gebrauch schaukelnder Wiegen ,
dass die Kinder durch dieselben verwöhnt werden . Viele schlafen erst ein ,
nachdem man sie längere Zeit schaukelte , und manche schlafen nur so lange,
als sie geschaukelt werden .
Das Ziel der Bemühungen vieler Sachverständigen war es von jeher,
dem kleinen Erdenbürger seine erste und beste Ruhestätte recht anheimelnd
zu bereiten. Die Veränderungen , welche man mit der Wiege vornahm , lagen
in dem Mittel ihrer nöthig erachteten Bewegung. Immerhin ist die Frage:
,,Gängel- oder Schwungwiege?" namentlich für die Ehemänner, welche zum
ersten Male das Glück hatten, sich Vater nennen zu dürfen , eine schwierig
zu lösende . Eine Universalwiege zu schaffen , die Alles leistet und ihren
Zwecken in vollendeter Weise entspricht, war dem Erfindungsgeiste der
Techniker bisher noch nicht gelungen . Wenn sich schon der Kinderarzt
Göhlis in Wien einst die Aufgabe gestellt hatte, durch ein von ihm er .
fundenes ,, Schaukelbett" den gerechten Anforderungen zu genügen , so konnte
sich doch das von ihm angegebene Modell keineswegs einbürgern . Ebenso
wenig vermochte sich die im Jahre 1863 auf der Londoner Industrie -Aus
stellung zuerst erschienene ,,Normann'sche Kinderwiege" in der Kinderstube
zur Alleinherrschaft aufzuschwingen . Diese mit Himmelbett umgebene elegante
Erscheinung schaukelte das Kind nicht von rechts nach links, sondern von
Kopf zu Fuss und umgekehrt, indem die beiden Stützen , zwischen welchen
die Wiege schwebte, zu beiden Seiten des Kindeslagers angebracht waren .
Die auf Kufen oder Wiegenläufen ruhenden Wiegen schaukelten nur
dann sanft und geräuschlos, wenn die Kufen , welche als Wiegenfüsse dienen,
Kreisbögen bilden, und wenn die Wiegen auf ebenem Boden stehen . In
seinem ,,Bericht über den Pavillon des kleinen Kindes" von der Wiener
Weltausstellung 1873 sagt Dr. Ferd. Stamm im Hinblick auf die hier an
geführte Thatsache : ,,Die Hängewiegen verdienen daher den Vorzug. In
der neueren Zeit macht man die Wiegengestelle aus runden Eisenstäben
und hängt einen Wiegenkorb , der gut ausgepolstert ist, an die Tragstangen ,
welcher das Rohrgeflecht nachahmt. Man setzt die Tragstangen in einem
Bogen über den Tragkorb fort und befestigt daran Vorhänge, welche an
beiden Seiten über die Wiegen herabhängen . Diese Wiegen , broncirt und
vergoldet, sind sehr schön, sie sind auch fest und schaukeln sanft.“
Auf der Wiener Industrie-Ausstellung des Jahres 1873 (nicht nur im
Pavillon des kleinen Kindes, sondern auch in den anderen Abtheilungen ),
sowie in der Pariser Ausstellung des Jahres 1878 traf man auf eine wahre
Concurrenz verschieden gestalteter Wiegen . Man konnte an den hier vor
gefundenen , zu einer Vergleichung auffordernden Wiegenformen erkennen ,
dass der Volksgeist wenn erer an die ursprüngliche Erfindung solcher
92 Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
wir schon früher genannt haben . Die eigentlichen Urwiegen nämlich sind
die Arme und der Rücken der Mutter, auf welchen ruhend das Kind durch
schaukelnde Bewegung des Körpers in Schlaf gebracht wird. Grönländerinnen ,
Kamtschadalinnen , Tungusinnen sieht man oft das Kind , welches sich auf
ihrem Rücken befindet, durch schaukelndes Hin- und Herbeugen ihres Ober
körpers einschläfern , indem sie ein Liedchen dazu summen . Das ist offen
bar das natürlichste Wiegen , ebenso wie das Hin- und Herschwenken des
auf den beiden Armen der Mutter oder Wärterin ruhenden Kindes.
Für manche Völker scheint das Legen des Kindes in die Wiege eine
ganz besondere Bedeutung zu haben . Bei dem Acte der Namengebung unter
den alten Mexikanern war die letzte aller Ceremonien , welche die Hebamme
mit dem Kinde vornahm , dass sie dasselbe feierlich in die Wiege legte. Vor
derselben mit dem Kinde unter Vorantritt von Fackelträgern angekommen ,
sprach sie ein Gebet zu Yoaltikitl, der Göttin der Wiege, empfahl das Kind
ihrer Fürsorge und ihrem Schutze und wandte sich dann an die Wiege, die
so angeredet wurde: ,,Du, Mutter des Kindes , nimm dieses Kleine gütig auf
und sorge dafür , dass ihm nicht Wehe geschieht.“ Sie legte es nun hinein ,
während die Eltern ihrerseits zu Yoaltikitl beteten und dieselbe Bitte aus
sprachen . Diese Ceremonie hiess ,,Tlalcoculaquilo .“ Und wie die Mexikaner,
so hatten auch die alten Römer eine besondere Göttin, unter deren Schutze
die Wiegen standen ; sie hiess Cunina.
Fragt man nun , welchen besonderen Apparat man als die eigentlich
primitive Wiege zu betrachten habe, so antworten wir, dass es wahrschein
lich zwei einfache Instrumente sind , welche sich als die ursprünglichen Wiegen
bezeichnen lassen . Das eine ist der unten runde Korb oder Holzkasten ,
welcher auf der Erde stehend, sich durch einen seitlichen Stoss in wiegende
Bewegung setzen lässt ; das andere ist die an Seilen schwebende Hängematte ,
welche in Form einer Schaukel leicht hin und her schwingt. Aus diesen
Urformen sind gewiss alle Wiegenformen abzuleiten bis auf die modernsten
Wiegen. Manche Völker besitzen nur die erste, andere nur die zweite Form ,
einige auch beide zugleich und neben einander. Die erstgenannte Form von
Wiegen ist unter den robesten Völkern nicht sehr gebräuchlich ; im Gegen
theil dürfte man deshalb die hängende Wiege als die thatsächlich primitivste
auffassen , weil sie sich jedenfalls aus der Hängematte, dem Sacke, der Leder
tasche entwickelte, in der die Frauen der Wilden die Kinder auf Reisen
oder bei der Arbeit umhertragen . Auch ist, wie es scheint, ein wiegender,
auf der Erde ruhender Korb bei sehr rohen Völkern weniger beliebt und
gebräuchlich als die schaukelnde und hin und her schwingende Hängematte,
weil sich letztere durch einen Stoss für längere Zeit in dauernde Bewegung
versetzen lässt, während erstere einer oft wiederholten Nachhülfe der Mutter
oder Kinderwärterin bedarf.
Wir saben auch , dass die Kinder der rohesten Völker nur selten in
einem Körbchen oder abgerundeten Kästchen liegen , dass sie vielmehr gern
in Säcken oder Beutel getragen werden . Es liesse sich wohl anführen , dass
Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
94
nicht wolliges , sondern strafferes Haar als die Papuas hat; dort trägt die
auf der Reise befindliche Mutter ihr Kind in einem Netzkorb und hängt es
mit diesem an einen Baum oder irgendwo auf, wobei dann eine alte Frau
oder ein Mädchen die Bewachung übernimmt oder es in schaukelnde Bewe
gung bringt, um das Kind in Schlaf zu wiegen (nach D'Albertis ).
An dem Gebrauche dieser Urwiege halten Völker, die ihre Sitten fort
und fort treu bewahren, mit grosser Beharrlichkeit fest. Namentlich scheint
er bei den finnischen Völkerschaften ganz gewohnheitsgemäss aus alter Zeit
her festzusitzen , soweit sie ihre ursprüngliche Lebensweise überhaupt noch
beibehalten haben . Auf dem Boden Europa's wohnen drei finnische Stämme,
die Finnen , die Esten und die Ungarn , die sich in merkwürdiger Weise be
züglich ihrer Kindespflege, auch insbesondere in Hinsicht auf die von ihnen
benutzte Hängewiege für ihre im freien Felde verpflegten Kinder vollständig
gleich verhalten. Die Berichterstatter melden hierüber Folgendes:
Die Kinderzucht der alten Finnen oder Fenni beschreibt Tacitus als
sehr primitiv : „ Sie versorgen ihre Kinder mit keinem Obdach gegen wilde
Thiere und Stürme, als durch eine Bedeckung aus ineinander geflochtenen
Zweigen .“ Procopius ) beschreibt ebenfalls diesen Volksstamm in Skan
dinavien , welches er Thule nannte, unter dem Namen Skrithiphini, womit er
offenbar die Skritfinnas anderer Schriftsteller meint: „ Sie säugen ihre Kin
der nicht, sondern wenn die Mutter auf die Jagd geht, wickelt sie den neu
geborenert Säugling in eine Haut, giebt ihm ein Stückchen Fett in den Mund
und hängt ihn an einen Baum .“ Hören wir nun sofort, wie Prof. J. Holst
in Dorpata) die von ihm beobachtete Kindspflege der Esten beschreibt: „ Die
Estin nimmt ihren Säugling stets mit auf das Feld und legt ihn hier ent
weder auf einen Rain zwischen den Feldern oder in einen Heuhaufen; oder
er hängt in einem Tuche (statt der Wiege) an dem einen Ende einer Stange,
die mit dem anderen Ende in einem Winkel von 45° in dem Acker festge
macht ist ; das Amt der Wärterin übernehmen seine eigenen Bewegungen
und der Wind . Im Hause ist die Wiege auf dieselbe Weise hergestellt, nur
dass der wiegende Baum an der Decke befestigt ist und statt des Tuches
ein Korb die Stelle der Wiege übernimmt.“ Kaum unterscheidet sich
hiervon das, was ich über den dritten finnischen Volksstamm las :3) ,, In Un
garn hängt die Mutter, während sie selbst sich bei der Feldarbeit mit Jäten
beschäftigt , ihr Mann hinter dem Pfluge hergeht, den Säugling in einem
grossen Betttuch auf, worin derselbe den ganzen Tag verbringt. Hier liegt
das Kind wie in einer Hängematte ; fängt das Kind darin an zu schreien ,
so versetzt man dem Betttuch einen Stoss , und es schwingt dann von einer
Seite zur anderen , bis das unglückliche Wesen davon eingeschlafen ist. Oft
hängen diese Kinder stundenlang der stärksten Sonnenbitze ausgesetzt, oft
werden sie von Fliegen und Mücken gestochen und schreien erbärmlich ,
ohne dass sich jemand um sie bekümmert. Wenn die Mutter vom Felde
nach Hause geht, so trägt sie das Betttuch mit Gras oder Gemüse gefüllt,
und manchmal sieht daraus ein Köpfchen oder Beinchen des Kindes hervor.
Um durch den langsamen Gang der Kinder nicht aufgehalten zu werden ,
steckt die Mutter manchmal mehre derselben in das Betttuch ; dabei zankt
und schreit sie , um die sich im Betttuch schlagenden Kinder zur Ruhe zu
bringen .“ Dies sind drei charakteristische Bilder aus finnischen Idyllen .
Ein anderer Bericht über die estnische Wiege spricht von zwei ver
schiedenen Formen : „ Es giebt bei den Esten zwei verschiedene Arten von
Wiegen : 1. Die Rumpelwiege : Ein länglich viereckiger Kasten ist auf zwei
mondviertelförmigen Füssen befestigt, welche dem Untergestell eines Schaukel
pferdes gleichen ; die Bewegung ist eine ähnliche. Beim Wiegen stösst man
leicht gegen den Fussboden , wodurch das Kind tüchtige Püffe erhält und
„ ermüdet" wird . 2. Die Schaukel- und Wippwiegen : Sie bestehen aus einem
leichten Holzkasten oder einem Korbe, von dessen oberen Ecken Stricke
ausgehen ; die letzteren sind oben zusammengebunden und an die Spitze
einer elastischen Stange einer jungen schlanken Birke - gebunden ;
das Stammende ist irgendwo an der Zimmerdecke befestigt. Hat ein Zug
an der Wiege gewirkt und dadurch die elastische Stange gekrümmt, so
dauern die Schwankungen eine geraume Zeit fort. Gewöhnlich werden .
ältere Kinder oder alte Leute angehalten , die Wiege zu schaukeln . Diese
Art Wiege wird häufig im Sommer im Freien an Baumästen oder anderen
Gegenständen improvisirt , wobei die mütterliche Schürze die Wiege vor
stellt. Man füttert meist die Wiegen mit Heu, mitunter mit Kurzstroh aus.“ )
Aehnliche Wippwiegen wie bei den Esten findet man auch bei den
Letten , jenem Volksstamme, der einem besonderen Seitenzweige der slavi
schen Völker angehört und im westlichen Lievland und in Kurland wohnt. Auch
die lettische Hängewiege besteht nicht in einem Tuche, sondern in einem
an Stricken hängenden flachen Kästchen und wird mit vier an den Ecken
desselben befestigten Stricken am Ende einer Stange aufgehängt, welche im
Wohnraume aufgestellt ist und durch ihre Elasticität eine fortgesetzte schau
kelnde Bewegung der einmal in Schwingungen versetzten Wiege sowohl
seitwärts, als auch auf und nieder gestattet. (Dr. Obst und Dr. Pántenius.)
Die Hängematte als Kinderwiege scheint ferner im Volksgebrauch zu
herrschen weit hin über Russland, Transkaukasien , Kleinasien bis Persien .
Allein hier ist es nicht mehr die einfache Hängematte, die wir bei der Land
bevölkerung finnisch -ungarischer Volksstämme vorfanden , sondern dieselbe
vervollkommnet sich innerhalb dieses uns wiederum mit dem Orient verbindenden
Gebietes insofern , als das Tuch , auf dem das Kind gelagert wird , durch
zwei oder vier an gegenüber liegenden Seiten angebrachte Stäbe ausge
breitet erhalten wird . Es zeigt sich in den Hütten nach dieser Richtung bin
schon an den Kinderwiegen ein merklicher Fortschritt. Die primitive Wiege
1) Nach Dr Kreuzwald's Angaben in dem Sitzungsberichte der Estnischen Gelehrten Ge
sellschaft in Dorpat 1879. (Globus, 1880. No. 16, S. 252.)
3. Das Wiegen . 97
1) Nach dem Russischen von Garril Oganisjanz im Kawkas, 1879, No. 54, 55, 58. Globus 1880.
Bd. 38 , S. 271. Ich behalte die Bezeichnung „Kurdinen " oder „Kurtinen " bei, weil ich nicht genau
weiss, mit welchen Volksstämmen unserer Lehrbücher der Völkerkunde sie identisch sind.
PLOSS , Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl . 7
Das Legen , Tragen und Wiegen , Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes .
98
Tage im Sommer und auf der Reise bereitet die Mutter ihrem Kinde gern
eine Hängematte aus zwei parallelen Stricken , um die lose ein Tuch ge
schlagen wird ; um die Stricke auseinander zu halten und gleichzeitig das
Tuch , wenn das Kind darin ruht, festzuklemmen , dienen zwei Hölzer an den
Enden . Ferner schreibt mir Dr. Häntzsche (jetzt in Dresden , früher in
Gilan ), dass in Persien am kaspischen Meer unter den Eingeborenen noch
neben der erst später von Aussen eingeführten Wiege eine primitive Wiege
gebräuchlich ist; dieselbe ist zum Aufhängen und besteht in einer Art von
Hängematte, einem baumwollenen Tuche, an dessen schmäleren Seiten (selten
auch an den breiten ) zwei rundliche Hölzer befestigt sind; an den vier Ecken
befinden sich Stricke , die entweder zu zweien oder alle zu einem mit ein
ander oben verknüpft sind. Manchmal werden alle vier Stricke unverknüpft
an vier Bäumen aufgehängt, die allerdings in baumlosen , trockenen Gegenden
Irans nicht immer so bei der Hand sind , wie namentlich im sumpfigen Ur
walde Gilan's. Auch Dr. Polak , der längere Zeit Leibarzt des Schah's war,
sagt in seinem trefflichen Werke über Persien , dass dort das Kind in eine
Wiege (qewahreh ) gelegt wird , zumeist jedoch in eine Hängematte, weil die
Schwingungen der letzteren anhaltender sind und der Mutter längere Ent
fernung gestatten . Dr. Polak gab mir eine Zeichnung der in Persien als
Kinderwiege gebräuchlichen Hängematte.
Eine solche Urwiege, d . h . die Hängematte , ist noch jetzt in manchen
Gegenden Deutschlands heimisch ; sie hat sich hier jedenfalls aus ältester
Zeit erhalten . Aus dem Frankenwalde schreibt Dr. Flügel:-) „ Die Hänge
matte ist im eigentlichen Waldbezirke des Frankenwaldes wohl gebräuchlicher,
als die Wiege; in ersterer ist natürlich das Schaukeln des darin befindlichen
Kindes viel stärker als in letzterer .“ In Niederbaiern ist nach Egger )
,, eine Schwinge mit vier Stricken am Balken der Zimmerdecke festgehängt,
die Schaukel, in welcher die Säuglinge gewiegt werden.“ In den Wohnungen
der Leute im Riesengebirge hängt von der Decke herab eine Art Schaukel
aus Tüchern und Betten , welche der jüngste Sprössling der Familie ein
nimmt.3) Auch in der Gegend von Bautzen in der Lausitz ist bei der wen
dischen Bevölkerung eine Art Hängematte sehr gebräuchlich ; man sticht vier
Stäbe so in die Erde, dass sich zwei allemal kreuzen , und bindet zwischen
dieselben ein Tuch fest, so dass man das Kind in dieses ausgespannte Tuch
wie in eine Hängematte legen kann . Im Siebenbürger Sachsenlande nimmt
die Bäuerin ihren Säugling nach Ablauf des vierwöchentlichen Wochenbetts
mit aufs Feld . An einer Querstange , die auf zwei sich kreuzenden zusammen
legbaren Beinpaaren ruht, ist eine kleine Hängematte befestigt (Schûk ), die
den Kleinen aufnimmt und von der Mutter so getragen wird , dass die kleine
Last zur Seite herabhängt.") Ueber denselben Gegenstand sagt Joh . Hillner 2):
„ Die wahrscheinlich ursprünglich im siebenbürger Sachsenlande im Gebrauch
befindliche Wiege ist höchst einfach ; sie bestand wohl aus einem an seinen
beiden Enden zusammengebundenen , an den Querbalken der Zimmerdecke
mittelst Seile hängemattenartig befestigten Tuche , in welches das Kind ge
legt und geschaukelt wurde. Solche Wiegen werden auch gegenwärtig noch
bei armen Leuten , besonders bei Rumänen und Zigeunern angetroffen . Dieser
Wiege ähnlich ist die sogenannte Schok , Flägschok (Rosenau ); sie ist eine
Art Hängematte, welche an ihren beiden Enden an je zwei oben durch ein
rundes Querholz verbundenen , unten spitzen in die Erde hineingesteckten
Kreuzstäben befestigt ist. Man bedient sich derselben meist, wenn die Mutter
das Kind in die Arbeit auf das Feld mitnimmt.“ Dies ist der (auf S. 77
beschriebene) ,, Tschoch " der Armenier.
Man sieht aus dem hier Angeführten , dass die Hängewiege oder auch
nur eine besondere Form derselben keineswegs als etwas sei es slavischen , sei
es germanischen oder einzelnen anderen Völkern Eigenthümliches ist. Um
nun zu ermitteln , in wie weit ein slavisches Völkchen , das bis in unser Jahr
hundert mit grösster Zähigkeit an seiner Sprache und seinen alterthümlichen
Sitten festgehalten hat, die wendische Bevölkerung des Spreewaldes , sich
noch immer der ursprünglichen Wiegenform bedient, wendete ich mich mit
der Bitte um Auskunft an den gründlichen Kenner der im Spreewald herr
schenden Bräuche , Herrn W. von Schulenburg. Von ihm erfuhr ich in
dankenswerther Weise Folgendes : Zu Burg und anderen Gemeinden im
Spreewalde ( im engeren Sinne) hiess die Wiege , welche auf das Feld mit
genommen wurde, bombawa, „ Bombaue" (von bombas, hin- und herschaukeln ).
An dem Traggestell hing die trokawa, das (Gras-) Tuch , in dieser lag eine
Mulde, und in der das Kind. Die bombawa ist seit etwa 40 Jahren in
Burg nicht mehr gebräuchlich , dagegen noch auf den sogenannten Land
dörfern . In Burg benutzt man jetzt Kinderwagen (städtische), die Viele im
Kahn mit zur Arbeit nehmen . Eine ähnliche Wiege wie die bombawa fand
v. Schulenburg in Dörfern südlich von Spremberg. Sie besteht aus vier
Stäben, die durch eine waagerechte Querstange verbunden sind ; an diesem
Gestell hängt das Tuch, in dem das Kind liegt. Ferner ist die Hängewiege
in Gebrauch in der Umgegend von Muskau (nicht in Muskau selbst); dort
heisst sie humpale (humpaé, schaukeln ); sie besteht aus einem Gestell von
drei zugespitzten Stecken , an denen das Tuch, die plachta, hängt, in welcher
das Kind liegt.
Die Matte oder das Tuch , an Seilen oder Bändern schwebend oder
hängend, wird anderwärts in Form einer etwas dauerhafteren Hängewiege
durch ein festeres Flechtwerk , ein Brett, ein flaches Kästchen u . s. w ., durch
einen wohl auch wärmenderen Apparat ersetzt, den man zum Einlegen und
Hin- und Herschwingen des Kindes ebenfalls mittels zwei oder vier Stricken
1) Fronius, Bilder aus dem sächsischen Bauernleben in Siebenbürgen . Wien 1879. S. 31.
2 ) Schässburger Gymnasial-Programm 1877, S. 20.
7*
IOO Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
an Bäume oder an die Decke der Hütte befestigt. Solche einfache Vor
richtungen sahen die Reisenden beispielsweise bei den Bewohnern der abge
legenen Südsee-Inseln . So wurde auf der Insel Timor, der östlichsten der
kleinen Sunda -Inseln im ostindischen Archipel, das Kind schon in ein aufge
hängtes flaches Holzkästchen gelegt.") Eine ähnliche Form findet sich bei
den Siamesen ; der verstorbene Sir Rob . Schomburgk hat die Güte gehabt,
mir eine genaue Beschreibung und Zeichnung dieser siamesischen Wiegen
form mitzutheilen. Im nordwestlichen Südamerika wohnen in den Vereinigten
Staaten von Neugranada die zur andoperuvianischen Race gehörenden In
dianer in Yucuanquer, welche Edouard André 1875–1876 besuchte; diese,
wabrscheinlich zum Stamm der Chiocha oder Musca gehörenden Völker
haben in ihrem Rancho (Hütte ) eine viereckige, aus Rohrstäben leicht zu
sammengesetzte Wiege.2) Auch die spanisch -amerikanische Wiege, die ich
auf einem Gemälde (,,le Berceau " von Pallière) vor einigen Jahren im
Salon zu Paris abgebildet sah , ist ein geflochtenes viereckiges , flaches Käst
chen , das an vier , in dessen Ecken befestigten , oben zusammengeknüpften
Seilen hängt und sich unschwer mittels eines unten angebrachten Fadens hin
und her schwingen lässt. Ein aus ringsum übereinander gelegten Rohr
stäbchen bestehendes luftiges Gestell, das am Kopf- und am Fussende auf
gehängt wird, bildet die Wiege der Eingeborenen Algeriens.3)
Viele Indianer Amerika's zeichnen sich vor allen anderen Wilden durch
die eigenthümliche Form ihrer Wiegen aus . Dieselben bestehen eigentlich
aus nichts, als einem Brette ,4) das über dem Kopfe des Kindes etwa einen
Bügel hat, um theils Spielzeug daran aufzuhängen , theils auch um den Kopf
mit einer Matte wie mit einem vor der Sonne und dem Regen schützenden
Schirm bedecken zu können ; anderemal aber besteht die Indianerwiege aus
einem flach ausgehöhlten Holzklotz, der ebenfalls mit einem Schutzdach für
Kopf und Gesicht des Säuglings , dann aber auch mit Tragband oder einem
Lederriemen versehen ist, mittels dessen die Mutter die Wiege sammt ein
gebundenem Kind über dem Rücken zwischen den Schultern tragen oder
auch im Zelte aufhängen kann. Dieser Form bedienen sich die meisten
Indianer , z. B. die Navajo.5) Die Wiege der Mojave-Indianer, die gleich
falls im Territorium von Neumexiko, wie die Navajo wohnen , ist ebenso
handlich zum Tragen , Aufhängen und Aufstellen eingerichtet. Bei noch
anderen Stämmen wird die Wiege in Form einer kleinen Kiste aus ein paar
Brettern hergestellt. In Longfellow's Märchen ,, Lied von Hiawatha" wiegt
die Mutter den Hiawatha :
getragen und mittels eines Tragebandes, das aus Blättern der Mauritius
Palme verfertigt ist , und welches, über die Stirn laufend, den Korb in seiner
Lage hält. Freilich ist nicht ausgeschlossen , dass der Korb ja auch als
Tragkorb für ein Kind dient.
Bei den Patagoniern (Tehuelchen ) in Südamerika werden die Wiegen
für die Kinder nach Musters' Angabe ") aus Streifen von Holzflechtwerk
hergestellt; dasselbe ist mit Hautriemen durchflochten, mit einer Decke ver
sehen, um Sonne und Regen abzuhalten , und der Gestalt nach so eingerich
tet, dass die Wiege während des Marsches auf dem Sattelzeug hinter der
auf dem Pferde sitzenden Mutter stehen kann . Sind die Eltern reich , so
werden die Wiegen mit Glöckchen , mit Messing oder sogar mit Silberplatten
geschmückt. Von den Araucanier- Indianern (Mapuchés) in Chile berichtet
R. E. Smith Folgendes : „ Die Bekleidung der Kinder ist einfach genug .
So lange sie noch klein sind und noch nicht laufen können , werden sie fest
mit Binden umwickelt und an Pflöcken aufgehängt, die in die Wände der
Hütten eingeschlagen sind , oder sie werden in Körbe gelegt , welche vom
Dache herabhängen , so dass sie mittelst eines Strickes in der Wiege hin
und hergeschwungen werden können . Die Kinder sind wahre Vorbilder
guten Betragens, da sie nie schreien , und indem sie sich willig am Pflocke
aufhängen lassen , geben sie kein Zeichen von Leben von sich , als etwa
durch die Bewegung der Augen .“ Die Araucanier -Wiege wird, wie ich auf
einem Bildea) finde, von der Mutter an einem Stirnbande auf dem Rücken
getragen .
Diesen Wiegen nicht unähnlich sind diejenigen der asiatischen Nomaden
völker, der Samojeden, Tungusen , Baschkiren , Kalmücken , Karagassen , Mon
golen , Soongaren . Wir besprachen schon oben Seite 83 die Thatsache ,
dass die sogenannten „ Wiegen " dieser Völker vielmehr Trag- als Wiegen
Apparate sind ; sie können sowohl auf den weiten Zügen derselben getragen ,
als auch im Zelte auf den Boden gestellt, vielleicht auch hie und da aufge
hängt werden . Die Wiege der Samojeden ist länglich und besteht aus Bir
kenrinde; das Kind liegt darin auf Moos oder faulem , weich geriebenem
Holze . Die der Tungusen ist ebenfalls aus Baumrinde gemacht und bildet
gleich einem Lehnstuhl einen stumpfen Winkel; sie hat an der Stelle , WO
der Kopf liegt, einen Ausschnitt oder ein Loch . Die Wiege der Kalmücken
und Mongolen hingegen besteht aus einem Holzkästchen in flacher Form mit
einem Bügel; sie hat der Reinlichkeit wegen eine Oeffnung in der Gegend
des Steisses. Auch sah man, dass Kalmücken und Mongolen unter den
Steiss des Kindes eine löffelförmige Röhre legen , die den Unrath nach Aussen
Ganz ähnlich ist die Wiege bei den Soongaren und Karagassen ; sie
wird von letzteren beim Umherziehen an den Sattel gebunden . Bei den
Orotschonen , einem Tungusenstamme in Sibiren, werden die Neugeborenen
in Felle gewickelt und in ein geglättetes Stück Baumrinde gelegt; die Rän
1) Musters, Unter den Patagoniern. Jena. S. 175.
2) Wood, The natural hist. of man. II. S. 545, 546.
104 Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen , Stehen und Sitzen des Kindes.
der des Stücks werden um Kopf und Füsse geschlagen. Beim Wandern
werden auch hier die Kinder in solcher Weise gut gepackt einem Rennthier
angehängt.') Die Baschkirenwiege ist wie ein Kahn gestaltet und aus Bir
kenrinde gefertigt, am Rande mit Weidengerten umflochten ; reitet der Basch
kire, so wird die Wiege über die Schulter gehängt und das Kind darin an
gebunden . Das neugeborene Kind der Ostjaken wird nach dem ersten Bade
in Rennthierfelle eingewickelt und in die an Stricken befestigte, aus Birken
rinde zusammengenähte Wiege gelegt. Die Wiege der Ostjaken und Samo
jeden heisst ostjakisch „ Ontob “ und ist aus Birkenrinde mit Rückenlehne.
(S. 83.) Die Katsch oder Katschinzen , ein südsibirischer Volksstamm am
Jenisei, besitzen nach Dr. v. Duhmberg sargförmige Wiegen mit einer
Rinne am Boden zum Abfliessen des Harns ; die Kinder werden halbnackt
hineingelegt, nur in trockenes Moos gehüllt , mit dem die Wiege ausgefüt
tert ist,
Diesen asiatischen Horden sind die auch in ihrer Lebensweise auf gleiche
Bedürfnisse angewiesenen Lappen ähnlich . Man erkennt dies unter Anderem
an der Form ihrer Wiege . Dieselbe ist ein trogartig ausgehöhlter, mit Moos
gepolsterter und mit Leder und Rennthierfell überzogener Holzklotz. Ueber
dem Haupte des Kindes ist ein Schirm oder eine Decke von Leder ange
bracht, an welcher bisweilen einige, das Kind belustigende und klappernde
Dinge, wie messingene Ringe hängen. In diese Wiege legen die Lappen ihr
Kind, ohne es in 'Tücher einzuwickeln ; an deren Stelle streuen sie nur etwas
zartes Moos unter, und von den Seiten her verwahren und bedecken sie das
Kind mit weichen Fellen . So wird schliesslich das Kind in der Wiege mit
Riemen eingebunden , diese an die Decke gehängt und geschaukelt, bis das
Kind schläft . Ohne Zweifel ist es historisch interessant, dass diese echt
lappische Wiege , Kont, noch jetzt völlig in der uralten Form gebräuchlich
ist. Im Allgemeinen scheinen jetzt zwei Formen von Wiegen in Lappland
heimisch zu sein , von welchen die eine wohl die ältere?), die andere , aus
Rennthierfellen bestehende, vielleicht die neuere, erst später eingeführte Wiege
ist.3) Diese letztere, innen mit Fellen , aussen mit Leder überzogene Art das
Kont, auch Jickum genannt, dient ferner zum Transport des darin in weichem
stark behaartem Pelz gut eingehüllten jüngsten Sprösslings. Die Mütter
schlagen einfach den Riemen des Jickum , an dem dasselbe sonst aufgehängt
wird , über die eine Schulter, so dass das Kindchen quer über den Rücken
liegt. So sieht man die Frauen nach den Städten wandern , z. B. nach Gefle,
wenn dort Jahrmarkt ist, während sie ein Tabakspfeifchen im Munde und den
Strickstrumpf in den Händen haben.
Wie es die alten Esten mit den Wiegen der Kinder hielten, und dass
insbesondere die Wiege derselben wohl nicht allein in dem von uns be
fanden , und die wir in Folgendem wiedergeben , lässt nur die Vermuthung zu ,
dass hier schon Kufen das Hin- und Herschaukeln vermittelten . Bei Eröffnung
des Todtenfeldes von Ancon in Peru fanden Reiss und Stübel') allerdings
Kinderwiegen , die sie auch abbildeten , doch entsprachen dieselben nicht der
nachfolgenden , den Entdeckern Amerika's nacherzählten Beschreibung.
Die alten Peruaner im Inca -Reiche hielten ihre Kinder meist in Wiegen ,
welche eigentlich in einer Art von Bank mit vier Füssen bestand, deren
einer etwas kürzer als die anderen war , damit man dieses Gestell hin und
her wackeln konnte . Das an Stelle des Sitzbrettes der Bank angebrachte
Bett, worauf die Kinder lagen , war eine Art von grobem , über einen Rahmen
gespannten Netz , womit die Wiege auf beiden Seiten umwickelt wurde, damit
das Kind nicht herausfallen konnte. Die Mutter nahm das Kind niemals, auch
nicht einmal, wenn sie es stillen wollte, in die Arme, weil sie besorgte , es
leicht zu verwöhnen, dass es nachher nicht in der Wiege bleiben wollte.
Wenn sie es aber für gut fand , es herauszunehmen , so machte sie ein
Loch in die Erde und stellte es bis an den halben Leib hinein , legte all
erlei Lappenwerk um selbiges herum und gab ihm allerhand zu spielen ;
niemals aber wurde es auf den Arm genommen , wenn es auch des Inca
Erbprinz gewesen wäre.?) Die Wiegen der gemeinen Leute im Inca - Reiche
waren so eingerichtet, wie sie noch bei den meisten amerikanischen Indianern
im Gebrauch sind . Sie bestanden aus einem Brett, auf welchem das Kind
befestigt war , und wodurch die seltsame Verunstaltung des Schädels hervor
gebracht wurde, die wir an den Todtenköpfen der Altamerikaner wahr
nehmen.3 )
Die zweite Wiegenform , die man mehr als die oben besprochene
Hängewiege bei den fortgeschrittenen Völkern im Gebrauch findet, ist die
sogenannte Kufenwiege , die meist wie eine Bettlade gestaltet auf zwei die
seitlichen Schwankungen vermittelnden Kufen oder Kreisbögen ruht. Zunächst
treffen wir diesen Typus nicht blos bei uns , sondern auch im Orient. Die
türkische Wiege, wie ich sie in einem Exemplar zu London im South Ken
sington -Museum sah , entspricht in ihrer äusseren Gestaltung vollständig dem
Geschmack des Orientalen : Ein runder, walzenförmiger , aus dünnem Holz
bestehender Körper , die Wiegenlade, in welcher das Kind lang ausgestreckt
ruht, und die schön roth lackirt, innen mit weisser Seide tapezirt ist, ruht
auf Kufen , die beiderseits sehr in die Höhe geschweift sind . Eine ganz
eigenthümliche Kinderwiege war in der Wiener Ausstellung des Jahres 1873
in der Abtheilung der Türkei ausgestellt ; wir wissen nicht, ob diese Form
mehrfach in der Türkei vorkommt. Es war dies eine Bettstätte, welche aus
einem Rahmen bestand, der statt der Gurten mit einem Netz festgespannter
Riemen überzogen war . An der Seite dieser Bettstätte an dem Rahmen war
1) W.Reiss und A. Stübel, das Todtenfeld von Ancon in Peru. Berlin 1880.
2) Baumgarten , Allgem . Gesch . der Länder u . d. Völker von Amerika . II. S. 214 .
Purchas (nach Acosta ), Histoire des Yncas du Perou. L. IV. Ch. 11. - Abbildung in : Picard ,
Cérémonies et coutumes religieuses des peuples idolâtres. Amsterdam 1723. S. 205.
3) G.Klemn, Allg. Culturgesch. V. S. 36 .
3. Das Wiegen . 107
der Wiegenkorb für das Kind aufgehängt. Nach Fr. W. Oppenheim , dem
genauen Kenner hygieinischer Sitte der Türken , ist die Wiege der letzteren
eine Art Mulde, oft auch ein Korbflecht, in dem das Kind nur mässig ge
schaukelt wird. Die bei den Bulgaren gebräuchliche Wiege hat ähnlich der
türkischen eine über das Kind von Kopf bis zu Fuss laufende Stange zum
Ueberhängen von Tüchern .
Eine Kufenwiege mit einer solchen Stange ist auch in Kleinasien
heimisch .
Um genauer festzustellen , welche Wiegenform bei den Georgiern oder
Grusiern im jetzigen Gouvernement Tiflis die volksgebräuchliche sei, erbat
und erhielt ich von Dr. O.Schneider in Dresden eine Photographie, welche
eine grusinische, im Museum zu Tiflis befindliche Wiege darstell
Form ist ganz charakteristisch . Sie wiederholt sich weiterhin , nur in etwas
niedriger und verlängerter Gestalt, bei einem Volke, das im heutigen Syrien ,
mitten unter den ihnen feindlichen Drusen am waldigen Abhang des Libanon
wohnt, bei der christlichen Secte der Maroniten . Der französische Reisende
Lortet berichtet darüber Folgendes : „ Von besonderen Volkssitten findet
sich unter den heutigen Maroniten nur wenig Interessantes vor ; eigenthüm
lich und bemerkenswerth ist die bei ihnen gebräuchliche Art der Kindespflege
im ersten Lebensjahre , die an viele Versuche erinnert, die bei uns in Waisen
und Findelhäusern mit sehr zweifelhaftem Erfolge gemacht worden sind . Von
dem Tage der Geburt an liegt der maronitische Säugling in der eigenartig
aus Maulbeerholz construirten Wiege festgebunden ; von einer Wartung auf
dem Arme der Mutter ist keine Rede. Neben der Wiege kauernd, den Arm
über ein zu diesem Zwecke angebrachtes Querbolz gelegt, tränkt dieselbe
das liegende Kind . Nur einmal in 24 Stunden wird es zum Wechseln der
Windeln von seinem Lager aufgenommen . In der Zwischenzeit sorgen höl
zerne Röhren , die durch den Boden der Wiege gehen, für verhältnissmässige
Trockenheit des Bettes." ) Jenes Querholz ist ein Stab , der über dem Lager
des Kindes vom Kopfende bis zum Fussende der Wiege angebracht ist; er
dient auch dazu , dass man an ihm die ganze Wiege erfassen und mit dem
Kinde forttragen kann.
Eine ganz ähnliche Wiegenform geht nun weiterhin durch viele Völker
Asiens bis in die Dsungarei, dem Westland China's, denn in Kaschgar fand
sie der Reisende Forsyth ; und überall werden auch da die Vorrichtungen
zum Abfluss der Unreinigkeiten angebracht. Auch an der in Ostturkestan
gebräuchlichen Wiege ist nach L. Schlagintweit ein hölzernes, an ein Rohr
angesetztes Uringefäss angebracht, für dessen Mündung die Kissen ausge
schnitten sind ; dieses Gefäss führt den Urin ab und hält das Bett rein .
Der Boden des Kastens, welcher bei den Armeniern und Tataren des
Kreises Nucha im Gouvernement Tiflis als Wiege dient, besteht aus drei
oder vier Brettchen . Eins derselben in der Mitte der Wiege hat ein Loch .
in welches ein cylindrisches thönernes Gefäss ( eine Art „ Nachtgeschirr " ) hin
eingeschoben wird . Die am Boden der Wiege befindliche weiche, aus Schaf
wolle hergestellte Matratze hat jenem Loch des Bodens entsprechend gleich
falls eine Oeffnung. Nun wird eine kurze, winklig gebogene, hölzerne, mit
Wachs innen ausgegossene Röhre eingeführt, welche mit einem Ende an den
Unterleib des Kindes sich anschmiegt, mit dem andern Ende in jenes Gefäss
hineinragt. Durch diese sinnreiche Vorrichtung , welcher die Tataren eine grosse
Aufmerksamkeit schenken , werden von dem Kinde viele schädliche Einflüsse fern
gehalten , indem das Kind vor dem Nasswerden vollkommen gehütet wird .
An den vier Ecken des Kastens werden Füsse angebracht, von denen je
zwei auf Bogen ruhen, so dass die Wiege geschaukelt werden kann. Oben
hat der Kasten am Kopf und an den Füssen je einen Bügel, welche durch
ein Bindeholz verbunden sind. Hieran kann man bequem die Wiege fassen
und hin- und hertragen ; auch dienen der obere Bügel und das Bindeholz
zur Befestigung einer leichten Decke oder eines Vorhanges.")
Die Beschreibung jener eigenthümlichen Vorrichtungen, welche man als
,Wasserleitungen “ bezeichnen kann , verdanke ich dem Dr. Oscar Schneider
in Dresden . Es sind dies pfeifenartige Röhren , die man allgemein im Bazar
von Baku kauft ; die für Knaben bestimmten haben ein Kopfstück mit kreis
rundem , die für Mädchen mit ovalem Durchschnitt. Die Oeffnung dieses
aus Holz bestehenden (ausgebohrten ), unseren Tabakspfeifen ähnlichen Instru
mentes wird an die Genitalien angedrückt, bei den Knaben über dieselben
gesteckt; die Röhre steckt man durch eine Oeffnung in der Wäsche, mit
welcher das Kind festumwickelt wird . Das so gewickelte kleine Wesen
wird dann durch vier Stricke an die Decke gehängt. Der Urin läuft auf den
ungedielten Boden. Man sorgt hiermit auf primitive Art für Abfluss dieser
Absonderung und erspart das bei uns gebräuchliche wiederholte Wechseln
der Windeln .
Auch die Armenier des Kreises Scharuro -Daralagesk im russischen Gou
vernement Eriwan benutzen für das getaufte Kind eine vollständige Schaukel
wiege: einen kleinen etwa 1 Meter langen, 0,35 Meter hohen und breiten
Kasten , an dessen unterer Fläche statt der Füsse halbkreisförmige Bretter
befestigt sind . Am Kopfe und Fussende der Wiege sind hölzerne Bügel an
gebracht, welche durch einen der Länge nach verlaufenden Stab verbunden
sind. An diesem Stab kann die Wiege leicht hin- und hergetragen werden ;
an denselben bängt man auch allerlei Spielsachen, Muscheln , Knochen u . s. w .
zur Beschäftigung für das in der Wiege liegende Kind. An diesen Stab
stützt sich die Mutter, wenn sie dem Kinde die Brust reicht, wobei das Kind
in der Wiege liegen bleibt. Am Boden der Wiege befindet sich eine weiche,
mit Schafwolle gefüllte Matratze, welche mit einem Tuche bedeckt ist ; beide
haben in der Mitte eine Oeffnung , welche einer Oeffnung am Boden der
Wiege entspricht, wie bereits oben beschrieben wurde . Sowohl unter den
Kopf, als unter die Füsse werden besondere kleine Kissen gesteckt, worauf
zwei Tücher, eines für die obere, das andere für die untere Hälfte des Bettes
bestimmt, daraufgedeckt werden . Ist das Bettchen gemacht , so wird das
Kind hineingelegt, das betreffende Rohr in Ordnung gebracht und das Kind
mit den bereit liegenden Tüchern zugedeckt. Nun wird das Kind durch
zwei Binden , welche quer, die eine über die Brust und den Bauch , die an
dere über die Beine geschlungen werden , an die Wiege befestigt, so dass es
unbeweglich darin liegt, jedoch mit freien Armen und Füssen . Beim Stillen
wird das Kind nicht aus seinen Banden befreit, sondern die Mutter kniet
nieder und reicht ihm so ihre Brust; dabei ereignet es sich wohl, dass des
Nachts die Mutter bei diesem Geschäft einschläft und mit ihrer Brust Mund
und Nase des Kindes vollkommen verschliesst ; beim Erwachen findet sie ihr
Kind erstickt. ')
Eine ähnliche Form der Kufenwiege fand Dr. med . Häntzsche (jetzt in
Dresden ) in Persien neben und ausser der oben beschriebenen primitiven
Hängewiege. Allein diese Form , von welcher er mir eine Skizze schickte,
ist nach seiner Ansicht nicht national in Persien , wo sie jetzt mehr und mehr
Eingang findet. Sie ist von Holz, ähnlich der unsrigen ; es befindet sich aber
in der Mitte des Bodens, auf dem das Kind liegt, ein Loch mit einem daran
gehängten Thongefäss zum Auffangen der Ausleerung des Kindes. Häntzsche
vermuthet, dass diese Wiege aus dem Kaukasus von Grusiern oder Arme
niern eingeführt wurde ; in Rascht am kaspischen Meer wird sie von Arme
niern gefertigt. Deshalb bezeichnete sie mir Häntzsche als „ persische Wiege
der Neuzeit, durch russische Armenier eingeführt.“
Es fragt sich nun : Wo stammt die Kufenwiege her ? Hatten schon die
alten Griechen eine solche, und welcher Wiegenform haben sie sich über
haupt bedient? Bei archäologischen Schriftstellern fand ich hierüber folgende
Angaben : ,,Die griechische Wiege hatte bald die Form eines Schildes, bald
die einer Wanne (Callimach . Hymn. I.: Aðpgela hixvo èvèypuosim . Auch
Homer's Hymn. in Mercur .), bald die eines Schiffchens ; sie war bald be.
deckt, bald offen . Bisweilen wurden die Kinder in beweglichen Bettstellen
bald hierbin, bald dorthin geschafft. Doch gab es auch in Angeln hängende
Wiegen , um die Kinder einzuschläfern .“ Mit dieser Angabe konnte ich mich
nicht begnügen ; denn dass beispielsweise die griechische Mythe als Wiege
des Herkules einen Schild bezeichnet ( Theokr. XXIV . 4 ), kann doch unmög
lich als Beweis dienen für einen allgemeinen Gebrauch des Schildes als Wiege
unter dem Volke der Griechen . Solche in Realencyclopädien gegebene An
deutungen bleiben meist ohne nähere Begründung. Anders äussern sich
Guhl und Koner ; nach deren Angabe benutzten die alten Griechen ausser
der flachen Korbschwinge (léxyov) eine Wiege, die den Vortheil darbot, dass
sie vermittels ihrer Handhaben leicht transportirt und an Stricken aufgehängt
in schaukelnde Bewegung gesetzt werden konnte ; es ist dies die „ schuh
1) Nach Garril Oganisjanz im Kawkas 1879 ; „ Globus" 1880. Bd. 38, S. 270 .
IIO Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
Strickes die Wiege durch das Fenster hindurch mit einem Rade in Verbindung,
das ein in der Nähe befindlicher Wasserfall treibt; sie benutzen somit die
Triebkraft des Wassers zur Unterhaltung des Schaukelns. Dieser vielleicht
sebr alte Gebrauch der Aelpler erinnert an eine Vorrichtung, die zu gleichen
Zwecken einst ein berühmter Mann ersann . Der geniale Erfinder der Loco
motive , George Stephenson , welcher anfangs in Killingsworth als unbe
kannter Bremser lebte , erwarb sich daselbst die Dankbarkeit sämmtlicher
Frauen in seiner Nachbarschaft dafür , dass er die Wiegen der Kinder mit
dem sogenannten Smoke- jack (dem Bratenwender , welcher vermittels Luft
zugs im Rauchfang in Thätigkeit gesetzt wird ) in Verbindung brachte, wo
durch sie sich von selbst bewegte.
Das maasslose und unausgesetzte , das Kind mindestens verwöhnende
Schaukeln ist nicht die einzige Schädlichkeit, die sich im Brauche des deutschen
Volkes mit der Wiege verknüpft. Vielmehr bringt uns die Art und Weise ,
in der man hie und da das Kind in der Wiege bedeckt, einschnürt und am
freien Gebrauche der Gliedmaassen behindert, manche Gefahren für Gesund
heit und Leben des Kleinen mit sich . Eine lebendige und wie es scheint
recht treue Schilderung der nach dieser Richtung hin in Württemberg herr
schenden üblen Sitte lieferte vor einiger Zeit der Pfarrer Rüdiger, welcher
im Hinblick auf die übergrosse Kindermortalität Württembergs ein Schriftchen :
„ Die Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahre “ (Blaubeuren 1868,
S. 14) herausgab . Die falsche Kindespflege beschuldigt er mit Recht als
Hauptursache der hohen Sterblichkeitsziffer ; und unter anderen schlimmeren
Gewohnheiten (unzweckmässige Ernährung der Säuglinge u . s. w .) macht er
uns mit einigen Thatsachen bekannt, die übrigens gewiss auch in ähnlicher
Weise an anderen Orten Deutschlands vorkommen :
Das erste Mittel, welches man in Württemberg anwendet, um das Kind
in Schlaf zu bringen , ist das Schaukeln (Wiegen ), das man bei unruhigen
Kindern Tag und Nacht fortsetzt, und zwar mit möglichster Schnelligkeit.
In Württemberg ist noch in vielen Haushaltungen die sog. kleine Wiege vor
handen , welche kaum 1/2 Fuss hoch ist und nur einen kleinen Spreuersack
enthält, auf dem das Kind zu liegen kommt. Die Ueberdecke überragt den
Rand der Seitenbretter, und das Kind würde beim Schaukeln leicht heraus
fallen , wenn keine Sicherheitsmaassregeln angebracht wären . Diese bestehen
darin , dass dem Kleinen an beiden Händchen Fesseln von Leinwand angelegt
werden , welche vermittels längerer Bänder an den unteren Pföstchen der
Wiege befestigt werden . Hierdurch ist das Kind nicht im Stande , sich zu
drehen , es muss in der Rückenlage verharren , und kann blos seine Füsse
bewegen und gegen das Fussbrett unter die Decke herunterrutschen . Damit
auch diese Bewegung und zugleich das sich Aufrichten und Bäumen des
Kindes verhindert werde, dasselbe aber hübsch ordentlich unter der warmen
Decke bleibe, wird diese mittels eines langen Bandes oder Gurtes über die
Wiege im Zickzack festgebunden , zu welchem Zweck die Seitenbretter mit
kleinen hölzernen Nägeln versehen sind. In diesem Bann , der auch in der
PLOSS, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 8
Das Legen, Tragen und Wiegen , Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
114
grösseren Wiege öfters angelegt wird, muss das Kind halbe Tage und länger
in Schmutz und Nässe ausharren , bis man Zeit findet, es auf einige Augen
blicke loszubinden , zu lüften und zu reinigen , was sehr oft nur auf die Weise
geschieht, dass der untere Theil der Bettdecke losgemacht und über den
Kopf des Kindes zurückgeschlagen wird , in welcher erstickenden Lage es
ausharren muss, bis die Reinigung vollzogen oder ein trockener Lappen auf
den durchnässten Spreuersack gelegt ist. Selbst zum Genusse der Speise
und des Getränkes wird oft nicht losgefesselt, sondern in dieser fast alle
Bewegung unmöglich machenden Lage empfängt das Kind seine Nahrung ,
sogar die Brust der Mutter, indem dieselbe vor die Wiege kniet und mit der
Brust sich über das Kind beugt.
In der Oberpfalz muss das Kind Tag und Nacht in der Wiege ruhen ;
je mehr es schläft, desto braver ist es ; damit es aber ja recht fest schlafe,
wird es von der Mutter oder einem kleinen Kinde eifrig gewiegt, bis es, von
der schaukelnden Bewegung betäubt, die Augen schliesst. Will es aber zum
grossen Leidwesen der Mutter durchaus nicht ruhen , so wird es in ein Kissen
eingebüschelt und herumgetragen , womöglich aber auch da in wiegender
Bewegung erhalten . Die Sorge für das Kind bei Tag und Nacht ist ganz
der Mutter überlassen , selbst während der Mahlzeit, wo das Kind in der
Wiege zur Rechten der Mutter am Tische erscheint. Nachts steht die Wiege
am Bette der Bäuerin , etwa um einen Schritt entfernt, und ein Stück Tuch
geht davon zur Mutter hinauf, damit sie das Kind, wenn es unruhig wird ,
wiegen könne.
Im alemannischen Hause steht das zweischläfrige Bett in der Nebenstube,
der sogenannten Ristkammer oder Nebetkammer . An der Diele darüber ist
der Betthimmel angebracht, die ,,Hindozi,“ ein Schild , auf dem der Mond
mit den Sternen abconterfeit ist. Vom Bette aus wird die nebenanstehende
Wiege mittels eines Zugstrickes geschaukelt. Damit das Kind nicht behext
oder von jäher Krankheit befallen werde, hängt an der Wiege ein Bündel
chen mit neunerlei geweihten Kräutern und ein sogenannter Benedictus- Pfennig .
Bei den Siebenbürger Sachsen hat das Neugeborene neben der Mutter
auf einem besonderen Bettchen oder in der Wiege seinen Platz . In Minarken
(bei Bistritz im Sachsenland ) wird das Kind bis zum Kirchgang der Mutter
in eine kleine geflochtene (Weidengeflecht?) Wiege gelegt, die auf das
Wochenbett gestellt wird. Die Wiege ist hier meist aus Tannenholz zu
sammengefügt, bunt bemalt und ein Erbstück aus alter Zeit.")
In den Sagen der Deutschen spielen goldene Wiegen eine grosse Rolle.
An vielen Orten soll eine goldene Wiege in der Erde stecken : in Lauen
burg , bei Bobnert an der Schlei, bei Pöggendorf, bei Wadekath , in der
Stuenenburg , in der Isenburg, im Heiligengeistbusch bei Einbeck , in Schild
thurn , auf dem Golm bei Baruth , im Weinberge bei Hitzacker, bei Immekath
in der Altmark . Zu Schildthurn bei Landau an der Isar war in der Kirche
in derselben zurückbleiben , damit man dem Kinde den Schlaf nicht mitnehme.
Sie wird überhaupt nicht eher in Gebrauch genommen , bevor sie nicht mit
Kümmel, Wachholderbeeren und Weihrauch geräuchert worden ist. ) - Die
Wiege , in welcher das Kind gelegen , darf nicht verkauft werden , sonst giebt
man das Glück aus dem Hause ; so äussert sich die Volksstimme in Schlesien
und Brandenburg .
Unter den Mongolen pflegt die Freundin , welche der Frau bei der
Geburt beisteht, dem neugeborenen Kinde eine Wiege und ein Wickelband
zu spenden (von Baliut).
Die Wiege bleibt in der Vorstellung eines Volkes dem Kinde noch nach
dem Tode. Die Peruaner, die in alter Zeit sich bis zu einem Grade der
Halbcultur aufgeschwungen hatten, begruben ihre Kinder bisweilen in der
Kindeswiege. Wenigstens fanden Reiss und Stübel2) eine Kindesleiche
im Grabe, wobei eine wirkliche Wiege als Sarg desselben verwandt war .
Die Pietät wollte hiermit dem kleinen Verstorbenen auch fortgesetzt seine
trauliche Lagerstätte gewähren.
4. Das Sitzen .
Dadurch , dass man sich bemüht, das Kind zu frühzeitig an das Sitzen
zu gewöhnen , werden recht nachtheilige Fehler begangen . Es ist eine Eitel
keit mancher Mütter, dem noch zu zarten Kinde die aufrecht sitzende Stellung
zu geben , um nur triumphirend sagen zu können : ,,Wie weit ist mein Kind
anderen gleichaltrigen voraus!" Ich kann mich nicht enthalten , des bekannten
Kinderarztes Prof. Hennig in seiner Schrift: „Mutter und Kind" . Leipzig ,
1873 . S. 174.) treffende Bemerkungen hier wörtlich anzuführen : „ Die ersten
Anzeichen , welche ein Kind thut, dass es sich aufrichten will, weil es dies
kann , sind Bemühungen , den Kopf zu erheben . Trägt man ein Kind zu dieser
Zeit schon aufrecht, steckt man es in das „ Tragkleid ,“ weil vielleicht zu
fällig die dazu ausersehene Zeit abgelaufen ist, so straft sich diese Hast nur
zu oft durch Schiefhalten des Kopfes oder durch krummen Rücken . Man
erkennt sofort, ob das Kind zu zeitig aufrecht-sitzend getragen wird , daran ,
dass es den Kopf hin und her schwanken und auf eine Seite fallen lässt.
Gewöhnlich erstarkt ein gesundes Kind zum Sitzen nach dem ersten
Vierteljahre .“
Bei einem sehr grossen Theile der Völker unserer Erde ist der Kinder
sessel ein völlig unbekanntes Ding. Dies gilt nicht blos von den meisten
rohen Völkerschaften , sondern namentlich auch von den Orientalen , bei denen
alle Welt auf niedrigen Polstern sitzt, oder mit untergeschlagenen Beinen auf
Teppichen hockt. Da lernt das Kind lediglich das Hocken , wie die Alten .
Hinsichtlich des Hockens und Sitzens hat man bei einzelnen Naturvölkern
besondere Gewohnheiten beobachtet. Beispielsweise sieht man bei den Motu ,
einem Volksstamme auf Neu -Guinea, die Männer, wenn sie sich ausruhen ,
gewöhnlich in hockender Stellung. Mit der vollen Fussfläche auf dem Boden
sitzen sie auf ihren Fersen. Diese Stellung lieben sie am meisten . Die
Frauen und Kinder dagegen sitzen gewöhnlich an der Erde und stossen ihre
Beine vor sich aus. Von einem Möbel, auf das man sich setzt, ist also auch
hier keine Rede. Das Hocken als gewohnheitsgemässe Ruhestellung lernt
sich dann von selbst. Wie die Papuas und Malayen , so lieben auch die
Negritos auf den Philippinen -Inseln nach Mundt- Lauff's Bericht das Nieder
hocken ; sie können stundenlang (sich auf den Zehenballen wiegend und mit
dem Gesässe auf den Fersen ruhend) in dieser Stellung verharren , ohne zu
ermüden ; die Negritokinder lernen das Niederhocken früher, als das Gehen.
In Europa jedoch war von alter Zeit her der Kindersessel ein noth
wendiges Stück im Inventar der Kinderstube. Vielleicht aus mittelalterlicher
Zeit erhielt sich hie und da ein zu diesem Gebrauch dienendes Möbel. So
ist noch heute in Holland ein Kinderstubl heimisch, dessen Form gewiss sehr
alt ist; ich fand ihn beispielsweise auf einem in der Berliner Nationalgalerie
(No. 213 ) befindlichen Bilde des Kindermalers de Loose. Dieser Maler
bringt die jetzige Ausrüstung des Kinderzimmers in seiner Heimath zur An
schauung ; und ebenso schildertMetzu, der im Jahre 1658 starb , mit grosser
Treue seine Zeit ; daher ist es ganz interessant, dass ein in der alten Pina
kothek zu München befindliches Bild Metzu's ein dem modernen Stühlchen
-
.
118 Das Legen, Tragen und Wiegen, Gehen, Stehen und Sitzen des Kindes.
ganz ähnliches darstellt. Hiermit ist denn wiederum gezeigt, wie conservativ
der Volksgebrauch in den Angelegenheiten ist, die vorzugsweise von den
Frauen beherrscht werden . Allein auch auf diesem Gebiete kommt die Mode,
wenn auch in schwacher Wirkung und mit langsamem Schritte den Geschmack
verändernd zur Geltung. Denn wenn wir in den beiden Bildern den natio
nalen Typus des holländischen Kinderstuhls, obgleich mehr als zwei Jahr
hunderte dazwischen liegen , wiedererkennen , so hat doch in äusserlichen
Kleinigkeiten ein Wechsel stattgefunden ; hier fanden die maassgebenden
Kreise der Frauenwelt oder die gewerbliche Industrie zu bessern. Doch
könnte wohl auch die abweichende Form in den verschiedenen Bevölkerungs
schichten Hollands sich noch immer von der Grossmutter auf die Enkelin
forterben .
Die Aufgaben , welche ein richtig gebauter Kindersessel zu erfüllen hat,
werden wohl von dem jetzt allgemein eingeführten „ Kinderstuhl" mit abnehm
barem Spiel. und Speisetischchen in genügendem Maasse erreicht. Die Füsse
müssen aufruhen können , damit sie durch Herabhängen nicht ermüden und
damit nicht in den Beinen der Blutlauf behindert werde. Der Sessel muss
hoch genug sein , damit er an den Tisch der erwachsenen Personen ange
schoben , den Kindern den Ausblick auf denselben gestatte. Die Tischplatte
aber, welche man am Stuhl vor der Brust des Kindes anbringt, damit letz
teres auf demselben bequem spiele , muss eine gerade Haltung des Körpers
gestatten, und darf insbesondere nicht so niedrig sein , dass das Kind sich
zu bücken und den Rücken zu krümmen genöthigt ist. Ist dagegen diese
kleine Tischplatte zu hoch , so wird das Kind veranlasst, die Gegenstände zu
nahe an die Augen zu bringen , und es wird hiermit in die Gefahr gebracht,
kurzsichtig zu werden.
Der Erfindungsgeist der neuen Zeit sieht sich fort und fort veranlasst,
technische Veränderungen an den Geräthen der Kinderstube anzubringen , die
weniger den Kindern selbst, als vielmehr den Angehörigen und Pflegerinnen
derselben zur Erleichterung und Hülfe dienen sollen . Wir möchten es nicht
unterlassen , auf die jüngsten Erscheinungen in dieser Hinsicht aufmerksam
zu machen , die sich schon , durch Empfehlung ein gewisses Publicum er
worben haben. Unter Anderem kam jetzt unter der Bezeichnung „ Krimmel's
combinirter fahrbarer Kinderstuhl- Tisch -Bett und -Wiege“ ein in Deutschland
und mehreren anderen Staaten patentirter Apparat in Aufnahme, der eine
Vereinigung sämmtlicher Kindermöbel in einem Stücke darstellt. Dieses neue
Kindermöbel ist zunächst ein hoher Kinderstuhl mit Spieltisch , der sofort
mit leichter Mühe in einen kompletten Kinderwagen verwandelt werden kann ,
um das Kind sammt Bett bequem hineinzulegen , der aber auch in einen zwei
sitzigen Fahrstuhl für zwei Kinder, sowie in eine Wiege umzuwandeln ist.
Man will hiermit die jetzt übliche, doch immerhin umständliche Einstellung
des gewöhnlichen Kinderwagens in das Zimmer vermeiden , dabei aber auch
einen in jeder Haushaltung nöthigen hohen Kinderstuhl, sowie ein Tischchen
mit Bank zugleich in einem und demselben Apparat herstellen . Der von
4. Das Sitzen . 119
vor ihm befindlichen Klappe, die ihm als Tisch dient, mit Spielen beschäftigen ;
auch sind vor diesem Tischchen mehrere auf einem Stabe aufgereihte Ringe
angebracht, die das Kind spielend und klappernd hin- und herbewegen kann .
Sobald das Kind beginnen soll, beim Arbeiten , Schreiben u . S. w . am Tische
zu sitzen , so drohen Gefahren durch ein fehlerhaftes Sitzen , indem sich das
Kleine einestheils zu sehr vorbeugt und dadurch kurzsichtig wird , auch die Brust
zusammendrückt, anderntheils sich schief setzt , wodurch der Rücken einseitig
verkrümmt wird. Um dies zu verhüten , müssen die Angehörigen darauf
sehen, dass der Stuhl, auf dem das Kind sitzt, nicht zu entfernt und nicht
zu nahe am Tisch steht. Damit auch weiterhin dasKind in Abwesenheit der
aufsichtführenden Angehörigen zu einer richtigen Haltung genöthigt werde,
kann man den Schreber'schen Geradehalter anwenden .") Dies ist ein eisernes,
an der Tischkante anzuschraubendesGestell, welches aus einem senkrechten
Stabe mit einem Querstabe besteht; mittels einer Stellschraube kann man
letztere je nach der Grösse des Kindes höher oder niedriger stellen. Dieser
Querstab , der leicht an der Brust anliegt, verhindert das Vorhalten des
Oberkörpers und Kopfes, das Andrücken der Brust an die Tischkante und
jeden Versuch des Schiefsitzens.
Einzelne Völker betrachten das erste Aufsitzen des Kindes als einen be .
sonders feierlich zu behandelnden Act, als eine hochwichtige Angelegenheit
für sein Leben und seine Zukunft. Wenn in Java das Kind den 7. und
8. Monat erreicht hat, so begibt sich der Vater desselben mit seinem Spröss
ling an einen geweihten Platz , wo berühmte Personen , die ein hohes Alter
erreicht haben , begraben liegen . Daselbst setzt man das Kind zum ersten
Male auf die Erde, während es bis dahin beständig getragen wurde oder auf
erhöhtem Lager sich befand.
5. Das Gehen .
Ganz von selbst erlernt das Kind das Gehen . Lässt man das kleine
Wesen zu der Zeit, in der es seine Muskelkraft erwachen fühlt, auf der Erde
oder im Bettchen liegen, so beginnt es sich von Zeit zu Zeit zwar anfangs
noch mühsam , doch mit allmälig zunehmender Energie aufzurichten , das
Köpfchen zu erheben und , auf die Händchen gestützt, die Versuche zum
Sitzen zu machen, welche ihm nach und nach in immer vollkommenerem
Grade gelingen . Dann folgen die Bestrebungen nach Ortsveränderung; nächst
liegende Gegenstände sucht das Kind zu ergreifen ; und wenn dieselben sich
ausserhalb des Bereiches befinden , so rutscht und kriecht es auf allen Vieren
zu ihnen hin . Das Knien und Rutschen ist der nothwendige Uebergang zum
Gehen . Im Allgemeinen fällt in europäischen Familien der erste Versuch
1) Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit von Dr. Schreber, Leipzig 1858, S. 203. (Der
Apparat ist zu haben bei Mechanicus Joh. Reichel in Leipzig , Peterstrasse.)
4. Das Gehen . I 21
und Kraft besitzt. Durch jeden vorzeitigen Gehversuch riskirt man sowohl
Verbiegungen der Rückgrats- oder der Fussknochen , welche die der Körper
last entsprechende Festigkeit noch nicht besitzen , als auch übermässige Aus
dehnung der Bänder sämmtlicher Rücken- und Fussgelenke und somit Ver
unstaltung der Gelenkverbindungen, weil die zum Schutze der Gelenke bei
tragenden Muskeln der erforderlichen Kraft ebenfalls noch ermangeln ." Um
beim Gehenlernen dem Kinde das nöthige Selbstvertrauen zu verschaffen ,
stellt man es einigemale angelehnt in die Ecke des Zimmers, hält ihm einige
Schritte davon die ausgebreiteten Arme entgegen , auf die es dann mit tri
umphirender Freude losgehen wird . Bedarf es dann noch einige Zeit der
Unterstützung durch Führung an einer Hand, so muss stets dabei eine gleich
mässige Abwechselung zwischen rechts und links beobachtet werden ; bei
Unterlassung des Wechsels droht Ungleichheit in der Entwicklung der beiden
Körperseiten ."
In allen englischen Häusern wohlhabender Eltern liegen warme weiche
Teppiche auf dem Fussboden . Das Kind sitzt und rutscht und läuft später
auch blossfüssig auf solchen Teppichen , ohne sich zu verkühlen , und fällt,
ohne sich wehe zu thun . Soll das kriechende und laufende Kind davor be
wahrt werden , dem Ofen oder anderen Möbeln zu nahe zu kommen , so
umgiebt man seinen Spielplatz mit einer Hürde.
Man setze, so lehren jetzt die Aerzte , das Kind , das sich im Laufen
üben soll, auf den Fussboden ; dort ist es sicher. Nur sei dieses Uebungs
plätzchen rein und mit einem dicken Tuche bedeckt, damit beim Fallen das
Kleine eine weiche Unterlage hat. Auch umgebe man diesen Platz mit der
von Gölis 2) empfohlenen viereckigen Hürde, die auf der inneren Seite ge
füttert oder tapezirt ist, oder mit einem kindeshohen Rahmen , über den ein
netzartiges Geflecht gespannt ist. Verwerflich ist jedoch der einst in Paris
erfundene und von Mauthner in Wien 3) befürwortete sog. Kinderspringer
(sautoir des enfants, baby jumper ), ein von der Decke herabhängender
Apparat, in dem das Kind schwebt. Die Vorrichtung besteht aus einem
Holzreif, der mit einer starken elastischen Schnur durch vier Bänder ver
bunden ist. An diese Schnur wird der Reif mittels eines im Plafond ein
geschraubten Hakens so aufgehängt, dass man ihn höher oder niedriger
stellen kann. Von dem Reif gehen vier Bänder zu einem Corset herab , das
dem Kinde angezogen wird , wobei man zu beachten hat, dass dieses mit
den Fussspitzen den Boden berühren könne. Durch das Gewicht des Kör
pers und durch die Elasticität der Schnur entstehen kleine Schwingungen ,
die sich das Kind gern gefallen lässt. Es fängt dann an zu hüpfen , sich
bald links, bald rechts zu drehen und das schellende Spielzeug in der Hand
zu schütteln . Neuerlich kam in einigen Städten dieser unnöthige Kinder
springer wieder in Aufnahme.
man beim Gehenlernen an den Händchen leitet, hat bekanntlich sehr leicht
eine dauernde Schiefhaltung desselben zur Folge . An diesen Nachtheil muss
man die Pflegerinnen recht oft erinnern . Auch das Halten und Aufheben
des im Gehen fallenden Kindes an einem Arme kann eine recht schlimme
Wirkung auf dessen noch wenig fest entwickelte Gelenke äussern . Da solche
Rücksichten oft vernachlässigt werden, und da auch bisweilen die Väter mit
ihren heraufwachsenden Kleinen sehr unzweckmässige Kräftigungsversuche
und Kunststückchen veranstalten , so ist gewiss dankenswerth anzuerkennen ,
dass in dieser Hinsicht ein erfahrener Arzt, Dr. Schildbach ,-) für Eltern
und Erzieher eine kurze und bündige Anleitung zur körperlichen Ausbildung
in den ersten Lebensjahren schrieb , wobei er nicht blos die Uebungen , die
unan mit dem Kinde vornehmen soll, genau bespricht und im Bilde darstellt,
sondern auch auf die vielfachen Arten der falschen Behandlung des Kindes
beim Heben aufmerksam macht.
Wie das erste Aufsitzen des Kindes bei einigen Völkern als ein festliches
Ereigniss gilt (s. S. 120 ), so begrüssen andere Völker die ersten Schritte
in festlicher Weise.
Sobald bei den Kirghizen im Gebiet Semipalatinsk das Kind anfängt
zu laufen , so findet bei reichen Leuten ein Fest statt: Man bindet dem Kinde
die Füsschen mit einer wollenen Schnur zusammen und stellt eine Schüssel
mit irgend einer Speise vor dem Kinde auf; dann löst eine der angesehenen
Frauen des Auls mit einem Messer diese Fessel und wirft sie aus der Jurte
heraus; sie erhält dafür ein Geschenk , ein Stück Zeug. Dann werden alle
Gäste mit Fleisch bewirthet ein Gebet wird verlesen und man bringt dem
Kinde seine Glückwünsche dar - Gesundheit , Reichthum und langes Leben.2)
NEUNZEHNTES KAPITEL .
Das Einschläfern .
Nichts Besseres kann man dem Kinde wünschen , als einen Schlaf, der
ungestört verläuft , und den der Volksmund als einen ,, süssen " oder ,,sanften"
bezeichnet. Die Natur stattete das Kind noch mit geringer Receptions
fähigkeit aus; auch hat man behauptet, dass es ihm in der ersten Zeit an
Gehörfähigkeit mangelt.3) Von anderer Seite wird dies nun zwar bestritten ,4)
und es scheint ausser Zweifel zu sein , dass der neugeborene Mensch wenig
stens von starken Schalleindrücken eine Empfindung hat. Allein im Beginne
1) C. H. Schildbach's Kinderstuben-Gymnastik . Leipzig 1880 Veit & Comp.
2 ) Globus 1881. Bd . 39 . S. JII.
3 ) Prof. Preyer , Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. S. 48.
4) Dr. Moldenhauer , Zur Physiologie des Gehörorgans Neugeborener. In : Beiträge zur
Geburtshülfe, Gynäkologie und Pädiatrik . Leipzig 1881. S. 199 .
1. Der Kindesschlaf und der Aberglaube. 127
ist die Wahrnehmung von Schall und Ton noch schwach ; das schlafende
Neugeborene erwacht nicht von leichtem Geräusch . Nach und nach findet
man, dass stärkere Schalleindrücke des Kindes Schlaf verscheuchen . Und
wie die Stille und Ruhe schlaffördernd sind, so ist dies auch die Abwesen
heit grellen Lichtes .
Manche Eltern verwöhnen das Kind , indem es z. B. die Mutter neben
sich in's Bett legt und sich über dasselbe zum ,, Stillen “ hinabbeugt,
bis das Kind an der Brust einschläft; oder indem das Schaukeln der
Wiege es gleichsam betäubt. Schlimmer sind die Opiate, die man noch
häufig dem Kinde darreicht, oder spirituöse Getränke. Sind Säuglinge so
unrubig , dass sie nicht einschlafen oder bald wieder erwachen , so muss die
Ursache aufgesucht werden . Bald handelt es sich um drückende Kleidungs
stücke , um ein zu warmes Bett, um ein zu warmes Schlafzimmer , bald hat
das Kind Kolikschmerzen , Blähbeschwerden , oder war nicht völlig gesättigt
in's Bett gelegt.“) Hier muss, wie sich von selbst versteht, die Ursache auf
gesucht und beseitigt werden .
Allein die Neigung des Volkes, verborgene Einwirkungen böser Zauberkräfte
anzunehmen, macht sich auch hier geltend; man greift zu abergläubischem
Gegenzauber.
1) Wie wesentlich für die Musik , demnach auch hiefür, Tact und Rhythmus, d. h . also die Wieder
holung gleichmässiger Theile ist, hat Simmel in Lazarus' und Steinthal's Zeitschrift für Völker
psychologie 1881. XII. 3. Heft dargethan.
2. Wiegen- und Schlummerlieder . 129
meinen Volke spiegeln sich dann darin die , grösstentheils auf den
Müttern lastenden Sorgen um die Aufziehung der Kinder , wie mitunter der
Unmuth darüber , dass die Ehemänner sindessen bei Spiel und Wein im
Wirthshause sitzen . Mehr wie alles Andere streben indess die Mütter die
Hervorlockung jenes unvergleichlichen Lächelns auf den Lippen ihrer Kleinen
an , welches der erste Blitzstrahl des erwachenden Verstandes ist. Darum
haben sie auch eine Unzahl Scherzlieder erdacht.")
Das Alles hat gewiss einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die
Bildung des Herzens. In dieser Beziehung sagt H. Mejer, welcher der
gleichen Liedchen in Ostfriesland aufsammelte, recht gut : „ Was man bis in's
späteste Alter behält, was nur der geringsten Anregung bedarf, um wieder
in voller Klarheit vor die Seele zu treten , das ist gewiss nicht der geringste
Factor in unserer Entwickelungsgeschichte gewesen .“ Auch meinte schon
Grimm : ,, Sagen , Märchen , Lieder u . s. w . sind ein unerschöpfliches Gut,
das dem Menschen von Heimaths wegen als ein guter Engel beigegeben ist,
der ihn , wenn er in's Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines
Mitwandernden begleitet.“ So ist denn auch das Thema, das die als
Wiegen- und Schlummerlieder gesungenen Gedichtchen behandeln , gar nicht
gleichgültig . Da heisst es z . B .: Draussen weiden Schafe , der Wolf ver
folgt sie , Du aber , mein Kind , kannst ruhig sein , Dir thut Niemand
Böses , drum schlafe u . S. W.
Die Thierwelt spielt in den französischen Wiegenliedern keine geringere
Rolle als in den deutschen ; die Mütter und Wärterinnen wissen recht wohl,
wenn sie ihre Liedlein dem Verständniss des Kleinen anpassen wollen , dass
es vor allen gewisse Thiere sind, an denen das Auge jedes Kindes mit
Wohlgefallen hängt, und die man ihm nun auch durch eine Erwähnung beim
Einträllern spielend seinem geistigen Auge vorführen muss , damit es unter
den ihm wohlgefälligen Bildern einem süssen Traum anheimfällt. Schäfchen ,
Gänse, Schmetterlinge finden hier vor Allen Erwähnung. Ein französisches
Schlummerlied lautet:
Ah! Ah ! papillon, marie-toi!
Hélas ! mon inaitre, je n'ai pas de quoi.
Là, dans ma bergerie, j'ai cent moutons,
Ça s'ra pour faire la noce du papillon .
So passiren manchmal die sämmtlichen Thiere der Nachbarschaft Re
vue und werden zu einander in reizende oder komische Beziehung gebracht.
Da kommt der Fuchs, der Wolf, der Hund vor , und jedes übernimmt seine
Rolle ; im französischen Wiegenlied findet der Reiher seine Stelle:
Ah ! Ah ! que dit le héron ?
J'ai les ailes et le.cou long,
J'irai à la rivière pêche le poisson ,
Ça s'ra pour faire la noce du papillon
Hierzu sagt Theuriet ganz richtig : „ A chaque apparition d'un nouveau
personnage, la scène change et une nouvelle perspective s'ouvre à l'esprit
1) Prof. Francesco Corazzini, I componimenti minori della letteratura popolare italiana
nei principali, o saggio di letteratura dialettale comparata . Benevento 1877
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 9
Das Einschläfern .
130
zeichnet man den Schlaf der Kinder, und die Mutter oder Amme ruft dem
kleinen Schreihals in der Wiege zu : fa nó nó . Vielleicht entstand das Wort
aus einer Corruption von sonno (Schlaf) oder suonno (dialektisch ), mit dem
viele dieser kleinen Lieder in Italien anfangen :
Suonno, suonno, e suonno suonno dico ,
Quanto ti faccio te lo benedico .
Vielleicht ist das Wort Susaninne, das in Luther's Weihnachts-Wiegenlied
und auch sonst bei uns vorkommt, aus Italien importirt. In der Schweiz
kommt dagegen die Form „ Nuni-nuni-soli" vor.
Einfache Gesänge zum Einlullen der Kinder besitzen fast alle Natur
völker . Es würde eine recht dankbare Aufgabe sein , wenn man einmal
diesen ungemein liebenswürdigen Theil der ursprünglichen Volkspoesie auf
sammeln und zusammenstellen wollte. Ich selbst kann nur von den Schlummer
liedern einzelner Urvölker berichten . So kenne ich beispielsweise das in der
Indianer - Poesie vorkommende Kinderliedchen :)
„ Feuerfliege, Feuerfliege, leuchte mir zu Bette,
Komm , komm , kleiner Leuchtwurm .
Du bist mein Licht, leuchte mir auf meinem Weg."
Ein Schlummerlied der Sioux nach Domenech lautet in der freien
Uebersetzung : 2)
„ Schwank ' hin , schwank her, du nette Wiege, Ach, Liebling, du bist ja der Mutter Freude,
Roll' hin , roll' her, du luftige Schwebe ; Schlaf, schlaf, mein Kindlein , schlaf ein .
Schlaf, mein Kindlein, schlaf, schlaf ein , Du zarte Wiege, schwank ' hin und her,
Es wacht bei dir die Mutter dein . Wiege mein Kindchen nahe bei mir .
Sie ist es, die dich immer wiegt, Doch, süsser Liebling du , weine nicht,
Schlaf, schlaf, Kindlein , schlaf. Denn deine Mutter wacht über dich .
Roll' hin , roll' her, du luftige Schwebe,
Sanft wiege das schlafende Knäblein ;
Die Mutter bewacht ihn ganz nahe daneben,
Damit er niemals sei allein .
Wiege in der Luft, du nette Kote ( d . i. Kästchen, Wiege),
Wiege, wiege, süsses, kleines Kind.“
Und ebenso , wie in Australien die Mutter das Schreien des Kindes
durch Gesang stillt,3) so singt auch die Maori-Frau auf Neuseeland ihren
Säugling mit hübschen, herzigen Schlafliedern ein.4) Die Hottentotten
Mutter aber pflegt ihr Schoosskind durch improvisirte Lobgesänge anzu
singen , deren Inhalt ungefähr folgender ist :
„ Du Sohn einer helläugigen Mutter,
Du weitsichtiger,
Wie wirst Du einst ,Spur schneiden' (d. h . das Wild aufspüren),
Du, der Du starke Arme und Beine hast,
Du starkgliedriger,
Wie wirst Du sicher schiessen ,
Die Herero berauben
Und Deiner Mutter ihr fettes Vieh zum Essen bringen
Du Kind eines starkschenkligen Vaters,
1) Die Indianer Nordamerika's. Eine Studie von Theodor Waitz. Leipzig 1865. S. 178 .
2 ) J. Greenwood, Curiosity of savage life. London 1863. S. 17 .
3) Gerland -Waitz, Anthrop. d . Naturw . VI. 782.
4 ) Dieffenbach , New Zealand and its native population etc. London 1841. 2. 27 .
9*
1
Das Einschlätern .
132
Wie wirst Du einst starke Ochsen zwischen Deinen Schenkeln bändigen,
Du, der Dų, einen kräftigen Penis hast,
Wie wirst Du kräftige und viele Kinder zeugen !"
Hierbei pflegt die Mutter die besungenen Theile zu streicheln und zu
küssen , die Geschlechtstheile jedoch betastet sie nur und küsst die eigenen
Finger, welche diese Theile berührt haben .")
Ein hübsches Wiegenlied der Finnländer theilt Castrén ) mit:
Älä itke hyvä lapsi! Weine nicht, o gutes Kindchen !
Kun Kilia kirkkon tekeevi, Da Kilia die Kirche bauet,
Nalli nauloja takoovi Da die Nägel Nalli schmiedet
Munkalainen muuraa . Maurer ist ein Fremdling .
Wiegenlieder der Araber findet man in : H. H. Jessup's (Missionärs
in Syrien ) „ The women of the Arabs;“ edit. by C. S. Robinson and J. Ri
ley ; London 1874 ; in diesem Buche giebt es ,, a children's chapter," enthal
tend arabische nursery rhymes.
Bei weiteren Vergleichungen zeigt sich gewiss , dass die Dichtkunst
in der Volks-Poesie der verschiedensten Völker häufig bei gleichen Auf
gaben ganz ähnliche Stoffe wählt, und dass die Schlummerlieder aller Völker
schaften in Form und Inhalt einen auffallend übereinstimmenden Charakter
haben . ,,Wiegenlieder, " sagt Fr. W. Oppenheim , ) ,,kennt man in der
Türkei ebenso wie in Europa."
Alle Völker Europa's besitzen ihre nationalen Wiegenlieder, die wohl
meist aus sehr früher Zeit stammen , überall jedoch auch provinzielle Unter
schiede zeigen ; denn die erfinderische Phantasie der Mütter ersann immer
Neues hinzu . In England singt man als Wiegenlied ,,the old nursery
rhyme:
„ shoho, lullaby, go to sleep baby."
Auch französische Wiegenlieder giebt es in grosser Mannigfaltigkeit.4)
In Frankreich lullt die Amme den Säugling mit dem üblichen „ Do, do , do
l'enfant" ein .
Die Wiegefrau (Berceuse) heisst in Lothringen Endormeuse. Von ihren
Liedchen sagt André Theuriet: 5) Ces berceuses ont toutes une mélodie
câline et attendrie ; les paroles n'y brillent pas par la logique, mais elles
sont ingénieusement appropriées à l'intelligence naissante de l'enfant. Les
phrases sans rime ni raison sont composées de mots lumineux et sonores,
destinés à agir sur la fraîche imagination du bambin :
1) Theoph. Hahn , Globus XII. 278.
2) Castrén , Kl. Schr., herausg. v. Schiefner. S. 242.
3) „ Ueber den Zustand der Heilkunde und über die Volkskrankh. in der europ. und asiat.
Türkei.“ Hamburg 1833. S. 47.
4 ) Jedenfalls finden sich solche in dem mir nicht zugänglichen Buche: Jérome Bujeaud,
Chants et Chansons populaires des provinces de l'ouest, Poitou, Saintonge, Aunis et Angoumais. Niort.
1866. Vielleicht auch Einiges in : De Puymaigre, Chants populaires rec. dans le pays Messin .
Metz et Paris 1865. Eine Anzahl „Berceuses " brachte Ph. Kuhff, Les enfantines du „ bon pays de
France." Paris 1878. Englische Wiegenlieder finden sich wohl in : J. B. Ker, An essay on the
archaeology of our popular phrases and nursery rhymes. London 1835 Halliwell, Nursery
rhymes and popular rhymes ; holländische in J. van Vloten : Nederlandsche Baker- en Kinder-rijmen ;
derde, veel vermeerde Druk. Leiden 1874 .
5 ) Revue des deux mondes. 1877. Mai. p . 49.
2. Wiegen- und Schlummerlieder. 133
Petite fille de Paris,
Prête-moi tes souliers gris
Pour aller en Paradis,
Nous irons un à un
Au chemin des saints ,
Deux à deux
Dans le chemin des cieux ...
1) Frankreichs Kinderwelt in Lied und Spiel, übertragen von Otto Kamp. Wiesbaden 1878 .
134 Das Einschläfern .
1) Das italienische Volk im Spiegel seiner Volkslieder. Breslau und Leipzig 1879. S. 150 .
2) J. Grimm , Ueber die Göttin Tanfana. Vortrag in der Berliner Akademie . 10. März 1859.
3 ) Fr. Pfeiffer, Forschung und Kritik auf dem Gebiete des deutschen Alterthums.
Wien 1866 .
2. Wiegen- und Schlummerlieder. 135
dem Rücken eines Handschriftenbandes eingeklebt war, befand sich das Lied ,
von dem sofort Pfeiffer , einer unserer bedeutendsten Germanisten , der
Wiener Akademie als höchstwerthvollen Fund Mittheilung machte, und
Grimm sagt von der Entdeckung ausdrücklich : „ Es ist der werthvollste
Fund, der gemacht werden konnte." In neuhochdeutscher Uebersetzung
lautet dieses Schlummerlied :
„ Docke, schlaf, schlummre ! Das Weinen sogleich lasse !
Triwa (Göttin Treua ) wehrt kräftig dem Wolfe, dem würgenden .
Schlaf bis zum Morgen, des Mannes Lieblingssöhnchen ,
Ostra (Göttin ) stellt (hin ) dem Kinde Honigeier süsse,
Hera (Göttin ) bricht dem Kinde Blumen, blaue, rothe,
Zanfana (Göttin ) sendet morgen fette, kleine Lämmer
Und der einäugige Herr (Wuotan) vielleicht bald (dir) harte Speere .“
Dies Schlummerlied war, wie Grimm hervorhob , namentlich deshalb
höchst interessant, weil in ihm eine Göttin Zanfana erwähnt wird , welche
schon von Tacitus unter dem Namen Tanfana als Göttin der Germanen
bezeichnet wurde. Allein nicht nur Wilh . Müller, ') sondern auch Groh
mann, ) sowie C. Hofmann und Jaffé 3) hielten dies Lied für unecht und
untergeschoben.
Wir wenden uns zu dem frischen , munteren Singsang, wie er jetzt in
Ost und West, in Nord und Süd unseres deutschen Vaterlands SO recht
traulich von den Lippen der Mütter und Wärterinnen erklingt. In der Li
teratur findet sich gewiss noch so manches Schöne zerstreut, 4) doch lässt
sich mein kleines Material schon ganz gut zu Vergleichungen benutzen ; nur
bedaure ich , dass man nicht immer die Noten dazu hat, denn auf die Melodie
kommt doch auch nicht wenig an .
In Oesterreichisch - Schlesien hat man folgende Kinderlieder, deren
Melodien A. Peter in Noten brachte :
„ Haid'l-dumm -dänne
Haast maine Hänne ?
Wann ich äne Hänne haa,
Muss ich aa an Haan haan.
Kickrickii schrait mai Haan
Haid'l-dumm -dänne,
Haast maine Hänne.“
„ Ich saach amol d'r aala Zickzick aas Aett'r,
Ich dochte, 's wäärn Muume ood'r a Fätt'r ;
's waar käne Muume, 's war kä Fätt'r,
's waar d'r aala Zickzick ür Aettr ."
( Prof. A. Peter, Volksthümliches aus Oesterreichisch-Schlesien. 1. Bd. Troppau 1865.)
Im Vogtlande singt die Mutter:
„Hei Puppeia (Eia popeia ) 5) was raschelt im Stroh ?
Die jungen Gänsle laufen barfuss und haben keine Schuh ;
Der Schuster hat Leder und keine Leisten dazu,
Drum laufen die Gänsle barfuss und haben keine Schuh ."
1) Göttinger gelehrte Anzeigen 1860, Stück 21 und 22.
2 ) Virgil Grohmann , Veber die Echtheit des althochdeutschen Schlummerliedes. Prag 1861.
3) Sitzungsbericht der baierischen Akademie der Wissenschaften zu München. 1866. Heft I. S. 103.
4 ) Beispielsweise H. Frischbier, Preussische Volksreime und Volksspiele. Berlin 1867. S. 1.
5 ) Das in den deutschen Wiegenliedern so oft vorkommende Heia popeia oder puppeia sucht
J. A. F. Köhler zu deuten . Er fragt, ob heia vielleicht von dem slavischen hajatih = schlafen ab
136 Das Einschläfern .
Im Fränkisch - Hennebergischen :
„ Amen, Amen , Amen , „ Eia bobeia .
Die Geiss, die geht in Samen , Schlaf lieber wie du,
In Samen geht die Geiss ; Willst du's nicht glauben, sieh mer mal zu ,
Die Suppe, die war heiss; Sieh mer mal zu wie schläfrig ich bin ,
Heiss war die Suppe, Zum Schlafen , zum Schlafen steht mir
Die Kuh kriegt den Schnuppe, mein Sinn."
En Schnuppe kriegt die Kuh ;
Aus Leder macht man Schuh ; „ Fräle, Fräle, reine,
Schuh macht man aus Leder , Siebe Kennerle dreine,
Die Gänse haben viel Feder, Boss esse me gern ?
Viel Feder haben die Gänse, Boss trenke me gern ?
Die Füchse haben lange Schwänze, Brod und Wein ,
Lange Schwänze haben die Füchse, Plätzle drein ,
Der Edelmann hat eine Kutsche, Schuck , schuck , schuck !"
Wo er drein fahren kann. (Ostheim .)
Eine Katze und eine Maus,
Da war die Geschichte aus. " ,,Ich will dir was erzählen
(Wasungen.) Von der Mummerelen ,
Diese hatt ' ein schönen Garten ,
„ Annele, Hier ein Garten, dort ein ' Garten ,
Wannele Und das war ein Wundergarten .
Besser, dich, Annele, In dem Garten stand ein Baum ,
Plomsôck." Hier ein Baum , dort ein Baum ,
Und das war ein Wunderbaum .
„ Bim Bam , Auf dem Baum war ein Nest,
Der Pfaff ist krank , Hier ein Nest, dort ein Nest,
Hot kä Stückle Brud in Schrank , Und das war ein Wundernest.
Hot dess Haus voll kleine Kinder In dem Nest lag ein Ei,
Und kä Stöckle Holz im Winter.“ Hier ein Ei, dort ein Ei,
(Meiningen.) Und das war ein Wunderei.
Aus dem Ei kroch ein Vogel,
„ Da kümmt die Krippel-Krappelmaus, Hier ein Vogel, dort ein Vogel,
Bu will se naus ? Und das war ein Wundervogel."
In der Mariele ihr Hühnerhäusle.“
(Meiningen .) „ An dem Bauin stand ein Bett,
Hier ein Bett, dort ein Bett,
,,Eia , bobeia, Und das war ein Wunderbett.
Boss rappelt im Struu, In dem Bett lag eine Nonne,
Günsle gän barpes on honn Mã Schuu, Hier eine Nonne, dort eine Nonne,
Schuster hat Lader, kä Leistle dezu ; Und das war eine Wundernonne.
Boss könne die arme Gänsle dezu ?" Bei dem Bett stand ein Tisch,
zuleiten ist ? Puppeia ist nach seiner Meinung das dem Reime nachgebildete pupe, ein Schmeichelwort
für kleine Kinder ; dabei verweist er auf das Lausitzer Magazin , 42. Bd. S. 315.
2. Wiegen- und Schlummerlieder. 137
Hier ein Tisch, dort ein Tisch, Quärzt der Baum , knärzt der Baum ,
Und das war ein Wundertisch . Gucke drei Pôr Docke raus,
Auf dem Tisch lag ein Buch, Die eine spinnt Seide,
Hier ein Buch , dort ein Buch , Die andere dreht Weide,
Und das war ein Wunderbuch . Die dritte steigt den Himmel naaf,
In dem Buche stand geschrieben : Lässt e besle Sonne raus,
Die Kinder sollen ihre Eltern lieben ." Lässt e besle nei,
(Meiningen .) Dass den Hannjörgle sä Himmle trocke sei.“
„ Ich rüür on rüür en Brei ,,Sole, sole, sole ,
On tu en Bröckle Butter nei. Da dobe kommt dess Mole (Männchen );
Schlag' ein !" Da dobe kommt der Krippelkrapp ,
Will de Kindle gleich dertapp.“
,,Schockele, schockele Weide,
Herrle fährt noch Kreide, Wickwerwick, mein Mann ist krank,
Fährt nach Römhild in die Stadt, Wickwerwick , was fehlt ihm denn ?
Kauft sich e Weckle on iss sich sott, Wickwerwick, ein Gläschen Wein ,
Legt e Stöckle henner die Thür, Wickwerwick , das kann nicht sein .
Kömmt der Wolf on fresst's herfür; Wickwerwick, den Doctor holen,
Steigt der Wolf den Baum nauf, Wick werwick, das Loch besohlen."
(Balt. Spiess, Volksthümliches aus dem Fränkisch-Hennebergischen. Wien 1869. 71.)
Im Meininger Oberlande:
„ Eia bobeia schlouf liiwer wie duu Dei mamma hütt die Lemmerk üü,
Un wilstes niiet gelëeeb, se gukmer nar zu . " Schlöft mei bezzerla bis zerfrüü."
„ Heia beia wiighenschtruua „ Schlouf, büüwla , schlout,
Schlöft mei Kinla , bin ich frua." Dei fatter is a schouf,
Dei Mutter is a meerkatz,
,,Schlouf, mei bezzerla , schlouf, Duu bist a kleener draakbatz."
Dei daada hütt die schouf,
(A. Schleicher, Volksthümliches aus Sonneberg . Weimar 1858. S. 95.)
Die Nornen kommen nach Sepp als tanzende (?) Nonnen im deutschen
Wiegenlied vor. Zu Aschaffenburg singt man noch den Kindern folgen
den Nonnengesang : ")
„ Heia Popeia ! Die Nünnercher
Bringen dem Kindchen Blümercher,
Un die schöne Rosmarin
Soll mei Kindchen schlöfern ein ."
Ob wirklich hierbei die Nornen und nicht die Nonnen gemeint sind ,
möchte ich nicht entscheiden .
In der Schweiz sind folgende Wiegenlieder beliebt:
,, Schlof no, mis Ditti, no bisch du im Ei, s'Böckeli und Lämmeli
Wachset dir d'Flägel, so flattresch du trei." bîsset s'Büebi is Hömmeli.
s'Lämmli und es Widderli
„ Es fahrt e Wind durch d'Linde stosset s'Büebi is Füdeli.
und de Muetter singt de Chinde bisset's doch au nit so härt,
vo zweu liebi Schofe, sºlit jo nummen im Federbett,
bis dass si alli schlofe, bisset's doch au nit so stark ,
es Lämmli und es Böckli, s'lft jo nu men am Sprüersack.“
bringet dem Büebi es Röckli,
es Böckli und es Lämmeli „ Soli-soli will i der singe
bringet dem Maidschi Milchmämmeli. Oepfel und Birli will der bringe
zwei schwarze und zwei wisse, Oepfeli, Birli, Nespeli taig ,
sie went das Büebli bisse. ass mis Maideli z'esse heig .
zwei wisse und zwei schwarze , Oepfeli, Birli, Chraspeleteig (d. i. mürbge
sie chömmet's cho gê chratze. backenes Brod )
wehr, wehr, Hirteli, wehr, Schlof mis Maideli, wie me de leit."
ass sie s'Büebli nit verzere !
1) Sepp, Altbayerischer Sagenschatz. München 1876. S. 488.
rn
138 Das Einschläfe .
(Im Winter :)
19 Wol flaegen de Wülken ,
Wol sausst der Wajint,
Wol staewen de Floken ,
Aemeraenk.
Schlöf nor, schlôf nor,
Me güldig Kaijnt."
(Fr. Fr. Fronius, Bilder aus dem sächsischen Bauerleben in Siebenbürgen. Wien 1879. S. 34.)
Eine grosse Zahl der in vielen Gegenden Preussens gebräuchlichen
Wiegenlieder findet man in H. Frischbier's ,,Preussische Volksreime und
Volksspiele“ (Berlin 1867, S. 1-27 ), auf welche ich nur verweise, da eine
specielle Aufsammlung grösseren Materials nicht in unserer Absicht liegt.
Bei der grossen Mannigfaltigkeit der Varianten empfehle ich dieses Buch zu
genauerem Vergleich. Eine Reihe interessanter Wiegenlieder findet sich
auch in dem Buche: Kinderlieder, Anhang zum Wunderhorn . Heidelberg
1808 . S. 59 f.
ZWANZIGSTES KAPITEL .
Von den Frauen werden gar häufig grobe Fehler darin begangen , dass
die Einen ihre Kinder durchaus säugen wollen , ohne dazu befähigt zu sein ,
oder dass sie auch ihre Kinder viel zu lange Zeit an der Brust ernähren ;
dass aber die Anderen sich dem Säugungsgeschäft entziehen , trotzdem dass
sie sich recht wohl für dasselbe eignen . Zu letzterer Klasse gehören be
sonders viele vornehme, in grösseren Städten Europa's wohnende Frauen ,
während zu jener Klasse mehr die Frauen aus den bei uns die Landwirtb
schaft betreibenden Ständen und die Weiber der Urvölker zählen . Bei vielen
Fabrikarbeiterinnen verbietet sich wegen Mangel an Nahrungsstoff das Stillen
von selbst. Dagegen macht sich auch in manchen, später näher zu bezeich
nenden Gegenden Deutschlands die Sitte bemerklich , dass es selbst beim
Landvolk für wenig anständig “ gilt, wenn die Mutter selbst ihr Kind an
der Brust ernährt.
Ein besonderer Grund dafür, dass zu einem grossen Theile viele Frauen
das Stillen möglichst lange fortsetzen , liegt ausser in der Einfachheit und
Billigkeit dieser Ernährungsweise auch noch in dem Umstande, dass die
Frauen während des Säugens den oïtus ausüben können ind nder Ge
fahr laufen , zu concipiren . Dieser Grund scheint in Deutschland hie und da
eine Rolle zu spielen ; dagegen ist bei den Urvölkern nur die Bequemlichkeit,
die Gewohnheit und auch die Fähigkeit , Jahre lang obne Nachtheil stillen
zu können , maassgebend . Unter den Urvölkern ist überdies der Coïtus so
lange nicht erlaubt, als die Frau ihr Kind säugt; es ist demnach schon durch
142 Die Ernährung des Kindes.
die Sitte , an der streng festgehalten wird , die Möglichkeit einer Conception
ausgeschlossen . Ein anderer Grund des langdauernden Säugens liegt in der
hie und da unter den Frauen verbreiteten Meinung, hierdurch gänzliche Un
fruchtbarkeit herbeiführen zu können . Individuen , welche sich zu diesem
Glauben bekannten und auch versicherten , den erwünschten Zweck erreicht
zu haben , fand Prof. Dr. Ferd. Weber zu Lemberg ") im Landvolke Gali
ziens, und er selbst ist der Ansicht, dass die geringe Anzahl von Kindern ,
die man beim galizischen Landvolke findet, mit dieser Erfahrung im Einklange
steht; es tritt nach seiner Beobachtung durch fortgesetztes Säugen frühzeitige
Atrophie des Uterus ein .
Ein weiteres Vorurtheil herrscht insofern, als man aus nichtigen Gründen
verabsäumt, das Neugeborene zeitig genug an die Brust zu legen , und dass
man auch selbst bei Urvölkern vorzieht, in den ersten Tagen dem Säugling
eine ihm nicht naturgemäss zukommende Nahrung zu reichen. Das Ammen
wesen und Alles, was mit der Ernährung des Kindes in der frühesten Alters
periode zusammenhängt, ist ebenso charakteristisch in ethnographischer und
culturhistorischer Hinsicht , wie es interessant ist in hygieinischer Beziehung,
denn die physischen Folgen der auf diesem Gebiete herrschenden Sitten
müssen sich bald bei jedem Volke bemerklich machen .
Es ist kein geringer Irrthum , wenn J. J. Rousseau in seiner berühmten
Schrift über Erziehung behauptet : „ Alles ist gut so , wie es aus den Händen
des Schöpfers hervorgeht, und Alles entartet unter den Händen des
Menschen .“ Wenn diese Ansicht auf Wahrheit beruhte, so müsste man bei
den Urvölkern , die wohl zunächst „ aus den Händen des Schöpfers hervor
gehen ,“ in allen Punkten des Erziehungs- und Verpflegungswesens die
„ gute,“ d. h . richtige und zweckentsprechende Methode finden , dagegen bei
den Kulturvölkern die Kennzeichen der Entartung auch in der Ernährungs
weise des Kindes wahrnehmen . Allein die diätetische Behandlung des Neu
geborenen ist keineswegs bei allen Urvölkern musterhaft; viele derselben
weichen vielmehr in der Darreichung der Säuglingskost ausserordentlich von
dem ab , was die einfachste Ueberlegung als naturgemäss erkennen lässt.
Die Wahl, die Bereitung u . s. w . der Nahrung , die das neugeborene Kind
bedarf, ist offenbar bei vielen Völkern , die man mit mehr oder weniger
Recht als „ Naturvölker " bezeichnet, nach Form , Menge und Substanz den
Anforderungen der vernünftigen Gesundheitspflege nicht entsprechend .
1. Die Mutterbrust.
durch Uebung leicht erlernen lässt. Mit grösster Leichtigkeit findet sich die
junge Frau bei den Urvölkern in diese ihr zusagende Beschäftigung. Nach
dem sie dem Kinde unter Schmerzen das Leben gegeben , sieht sie mit be
friedigten Gefühlen , dass alsbald ihr Kind unter kräftigem Saugen die nöthige
Nahrung von ihr annimmt. Dabei hat sie keineswegs mit jenen körperlichen
Fehlern und Mängeln zu kämpfen , welche bei civilisirten Völkern durch zahl
reiche Unsitten, wie Schnürbrust, oder durch erworbene Schwächlichkeit ,
Blutarmuth u . s. w . den Eintritt der Milch oder das Erfassen der vielleicht
verkümmerten Brustwarzen hindern .
Sobald ein Volk sich einigermaassen über den ursprünglichen Zustand
der Rohheit zu einem wenn auch geringen Grad der Civilisation erhoben
hat, macht sich bei ihm eine durch Sitte und Gewohnheit, sowie durch tra
ditionelles Herkommen beeinflusste Regelung vieler diätetischer Handlungen ,
vor Allem im Ernährungswesen des Säuglings, bemerklich . Weiterhin nehmen
sich bei solchen Völkern , die sich auf eine höhere Culturstufe geschwungen
haben , die Aerzte auch dieses Zweiges der Kinderhygieine an .
Die Aerzte ausGriechenland, welche in Rom prakticirten, wie Soranus aus
Ephesus und Moschion , schrieben in ihren geburtshülflichen Lehrbüchern ein
besonderes Verfahren bezüglich der Kinderdiätetik vor. Soranus sagt: „ Das
zur Ruhe gebrachte Kind soll sich selbst überlassen und von jeder Speise
und jedem Trank zwei, meist drei Tage hindurch fern gehalten werden , wenn
es nicht selbst eher darnach verlangt, da es noch mit mütterlicher Nahrung
angefüllt ist.“ Soranus verwirft den zu seiner Zeit herrschenden Gebrauch ,
den Kindern zunächst die schwer verdauliche Butter , den Leibbeschwerden
verursachenden åßpótavos mit Butter, den zu scharfen zápồapos und die, eine Ent
zündung herbeiführende, schwer zu verschluckenden Gerstengraupen zu geben ,
vielmehr gestattet er mässig gekochten Honig , da der rohe oder übermässig ge
kochte Blähungen verursache . Man bestreiche sanft den Mund des Säuglings
mit dem Finger und tröpfle laues Honigwasser hinein , wodurch der Appetit
angeregt, der Speisekanal schlüpfrig und der ganze Darmtractus für die
sogenannte Nabrung zugänglicher gemacht werde; diese sei aber nichts
Anderes als Milch . In den ersten vier Tagen empfiehlt Soranus die Milch
einer fremden Frau , nicht die Muttermilch, da diese noch unzuträglich, dick
und käsig sei; dann aber reiche die Frau , wenn sie gesund ist und Nahrung
hat, die Brust dar, und nur im Nothfall nehme man eine Amme.
Galen sagt : „ Ihrer Natur gemäss sind die Kinder aufzuziehen, in Süss
wasserbädern zu baden und mit der Speise und dem Getränke zu ernähren ,
das von möglichst feuchter Natur ist. Auf diese Weise hat die Natur selbst
für die Kinder gesorgt und die Muttermilch zur Nahrung vorbereitet.“
Weit verständiger, als Soranus, war der Gegner desselben , Demo.
sthenes, der in einem Buche den Müttern den Rath gab, dem Kinde sofort
die Brust darzureichen . „ Freilich erst,“ sagt Dr. Biedert,') „ nach mehr
als 1500 Jahren fing dessen bessere Ansicht an , allmählich siegreich sich
durchzukämpfen , nachdem so lange (von 200 n . Chr. bis 1800 ) kalte blöd
sinnige Pedanten die widersinnige Vorschrift aufrecht erhielten , dass das Kind
in den ersten 4-14 Tagen von seiner Mutter nicht ernährt werden dürfe,
und nachdem so lange die , allein hierdurch bewirkte Abnahme des Neu
geborenen an Körpergewicht in den ersten Tagen fälschlich für ein Natur
gesetz gegolten .“ Die hier erwähnte Abnahme des Körpergewichts Neu
geborener hat jedoch , wie wir dagegen einwerfen , nicht seit jener Zeit als
Naturgesetz“ gegolten . Vielmehr wurde die Thatsache , dass der Körper
nach der Geburt bei den meisten in gewohnter Weise ernährten Kindern
eine vorübergehende Gewichtsabnahme erleidet, zuerst von Burdach
(1830 ) und namentlich von Chaussier wahrgenommen , dann auch von
Haake, Winckel, Gregory und Anderen bestätigt. Sie beträgt durch
schnittlich 7 Procent des Körpergewichts. Allein richtig ist , dass durch
rechtzeitige Ernährung des Kindes mit der ihm zusagenden Mutter
milch diese Gewichtsabnahme bei vielen Kindern vollständig umgangen werden
kann. “) Demnach ist allerdings die noch herrschende Gewohnheit nicht zu
billigen , dem Neugeborenen die Brust der Mutter längere Zeit vorzuenthalten .
Allein nicht blos bei sehr vielen Völkern Europa's herrscht als allge
meiner Volksgebrauch die Sitte , dem Kinde erst mehrere Tage nach der
Geburt die Brust der Mutter darzureichen . Vielmehr ist konstatirt, dass
auch bei zahlreichen Völkerschaften Asiens dem Kinde während der ersten
Tage aus Vorurtheil die Mutterbrust gar nicht gewährt wird . So wird das
Kind an die Brust der Mutter gelegt und gesäugt bei den Persern erst
am dritten Tage (Polak) , bei den Kalmücken und Mongolen , sowie
bei den persiscben Unterthanen an der Küste des kaspischen Meeres eben
falls am dritten Tage. Während der drei ersten Lebenstage bekommt das
Neugeborene bei den Kalmücken in Astrachan , wie Meyerson berichtet,
einen gekochten Schafschwanz zu saugen und etwas Kalmücken - Thee zum
Getränk . In Südindien wird das Kind bis zum dritten Tage nicht
gesäugt, sondern bis dahin nur mit gekochtem Honig gefüttert; doch vom
dritten Tage an wird die Mutter angehalten , ihr Kind zu säugen ; wenn sie
dies nicht zu thun im Stande ist, so wird das Kind mit Ziegen-, Kuh- oder
Eselsmilch ernährt ( Shortt) . In Japan legt man das Kind erst drei Tage
nach der Geburt an die Brust und lässt es während dieser Zeit mit Rha
barbar laxiren.2) Dem neugeborenen Kinde legen die Gebirgs - Aïnos in
Japan einige Hirsekörner, die Küsten - Aïnos ein Stück gesalzenen Fisches in
den Mund ; nach altem , strengbefolgtem Brauche aber darf das Kind, gleich
viel zu welcher Tageszeit es geboren wird , keine eigentliche Nahrung er
halten , bevor es nicht eine Nacht überlebt hat.3) Auch in anderen Erd
1) Ritter von Rittershain , Statist. u. pädiatr. Mittheilungen aus der Prager Findelanstalt .
Prag 1878.
2 ) Petersburger medic . Zeitschr. 1862. III. I. 2 .
3 ) Isabella L. Bird, Globus 1881. Bd. 39. Nr. 14. S. 218.
1. Die Mutterbrust. 145
theilen zögert man ähnlich lange mit dem Anlegen des Säuglings ; z. B. legen
die Negerinnen in Old -Calabar das Kind während der ersten 2-, -3 Tage
nicht an die Mutterbrust. ") Während der ersten Lebenstage wird auch bei
den Loango -Negern das Kind nicht an die Brust gelegt. Man giebt dort
der Muttermilch der ersten Tage , dem sogen . Colostrum , einen anderen
Namen, ,, tsida fuenna," als der Milch der späteren Tage : „ tschiali.“ (Pe
chuel-Loesche.) Auf den Schiffer -Inseln muss eine Priesterin die Milch
der Mutter erst für nicht giftig erklären , bevor das Kind an die Brust gelegt
wird ; deshalb muss das Kind oft drei Tage lang Cocos- oder Zuckerrohr
saft erhalten , bis die Priesterin die Milch für gesund hält. Es ist demnach
keineswegs eine nur von Pedanten , wie Biedert sagt, aufrecht erhaltene
Vorschrift, dem Säugling anfangs die Brust vorzuenthalten , sondern eine
recht weit verbreitete Volkssitte , die auch , wie wir sehen werden , in
Oceanien und anderwärts herrscht.
Dagegen kommt bei vielen Völkern das Neugeborene bald an die Brust,
z . B. legen in Alaska die Indianerinnen ihr Kind sogleich nach der Geburt
und nach der Abwaschung mit Pferdeharn an (Lincoln nach Dall). Bei
uns in Deutschland ist es Sitte des Volkes, der Wöchnerin einige Zeit der
Ruhe zu gönnen ; so legt man in der baierischen Oberpfalz den Säugling nicht
immer gleich an die Mutterbrust; in grösseren Orten gibt die Hebamme wohl
auch erst ein reinigendes Säftchen , auf dem platten Lande werden aber
weniger Umstände gemacht (Dr. Brenner - Schäffer ). In Königsberg er
folgt das Anlegen des Kindes, wenn die Geburt in der Nacht stattfand , erst
am folgenden Morgen (Prof. Hildebrandt) ; dasselbe ist nach meiner Be
obachtung auch in Sachsen Brauch. Man legte im Saterlande (Oldenburg )
das Kind ehemals nur erst nach der Taufe an die Brust der Mutter und gab
ihm bis dahin Zuckerwasser ; und bei den Masuren heisst es : Vor der Taufe
soll die Mutter ihr Kind nicht stillen , damit es gedeihe.
Wir schickten die vorstehenden Bemerkungen der nun folgenden Ueber
sicht der verschiedenartigen Gewohnheiten der Völker beim Stillen voraus.
Dabei tritt ungemein viel Charakteristisches in culturhistorischer Hinsicht zu
Tage. Unter Anderem geschieht das Säugen bei den verschiedensten Völkern
in den mannichfachsten Formen und Stellungen : Sitzend , wobei das
Kind in den Armen oder auf dem Schoosse ruht, schreitend und gehend ,
wobei das Kind vorn in einem Tragbeutel ruht , oder in einer Weise auf
dem Rücken getragen wird , dass ihm die Brust unter der Achselhöhle hin
weg oder über die Schulter hin gereicht wird (Hottentotten etc.). Auf
den Fidschi- Inseln legt sich die Mutter zu diesem Geschäft auf die Erde
und stellt eine Gruppe dar , wie eine „ säugende Löwin." 2) „ Die Haltung
beim Säugen unter den Negern der Loango-Küste ist die bei uns übliche,“
d . h . die Mutter sitzt und hält das auf ihrem Schoossę ruhende Kind an die
Brust, oder sie liegt und der Säugling ruht neben ihr - ,, selbst die Finger
1) Hewan , Edinb. med . Journ . 1864. Sept.
2 ) Buchner , Reise durch den Stillen Ocean . S. 269.
PLOSS, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. IO
146 Die Ernährung des Kindes.
der Mutter werden in der bekannten Weise verwendet; die Mutter soll aber
zuweilen über den Säugling sich legen , um ihm das Trinken bequemer zu
zu machen, thut dies jedoch wahrscheinlich nur desNachts." ) - Beiverschiedenen
Völkern Asiens, z. B. den Grusiern , bei Armeniern , Tataren und bis
nach Kaschgar hat die Kinderwiege oben längs über das Lager des Kindes
hin einen Stab , auf den sich die Mutter hinablehnt und stützt , um ihrem
Kinde die Brust zu reichen . Wenn die Mutter dabei einschläft , so erstickt
bisweilen das Kind . Wie bäufig überhaupt Erstickung des Kindes durch
Lagerung neben die Mutter vorkommt, besprachen wir oben S. 67.
Bei den untergegangenen halbcivilisirten Völkern Amerika's finden wir
eine sich in bestimmten Maassregeln aussprechende Sorgfalt in der Art
und Weise , mit welcher die Mütter sich beim Säugungsgeschäft benahmen.
Bei den alten Peruanern im Inka-Reiche stillten die Frauen stets
selbst. Wenn eine Mutter ihrem Kinde die Brust reichen wollte , so legte
sie sich auf dasselbe ; dies geschah nicht häufiger als dreimal täglich , nem
lich Morgens, Mittags und Abends ; ausser dieser Zeit bekam das Kind nie
mals die Brust, és mochte schreien so viel es wollte, bis es allmälig zu dieser
Ordnung gewöhnt wurde. Diese Sitte beobachteten die Frauen im ganzen
Inka-Reiche ; als Grund derselben führten sie an , dass die Kinder bei über
häuftem Stillen bleich und zum Brechen gereizt, bei zunehmendem Alter aber
unersättlich würden . So vornehm auch eine Dame sein mochte , so vertraute
sie ihr Kind doch niemals einer Amme an , ausser wenn sie durch Krankheit
am Selbststillen verhindert wurde. Während der ganzen Säugungsperiode
enthielt sie sich auch von ihrem Manne, weil , wie sie meinte, die Muttermilch
verdorben und die Kinder schwindsüchtig und ungesund würden . Hatte eine
Mutter hinlänglich Milch für ihr Kind , so bekam es vor der Entwöhnung
nichts zu essen noch zu trinken . Denn sie glaubten , dass andere mit der
Muttermilch zugleich gereichte Nahrungsmittel der Gesundheit der Kinder
nachtheilig würden . Sobald ein Kind sich allein aufrecht halten konnte,
musste es die Mutterbrust auf den Knieen liegend erfassen , so gut es konnte ,
ohne dass die Mutter es jemals auf den Schooss genommen hätte ; wollte es
die andere Brust, so wurde ihm dieselbe vorgehalten , und es musste selbst
darnach fassen , ohne in die Arme genommen zu werden .?)
Die Frauen der untergegangenen Azteken in Mexiko stillten stets selbst;
nur wenn eine Mutter durch Krankheit genöthigt war, dem Kinde eine Amme
zu geben , so wurde diese mit der grössten Sorgfalt ausgewählt.3)
Nach diesem Blick auf die amerikanischen Völker der Vorzeit mustern
wir die Sitten der den Norden desselben Continents bewohnenden Indianer.
Von ihnen sagt Lafitau , der unter den Irokesen Missionär war : „ Die
Weiber hüten sich sehr, ihren Kindern Ammen zu geben ; denn sie würden
glauben , die Eigenschaften einer Mutter zu verlieren . Sie gerathen daher in
grosse Verwunderung, wenn sie hören , dass es Völker giebt, die ihre Kinder
durch fremde Frauen stillen lassen . Wenn es sich aber zuträgt, dass die
Mutter eines Säuglings stirbt, so trifft man bei diesem Nothfall allemal in
der Famile Säugammen an ; und was am wunderbarsten dabei scheint, dass
alte Grossmütter, die bereits die Jahre der Fruchtbarkeit zurückgelegt, sich
noch wieder Milch erwecken und Mutterstelle vertreten .“ 1) Von den Indianer
Frauen in Canada hob Gabriel Sagard Theodat (im J. 1632 ) rühmend
hervor, dass sie sämmtlich selbst stillen . Aehnliche Zeugnisse über andere
Indianerstämme giebt es hundertfach.
Manche Indianerstämme pflegen dem Kinde die Brust nicht allein zu
geben : Bei den Roucouyenne- Indianern am Yary - Fluss in Südamerika
erhält das Kind neben der Mutterbrust zuweilen einen Trank aus sehr reifen
gekochten Bananen, welche mit der Hand in warmes Wasser ausgedrückt
werden . )
Unter den brasilianischen Indianern besteht die Nahrung des Kindes
nebst der Muttermilch in gekautem Mehl. 3) Keine Mutter leidet , dass ihr
Kind von einer anderen Frau gesäugt wird ; sie würde es für schmachvoll
halten , ihren Säugling einem anderen Weibe zum Stillen zu geben , sie müsste
denn durch die dringendste Noth dazu gezwungen werden . 4) Auch die
Caraiben -Weiber stillen ihre Kinder stets selbst ; sobald die Kinder nur ein
wenig Kraft bekommen , geben sie ihnen auch Pataten , Bananen und andere
Früchte zu essen . 5) Wenn bei den Indianerinnen in Paraguay eine ihr
Kind säugende Mutter stirbt, so regnet es Gesuche der anderen Indianerinnen ,
welche Milch haben , dass man ihnen das mutterlose Kind gross zu ziehen
geben soll; diejenige, welcher das Gesuch gewährt wird , sorgt für das Kind,
wie für das eigene (nach Jesuit Juan de Escandon). – Die Frauen in
Jalapa (Mexiko) stillen ebenfalls ihre Kinder immer selbst und widmen ihnen
grosse Sorgfalt . )
Wenn auf den Canarischen Inseln die Mutter im Wochenbette stirbt,
so wird das Kind von Ziegen oder Schafen grossgesäugt, unter deren Euter
man es hält. 2) In der Regel muss die Mutter ihr Kind stets selbst nähren ,
denn es von einer Amme säugen zu lassen , würde bei der Syphilis und
den vielen Hautkrankheiten , die unter den niederen Klassen herrschen , zu
gefährlich sein ; das Kind wird nur einer alten Wärterin übergeben , welche
Ama genannt wird. 3)
Wenden wir uns zu den oceanischen Insel-Völkern, so finden
wir hier die mannichfachsten Gebräuche beim Säugen der Kinder . Während
unter den Maoris auf Neuseeland (Melanesiern ) bei den Geburten eine
1) Baumgarten, Allg . Gesch. der Länder u . Völker v. Amerika. I. S. 272.
2 ) Crevaux im Globus 1881. XL . S. 70.
3) Lery in : Allg. Hist. d . Reisen zu Wasser und zu Lande. XVI. S. 259.
4 ) Baumgarten, I. c. II. 409.
5) Baumgarten , 1. c. II. 858 .
6 ) Nouv. ann. des voyages. 1863. Jan. 48.
7 ) Francis Coleman Mac-Gregor S. 91.
8 ) Daselbst S. 93.
10 *
148 Die Ernährung des Kindes .
Hebamme nicht hilft, ist eine solche bei dem Anlegen des Kindes an die
Brust der Mutter behülflich und übt dieses Geschäft mit Geschick aus.
Dr. Tuke ) sagt: „ The early placing of the child to the breast is always
insisted on by the Maori midwives , their experience here coinciding with
our own. " Auf den Fidschi oder Viti-Inseln wird das neugeborene Kind
während der drei ersten Tage nicht von der Mutter , sondern von einem
anderen Weibe gesäugt oder mit dem Safte von Zuckerrohr ernährt. 2) Auf
Kandavu , einer Viti- Insel , besuchte Dr. M. Buchner den Häuptling ;
während der Unterredung bemächtigte sich die Frau des Häuptlings , ohne
von Buchner Notiz zu nehmen , ihres Säuglings, um ihm seine Nahrung zu
reichen , aber erst, nachdem sie die Hände an einem Feuerbrand gewärmt
und die Brüste gerieben hatte. Der Säugling hatte eine Kindsmagd . Eigen
thümlich ist die Stellung , in welcher dort das Geschäft des Stillens besorgt
wird. Die Mutter lag da wie eine säugende Löwin ; schliesslich kam eine
andere vornehme Dame zu Besuch mit ihrem Säugling ; auch sie warf sich
nieder und spielte ebenfalls die säugende Löwin . 3)
Bei den Bewohnern des Samoa-Archipels (Polynesiern ) besteht die
erste Nahrung des Kindes bis zum dritten Tage im Safte der Kokosnuss ,
den man , wie Turner berichtet, aus dem Kokosnuss-Fleisch ausdrückt,
oder wie Andere angeben , 4) im Safte der gekauten Kokosnuss, welcher dem
Kinde durch einen Lappen in den Mund geträufelt wird . Frauen , welche
dafür gut bezahlt werden , untersuchen unterdess die Milch der Mutter mit
Wasser und zwei heissen Steinen ; nur dann, wenn die Milch frei von allen
gerinnenden Bestandtheilen befunden wurde , wird das Kind an die Brust
genommen . Die Entwöhnung geschah auf den Samoa- Inseln meist im vierten
Monat , wenn nicht der Vater sein Kind dem Familiengotte weihte ; dann
hiess es „ Gottes Banane,“ weil es so dick wurde, wie eine Banane; denn
das frühe Entwöhnen tödtet dort viele Kinder , wie bei uns , oder lässt es
abmagern, während längeres Säugen das Kind kräftiger macht.
Auch bei den Mikronesiern spielt die Kokos-Milch als Nahrung des
Säuglings eine Rolle. Auf dem Carolinen- Archipel nimmt die Mutter
schon früh, während das Kind noch an der Brust trinkt, Wasser und Kokos
milch in den Mund und spritzt es in den Mund des Kindes; bald darauf gibt
sie ihm auf gleiche Weise eine Art gelben Pisang, den sie zuvor kaut. Doch
erhalten die Kinder nie regelmässige Nahrung ; und dies besonders ist ihrer
Entwicklung schädlich . 5)
So lange auf den im indischen Meere liegenden maldivischen Inseln die
Mutter lebt, muss sie ihr Kind selbst stillen ; man erlaubt nicht einmal der
vornehmsten Frau , sich dieser Mutterpflicht zu entziehen ; selbst wenn die
Mutter stirbt, wird keine Amme gehalten , sondern man füttert das Kind mit
Reis, Kokosmilch und Zucker. ) Die Mangkassaren und Bugis auf Celebes
entwöhnen die Kinder mit einem Jahre ; sie fürchten überhaupt, dem Kinde
zu viel Zärtlichkeit zukommen zu lassen und es zu verweichlichen . 2)
Eine Reihe Hamitischer Völker in Ost-Afrika befolgt bei der ersten
Ernährung des Kindes sonderbare Gewohnheiten , indem sie demselben neben
der Muttermilch Etwas einflössen . Unter den Somali erhält das neu
geborene Kind als erste Nahrung Butter mit etwas Myrrhen ; dann erst legt
es die Mutter an die Brust (Haggenmacher ). Die erste Nahrung des Neu
geborenen in Abessinien besteht in frischer Butter ; die Brüste der Frauen
sind in den ersten Tagen nach der Geburt so angefüllt , dass es dem Kinde
ganz unmöglich ist, dieselben zu nehmen . Während dieser ganzen Zeit erhält
dasselbe nur Butter und auch selbst von da an , wo es die Brust nehmen
kann , bekommt es immer noch täglich etwas Butter. Die Kinder scheinen
sich dabei wohl zu befinden (Dr. H. Blanc). Sobald das Kind abgenabelt
ist, so beten bei den Szuaheli (Mohamedanern ) die Leute, und das Kind
wird am Munde mit Kuhmilch und Mandiano (gelber Schminke) beschmiert,
darauf an die Brust gelegt (Dr. Kersten ).
Auch über mehrere Völker Mittelafrika's erhielten wir Berichte . Die
Kinder in Makukira werden bis zum 2. oder 3. Jahre gesäugt ; Cameron
sah eines, das abwechselnd an der natürlichen Quelle und an einem Pombé
Rohre schlürfte (Pombé ist das geistige Getränk der Eingebornen , das man
mittelst Schilfrohr saugt), so dass man hier buchstäblich sagen kann , sie
saugen den Geschmack an Pombé mit der Muttermilch ein . 3)
Säuglinge bekommen ausser der Muttermilch bei den Wakikuyu und
Masai (Ostafrika) vom zweiten Tage an etwas frische Butter in den Mund
gestrichen ; bei den Wakikuyu ausserdem vom zehnten Tage an gekaute
süsse Bananen , welche mit dem Speichel der Mutter vermischt sind . Die
Wakamba geben ihren Kleinen bald nach der Geburt Mehlbrei als Zukost,
die Somali, welche wir schon oben erwähnten, flössen ihnen bis sie 6 Monat
alt sind , täglich etwas Myrrhensaft ein . 4)
In Südafrika interessiren uns zunächst die Hottentotten , deren Wei
bern , wie Dr. Roser dem Dr. C. Scherzer berichtete, es nicht an Milch
feblt. Bekanntlich geben die Hottentottenfrauen dem Kinde die Brust, ohne
dasselbe von seinem Platz auf ihrem Rücken zu entfernen ; sie drehen den
Säugling nur etwas zur Seite. Mütter, die bereits ein gewisses Alter erreicht
haben , oder die mehrere Kinder geboren haben , reichen auch wohl ihrem
auf dem Rücken hockenden Kinde die Brust unter dem Arme, oder auch
über die Schulter , so dass das Kind sich nicht im Geringsten aus seiner
Lage zu verrücken braucht. 5) So lange eine Hottentottin ihr Kind säugt,
1 ) v. Rienzi, Oceanien, deutsch. I. 245.
2 ) L. L. Finke, Versuch einer med. prakt. Geogr. I. Leipz. 1792. S. 688 .
3) Cameron , Quer durch Afrika. I. S. 236.
4 ) Hildebrandt in Zeitschr. f. Ethnol. 1878. S. 396.
5) Le Vaillant, Reise in das Innere von Afrika. Frankf, a . M. 2. Th. S. 39.
150 Die Ernährung des Kindes.
darf es der Vater nicht berühren , d . i. vier Monate lang nach der Geburt
(Damberger ). Während des Säugens kräftigt sich die Hottentottenfrau
durch fleissiges Rauchen und pflegt auch zeitweilig das Kleine, wenn es
unruhig wird , von dem köstlichen Kraute essen zu lassen. ") Eine Kaffer
frau legt ein Kind einer andern Mutter niemals an ihre Brust.
Bei den Betschuanas in Südafrika sah Livingstone, dass in meh
reren Fällen die Grossmutter es auf sich nahm , ein Enkelkind zu säugen .
Eine Frau hatte wenigstens vor 15 Jahren zum letztenmale ein Kind gesäugt ;
aber sie legte ein Enkelkind an die Brust und war im Stande, das Kind voll
ständig zu säugen . Wenn eine Grossmutter von 40 Jahren oder darunter
(denn diese Weiber welken frühzeitig ) bei einem kleinen Kinde zu Hause
gelassen wird , so legt sie dieses Kind an ihre welke Brust und säugt es.
Manchmal saugt das Kind an seiner Mutter und Grossmutter.
Unter den Basuto (Betschuanen ) ist es Sitte , das Kind erst am
dritten Tage an die Brust der Mutter zu legen . Inzwischen aber ist die
erste Nahrung, die das Kind erhält, dünner Kafferhirsemehlbrei, der ihm trotz
Schreiens und Krümmens eingestopft wird . Dadurch ist das Kind zum Kaffer
kornbeisser geweiht. Dann folgt erst das Säugegeschäft (Missionär Ende
mann ). Ergötzlich ist folgende Beschreibung der Fütterung : Das neuge
borene Kind erhält als erste Nahrung aus einem bereitstehenden Topfe einen
aus Kafferkornmehl bereiteten Brei, mit dem es förmlich gestopft wird . Die
alte Grossmutter öffnet mit der einen Hand den Mund des Kindes und füllt
ihn aus der anderen mit Brei. Dieses Verfahren kostet nicht wenigen Kindern
das Leben , aber es gilt für unumgänglich . Andererseits schläft das durch
diese Behandlung satt und müde gemachte Kind bald ein . ) Ein anderer
Bericht lautet: Unter den Basuto nehmen sofort nach der Geburt das Kind
die helfenden alten Frauen in Empfang und füttern es die ersten drei Tage
mit dünnem Brei. Dies geschieht in der Weise , dass man das Kind in den
Schooss setzt, in die vor den Mund gehaltene linke Hand den Brei schüttet
und mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten denselben in den Mund
stopft, wie man etwa mit einer Schaufel etwas hineinschaufelt. Von Zeit zu
Zeit wird der Leib des Kindes glatt gestrichen und weiter gestopft , trotz
alles Schreiens des armen Wurmes , bis der Leib ganz prall steht. Nach
drei Tagen erst bringen sie das Kind zur Mutter und sagen : „ Lasst uns
die Brüste der Mutter durch Medicin reinigen , denn die Brüste haben Schmerz ,
damit der Schmerz herausgehe.“ Und so werden die Brüste geritzt und mit
der Selare (Medicin ), d. h . mit vorher gestampften Wurzeln , die für diese
Krankheit gut sind , eingerieben ; nachher erst darf das Kind angelegt werden .
Grützner (ein Missionär, der dies berichtet) sagt, dass in Folge solcher
Schädigung der Kinder unter den Eingeborenen ein weit grösserer Procent
satz derselben stirbt, als unter den Weissen. 3)
Die Makalaka in Südafrika füttern ihre Kinder ähnlich wie die Vögel
ihre Jungen . ) Schon am ersten Tage nach der Geburt wird feiner Kleister
aus Reismehl oder in dessen Ermangelung aus gewöhnlichem Hirsenmehl
bereitet, um den Neuling zu stopfen . Es ist gewöhnlich die Grossmutter, die
sich dieses Fütterungsprozesses für die ersten Tage annimmt, sie legt sich
das Kind in den Schoss, das bereits mit Fett gesalbte Köpfchen etwas erhöht
in die linke Armbeuge , und nun beginnt das schauderhaft mit anzusehende
Geschäft gewaltsamer Fütterung. Der stopfende Finger dringt bis hinter den
Gaumen , die übergrosse Quantität der zähflüssigen Masse fliesst an den Seiten
herab und bedeckt Nase- und Mundgegend in gefahrdrohender Weise. Zur
weiteren Nachhülſe wird der gequälten , öfters fast erstickenden Kreatur eine
Bewegung mittels der Beine ertheilt , wie man sie etwa einem Sacke giebt,
wenn sich die verschiedenen Gegenstände ihrer Schwere nach legen sollen .
Der . noch schwache Magen des armen , hilflosen Wesens wird zu solcher
Ausdebnung angeschwellt, dass dem Zuschauer ordentlich bange wird , sein
Bersten müsse nächstens erfolgen . Das Kind hat sich unter der Tortur müde
geschrien und ist eingeschlafen , es liegt wie todt da. Nun wird es hübsch
mit beiden Händen an den Seiten des Kopfes erfasst und das schmierige
Gesichtchen abgeleckt. Wenn die Zähne gekommen , so erhält das Kind ausser
Kleister und Muttermilch auch Käfer, Raupen , Heuschrecken , Pilze u. s. w .
Schon nach dem ersten Bade giebt man dem Neugeborenen bei den
Negern in Old -Calabar in den Mund den ausgepressten Saft der Frucht von
einer Art Amomum und hierauf etwas laues Wasser ; während der ersten
2-3 Tage wird es nicht an die Brust gelegt, sondern nur mit Wasser er
nährt; Wasser scheint ihnen überhaupt ein vorzügliches Nahrungsmittel für
das Kind in der ersten Lebensperiode zu sein . Die Brust der Mutter strotzt
von Milch , die nicht selten abtropft, und das Kind ist kräftig genug zum
Saugen ; dennoch wird ihm jeden Tag eine reichliche Menge Wasser einge
flösst. Dies wird in jeder Minute wiederholt , während das Kind schluckst
oder sich windet. Man giebt ihm das Wasser, um , wie sie sagen , den Unter
leib auszudehnen , um ihn fähiger zu machen für die Aufnahme der Milch , und
um das Wachsthum zu beschleunigen . Sollte eine Mutter einmal für wenige
Stunden abwesend sein , so sucht man während dieser Zeit das Kind
zu beruhigen durch Anfüllen seines Magens mit dieser wohlfeilen Flüssig
keit. Bei solcher Ueberfüllung der Kinder mit kaltem Wasser ist es wichtig ,
dass unter denselben Anschwellungen der Milz sehr häufig sind , fast noch
häufiger im Kindes- als im späteren Alter . 2)
Neben der Brust reichen den säugenden Kindern die Woloff-Negerinnen
auch noch andere Kost dar ; Dr. de Rochebrune3) sagt: „ La nourriture
de l'enfant n'est pas exclusivement lactée , le sanglé et le couscous entrent
une large part dans son alimentation au préjudice de sa santé.“
Obgleich bei den Arabern der Sahara in Algerien jede Frau ihr Kind
selbst und lange stillt, reicht auch ebenso oft die erste beste Dienerin ihm
die Brust oder ein eben anwesender Besuch . Emma von Rose , die dort
reiste, kannte eine alte runzlige Negerin , Sklavin des Kaids von Biskara, die
ihr letztes Kind vor länger als dreissig Jahren geboren ; sie war Amme des
Kaid gewesen und fuhr noch immer fort, die seiner Kinder zu sein ; sie hatte
nie aufgehört, zu stillen , und noch immer Ueberfluss an Milch . Als Emma
von Rose ihr Bedenken äusserte , meinte die Frau des Kaid : „ Milch sei
Milch , einen Unterschied kenne sie nicht.“ Es war indess ein widriger An
blick , den rosigen Mund des Kleinen an der welken Brust hängen zu sehen .
Wollen in Fezzan die Kinder an die Mutterbrust nicht vorangehen , so
werden , ausser etwaiger Schwangerschaft der Mutter , übernatürliche Gründe
zur Erklärung herbeigezogen , und folglich auch ebenso unnatürliche Mittel
angewendet. Man wäscht die Kinder in Wasser , das aus sieben Brunnen
genommen ist, und in das man Fenchel, Hantit u. drgl. Substanzen gethan
hat. Hilft das nicht, so wird die Mutter als schwanger angesehen und man
wartet ruhig auf die etwaige Geburt des neuen Kindes. Tritt dieselbe ein ,
so legt man das erste Kind , wenn dasselbe noch am Leben , in die Schüssel,
welche die ganze Zugabe des Neugeborenen enthält, und ist von seiner sicheren
Heilung überzeugt. )
Auf Massaua, einer Insel an der Ostküste Afrika's im rothen Meer, legt
die Mutter ihr Kind sogleich an die Brust , nachdem dasselbe etwas Butter
bekommen, die in jenen heissen Gegenden immer flüssig ist. Wenn das Kind
die Mutterbrust nicht erhalten kann , so legt man es einer anderen Frau an
die Brust; aber die Mutter verliert dann die Achtung ihres Mannes, und oft
kommt es vor, dass sie verstossen wird, während die Amme dann ihre Stelle
einnimmt (Brehm ).
Man ersieht schon aus dem Berichteten : Ueberall werden Fehler gemacht,
bald auf die eine, bald auf die andere Weise ; Afrika steht hinter Polynesien
keineswegs zurück. Einen weit anderen Charakter trägt die Ernährungsweise
der Kleinen in Asien . Doch spielt auch hier , wie bei allen Orientalien , die
flüssige Butter eine Rolle.
Die Bewohner Bannus im östlichen Afghanistan geben dem Kinde
täglich neben der Muttermilch Ghi, geschmolzene Butter, das Köstlichste, was
die Afghanen kennen ; sie soll die Verdauung fördern . ) – Gesäugt wird das
Neugeborene bei den Nayer's in Malabar, einer dravidischen Sudra -Kaste,
während drei Tage von einer Verwandten , vom 3. Tage an von der Mutter .
Ist eine Amme nöthig , so wählt man hierzu womöglich eine Verwandte 3)
Sofort nach der Geburt wird dem Kinde noch vor der Muttermilch bei der
Pulay er-Sklaven -Kaste in Malabar Wasser der Kokosnuss eingegeben .
Wenn bei den Vedas, einer südindischen Sklavenkaste, die Muttermilch nicht
die Weiber in althebräischer Zeit; nur selten wird man eine jüdische Frau
auf dem Felde, in der Fabrik u . s. w ., vielmehr meist in ihrer Häuslichkeit
beschäftigt finden . Die Mutter widmet sich lediglich und sie hat auch
Zeit dazu der Pflege ihres Kindes , und nur ausnahmsweise verweigert
sie dem Säugling ihre Brust. Sie hängt mit aller Liebe an ihrem Kinde
ein Vorbild für manche christliche Mutter ! Und in dieser Beziehung macht
Wohlhabenheit und Armuth keinen Unterschied .
Bei den Buräten wird das Neugeborene von der Mutter gesäugt, mit
Kuh- oder Schafmilch getränkt; nach Durchbruch der Zähne, oft auch früher,
werden die Kinder mit zerkautem Fleisch , Schwarzbrod und allem anderen
Vorhandenen gefüttert. ")
Wenn bei den Tscherkessen einem Fürsten ein Kind geboren wird,
so vertraut man dasselbe einer Amme an . Zuweilen sind aber auch alle
säugenden Mütter des Stammes die Säugammen des Fürstenkindes , welches
daher aus einem Dorfe in das andere getragen und noch bis zum Entwöhnen
von den verschiedenen Müttern gestillt wird .
Der reiche Mongole pflegt nach von Báliut seinen Säugling einem
Armen, gewöhnlich seinem Untergebenen zur Erziehung zu übergeben , wobei
er ihm zugleich eine gute Kuh schenkt. Die Unbemittelten erziehen ihre
Kinder selbst und diese werden bis zum dritten , ja sogar bis zum vierten
Jahre gesäugt. Zum Säugen bedient man sich eines Ochsenhorns. )
Bei den Soongaren , einem Kalmücken stamme, halten die Vornehmsten
ihren Kindern eine Amme. Bei dem Nomadenvolke der Karagassen im süd
lichen Sibirien säugen die Mütter ihre Kinder so lange, bis diese im zweiten
Jahre die Brust von selbst verschmähen.3)
In der Türkei nehmen die Vornehmen in grösseren Städten gewöhnlich
eine Amme zu ihrem Kinde. Deshalb beeilen sich die jungen Frauen in der
Provinz einige Tage nach ihrer Niederkunft, ihr Kind zu verlassen , indem
sie dasselbe der Familie übergeben , um alsbald in der Stadt Ammendienst
zu suchen . In einen solchen Dienst eingetreten , bekommt die Bäuerin eine
ihr ganz neue Kost; sie nascht von Allem , was in der Küche der vornehmen
Familie vorkommt, und ist sebrunmässig (Eram S. 65). In der klein
asiatischen Türkei hingegen , insbesondere in Isaurien , kennt man Ammen
nicht; wenn die Mutter stirbt, gibt man dem Kinde Ziegenmilch.4) Die Sitte,
Ammen zu nehmen , scheint früher unter den vornehmen Türken weniger
heimisch gewesen zu sein ; denn noch im Jahre 1833 fand Oppenheim
das Selbststillen der Mütter allgemeiner gebräuchlich ; er sagt : „ In der Regel
ist jede Mutter in der Türkei im Stande, ihr Kind selbst zu stillen , da weder
eine Schnürbrust die Brüste und Brustwarzen zerdrückt, noch eine übertriebene
Verzärtelung und Schwäche sie dazu untauglich macht. Ausserdem haben
die Weiber im Morgenlande glücklicher Weise noch nicht gelernt, dass sich
ihren heiligsten Pflichten zu entziehen und die kostbarsten Pfänder ihrer ehe
lichen Liebe lohnsüchtigen Miethlingen anzuvertrauen , ein Mittel wäre, ihre
Reize länger zu erhalten und die zauberischen Vergnügungen der Gesellschaft
länger zu geniessen ." – Wenn durch irgend eine ungewöhnliche Veranlassung
eine Frau ihre Milch verliert und sich genöthigt sieht, eine Amme anzu
nehmen , so nimmt sie diese in das Haus und lässt sie mit eben der Achtung
und Aufmerksamkeit behandeln, als man ihr selbst erzeigt. Sie sei Mohame
danerin , Christin oder Jüdin , so hängt es von der zweiten Mutter ab , von
nun an immer bei dem Säugling zu bleiben , ihre mütterliche Sorgfalt für ihn
fortzusetzen , und Zeitlebens von ihm und seinen Verwandten die lebhaftesten
Beweise der Dankbarkeit zu empfangen . Den einzigen Luxus, den sich die
reichen Frauen erlauben , um nicht ihre wohlbeleibte Gestalt beim Nähren zu
verlieren , ist, dass sie für die Nacht eine Säugamme für das Kind nehmen ,
während sie es am Tage selbst an die Brust legen . Der Koran gebietet,
dass die Mutter den Kindern zwei volle Jahre die Brust reichen soll, wenn
diese so lange säugen wollen (Sure 2 u . 46). Es ist aber der Mutter erlaubt,
ihren Säugling mit Bewilligung des Mannes früher zu entwöhnen .
Bei den Armeniern im russischen Gouvernement Eriwan erhält das
Kind 3—4 Stunden nach der Geburt schon die Brust, doch nicht die der
eigenen Mutter , sondern einer anderen Frau, erst nach drei Tagen beginnt
die Mutter das eigene Kind zu stillen . ") Es soll bei den Armeniern des
Kuban -Districts in Kaukasien , den Armawiren , vorkommen , dass eine Gross
mutter, eine vielleicht bald 50jährige Frau , das Neugeborene zu sich nimmt,
und um der Tochter Ruhe zu schaffen , dem Kinde die Brust reicht, und dass
dann wirklich sich Milchsecretion einstellt, so dass die Grossmutter ihre Enkel
stillen kann. 2)
Bei den heutigen Griechen ist die Benutzung einer · Amme sehr ver
breitet unter den Vornehmen , denn die Damen wollen hier die Schönheit
ihres Busens und ihre Gesundheit erhalten ; die Amme bleibt dann meist im
Hause , wird gleichsam in der Familie als Mitglied eingeweiht und heisst Paramana.
In Dalmatien lässt sich keine Mutter , auch nicht die an Tuberculose
leidende, abhalten , ihr Kind selbst zu säugen , weil man dort im Volke die
Ansicht hegt , dass eine kränkliche Mutter sich selbst durch das Stillen von
manchen Krankheiten befreien kann . Dagegen glauben die dalmatinischen
Weiber, dass durch den Eintritt der Menstruation oder der Schwangerschaft
ihre Milch verderbe und giftig werde; sie entwöhnen in diesem Falle das
Kind sogleich . Mütter und Ammen reichen dem Säuglinge beim geringsten
Gewinsel desselben die Brust, in der Meinung , dass das Kind Hunger habe
(Dr. W. Derblich ).
Auf Sicilien beraubten sich , wie einst Houel3) erzählte, die Frauen
der einen Brust und standen fest in der Meinung, dass die Milch einer Brust
besser sei, als zweier. Houel sagt: „ Diese Weiber geben keinen Gründen
Gehör, welche man gegen ihre Verstümmelung vorbringt, und noch weniger
können sie durch die nachtheiligen Folgen gewitzigt werden , welche sie oft
davon empfinden .“ Jedenfalls besteht diese sogenannte „ Verstümmelung “
lediglich in einem ,, Nichtgebrauch der Brust ;" doch scheint diese ganze An
gabe sehr zweifelhaft zu sein .
In Russland ist es mit der Hygieine der Neugeborenen sehr übel
bestellt. Man vernachlässigt in St. Petersburg nicht blos unter den ärmeren
Volksschichten, sondern auch in den bemittelteren Klassen der Gesellschaft
die naturgemässe Pflege des Säuglings in hohem Grade . Die dort herr
schende volksthümliche Methode der Ernährungsweise des Kindes beschreibt
Dr. Reimer ') : „ Nachdem das neugeborene Kind in der Badestube mit zu
heissem Wasser förmlich abgebrüht worden ist, wird es nach Hause gebracht ;
man legt es auf den Ofen und noch sind keine 24 Stunden vergangen , so
steckt auch schon im Munde des Neugeborenen der obligate dicke Zulp , der
aus schwarzem , von der Mutter selbst vorher gekautem , in irgend einen
schmutzigen Lappen gewickeltem Brote besteht. Sehr bald entwickelt sich
unter dieser Säure eine lebhafte Schwämmchenbildung auf der Mundschleim
haut, die von der Umgebung als eine nothwendige Uebergangsperiode be
trachtet wird ; es heisst: „ das Kind blüht !" und ehe man es an die Brust
legt, muss diese Blütheperiode ruhig abgewartet werden . Schreit das Kind
dabei, so wird es nicht als Ausdruck des Schmerzes, sondern höchstens als
Hunger aufgefasst und es bekommt dann einen Brei aus gedörrtem Hafermehl
oder auch nur reines Wasser eingeflösst. Ist das Kind über der ,Blüthe
periode" nicht zu Grunde gegangen, dann wird es an die Brust gelegt, aber
wenn es entweder wegen noch wunder Mundschleimhaut oder auch wegen
zu grosser Körperschwäche nicht im Stande ist, die, nur zu oft ganz unvor
bereitete Brustwarze zu fassen , dann reisst der Mutter die Geduld und wie
der bekommt das Kind den Zulp oder das Horn in den Mund gesteckt. Das
Horn ist gewöhnlich ein Kubhorn , an dessen spitzem Ende eine Kuhzitze an
gebunden ist , die höchstens zweimal monatlich gewechselt wird. In das offene
Ende wird die Milch einfach hineingegossen (gewöhnlich entrahmte Milch ),
und man kann sich von deren Schmackhaftigkeit eine Vorstellung machen ,
wenn sie bei der in der Wohnung herrschenden Hitze säuert, die Zitze in
Verwesung geräth und Schmeissfliegen und Schaben hineindringen . Schreit
das Kind sehr viel, so wird es noch als Hunger gedeutet und man stopft
ihm förmlich den Mund mit der dicken Hafermehlgrütze. Die Folgen liegen
auf der Hand, und da kann es wohl Wunder nehmen , dass die Neugeborenen
bei uns zu Lande stets eine so hohe Mortalitätsziffer (circa 12 pro Mille)
geben ; oder dass sie , falls ihr Organismus allen einströmenden Schädlich
keiten widerstanden hat, am Schlusse des ersten Lebensjahres zum Krüppel
gestempelt sind.“
1) St. Petersburger medicin . Wochenschrift 1878. 15. (27.) December. Nr. 50. S. 411.
g- -
1) Dr. J. Ucke, Das Klima und die Krankh. d . Stadt Samara. Berlin . S. 260 .
2) Globus 1880. Nr. 16. S. 252. Nach Dr. Kreuzwald.
3) Dr. Krebel, Volksmedicin versch . Volksstämme Russlands. 1858. S. 17 .
1. Die Mutterbrust.
159
Nièvre in Burgund und aus der Normandie bezogen ; ihr Handwerk hat buch
stäblich einige Gemeinden zu Grunde gerichtet; denn während die Weiber
nach Paris gingen, um Geld zu verdienen , faulenzten die Männer zu Hause
und lebten von dem Verdienste ihrer Weiber ; so geriethen die Familien in
das Elend. Das Elsass bildete von je unter den französischen Departements
eine rühmliche Ausnahme, wie Stöber und Tourdes versichern , denn es
ist dort allgemeine Regel, selbst zu stillen ; kann die Mutter dies nicht , so
nimmt man eine Amme in's Haus und giebt nicht das Kind auf das Land.
In den Sklavenstaaten Amerika's wurden den Kindern in guten Familien
gewöhnlich Sklavinnen als Säugammen gegeben ; diese Negerinnen , die sonst
harte Arbeit verrichten , mussten von da an ihre Lebensweise völlig ändern ;
sie bekamen gute und reichliche Kost , alle Arbeit wurde ihnen ge
nommen etc. )
Merkwürdig ist die ausserordentliche Verschiedenheit der Volksanschauung
über die Kinder -Ernährung in den einzelnen Ländern und Landestheilen
Europa's. Als schroffen Gegensatz zu Frankreich , wo das Selbststillen
der Mütter überhaupt sehr wenig beliebt zu sein scheint, führen wir
Schweden an , ein Land, das sich durch eine sehr geringe Kindersterb
lichkeit auszeichnet, und wo auch die Kinder -Ernährung eine im Allgemeinen
sehr angemessene zu sein scheint. Nach Mittheilungen Berg's ) erfahren
wir, dass dort fast alle Mütter, selbst die der reicheren Klassen , ihre Kinder
stillen , und nur bei absoluter Unmöglichkeit sich durch eine Amme ersetzen
lassen , und dass die Stillung der Säuglinge bis zum Alter von zwei und
selbst drei Jahren keine Seltenheit ist. Höchst charakteristisch für die Auf
fassung der ganzen Frage in Schweden ist die weitere Mittheilung Berg's,
dass in einigen Distrikten des bothnischen Busens sich im vorigen Jahrhun
derte der Gebrauch der Ludel (Zulp ) eingeschlichen hatte , dass man aber
sofort die ausserordentliche Zunahme der Sterblichkeit der Neugeborenen in
den betreffenden Bezirken bemerkte , und dass zur Beseitigung des Vebels
ein königliches Edikt correctionelle Bestrafung der Mütter anordnete , von
welchen nachgewiesen werden konnte, dass sie ihre Kinder durch Entziehung
der Brust hatten zu Grunde gehen lassen .
Ganz ähnlich lauten die Nachrichten aus Norwegen und Dänemark .
In Irland soll nach einer Mittheilung von Dr. Burke trotz der ungünstigen
allgemeinen wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse die Sterblichkeit der
Kinder ausserordentlich gering , dafür aber die künstliche Ernährung der
Kinder fast ganz unbekannt sein.3)
Das Nichtgestilltwerden ist eine wesentliche Ursache der Sterblichkeit
im Kindesalter , wie namentlich Dr. Fickert in Frankenhausen statistisch
nachwies . In den Städten Frankenstein und Zschopau (Königr. Sachsen ,
1) Bajon , Nachr. zur Gesch. von Cayenne. Erfurt 1781.
2) Dr. Vacher, „ La mortalité des nourrissons en divers pays de l'Europe" : Gaz. médic. de
Paris 1870. S. 110.
3 ) Dr. G. Mayr, Die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres in Süddeutsch
land, insbesondere in Baiern. Zeitschr. des kön. baierischen statist. Bureau's. 2. Jahrg. 1870. S.245.
160 Die Ernährung des Kindes.
ersteres mit 9848 Einw ., letzteres mit 7892 Einw .) stellte er in den Jahren
1874 und 1875 statistische Forschungen an . Die Mortalitätsziffer der Kinder
jener beiden Städte in dem Zeitraume eines Jahres betrug 39,9 pCt. der Ge
borenen . Von den gestorbenen Kindern wurden nur 1595 pCt. bis zu ihrem
Tode 55,3 pCt. hingegen gar nicht gestillt. Berechnet man den Zeitraum ,
innerhalb dessen die noch übrigen Kinder gestillt wurden , so ergiebt sich
ein nur sehr geringer. Fickert hebt als Ergebniss seiner Zahlen von
Neuem hervor , wie wichtig es für die Verminderung der Kindersterblichkeit
sei, dass jede Mutter , wenn irgend möglich , sich der Arbeit des Stillens
unterziehe.
Da die Ernährungsweise der Säuglinge demnach ein so wichtiger
Faktor für die Kindersterblichkeit ist, so kommt in den Ziffern , welche die
Länder Europa's hinsichtlich der Höhe der Kindermortalität aufweisen , gleich
sam die grössere oder geringere Zweckmässigkeit der in jedem Lande hei
mischen Gewohnheiten hinsichtlich der Kindespflege, namentlich der Kinder
Diät zum Ausdruck ; und in dieser Beziehung spielt gewiss das Selbststillen
der Mütter eine Hauptrolle. So ordnen sich denn merkwürdigerweise die
Länder Europa's nach den Berechnungen des Director Becker ') gemäss
der Sterblichkeits - Coefficienten der frühesten Altersklassen in folgender
Reihe :
a ) Länder mit geringer Kindersterblichkeit: Schleswig -Holstein mit Lauen
burg ; Oldenburg ; Dänemark ; Schweden ; England und Wales.
b ) Länder mit mittlerer Kindersterblichkeit : Westphalen und Jahdegebiet;
Belgien ; Frankreich ; Mecklenburg - Schwerin ; Rheinland; Niederlande.
c ) Länder mit hoher Kindersterblichkeit: Preussischer Staat; Preussische
Ostprovinzen ; Baden ; Baiern ; Oestreich; deutsch -slavische Länder.
In den nördlichsten Staaten scheint demnach die beste Kindespflege
zu herrschen , in einem Länderstriche, der Frankreich , Belgien , Niederland
und Norddeutschland umfasst , eine minder gute, und in Preussen mit Süd
deutschland und Oestreich die schlechtere. Klimatische Verhältnisse sind
hierbei gewiss nicht allein oder vorwiegend maassgebend .
Es war ursprünglich eine schöne Volkssitte der Deutchen , dass jede
Mutter ihr Kind an der eigenen Brust ernähren musste. Zum grössten
Nachtheil hat sich dies gar sehr geändert; wir müssen annehmen, dass die
in manchen Gegenden Deutschlands erschreckend zunehmende Sterblichkeit
der Kinder von der steigenden Abneigung der Mütter gegen das Selbst
stillen abhängt. Wir können auf diese Schattenseite unserer socialen Zu
stände nicht dringend genug aufmerksam machen . Zunächst fordern wir zu
einem Vergleich des älteren und des neueren Brauches auf, wodurch die
eingetretene Wendung zum verderblichen Verhältniss recht entschieden und
grell zu Tage tritt.
Unsere Vorfahren , die Germanen , hatten keine Ammen , sondern alle
Mütter stillten ihre Kinder selbst. Tacitus führt in seiner ,,Germania “ diese
Gewohnheit seinen Zeitgenossen in Rom als nachahmenswerthes Beispiel vor.
Er sagt : Sua quemque mater uberibus alit , nec ancillis ac nutricibus dele
gantur, -) d . h . jede deutsche Mutter ernährt ihr Kind an ihrer Brust und
überlässt es nicht Mägden und Ammen .
Von jeher hatte man in Deutschland recht treffliche Sprüchwörter in
Bezug auf das Säugen der Kinder. Unsere Altvordern haben gewiss mehr
als wir heutzutage auf die Lehren gegeben , welche in diesen Sprüchwörtern
enthalten sind . So heisst es im Sprüchwort: „ Was die Mütter gebären ,
sollen sie selbst ernähren .“ – „ Welche sich nicht selbst schämt, eines Kindes
Mutter zu werden , die soll sich auch nicht schämen , des Kindes Amme
zu werden .“ ,,Eine Mutter , die ihrem Kinde den Brunnen der
natürlichen Nahrung verstopft, die soll man zu den wilden Thieren weisen,
dass sie von ihnen das natürliche Recht lernt." „ Auf der Mutter Schooss
werden die Kinder gross. “ „ Der Ammen Schutz ist nur Untreu , Vortheil
und Eigennutz ." „ Die Kinder kommen ihnen nicht von Herzen , so
kommen sie ihnen auch nicht darein ." ,, Muttertreu ist täglich neu, Pfleger
lieb ist falsch und trüb.“ 2)
Die Mutter muss im Glauben des deutschen Volkes ihr Kind auch noch
nach ihrem Tode ernähren. In dieser Hinsicht führten wir schon im
ersten Bande Seite 105 ff. gewisse Bräuche an , welche vollkommen im Sinne
der prähistorischen Unsterblichkeitslehre erschienen , indem man einer im
Wochenbett Verstorbenen mehrere zur Kindespflege dienende Gegenstände
in das Grab mitgiebt. Neuerlich hat Dr. A. Voss über einen Zug dieser
Volkssitte berichtet3) : In dem Dorf Lückendorf bei Oybin im Königreich
Sachsen werden noch heute den im Kindbett gestorbenen Wöchnerinnen
(den Sechswöchnerinnen ) alle die Pflege des Säuglings betreffenden Gegen
stände in den Sarg gelegt; die ersteren derselben müssen schon gebraucht
sein : ein irdenes Töpfchen , ein irdener kleiner Tiegel, ein Blechlöffel, ein
Quirl, Gries , eine Windel, Nähnadel, Zwirn , ein Kinderhemdchen , ein
blechernes Kännchen , eine Scheere, ein Kamm , ein Mandelbrett, Mandelkeule ,
ein Fingerhut. Mehre dieser Geräthe erhält die Leiche in natura , andere
nur in Modell. In die rechte Hand , resp . in den rechten Handschuh be
kommt sie 12 Pfennige, weil sie den ersten Kirchgang nicht halten kann ,
mithin nicht opfern konnte .
Bei einigen germanischen Stämmen verlor sich die sonst allge
meine Sitte des Selbst-Stillens vielleicht zunächst in Folge äusserer ungünstiger
Verhältnisse. Aus einer der frühesten Quellen über das Leben der ger
manischen Völker im Norden “) erfahren wir , dass die Kinder in Island ge
1) Cornelii Taciti, Lib . de moribus Germaniae. $. 20 .
2) Florilegium politicum , d . i. Polit. Blumengarten, darin auserlesene Sentenzen , Lehren und
Sprichwörter etc. Durch Chr. Lehmann. Frankfurt 1639. Wilh. Körte , Die Sprichwörter und
sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen. 2. Aufl. Leipzig 1861.
3) Zeitschr. f. Ethnol. 1881. XIII. Bericht der Berliner Anthrop. Gesellsch . S. 104
4) Olafsen und Povelsen, Reise I. 178 ; Ynglinga etc.
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 11
162 Die Ernährung des Kindes.
wöhnlich frühzeitig entwöhnt wurden . Man gab dann Thiermilch , die man
aus dem spitzen Ende eines Horns saugen liess. Noch heute ist auf Island
die Neigung zum Selbststillen sehr gering, doch auch die Kindersterblichkeit
ungemein gross.
Zu jenen Zeiten , als Rösslin sein berühmtes Hebammenbuch , den
,,Rosengarten " ( 1512) schrieb , mussten in Deutschland allerdings die Mütter
in der Regel ihre Kinder selbst säugen . Allein ,, im Behinderungsfalle" wurden
auch Ammen genommen , und leider mögen dann unter der Leitung ge
wissenloser Hebammen dergleichen Fälle nach und nach immer häufiger ge
worden sein . Zunächst werden als Behinderungsgründe wie noch jetzt ge
wisse Umstände, z. B. Krankheit , schlechte Milch u . s. w . gegolten haben ;
dann aber fand man in der Befreiung vom Stillen eine anziehende Bequem
lichkeit für die Mutter.
Die culturhistorischen Zustände der Zeiten Rösslin's waren nur die
Uebergänge aus früheren , für das gewohnheitsgemässe Selbststillen der
Mütter günstigeren Perioden zur Jetztzeit, in der einer überaus grossen An
zahl deutscher Mütter das Gefühl der Verpflichtung zur Ernährung des
Kindes an der eigenen Brust ganz abbanden gekommen ist. Im Gegensatz
zu den Frauen der alten Germanen unterlassen jetzt in Deutschland nicht
blos vornehme Damen , sondern auch die Weiber der arbeitenden Klassen
ausserordentlich häufig das Säugen ihrer Kinder . Diese Nichtbeachtung der
heiligsten Mutterpflichten , die sich zunächst wohl an Höfen und in Palästen
schon früh eingeschlichen hatte , findet sich nunmehr ebensowohl in Fabrik
distrikten , wie auch in Gegenden , wo lediglich Ackerbau und Viehzucht ge
trieben wird . In Sachsen hat, wie ich schon in einer früheren Arbeit nach
wies, ) das Fabrikwesen ( Textil- Industrie etc.) veranlasst, dass viele Kinder
die Mutterbrust entbehren , dass aber auch gerade in jenen Gegenden , wo
viel Weberei u. s. w . getrieben wird , und die Frauen unter Vernachlässigung
ihrer Kinder viel mit fabrikmässiger Arbeit beschäftigt werden , die Kinder
sterblichkeit eine ungemein hohe ist.
Fast noch grösser als im Königreich Sachsen ist die Kindersterblich
keit in Baiern und Württemberg, insbesondere in mehreren Distrikten
dieser Staaten . Das Königreich Baiern giebt uns ein bedeutsames Beispiel
für den grossen Einfluss der Ernährungsweise auf die Kindersterblichkeit.
In der Pfalz und in Oberfranken , sowie in den nördlichen Theilen von Mittel
franken bekommen die Kinder fast immer die Milch der Mutterbrust, und hier
ist auch die Kindersterblichkeit niedrig . Da aber, wo die höchste Sterblich
keit sich nachweisen lässt, werden die Kinder fast ausschliesslich mit Grütze,
1) Archiv für wissenschaftl. Heilk . VI. 117. 1861. Ich habe die Thatsache constatirt, dass in
gebirgigen, durchschnittlich höher gelegenen Gegenden des Königreichs Sachsen eine grössere Kinder
sterblichkeit herrscht, als in der Ebene. Diese Erscheinung hat, wie ich zeigte, ihren Grund in der
durch die verschiedene Arbeitsthätigkeit in Fabriken und Landwirthschaft) bedingten Gewohnheit der
Mütter, ihre Kinder mehr oder weniger gut zu verpflegen , insbesondere ihnen die Brust zu gewähren
oder zu entziehen. Auch sind Intelligenz und Wohlstand maassgebend . Obgleich ich wiederholt
diese Erklärung abgab, schieben mir Pfeiffer , Uffelmann und Andere die von mir bekämpfte An
sicht unter, dass das Klima der Gebirgsgegend die Ursache erhöhte Kindersterblichkeit sei.
1. Die Mutterbrust.
163
1) Journal für Kinderkrankheiten . 1871. S. 153 . Vgl. G. Mayr's treffliche Arbeit „ Ueber
Kindersterblichkeit in Süddeutschland" in : Zeitschr. des kön . bayrischen statist. Bureau . II. Jahrg .
1870. Nr. 4. S. 205.
2) Bayr. ärztl. Intell.-Blatt. 1876. 41. S. 428 .
11 *
164 Die Ernährung des Kindes.
geborenen , während die übrigen Provinzen des Königreichs Baiern 25-36 Pro
cent aufweisen . So scheint es denn auch wichtig , aus Special-Berichten die
dort in der Verpflegung der Kinder herrschenden Methoden genauer kennen
zu lernen , um zu erkennen , wie viel Jammer und Elend den Kindern Indolenz,
Thorheit und Unsitte bereiten . Beispielsweise wird aus Oberbaiern ge
schrieben ") : „ Der Hauptgrund der abnorm grossen Sterblichkeit in den ersten
Lebensjahren der Kinder liegt wohl in ungeeigneter Ernährung der zarten
Wesen . Die grosse Mehrzal der Neugeborenen muss die geeignetste Nahrung,
die Muttermilch , entbehren und wird dafür mit Mehlbrei gefüttert. In München
wird ungefähr die Hälfte der Säuglinge mit Mutter- und Ammenmilch ernährt,
auf dem Lande aber wird weitaus den meisten Kindern die Nahrung vorent
halten , auf die ihnen die Natur ein Anrecht gegeben hat , die ihnen die ein
träglichste wäre. Die Arbeiterfamilien , besonders die Landleute , gewinnen
meist mit schwerer Mühe , mit vielem Schweiss ihr Brod ; es hat für sie die
Arbeit , der Erwerb einen Werth , der den Mittelpunkt ihrer Lebensaufgabe
bildet und andere menschliche Empfindungen häufig in den Hintergrund drängt;
die Mutter verleugnet das natürliche Gefübl , welches sie auffordert, ihrem
Säuglinge die Brust zu reichen , um nicht durch Säugen in ihrer Arbeit ge
hindert zu sein .“ Im Bezirksamt Schongau in Oberbaiern ist nach Dr.
Kruger?) die Ernährung der Neugeborenen höchst selten die natürliche durch
die Mutterbrust, und wenn diese gereicht wird , geschieht es nur auf etliche
Wochen , und dazu in Verbindung mit Muss und Schnuller. Das Säugungs
organ , die Brust und hauptsächlich die Brustwarzen , sind in Folge der un
zweckmässigen, die Brust beengenden Kleidung der heranwachsenden Mädchen
und des fortgesetzten Nichtgebrauchs von Generation zu Generation meist in
einem verkümmerten Zustande und missbildet, zu dem ihnen von der Natur
angewiesenen Ernährungsacte der menschlichen Leibesfrüchte gar nicht mehr
brauchbar. Würde das Selbststillen der Neugeborenen durch die gemein
samen und unermüdlichen Bestrebungen der dazu berufenen Personen sich
allmälig wieder mehr Eingang verserschaffen, so müssten vor Allem die Brüste
der Mädchen bereits und insbesondere die der jungen Frauen vor und wäh
rend der Schwangerschaft eine vorbereitende Pflege, geleitet von kundiger
Hand , erhalten . Der dort prakticirende Dr. Kruger betrachtet es als eine
der schönsten , doch sehr schwierig zu lösenden Aufgaben der Gesundheits
lehre, die dort eingewurzelten Missbräuche zu beseitigen , die einen grossen
Theil der Ursachen für die ungeheure Kindersterblichkeit Oberbaierns bilden .
Im oberbairischen Bezirk Freising ernähren die Eltern der Land
gemeinden ihre kleinen Kinder in der Regel durch Aufpäppelung mit „ Kinder
Muss;“ kaum to Procent der Kinder erhalten ihre natürliche Nahrung. Der
Mebl-, Gries- und Semmelbrei, der neben dem Schnuller gereicht wird , wird
oft stundenlang aufbewahrt und vor der Darreichung von der Pflegerin in
deren Munde auf seine Temperatur erprobt. Das hierzu benutzte Mehl wird
nicht selten staubig und feucht, ja moderig getroffen .")
Ueber Oberschwaben lautet das Urtheil eines Fachmannes :2) „ Ursache
der grossen Kindersterblichkeit in Oberschwaben ist die unzweckmässige,
naturwidrige Auffütterung der Kinder , da fast in dieser ganzen Provinz die
Sitte herrscht, den Neugeborenen die Muttermilch zu versagen . Wo die
alten Hebammen, welche die Haupturheberinnen dieser mörderischen Kinder
ernährung sind , den Wahn hergenommen haben , dass die Weiber , welche
ihre Kinder selbst stillen , an der Schwindsucht zu Grunde gehen und vor
der Zeit „ de lack “ lassen , d . h . hässlich werden , ist mir unbekannt ; eine
weitere Ursache der Kindersterblichkeit ist die grosse Vernachlässigung der
Pflege der weiblichen Brust; unsere Landleute verkümmern dieses Organ
durch enge Kleider , Mieder u . s. w . ... schliesslich ist nur ein elendes
Bruchstück von einer Brustwarze vorhanden . Nun füttert der Unverstand
die Kinder von der ersten Stunde an gleich mit Mehlbrei etc.“
Nächst Baiern ist Württemberg das Land , in welchem eine ausser
gewöhnlich hohe, fast die höchste Kindersterblichkeit herrscht, denn während
das ganze Land im Durchschnitt 36 Procent der Lebendgeborenen im ersten
Lebensjahre verliert, gehen in demselben Alter im Donaukreis 42 Procent
zu Grunde.
In Württemberg , wo nach statistischen Angaben in mehreren Bezirken
nur 41 Procent der Kinder natürliche Nahrung erhalten , weil die Mütter
ihren gewöhnlichen Geschäften so bald als möglich nachgehen wollen , ohne
durch das Kind gehindert zu sein , können in den meisten Fällen die Mütter
entweder nicht stillen , oder sie glauben es nicht zu können . Das Säugen
des Kindes wird als eine einer anständigen Frau unwürdige Funktion ange
sehen , ,, die nur einer Zigeunerin und Kesslerin zukomme;" eine Mutter wird
als übertrieben oder faul verschrieen, wenn sie sich entschliesst und Zeit
nimmt, ihrem Kinde die Brust zu reichen, und darum macht sie es am Ende
lieber, wie die anderen, und lässt es bleiben. Die überwiegende Mehrzahl
der Kinder erhält den üblichen Mehlbrei; derselbe wird wenigstens auf einen
Tag vorräthig gekocht und vor der 2 -3maligen Reichung allemal erwärmt.
So wird er zu einer dicken , oftmals sauren Masse, mit der man das Kind,
nicht einmal zu regelmässig eingehaltener Zeit, verstopft, es mag wollen oder
nicht. Als Getränke wird den Kindern Verschiedenes gereicht, meist Kuh
milch, sodann Wasser und Zuckerwasser, selten Anisthee, Gerstenkaffee,
Eichelkaffee . Die Kuhmilch, die man dem Kinde reicht, wird in der Regel
nicht mit Wasser verdünnt, meist nicht einmal erwärmt, sondern kalt gereicht,
und zwar ohne Abscheiden des Rahms; auch wird die Nabrung der Kuh
nicht berücksichtigt. Oefters ist das Zuckerwasser, das man dem Kinde giebt,
so alt und durch das Eintauchen des Schlozers trüb , und sauer geworden ,
dass diese Aufmerksamkeit dem Kinde schlecht bekommt. Sehr häufig aber
1) Dr. Carl Mayer, Bayr. ärztl. Intell.-Blatt 1876. 26. 269.
2) M. R. Buck , Medicin. Volksglauben aus Schwaben etc. Ravensb . 1865. S. 10.
166 Die Ernährung des Kindes.
Arme der Mutter an der zweiten Brust trinkt. Am lächerlichsten jedoch sah
es aus, wenn ein so strammer Bursche, den man eben noch in dem äussersten
Gipfel einer Carica Papaya bemerkte , plötzlich mit den Früchten dieses
Baumes beladen herabstieg und zur Mutter eilte, um seinen Durst zu stillen .
Noch höher aber steigerte sich unser Erstaunen , als wir auch vierfüssige
Milchbrüder und Milchschwestern unter den Säuglingen bemerkten , denen die
Mutter ebenso bereitwillig , mit gleicher Zärtlichkeit in Blick und Miene die
andere Brust reichte , wenn vielleicht das eigene Kind aus der einen schon
seine Nahrung sog. Meist waren es junge Affen , Beutelratten , Pakas, Acuchis
und dergleichen ." Ganz Aehnliches fand Schomburgk :) bei den Makusis
und Arekunas; unter Anderem sah er , wie ein junges, vor wenig Tagen erst
eingefangenes Reh sich schon ganz an seine neue Mutter , eine junge India
nerin , gewöhnt hatte, denn diese brauchte nur niederzuknieen und zu rufen ,
so kam es und nahm die Brust. Aus Südamerika ist schliesslich noch zu
erwähnen , dass bei den alten Peruanern im Inka -Reiche das Säugen zwei
Jahre dauerte.
Die nordamerikanischen Indianerinnen pflegen gleichfalls sehr lange, oft
6-7 Jahre lang zu säugen (de Charlevoix ), gewöhnlich aber drei Jahre
lang. Die ehemals in Pennsylvanien wohnenden Indianerinnen nährten ihre
Kinder nach Heckewelder 2, manchmal auch 4 Jahre lang. Die Schwarz
fuss-Indianer lassen nach Maximilian , Prinz zu Neuwied , noch grosse
Kinder an den Brüsten saugen . Die Kinder der Oregon- und Californien
Indianer werden oft erst im 5. Jahre , die der Dacotah- und Sioux-Indianer
nach 1 -- 1/2 Jahren entwöhnt. 2) Nach anderen Angaben dauert das Säugen
der nordamerikanischen Indianer 4-5, ja in einem Falle währte es 12 Jahre
lang . Pater Lafitau sah bei den Irokesen Kinder von 3—4 Jahren , die
nebst den nach ihnen geborenen Geschwistern noch die Mutterbrust bekamen .
Die Kinder der Chippeway-Indianer sehen nach Capitän Butler aus wie Fett
rollen und beschäftigen sich beständig mit dem Essen von Musethier- oder
Elennfleisch , wenn sie nicht gerade am mütterlichen Busen saugen ; sie setzen
dies gewöhnlich bis in die späte Kindheit fort. Diesen zahlreichen Zeugnisse
gegenüber behauptet der wenig zuverlässige Abbé Domenech : „ Dans la
plupart des tribus le temps de l'allaitemont n'est guère plus prolongé que
chez les nations civilisées." Nur bei den im hohen Norden Amerika's , in
Alaska wohnenden Thlinket oder Thlinkiten setzt sich die Periode des Säugens
nach Dall nicht sehr lange fort; innerhalb der ersten 5—6 Monate wird hier
stets gesäugt, und wenn das Kind ein Jahr alt ist, entwöhnt, von da an wird
es mit Speck von Seethieren aufgezogen . Die Wilden in Canada hingegen
stillen ihre Kinder 4 , 5, oft auch 6-7 Jahre lang .
Bei den Negern Afrika's währt nach Angabe vieler Reisenden das
Stillen 3—4 Jahre. Nach Dr. H. Barth's mir zugegangener brieflicher
Mittheilung darf es in Centralafrika im Durchschnitt wohl zu 2 Jahr lang
1) Schomburgk , Reisen in Brit. Guyana. II. S. 239, 289, 315.
2 ) Schoolkraft, III. 212. 240 .
2. Dauer des Säugens. 169
1) Mungo Park , Reisen im Innern von Afrika. Aus dem Engl. Berlin 1799. S. 237.
2 ) Stech in „ Daheim “ 1879. 24. S. 383; nach Missionär Endemann dauert dort das Stillen
bis zu 2, ja 3 Jahren .
3 ) Hildebrandt in der Zeitschr . f. Ethnol. 1878. S. 396 .
170 Die Ernährung des Kindes.
Jahre lang gesäugt; und so entkräftet sich , wie ein Bericht sagt ,') „ das
weibliche Geschlecht durch zu langes Säugen der Kinder. Die Frauen der
Kabylen stillen die Kinder mehrere , 3-4 Jahre , bis ein neues ankommt
(Dr. Leclerc).2) Die Frauen auf den canarischen Inseln säugen 2 , oft auch
3 Jahre lang (Francis Coleman Mac Gregor).
Von den Polynesiern lauten die Nachrichten nicht viel anders. Die
Austral-Negerinnen auf Neu -Caledonien pflegen ihre Kinder nach F. Knob
lauch 3 Jahre, nach Bourgarel 3-5 Jahre , nach Victor von Rochas
4 oder 5 Jahre lang zu säugen ; nach Ansicht des zuletzt genannten franzö
sischen Arztes endet deshalb die Jugend dieser Frauen schon sehr früh und
ist auch ihre Fruchtbarkeit sehr beschränkt. Auf Neuseeland säugen
Jie Maori-Weiber die Kinder ebenfalls sehr lange; man sah dort Knaben
von 6 Jahren abwechselnd einen Zug aus der Tabakspfeife und aus der Brust
der Mutter thun ; wird das Stillen plötzlich unterbrochen , so entsteht ein Un
wohlsein , denn die Brustdrüse hat sich an die Milchausscheidung gewöhnt
und ist für den Körper nöthig geworden ; auch stillt man so lange, um nicht
alsbald wieder zu concipiren ; nach Dr. Tuke3) stillen dort Weiber , die
noch nie geboren haben (?). Auf den Fidschi-Inseln gilt es nach Seemann
für eine Ehrensache und für vornehm , die Kinder recht lange an der Brust
Zu nähren , Auf dem Carolinen - Archipel entwöhnen die eingeborenen
Frauen sehr spät; es giebt sogar Mütter, die bis zum 10. Jahre säugen, wie
die Völker, die in der Bebrings - Strasse wohnen (Dr. K. H. Mertens).
Mehrere Jahre hindurch säugt auf den Samoa -Inseln unter den Eingeborenen
die Mutter ibr Kind , daneben spuckt sie ihm gekauten Taro oder Kokos
nuss in den Mund.4) Bei den Malayen des Samoa -Archipels dauert, wie
die Mitglieder der Novara -Reise berichteten , die Säugungsperiode je nach
Umständen 4 Monate bis 2 Jahre ; auf der Insel Rook (oder Ruk ), östlich
von Neu -Guinea , dauert sie nach Missionär Paul Reina über 2 Jahre ;
auf den Samoa-Inseln oft bis in das 6. Jahr ; hier stillte eine Mutter sogar
drei aufeinander folgende Kinder zu gleicher Zeit. Bei den Etas, den in's
Innnere der Philippinen zurückgedrängten Negritos , stillt die Mutter das Kind
circa zwei Jahre lang.5)
Die Sitte , junge Thiere an der Brust zu säugen , wird oft als
„ polynesisch" bezeichnet, da sie in der That auf den Inseln des Stillen
Oceans, d . h . auf den Gesellschaftsinseln nach G. Forster, in Hawaii nach
J. Remy, auf Neuseeland nach Hochstetter u. s. w . ebenso wie in Austra
lien ganz häufig vorkomint; es sind hier vorzugsweise Hunde und junge
Schweine, welche mit Frauenmilch ernährt werden . ) In Südamerika herrscht,
wie wir schon anführten , ähnlicher Brauch bei den Indianerinnen.
Anhang : Das Säugen von jungen Thieren an der Frauenbrust.“ Archiv für Anthropol. 1872. V. Bd.
S. 2I5 f.
1) Archiv f. Anthrop. VIII. 1875. S. 113.
2) M. Alexandrow in ,, Sammlung hist.-statist. Mittheilungen über Sibirien." 1. 1875.
3 ) Description éthnogr. des peuples de la Russie. Petersb. 1862.
4) Gabriel von Baliut, Gbbus 1875. 14. S. 222.
172 Die Ernährung des Kindes .
Familie zu essen . ) Das Kind wird bei der Militärkaste der Nayer in
Malabar meist 2 Jahre lang gesäugt (Jagor).
In China werden nach Scherzer die Kinder meist 2–3, doch auch
10 Jahre lang gesäugt, sind jedoch dabei sehr kränklich wegen der aus
schliesslich vegetabilischen Kost der Mütter. In Japan säugt man gewöhn
lich 3, sogar 5 Jahre lang ;?) als eine höchst verderbliche Sitte bezeichnet
Dr. Schmids) das Verfahren der Japanesinnen , den Kindern so lange die
Brust zu geben , bis die Milchsecretion vollständig aufhört, nicht selten also
3-4 Jahre lang; dieser Missbrauch resultirt aus dem Umstande, dass Thier
milch daselbst gar nicht genossen wird , und hat nach Schmid ohne Zweifel
die frühzeitig eintretende Decrepidität der Frauen zur Folge. — Japanesische
Mütter haben in der Regel reichlich Nahrung für ihre Kinder und säugen sie, bis
dieselben 2 bis 5 Jahre alt sind und sich von selbst entwöhnen . Wie das
Lamm in der Herde verlässt ein solcher kleiner Springer plötzlich seine Ge
spielen , um zur nahen Mutter zu eilen und stehend oder knieend einige
kräftige Züge aus der Brust zu thun, die ihm nie verweigert werden . Es
mag dieses lange Stillen zum Theil darin begründet sein , dass eine andere
geeignete Kindesnahrung in Form thierischer Milch fehlt.4) Ebenso
stillen die Frauen in Siam bis ins 3. Jahr, von wo an die Kinder Reis und
Bananen erhalten.5) Nach mündlichen Mittheilungen Sir Robert Schom
burgk's erhält in Siam das Kind die Brust bis häufig in das 4. Jahr ; der
3— 4jährige Junge steht an der Brust und geht, wenn er diese ausgesogen
hat, an die andere. In Ostindien , zu Madras , wird, wie C. C. Best im
Jahre 1788 berichtete, das Kind oft erst im 3. oder 4. Jahre von der Mutter
entwöhnt. Bei den Parsen werden nach Du Perron die Knaben 17, die
Mädchen 16 Monate lang von der Mutter gesäugt. Die Frauen in
Persien stillen nach Dr. Polak ) 2 Jahre lang. Ist in Persien das Kind
schwächlich oder sind die Eltern sehr besorgt und wegen des Gedeihens
ängstlich , so geschieht es sogar, dass es erst zu Ende des dritten Jahres
entwöhnt wird . Polak sah nicht selten Kinder an der Mutterbrust, welche
zu gleicher Zeit ein tüchtiges Stück Melone in der Hand hielten und abwechselnd
Milch oder Melone genossen . Schon der alte persische Arzt Avicenna ,
welcher 1036 starb , empfahl ein zweijähriges Säugen . Nach Jac. Morier
säugen die persischen Mütter ihre Kinder männlichen Geschlechts 2 Jahre
und 2 Monate lang, die weiblichen aber nur 2 Jahre lang ; das religiöse Ge
setz bestimmt den Termin des Säugens von 11 Monaten bis zu 2 Jahren
(Mondrechnung). Nach Dr. Häntzsche behält die Mutter in der persischen
Provinz Gilan ihr Kind nur 1 Jahr lang an der Brust. Zu Damaskus in
Syrien werden die Kinder 2-3 Jahre lang gestillt, häufig noch länger als drei
getrieben ; dort kommt es nicht selten vor, dass Kinder noch im Alter von
2–3 Jahren gesäugt werden , und die Eltern finden dies billiger und meinen ,
dass es der Fruchtbarkeit Einhalt thäte. ")
Die Russinnen in Astrachan säugen ihre Kinder, denen sie fortwährend
nebenbei auch andere Nahrung reichen , bis zum Ende des 2. Jahres; allein
der Aberglaube bestimmt in diesem Falle den Zeitpunkt des Entwöhnens,
denn es heisst: „ Das Kind darf nicht vor drei Fasten von der Mutterbrust
abgenommen werden “ (Meyerson ). Bei den Esten dauert das Säugungs
geschäft oft weit über das erste Jahr hinaus, nicht selten bis in das dritte
Jahr (Prof. Holst in Dorpat). In Dalmatien säugen die Bäuerinnen drei
Jahre lang, und selbst die Frauen der besseren Klasse mehrere Jahre lang ;
nur beim Eintritt der Menstruation und der Schwangerschaft wird früher
entwöhnt, weil in beiden Fällen die Milch , wie man glaubt, verdirbt (Dr.
Derblich ). Während die Frauen der alten Römer 1 /2-2 Jahre lang
stillten , dauert die Säugeperiode in Neapel nicht unter 1 "/2, gewöhnlich
3-4 Jahre lang (Dieruf) .
Die Kinder der Serben werden allgemein so lange gestillt, als sie
Lust dazu haben . Dies geschieht zuweilen bis zum vierten und fünften Jahre.
Gewöhnlich stillt die Mutter so lange, als sie nicht von Neuem schwanger
wird ; alle glauben , dass sie nicht schwanger werden können , so lange sie
stillen , ein Punkt, in dem sie sich freilich oft irren.2 )
In Estland wird das Stillen noch 1-2 Jahre fortgesetzt, während das
Kind bis dahin neben der Mutterbrust auch andere Nahrung bekommt; auch
unter den Estinnen herrscht die Ansicht, dass das Stillen eine neue Con
ception verbindere.3)
Die Frauen in Deutschland während des Mittelalters stillten , wie es
heisst, noch nicht 2 Jahre lang. Jetzt wird unter dem Landvolke Deutsch
lands das Entwöbnen ungebührlich lange hinausgeschoben . Die Berichte
über diesen wichtigen Punkt sind höchst unvollständig , doch wären ziffer
înässige Angaben von überall her schon deshalb ungemein wünschenswerth ,
weil durch eine solche Statistik die Ursachen der übergrossen Sterblichkeit
gewiss am besten aufgeklärt werden . Vor uns liegen nur vereinzelte Notizen .
Vornehmlich zu lange gestillt wird im Frankenwalde (Dr. Flügel) ; die Ober
pfälzerinnen säugen oft 2 Jahre lang , nie unter einem Jahre ; je ärmer das
Weib ist, um so länger stillt es sein Kind (Dr. Brenner -Schäffer ). Nach
anderen Berichten (Dr. J. Wolfsteiner) reichen die oberpfälzischen Mütter
ihren Kindern ein halbes Jahr lang und darüber die Brust, wenn sie nicht
durch Gebrechen vollständig daran gehindert sind . So wird auch aus
Braunschweig (Bezirk Oltenstein ) berichtet, dass dort zweijähriges Stillen
üblich und für Mutter und Kind nachtheilig ist (Dr. C. Hampe). In einigen
1) Harald Westergaard , Die Lehre von der Mortalität und Morbilität (von der Universität
Kopenhagen gekrönte Preisschrift). I. Abth. Jena 1881.
2) Petrowitsch , Globus 1878
3 ) Globus 1880. Nr. 16 . S. 252 .
3. Zur Geschichte des Ammenwesens. 175
Gegenden Preussens (z. B. Kreis Querfurt) erhalten die Kinder die Mutter
brust meist durch 3/2-1 Jahr, selbst da, wo Taglöhnermütter gezwungen
sind , bald nach der Entbindung ausserhalb des Hauses dem Erwerb nach
zugehen ; in diesem Falle lassen sich die Mütter ihre Kinder mehrmals des
Tages bringen , oder nehmen bei Feldarbeiten die Kleinen in einem Roll
wagen mit hinaus (Dr. Schraube). Im Königreich Sachsen zeigen sich
andere Verhältnisse, je nachdem die Bevölkerung mehr Ackerbau oder
Industrie betreibt; bei der Ackerbaubevölkerung wird das Kind verhältniss
mässig lange gesäugt. Die Mutter führt ihr Kind im kleinen Wagen bei
der Ernte mit hinaus auf das Feld , um ihm rechtzeitig die Brust reichen
zu können ; sie setzt das Stillen bis in's zweite Jahr fort. Die Fabrik
arbeiterin hingegen gestattet höchstens während der ersten Wochen ihrem
Kinde den Genuss der Muttermilch , giebt es vielmehr einer Nachbarin oder
„ Engelmacherin “ zur Pflege, um dem Verdienste durch Handarbeit nach
gehen zu können ; sie hat einem neuen Todeskandidaten das Leben
gegeben , denn die Proletarierfrau kann selbst die Kosten für gute Kuhmilch
nicht erschwingen. In manchen Gegenden , z. B. im Reichslande Elsass , in
der Umgebung von Strassburg, zieht man selten die Kinder durch künstliche
Auffütterung auf; es ist da aber auch nach Stöber und Tourdes nicht
Sitte, das Säugen lange fortzusetzen ; meist dehnt man es bis zum 7. oder
9. Monat aus. Schliesslich wird in gewissen Provinzen durch herrschende
Bräuche das Stillen der Mütter ungemein behindert. Die Mädchen im Bre
genzer Wald tragen, wie mir Württemberger Aerzte mittheilten , ein Bret
auf der Brust , hierdurch wird letztere so sehr comprimirt, dass die Frauen
dieser Gegend fast niemals ihre Kinder zu säugen vermögen .
Nachdem wir von den meisten jetzigen Völkern kennen gelernt haben ,
in .wie weit sich bei ihnen das Ammenwesen eingeführt hat, werfen wir nun
mehr einen Blick auf die alten Culturvölker , in deren Culturleben das
Ammenwesen eine Rolle spielt.
Der Ersatz der Mutter als Ernährerin ihres Säuglings durch eine Amme
ist eine sehr alte Institution . Ammen mietheten schon die alten Juden der
Bibel, die alten Inder zu Susruta's Zeit, die alten Griechen zu Homer's
Zeit und die alten Römer.
Bei den alten Juden der Bibel stillten allerdings in der Regel die
Mütter ihre Kinder selbst ( 1. B. Moses 21, V. 7 ; 1. Sam . 1, V. 23 ; 1 .
Könige i, V. 23 ; 2. Maccab . 7 , V. 28) . Nur in fürstlichen Familien (2. B.
Sam . 4 , V. 4 ; 2. Könige it , V. 2 ), oder wo die Mutter fehlte oder durch
Kränklichkeit verhindert war, wurde das Säugen durch Ammen verrichtet,
die später von ihren Zöglingen noch sehr hoch gehalten werden . Aus der
Bibel erfahren wir, dass sie mit dem Säuglinge „ spielten,“ dass sie ihn auf
176 Die Ernährung des Kindes.
den Armen trugen und auf den Knien liebkosten ,“ dass sie ihn „ gängelten ,
ihn an seinen Armen fassend“ und ihn ,, tröstend umhalsten " wenn ihn Leid
betroffen . Auch in späterer Zeit, bis in's fünfte Jahr und darüber, bleiben
sie noch im Hause ihres Pfleglings zur Obhut desselben . Als Rebekka das
Haus ihres Vaters verliess , um den Isaak zu heirathen , gab man ihr ihre
Amme zur Gesellschaft mit. Bei den alten Juden der Bibel galt es geradezu
für eine Pflichtvergessenheit, ja als „ Grausamkeit,“ wenn eine Mutter die
Sorge für ihr Kind Anderen überliess. Eine Mutter, die ihrem Kinde nicht
selbst die Brust reichte , wurde mit den Straussenhennen der Wüste ver
glichen , die, nachdem sie ihre Eier in den Sand gelegt haben , sich nicht
weiter um sie kümmern . Selbst Schakale , sagt die Genesis , können einer
solchen Frau als Vorbild dienen , denn auch Schakale reichen die Brüste ,
säugen ihre Jungen. Sogar höhere Frauen scheuten sich nicht zu säugen ;
E. C. J. v. Siebold irrt, wenn er behauptet, dass die Sorge des Säugens
allgemein Ammen anvertraut war . Sowohl Mütter , als Ammen pflegten die
Kinder sehr spät zu entwöhnen , nach den Rabbinen oft nach zwei Jahren .
Beim Entwöhnen wurde ein feierliches Opfer dargebracht und ein grosses
Mahl in der Familie gehalten , wobei man dem „ von der Milch entwöhnten “
zum erstenmale die gewöhnliche Kindernahrung , Milch und Honig , dar
reichte . )
Bei den Griechen war die Ernährung des Kindes meist Pflicht der
Mutter, doch hielten sich wohlhabende immer Ammen , wozu sich in Athen
auch arme Bürgerfrauen hergaben . War es schon in der Homerischen Zeit
üblich, von Ammen (títoln oder tilinn ) die Mutterpflichten versehen zu lassen ,
so wurde dieser Brauch später in den jonischen Staaten ganz allgemein ;
reichere Athener übergaben ihre Kinder zu diesem Zwecke spartanischen
Ammen, als vorzugsweise kräftigen Personen G ( uhl und Koner ). Ja man
kaufte für Alcibiades eine spartanische Amme. Auch hier spielten die im
Hause bleibenden Ammen im Familienleben eine grosse Rolle. Schon sehr
früh müssen die Griechen Ammen gehabt haben ; ihre Mythe spricht von den
Ammen des Bacchus (Ino, die Hyaden). Noch jetzt hat die Amme (Para
mana ) im Hause vornehmer Griechen eine geachtete Stellung.
Bei den Römern stand die Dea Rumina dem Säugungsgeschäft vor ;
die erste Speise des abgesetzten Kindes war der Diva Educa , oder Edusa ,
das erste Glas Milch der Diva Potina geheiligt. Bekanntlich gaben die
Römer zur Zeit der bei ihnen heimischen Verweichlichung ausländischen
Ammen den Vorzug . Tacitus2) eifert mit Entrüstung gegen die Unsitte,
den Kindern als Ammen gekaufte Sklavinnen zu geben. Er sagt, dass es
ehemals in Rom deshalb bedeutendere Männer gegeben habe , weil früher
alle Mütter , sogar edle Frauen , ihre Kinder selbst stillten und erzogen ,
keineswegs griechischen Sklavinnen übergaben . Zwar wussten aufgeklärte
Aerzte, wie Moschion, recht wohl, dass die Muttermilch dem Kinde zu
1) Kotelmann , Die Geburtshülfe bei den alten Hebräern. Marb. 1876. S. 46.
2 ) Dialog. de oratoribus Cap. XXVIII. und Cap. XXIX .
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träglicher sei, dennoch rieth auch er , eine Amme zu nehmen . Unter den
Eigenschaften , welche nach Moschion eine gute Amme besitzen soll, ist
auch die angeführt, dass sie eine Griechin ist.
In Rom mag es gar nicht selten vorgekommen sein , dass die Frauen
wirklich behindert waren , selbst zu stillen , sei es aus Milchmangel, durch
Krankheit oder sonst wie . Der Arzt Soranus aus Ephesus hielt es daher
für nöthig , in seinem geburtshülflichen Lehrbuche, über die Eigenschaften
einer guten Amme Auskunft zu geben ; in mancher Hinsicht wichen freilich
die Aerzte damaliger Zeit hinsichtlich ihrer Anschauungen über die Qualität
der zum Ammendienst geeigneten Person sehr von einander ab . So darf
dieselbe hinsichtlich des Alters nicht jünger als zwanzig , nicht älter als vierzig
Jahre, nach Ausspruch anderer Aerzte, z. B. des Oribasius, nicht unter 25
und nicht über 35 , nach Mnesitheus höchstens 32 Jahre alt sein, aber am
liebsten solle sie im mittleren Alter stehen . So bemerkt auch Soranus,
die Amme stehe in der Blüthe der Lebenszeit, da zu junge noch zu
wenig aus Erfahrung die Ernährung des Kindes kennen , zu nachlässig und
zu kindisch sind, zu alte aber wegen Schwächlichkeit wässerige Milch secer
niren . Ferner betont Soranus, dass die Amme 2 oder 3 mal geboren
haben müsse, da die zum ersten male Mütter gewordenen in der Ernährung
des Säuglings noch zu wenig geübt sind und ihre Brüste eine zu jugendliche
Constitution besitzen, zu klein und zu voll sind , dass dagegen die Ammen ,
die schon sehr oft geboren und oft gesäugt, eine dünne, unreife Milch absondern .
Sehr wichtig erscheint ihm weiter eine gute Gesundheit der Amme, da die
aus einem gesunden Körper kommende Milch auch gesund ist und gut nährt,
die aus einem krankbaften Körper aber selbst schlecht und krank ist. Aus
diesem Grunde, wie namentlich in Rücksicht auf die schwierigen Dienst
leistungen und die nächtlichen Schlafstörungen der Amme, verlangt Soranus
einen guten Körperhabitus derselben : ihre Gestalt sei gross , ihre Gesichts
farbe sei gesund , ihre Brüste seien mässig gross; die übermässig grossen
Brüste verwirft Soranus deshalb , weil sie nie ganz vom Kinde entleert
werden können und deshalb ein Theil der Milch verdirbt; ferner wünscht er,
dass die Brüste schlaff, weich und faltenlos seien , denn die straffen und
harten produciren zu wenig Milch . Ebenso hält er eine mittlere Grösse der
Brustwarzen für vortheilhaft, auch seien die Ausführungsgänge der Papillen
nicht zu weit und nicht zu eng. Ganz besonderes Gewicht legt er auf
mässige Lebensweise und ruhiges Temperament der Ammen ; nicht minder
auf Reinlichkeit und Ordnungsliebe. Von Geburt sei sie eine Griechin , ,,damit
sie später dem Kinde als Lehrerin ihrer Sprache diene." (Mnesitheus hingegen
zieht Thracierinnen oder Aegypterinnen vor.) Als letztes Erforderniss endlich
giebt Soranus an , dass die Amme zuletzt vor 23 Monaten geboren habe (nach
Mnesitheus nur 40 Tage vorher). Die bisweilen aufgestellte Behauptung, die
Ammemüsse zuletzt ein Kind gleichen Geschlechts geboren haben , hält Soranus
für falsch . Dagegen giebt er den freilich kostspieligen Rath , immer mehrere
Ammen zu halten, damit im Nothfalle immer gleich die eine für die andere eintrete.
PLoss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 12
178 Die Ernährung des Kindes .
bis dahin theils mit Honig und geklärter Butter , vom 2. und 3. Tage an
durch eine mit Lakshmana (nach Wilson a kind of drug “ ) bereiteten
Butter aufgezogen hatte, beim Feste der Namengebung eine Amme. Hier
bei wurde folgende Ceremonie vollzogen : „ Man setze an einem glücklichen
Mondtage die Amme mit gewaschenem Kopfe und reinen Kleidern mit dem
Gesichte nach Osten , lege das Kind, dessen Gesicht nach Norden gekehrt
ist, an die rechte Brust und lasse es , nachdem man dieselbe zuvor ge
waschen und einige Tropfen hervorgequollener Milch mit folgenden Sprüchen
eingeweiht hat, davon trinken : „ Vier milchführende Oceane mögen Dir,
o Glückliche, beständig in den beiden Brüsten sein , zur Vermehrung der
Kräfte des Kindes ; Dein Kind , o Schöne, getrunken habend den Milch
Nektarsaft , möge erreichen ein langes Leben , gleich den Göttern , nachdem
sie Ambrosia gekostet.“ 1)
Wir übergehen die in Susrutas Ayurvedas ausführlich besprochene
Diät und Therapie der durch unpassende Diät erkrankten Säuglinge. Musste
dem Kinde Milch von Thieren gegeben werden , so verordneten sie Ziegen
oder auch Kuhmilch . Dem halbjährigen Kinde liessen sie nebenbei eine
leichte Kost reichen . Die altindischen Aerzte wussten recht wohl, dass durch
verdorbene Ammenmilch Krankheiten des Kindes erzeugt werden . Wenn die
Milch aus der Brust nicht träufelte , so glaubten sie , dass durch Saugen an
der mit zu dicker Milch erfüllten Brust das Kind Katarrh , Athemnoth und
Erbrechen bekomme. Auch warnten sie vor Gemüthsbewegungen der
Amme.
Bei den alten buddhistischen Inderna) wurden die Kinder der Fürsten
von Ammen gesäugt, deren ein Kind zuweilen acht erhielt.
In Deutschland erhielt sich der schon von Tacitus gerühmte Brauch ,
dass die Mütter ihre Kinder selbst stillten , noch lange, wie Parcival
II. 16 bezeugt. Im deutschen Volke liebten es bereits während des 6. Jahrhundert
reiche Angelsächsinnen ihre Kinder Ammen zu übergeben.3) Im 15. Jahr
hundert war das in der ganzen vornehmen Welt stehender Brauch.4)
Als Eigenschaften einer guten Amme wurden den Hebammen von den
Aerzten des 16. Jahrh . folgende Merkmale bezeichnet : Gute Hautfarbe, starker
Hals und kräftige Brust, 1 /2-2 Monate soll ihr eigenes Kind alt sein ; dieses
Kind soll ein Knabe sein ; ihr Körper soll fleischig und feist, ihre Geberde
gut sein , sie selbst nicht zu Zorn , Traurigkeit und Furcht geneigt; ihre
Brüste sollen voll, ziemlich gross, nicht zu hart, ihre Milch nicht missfarbig
noch salzig sein . Eigenthümlich ist der von Rösslin gegebene Rath , dass
die Mutter ihr Kind am ersten Tage des Wochenbetts nicht säugen, sondern
einer anderen Frau anlegen lassen soll. Dies ist derselbe Rath , den wir
auch schon bei dem Arzt Soranus aus Ephesus finden . Es wird von ihm
auch gesagt, dass Avicenna allerdings empfohlen habe , das Kind zwei
Jahre lang zu säugen , dass dies aber in Deutschland nicht gebräuchlich sei.
Die ,,Zäpflin " von Brod und Zucker , d. b . also den Zulp oder Schnuller,
hält Rösslin für nützlich .
Unter den Serben geniesst die Muttermilch eine religiöse Achtung ,
Wenn eine Frau nur zeitweise neben ihrem Kinde noch ein anderes fremdes
Kind stillt, dann können sich diese Kinder, wenn sie verschiedenen Geschlechts
sind, später nicht heirathen , weil sie als Geschwister angesehen werden .")
Aehnlicher Brauch besteht auch bei anderen Völkern. Ehen zwischen zwei
Personen , welche von derselben Amme gesäugt wurden (Ha emishireh ,
Milchgenossen ), sind in Persien gesetzlich verboten (Polak ).
Von culturhistorischer Bedeutung ist das Ammenwesen in Paris , da es
sich hier zeigt, wie sich dasselbe in einer grossen Stadt unter dem Einflusse
des eigenartigen französischen Volksgeistes gestaltet hat. Es giebt in Paris
ein grosses Agentur -Büreau , welches sich hauptsächlich mit der Unter
bringung der Kinder aus den geringeren Klassen beschäftigt, und viele kleine ,
welche von den Vornehmen mit Vorliebe benutzt zu werden scheinen. Diese
letzteren überlieferten beispielsweise 1858 und 1859 20,38 pCt. der ihren
Ammen anvertrauten Kinder dem Kirchhofe , jenes erstere dagegen 35 pCt.;
beide aber wurden in Wirklichkeit übertroffen von jenen Ammen , welche
direkt von den Pariser Müttern die Kinder überkamen ; hier betrug die
Sterblichkeit 48,17 pCt., nahezu die Hälfte. Irgend ein Maire soll einmal
gesagt haben : „ Der Kirchhof in meinem Orte ist gepflastert von kleinen
Parisern .“ Dem gegenüber ist ein Verein entstanden , der durch Prämien ,
Beschaffung guter Ammen und Gründung von Ammen -Kolonien in der Nähe
von Paris sowie durch Belehrung Abhülfe schaffen will (Société protectrice de
l'enfance). Mit der theilweisen Aufhebung der Findelhäuser, an deren Stelle
man ein System der Unterstützung ,,unverheiratheter Mütter" (filles-mères )
eingeführt hat, haben einige französische Philanthropen die Zunahme der
Kindermorde in Verbindung gebracht.
1) Reise. 1. S. 178.
2) Baumgarten , 1. c. II. S. 879.
3) Schleissner, Forsög til en Nosographie af Island. Kjöbenhavn 1849. S. 101. Desselben
Island undersögd etc., deutsch von Thomsen. S. 88.
4. Das Entwöhnen und die künstliche Ernährung. 183
1) Dr. H. Abelin , „ Ueber die Sterblichkeit unter jungen Kindern etc." Journ . f. Kinderkrankh .
1864. Sept. u. Oct. 195
2 ) Scheffer, Lappland . S. 342.
3) Corp. Byzant. Tom . I.
184 Die Ernährung des Kindes.
Suppe erhielten , ist mir nicht bekannt. Jetzt reicht man im Orient dem
Kinde gern mitunter beim Stillen etwas Butter, welche in jenen heissen
Ländern stets flüssig ist und für sehr wohlthätig zur Erhaltung der Ge
sundheit des Säuglings gehalten wird ; unter Anderen berichten mir dies
Missionär Beierlein aus Madras (Ostindien) und Brehm aus Massaua . In
Aegypten werden die Kinder in den Harems überfüttert , in den mittleren
Klassen schlecht genährt; ) so geht dort nach spartanischen Grundsätzen
jedes Kind zu Grunde, welches nicht einen bedeutenden Fonds von Lebens
fähigkeit mitbringt. ,, In Persien ," sagt Dr. Polak , ) ,,hat man von der
eigentlichen künstlichen Ernährung keinen Begriff; ich wurde mehrmals von
dortigen Müttern über die Möglichkeit einer solchen befragt. Ist das Kind
schwächlich, oder sind die Eltern besorgt wegen seines Gedeihens, so
geschieht es sogar, dass es erst zu Ende des dritten Jahres entwöhnt wird .
Nicht selten hatte ich Gelegenheit, Kinder an der Mutterbrust zu sehen ,
welche zu gleicher Zeit ein tüchtiges Stück Melone genossen .“ Im zweiten
Jahre erhalten die Kinder der Perser nebenbei Reiskost, bei Aermeren auch
Früchte ; besonders zur Zeit des Entwöhnens werden viele Kinder von dem
„ Durchfall der Entwöhnten " (Diarrhöa ablactatorum ) befallen , und in
Städten Persiens stirbt wenigstens ein Drittel sämmtlicher Kinder an dieser
Krankheit.
Die Neugeborenen der Armenier und Tataren im Kreise Nucha,
Gouvernement Tiflis , erhalten zuerst die Mutterbrust; fehlt der Mutter die
Milch , so giebt man dem Kinde einen Lutschbeutel aus Brot mit warmer
Kuhmilch, oder aus dem Mehl „ Patsch.“ Einen Brei aus diesem Mehl er
halten die Kinder wohl auch neben der Muttermilch, weil man überzeugt ist,
dass diese Nahrung die Kinder gut nähre , ihnen eine gewisse Körperfülle
gebe. Wohlhabende Leute reichen mitunter den Kindern im ersten Monat,
wenn die Muttermilch nicht genügend vorhanden ist, geschlagenes Eigelb
mit Zucker.3)
Wenn bei den Hindu das Kind 6 Monat alt ist, so werden die Verwandten
wiederum wie schon früher bei der feierlichen Namengebung eingeladen, um
Zeugen der Ceremonien zu sein , die man dann begeht, wenn das Kind zum
erstenmale Reis und Milch und Zucker zubereitet erhält. Die Namengebung,
findet bei den Vedas (einer südindischen Sclavenkaste) im 8. bis 9. Monat
statt, wenn es den ersten Reis erhält (Ja gor).
Die Javanesen gewöhnen mit ersichtlicher Mühe ihre Kinder in frühester
Jugend daran , über alle Maassen viel zu essen ; der Säugling wird dieser
barbarischen Sitte gemäss mit einem Brei von gekochtem Reis und reifen
Pisangfrüchten vollgepfropft . Ganz ähnlich wie dieser Bericht Lazari's ,
klingt, was Julius Kögel sagt: er sah , dass die Javaninnen ihren Säuglingen
täglich ein gewisses Quantum Reis in den Mund stopfen , welches, meist mit
Widerwillen , von den Kleinen verschluckt werden musste. Wenn bei den
Singhalesen auf Ceylon die lieben Kleinen zum erstenmale den Reis essen ,
so feiert man ein Familienfest und legt bei dieser Gelegenheit den Kindern
den Namen bei (L. K. Schmarda). Bei den Motu , einem Volksstamme
auf Neu -Guinea , werden die Kinder nie von der Mutterbrust entwöhnt;
die Kinder entwöhnen sich selber; und so ist es kein ungewöhnlicher Anblick ,
ein Kind zur Mutter laufen zu sehen , um an ihrer Brust zu trinken . Oft
kämpfen zwei Kinder, das neuangekommene und das ältere, um die Mutter
brust, die aus diesem Grunde eine ausserordentlich entwickelte und bängende
Form hat.") Auf Tobi, einer Insel im Stillen Ocean , bekommen die Kinder
ganz gleiche Speise wie die Erwachsenen (Pickering).
Ueber die Schwarzfuss - Indianer in Nordamerika bemerkt Maximilian
Prinz zu Wied , in seinen „ Reisen in das innere Nordamerika:“ „ Schon sehr
früh müssen die kleinen Kinder Fleisch kauen , sobald ihnen die Zähne
hervorbrechen , woran sie alsdann wohl mehr saugen ." Das Fleischstück
vertritt hier wohl die Stelle des Beruhigungsmittels „ Zulp ,“ dessen Abarten
wir oben beschrieben . Dagegen pflegen die westindischen Frauen die
künstliche Nahrung den Kindern besser als andere zu bereiten , indem sie
die Milch kochen und den Rahm abnehmen .
Zur Entwöhnung schmiert man in Südarabien Myrrhe oder Asa fötida
auf die Brustwarzen ; die Somali in Ostafrika nehmen hierzu den bittern
frischen Saft durchbrochener' Aloe- Blätter; in Zanzibar gebraucht man zum
gleichen Zwecke Cayenne- Pfeffer oder auch Aloe-Harz (welches aus Socotra
stammt). Entzünden sich die Brüste der Mutter bei der Entwöhnung , so
legen die Süd -Araberinnen Schlamm aus Süsswasserwurzeln oder Lehmbrei
darauf, drücken auch zu sehr angesammelte Milch aus. Diese wird cere
moniell begraben.2 )
Bei den Bongo in Afrika geschieht das Entwöhnen , wie Schweinfurth3)
berichtet, durch einen bittern Saft, den man auf die Brüste streicht, damit
der Säugling nicht mehr nach der Muttermilch verlange. Die gestossenen
Blätter gewisser Capparideen , mit Wasser zu einem Brei gemischt, dienen
als Mittel, um die Milchquelle versiegen zu lassen . Die Nahrung der Somali
Kinder besteht fast ausschliesslich aus Milch (Haggenmacher ). Stirbt die
Mutter des Säuglings , oder ist sie unfähig , das Kind zu säugen , so ziehen es
die Wakikuyu in Ostafrika mit Kuhmilch , die ihnen benachbarten Was
waheli mit Ziegenmilch auf. Gleichsam als Schadenersatz schenkt der Vater
dem erwachsenen Kinder zwei Sclaven.4 )
Bei den Szua heli, welche die Kinder ein volles Jahr lang säugen ,
giebt man dann Kuhmilch mit Zucker ; beim Entwöhnen gekochten Reis mit
Zucker bis zum 3. Jahre ; dann dürfen sie Alles essen . (Mündliche Mit
theilung des Dr. Kersten.) Sobald bei den Negern in Angola (West
küste Afrikas) ein Kind so weit herangewachsen ist, dass es consistentere
Speisen zu essen vermag, so zwingt die Mutter dasselbe mitGewalt, grosse
Quantitäten Tuba (Maniok-Polenta ) zu sich zu nehmen . Die Mutter hockt
dann vor einem mit diesem Lebensmittel gefüllten Topf, nimmt den Säugling
zwischen ihre Beine und nudelt das Kind derartig , dass dies Mannover nie
obne Schreien und krampfhaftes Weinen abgeht, und zwar so lange, bis wo
möglich die Leckerbissen aus dem Halse wieder herausragen oder der Topf
seines Inhalts entleert ist. Pogge, der das mit ansah , setzt hinzu : Ein
Uneingeweihter könnte wohl glauben , dass das schreiende Kind bei dieser
Manipulation ersticken müsste , und ich habe mir oft die Frage vorgelegt,
ob diese Abfutterei, welche vielfach im Gange ist, nicht die Ursache der oft
so aufgetriebenen Leiber der Kinder sein könnte.") Eine ganz ähnliche
Fütterungsweise ist in Südafrika bei den Basuto und Makalaka üblich ,
wie wir auf Seite 150 und 151 beschrieben .
Wir wenden uns zu den Nomadenvölkern Asiens. Ehe die Kinder der
Ostiaken den ersten Monat des Lebens zurückgelegt haben , werden sie
schon mit gekochten Fischen ernährt; kaum zeigen sich die ersten Zähne,
so stellt man ihnen Rennthierfett und eingesalzene Fische vor.2) Bei den
Buräten wird das Neugeborene von der Mutter gesäugt , mit Kuh- oder
Schafmilch getränkt; je nach dem Durchbruch der Zähne, oft auch früher,
werden die Kinder mit gekautem Fleisch , Schwarzbrod und allem anderen
Vorhandenen gefüttert (N. J. Kaschin ). Die Kalmücken -Kinder erhalten
während der ersten drei Tage einen gekochten Schafschwanz zum Saugen
und nebenbei Kalmückenthee ; später giebt ihnen die stillende Mutter, um nicht
vom Arbeiten abgehalten zu werden , ein Stück Hammelfett zu saugen , das
bald ranzig wird .
Bei den Armeniern im Gouvernement Eriwan reicht man dem Kinde zur
Muttermilch schon andere Nahrung. Bei Mangel an Muttermilch giebt man
Kuhmilch mit Zucker oder gewöhnlich einen dicken Brei aus Kuhmilch und
dem aus den Früchten von Elaeagnon hortense bereiteten Mehl. Bei den
Tataren desselben Gouvernements giebt man den Neugeborenen , in Er
mangelung von Muttermilch , eine Mischung von Butter und Zucker und
ebenfalls den genannten Brei.3)
Die Kinder der Armenier in Astrachan werden nach Meyerson be
reits nach der Geburt au das Hörnchen gewöhnt und frühzeitig mit allen mög
lichen Pflanzenspeisen gefüttert. Die Tataren der Dobrudscha füttern ihre
Kinder , sobald sie zu kauen im Stande sind , mit Wassermelonen und kaltem
Hammelfleisch .
Die Ungarn besitzen bezüglich der Zeit zum Entwöhnen einen Aber
glauben , den sie vielleicht aus ihrer Urheimath mitgebracht haben : Sie halten
es nicht für räthlich , die Kinder im Winter oder zur Zeit der Ackerung zu
entwöhnen (von Csaplovics). -
Bei den Esten wird , wie Professor Holst mittheilt, dem Kinde nach
-
dem Entwöhnen wohl keine andere Kost zu Theil, als den übrigen Haus
genossen ; im Sommer bildet dann Milch und Brod die fast ausschliessliche
Nahrung.
Wenn in St. Petersburg ein saugendes Kind mehr fordert, als die
Brust der Mutter geben kann, so reicht man ihm Kuhmilch ; das Kind saugt
dieselbe aus der Zitze eines Kuheuters, welche man an ein mit Milch ge
fülltes Ochsenhorn oder an eine zinnerne oder gläserne Flasche befestigt
hat.") Im russischen Gouvernement Samara ist die künstliche Auf
fütterung durch das Horn selbst da , wo gar keine Nothwendigkeit zwingt,
sehr in Gebrauch . „ Oft wird aus blosser Bequemlichkeit dem Kinde ein
Läppchen mit einem Stückchen aufgeweichten Brodes in den Mund geschoben ,
damit es nur nicht schreit; oder ein Horn , an das ein Kuheuterstück ge
bunden ist, ohne sogar jedesmal Milch hineinzugiessen . Die Kinder gewöhnen
sich daran in der Art, dass sie oft, wenn sie schon sprechen gelernt haben ,
mit einem am Munde hängenden Horn herumlaufen , ungefähr wie Männer
mit einer Cigarre. Aber selbst wo die Mutterbrust gereicht wird, wird der
Uebergang zur allgemeinen Nahrung zu schroff gemacht und hat vielfach
nachtheilige Folgen . Auch füttert man die Kinder mit den schwerverdau
lichsten Dingen .“ 2)
Sowie das Kind bei den Altgriechen der Brust entwachsen war , nahm
die Wärterin ý tpoços) dasselbe unter ihre Pflege, die es nunmehr mit brei
artigen Stoffen , namentlich mit Honig ernährt (Guhl und Koner). Nach
I
des in Rom practicirenden Arztes Moschion Rath soll das Kind nach 1/2
oder nach 2 Jahren entwöhnt werden , wenn die Zähne schon genügend fest
sind, so dass das Kind festere Speisen nicht blos zerkleinern , sondern auch gut
essen kann. Das Entwöhnen soll so geschehen , dass man schon einige Tage
zuvor beginnen soll, dem Kinde nach und nach Speisen darzureichen und es
seltener an die Brust zu legen ; so könne man ihm allmälig die Milch abge
wöhnen. Moschion sowohl wie Soranus verwerfen den Gebrauch , die
Brustwarze mit bitteren Stoffen zu bestreichen, ein bei den Müttern damaliger
Zeit beliebtes Mittel.
Wir haben bisher noch nicht von den in Deutschland bei den ver
schiedenen Volksstämmen heimischen Sitten gesprochen . Die provinzialen
Abweichungen sind hier so mannichfaltig , dass ich wohl bedauern muss, nur
über einzelne Stämme genaueren Bericht geben zu können . Allein schon
die kurze Skizze dieser wenigen wird genügen , zu erkennen , dass ungemein
viel bei uns gefehlt wird .
Zunächst tritt ein Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschland
1) H. Z. von Attenhofer, Medicin . Topogr. der Haupt- und Residenzstadt St. Petersburg.“
1817. 4. Abschnitt.
2 ) J. Ucke, Das Klima und die Krankh. der Samara. Berlin 1863. S. 87 .
188 Die Ernährung des Kindes.
hervor. Während man in dem nördlichen Deutschland ,“ sagt von Ammon ,')
„ in den Fällen , wo Mütter nicht stillen , das Neugeborene an die Brust einer
Amme legt, ernährt man in einem grossen Theile des südlichen Deutschlands
die neugeborenen Kinder, welche die Mütter nicht stillen können , durch
sogenanntes Auffüttern , indem man die natürliche Ernährungsweise so treu
als möglich nachahmt."
Fast überall in Mitteldeutschland ist es sowohl unter dem Landvolk ,
als auch unter den niederen Klassen der städtischen Bevölkerung gebräuch
lich , dem Kinde neben der Mutterbrust von Anfang an Brei (meist unge
salzen) oder auch Suppe zu reichen. Zu dieser Nahrung greift man nament
lich dann, wenn das Kind unruhig ist. Ebenso wenig , wie diese Unsitte,
vermochten die Bemühungen der Aerzte den Schnuller oder Zulp in seinem
ausgedehnten Gebiete in Deutschland bis jetzt erheblich zu beschränken . Aus
verschiedenen Bezirken Baierns kommen von Zeit zu Zeit ganz bedauerliche
Klagen ; so schreibt Dr. Ringleb aus Würzburg : „ Als schlimmer Factor
der hohen Kindersterblichkeit kommt hinzu die Dummheit der Leute, welche
trotz unserer Ermahnungen dasjenige Nahrungsmittel, das doch am besten
die mütterliche Kost ersetzt, die Milch, entweder gar nicht oder in den un
zweckmässigsten Bereitungsweisen und mit den schlechtesten Surrogaten
versetzt, anwenden, und obenan in Würzburg die nun fast in jeder Familie
eingebürgerte ,, Buttersuppe" stellen .“ 2)
Wie in allen grösseren Städten herrscht auch in Posen die Unsitte ,
dass Säuglinge weniger bemittelter Familien mit gemischter Nahrung auf
gezogen werden . Es hat sich dort ein gewisses Vorurtheil Bahn gebrochen ,
dass die Brust allein zum wahren Gedeihen der Kinder nicht ausreiche, dass
vielmebr gleich von der Geburt an dieselben durch Schreien ihr Verlangen
nach consistenter Nahrung kund geben . In Folge dessen ist die Sterblich
keit unter den Säuglingen sehr gross.3)
Das Entwöhnen geschieht im Volke keineswegs mit der nöthigen Vor
sicht. Es ist leider fast gar nicht gebräuchlich , dem Kinde längere Zeit
hindurch leichte Nahrung, Suppen oder Breiarten zu geben ; dies ist (z. B.
im Braunschweigschen ) den Wohlhabenden zu zeitraubend und umständlich ,
den Aermeren zu kostspielig ; als Ersatz dafür wird das vielleicht halbjährige
Kind allmälig an die Kost der Erwachsenen gewöhnt, die ihm neben der
Muttermilch gegeben wird.4) Auch im Kreise Querfurt lässt man die Kinder ,
wenn sie entwöhnt sind, bald an den Mahlzeiten der Erwachsenen theil.
nehmen ; die rationelle Ernährung durch Kuhmilch nach dem Absetzen von
der Mutterbrust hat sich auch hier noch wenig Bahn gebrochen . - Die
künstliche Auffütterung der Neugeborenen besteht fast überall in Deutschland
im Darreichen einer Mischung von Kuhmilch mit Wasser. Man bedient sich
Mit dem Entwöhnen ist hie und da ein sonderbarer Aberglaube ver
bunden. In Franken (Baiern ) setzt sich die Mutter, die abgewöhnen will ,
auf einen Markstein , wo dreierlei Eigenthum zusammenstösst, damit der Säug
ling die Brust leicht vergisst. In anderer Weise genügt es , wenn sich die
Mutter beim letzten Anlegen des Kindes auf irgend einen Markstein setzt, oder
in das Loch , wo er hinein gehört; es bekommt dann das Kind kein Zabnweh .
Auch soll das Kind die Brust leicht vergessen , wenn man es zum letztenmal
während des Kirchenläutens anlegt. Ferner wird das Kind bei zunehmendem
oder bei Vollmond abgelegt, denn dann gedeiht es; bei abnehmendem Monde
würde das Kind Schaden haben. Man entwöhnt am Johannistag oder Grün
donnerstage , damit es gut lernt.") Auch in Mecklenburg gilt der Johannis
tag als günstiger Tag zum Entwöhnen ; in Schlesien wählt man diesen Tag,
damit das Kind leicht zahne .
Entwöhnt darf in Königsberg i. Pr. ein Kind nur werden , wenn die
Vögel in Ruhe sind , also die Zugvögel weder ab- noch anziehen ; wo mög
lich auch im vollen , nicht im abnehmenden Licht (Mond); nach Mittheilungen des
Prof. Hildebrandt.
Das Entwöhnen geschieht in Hessen zur Zeit der Rosenblüthe , damit
die betreffenden Menschen das Glück haben , ihre Wangen von dem Tage
der Entwöhnung an bis an das Ende des Lebens mit Rosen geschmückt zu
sehen . Fände die Entwöhnung in der Zeit statt , in welcher die Feldstoppeln
offen sind, dann hätte der betreffende Mensch das Unglück , Alles , was er
erhaschen kann , zu verzehren , ohne davon gesättigt zu werden. Nach dem
Entwöhnen darf in Hessen das Kind nicht von Neuem an die Brust gelegt
werden , denn sonst wird von Allem , was das Kind in später Zeit Anderen
in der besten Absicht Gutes wünscht, das Gegentheil eintreten , es sei denn,
dass der Mensch das Gesagte augenblicklich widerruft (Mühlhause).
Will man vermeiden, dass das Kind bald graues Haar bekommt, so ent
wöhne man , wie es zu Mittenwalde, Grünberg in Schlesien etc. heisst, nicht
zur Zeit, wo Schnee liegt, auch nicht, wie man in Conradsreuth im Vogtlande
sagt, zur Zeit der Baumblüthe , doch auch nicht im Mai, wie namentlich in
Böhmen gesagt wird . Entwöhnt man das Kind zur Zeit der Aussaat , so
wird es niemals satt (in Oesterreichisch - Schlesien ). In der deutschen
Schweiz heisst es , dass beim Entwöhnen das letzte Stillen während des
den Serben ihr Kind entwöhnen , so setzt sie sich auf die Schwelle des
Zimmers und reicht dem Säugling zum letzten Male die Brust. Hierauf
stellt sie ihn auf den Boden , giebt ihm ein Stück Brot in die Hand, versetzt
ihm einen leichten Schlag auf den Hintern und sagt: „ Fort, Kalb , unter die
Rinder, das sei deine Nahrung. “ Tritt in Serbien der Fall ein , dass ein
zweites Kind geboren wird , während das erste noch gestillt wird , so wird
dieses entwöhnt, und zwar selbst dann , wenn das zweite Kind todt geboren wird ,
oder wenn es bald nach der Geburt stirbt. Denn Kinder , die zweierleiMilch
geniessen , werden Hexen und Hexeriche. Ein Kind , das ein Mal entwöhnt
wurde, bekommt nie mehr die Brust , denn es würde sonst „ böse Augen "
bekommen (d . h . die Gefahr laufen einen verhexenden Blick zu bekommen ). ")
EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
Alles „ Zauberhafte“ liebt man jetzt mit dem fremden Worte Sym
pathie zu bezeichnen . An sich bezeichnet dieses Wort ein Gesetz , das im
Aberglauben immer und immer wieder hervortritt und das manche Hand
lungen unheilvoll, andere wiederum glückbringend und segensreich macht.
Nach diesem Zaubergesetz findet eine Erscheinung , die an einer Stelle sich
verwirklicht, ihr Seitenstück an einer anderen Stelle, die mit jener in irgend
welcher angeblichen Verbindung steht. Die sympathetische Behandlung be
steht nun darin , dass man einen erwünschten Zustand herbeiführt , indem
man eine solche angebliche Verbindung benutzt oder vermeidet. So hat
man im Grunde unter dem Worte Sympathie eben nur eine Beziehung zu
verstehen, die sich nicht auf natürliche Weise erklären lässt, die nicht unter
den Gesetzen rein physikalischer und bekannter Einwirkungen steht, sondern
durch eine geheimnissvolle Kraft einflussreich wird . Als die hierbei einfluss
reiche Kraft nimmt man demnach eine mystische Wechselwirkung zwischen
den Menschen und gewissen äusseren Gegenständen an ; unter der Herrschaft
einer solchen Wechselwirkung steht nach dem Volksglauben vor Allen
das Kind .
Bei kaum irgend einem Volke vermisst man die abergläubische Annahme,
dass im Leben des kleinen Kindes übernatürliche Wirkungen zur Aeusserung
gelangen , und dass man auch durch übernatürliche Kräfte und Handlungen
auf die Lebensthätigkeit des Kindes einzuwirken im Stande sei. Der Vor
stellungskreis ist auf diesem Gebiete bei vielen Naturvölkern ein höchst ein
facher , sich nur auf wenige Einzelheiten beschränkender, doch immerhin durch
italienischen Frauen von heute dagegen glauben alles Ernstes an die bösen
„ Hausfrauen ,“ die freilich nichts mit Hexen zu thun haben . ")
Es giebt ferner ganz eigenthümliche Zaubermittel, die man für des
Kindes Schicksal als entscheidend hält. Das Augurium der Römer existirt auch
anderwärts, nur in anderer Form . Auf Madagaskar zeigen die Einge
borenen ziemlich wenig zärtliche Neigung zu ihren Kindern , wie die bekannte
Reisende , Frau Ida Pfeifer, fand. Allein dies hat einen ganz besonderen
Grund . Die Malgaschen haben nemlich eine Art Gottheit in allen Dingen ,
genannt Sikiddy. Dies ist keineswegs ein Götzenbild aus Stein oder Holz
geschnitzt, sondern einfach etwa ein Dutzend Kieselsteine oder kleine harte
Bohnen . Wenn nun ein Malgasche geboren wurde, so nimmt dessen Vater
diesen Sikiddy in die hohle Hand und wirft ihn von sich ; rollen die Steine
oder Bohnen nach einer gewissen Richtung, dann gratulirt der Vater seinem
Weibe, denn das Kind wird glücklich sein ; allein wenn Sikiddy erklärt, dass
dem Kleinen keine glückliche Zukunft winkt, so wird das Kind entweder
einfach ausgesetzt oder ermordet, weil es seinem traurigen Schicksale doch
nun nicht entrinnen kann ; oder man misstraut dem Sikiddy und ruft einen
anderen Zeugen für das künftige Geschick an . Da legt man das Kind auf
einen Pfad, welchen ein grosser Trupp Rinder passiren muss ; wird von
diesen das Kind todtgetreten , so ist hiermit der Ausspruch Sikiddy's be
stätigt; kommt es dagegen mit dem Leben davon , so ist die Autorität Si
kiddy's vernichtet und das Neugeborene ist mit Hülfe dieser Consultation
der Rinder gerettet. Wie auch bei anderen Völkern das Horoskop über
Leben und Tod des Kindes entscheidet, siehe in Band I. Seite 87.
Gewisse Erscheinungen am Kinde hält der Aberglaube für hochwichtig .
Dem Niesen des Kindes scheint man bei manchen Völkern eine be
sondere mystische Bedeutung , eine sympathetische Beziehung zu seinem
Glücke beizulegen . In vielen Gegenden Deutschlands unterlässt es eine gute
Mutter oder Wärterin niemals, zu sagen : „ Gott helf!" sobald das Kindchen
geniest hat. Auf mehreren Inseln der Südsee hat das Niesen eine besondere
Bedeutung : In Samoa sagte man einem Niesenden : „ Mögest du leben !“
( Turner) ; nieste ein Maori-Kind, so rief ihm die Mutter einen langen Spruch
zu ; nieste einer beim Essen , so war Besuch oder eine Neuigkeit zu erwarten .
Dagegen galt in Tonga das Niesen als sehr böses Zeichen . ) Die Neusee
länder finden im Niesen der kleinen Creatur gleichsam eine sympathetische
Andeutung bei der Namengebung.3) Wenn diese letztere vorgenommen
werden soll, so hält der Priester an das Ohr des Kindes das Idol eines
hölzernen Götzen und singt etwa"folgende Worte her (nach R. Taylor) :
1) Woldemar Kaden, Skizzen und Culturbilder aus Italien . Jena 1882. S. 89.
2) G.Gerland in Waitz, Anthrop. der Naturvölker. VI. S. 393. Beim Niesen glaubt der
Banks-Insulaner, dass irgend Jemand in demselben Augenblicke seinen Namen ausspreche. In Viti
sagt der Nebenstehende: „ Magst Du leben !" und der Niesende darauf: „Mögest Du tödten !" (Deine
Feinde). Vergl. M. Eckard , Globus 1881. Bd. XL . S. 379.
3 ) Curiosity of savage Life. By James Greenwood. London 1863. S. 24.
13 *
Die sympathetische Behandlung des Kindes .
196
„ Halt still, ich verkünde deinen Namen
Welches ist dein Name?
Horch auf deinen Namen ,
Dies ist dein Name
Wai Kui Maneane."
Dies letztere ist der Name irgend eines Vorfahren des Kindes , und der
Priester fährt nun fort, eine lange Liste von Namen herzusagen , bis das
Kind niest ; dann hält der Priester sofort an , und der letzte Name ist nun
derjenige, den man dem Kinde geben muss. Schliesslich schreitet der Priester
zu einer sinnvollen Ermahnung an das Kind ; wenn dasselbe ein Knabe ist,
sagt er :
„ Kläre das Land für die Nahrung,
Sei kräftig am Werke,
Sei eifrig und arbeitsam ,
Sei muthig und tapfer,
Du musst wirken , bevor der Tag
Ueber das Land kommt."
Diese Ceremonie wird etwas verändert, wenn das Kind ein Mädchen ist.
Auch bei uns gilt das „ Beniesen " gleichsam als sympathetische Bestäti
gung eines Ausspruchs .
Seit alter Zeit benutzt man im ganzen Orient als Schutzmittel gegen
Unglück und Krankheit beim Kinde Amulete , die in Assyrien , Babylonien ,
Aegypten in geschnittenen Steinen, bei den Griechen in Ringen , bei den
Römern in Halsbändern, Steinen u . s. w . bestanden , bei den Juden und
Arabern aber als Pergamentstreifen auftreten , auf welchen Stellen aus
heiligen Büchern (Bibel und Koran ) geschrieben sind. Die Araber ) haben
gegen Krankheit schützende Amulete, die nur für eine gewisse Zeitdauer und
ein gewisses Alter bestimmt sind und dann wieder abgelegt werden ; daher
sagen sie : „ Ukkat et temỉmetu ânes sabi,“ d . h . man hat dem Knaben das
Amulet abgenommen , weil er nemlich über die Wirkung desselben hinaus
gewachsen, nicht mehr in Gefahr ist. Bei den Römern legte der junge
Mann im 15. Jahre gleichfalls die das Amulet enthaltende Bulla zugleich mit
den übrigen Zeichen seiner Knabenschaft ab .
Im Volksglauben der christlichen Völker übertrifft an mystischer Kraft
und zauberischem Einfluss auf das Kind alle genannten sympathetischen
Proceduren und Schutzmittel der Act der Taufe. Die Heilswirkung der
Taufe ist in den Augen des Volkes so bedeutend und segnend, dass man
sie dem erkrankenden oder auch dem lebensschwachen Kinde schon für den
Fall des etwa drohendeu Todes durch Hebammen ertheilen lässt. Die so
genannte „Nothtaufe" schützt in der Meinung des Volkes nicht etwa gegen
Krankheit und Siechthum , sondern vor der Verdammniss der Kinderseelen ,
im wilden Heere umherzuziehen. ) Dies ist ein nicht blos in Deutschland
herrschender Glaube; vielmehr fand Bernhardt Schmidt3) auch auf der
griechischen Insel Zakynthos die Sage verbreitet, dass die Wesen , welche
im wilden Heere in den Lüften toben , die Seelen der ungetauft verstorbenen
Kinder sind. Er setzt hinzu , dass schon nach altgriechischer Vorstellung
Diejenigen , welche im zarten Alter und die kinderlos und ohne die Liebe
genossen zu haben, gestorben sind , im Heere der Artemis Hekate umher
ziehen ; ein altgriechischer Hymnus an Hekate und ein orphischer Hymnus
scheinen dies zu bezeugen ; 1) aus diesen Begleitern der Hekate sind im
christlichen Aberglauben die ungetauft gestorbenen Kinder geworden .
Es gab einst auch eine Taufe vor der Geburt (die sogenannte In
trauterintaufe). In jener Zeit, in welcher man noch in Italien annahm ,
Fehlgeburten würden durch Hexen bewirkt, die man wegen dieser Ver
schuldung arg verfolgte , hat man auch ein eigenthümliches Mittel angewendet,
um die ungeborenen Kinder vor der Gefahr zu schützen , ohne Taufe als
Todtgeburten zur Welt zu kommen . Man suchte diese Gefahr durch die
Intrauterintaufe abzuwenden ; zur Ausführung derselben erfand Parolini
zu Brixen 1766 ein zweiklappiges Speculum und eine Mutterspritze.?)
Ein schöner Zug menschlichen Gefühls spricht sich darin aus, dass unter
vielen Völkern die Eltern sich noch mit den Seelen ihrer verstorbenen
Kinder in einer sympathetischen Beziehung stehend denken . Es sind dies
die primitiven Spuren unseres modernen Spiritismus. Wenn ein Säugling
bei den Sioux -Indianern stirbt, so wird sein Leichnam begraben , und seinen
Platz in der Wiege füllt die Mutter mit schwarzen Federn aus ; sie meint,
dass die Seele des Kleinen sich noch in den Federn so lange aufhält, bis es
alt genug ist, um einzuziehen in das Paradies ; so wartet und pflegt sie
singend und wiegend noch immer ihre Federpuppe , trägt dieselbe auch
hunderte von Meilen bei den Zügen ihres Stammes mit zärtlicher Sorgfalt
in der über die Schultern gehangenen Wiege umher . Aehnliche Vorstellun
gen kommen unter europäischen Völkern vor : Der Vater und die Mutter,
welchen bei den österreichischen Südslaven ein Kind gestorben ist, dürfen
nicht eher frisches Obst geniessen , bis sie solches nicht armen Waisen zur
Erinnerung an die Seele ihres Kindes gegeben haben ; andernfalls würde das
verstorbene Kind im Jenseit nicht Früchte des Paradieses erbalten und wäre
gezwungen , an seinen Fingern zu nagen , in Folge dessen es bittere Klage
gegen seine Eltern erheben würde.3)
Kein Volk entwickelt bei diesem Ideenspiele eine üppigere Phantasie ,
kein Volk hat nach und nach einen grösseren Schatz traditionellen Aber
glaubens aufgespeichert, als das deutsche. Offenbar brachten die Germanen
die Grundlage dazu aus der Urheimath mit. „ Ihre Götterwelt,“ sagt Gustav
Freytag,4) „ war schon in der Urzeit gestaltenreich ; das Grösste, was aus
der Natur in ihre ele drang, und das heimliche Kleinleben der Na war
personificirt, sie nahten den Ueberirdischen durch Opfer und Göttertrank ,
1) Miller in „Mélanges de littér. grecque.“ S. 442.
2) Corradi, Dell' obstetricia in Italia . Bologna 1874.
3) Albin Kohn, im „Globus" 1876, Nr. 8. S. 124.
4 ) Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 6. Aufl. 1. Bd. „Aus dem Mittelalter.“ Leipzig
1871. S. 54.
198 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
sie ehrten und fürchteten schon damals zwei Kreise göttlicher Wesen, welche
einander bekämpften . Die Wolken am Himmel waren die Heerde des Frucht
barkeit spendenden Gottes , der vernichtende Bergstrom war die Schlange,
welche feindselig gegen ihr Ackerland niederschoss, Himmel und Erde wur
den verehrt als der liebe Vater und die grosse Mutter. Sie verstanden auch
schädliche Einwirkung überirdischer Gewalten durch Beschwörung zu bannen ;
sie spuckten das Schädliche ab , oder wiesen ihm die Zunge; sie hatten heil
kräftige Sprüche gegen Krankheit, gegen den bohrenden Wurm im Finger
und Zahn, und gegen zerbrochene Glieder. Sprüche, deren Worte noch
jetzt ebenso in unserem Volke klingen, wie sie in den Veda der Inder ver
zeichnet sind : es soll gefügt sein Glied zu Glied , Bein zu Bein und Blut
zu Blut. “
Solcher Volksaberglaube ist demnach durchaus naturwüchsig . In dieser
Beziehung sagt Adolf Wuttke:) ,, Er ist ohne Berechnung und Theorie
instinktartig und unbewusst aus dem heidnisch getrübten Volksgeiste heran
gewachsen , weiss nicht woher, warum und wohin , trägt durchaus den Cha
rakter der Naivetät, speculirt nicht und macht kein System , sondern glaubt
einfach und handelt.“
Schon bei und nach der Geburt des Kindes heftet der Volksglaube an
die dabei zu Tage tretenden Erscheinungen mysteriöse Beziehungen , und
man meint schon sofort mit jenem , dem Fötus als Ernährungsorgan dienenden
Gebilde , welches als „Nachgeburt“ zu Tage tritt, ein bestimmtes Ver
fahren einschlagen zu müssen, dessen Unterlassen dem Kinde in zauberhafter
Weise schaden würde. Die Nachgeburt muss, so heisst es in Thüringen , im
Ofen verbrannt werden ; dagegen muss sie in Jena in fliessendes Wasser ge
worfen werden (A. Schleicher). In Mecklenburg schüttet man sie an die
Wurzel eines jungen Baumes, dann wächst das Kind mit dem Baume. In
Norwegen wird die Nachgeburt von der Neuentbundenen selbst mit einem
Messer durchstochen und dann von der Hebamme verbrannt; geschieht dies
nicht, so entsteht daraus der Unhold Utbor, der sich klein und gross, auch
sichtbar und unsichtbar machen kann , der gräulich schreit und besonders
seiner Mutter nachstellt, um ihr das Leben zu nehmen. ) Ich erkundigte
mich bei Afrikareisenden , wie man in Afrika in dieser Hinsicht verfährt.
1) Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart; zweite, völlig umgearbeitete Aufl. Berlin
1869. S. 8.
2 ) F. Liebrecht, „ Zur Volkskunde.“ S. 318.
1. Sympathetische Behandlung des gesunden Kindes. 199
Durch mündliche Mittheilung des Herrn Buchta erfuhr ich , dass in Chartum
die Nachgeburt mit dem Gefäss, in dem sie liegt, in den Nil geworfen wird ,
und dass jeder Vorübergehende ihr einen Stein nachwerfen muss ; bei den
Bombé aber, einem Niam -Niam -Volke, wird sie von einem Zauberer in einem
Gefäss aufgefangen und fortgeschafft. Nach Hildebrandt ) wird in Ost
afrika von den Wakamba-Geburtshelferinnen die Nachgeburt in ein Bündel
Gras gepackt und in den Wald getragen ; die Masai dagegen begraben die
Nachgeburt unter der Lagerstätte der Mutter. In Westafrika wird bei den
Negern der Loango-Küste nach Pechuel-Loesche's Bericht die Nachgeburt
von der Mutter oder einer Angehörigen eingewickelt irgendwo vergraben ;
Geheimhaltung scheint hier nur durch das Anstandsgefühl bedingt zu werden .
Dass der Nabelstrang, der später vom Körper des Kindes abfällt,
ebenso wie die sogenannte Glückshaube" in mystische Beziehung zum
Glück des Kindes gebracht wird , haben wir schon im 1. Bande Seite 15
besprochen . Hier ist nur noch anzuführen , dass die Armenier beim Ab
schneiden der Nabelschnur mit einem Messer unter dieselbe ein Stück Brod
oder eine Münze , die Kurtinen dagegen ein Stück Kuhmist halten dies
geschieht, damit das Kind während seines Lebens stets von Glück begleitet
sei. ) Die Bafiote -Neger der Loango-Küste verbrennen das vom Kinde ab
gefallene Stück des Nabelstrangs sorgfältig im Feuer , denn wenn es die
Ratten fressen , so wird das Kind ein ganz schlechter Mensch.3) Wenn bei
den Ovaherero der Nabel des Kindes abgefallen ist, so wird er in den
ondyatu onene yomapando gethan . Dies ist ein grosser Fellsack , den der
Häuptling in seinem heiligen Hause aufbewahrt, in welchem er alle heiligen
Gegenstände verbirgt. So kommt z. B. bei der Geburt des Kindes eine
Kniescheibe des Stückes Vieh mit hinein , welches die Wöchnerin geniesst,
während sie die Kniescheibe selbst nicht essen darf; denn in diesem Falle
ist diese Kniescheibe ebenfalls heilig. Den Namen yomapando hat der Sack
von einem Riemen, der sich ebenfalls in demselben befindet und in welchem
das Familienhaupt bei ber Geburt eines Kindes ein epando (Knoten ) macht.
Interessant ist, dass wenn von den Kindern eines zum Christenthum übertritt ,
der bei seiner Geburt in den Riemen geschlagene Knoten wieder aufgelöst,
es also gleichsam vom Heidenthum entbunden wird.4) Während die Japaner
die Nabelschnur sorgfältig aufheben und dem Todten mit in das Grab geben ,
wird sie bei den Aïnos nur noch ein bis zwei Wochen lang nach ihrer Ab
lösung autbewahrt, dann aber weggeworfen.5)
Wir gedenken auch der mystischen Kraft gewisser Abgänge bei der
Geburt: Im ersten Augenblick nach der Geburt wird das Kind bei den
Serben auf den Wangen mit dem Blute vom Nabel beschmiert, um rosen
1 ) Zeitschrift für Ethnologie 1878. S. 395.
2) Nach dem Russischen von Garril Oganisjanz im Kawkas 1879. Nr. 54. Globus 1880 .
Bd. 38. S. 269.
3) Pechuel- Loesche: Zeitschrift für Ethnol. 1878. S. 30 .
4 ) Missionär Dannert: Globus 1880. Bd. 38. S. 363.
5 ) H. v. Siebold : Zeitschr. f. Ethnol. 1881. Supplement S. 32.
200 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
rothe Wangen immer zu haben . Die Augenbrauen werden dagegen mit den
ersten Excrementen des Kindes beschmiert, ebenfalls aus dem Grunde, dass
das Kind schöne Augenbrauen bekommt.-) Auch in Italien heist es : Man
muss dem Kinde das Gesicht mit dem Blute wischen , das beim Durchschneiden
der Nabelschnur fliesst, sonst würde es einen bösen Tod durch's Messer
sterben . )
Welche mystische Bedeutung man dem Messen des Kindes beilegt,
haben wir Band I. Seite 302 besprochen . Eine namentlich an der Nord
küste Deutschlands herrschende Meinung lautet: Kleine Kinder soll man
nicht wägen , sonst gedeihen sie nicht, nicht messen , sonst wachsen sie
nicht. Die Procedur des Messens der Glieder des gesunden Körpers kann
erfreuliche Resultate liefern , dann wird sie deshalb als unglückbringend
betrachtet, weil die Freude über das Ergebniss ebenso leicht Unglück über
das Kind bringen kann , wie das Beschreien und die laute Freude über ein
schönes Kind . Beim Kranken hat das Messen andere mystische Bedeutung :
es ist eine Ausforschung, in wie weit der Kranke das rechte Maass verloren
hat ; doch ist damit auch ein wirkliches Zaubern verbunden ; namentlich wird
in Böhmen das Messverfahren als sympathetische Kur angewendet, wie
namentlich Grohmann 3) zeigt, der überhaupt Treffliches auf diesem Gebiete
aufsammelt: Der Kranke wird auf den Rücken gelegt und der Beschwörer
misst seinen Körper mit einem auf besondere Art gesponnenen Faden übers
Kreuz, d . h . zuerst der Länge , dann die Breite nach . Dieser Faden ist un
gespult und am Charfreitag vor Sonnenaufgang und zwar von rückwärts
gesponnen . Wenn die Breite des Körpers mit der Länge desselben gleich
ist , so ist es gut, wo nicht, so ist es schlimm . Das Heilen geschieht so ,
dass der Faden so zusammengelegt wird , dass die Länge und Breite des
Körpers nebeneinander sind.
Wenn ein neugeborener Knabe , so heisst es in Mecklenburg , auf ein
Pferd gesetzt und mit demselben auf dem Hofe herumgeführt wird , so
haben alle Pferde , welche er künftig reitet, das beste Gedeihen , und selbst
kranke Pferde kann er dadurch , dass er sie reitet , heilen . In der Altmark
wird vor dem ersten Bade der Knabe auf ein Pferd gesetzt, das man in die
Stube bringt, ein Mädchen muss buttern . In der Schweiz erwartet man von
einem Kinde , das vor dem 7. Jahre auf einem Eselreitet, dass es ge
scheit wird .
Von manchen sehr einfachen Handlungen erwartet der Aberglaube eine
zauberhafte Wirkung sei es im guten sei es im bösen Sinne. Auch hier
kommt es vor , dass einzelne solche mystische Handlungen gleichsam kos
mopolitische Bedeutung haben . In mehreren Gegenden Deutschlands wird das
Anhauchen oder Anblasen wie ein Hexenmittel betrachtet. Allein es
kann auch Gutes bewirken : So haucht in Böhmen die Mutter ihrem Kinde ,
1 ) Nach dem Russischen von Garril Oganisjan z im Kawkas 1879. Nr. 54.
202 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
linke Hand mit einbindet, wird das Kind linkisch . Das als Pathengeschenk
einem verstorbenen Kinde gehörige Kleidungsstück (Kindstrossel) darf man
keinem andern anziehen , denn dann stirbt auch dieses. Beim ersten Ein
wickeln legt man das Kind auf eine Hausbibel, dann wird's gelehrt und
fromm . Die Mutter darf die Windeln des Kindes nicht vor der Geburt sehen
lassen , sonst stirbt das Kind wieder . Im Vogtlande darf man keinem Kinde unter
einem Jahr das Kleid anmessen ; auch darf man daselbst kleinen Kindern Nichts
abschneiden , auch keinem Haftel vom Kleide, sonst schneidet man ihnen
Etwas von ihrem Glücke ab . Schliesslich darf im Vogtlande das Kind keine
rothen Schuhe tragen , dann wird es in der Folge kein Blut sehen können .
In Franken , Schlesien und Thüringen hütet man sich , den Kindern irgend
Etwas am Leibe zu flicken, sonst werden sie vergesslich und man verflickt
ihnen den Verstand . In Königsberg i. Pr. setzt man dem Kinde eine grün
seidene Mütze auf, damit es Glück habe. Wickelbänder der Kinder werden
in Böhmen vielfach zusammengeflochten und aufbewahrt; dieselben giebt man
dem Kinde am 7. Geburtstage zum Auflösen der Knoten ; je nachdem es
leicht oder schwer geschieht, wird es glücklich oder ein mühsames Leben
führen . Bei den Serben in der Schumadina wird dem Kinde nicht eher ein
neues Kleid angezogen , bis nicht die Mutter durch das Hemd eine brennende
Kohle geworfen hat mit den Worten : „ Dass Du dies Hemd zerreisst und ein
neues bekommst“ (Petrowitsch).
An die Wiege knüpft sich ein höchst ausgebreiteter Aberglaube: Eine
leere Wiege darf nicht gewiegt oder geschaukelt werden , sonst stirbt ent
weder das Kind (Franken , Mark Brandenburg , Oesterreich.- Schlesien u. s. w .)
oder man raubt ihm die Ruhe (Vogtland, Böhmen , Sächs. Erzgebirg , Schle
sien , Mecklenburg , Rügen , Oldenburg u. s. w .). Die Italiener behaupten da
1. Sympathetische Behandlung des gesunden Kindes. 203
in ein rothes Tuch gehüllt und ebenfalls unter den Tisch gelegt. In Königs
berg i. Pr. heisst's : Wird ein Kind unter den Tisch gelegt, so isst es später
sehr viel, wird es unter die Ofenbank gelegt, so wird man es im Leben
unbeachtet lassen. In der deutschen Schweiz sagt man : Ein um Weihnachten
und Fronfasten geborenes Kind ist geistersichtig, wickelt man es aber sogleich
in Windeln und legt es unter die Stubenbank , so wird Alles verhütet .
Nach Ansicht der Italiener muss das Kind gleich nach der Geburt auf den
Boden gesetzt werden , sonst wird es im Hospital verkommen . Ein Kind
darf man , wie es in der Oberpfalz und Rheinpfalz, in Schwaben, im Vogtland ,
im Spessart, in Böhmen, Schlesien , Berlin etc. heisst, nicht in den Regen tragen ,
sonst bekommt es Sommersprossen . Ebensowenig darf man das Kind in
den Spiegel schauen lassen , sonst würde es, wie es im Vogtland, Erzgebirg,
in der Rheinpfalz heisst, eitel, oder wie die Schweizer sagen , ein Narr, oder
wie die Oberpfälzer meinen , leichtfertig , oder es lernt, wie die Mecklenburger
behaupten , schwer sprechen .
Gewisse Zeichen an Neugeborenen hält man für höchst bedeutungsvoll.")
In Böhmen meint man : Kinder mit langem Haar geboren werden bald sterben ,
Kinder mit kurzem Haar an der Hand geboren werden reich , Kinder mit
einem Fleischgewächs an der rechten Hand geboren werden stark . Sowohl in
Mecklenburg wie in Oesterreichisch -Schlesien sagt man : Ein Neugeborenes,
das eine blaue Ader auf der Stirn (zwischen den Augen quer über der
Nase ) hat, stirbt bald . In der Schweiz fürchtet man , dass das Kind
bald stirbt, wenn die Stirn beim Küssen ' salzig schmeckt; in Unter
franken u . S. W. bält man in solchem Falle das Kind für beschrieen
(Band I. Seite 48 und 130 ).
Zwei Kinder unter einem Jahr dürfen sich nicht küssen ,, sonst würden
sie, wie es im Erzgebirge heisst, sitzen bleiben und nicht wachsen, oder,
wie man in Königsberg i. Pr. und in Mecklenburg behauptet, sie lernen
schwer sprechen oder bleiben sogar stumm . Im Vogtland lässt man zwei
noch nicht ein Jahr alte Kinder nicht mit einander spielen , sonst lernt eines
von ihnen schwer reden . Ein neugeborenes Mädchen muss, nach Mecklen
burger Regel, die Mutter, einen Knaben der Vater zuerst küssen , sonst
bekommt das Mädchen einen Bart, der Knabe aber nicht. In Italien heisst
es: Ein Kind , das man zum ersten Male sieht, muss man mit dem Spruche
anreden : ,,Ich hab dich nie gesehen , mag dir kein Leid geschehen ,“ und
dann auf die Stirn küssen (W. Kaden). In Königsberg hütet man sich , die
Fusssohlen eines Kindes zu küssen , weil das Kind dann später keine
Achtung vor seinen Eltern haben würde.
Ein fast gleichmässig über ganz Deutschland verbreiteter Aberglaube
ist folgender : Ein Kind , über das man hinwegschreitet oder das man
durch die gespreizten Beine hindurchkriechen lässt, wächst von da an nicht
mehr ; man findet diese Meinung in Oldenburg , Mecklenburg, Rügen , Schle
1 ) Vergl. oben Bd. I. S. 43: „ Merkmale an Kindern als Zeichen für dessen Zukunft.“
206 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
dreimal an den Mund gedrückt, dadurch wird das Kind beherzt und rede
fertig . Bei den Serben im Belgrader Kreise hat sich nach Nik . J. Petro
witsch noch folgende Sitte erhalten : Wenn das Kind das erste Mal in ein
fremdes Haus gebracht wird , so bekommt es beim Weggehen ein Ei und
ein Stück Zucker . Es soll so rein sein wie das Ei, so süss wie der Zucker.
In Oesterreichisch-Schlesien sagt man : Wenn Jemand , der bei der Com
munion war, dem Kinde nüchtern in den Mund haucht, so lernt das Kind
früher reden . Bei den Serben darf das Kind kein Geflügel essen , welches
nicht schon gekräht hat, sonst wird das Kind sehr lange stumm bleiben .
Will man , dass das Kind bald spricht, so soll man ihm aus einer Glocke
Wasser zu trinken geben , welche die Kühe tragen . Oder man stiehlt aus
einem Zigeunersacke ein Stückchen Brod, welches man dem Kinde zu essen
giebt. Viele backen in der Mühle einen Kuchen für das Kind und mischen
in diesen Kuchen auch ein wenig Holzstaub von dem „ Geklapper,“ d. h .
von jenem Holze, welches an den Mühlstein schlägt, damit das Getreide in
die Mühle fällt. ") Andere Mittel benutzt man in Böhmen : Schwersprechenden
Kindern schlägt der Pathe mit einem neuen Löffel dreimal über den Mund ,
oder man giebt ihnen Lerchenzungen . Wenn ein Kind, so heisst es in
Königsberg i. Pr., von der Taufe kommt, muss Einer der Angehörigen einen
Pathenbrief aufmachen , und diesen mit dem darin liegenden Gedichte oder
Gelde drei Kreuze durch den Mund des Kindes ziehen , damit dieses leicht
sprechen lerne (Mittheil. des Prof. Hildebrandt.). In Italien schliesslich
behauptet man : Stottern lernt das Kind, wenn man ihm nicht, nachdem es
von der Brust entwöhnt worden , das erste Mal aus einer Klingel zu trinken
giebt (W.Kaden ).
Es gilt als sehr schädlich für das Kind , wenn eine Wöchnerin spinnt,
denn, so heisst es in der Schweiz , sie spinnt ihrem Kinde Garn zum Strang.
Auch in Altpreussen unterlässt man bei ungetauften Kindern das Spinnen
und Weben . In Königsberg darf das Kind nicht über ein Spinnrad gereicht
werden , da es sonst später stiehlt.
Ein sehr allgemein adoptirter Grundsatz, der namentlich in Schwaben ,
Kärnthen und Ostpreussen angetroffen wurde, lautet : Fremden darf man das
neugeborene Kind nicht zeigen . Wenn man ein Kind ,, Ding“ nennt, oder
„ Kröte,“ oder „ Kraw " (Krabbe), so nimmtman , wie's in Mecklenburg heisst,
ihm auf 9 Tage das Gedeihen hinweg . Von Demjenigen, was beim Tauf
gange und bei der Taufe zu beobachten ist, sprachen wir schon Bd. I. S. 211
und fügen hier nur dazu : Wenn man das Kind zur Taufe aus der Stube
trägt, so legt man zuvor ein Gebetbuch auf die Thürschwelle, dann wird
das Kind klug (Frankenwald ); weint das Kind bei der Taufe , so wird es
gross und mächtig, schreit es, so wird es nicht bald sterben ( Böhmen); der
Priester muss den Glauben bei der Taufe aufmerksam beten , sonst spricht
das Kind stets im Schlafe ( Böhmen ) ; wenn man bei der Taufe dem Kinde
einen Engerling in die Hand giebt, so kann es den Wurm am Finger (Pa
naritium ) heilen (Schwaben ).
Neugeborenen giebt man etwas Geschriebenes in die Hand, dann werden
sie sehr klug (Oldenburg , Münsterland). Von 7 nacheinander geborenen
Knaben ist der jüngste ein geborener Heilkünstler, der durch Handauflegen
alle Schäden heilen kann, dem auch Alles gedeiht, was er anfasst (Mecklen
burg ). Wenn Eltern 7 Kinder haben, so ist das letzte ein Wunderkind und
kann mit dem blossen Schlag seiner Hand heilen (deutsche Schweiz ). Kinder ,
nach dem Tode des Vaters geboren , haben die Kraft , die Blindbäutchen , so
auf kranken Augen wachsen , drei Feiertage nacheinander abblasen zu können
(deutsche Schweiz ).
Dem in Norddeutschland herrschenden Aberglauben gemäss legt man
das Kind , damit es bald laufen lernt, am Johannismorgen nackt auf den
Rasen und säet über seinen Körper Leinsamen ; wenn die Saat aufgeht, d . h .
zu laufen " anfängt, fängt auch das Kind an zu laufen (Oldenburg); oder
man übersäet es im Frühling mit Sommergerste (Ostfriesland) ; hiermit
hofft man , dass die Lebenskraft des Getreides auf das Kind übergeht. In
Brandenburg und Ostpreussen nimmt der Pathe das Kind an der Hausthür
und läuft mit ihm so schnell als möglich zur Kirche , dann lernt das Kind
früh laufen . In Schwaben lässt man Kinder, die nicht laufen lernen, über
„ gehenden " Teig hinwegschreiten ; im Vogtlande setzt man sie auf einen Esel.
Man darf das Kind nicht mit einer aus Besenreis verfertigten Ruthe
oder mit einem Besen schlagen , sonst wächst es nicht mehr und zehrt ab ;
so sagtman in Baiern , Böhmen , Schlesien , in der Lausitz u. S. W. Vor einem
Jahre, so sagen die Serben, soll man das Kind nicht schlagen oder an den
Fusssohlen kitzeln , sonst wird das Kind nicht wachsen ; man darf ihm kein
Ei in die Hände geben , denn sobald es ein solches in den Händchen gehabt
hat, sieht das Kind immer auf die Hände und spielt mit denselben. Mit
Blumen darf man das Kind nicht schmücken, denn das Kind an sich ist die
schönste Blume (Petrowitsch). Ein Kind auf den Mund zu schlagen
gilt in Schlesien für sehr gefährlich , da es sonst nicht sprechen lernt. Auch
sagt man dort und in Thüringen : Kinder unter einem Jahre soll man über
haupt nicht bestrafen , sonst fruchten später Schläge nichts. Ein Kind mit
dem Zweig einer Haselstaude geschlagen , wächst nicht mehr ; wird ein ein
jähriges Kind schon geschlagen , so kann es nicht mehr aufgezogen werden ;
ein Vater , der sein Kind mit Füssen treten will, ziehe zuvor die Schuhe aus,
sonst macht ihm der Teufel die Füsse schwarz . Während diese Sätze vor
zugsweise in der Schweiz heimisch sind, wird ein Spruch fast überall in
Deutschland gehört: Einem Kinde, das die Eltern schlägt, wächst die Hand
aus dem Grabe.
Hinsichtlich der Behandlung des Haares heisst es in Wettin : Das Kind
muss zum erstenmale mit einem neuen Kamme gekämmt werden , so bekommt
es starkes Haar. In Ostpreussen und Böhmen aber darf während des ersten
Jahres das Haar gar nicht gekämmt, sondern nur gebürstet werden , auch
1. Sympathetische Behandlung des gesunden Kindes.
209
nicht beschnitten , sonst stirbt das Kind . In der Schweiz heisst es, dass man
ein Kind des Morgens nicht kämmen dürfe , sonst hat es einen verworfenen
Tag und ist den bösen Leuten verfallen ; auch dürfen vor dem 7. Jahre dem
Kinde die Haare nicht geschnitten werden , sonst kommt es nie zu Kräften ;
und schliesslich dürfen die erstgeschnittenen Haare nicht verbrannt werden ,
sonst kann es nicht gedeihen .
Wenn Kinder im Schlafe lächeln , so spielen sie , wie man in Oester
reichisch -Schlesien meint, mit den Engeln ; oder so sagt ihnen , wie sich der
Schweizer vorstellt , ein Engel ein Freudelein in's Ohr. Daselbst heisst's
ferner : Wenn kleine Kinder auf eine Stelle hinschauen , so betrachten sie
ihren Schutzengel; ein Kind kann sich selbst in seinem linken Händchen be
sehen , so lange es noch in keinen Spiegel geschaut hat. Die ofterwähnte
,,Gestriegelte Rockenphilosophie" (von Prätorius) berichtet aus alter Zeit
Folgendes : „ Wenn die Kinder im Schlafe lächeln und die Augen verdrehen ,
so heisst's : das Jüdel lässt sie nicht ruhen , oder das Jüdel spielt mit ihnen;
dagegen hilft nun ein besonderes Mittel: Es soll ein neues kleines Töpfchen
und ein Quirlchen gekauft und so theuer bezahlt werden , als es geboten
wird ; dabinein wird Etwas von des Kindes Badewasser gegossen und auf
den Ofen gestellt; damit soll das Jüdel spielen und das Wasser hinaus
plätschern , bis Nichts mehr im Töpfchen ist.“ Auch heisst's in jenem
Buche, das den alten Aberglauben aufsammelt : Einen neugeborenen Knaben
muss man mit den Füssen vor seines Vaters Brust stossen, dann wird er
,, nimmer kein böses Ende nehmen ;" ein neugeborenes Mädchen sollman als
bald auf die Brust der Mutter setzen und sagen : „ Gott mache Euch zu einer
guten Frauen !“ so soll das Kind niemals zu Falle kommen .
Ein Kind unter einem Jahre lässt man im Erzgebirg nicht an Blumen
riechen , weil ihm das den Geruch benimmt. Im Vogtland vermeidet man ,
ein kleines Kind auf den Abtritt zu tragen , sonst bekommt es einen üblen
Athem ; ebenso scheut man sich , es auf den Gottesacker zu tragen , sonst
würde es bald sterben . In der Schweiz darf man das Kind wenigstens nicht
allein am Abtritt sitzen lassen , sonst nimmt's der Hoggemann. Dort sagt
man auch im Volke: Einem Mädchen muss man als ersten Marktkram einen
Fingerhut mitbringen, damit es gut nähen lerne; und wenn man dem Kinde
das erste Paar Schuhe anzieht, so sagt man folgendes Sprüchlein :
„ Schüehli und Füessli, thủend ech paare,
Thüend recht mit enander fahre,
Und enande nie verloh,
Eh's Büebli mott i's Bettli goh."
1) Küchenmeister u . Ploss, Zeitschr. für Medicin , Chir. und Geburtsh . N. F. Bd. V. 1866 .
S. 116. Thierfelder's Aufsatz .
2 ) Antiquitatum veteris puerperii synopsis. Amstelodami 1626 . S. 164 .
3 ) Treichel, Zeitschr. f. Ethnol. XIII. Bericht der Berliner Anthrop. Gesellsch. S. 23, 34 , 85.
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 213
nennt, grosses Ungemach in die Familie dadurch , dass sie, wie man sagt, in
die Häuser und in ihrer Verkleidung als Schmetterlinge oder Hühner dringen
und besonders Kindern das Herz stehlen , um es zu essen . Mit einem Stäb
chen schlagen sie auf die linke Brustwarze ihres Opfers ; die Brust öffnet
sich , sie reissen dem Schlafenden das Herz aus dem Leibe und verzehren
es, worauf sich die Wunde wieder schliesst, ohne eine Spur zu hinterlassen .
Ein solches Kind stirbt entweder sogleich oder nach längerem Siechthum ,
je nachdem es ihm die Zauberin bestimmt. Ausser diesen Greuelthaten
schreibt ihnen der Aberglaube noch die Ursache mancher Kinderkrankheiten
zu . Findet man den todt daliegenden Körper einer solchen Unholdin und
legt man denselben mit den Füssen dorthin , wo früher der Kopf lag , so
wacht sie nimmer auf und kann also keine Hexereien mehr treiben . Aber
auch dieses Mittel wird nicht angewendet; das Volk glaubt nemlich , eine
Hexe könne nicht mehr schaden , wenn sie einmal ihre Zauberei eingestan
den ; dann werde sie eine kräuterkundige Frau, die den durch Zauberei Be
schädigten Hülfe bringen könne.
Wenn daher früher in der Herzegowina unter den kleinen Kindern
Krankheiten und grosse Sterblichkeit herrschten , versammelten sich nach
Bogisic alle männlichen Dorfbewohner , welche das Gewehr tragen konn
ten , und der Ortsälteste sprach etwa folgendermaassen : „ Seht, Ihr Brüder,
die Spur der herzlosen Zauberinnen, Gott richte sie ! Morgen früh führe
Jeder seine Frau oder Mutter, wie ich es mit der meinigen thun werde, zur
Quelle (Cisterne , zum Teich oder Fluss), dass wir sie in's Wasser werfen ,
damit wir sehen , welche Hexen sind , und wir sie steinigen oder sie uns
schwören, kein Unheil mehr anzurichten . Wollen wir es thun , Brüder ?"
Alle antworten einstimmig : „ Wir wollen es gewiss !" Am folgenden Mor
gen führte Jeder die Seine an das Wasser , band ihr einen Strick um den
Leib und warf sie dann in's Wasser . Diejenigen , welche untersanken , wur
den schnell herausgezogen , sie waren keine Zauberinnen . Jene aber, welche
oben schwammen , waren Hexen . Doch zur Strafe der Steinigung kam es
nicht, man begnügte sich mit dem Schwure derselben , nicht mehr zaubern
zu wollen. ")
Manche in Slavonien herrschenden Gebräuche sind sehr sonderbar,
doch muss man unwillkürlich die dabei auftretende Frömmigkeit respectiren .
Man findet es z. B. lächerlich , wenn man in dem Orte Oresac ganze Kara
vanen von Wagen mit festlich geputzten Leuten griechisch - orientalischen
Glaubens daherziehen sieht, die alle zum sveti bunar (heiligen Brunnen ), einer
starken Quelle mitten im Orte , eilen , um ihre kranken Kinder in deren
Wasser zu baden und dann Tücher von allen Farben und sogar Fetzen
auf die umstehenden Bäume zu hängen ; man wird aber wieder gerührt,
wenn man die Inbrunst und Ergebenheit sieht, mit der die armen Leute für
die Genesung der Kinder beten.2)
1) Bogisic , Zbornik pravnih obicaja u juznih Slovena. Agram 1874. S. 560.
2 ) E.Kramberger im Globus 1881. Bd. 39. S. 333.
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 215
Schreit bei den Serben das Kind beständig, so wird dies als eine be
sondere Krankheit, „ Wriska,“ betrachtet. Von dieser Krankheit und von
dem nächtlichen Auffahren aus dem Schlafe befreit man es auf die Weise ,
dass man das Kind mit Viehkoth , welchen man auf einem Dorn gefunden
hat, unter dem Arm , zwischen den Beinen , um den Körper und um den
Kopf anräuchert. An manchen Orten wird zum Anräuchern das Haar vom
Vater und von der Mutter gebraucht. Viele lösen den angebrannten Docht
der Kerze in Oel und geben dies dem Kinde zu trinken . Auch folgendes
Mittel wird angewendet: Wenn der Mond untergehen will , wird das Kind
Abends vor das Haus gebracht, dann dreimal in die Luft gehoben , und alle
dreimal spricht die Mutter : „ Der Mond geht hinter den Wald und das Ge
schrei meines Marko (oder wie der Name des Kindes ist) in den Wald .“
Oder wenn man an einem Wasser am andern Ufer Feuer sieht, trägt man
das Kind herans, nimmt in einem grünen Teller etwas Wasser und ein Stück
brennendes Holz . Während man das Holz in das Wasser steckt, spricht
die Mutter : Wila (eine Art Nymphe ) verheirathet ibren Sohn und ladet
meinen Palve (oder wie das Kind heisst) zur Hochzeit ein . Ich schicke
ihr nicht den Palve , sondern sein Geschrei.“ Dies macht man dreimal und
dann giebt man dem Kinde aus dem grünen Teller Wasser zu trinken , so
viel es kann; das Uebrige wird auf eine Katze oder auf einen Hund ge
gossen ; der Teller muss umgekehrt auf der Erde übernachten . In der Po
zerina wird auch das Mittel angewandt: Die Mutter nimmt eine Feuerschaufel
und einen Tiegel und trägt dies dreimal um das Kind herum , sprechend :
„ Laufe das Geschrei fort, es jagt dich das mütterliche Werkzeug.“ Wenn
das Kind bei den Serben Leibschmerz bekommt, dann giebt man ihm in der
Muttermilch aufgelösten Weihrauch zu trinken . )
Ein breiter Strom von Aberglauben fliesst auch auf diesem Gebiete aus
frühesten Perioden germanischen Volkslebens herüber in die Neuzeit.
Weber ) und A. Kuhn 3) haben gezeigt, dass sich im Atharva -Veda Be
schwörungsformeln gegen Krankheiten finden , welche einzelnen noch heute
in Deutschland benützten Bannsprüchen gegen Blutung , Alp u . s. w . ähn
lich sind . Im Verlaufe der Jahrhunderte ist gewiss noch so manches dazu
gekommen . Schliesslich ist die Mannigfaltigkeit der Formeln bis auf den
heutigen Tag eine so grosse geworden , dass man aus den in allen Gauen
Deutschlands aufgesammelten Zaubersprüchen , die gegen alle möglichen
Krankheiten helfen sollen, eine ganz ergebnissreiche Aehrenlese halten könnte.
Die Krankheit ist in den Augen des Volkes einfach die Wirkung eines bösen
Dämons; auch suchte schon in ältester Zeit der kundige Beschwörer den
Plagegeist, die Krankheit, durch Verfluchung, Drohen oder Bitten zum Ver
lassen des ergriffenen Körpers zu nöthigen . Die unteren Schichten des
Volkes , die sich noch immer solcher Mittel mit Vertrauen bedienen , stehen
1) Diejenigen, welche sich ausführlicher über die hier besprochene Angelegenheit unterrichten
wollen, verweise ich aus der reichhaltigen Literatur unter Anderen auf folgende, von mir zum grössten
Theil benutzte Schriften : Most, Sympathetische Mittel, 1842 (letzte Aufl. 1877 ). H. Frischbier,
Zauberspruch und Zauberbann. Berlin 1870 . Fr. Pauli, Die in der Pfalz und den angrenzenden
Ländern üblichen Volksheilmittel. Landau 1842. W. Brenner -Schäffer , Darstellung der sani
tätlichen Volkssitten und des medicinischen Volks-Aberglaubens im nordöstlichen Theile der Oberpfalz.
Amberg 1861. S. 25. M.R. Buck , Medicin . Volksglauben und Volks-Aberglauben aus Schwaben .
Ravensburg 1865. S. 60. – J. Wolfsteiner, Volksmedicin in Oberbaiern ; in „ Bavaria " II. - Fr.
Chr. Schmidt, Volksmedicin im bairischen Schwaben ; in „ Bavaria“ II. 2. – Flügel, Volksmedicin
und Aberglaube im Frankenwalde. München 1863. G. Lammert, Volksmedicin und medicin .
Aberglaube in Baiern . Würzburg 1869. – Fr. Schönwerth , Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen .
Augsburg 1869. III. S. 226 . E. Mühlhause , Die aus der Sagenzeit stammenden Gebräuche der
Deutschen, namentlich der Hessen . Kassel 1867. S. 73. E. L. Rochholz, Alemannisches Kinder
lied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857. S. 332. 340. J. A. E. Köhler, Volksbrauch ,
Aberglauben , Sagen und andere alte Ucberlieferungen im Vogtland. Leipzig 1867. S. 349 u. 403.
F. Schmidt, Sitten und Gebräuche etc. in Thüringen . 1863. M. Spiess, Aberglauben , Sitten
und Gebräuche des sächs. Obererzgebirgs. I1862. Grohmann , Aberglauben und Gebräuche aus
Böhmen und Mähren (aus Beitr, zur Gesch. Böhinens). Prag und Leipzig 1864. S. 147. A. Peter,
Volksthümliches aus Oesterreichisch -Schlesien . Troppau 1866-67. S. 227. – Fromm und Struck ,
Sympathien und andere abergläubische Kuren , im „ Archiv für Landeskunde in den Grossherzogthümern
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 217
Kranken Kindern darf die Mutter die Arznei nicht mit spitzem Messer umrühren
oder auf der Messerspitze eingeben , sonst bekommen sie Magenschmerzen.
Ein krankes Kind wird in Oesterreichisch-Schlesien in die Brautschürze
der Mutter gehüllt, worauf man hofft, dass es gesund wird . In Oberfranken
wird das kranke Kind auf zwei Bänke gelegt, dann vom Pathen dreimal
unbeschrieen um den Tisch getragen und wieder in sein Bett gelegt. Ist
dem Kinde die Ruhe genommen, d . h. schreit es fortwährend, so kehrt man
im Vogtland (Oelsnitz) den Kehricht in der Stube kreuzweise zusammen in
die Mitte der Stube und bringt ihn dann dem Kinde unter den Kopf.
Gegen die Schlaflosigkeit des Kindes wendet man in Böhmen folgende
Mittel an : Man giesst siedendes Wasser in eine Schüssel, setzt darauf einen
umgestürzten Topf; wenn sich das Wasser in letzteren zieht, so schläft das
Kind wie gewöhnlich . Oder man giebt dem Kinde ein getrocknetes Schläfen
bein eines Fisches ein . Oder man hackt auf den Holzklotz mit dem Beil
und legt letzteres in die Wiege. Oder die Mutter kriecht auf allen Vieren
in der Stube umher und wiederholt den Spruch : „ Ich suche den Schlaf dir;
liebes Kind," bis es einschläft. Bei den Wenden in Hannover legt man zur
Beseitigung der Schlaflosigkeit Eulenfedern in's Bett des Kindes.
Das Schweizer Volk kennt eine grosse Zahl sinnloser Hausmittel
gegen die mannigfachsten Kinderkrankheiten . In alten Schweizer Arznei
büchern (z. B. Muralt , Hippokrat. helvet. Basel 1692) wurden dem Volke
dergleichen Mittel theils nacherzählt , theils gelehrt. So heisst es unter An
derem : Wenn die jungen Kinder so hart verstopft, also , dass ihnen der
Leib aufläuft, so gieb ihnen ein wenig Mäusekoth mit der Muttermilch ein .“
Mecklenburg." Bd. XIV . 1864. S. 497. M. Töppen , Aberglaube aus Masuren . Bremen 1854.
2. Aufl . 1867. L. Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg. 1867.
1. Bd . S. 70. Eine reiche Auswahl der bei Kinderkrankheiten im siebenbürger Sachsenlande ge
bräuchlichen Zauberformeln , die in ihren Anfangszeilen meist in's heidnische Alterthum zurückgehen,
während der Schluss derselben spätere christliche Zugabe ist, enthält das treffliche Buch von Schuster,
Siebenbürgisch -sächsische Volkslieder. Hermannstadt 1856 . Vgl. des Verf.'s Aufsätze in : Cor.
nelia , Zeitschr. für häusl. Erziehung : Der Aberglaube an der Kindeswiege. Jahrg.1871. S. 100 ; und :
Ueber sympathetische Kuren bei Kinderkrankheiten , Jahrg. 1872. S. 103. A. Wuttke, Der
deutsche Volksaberglaube; 2. Bearbeitung. 1869. S. 338. Englisches in : J. Harland and T. J.
Wilkinson , Lancashire Folk -Lore, London 1867. S. 72: W.Henderson , Notes on the Folk -Lore
of the Northern Counties of England and the Borders. London 1866 . S. 108 . Französisches in :
Aug. Hock , Croyance et Remèdes populaires au pays de Liège (Mém . couronné). Liège 1871. –
Italienisches in Wold, Kaden , Skizzen und Culturbilder aus Italien . Jena 1882. S. 86. Wendisches
in : W. von Schulenburg , Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin 1882. S. 93 .
218 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
Manche Mittel mögen aus sehr alter Zeit stammen und gehören unter die
jenigen sympathetischen Kuren , die aus mythischen und mystischen Ge
bräuchen hervorwuchsen. So legt man beispielsweise dem Kinde , das an
Schlaflosigkeit leidet, den Schlafapfel, Spongia cynobasti, „ Rosmies" genannt,
unter das Kissen ; noch häufiger nimmt man die Baummistel und braucht sie
als Schlafdorn , dann heisst sie Schlafkuntz ; auch bestreicht man dem Kinde,
das den Schlaf nicht finden kann , die Schläfe mit dem Absud von Mandra
gorawurz. Gegen Gespenster und Alpdrücken (Toggeli) legt man Arum
maculatum (Aronchrut) unter Hausschwelle und Wiege; und hat das Kind
verdorbenes Geblüt, so backt man ihm das Kraut in einen Kuchen , der
Aronetôtsch heisst. Wenn ein Kind den fressenden Hätticher hat, (die „ ettig "
oder „ schwinend sucht,“ franz. l'étique) , so hält man sich einen Kreuzvogel
und lässt es aus des Vogels Geschirr trinken . Auch sagt man : 77 Päonien
körner als Halsblätterli umgethan , helfen dem Kinde vom „ Freischlich , Kinds
wehe, Kindergichter ." Dieses Freischlich der Schweizer ist wohl das oben
erwähnte Flaschlich im Frankenwalde . Und gegen das „ Kinderweh “ legt
man ihm einen Hufnagel unter's Kopfkissen.
Gegen das „Abnehmen“ wird das Kind in der Rheinpfalz mit dem
sogenannten „ Abnehmekraut" am ganzen Leibe gewaschen . In Oldenburg
werden an Abzehrung leidende Kinder durch ein Bündel rohes Garn gesteckt,
oder man giebt ihnen etwas „ Erbsilber“ ein , das man sich verschafft, wenn
man von einem in der Familie vererbten Silbergeräth etwas abschabt.
Kinder mit englischer Krankheit ( doppelte Glieder , Rhachitis und
Scrophulosis) werden von klugen Frauen mit ganz sonderbaren Mitteln
behandelt : in Ostpreussen giebt man dem Kinde den gepulverten Magen eines
Habnes in Rothwein , oder trägt das Kind dreimal um die Kirche und haucht
dabei jedesmal durch das Schlüsselloch der Kirchthür; in Ostfriesland über
säet man das Kind im Frühjahr mit Sommergerste , und in Oldenburg wird
das Kind am Johannismorgen nackt in den Rasen gelegt und dann säet man
über dasselbe Leinsamen , denn das Kind fängt an zu laufen , wenn die Saat
aufgeht. Krumme Beine der Kinder heilt man in Böhmen dadurch , dass
man die kleinen Krummbeinigen früh vor Sonnenaufgang im Mai auf der
Wiese im Thau umherführt.
Eine ganz eigenthümliche Manipulation ist in vielen Gegenden Deutsch
lands nicht blos als Heilmittel gegen Rhachitis , sondern auch gegen alle
Verkrümmungen und andere Leibesschäden gebräuchlich : Die kleinen Pa
tienten werden mehrmals durch den Bogen einer Baumwurzel oder eines ge
spaltenen Baumes gezogen. Diese Methode hängt offenbar mit einem alt
germanischen Glauben zusammen , auf den Jacob Grimm aufmerksam macht.
Unsere Ahnen nemlich meinten , bösen Zauber dadurch abzustreifen , dass der
Leidende durch einen Baumspalt, durch ein Erdloch oder durch einen durch
brochenen Felsen sich zwängen musste.
Einem an Bräune leidenden Kinde wird in Mecklenburg ein carmoisin
rother Faden von Seide, mit welchem man eine Natter (Coluber Natrix ) er.
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes . 219
1) Fronius, Bilder aus dem sächs. Bauernleben in Siebenbürgen . Wien 1879. S. 33.
-
-
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 221
dem Kinde Milch auf einen Löffel, mischt Russ aus der Lichtscheere in die
selbe und giebt's dem Kinde zu essen ; oder sie giebt ihm drei Kohlen von
dem Herde im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit zu verschlucken ; oder sie
bindet dem Kinde einen Streifen von ihrem eigenen Brustkleide um die Hand
wurzel. Ein in vielen Gegenden Deutschlands geschätztes Mittel gegen
Kinderfraisen besteht im Auflegen lebender Thiere auf verschiedene Theile
des Körpers. Der von Federn entblösste After einer lebendigen jungen
Taube wird an den After des 1/2—21/2 jährigen Kindes befestigt, welches
während dieser Operation auf der Seite liegen muss . · Die Taube stirbt an
immer gesteigerter Athemnoth oft schon nach 5 Minuten , bleibt aber auch
zuweilen am Leben . Im ersteren Falle wiederholt man die Kur, indem man
eine zweite und dritte Taube aufbindet. Das Kind soll bald darnach in
ruhigen Schlaf verfallen und genesen. Diesen Verfahrungsweisen liegt wohl
ein altgermanischer Glaube an Uebertragung der Krankheit auf Thiere
zu Grunde.
Einer anderen krankhaften Erscheinung am Kinde, den Unterleibs
brüchen , setzt man eine ebenso mysteriöse Therapie entgegen. In Unter
franken und vielen anderen Gegenden Deutschlands wird das bruchkranke
Kind in einer Johannis-Nacht stillschweigend durch einen gespaltenen jungen
Eichenbaum mit dem Kopfe voran gesteckt unter dem Spruche : „ Im Namen
des Vaters etc.“ In Oldenburg übt man dasselbe Verfahren , doch müssen
dort die mitwirkenden drei Personen sämmtlich Johann heissen . Nach Be
endigung der Ceremonie wird der Baum verbunden , und wenn die Spalte
des Baums verwächst, so heilt der Bruchschaden . In Mecklenburg darf der
hierzu benutzte Baum nicht umgehauen werden , sonst stirbt das Kind. In
Baiern (insbesondere in der Gegend von Ochsenfurt) hat man folgende Me
thode der Bruchheilung: Man nimmt einen Nagel von einem Hufeisen , das
ein Pferd verloren hat, und geht damit, wenn das Neulicht auf einen Freitag
eintritt, Morgens früh vor Sonnenaufgang auf das Feld und zwar, wenn das
Kind ein Knabe ist, zu einem Eichbaum , wenn es ein Mädchen ist, zu einem
Birnbaum , schlägt mit einem Hammer den Nagel gegen Sonnenaufgang in
den Baumstamm und zwar mit drei Streichen . Beim ersten Schlage spricht
man : „ Jesus geboren ," beim zweiten : „ Jesus verloren ," beim dritten : „ Jesus
wiedergefunden heilet jetzt N. N. (hier wird der ganze Name des Kindes ge
nannt) des Kindes gebrochene Wunden.“ † † † Darnach kniet man nieder
und betet ein Vaterunser, An abgelegenen Waldstellen bindet man im
Frankenwald zu gleichem Zweck Holzäste oder Bäumchen kreuzweise zu
sammen , damit es zusammenwachse. Im Aischgrunde setzt man , um den
Nabelbruch zu beseitigen , eine Meerzwiebel in einen Blumentopf, und lässt ,
anstatt dieselbe zu begiessen , das Kind darauf harnen .
Aus der Schweiz kenne ich etwa 5 Methoden der Bruch heilung : Das
Kind wird durch eine gespaltene Birke hindurch gesteckt, doch muss man
einen Sperling dazwischen legen. Auch nimmt man von jedem Nagel an
Hand und Fuss des Kindes, dazu etliche Härchen vom Wirbel, thut's in
222 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
ein Zettelchen mit des Kindes Namen , schiebt's in das Bohrloch einer jungen
Eiche, das man mit Wachs verschliesst. Nach einer anderen Methode be.
rührt man mit einem Sargnagel die Weiche des Leibes , stellt den Kranken
barfuss vor einen Eichenstamm und schlägt den Nagel dicht über dem Kopf
in den Baum ; dazu sagt man : ,,Eiche heilt Verhärtung.“ Oder der Vater
des Kindes lässt sich vom Pathen ein Stück Silbergeld geben , ohne zu sagen ,
wozu ; dies schlägt der Vater in den drei höchsten Namen mit drei Streichen
in einen Süssapfelbaum ; sobald der Hieb am Stamm verwächst, ist auch der
Bruch geheilt. Ein complicirteres Verfahren ist endlich folgendes : Man
streicht ein Ei, warm aus dem Neste genommen , etlichemale auf den Bruch ,
dann lupft man die Rinde vom Lindenbaum , bohrt darunter ein so grosses
Loch , als das ganze Ei braucht, und überklebt's mit Baumharz ; drei Mo
nate darauf, drei Tage vor Neumond , bohrt man in eine Eiche bis auf den
Kern und legt die Bohrspreu in einem Säcklein drei Tage lang, bis das neue
Mondviertel eintritt , auf den Leibschaden ; hierauf steckt man Alles in das
Bohrloch der Eiche und verklebt dieses mit Kubkoth ; ist der Schaden in
drei Monaten noch nicht heil, so geht man zum dritten Baum , etwa an die
Pappel. Dies Verfahren nennt man : „ Die Krankheit transplantiren ."
Ein solches „ Uebertragen “ von Krankheiten auf Pflanzen findet
noch in anderer Weise statt und ist unzweifelhaft ein uralter germanischer
Brauch . So gräbt man bei Leibesschäden kleiner Kinder in Baiern nach der
,, Bruchwurzel" drei Tage vor dem Neumond mit dem Spruche:
„ Wurzel, ich grab' dich in Gottes Macht,
Dass N. N. sein Leibesschaden vergehen soll mit Gottes Kraft !"
Beim Neumond werden drei Knollen der Wurzel dreimal auf den Leibes
schaden gedrückt mit dem Spruch :
„ Wurzel, ich drück ' dich u . s. w .
im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes !“
Dabei werden mit den Fingern drei Kreuze auf die Gegend des Schadens ge
macht; drei Tage nach dem Neumond wird schliesslich die Wurzel mit dem
selben Spruche, wie beim Ausgraben , wieder eingegraben .
Wir nannten hier das „ Uebertragen der Krankheiten auf Pflanzen einen
germanischen Brauch . Allein ganz Aehnliches wiederholt sich in Amerika;
wir finden auch wieder in solchen Parallelen gleichlaufende psychische Richtung
im Leben und Denken der Völker. Wenn in der argentinischen Republik der
kaum vernarbte Nabel eines Neugeborenen wieder aufzubrechen droht, so
setzt man dessen Füsschen auf die Rinde eines Ombú (Pircunia dioila ) oder
eines Tala -Baumes und schneidet sodann vom Baume den Theil los, den die
Fusssohle bedeckt. ")
Noch eine andere Art der sympathetischen Uebertragung von Krankheit
kommt häufig in Deutschland vor.
Wer kennt nicht die mannigfachen sympathetischen Kuren gegen Warzen :
Man bringt sie oft genug bei Kindern in Anwendung , und eine Kur, die
1) Mantegazza , Globus 1880. Nr. 21. S. 334.
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 223
wenig von Nächstenliebe zeigt, ist folgende : die Warze wird mit einem Geld
stück berührt und dieses zum Fenster hinausgeworfen ; derjenige, welcher
das Geldstück aufhebt, bekommt die Warzen , der Andere verliert sie. Hier
will man also die Krankheit auf andere Menschen übertragen. Aehn
liche , in Oldenburg heimische Methoden der Warzen -Uebertragung auf
Menschen findet man bei Strackerjan. )
Wenn sich ein Kind durch Fallen oder Stossen eine Beule zugezogen
hat, so gilt nicht blos bei uns, sondern auch bei vielen anderen Völkern als
bestes Heilverfahren das Zerquetschen oder Verreiben der frisch entstandenen
Geschwulst; die Mütter bedienen sich hierbei entweder der Finger oder eines
Löffels, singen auch dazu beruhigende Kinderlieder, die namentlich in Thü
ringen und in Süddeutschland beliebt sind ; im Preussischen sagt die Mutter
beispielsweise :
„ Heil Heil und Segen,
Drei Tage Regen.
Drei Tage Schnee,
Thut nicht mehr weh ."
Hand giebt. Nur in Einer Beziehung kann man dem Aberglauben Gutes
nachsagen : er gewährt sorgenvollen Gemüthern Erleichterung. Und schon
Grimm schloss sein Kapitel über den Aberglauben mit den Worten : Wir
sind froh, des vielen Aberglaubens ledig zu sein , doch erfüllte er das Leben
unserer Vorfahren nicht allein mit Furcht, sondern auch mit Trost.
Die Kinderstuben -Medicin kennt eine Menge Mittel, welche der physio
logischen Entwickelung der Zähne förderlich sein sollen , die jedoch der
rationelle Arzt als Ergebnisse des Volksaberglaubens verwirft; es würde
ihm leicht sein, die völlige Unwirksamkeit dieser Mittel und Kuren darzuthun ,
allein schwer, ja fast unmöglich ist es, dem Volke den Glauben an die über
natürliche Kraft derselben zu nehmen . Wir werden uns hier keineswegs
mit den arzneilichen Stoffen beschäftigen , welche die Volksheilkunde in dieser
Beziehung anwendet : vielmehr interessiren uns hier nur die culturhistorisch
wichtigen Sitten und Gebräuche , die auf einer abergläubischen Einbildung
beruhen , aber auch für Geist und Sinn des Volkes insofern eine besondere
Bedeutung haben , als sie charakteristische Merkmale einer eigenthümlichen
Auffassung ungenügend beobachteter Naturvorgänge sind.
Es kommt, wenn auch selten , vor , dass Kinder schon mit einzelnen
Zähnen im Munde auf die Welt kommen . Ein solches Ereigniss hat
für den beschränkten Sinn des Volkes etwas ganz Mysteriöses; die kleine
Abnormität an einem einzelnen Theile macht in den Augen der Menschen
das ganze Wesen des neuen Ankömmlings abnorm , und man sagt daher an
mehreren Orten Deutschlands: ,,Das Kind , welches mit Zähnen geboren
wird , wird eine Drud.“ Die Erscheinung hängt also mit einer Hexerei zu
sammen . Wie man überhaupt das Ereigniss, dass ein Kind mit Zähnen ge
boren wird , im Volke auffasst, ersieht man aus unseren Mittheilungen über
die Merkmale am Körper des Kindes (Band I. S. 49.) und daran , dass der
gleichen Kinder getödtet werden (Bd. II. Kap . 24 : „ Der Kindermord ." ).
Schon längere Zeit , bevor die Zähne durchbrechen , sorgt man dafür,
dass das in normaler Weise geschehe. Damit das Kind leicht zahne,
hängt man ihm ein Halsband mit rothen Korallen oder Päoniensamen (sogen.
Zahnperlen) um . Es ist dies gleichsam ein specifisches Zahn-Amulet, an
'dessen mystische Wirkung man ganz allgemein glaubt. Um das Zahnen
zu befördern , hängen die Woloff-Neger den kleinen Kindern einen Talisman
um den Hals , bestehend aus einem Kupferring , von dem 5 oder 6 lange
Riemen von Kupfer herabhängen , die an ihrem freien Ende dicke Glasperlen,
tragen. “) Daneben hat man an einzelnen Localitäten noch besondere Spe
cifica , die wesentlich auf der Idee beruhen , dass man Thierzähne in Bezie
hung zum Kinde bringt, um mit Hülfe einer zauberischen Einwirkung deren
tüchtige Beschaffenheit gleichsam auf die zu erwartenden , hervorsprossenden
Kindeszähne zu übertragen. So legt man in Franken einen Hosenknopf
und dazu die getrocknete Nabelschnur unter das Kopfkissen des Säuglings,
oder man hängt demselben bei zunehmendem Monde den Zahn eines ein
järigen Füllens um den Hals. Bei den alten Römern wurden Pferde- und
Eberzähne als Mittel leichten Zahnens angebunden (Plinius bist. nat. 28. 78 ).
Den Säuglingen hängt man in der argentinischen Republik (Südamerika) die
Zähne eines Iltises oder Hundes um den Hals , um das Zahnen zu beför
dern. ) - Derartige sympathetischeKuren gegen das schwere Zahnen giebt es
auch in Thüringen , nur sind sie dort etwas widerlicher : der Vater des Kin
des nimmt einen Maulwurf, drückt ihn in der Hand todt, dann haut er ihm
mit einem Beile oder beisst ihm mit den Zähnen eine Pfote ab , näht sie in
ein Beutelchen und hängt es dem Kinde um den Hals. Auch lässt man in
Thüringen das zahnende Kind oft von einem Hunde belecken . Dagegen heisst
es in Schwaben, für's Zahnen der Kinder sei ein Mauskopf, unbeschrieen ab
gebissen , in Leder genäht und an den Hals gehängt, das Beste. Auch giebt
dort jede Hausfrau einem unterjährigen Kinde, sobald es das erstemal zu
ihr getragen wird , ein hartgesottenes Ei, damit es gut zabne. Im Erzgebirge
trägt man das Kind zu einem Fleischer , welcher den Finger in frisches
Kalbsblut taucht und ihm damit das Zahnfleisch berührt. In der deutschen
Schweiz müssen die Kinder auf Jungfernwachs-Kerzen beissen , man reibt
das Zahnfleisch mit Wolfszähnen , oder mit dem Blute, das man durch einen
Schnitt in den Kamm des Haushahnes gewann , mit dem Pfötchen einer
Kröte oder Schermaus, welche man dann dem Kinde anhängt unter dem
Namen „Füllenzähne“ oder „ Vulvenzähne.“ Der Kröte werden die Vorder
füsse abgehauen und je nach ihrem Links oder Rechts reibt man das Zahn
fleisch des Kindes von innen und aussen damit.
Damit das Kind leicht die Zähne bekomme, bestreicht in Hessen die
Mutter die Zahnladen desselben mit drei besonders dazu bestimmten Wecken
brocken stillschweigend. Diese Brocken sind die Reste eines Mahles , wel
ches die Mutter einnahm , als sie an ihrem Hochzeitstage in die neue Woh
nung einzog. Das Kind bekommt die Zähne leicht , wenn man ihm ein
Käntchen Brod vom Hochzeitstisch eines unbescholtenen Brautpaares zu
essen giebt (Mittenwalde im Brandenburgischen ), oder wenn man ihm seinen
Kindsbrei mit Lindensprossen anrührt, die am Charfreitage beim Zwölf
schlagen geschnitten wurden (Schweiz), oder wenn man einen Knochen , den
man findet, in die Wiege unter den Strohsack legt (Fahrland bei Potsdam ),
Anderwärts geht die Mutter einem Manne, der in ihr Haus einkehren will,
aber das Kind zuvor nicht gesehen hat , stillschweigend mit dem Kinde in
der Hausthür entgegen und giebt ihm ein Geldstück . Der Mann reibt als
dann mit dem Gelde dem Kinde dreimal stillschweigend das Zahnfleisch,
worauf er sich wieder entfernt, um das Geld , wie erforderlich ist, alsbald
zu vertrinken .
Wenn im Spreewald (mit slavischer Bevölkerung) einem Kinde bei
Zahnschmerzen zum erstenmale ein Zahn ausgezogen wird , so soll bei
einem Jungen die Mutter, bei einem Mädchen der Vater den ersten Zahn
verschlucken. Alle später ausgezogenen Zähne sind in das Feuer zu werfen
und zu verbrennen , dann thun die Zähne nicht mehr weh und es wachsen
wieder neue. Ein anderes Mittel der Bewohner des Spreewaldes gegen
Zahnschmerz ist folgendes : Man beisse dem Rietwurm oder einem Molch den
Kopf ab und spucke ihn schnell aus, oder nehme einen alten Besen und
halte ihn über Feuer , bis er anfängt zu brennen . Dann schlage man es
aus , dass die Funken absprühen und lasse sich den Rauch in die Zähne
kommen . )
Bei den Serben soll man dem Kinde, um es für immer vor Mund
schmerzen zu bewahren , im Munde einigemale einen Schlüssel umdrehen und
dann denselben an einen Ort legen, von wo er niemals weggenommen wer
den kann. Das Kind bekommt so starke Zähne, wie das Eisen ist. Wenn
zur Zeit des Zahnens das Kind sehr stark weint, so soll es die Mutter auf
die Wange schlagen und sagen : „ Mein Kind weint nicht wegen der Zähne,
sondern wegen des Wangenschlagens."
Vor der Taufe darf der Pathe nichts essen , damit dem Kinde die Zähne
gesund und vor den Würmern bewahrt bleiben . Andere glauben , wenn der
Pathe vor der Taufe etwas isst, so wird das Kind sehr gefrässig .2)
Die Motive zu einzelnen abergläubischen Vorstellungen lassen sich kaum
errathen . Die Phantasie des Volkes erfindet hier ganz frei, oder sie schöpft
aus irgend welchen , uns unbekannten mythischen Quellen und Sagen . In
Mecklenburg heisst es : Kinder, welche beim Saugen den Daumen in die
Hand kneifen , zahnen schwer. In Böhmen kniet die Mutter beim ersten
Kirchgange mit dem rechten Knie nieder , damit das Kind nicht an Zahn
schmerz leide. In der deutschen Schweiz meint man , dass dem Kinde kein
Zahn mehr wächst, dem man den ausgefallenen hinter sich wirft. Die Heb
amme taucht in Franken bei der Taufe heimlich den Finger in's Taufwasser
und reibt damit das Zahnfleisch des Kindes , so zahnt es leicht.
Das Bekommen der ersten Zähne war bei den alten Indern ein be
sonders feierlicher Moment im Leben des jungen Erdenbürgers ; so lautet
ein Hymnus (nach Avesta 6 , 140 ) :
„ Sie, die gross geworden , tigergleich Vater und Mutter zu fressen
wünschen , diese beiden Zähne, Brhaspati , mache hold , o Jata
vedas. “
„ Reis esst, Gerste esst, Bohnen und Sesam esst : das ist der Euch
beiden bestimmte Theil , nicht verletzt Vater und Mutter."
» Angerufen sind die beiden vereinten Zähne, dass sie sanft und
glückbringend sind ; anderswohin wende sich Eure Schrecklich
keit, Zähne; nicht verletzt Vater und Mutter.“ 1)
Das Hervorsprossen des ersten Zahnes ist immer ein Familien -Ereigniss .
Wenn uns der verstorbene Afrika -Reisende C. Mauch berichtet, dass die
Makalaka in Südafrika, sobald bei ihnen ein Kind Zähne bekommt, aber
gläubisch nachsehen , ob die unteren oder oberen zuerst erscheinen , so können
wir sofort auf einen in Böhmen herrschenden Aberglauben verweisen , welcher
dem Ideenkreise südafrikanischer Völker gewiss ebenbürtig ist : Ein Kind,
das den ersten Zahn am Unterkiefer bekommt, gräbt sich selbst das Grab ;
bekommt es den ersten Zahn oben , so wird es bald sterben . In Unyoro
und Uganda (Aequatorial-Afrika ) ist das Durchbrechen der Schneidezähne
vor den unteren bei Kindern als Unheil bringend gefürchtet, und man ruft,
wo es vorkommt, sofort den ,,mbándua" (Zauberer ), der gewisse Tänze
executirt, um das Kind zu schützen . ) Die Neger in Centralafrika tödten
nach Livingstone jedes Kind, das den oberen Vorderzahn vor dem unteren
bekommt. Ein solcher Brauch scheint durch ganz Afrika zu herrschen , wie
wir von den Wazaramo (Ostafrika) und Sotho-Negern (oder Seso , einem
Mandingo-Stamm ) im Kapitel über Kindesmord näher berichten werden . Auch
bei den Aïnos in Japan sind Kinder, die mit Zähnen geboren werden , nicht
erwünscht.3)
Eine hübsche, an vielen Orten Deutschlands vorkommende Sitte schreibt
vor, dass, wenn ein Kind den ersten Zahn bekommt, dieses entweder selbst,
oder eine arme alte Frau mit irgend Etwas beschenkt wird . An einigen
Orten Hessens und in mehreren anderen Gegenden Deutschlands wird das
Geschenk Demjenigen zu Theil, der den Zahn zuerst sieht. Wenn bei den
alten Deutschen das Kind den ersten Zahn bekam , so wurden ihm Geschenke
- tannfe – gegeben (Weinhold). Dieser Brauch dürfte, wie Mühlhause 4)
meint, zur Aufhellung des bis jetzt unerklärten Mythus dienen , dass im An
fang der Zeiten Alfheim dem Freyr als Zahngebinde geschenkt wird . Wir
können hier folgende Analogie anführen : Wenn unter den Nayer's, der
Militärkaste in Malabar, dem Kinde die Zähne durchbrechen , so sendet die
Mutter Kuchen an die Freunde des Hauses (Jagor).
Sehr auffallend ist der Umstand , dass mit den Zähnen der Kinder , ins
besondere mit den Milchzähnen , die Maus vielfältig in Verbindung gebracht
wird . Dies ist nicht blos ganz allgemein in Deutschland , sondern auch bei
einzelnen , recht entfernt wohnenden Völkerschaften (Alt-Mexikaner, Neusee
länder ) der Fall. Die Ideen -Verbindung zwischen Kindeszahn und Maus
(oder Ratte ) muss demnach eine ziemlich naheliegende sein. Schon der alt
mexikanische Glaube schrieb vor : Ein Wechselzahn muss in ein Mauseloch
gelegt werden, sonst wachsen die Zähne nicht mehr. Und wenn bei den
Maori auf Neuseeland die Zähne des Kindes hervorkommen , so singt die
Mutter:)
,,Sprossender Kern, spross',
Spross', dass Du mögst kommen
Zu sehen den Mond nun voll !
Komme Du sprossender Kern ,
Lass die Zähne des Mannes
Gegeben werden der Ratte ,
Und der Ratte Zähne
Dem Manne !"
1) Fr. Müller , Reise d . österreichisch . Fregatte Novara . Anthrop . Th. III. Ethnogr. Wien
1868. S. 55
3. Das Zahnen der Kinder und seine Beförderung.
229
In Hessen muss das Kind mit dem ausgefallenen Milchzahn vor ein
Mäuseloch gehen und sagen :
„ Mäuschen, Mäuschen , hier habe ich einen hölzernen Zahn,
Gieb mir dafür einen knöchernen .
Beim drittenmale muss der Zabn rücklings über den Kopf in das Mauseloch
geworfen werden .
Am Rhein singen die Kinder :
„ Maus, Maus, komm heraus,
Bring mir einen neuen Zahn heraus."
In Schlesien :
„ Mäusel, ich gab dir ein Beindel,
Gieb mir dafür ein Steindel.“
In Westfalen (Hemschlar) sagt das Kind, ebenso wie in Schlesien :
„Mäuschen, ich geb dir einen knöchernen Zahn,
Gieb du mir einen eisernen ."
In Altenburg :
„Maus, da hast du en bennern (beinernen),
Gib mir dafür en stennern (steinernen)."
Im Namen Gottes u . s. w . † † †
Wenn im Herzogthum Oldenburg ein Kind einen Zahn verliert, so muss
man ihn in ein Mauseloch legen und sagen :
„Mus, Mus,
Bring mi ne Kus';"
alsdann bekommt das Kind bald einen neuen Zahn (in Brake); und zwar (in
Jade) gerade hinüber, sonst wächst der neue Zahn schief. In Oldenburg
heisst es auch , man müsse dabei sprechen :
,, Steen ,
Giff min neet Been ;"
und fügt wohl noch hinzu :
„ Dat mi nich killt (schmerzt)
Dat mi nich schwillt."
Ferner heisst es in Oldenburg , man dürfe den weggeworfenen Zahn gar nicht
wiedersehen , in Jade, man müsse ihn wohl aufheben oder verbrennen .
In Mecklenburg existirt ein recht übler Brauch ; dort heisst's : Wenn
man einer lebenden Maus einen Zwirnfaden durch beide Augen zieht, sie
dann wieder laufen lässt und den blutigen Faden einem neugeborenen Kinde
um den Hals bindet, so zahnt es leicht.
In Norwegen wirft das Kind den Zahn , den es verliert, in das Feuer,
speit drei Mal aus und sagt:
„Maus, Maus, da hast du einen beinernen Zahn ;
Gieb mir dafür einen goldenen .“ 1)
In Russland muss sich das Kind rückwärts an den Ofen stellen und den
Zahn hinter sich werfen , indem es spricht ;
„ Mäuschen, Mäuschen, dir den Rübenzahn ,
Und gieb mir einen Beinzahn.“.
Bei den Czechen in Böhmen gilt der Fuchs als Spender der Zähne, und
das Kind muss den Zahn unter freiem Himmel hinter sich über den Kopf
werfen und sprechen :
„ Da hast Du Fuchs den beinernen,
Gieb mir für ihn 'nen eisernen . "
In Deutschböhmen dagegen wird das Eichkätzchen angerufen , indem das
Kind hinter den Ofen geht, den Zahn über sich wegwirft , und dreimal die
Worte sagt :
„ Eichkätzchen , Eichkätzchen,
Ich geb dir einen beinernen ,
Gieb mir einen eisernen ."
Nach Grohmann heisst es in Böhmen : Wenn sich ein Kind einen Zahn
ausreissen lässt, SO muss es denselben hinter sich auf den sogenannten
Falousek des Backofens werfen und sprechen :
„ Tu mas babo kosteny,
Dej miza to zelezny."
Thut es dies nicht, so ist der Zahn , der nachwächst, nicht fest und fällt bald
aus . Auch muss das Kind, wenn ihm der erste Zahn ausfällt, denselben
hinter sich über den Kopf und hinter den Ofen werfen, indem es sagt :
„ Tu mas lisko kosteny etc.“
Statt lisko, Füchslein , kommt auch mysko, Mäuslein , vor .
Die Gebräuche beim Zahnen nennt Mühlhause mit Grimm Ueber
bleibsel eines Bittopfers, welches man denjenigen Wesen brachte, von deren
Gunst oder Ungunst das Zahnen der Kinder abhängend gedacht wurde .
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
Als der Engländer Speke, der berühmte Forscher auf dem Gebiete
der Nilquellen , im Reiche Unyoro Abschied vom König Kamrasi nehmen
wollte, liess ihm dieser noch folgende zwei Fragen vorlegen , die er jeden
falls für sehr wichtig hielt und über die er von dem gebildeten Europäer
Aufschluss zu erhalten hoffte : „ Giebt es irgend eine Arznei für Frauen und
Kinder, welche das Sterben der Nachkommenschaft kurz nach der Geburt
verhindert ? Denn einige Frauen in diesem Lande haben die Schwäche, dass
alle ihre Kinder sterben , ehe sie laufen können , während andere nie ein
Kind verlieren.“ Der andere Gegenstand der Erkundigung war : ,,Welche
Arznei fesselt die Untertbanen an ihren König ? Denn hiervon braucht
Kamrasi ganz besonders.“ Speke beantwortete nur die zweite dieser
Fragen : Kenntniss einer guten Regierung mit Weisheit und Gerechtigkeit
1. Kinderheilmittel verschiedener Völker . 231
im Gefolge ist alle Arznei, die wir kennen . ) Er hätte auch die erste der
Fragen beantworten sollen : Kenntniss der wahren Bedürfnisse des Kindes
und richtige Abwartung und Pflege des Kindes durch die Mutter ist die
einzige Arznei, welche letztere anwenden darf.
Es ist eigenthümlich , dass fast überall der Volksglaube sich dahin
richtet, dass das Kind dann, wenn es nicht krank ist, Arznei bekommt, dass
man aber oft dann, wenn es wirklich schwer krank ist, alle Arznei für un
zulänglich hält und sich entweder einer sympathetischen Kur oder der kirch
lichen Kraft einer Wallfahrt, eines Kirchenopfers, Gebeten und Messelesen
anvertraut. Statt vieler Thatsachen führen wir hier nur einige Beispiele aus
Deutschland an. Im Bezirksamt Schongau in Oberbaiern hegt man den
Aberglauben, dass bei Erkrankung eines Kindes ein Wallfahrtsgang nach
einem schwäbischen Orte dem letzteren Genesung bringt. Dort wird in der
Kirche das schmutzige Hemdchen des kleinen Patienten aufgehängt, ein ge
wisses Opfer und obligates Gebet von irgend einer dazu delegirten Person
verrichtet. Von dem Tage des Beginnes der Wallfahrt an bis zum 9. Tage
darf das Kind weder gewaschen noch gebadet, auch nicht frisch gekleidet
werden , ebenso wenig darf es Arznei bekommen. Meist stirbt, wie
Dr. Kruger ?) berichtet, das kranke Kind vor Ende der neuntägigen Wunder
kur . In München herrscht der Glaube, dass man für schwerkranke Kinder
in einem dortigen Nonnenkloster gegen Geld sogenannte „ geweihte Leben
und Tod -Pulver“ holen und somit die Entscheidung über die Zukunft des
Kindes dem lieben Gott anheimstellen müsse.
Gewöhnlich ist es die „ Erfahrung," auf welche sich die leichtgläubigen
Menschen bei ihrer sinnlosen Therapie berufen ; d . h . ihre Autorität zur
Rechtfertigung der Quacksalberei ist die Tradition , indem hier eine von
Generation zu Generation forterbende Empirie in schlimmster Gestalt als
Quelle grossen Unheils zu Tage tritt. Medicamente in den Händen der
Quacksalber werden in ungemein vielen Fällen zu Giften , die das Leben des
kaum geborenen armen Wesens verderben .
1) J. H. Speke, Entdeckung der Nilquellen . Aus dem Engl. Leipzig 1864. II. Bd. S. 236.
2) Bairisch. ärztl. Intelligenz-Blatt. 1874. Nr. 45.
234 Arzneiliche Behandlung des Neugeborenen .
brauch , welche aus Persien eingeführt werden und auf persisch Chamra
banausch heissen . Diese Kügelchen sind hellbraun , 1-1 /2 Linien dick ; sie
bestehen aus Stärkemehl, Zucker und einem Aufguss von Stiefmütterchen .
Man giebt dem Kinde entweder die Kügelchen direct zum Saugen , oder man
macht daraus mit Butter oder mit Muttermilch einen Brei. Durch den Genuss
dieser Nahrung sollen die Kinder kräftiger werden und ein gesundes Aus
sehen bekommen . Als Abführmittel wird der Saft aus Früchten der Cassia
fistula gebraucht, welche gleichfalls aus Persien eingeführt werden . )
Neben jenen narkotischen (betäubenden oder beruhigenden Stoffen sind
Abführmittel die wichtigsten Kinderarzneien bei allen Völkern. Im Orient,
z. B. in Persien , reicht man den Kindern in den ersten zwei Tagen keine
andere Nahrung, als .etwas frische Butter (Polak ); in Japan erhält das
Neugeborene drei bis vier , mindestens zwei Tage nach der Geburt ein Ge
tränk von höchst complicirter Mischung, in welcher sich unter Anderem
Rhabarber , Seetang , Süssholz befindet, oder auch starke Purgir - Pillen
( v. Siebold ) ; und ein anderer Berichterstatter 2) aus Japan schreibt : „ Die
drei ersten Tage werden zum Laxiren mit Rheum benutzt.“ In Java treiben
die Mütter mit ihren Säuglingen recht viel Quacksalberei der mannigfachsten
Art schon in den ersten Lebenstagen ; z. B. wird dem Säugling wenig Stun
den nach der Geburt ein Stückchen Brambang (Charlottenzwiebel) auf den
Kopf gelegt und dessen Stirn und Schläfe warm mit der Kerri-Wurzel be
strichen . Diese vermeintlichen Stärkungsmittel werden täglich erneuert, bis
der Säugling 3-4 Monate alt ist. (Kerri-Wurzel und zerquetschter Bram
bang mit spanischem Pfeffer vermischt sind in Java die unentbehrliche Würze
des täglich genossenen Reises). Auch haben die Javanesinnen die Gewohn
heit, ihren Säuglingen und 1-4 jährigen Kindern sehr oft ein Brechmittel
zu geben , das von den Kindern nur mit dem grössten Widerwillen hinunter
geschluckt wird . Julius Kögel3) sah , wie die Mütter gewisse Kräuter,
deren Genuss Erbrechen verursacht, fein schnitten, auf diese etwas Wasser
gossen und sie nachher mit den Fingern ausdrückten , wodurch ein grün aus
sebendes Brechmittel gewonnen wird . Ein solches wird erst, nachdem es
durch ein Stück weissen Kattun filtrirt worden, dem Kinde eingegeben . Das
Erbrechen erfolgt binnen wenig Minuten , spätestens nach einer halben Viertel
stunde. - Wenn der Säugling bei den Arabern in Algier während der ersten
Lebensmonate die Mutterbrust verweigert, so giebt man ihm ein Stück Asa
fötida von der Grösse eines Weizenkorns. 4) Am grössten aber ist der
Reichthum der Chinesen an Kinder -Arzneien.5)
Wenn bei den Kirghizen des Gebietes Semipalatinsk ein Kind erkrankt
ist, so wird ein „ Dargon , " d . i. ein Mann , der Arzneien kennt, oder ein
,, Baksa ," d . i. eine Art Schamane, herbeigerufen ; letzterer spielt nur leise
auf seiner Kobysa, d . i. ein dreisaitiges Instrument. Hat das Kind Leibweh ,
SO setzt der Baksa ibm eine Art trockener Schröpfköpfe auf den Bauch ,
kaut Gewürzkügelchen oder Zwiebeln und bespritzt mit der Mundflüssigkeit
das Kind oder bläst das Kind an ; er lässt einen schwarzen Schafbock
schlachten und schlägt mit der Lunge desselben das kranke Kind. – Der
„ Dargon“ fühlt dem Kranken den Puls , indem er beide Hände sowohl an
die Schläfe als an die Arme legt. Wenn er meint, dass das Kind in Folge
der Muttermilch erkrankt sei, so verbietet er der Mutter innerhalb drei Tagen
Essen zu sich zu nehmen , reicht ihr dagegen einen schwachen Aufguss zur
Brechung:-)
Bei den Russen in Astrachan bekommt das Kind, wenn das Meconium
(Kindspech ) nicht bald abgeht, etwas Baumöl oder gekaute , in einem Läpp
chen eingewickelte Runkelrübe; Manche jedoch , denen die abführende Wir
kung des Rhabarbersaftes bekannt ist, scheuen sich nicht, auch diesen anzu
wenden (Meyerson). Unter den Tungusen vertritt ein Stück in Weiden
oder Birkenrinde eingewickeltes Fischrogen die Stelle eines Zulpes. Im Pi
neg'schen und Mesen'schen Kreise des Archangel'schen Gouvernements blasen
die Mütter den Säuglingen feinen Schnupftabak in die Nase, um ihnen einen
festen Schlaf zu machen . a) Bei den Kindern der Buräten sind Augen
krankheiten sebr bäufig ; dieselben rühren sehr oft von den Morpionen her,
welche sich an den Augenwimpern ansiedeln. Wenn die Augenlider der
Kinder durch das angesammelte Secret verklebt sind , so pflegen die Mütter
dasselbe mit der Zunge abzulecken , was nicht sehr zuträglich sein kann, da
alle Buräten weiber Tabak kauen und rauchen (N. J.Kaschin ). Die Geor
gier halten das neugeborene Kind 24 Stunden in Salz , um die Entstehung
eines Ausschlags auf der Haut zu verhüten , ein Leiden , welches bei ihnen
häufig vorkommt, wenn das Kind, wie sie sagen , nicht auf diese Weise be
bandelt wird.3) Eine sehr naive Pathologie und Therapie besteht unter den
Esten : Spielt das Neugeborene mit der Zunge, so hat es den „ Schlangen
fehler, " muss also mit Schlangenhaut geräuchert werden ; schnappt es mit dem
Munde, so hat es den „ Wolfsfehler,“ wo Räucherung mit Wolfshaar hilſt ;
will das Kind nicht gedeihen , so leidet es am „ Hundefehler,“ muss daher mit
Hundebaar geräuchert werden , oder man rollt es da, wo sich ein Hund ge
wälzt hat, aber in umgekehrter Körperlage; oder man wiegt es von Zeit zu
Zeit mit einer Handwage; sind die Stuhlausleerungen grün, so muss man die
Windeln von der Morgensonne bescheinen lassen . 4)
In Dalmatien werden die Kinder von den Hebammen misshandelt , in
deren Händen sich überhaupt die Kinderpraxis befindet. Die Hauptmittel der
selben sind Klystiere aus den verschiedensten Ingredienzen , wurmtreibende
später einmal täglich , und erst vom dritten Monat an einen Tag um den
andern . :)
Als Arznei bekommt das Neugeborene bei den Badagas, einem Volks
stamme im Nilgiri-Gebirge in Indien , am 3. Tage gewöhnlich drei Substanzen :
1. Korosanan (Gallenstein von Büffeln ), 2. ein nicht näher bezeichneter Stoff,
doch ebenfalls vom Büffel genommen und von reichen Brahminen täglich
genossen ; nicht alle Büffel haben es und die es besitzen , gehen der Heerde
voraus. Vielleicht Bezoar-Stein ? Nach Anderen ist Asa fötida diese zweite
Arznei, 3. Vasambu, d . i. Wurzel von Acorus calamus, angebrannt, die Kohle
und Asche davon mit Muttermilch gemischt. Die zweite Arznei kann aber
auch später als am 3. Tage gereicht werden , die dritte wird nur gegeben ,
wenn der Stuhl des Kindes nicht gelb ist. Die erste wird häufig auch ge
geben , wenn das Kind erkältet ist. 2)
Bei den Parsen in Indien wurde dem neugeborenen Kinde Haoma-Saft
in den Mund gedrückt, bevor es die Muttermilch erhielt. Haoma spielte
schon bei den alten Indern eine hervorragende Rolle. Der ausgepresste
Saft der Soma-Pflanze (Asclepias acida) war nemlich den Iraniern , wie den
Indern schon in sehr alter Zeit nicht blos ein Gegenstand religiöser Dar
bringung , der Geist dieses Saftes war diesseit wie jenseit des Indus selbst
ein mächtiger Gott, der Gott Haoma, wie das Zendavesta sagt. Der Soma
trank wurde auch von den Buddhisten neben Milch und geklärter Butter den
hungrigen und durstigen Göttern als Opfer dargebracht. 3)
Dass auch in Europa, beispielsweise in Frankreich, bezüglich der
Kinderkrankheiten und ihrer Behandlung schlimme Vorurtheile herrschen ,
ersieht man unter Anderem aus der Schrift des Dr. Bessières „ Les pré
jugés populaires sur les Maladies de l'enfance ; Paris 1876.“ Manche Volks
heilmittel Italiens lernt man in Woldemar Kaden's ,,Skizzen und Cultur
bilder aus Italien " (Jena 1882, S. 86 ) kennen .
dann vermuthet man das „ Anwussensin .“ Es wird jetzt zu einer alten Frau
geschickt, die in dem Rufe steht, dass sie das „ Afstricken " gut versteht.
Diese nimmt dann die Procedur vor , die darin besteht, dass sie mit beiden
Händen , die vorher mit „Hühnerflohm “ eingesalbt sind, den Leib des Kindes
sanft von der einen Seite hin nach der andern bestreicht.
In der Oberpfalz (Baiern) giebt die Hebamme in grösseren Städten dem
Säugling vor dem Anlegen an die Mutterbrust ein reinigendes Säftchen . Um
das schreiende Kind zu berubigen , haben bisweilen gewissenlose Mütter und
Mägde zu dem schändlichen Mittel gegriffen , den Schnuller in Branntwein
zu tauchen . Die Todesart der Kinder wird , wenn kurz vorher gelb aus
sehende Ausleerungen erfolgt waren , als „ gelber Brand “ bezeichnet, oder
man glaubt an plötzliche Schlaganfälle der Kinder , oder giebt den Krämpfen ,
hier „ Unkraut“ genannt, welche oft unmittelbar vor dem Tode eintreten ,
die Schuld , natürlich alle diese Krankheiten als von selbst entstanden dar
stellend. Die Hülfe des Arztes wird in der Oberpfalz bei Kindern nicht
gesucht. Hie und da giebt die Hebamme ein Säftchen , einen Umschlag oder
ein Klystier, und darauf reducirt sich die ganze Behandlung:") — Da in der
gewöhnlichen Vorstellung der Bewohner der bairischen Oberpfalz das Neu
geborene an Leib und Seele unrein ist, wird der innere Mensch durch einen
Saft von Manna und Rhabarber gereinigt.2) In der bairischen Pfalz hält
man den Abgang des Kindspechs bei einem Neugeborenen für nothwendig ;
erfolgt dieser in den ersten Stunden nach der Geburt nicht , so muss man
ibm ,, Säftel“ geben , worunter man Syrupus Rhei versteht um damit Bahn
für alle späteren Quacksalbereien zu eröffnen . Das Kind soll auch darnach
lieber die Brust nehmen.3)
Auch in Schwaben sind Kindersäftchen aus Manna sehr gebräuchlich.4)
In Königsberg in Preussen bekommt der Neugeborene alsbald einige
Theelöffel Chamillenthee eingeflösst ; Laxirmittel hingegen nicht (Professor
D. Hildebrandt).
Im sächsischen Vogtlande gehört die Anwendung von Rhabarbersyrup ,
um eine erstmalige Ausleerung zu bewirken , zu den alten eingerosteten Vor
urtheilen . Dann wird Arow -Root, Reismehl, sogen. Nahrungsthee , Weizen
mehl , Zwieback , Semmel, Brod, Eiweiss , Fleischbrühe, dann Arzneistoffe ,
wie Fenchel, Anis, Kümmel und Baldrian, die Dinge, mit welchen man im
buntesten Durcheinander losexperimentirt , und zwischen hinein giebt man
den unvermeidlichen Sauger , den Zulp. „ Man kann sich nicht wundern,
wenn viele der so behandelten Kinder sterben , wohl aber darüber , dass
trotzdem noch einige leben bleiben.5)
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Die Art und Weise, wie bei den Völkern die an Neugeborenen vorkom
menden Missstaltungen aufgefasst werden , hat darin etwas Uebereinstimmen
des, dass zumeist die Einwirkungen böser Geister, des Teufels u . s. w . be
schuldigt werden . In der Regel werden bei den Urvölkern alle missgebil
deten Individuen sofort beseitigt, ja von einigen Völkern , z. B. den Betschua
nen , werden nicht blos Missgeburten , sondern auch nur übelgestaltete
Kinder der allgemeinen Sitte gemäss ausgesetzt ; – die wenigen Abnormi
täten , die vorkommen mögen , z. B. Albinos, verschwinden daher alsbald . ")
Es ist demnach sehr schwer zu sagen , ob angeborene Missbildungen bei
einem Volke mehr oder weniger häufig vorkommen . In Aegypten kommen
sie, wie R. Hartmann ) angiebt, häufig vor, dagegen gehören sie in Nubien
und Sûdan zu den Seltenheiten .
Die alten Inder meinten, wie aus Susrutas Ayurvedas hervorgeht,
dass Verkrümmungen , Verkrüppelungen, Sinnesfehler und Verkümmerungen
der Neugeborenen dadurch erzeugt worden wären , dass sich die Mutter wäh
rend der Schwangerschaft geängstigt habe, indem man ihre Gelüste nicht
genügend befriedigt und hierdurch eine Nervenverstimmung bei ihr veranlasst
habe . Die gleiche Anschauung wiederholt sich bei vielen Völkern . (Vergl.
die Kapitel: „ Das Versehen “ und „ Die Gelüste“ Band I. S. 32 und 33.)
Wir werden im nächstfolgenden Kapitel besprechen , wie leicht und schnell
sich viele Nationen der Kinder insbesondere der missgestalteten entäussern .
Hier nur einige Beispiele :
Bei den Negern der Landschaft Fetu an der Goldküste wird jedes Neu
geborene genau untersucht, ob es einen Fehler hat, und man tödtet es, wenn
man einen solchen findet. 3) Auch die Botokuden , wie viele andere Völker,
die ich im nächstfolgenden Kapitel nenne, tödten die verkrüppelten Kinder ;
ein mir befreundeter Reisender sah, dass ein Botokuden -Weib ihr missgebil
detes Kind in den Fluss warf. Wird einem Basuto -Weibe ein Kind geboren ,
so wird es zunächst untersucht, ob es auch in jeder Hinsicht gesund und
wohlgestaltet ist. Ist es mit irgend einem Fehl behaftet , und als solcher
gilt schon das Vorbandensein von Zähnen, so wird es sofort getödtet, denn
eine Missgeburt bedeutet grosses Unglück . Wird ihr das Leben geschenkt,
so bleibt gewiss der Regen aus und Dürre , Hunger und Krieg treten ein .
Um diese Unglücksfälle zu verhüten , wird das Kind in einem mit Wasser
gefüllten Gefäss ersäuft und dann dem Vater mitgetheilt, es sei todt geboren .“)
Missgeburten werden auch bei den Negern der Loango -Küste sofort
heimlich getödtet; Kinder mit unwesentlichen Verkümmerungen lässt man zu
weilen leben , doch vermag die Mutterliebe sie nicht zu retten , wenn der
Volksglaube aus irgend welchem Grunde in ihnen Unheilbringer , Träger
bösen Zaubers erkennt. Ein missgebildetes , als „ Ndodschi“ verschrieenes
Kind wurde von den Ngangas am Ufer des Chiloango bei Ebbe ausgesetzt,
damit die rückkehrende Fluth es fortspüle und „ hinführe , woher es gekom
men .“ Es hängt, wie Pechuel-Loesche mittheilt, von der Combination zu
fälliger Umstände ab , ob ein nicht wohlgebildetes Kind als Ndodschi ( Träger
bösen Zaubers) oder nur als Muana mu bi (Kind schlecht, hässlich ) gilt. Die
Mutter trifft keine Schuld. Der Wahn mag sich sogar soweit verirren , ein
noch ungeborenes Kind zu beschuldigen ; man giebt dann der Mutter die
bei Ordalien gebrauchte Giftrinde , im festen Glauben , dass der Ndodschi,
wenn ein solcher vorhanden , durch Abortion u schädlich gemacht werde.
Sollte freilich die Schwangere selbst erliegen , so ist ja damit ihre eigene
Schuld erwiesen. ) Bei den Somali dagegen lässt man uneheliche Kinder
und Missgeburten am Leben . Letztere sind gewöhnlich ein Gegenstand des
Aberglaubens und der Furcht.3)
Die Griechen übertrugen , wie Platon im Theaitetos sagt, der Heb
amme die Pflicht, sogleich nach der Geburt des Kindes zu bestimmen , ob
das Geborene wirklich ein Kind sei oder nicht (delevá oder silwła ), und
es geht daraus hervor, dass die Hebammen das Recht und die Pflicht hatten ,
gewisse Formen von missgestalteten Früchten gar nicht als Kinder gelten
zu lassen.
So galten auch noch lange Monstra und Molen (sogenannte „ Mond
kälber“ ) als Erzeugnisse einer Behexung . In der Meinung des deutschen
Volkes „ geht die Sache nicht mit rechten Dingen zu ;“ vielleicht wähnte
man, dass der Mond einen besonderen Einfluss äussert.
Jetzt betrachtet man in Deutschland, z. B. in Schwaben (Buck ),
Missgeburten vielfältig als üble Vorbedeutungen oder als Strafe für geheimen
Frevel. Muttermäler haben in der Phantasie des Volkes bald Aehnlich
keit mit Dingen , an denen die Schwangeren erschrocken , z. B. mit einem
Hasen , einer Maus, einem rollenden Fass u . s. W., bald mit Speisen , die sie
sich vergeblich gewünscht, als Oelküglein , Lebzelten , Kaffee , Aepfel u . S. W.
– Noch vor wenig Jahren glaubte das Landvolk in mehreren Gegenden
Deutschlands, dass die Eltern eines arg verunstalteten Neugeborenen über
Tod und Leben desselben zu verfügen das Recht hätten. Unter Anderem
wurde in der Gegend von Breslau ein Arzt zu einem ohne Arme und Beine
geborenen Neugeborenen gerufen, um an demselben Henkersdienste zu ver
richten , denn man meinte dort allgemein , dass so missgestaltete Kinder ge.
tödtet werden müssten .
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
sie viele Jahre hindurch angewiesen und hat als Gegenleistung nichts zu
bieten als die Freude, welche seine Erzeuger an ihm als ihrem Werke finden
können, als wie Object zu sein für angenehme Gefühle, welche die Natur
allerdings in die Brust des Menschen gelegt hat, deren Stärke und Werth
schätzung aber von dem Grade seiner geistigen und gemüthlichen Ausbildung
abhängig ist. Dem Wilden muss daher ein grosser Kinderreichthum nur als
eine Erschwerung seiner Existenz und namentlich für Zeiten des Mangels,
welche für ihn periodisch wiederkehren , eine Beschränkung desselben sehr
wünschenswerth erscheinen . Ihn hindert nichts, sich der unnützen Mitesser
zu entledigen oder bei der Geburt schon dafür zu sorgen , dass das kleine
Wesen , welches noch durch kein Band mit dem Vater verknüpft ist, nicht
die Zahl derselben vermehre."
Den Eltern fehlt das Bewusstsein der Immoralität dieser Handlung; sie
scheuen sich nicht, den Mord ohne Weiteres einzugestehen ; auf Tahiti können
sie nicht begreifen, dass der Europäer den Kindermord tadelt. Auf Neu
seeland stimmtman über der Leiche des gemordeten Kindes dieselbe Klage
an, als ob das Kind eines natürlichen Todes gestorben sei, auf Viti und Hawai
begräbt man die Leiche im eigenen Schlafgemach , in Australien (im Süden )
verzehren die Mütter das eigene Kind !
Bald glaubt man den Göttern dadurch , dass man ihnen das Liebste,
was man hat, zum Opfer darbringt, das unwiderleglichste Zeugniss der
höchsten Verehrung kund geben zu müssen ; bald meinen die Eltern ihre
Kinder durch sofortiges Tödten vor den schlimmen Gefahren und vor dem
Elende des Lebens am sichersten zu bewahren ; bald wollen sie auch nur
selbst möglichst schnell der Sorge um das Kind enthoben sein . Indem wir
durch Vorführen der Thatsachen im Einzelnen auf diese und ähnliche Motive
aufmerksam machen , enthalten wir uns vorläufig allgemeiner Betrachtungen .
Die Geschichte des Kindermordes selbst ist es, die deutlicher als jedes
weitere Raisonnement zur Erkenntniss derjenigen sittlichen Momente verhilft,
welche die grösste Rolle spielten bei der Erscheinung eines allgemeinen
Brauches, die Kinder zu morden und auszusetzen . Die vor mehreren Jahren
von Dr. Franz J. Hügel “) bearbeitete Geschichte dieser schrecklichen
Unsitte wurde in Folgendem von uns nebst anderen Quellen benutzt.
Wir wenden uns zunächst zu den alten, dann zu den jetzigen Völkern .
Fast alle Völker, die auf niederer Culturstufe stehen , erkennen dem
Vater die volle Gewalt über Leben und Tod des neugeborenen Kindes zu .
Allein es giebt doch auch Ausnahmen , in welchen die Macht des Vaters
durch Sitte und Herkommen in dieser Beziehung beschränkt ist. Unter den
Pehuenche fordern die Verwandten der Mutter Rechenschaft des Vaters über
1) „ Das Findelwesen Europa's" im Jahrb. für Gesetzeskunde und Statistik I. Wien 1862. S. 272
Reinecke, Diss . de expositione infantum . 1844. Prof. Dr. Jac. Becker, Die Behandlung ver
lassener Kinder im Alterthum . Frankfurt 1871. Dr. Wilh . Platz, Geschichte des Verbrechens der
Aussetzung unter besonderer Berücksichtigung seines Zusammenhanges mit dem Familienrechte von
den ältesten Zeiten bis in's 16. Jahrh . Stuttgart 1876 . Der Kindermord als Volkssitte, von Carl
Haberland im Globus 1880. Nr. 2 . S. 25
1. Bei den alten Völkern . 245
den Mord seines Kindes und sie verlangen Vergeltung , die meist durch Geld
busse gesühnt wird. In Neuseeland gilt das Kind zugleich als Stammes
eigenthum und in Folge dessen macht der Stamm den Vater für das Leben
des Kindes verantwortlich . Bei den alten Deutschen legte der Rechtsbrauch
dem Vater insofern Beschränkung auf, als das Gesetz den Mord durch Aus
setzen des Kindes verbot, sobald dasselbe die geringste Nahrung, wie Milch
oder Honig , wenn auch nur einen Tropfen davon, zu sich genommen , oder
sobald es die Wände beschrien hatte .
Bei rohen Völkern überlässt man es aber auch der freien Wahl der
Mutter , ob sie das Kind, welchem sie das Leben schenkte , auch fernerhin
erhalten will.
Wir werden in Folgendem nach diesen und anderen Richtungen hin
specielle Beispiele anführen .
Bei den alten Persern war bis nach der Eroberung Persiens durch
die Chalifen der Kindermord gestattet und cultusgemäss bei bestimmten Opfern
vorgeschrieben . Als man später eine Zunahme der Bevölkerung wünschte,
ward der Kindermord verboten . Im Jahr 1294 wurde eine Findlings-Ver
sorgungs-Anstalt in Persien errichtet. Nach Haidenstamm lassen die Schah ,
wenn sie zu viele Kinder haben , dieselben morden ; doch berichten Polak
und Andere nichts davon .
In Arabien waren in den ältesten Zeiten besonders die weiblichen
Kindermorde gestattet. Als Arabien mit Beginn der Osmanen-Herrschaft
unter den Einfluss der theologisch - juridischen Disciplin kam , wurden die
Kindermorde verboten . Noch zu Mohammeds Zeiten muss der Kindermord
nichts Ungewöhnliches in Arabien gewesen sein , denn im Koran wird diese
Unsitte hart getadelt: „ Ihr sollt Eure Kinder , aus Furcht, in die Armuth zu
gerathen , nicht tödten ; denn wir wollen sie erhalten , so wie wir Euch er
halten .“ ) Insbesondere wurden Mädchen getödtet, denn der Koran sagt
hierüber: „ Hört der Araber , dass ihm eine Tochter geboren wurde, so
färbt die Traurigkeit sein Angesicht schwarz; diese Nachricht dünkt ihm ein
so schmähliches Uebel, dass er sich vor keinem Menschen sehen lässt , und
er ist zweifelhaft , ob er die ihm geborene Tochter zu seiner Unebre be
halten , oder ob er sie in die Erde scharren soll.“ 2) Allein der Koran
selbst bezeichnet den Kindermord als eine entsetzliche Sünde. 3)
Bei den Aegyptern war nach Sextus Empiricus in den ältesten
Zeiten der Kindermord gestattet. Später wurden nach Diodorus Siculus
die Mörder von Neugeborenen verurtheilt, deren Leichname durch drei Tage
Erst unter Trajan (98 v. Chr.) wurde bestimmt, dass von Freigeborenen
abstammende Findlinge von der Sklaverei ausgeschlossen bleiben . Julius
Paulus war der Erste, welcher sich gegen die Aussetzung der Neugeborenen
aussprach . Im Justinianischen Rechte galt Tödtung des Kindes als Parrici
dium . Die Erhebung des Christenthums unter Constantin dem Grossen brach
die Bahn für eine mildere Auffassung der socialen Stellung jener unglück
lichen Geschöpfe. Dieser Fürst missbilligte wohl die oben genannten Ver
brechen gegen die Neugeborenen und Findlinge , aber er verhängte keine
positiven Strafen ") und glaubte genug gethan zu haben , indem er sich be
strebte , die Ursachen zu beseitigen . Er verordnete für Italien und später
für Afrika, dass Kinder armer Eltern auf Staatskosten, oder aus seiner Pri
vatkasse in Pflegeorten gehalten werden sollten . Nachdem die Auslagen für
ihre Erhaltung unerschwinglich wurden , empfahl er , ihr Schicksal der Privat
wohlthätigkeit anheimzustellen und Alles „ secundum statuta priorum princi
pum “ einzurichten . Um diese Zeit traten die Kirchenväter auf; sie erklärten
jede Aussetzung als einen Mord , eiferten gegen den Kindermord und kauften
die in Sklaverei weilenden Findlinge los . Nunmehr begann eine bessere
Aera zum Schutze der Neugeborenen , indem sich die christliche Humanität
der Unglücklichen annahm . Aber auch die Geschichte der Findelhäuser in
christlicher Zeit weist eine Reihe höchst trauriger Thatsachen auf.
Die Kelten legten die neugeborenen Kinder auf einem Schilde in's
Wasser. Die Sarmaten und Slaven tödteten oder setzten schwache und
missgestaltete Kinder aus. Die alten Skandinavier, besonders die Nor
mannen , pflegten vorzugsweise Töchter in’s Wasser durch Sklaven werfen zu
lassen . )
Ueber die Germanen sagt Tacitus (Germania Kap . 19 ): „ Der Zahl
seiner Kinder ein Ziel zu setzen oder ein nachgeborenes zu tödten , gilt bei
ihnen für Frevel und mehr wirken dort gute Sitten als anderswo gute Ge
setze.“ Doch hatte nach späteren Zeugnissen , die Jacob Grimm 3) an
führt, nach altdeutschem Rechtsgebrauch der Vater den freien Willen , sein
Kind auszusetzen . Sein erstes und ältestes Recht bei der Geburt des Kindes
ermächtigte ihn , es ,,aufzunehmen “ (tollere , evalpscolar) oder auszusetzen "
( exponere). Das Neugeborene lag auf dem Boden , bis der Vater sich er
klärte , ob er es leben lassen will oder nicht. Im ersteren Falle „ hebt's er
das Kind , und nun erst wird es mit Wasser besprengt und ihm ein Name
gegeben. Wollte er aber das auf der Erde liegende Kind nicht aufziehen ,
so hiess er es aussetzen . Man wollte hiermit das Kind nicht unbedingt tödten ,
vielmehr überliess man es dem Zufall, ob sich ein Anderer des Findlings er
barmen will. In den altdeutschen Sagen galten als Gründe der Aussetzung:
Missgeburt, Schwächlichkeit, uneheliche und verbrecherische Zeugung; auch
I) Er erlaubte sogar, dass eben geborene Kinder (sanguinolenti) im Falle der Noth vom Vater
verkauft werden dürfen (Lex 2 C. de patr. qui fil. suos distraxerunt IV . 43).
2) W. Stricker, Archiv f. Anthropologie. Bd. V. S. 451.
3) J. Grimm , Deutsche Rechtsalterthümer. Gött. 1828 . S. 455 .
1. Bei den alten Völkern . 249
wurden solche Kinder nicht aufgezogen, die kein vorwurfsloses, freies Leben
führen durften ; endlich durften bei grosser Armuth die Eltern ihr Kind aus
setzen in der Hoffnung , dass der Finder sich des Verlassenen annehmen
werde. Schon Grimm macht in seinen Rechtsalterthümern (403) darauf
aufmerksam , dass bei den alten Deutschen über die Geburt eines Mädchens
in den Volksgebräuchen weit weniger Freude bekundet wurde , als über die
Ankunft eines Knaben ; die Mädchen wurden auch bei den Germanen weit
häufiger ausgesetzt als die Knaben , da es den Armen immer leichter ward,
einen Knaben aufzuziehen. Nach Weinhold konnte die Mädchen das harte
Geschick schon dann treffen , wenn in der Familie keine oder nur wenige
Söhne und viele Töchter geboren wurden . ") - Erst mit der Einführung des
Christenthums wurde durch Gesetze (z. B. das fränkische Capitulare ) das
Aussetzen mit Strafe belegt. - Uebrigens durfte die Aussetzung nur gesche
hen , ehe das Kind noch ein Recht auf Leben erworben hatte , sonst galt sie
für Mord. Im Norden (Norwegen und Island) durfte eine Aussetzung nur
stattfinden vor der Lustration mit Wasser, die auch schon unter den
Heiden gebräuchlich war ; die Mütter pflegten neben den Aussetzling Salz
zu legen , als ein Zeichen , dass er die Taufe noch nicht empfangen habe.
Auch durfte der Aussetzling noch gar nichts genossen haben ; ein Tropfen
Milch oder Honig sicherte ihm sein Leben . Die Aussetzung pflegte nach
den Volkssagen in den Wald unter einen Baum , oder auf's Wasser in einer
Kiste zu geschehen . Zur christlichen Zeit wurden die Kinder vor die Kirch
thüren gesetzt. Schliesslich durfte der Vater seine Kinder als ,, Unfreie" verkaufen .
Die Aussetzung bildet im älteren südgermanischen Rechte keinen selbst
ständigen Verbrechensbegriff, sondern zieht, abgesehen von dem etwa ein
tretenden und dann als solchen strafbaren Erfolge nur kirchliche Strafen
und civilrechtliche Folgen nach sich ; erst allmälich (im 15. Jahrhundert ?)
löst sich Aussetzung von Tödtung und anderen verwandten Begriffen los.a)
Noch zur jetzigen Zeit begegnet man in Deutschland nicht selten solchen
Fällen , in denen die Kinder ausgeboten werden , um sie bei mitleidigen
Menschen unterzubringen . Unter Anderem fand sich in einer Nummer des
,,Anzeigers zur Gartenlaube" (April 1876 ) die Anzeige, dass ein hübsches
Kind gegen einmalige Zahlung von 2000 Thalern abzulassen ist,“ postlagernd
Crefeld . Heutzutage findet man solche Angebote beinahe jeden Tag in
gewissen Zeitungen.
In alter Zeit wurden in Deutschland Kinder gleichsam als Opfer unter
gewissen Umständen bei Errichtung grosser Gebäude eingemauert , um
die göttlichen Mächte , vielleicht den Wodan , zu versöhnen . Grimm ,
Köhler 3) und Andere führen Volkssagen an , welche auf diesen Brauch hin
deuten . Eingemauert soll ein Kind im Schloss Vestenberg sein, welches eine
berg (Amt Blaubeuren ) zur Beruhigung und Einschläferung der Kinder ver
schiedene beruhigende Säftchen , z. B. den sogenannten „ Ruhesaft,“ d , h .
Syrupus opiatus, ferner Grimmenpulver mit Opium , namentlich den ,,Kläpper
lingsthee,“ d . h . Mohnköpfe, und sogar Branntwein an . „ Schon manches
Kind ist auf diese Weise der eigenen Bequemlichkeit seiner Eltern zum
Opfer gebracht worden .“ 1) Auch in St. Gallen in der Schweiz herrscht auf
dem Lande die Unsitte, dass die unreifen Kapseln des Gartenmohns (Papaver
somniferum ) in Wasser gesotten und der Absud kleinen Kindern zum Trinken
gegeben wird , damit sie dann lang und anhaltend schlafen.2) Der Diakoden
syrup wird in einem grossen Theile Oesterreichs unter dem Namen ,, Bocks
hörndlsaft“ verkauft und enthält Opium . Diese Opiumqantität ist gross
genug , um die zarten Kinder in Betäubungsschlummer zu versetzen , ja auch
den Tod herbeizuführen. Im Jahr 1863 starben in Wien rasch hintereinander
vier Säuglinge an Verabreichung dieses Syrups ; in Folge dessen forderte
das medicinische Doctoren -Collegium die Behörde auf, den Verkauf dieses
bedenklichen Arzneistoffs zu beaufsichtigen . In Mecklenburg schläfern nach
L. Fromm (Schwerin ) manche Mütter die Kinder durch eine Abkochung
von Mohnsamen oder durch ein Decoct vom Samen des sehr giftigen Bilsen
krautes (Hyoscyamus niger ) ein . Von Thüringen (Königsee) aus treiben
viele sogenannte Laboranten einen ausgebreiteten Gifthandel mit „ Olitäten “
und Balsamen , die ebenfalls Opium enthalten und Kindern gegeben werden .
Eine einzige Königseer Balsamträger -Familie, die hauptsächlich die berüch
tigten Kinderpillen verfertigt und in Deutschland feilhält, verbraucht nach
Angabe des Dr. L. Pfeiffer in Weimar 3) jährlich 10—12 Pfund Opium .
Am ausgebreitetsten ist im Volke Englands die Unsitte , den Kindern
Schlaftränkchen mit Opium darzureichen . So soll an den sogenannten
„ Black drops " schon manches Kind verstorben sein . In den Marsch- und
Fabrikdistrikten Englands ist der Opiumgebrauch ganz bedeutend ; manche
Droguisten verkaufen mehr als 200 Pfund jährlich. Man hat in einem Distrikte
den jährlichen Verbrauch durchschnittlich auf wenigstens 100 Gran auf den
Kopf berechnet; ein gewöhnlicher Laden bedient 300—400 Kunden in der
Sonnabendnacht. Den Kindern giebt man das Opium in Form von „ God
frey's Cordial" (Godfrey's Herzstärkung ). Bisweilen kommt es vor, dass, da
es verschiedene Arten Godfrey's giebt, eine Mutter ihre Kinder einer Wär
terin übergiebt, um auf Arbeit zu gehen , und dass die Wärterin ihren
Godfrey statt dem der Mutter den Kindern darreicht. Der herbeigerufene
Arzt findet dann ein halbes Dutzend Kinder theils schnarchend, theils schielend,
alle blass und mit eingesunkenen Augen im Zimmer umherliegend, alle ver
Ploss
H.,
völker
brauch
sitto
kind
ilmittel verschiedener Völker.
und
der
Das
233
in.
eine Nachforschung, dass fünfzehn Händler
en von solchen Kinderschlafmitteln verkauft
HLV
ium ) enthielten . Bei einem Meeting zu Edin
6867
itet, dass die Opiummenge, welche in England
i ganz erstaunlich ist, und dass beispielsweise
ventlich nicht weniger als 20 Gallonen Opium
cleine Kinder verkauft. :) Hier scheint sich
auf1.2
1 ) Diejenigen, welche sich ausführlicher über die hier besprochene Angelegenheit unterrichten
wollen , verweise ich aus der reichhaltigen Literatur unter Anderen auf folgende, von mir zum grössten
Theil benutzte Schriften : Most, Sympathetische Mittel, 1842 (letzte Aufl. 1877). H. Frischbier,
Zauberspruch und Zauberbann. Berlin 1870 . Fr. Pauli, Die in der Pfalz und den angrenzenden
Ländern üblichen Volksheilmittel. Landau 1842. W. Brenner - Schäffer, Darstellung der sani
tätlichen Volkssitten und des medicinischen Volks-Aberglaubens im nordöstlichen Theile der Oberpfalz.
Amberg 1861. S. 25. M. R. Buck , Medicin . Volksglauben und Volks-Aberglauben aus Schwaben .
Ravensburg 1865. S. 60. · J. Wolfsteiner, Volksmedicin in Oberbaiern ; in „ Bavaria “ II. - Fr.
Chr. Schmidt, Volksmedicin im bairischen Schwaben ; in „ Bavaria " II. 2. – Flügel, Volksmedicin
und Aberglaube im Frankenwalde. München 1863. - G. Lammert, Volksmedicin und medicin .
Aberglaube in Baiern. Würzburg 1869. – Fr. Schönwerth , Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen.
Augsburg 1869. III. S. 226. – E. Mühlhause, Die aus der Sagenzeit stammenden Gebräuche der
Deutschen , namentlich der Hessen . Kassel 1867. S. 73. E. L. Rochholz , Alemannisches Kinder.
lied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857. S. 332. 340 . J. A. E. Köhler , Volksbrauch ,
Aberglauben , Sagen und andere alte Ucberlieferungen im Vogtland . Leipzig 1867. S. 349 u. 403. –
F. Schmidt, Sitten und Gebräuche etc. in Thüringen . 1863. M. Spiess , Aberglauben , Sitten
und Gebräuche des sächs. Obererzgebirgs . 1862. Grohmann, Aberglauben und Gebräuche aus
Böhmen und Mähren (aus Beitr, zur Gesch. Böhmens ). Prag und Leipzig 1864. S. 147. A.Peter,
Volksthümliches aus Oesterreichisch -Schlesien . Troppau 1866-67. S. 227. – Fromm und Struck ,
Sympathien und andere abergläubische Kuren , im „Archiv für Landeskunde in den Grossherzogthümern
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes. 217
Kranken Kindern darf die Mutter die Arznei nicht mit spitzem Messer umrühren
oder auf der Messerspitze eingeben , sonst bekommen sie Magenschmerzen .
Ein krankes Kind wird in Oesterreichisch -Schlesien in die Brautschürze
der Mutter gehüllt, worauf man hofft, dass es gesund wird . In Oberfranken
wird das kranke Kind auf zwei Bänke gelegt , dann vom Pathen dreimal
unbeschrieen um den Tisch getragen und wieder in sein Bett gelegt. Ist
dem Kinde die Ruhe genommen , d . h . schreit es fortwährend , so kehrt man
im Vogtland (Oelsnitz ) den Kehricht in der Stube kreuzweise zusammen in
die Mitte der Stube und bringt ihn dann dem Kinde unter den Kopf.
Gegen die Schlaflosigkeit des Kindes wendet man in Böhmen folgende
Mittel an : Man giesst siedendes Wasser in eine Schüssel, setzt darauf einen
umgestürzten Topf; wenn sich das Wasser in letzteren zieht, so schläft das
Kind wie gewöhnlich . Oder man giebt dem Kinde ein getrocknetes Schläfen
bein eines Fisches ein . Oder man hackt auf den Holzklotz mit dem Beil
und legt letzteres in die Wiege. Oder die Mutter kriecht auf allen Vieren
in der Stube umher und wiederholt den Spruch : „ Ich suche den Schlaf dir ,
liebes Kind,“ bis es einschläſt. Bei den Wenden in Hannover legt man zur
Beseitigung der Schlaflosigkeit Eulenfedern in's Bett des Kindes.
Das Schweizer Volk kennt eine grosse Zahl sinnloser Hausmittel
gegen die mannigfachsten Kinderkrankheiten . In alten Schweizer Arznei
büchern (z. B. Muralt , Hippokrat. helvet. Basel 1692) wurden dem Volke
dergleichen Mittel theils nacherzählt, theils gelehrt. So heisst es unter An
derem : „ Wenn die jungen Kinder so hart verstopft, also , dass ihnen der
Leib aufläuft, so gieb ihnen ein wenig Mäusekoth mit der Muttermilch ein .“
Mecklenburg." Bd. XIV. 1864. S. 497 . M. Töppen , Aberglaube aus Masuren. Bremen 1854 .
2. Aufl. 1867. L. Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg . 1867 .
1. Bd. S. 70 . Eine reiche Auswahl der bei Kinderkrankheiten im siebenbürger Sachsenlande ge
bräuchlichen Zauberformeln , die in ihren Anfangszeilen meist in's heidnische Alterthum zurückgehen,
während der Schluss derselben spätere christliche Zugabe ist, enthält das treffliche Buch von Schuster,
Siebenbürgisch- sächsische Volkslieder. Hermannstadt 1856 . Vgl. des Verf.'s Aufsätze in : Cor
nelia , Zeitschr. für häusl. Erziehung : Der Aberglaube an der Kindeswiege. Jahrg . 1871. S. 100 ; und :
Ueber sympathetische Kuren bei Kinderkrankheiten , Jahrg. 1872. S. 103. A. Wuttke, Der
deutsche Volksaberglaube; 2. Bearbeitung. 1869. S. 338. Englisches in : J. Harland and T. J.
Wilkinson , Lancashire Folk -Lore, London 1867. S. 72: W.Henderson, Notes on the Folk -Lore
of the Northern Counties of England and the Borders. London 1866. S. 108 . Französisches in :
Aug. Hock , Croyance et Remèdes populaires au pays de Liège (Mém . couronné). Liège 1871.
Italienisches in Wold. Kaden , Skizzen und Culturbilder aus Italien. Jena 1882. S. 86. Wendisches
in : W. von Schulenburg, Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte . Berlin 1882. S. 93.
218 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
Manche Mittel mögen aus sehr alter Zeit stammen und gehören unter die
jenigen sympathetischen Kuren , die aus mythischen und mystischen Ge
bräuchen hervorwuchsen . So legt man beispielsweise dem Kinde , das an
Schlaflosigkeit leidet, den Schlafapfel, Spongia cynobasti, „ Rosmies“ genannt,
unter das Kissen ; noch häufiger nimmt man die Baummistel und braucht sie
als Schlafdorn , dann heisst sie Schlafkuntz ; auch bestreicht man dem Kinde,
das den Schlaf nicht finden kann , die Schläfe mit dem Absud von Mandra
gorawurz. Gegen Gespenster und Alpdrücken ( Toggeli) legt man Arum
maculatum (Aronchrut) unter Hausschwelle und Wiege; und hat das Kind
verdorbenes Geblüt, so backt man ihm das Kraut in einen Kuchen , der
Aronetôtsch heisst. Wenn ein Kind den fressenden Hätticher hat, (die „ ettig "
oder „ schwinend sucht,“ franz. l'étique ), so hält man sich einen Kreuzvogel
und lässt es aus des Vogels Geschirr trinken . Auch sagt man : 77 Päonien
körner als Halsblätterli umgethan , helfen dem Kinde vom „ Freischlich , Kinds
wehe, Kindergichter. " Dieses Freischlich der Schweizer ist wohl das oben
erwähnte Flaschlich im Frankenwalde. Und gegen das „ Kinderweh “ legt
man ihm einen Hufnagel unter's Kopfkissen .
Gegen das „ Abnehmen " wird das Kind in der Rheinpfalz mit dem
sogenannten „ Abnehmekraut" am ganzen Leibe gewaschen . In Oldenburg
werden an Abzehrung leidende Kinder durch ein Bündel rohes Garn gesteckt ,
oder man giebt ihnen etwas „ Erbsilber " ein , das man sich verschafft, wenn
man von einem in der Familie vererbten Silbergeräth etwas abschabt.
Kinder mit englischer Krankheit (doppelte Glieder , Rhachitis und
Scrophulosis ) werden von klugen Frauen mit ganz sonderbaren Mitteln
behandelt : in Ostpreussen giebt man dem Kinde den gepulverten Magen eines
Hahnes in Rothwein , oder trägt das Kind dreimal um die Kirche und haucht
dabei jedesmal durch das Schlüsselloch der Kirchthür ; in Ostfriesland über
säet man das Kind im Frühjahr mit Sommergerste , und in Oldenburg wird
das Kind am Johannismorgen nackt in den Rasen gelegt und dann säet man
über dasselbe Leinsamen , denn das Kind fängt an zu laufen , wenn die Saat
aufgeht. Krumme Beine der Kinder heilt man in Böhmen dadurch , dass
man die kleinen Krummbeinigen früh vor Sonnenaufgang im Mai auf der
Wiese im Thau umherführt.
Eine ganz eigenthümliche Manipulation ist in vielen Gegenden Deutsch
lands nicht blos als Heilmittel gegen Rhachitis , sondern auch gegen alle
Verkrümmungen und andere Leibesschäden gebräuchlich : Die kleinen Pa
tienten werden mehrmals durch den Bogen einer Baumwurzel oder eines ge
spaltenen Baumes gezogen . Diese Methode hängt offenbar mit einem alt
germanischen Glauben zusammen , auf den Jacob Grimm aufmerksam macht.
Unsere Ahnen nemlich meinten , bösen Zauber dadurch abzustreifen , dass der
Leidende durch einen Baumspalt, durch ein Erdloch oder durch einen durch
brochenen Felsen sich zwängen musste .
Einem an Bräune leidenden Kinde wird in Mecklenburg ein carmoisin
rother Faden von Seide, mit welchem man eine Natter (Coluber Natrix) er
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes.
219
1) Fronius, Bilder aus dem sächs. Bauernleben in Siebenbürgen . Wien 1879. S. 33.
2. Sympathetische Behandlung des kranken Kindes . 221
dem Kinde Milch auf einen Löffel, mischt Russ aus der Lichtscheere in die
selbe und giebt's dem Kinde zu essen ; oder sie giebt ihm drei Kohlen von
dem Herde im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit zu verschlucken; oder sie
bindet dem Kinde einen Streifen von ihrem eigenen Brustkleide um die Hand
wurzel. Ein in vielen Gegenden Deutschlands geschätztes Mittel gegen
Kinderfraisen besteht im Auflegen lebender Thiere auf verschiedene Theile
des Körpers. Der von Federn entblösste After einer lebendigen jungen
Taube wird an den After des "/ -2°/2jährigen Kindes befestigt, welches
während dieser Operation auf der Seite liegen muss. Die Taube stirbt an
immer gesteigerter Athemnoth oft schon nach 5 Minuten , bleibt aber auch
zuweilen am Leben . Im ersteren Falle wiederholt man die Kur, indem man
eine zweite und dritte Taube aufbindet. Das Kind soll bald darnach in
rubigen Schlaf verfallen und genesen . Diesen Verfahrungsweisen liegt wohl
ein altgermanischer Glaube an Uebertragung der Krankheit auf Thiere
zu Grunde.
Einer anderen krankhaften Erscheinung am Kinde, den Unterleibs
' brüchen, setzt man eine ebenso mysteriöse Therapie entgegen . In Unter
franken und vielen anderen Gegenden Deutschlands wird das bruchkranke
Kind in einer Johannis-Nacht stillschweigend durch einen gespaltenen jungen
Eichenbaum mit dem Kopfe voran gesteckt unter dem Spruche : „ Im Namen
des Vaters etc.“ In Oldenburg übt man dasselbe Verfahren , doch müssen
dort die mitwirkenden drei Personen sämmtlich Johann heissen . Nach Be
endigung der Ceremonie wird der Baum verbunden , und wenn die Spalte
des Baums verwächst, so heilt der Bruchschaden . In Mecklenburg darf der
hierzu benutzte Baum nicht umgehauen werden , sonst stirbt das Kind . In
Baiern (insbesondere in der Gegend von Ochsenfurt) hat man folgende Me
thode der Bruchheilung: Man nimmt einen Nagel von einem Hufeisen , das
ein Pferd verloren hat, und geht damit, wenn das Neulicht auf einen Freitag
eintritt, Morgens früh vor Sonnenaufgang auf das Feld und zwar, wenn das
Kind ein Knabe ist, zu einem Eichbaum , wenn es ein Mädchen ist, zu einem
Birnbaum , schlägt mit einem Hammer den Nagel gegen Sonnenaufgang in
den Baumstamm und zwar mit drei Streichen . Beim ersten Schlage spricht
man : ,, Jesus geboren ,“ beim zweiten : „ Jesus verloren ,“ beim dritten : „ Jesus
wiedergefunden heilet jetzt N. N. (hier wird der ganze Name des Kindes ge
nannt) des Kindes gebrochene Wunden .“ † † † Darnach kniet man nieder
und betet ein Vaterunser . An abgelegenen Waldstellen bindet man im
Frankenwald zu gleichem Zweck Holzäste oder Bäumchen kreuzweise zu
sammen , damit es zusammenwachse. Im Aischgrunde setzt man , um den
Nabelbruch zu beseitigen , eine Meerzwiebel in einen Blumentopf, und lässt,
anstatt dieselbe zu begiessen , das Kind darauf harnen .
Aus der Schweiz kenne ich etwa 5 Methoden der Bruchheilung: Das
Kind wird durch eine gespaltene Birke hindurch gesteckt, doch muss man
einen Sperling dazwischen legen . Auch nimmt man von jedem Nagel an
Hand und Fuss des Kindes, dazu etliche Härchen vom Wirbel, thut's in
222 Die sympathetische Behandlung des Kindes.
ein Zettelchen mit des Kindes Namen , schiebt's in das Bohrloch einer jungen
Eiche, das man mit Wachs verschliesst. Nach einer anderen Methode be
rührt man mit einem Sargnagel die Weiche des Leibes, stellt den Kranken
barfuss vor einen Eichenstamm und schlägt den Nagel dicht über dem Kopf
in den Baum ; dazu sagt man : „ Eiche heilt Verhärtung." Oder der Vater
des Kindes lässt sich vom Pathen ein Stück Silbergeld geben , ohne zu sagen,
wozu ; dies schlägt der, Vater in den drei höchsten Namen mit drei Streichen
in einen Süssapfelbaum ; sobald der Hieb am Stamm verwächst, ist auch der
Bruch geheilt. Ein complicirteres Verfahren ist endlich folgendes : Man
streicht ein Ei, warm aus dem Neste genommen , etlichemale auf den Bruch ,
dann lupft man die Rinde vom Lindenbaum , bohrt darunter ein so grosses
Loch, als das ganze Ei braucht, und überklebt's mit Baumharz ; drei Mo
nate darauf, drei Tage vor Neumond , bohrt man in eine Eiche bis auf den
Kern und legt die Bohrspreu in einem Säcklein drei Tage lang, bis das neue
Mondviertel eintritt , auf den Leibschaden ; hierauf steckt man Alles in das
Bohrloch der Eiche und verklebt dieses mit Kuhkoth ; ist der Schaden in
drei Monaten noch nicht heil, so geht man zum dritten Baum , etwa an die
Pappel. Dies Verfahren nennt man : „ Die Krankheit transplantiren .“
Ein solches „ Uebertragen" von Krankheiten auf Pflanzen findet
noch in anderer Weise statt und ist unzweifelhaft ein uralter germanischer
Brauch . So gräbt man bei Leibesschäden kleiner Kinder in Baiern nach der
,, Bruchwurzel" drei Tage vor dem Neumond mit dem Spruche:
„ Wurzel, ich grab' dich in Gottes Macht,
Dass N. N. sein Leibesschaden vergehen soll mit Gottes Kraft !"
Beim Neumond werden drei Knollen der Wurzel dreimal auf den Leibes
schaden gedrückt mit dem Spruch :
„ Wurzel, ich drück ' dich u. s. w .
im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes !"
Dabei werden mit den Fingern drei Kreuze auf die Gegend des Schadens ge
macht; drei Tage nach dem Neumond wird schliesslich die Wurzel mit dem
selben Spruche, wie beim Ausgraben , wieder eingegraben .
Wir nannten hier das „ Uebertragen der Krankheiten auf Pflanzen " einen
germanischen Brauch . Allein ganz Aehnliches wiederholt sich in Amerika ;
wir finden auch wieder in solchen Parallelen gleichlaufende psychische Richtung
im Leben und Denken der Völker . Wenn in der argentinischen Republik der
kaum vernarbte Nabel eines Neugeborenen wieder aufzubrechen droht, so
setzt man dessen Füsschen auf die Rinde eines Ombú (Pircunia dioila ) oder
eines Tala -Baumes und schneidet sodann vom Baume den Theil los, den die
Fusssohle bedeckt. ")
Noch eine andere Art der sympathetischen Uebertragung von Krankheit
kommt häufig in Deutschland vor.
Wer kennt nicht die mannigfachen sympathetischen Kuren gegen Warzen ?
Man bringt sie oft genug bei Kindern in Anwendung , und eine Kur , die
wenig von Nächstenliebe zeigt, ist folgende: die Warze wird mit einem Geld
stück berührt und dieses zum Fenster hinausgeworfen ; derjenige , welcher
das Geldstück aufhebt, bekommt die Warzen , der Andere verliert sie. Hier
will man also die Krankheit auf andere Menschen übertragen. Aehn
liche, in Oldenburg heimische Methoden der Warzen -Uebertragung auf
Menschen findet man bei Strackerjan. ")
Wenn sich ein Kind durch Fallen oder Stossen eine Beule zugezogen
bat, so gilt nicht blos bei uns, sondern auch bei vielen anderen Völkern als
bestes Heilverfahren das Zerquetschen oder Verreiben der frisch entstandenen
Geschwulst; die Mütter bedienen sich hierbei entweder der Finger oder eines
Löffels, singen auch dazu beruhigende Kinderlieder, die namentlich in Thü
ringen und in Süddeutschland beliebt sind; im Preussischen sagt die Mutter
beispielsweise :
„Heil Heil und Segen ,
Drei Tage Regen.
Drei Tage Schnee,
Thut nicht mehr weh ."
Hand giebt. Nur in Einer Beziehung kann man dem Aberglauben Gutes
nachsagen : er gewährt sorgenvollen Gemüthern Erleichterung. Und schon
Grimm schloss sein Kapitel über den Aberglauben mit den Worten : Wir
sind froh , des vielen Aberglaubens ledig zu sein , doch erfüllte er das Leben
unserer Vorfahren nicht allein mit Furcht, sondern auch mit Trost.
Die Kinderstuben -Medicin kennt eine Menge Mittel, welche der physio
logischen Entwickelung der Zähne förderlich sein sollen , die jedoch der
rationelle Arzt als Ergebnisse des Volksaberglaubens verwirft ; es würde
ihm leicht sein , die völlige Unwirksamkeit dieser Mittel und Kuren darzuthun ,
allein schwer, ja fast unmöglich ist es, dem Volke den Glauben an die über
natürliche Kraft derselben zu nehmen . Wir werden uns hier keineswegs
mit den arzneilichen Stoffen beschäftigen , welche die Volksheilkunde in dieser
Beziehung anwendet: vielmehr interessiren uns hier nur die culturhistorisch
wichtigen Sitten und Gebräuche, die auf einer abergläubischen Einbildung
beruhen , aber auch für Geist und Sinn des Volkes insofern eine besondere
Bedeutung haben , als sie charakteristische Merkmale einer eigenthümlichen
Auffassung ungenügend beobachteter Naturvorgänge sind.
Es kommt, wenn auch selten , vor , dass Kinder schon mit einzelnen
Zähnen im Munde auf die Welt kommen. Ein solches Ereigniss hat
für den beschränkten Sinn des Volkes etwas ganz Mysteriöses ; die kleine
Abnormität an einem einzelnen Theile macht in den Augen der Menschen
das ganze Wesen des neuen Ankömmlings abnorm , und man sagt daher an
mehreren Orten Deutschlands: „ Das Kind , welches mit Zähnen geboren
wird , wird eine Drud.“ Die Erscheinung hängt also mit einer Hexerei zu .
sammen . Wie man überhaupt das Ereigniss, dass ein Kind mit Zähnen ge
boren wird , im Volke auffasst, ersieht man aus unseren Mittheilungen über
die Merkmale am Körper des Kindes (Band I. S. 49.) und daran , dass der
gleichen Kinder getödtet werden (Bd. II. Kap. 24 : ,,Der Kindermord." ).
Schon längere Zeit, bevor die Zähne durchbrechen , sorgt man dafür,
dass das in normaler Weise geschehe. Damit das Kind leicht zahne,
hängt man ihm ein Halsband mit rothen Korallen oder Päoniensamen (sogen.
Zahnperlen ) um . Es ist dies gleichsam ein specifisches Zahn- Amulet , an
' dessen mystische Wirkung man ganz allgemein glaubt. Um das Zahnen
zu befördern , hängen die Woloff-Neger den kleinen Kindern einen Talisman
um den Hals , bestehend aus einem Kupferring , von dem 5 oder 6 lange
Riemen von Kupfer herabhängen, die an ibrem freien Ende dicke Glasperlen
tragen .") Daneben hat man an , einzelnen Localitäten noch besondere Spe
cifica , die wesentlich auf der Idee beruhen , dass man Thierzähne in Bezie
hung zum Kinde bringt, um mit Hülfe einer zauberischen Einwirkung deren
tüchtige Beschaffenheit gleichsam auf die zu erwartenden , hervorsprossenden
Kindeszähne zu übertragen . So legt man in Franken einen Hosenknopf
und dazu die getrocknete Nabelschnur unter das Kopfkissen des Säuglings,
oder man hängt demselben bei zunehmendem Monde den Zahn eines ein
järigen Füllens um den Hals. Bei den alten Römern wurden Pferde- und
Eberzähne als Mittel leichten Zahnens angebunden (Plinius hist. nat. 28. 78 ).
Den Säuglingen hängt man in der argentinischen Republik (Südamerika) die
Zähne eines Iltises oder Hundes um den Hals , um das Zahnen zu beför
dern .') – Derartige sympathetische Kuren gegen das schwere Zahnen giebt es
auch in Thüringen , nur sind sie dort etwas widerlicher : der Vater des Kin
des nimmt einen Maulwurf, drückt ihn in der Hand todt , dann haut er ihm
mit einem Beile oder beisst ihm mit den Zähnen eine Pfote ab , näht sie in
ein Beutelchen und hängt es dem Kinde um den Hals. Auch lässt man in
Thüringen das zahnende Kind oft von einem Hunde belecken . Dagegen heisst
es in Schwaben , für's Zahnen der Kinder sei ein Mauskopf, unbeschrieen ab
gebissen , in Leder genäht und an den Hals gehängt, das Beste. Auch giebt
dort jede Hausfrau einem unterjährigen Kinde, sobald es das erstemal zu
ihr getragen wird , ein hartgesottenes Ei, damit es gut zahne. Im Erzgebirge
trägt man das Kind zu einem Fleischer , welcher den Finger in frisches
Kalbsblut taucht und ihm damit das Zahnfleisch berührt. In der deutschen
Schweiz müssen die Kinder auf Jungfernwachs-Kerzen beissen , man reibt
das Zahnfleisch mit Wolfszähnen , oder mit dem Blute, das man durch einen
Schnitt in den Kamm des Haushahnes gewann , mit dem Pfötchen einer
Kröte oder Schermaus, welche man dann dem Kinde anhängt unter dem
Namen „ Füllenzähne“ oder ,, Vulvenzähne.“ Der Kröte werden die Vorder
füsse abgehauen und je nach ihrem Links oder Rechts reibt man das Zahn
fleisch des Kindes von innen und aussen damit.
Damit das Kind leicht die Zähne bekomme, bestreicht in Hessen die
Mutter die Zahnladen desselben mit drei besonders dazu bestimmten Wecken
brocken stillschweigend. Diese Brocken sind die Reste eines Mahles, wel
ches die Mutter einnahm , als sie an ihrem Hochzeitstage in die neue Woh
nung einzog. Das Kind bekommt die Zähne leicht , wenn man ihm ein
Käntchen Brod vom Hochzeitstisch eines unbescholtenen Brautpaares zu
essen giebt (Mittenwalde im Brandenburgischen ), oder wenn man ihm seinen
Kindsbrei mit Lindensprossen anrührt, die am Charfreitage beim Zwölf
schlagen geschnitten wurden (Schweiz), oder wenn man einen Knochen , den
man findet, in die Wiege unter den Strohsack legt (Fahrland bei Potsdam ),
Anderwärts geht die Mutter einem Manne, der in ihr Haus einkehren will,
aber das Kind zuvor nicht gesehen hat, stillschweigend mit dem Kinde in
der Hausthür entgegen und giebt ihm ein Geldstück . Der Mann reibt als
dann mit dem Gelde dem Kinde dreimal stillschweigend das Zahnfleisch ,
worauf er sich wieder entfernt, um das Geld , wie erforderlich ist , alsbald
zu vertrinken .
Wenn im Spreewald (mit slavischer Bevölkerung ) einem Kinde bei
Zahnschmerzen zum erstenmale ein Zahn ausgezogen wird , so soll bei
einem Jungen die Mutter , bei einem Mädchen der Vater den ersten Zahn
verschlucken . Alle später ausgezogenen Zähne sind in das Feuer zu werfen
und zu verbrennen , dann thun die Zähne nicht mehr weh und es wachsen
wieder neue. Ein anderes Mittel der Bewohner des Spreewaldes gegen
Zabnschmerz ist folgendes : Man beisse dem Rietwurm oder einem Molch den
Kopf ab und spucke ihn schnell aus , oder nehme einen alten Besen und
halte ihn über Feuer , bis er anfängt zu brennen . Dann schlage man es
aus , dass die Funken absprühen und lasse sich den Rauch in die Zähne
kommen . )
Bei den Serben soll man dem Kinde, um es für immer vor Mund
schmerzen zu bewahren , im Munde einigemale einen Schlüssel umdrehen und
dann denselben an einen Ort legen , von wo er niemals weggenommen wer
den kann . Das Kind bekommt so starke Zähne, wie das Eisen ist. Wenn
zur Zeit des Zahnens das Kind sehr stark weint , so soll es die Mutter auf
die Wange schlagen und sagen : „Mein Kind weint nicht wegen der Zähne,
sondern wegen des Wangenschlagens.“
Vor der Taufe darf der Pathe nichts essen , damit dem Kinde die Zähne
gesund und vor den Würmern bewahrt bleiben . Andere glauben , wenn der
Pathe vor der Taufe etwas isst, so wird das Kind sehr gefrässig .2)
Die Motive zu einzelnen abergläubischen Vorstellungen lassen sich kaum
'errathen . Die Phantasie des Volkes erfindet hier ganz frei, oder sie schöpft
aus irgend welchen , uns unbekannten mythischen Quellen und Sagen . In
Mecklenburg heisst es : Kinder , welche beim Saugen den Daumen in die
Hand kneifen , zahnen schwer. In Böhmen kniet die Mutter beim ersten
Kirchgange mit dem rechten Knie nieder , damit das Kind nicht an Zahn
schmerz leide. In der deutschen Schweiz meint man , dass dem Kinde kein
Zahn mehr wächst, dem man den ausgefallenen hinter sich wirft. Die Heb
amme taucht in Franken bei der Taufe heimlich den Finger in's Taufwasser
und reibt damit das Zahnfleisch des Kindes, so zahnt es leicht.
Das Bekommen der ersten Zähne war bei den alten Indern ein be
sonders feierlicher Moment im Leben des jungen Erdenbürgers ; so lautet
ein Hymnus (nach Avesta 6 , 140 ) :
,,Sie , die gross geworden , tigergleich Vater und Mutter zu fressen
wünschen , diese beiden Zähne, Brhaspati , mache hold , o Jata
vedas."
„ Reis esst, Gerste esst, Bohnen und Sesam esst: das ist der Euch
beiden bestimmte Theil, nicht verletzt Vater und Mutter."
„ Angerufen sind die beiden vereinten Zähne, dass sie sanft und
glückbringend sind ; anderswohin wende sich Eure Schrecklich
keit, Zähne; nicht verletzt Vater und Mutter.“ 1)
Das Hervorsprossen des ersten Zahnes ist immer ein Familien -Ereigniss.
Wenn uns der verstorbene Afrika -Reisende C. Mauch berichtet, dass die
Makalaka in Südafrika, sobald bei ihnen ein Kind Zähne bekommt, aber
gläubisch nachsehen , ob die unteren oder oberen zuerst erscheinen , so können
wir sofort auf einen in Böhmen herrschenden Aberglauben verweisen , welcher
dem Ideenkreise südafrikanischer Völker gewiss ebenbürtig ist : Ein Kind ,
das den ersten Zahn am Unterkiefer bekommt, gräbt sich selbst das Grab ;
bekommt es den ersten Zahn oben , so wird es bald sterben . In Unyóro
und Uganda (Aequatorial-Afrika ) ist das Durchbrechen der Schneidezähne
vor den unteren bei Kindern als Unheil bringend gefürchtet, und man ruft,
wo es vorkommt, sofort den „mbándua" (Zauberer), der gewisse Tänze
executirt, um das Kind zu schützen .?) Die Neger in Centralafrika tödten
nach Livingstone jedes Kind, das den oberen Vorderzahn vor dem unteren
bekommt. Ein solcher Brauch scheint durch ganz Afrika zu herrschen , wie
wir von den Wazaramo (Ostafrika) und Sotho -Negern (oder Seso , einem
Mandingo -Stamm ) im Kapitel über Kindesmord näher berichten werden. Auch
bei den Aïnos in Japan sind Kinder, die mit Zähnen geboren werden , nicht
erwünscht.3 )
Eine hübsche, an vielen Orten Deutschlands vorkommende Sitte schreibt
vor, dass, wenn ein Kind den ersten Zahn bekommt, dieses entweder selbst,
oder eine arme alte Frau mit irgend Etwas beschenkt wird . An einigen
Orten Hessens und in mehreren anderen Gegenden Deutschlands wird das
Geschenk Demjenigen zu Theil, der den Zahn zuerst sieht. Wenn bei den
alten Deutschen das Kind den ersten Zahn bekam , so wurden ihm Geschenke
– tannfe – gegeben (Weinhold ). Dieser Brauch dürfte, wie Mühlhause 4)
meint, zur Aufhellung des bis jetzt unerklärten Mythus dienen , dass im An
fang der Zeiten Alfheim dem Freyr als Zahngebinde geschenkt wird . Wir
können hier folgende Analogie anführen : Wenn unter den Nayer's, der
Militärkaste in Malabar , dem Kinde die Zähne durchbrechen , so sendet die
Mutter Kuchen an die Freunde des Hauses (Jagor).
Sehr auffallend ist der Umstand, dass mit den Zähnen der Kinder, ins
besondere mit den Milchzähnen , die Maus vielfältig in Verbindung gebracht
wird . Dies ist nicht blos ganz allgemein in Deutschland , sondern auch bei
einzelnen, recht entfernt wohnenden Völkerschaften (Alt-Mexikaner, Neusee
länder) der Fall. Die Ideen -Verbindung zwischen Kindeszahn und Maus
(oder Ratte) muss demnach eine ziemlich naheliegende sein . Schon der alt
mexikanische Glaube schrieb vor : Ein Wechselzahn muss in ein Mauseloch
gelegt werden , sonst wachsen die Zähne nicht mehr. Und wenn bei den
Maori auf Neuseeland die Zähne des Kindes hervorkommen , so singt die
Mutter:)
,, Sprossender Kern, spross',
Spross', dass Du mögst kommen
Zu sehen den Mond nun voll !
Komme Du sprossender Kern,
Lass die Zähne des Mannes
Gegeben werden der Ratte,
Und der Ratte Zähne
Dem Manne !"
1) Fr. Müller, Reise d . österreichisch. Fregatte Novara. Anthrop. Th. III. Ethnogr. Wien
1868 . S. 55.
3. Das Zahnen der Kinder und seine Beförderung. 229
In Hessen muss das Kind mit dem ausgefallenen Milchzahn vor ein
Mäuseloch gehen und sagen :
„ Mäuschen , Mäuschen, hier habe ich einen hölzernen Zahn,
Gieb mir dafür einen knöchernen .
Beim drittenmale muss der Zabn rücklings über den Kopf in das Mauseloch
geworfen werden .
Am Rhein singen die Kinder :
„ Maus, Maus, komm heraus,
Bring mir einen neuen Zahn heraus.“
In Schlesien :
„Mäusel, ich gab dir ein Beindel,
Gieb mir dafür ein Steindel."
In Westfalen (Hemschlar) sagt das Kind, ebenso wie in Schlesien :
„ Mäuschen, ich geb dir einen knöchernen Zahn,
Gieb du mir einen eisernen."
In Altenburg :
„ Maus, da hast du en bennern (beinernen ),
Gib mir dafür en stennern (steinernen )."
Im Namen Gottes u . s. w . † † †
Wenn im Herzogthum Oldenburg ein Kind einen Zahn verliert, so muss
man ihn in ein Mauseloch legen und sagen :
„ Mus, Mus,
mi ne Kus'; “
alsdann bekommt das Kind bald einen neuen Zahn (in Brake); und zwar (in
Jade ) gerade hinüber, sonst wächst der neue Zahn schief. In Oldenburg
heisst es auch, man müsse dabei sprechen :
,, Steen ,
Giff min neet Been ;"
und fügt wohl noch hinzu :
„ Dat minich killt (schmerzt)
Dat mi nich schwillt."
Ferner heisst es in Oldenburg , man dürfe den weggeworfenen Zahn gar nicht
wiedersehen , in Jade, man müsse ihn wohl aufheben oder verbrennen .
In Mecklenburg existirt ein recht übler Brauch ; dort heisst's : Wenn
man einer lebenden Maus einen Zwirnfaden durch beide Augen zieht, sie
dann wieder laufen lässt und den blutigen Faden einem neugeborenen Kinde
um den Hals bindet, so zahnt es leicht.
In Norwegen wirft das Kind den Zahn , den es verliert, in das Feuer,
speit drei Mal aus und sagt :
„ Maus, Maus, da hast du einen beinernen Zahn ;
Gieb mir dafür einen goldenen." ?)
In Russland muss sich das Kind rückwärts an den Ofen stellen und den
Zahn hinter sich werfen , indem es spricht;
„Mäuschen , Mäuschen , dir den Rübenzahn,
Und gieb mir einen Beinzahn.“
Bei den Czechen in Böhmen gilt der Fuchs als Spender der Zähne, und
das Kind muss den Zahn unter freiem Himmel hinter sich über den Kopf
werfen und sprechen :
„ Da hast Du Fuchs den beinernen,
Gieb mir für ihn 'nen eisernen ."
In Deutschböhmen dagegen wird das Eichkätzchen angerufen , indem das
Kind hinter den Ofen geht, den Zahn über sich wegwirft, und dreimal die
Worte sagt :
! „ Eichkätzchen, Eichkätzchen ,
Ich geb dir einen beinernen ,
Gieb inir einen eisernen ."
Nach Grohmann heisst es in Böhmen : Wenn sich ein Kind einen Zahn
ausreissen lässt, so muss es denselben hinter sich auf den sogenannten
Falousek des Backofens werfen und sprechen :
„ Tu mas babo kosteny,
Dej mi za to zelezny."
Thut es dies nicht, so ist der Zahn, der nachwächst, nicht fest und fällt bald
aus. Auch muss das Kind, wenn ihm der erste Zahn ausfällt, denselben
hinter sich über den Kopf und hinter den Ofen werfen , indem es sagt :
„ Tu mas lisko kosteny etc.“
Statt lisko, Füchslein , kommt auch mysko, Mäuslein , vor.
Die Gebräuche beim Zahnen nennt Mühlhause mit Grimm Ueber
bleibsel eines Bittopfers, welches man denjenigen Wesen brachte , von deren
Gunst oder Ungunst das Zahnen der Kinder abhängend gedacht wurde.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
Als der Engländer Speke, der berühmte Forscher auf dem Gebiete
der Nilquellen , im Reiche Unyoro Abschied vom König Kamrasi nehmen
wollte, liess ihm dieser noch folgende zwei Fragen vorlegen , die er jeden
falls für sehr wichtig hielt und über die er von dem gebildeten Europäer
Aufschluss zu erhalten hoffte : „ Giebt es irgend eine Arznei für Frauen und
Kinder, welche das Sterben der Nachkommenschaft kurz nach der Geburt
verhindert? Denn einige Frauen in diesem Lande haben die Schwäche, dass
alle ihre Kinder sterben , ehe sie laufen können , während andere nie ein
Kind verlieren . “ Der andere Gegenstand der Erkundigung war : „ Welche
Arznei fesselt die Unterthanen an ihren König ? Denn hiervon braucht
Kamrasi ganz besonders.“ Speke beantwortete nur die zweite dieser
Fragen : Kenntniss einer guten Regierung mit Weisheit und Gerechtigkeit
1. Kinderheilmittel verschiedener Völker. 231
im Gefolge ist alle Arznei, die wir kennen . ) Er hätte auch die erste der
Fragen beantworten sollen : Kenntniss der wahren Bedürfnisse des Kindes
und richtige Abwartung und Pflege des Kindes durch die Mutter ist die
einzige Arznei, welche ietztere anwenden darf.
Es ist eigenthümlich , dass fast überall der Volksglaube sich dahin
richtet, dass das Kind dann , wenn es nicht krank ist, Arznei bekommt, dass
man aber oft dann, wenn es wirklich schwer krank ist, alle Arznei für un
zulänglich hält und sich entweder einer sympathetischen Kur oder der kirch
lichen Kraft einer Wallfahrt, eines Kirchenopfers, Gebeten und Messelesen
anvertraut. Statt vieler Thatsachen führen wir hier nur einige Beispiele aus
Deutschland an . Im Bezirksamt Schongau in Oberbaiern hegt man den
Aberglauben , dass bei Erkrankung eines Kindes ein Wallfahrtsgang nach
einem schwäbischen Orte dem letzteren Genesung bringt. Dort wird in der
Kirche das schmutzige Hemdchen des kleinen Patienten aufgehängt, ein ge
wisses Opfer und obligates Gebet von irgend einer dazu delegirten Person
verrichtet. Von dem Tage des Beginnes der Wallfahrt an bis zum 9. Tage
darf das Kind weder gewaschen noch gebadet, auch nicht frisch gekleidet
werden , ebenso wenig darf es Arznei bekommen. Meist stirbt, wie
Dr. Kruger ?) berichtet, das kranke Kind vor Ende der neuntägigen Wunder
kur. In München herrscht der Glaube, dass man für schwerkranke Kinder
in einem dortigen Nonnenkloster gegen Geld sogenannte „ geweihte Leben
und Tod -Pulver“ holen und somit die Entscheidung über die Zukunft des
Kindes dem lieben Gott anheimstellen müsse.
Gewöhnlich ist es die „ Erfahrung,“ auf welche sich die leichtgläubigen
Menschen bei ihrer sinnlosen Therapie berufen ; d. h . ihre Autorität zur
Rechtfertigung der Quacksalberei ist die Tradition , indem hier eine von
Generation zu Generation forterbende Empirie in schlimmster Gestalt als
Quelle grossen Unheils zu Tage tritt. Medicamente in den Händen der
Quacksalber werden in ungemein vielen Fällen zu Giften , die das Leben des
kaum geborenen armen Wesens verderben .
1) J. H. Speke, Entdeckung der Nilquellen . Aus dem Engl. Leipzig 1864. II. Bd . S. 236 .
2 ) Bairisch. ärztl. Intelligenz- Blatt. 1874. Nr. 45.
232 Arzneiliche Behandlung des Neugeborenen .
berg (Amt Blaubeuren ) zur Beruhigung und Einschläferung der Kinder ver
schiedene beruhigende Säftchen , z . B. den sogenannten „ Ruhesaft,“ d . h .
Syrupus opiatus, ferner Grimmenpulver mit Opium , namentlich den ,,Kläpper
lingsthee,“ d. h . Mohnköpfe, und sogar Branntwein an . „ Schon manches
Kind ist auf diese Weise der eigenen Bequemlichkeit seiner Eltern zum
Opfer gebracht worden .“ 7) Auch in St. Gallen in der Schweiz herrscht auf
dem Lande die Unsitte, dass die unreifen Kapseln des Gartenmohns (Papaver
somniferum ) in Wasser gesotten und der Absud kleinen Kindern zum Trinken
gegeben wird , damit sie dann lang und anhaltend schlafen . ) Der Diakoden
syrup wird in einem grossen Theile Oesterreichs unter dem Namen „ Bocks
hörndlsaft“ verkauft und enthält Opium . Diese Opiumqantität ist gross
genug, um die zarten Kinder in Betäubungsschlummer zu versetzen , ja auch
den Tod herbeizuführen . Im Jahr 1863 starben in Wien rasch hintereinander
vier Säuglinge an Verabreichung dieses Syrups; in Folge dessen forderte
das medicinische Doctoren -Collegium die Behörde auf, den Verkauf dieses
bedenklichen Arzneistoffs zu beaufsichtigen. In Mecklenburg schläfern nach
L. Fromm (Schwerin ) manche Mütter die Kinder durch eine Abkochung
von Mohnsamen oder durch ein Decoct vom Samen des sehr giftigen Bilsen
krautes (Hyoscyamus niger ) ein . Von Thüringen (Königsee) aus treiben
viele sogenannte Laboranten einen ausgebreiteten Gifthandel mit „ Olitäten “
und Balsamen , die ebenfalls Opium enthalten und Kindern gegeben werden .
Eine einzige Königseer Balsamträger-Familie, die hauptsächlich die berüch
tigten Kinderpillen verfertigt und in Deutschland feilhält, verbraucht nach
Angabe des Dr. L. Pfeiffer in Weimar 3) jährlich 10—12 Pfund Opium .
Am ausgebreitetsten ist im Volke Englands die Unsitte , den Kindern
Schlaftränkchen mit Opium darzureichen . So soll an den sogenannten
,Black drops" schon manches Kind verstorben sein . In den Marsch- und
Fabrikdistrikten Englands ist der Opiumgebrauch ganz bedeutend ; manche
Droguisten verkaufen mehr als 200 Pfund jährlich. Man hat in einem Distrikte
den jährlichen Verbrauch durchschnittlich auf wenigstens 100 Gran auf den
Kopf berechnet; ein gewöhnlicher Laden bedient 300-400 Kunden in der
Sonnabendnacht. Den Kindern giebt man das Opium in Form von „ God
frey's Cordial“ (Godfrey's Herzstärkung). Bisweilen kommt es vor, dass, da
es verschiedene Arten Godfrey's giebt, eine Mutter ihre Kinder einer Wär
terin übergiebt, um auf Arbeit zu gehen , und dass die Wärterin ihren
Godfrey statt dem der Mutter den Kindern darreicht. Der herbeigerufene
Arzt findet dann ein halbes Dutzend Kinder theils schnarchend, theils schielend,
alle blass und mit eingesunkenen Augen im Zimmer umherliegend , alle ver
brauch , welche aus Persien eingeführt werden und auf persisch Chamra
banausch heissen . Diese Kügelchen sind hellbraun, 1-1 /2 Linien dick ; sie
bestehen aus Stärkemehl, Zucker und einem Aufguss von Stiefmütterchen .
Man giebt dem Kinde entweder die Kügelchen direct zum Saugen , oder man
macht daraus mit Butter oder mit Muttermilch einen Brei. Durch den Genuss
dieser Nahrung sollen die Kinder kräftiger werden und ein gesundes Aus
sehen bekommen . Als Abführmittel wird der Saft aus Früchten der Cassia
fistula gebraucht, welche gleichfalls aus Persien eingeführt werden . ")
Neben jenen narkotischen (betäubenden oder beruhigenden) Stoffen sind
Abführmittel die wichtigsten Kinderarzneien bei allen Völkern. Im Orient,
z. B. in Persien , reicht man den Kindern in den ersten zwei Tagen keine
andere Nahrung , als ,etwas frische Butter (Polak) ; in Japan erhält das
Neugeborene drei bis vier, mindestens zwei Tage nach der Geburt ein Ge
tränk von höchst complicirter Mischung , in welcher sich unter Anderem
Rhabarber , Seetang, Süssholz befindet, oder auch starke Purgir - Pillen
(v . Siebold ); und ein anderer Berichterstatter 2) aus Japan schreibt : „ Die
drei ersten Tage werden zum Laxiren mit Rheum benutzt.“ In Java treiben
die Mütter mit ihren Säuglingen recht viel Quacksalberei der mannigfachsten
Art schon in den ersten Lebenstagen ; z. B. wird dem Säugling wenig Stun
den nach der Geburt ein Stückchen Brambang (Charlottenzwiebel) auf den
Kopf gelegt und dessen Stirn und Schläfe warm mit der Kerri-Wurzel be
strichen . Diese vermeintlichen Stärkungsmittel werden täglich erneuert , bis
der Säugling 3-4 Monate alt ist. (Kerri-Wurzel und zerquetschter Bram
bang mit spanischem Pfeffer vermischt sind in Java die unentbehrliche Würze
des täglich genossenen Reises ). Auch haben die Javanesinnen die Gewohn
heit, ihren Säuglingen und 1–4 jährigen Kindern sehr oft ein Brechmittel
zu geben , das von den Kindern nur mit dem grössten Widerwillen hinunter
geschluckt wird . Julius Kögel3) sah , wie die Mütter gewisse Kräuter ,
deren Genuss Erbrechen verursacht, fein schnitten , auf diese etwas Wasser
gossen und sie nachher mit den Fingern ausdrückten , wodurch ein grün aus
sehendes Brechmittel gewonnen wird. Ein solches wird erst , nachdem es
durch ein Stück weissen Kattun filtrirt worden , dem Kinde eingegeben . Das
Erbrechen erfolgt binnen wenig Minuten, spätestens nach einer halben Viertel
stunde . Wenn der Säugling bei den Arabern in Algier während der ersten
Lebensmonate die Mutterbrust verweigert, so giebt man ihm ein Stück Asa
fötida von der Grösse eines Weizenkorns. 4) Am grössten aber ist der
Reichthum der Chinesen an Kinder-Arzneien.5)
Wenn bei den Kirghizen des Gebietes Semipalatinsk ein Kind erkrankt
ist, so wird ein „ Dargon ,“ d . i. ein Mann , der Arzneien kennt , oder ein
„ Baksa ," d. i. eine Art Schamane, herbeigerufen ; letzterer spielt nur leise
auf seiner Kobysa, d. i. ein dreisaitiges Instrument. Hat das Kind Leibweh ,
SO setzt der Baksa ihm eine Art trockener Schröpfköpfe auf den Bauch ,
kaut Gewürzkügelchen oder Zwiebeln und bespritzt mit der Mundflüssigkeit
das Kind oder bläst das Kind an ; er lässt einen schwarzen Schafbock
schlachten und schlägt mit der Lunge desselben das kranke Kind. Der
„ Dargon “ fühlt dem Kranken den Puls , indem er beide Hände sowohl an
die Schläfe als an die Arme legt. Wenn er meint, dass das Kind in Folge
der Muttermilch erkrankt sei, so verbietet er der Mutter innerhalb drei Tagen
Essen zu sich zu nehmen , reicht ihr dagegen einen schwachen Aufguss zur
Brechung: ")
Bei den Russen in Astrachan bekommt das Kind, wenn dasMeconium
(Kindspech ) nicht bald abgeht, etwas Baumöl oder gekaute, in einem Läpp
chen eingewickelte Runkelrübe; Manche jedoch , denen die abführende Wir
kung des Rhabarbersaftes bekannt ist, scheuen sich nicht, auch diesen anzu
wenden (Meyerson). Unter den Tungusen vertritt ein Stück in Weiden
oder Birkenrinde eingewickeltes Fischrogen die Stelle eines Zulpes . Im Pi
neg'schen und Mesen'schen Kreise des Archangel'schen Gouvernements blasen
die Mütter den Säuglingen feinen Schnupftabak in die Nase , um ihnen einen
festen Schlaf zu machen.2) Bei den Kindern der Buräten sind Augen
krankheiten sebr häufig ; dieselben rühren sehr oft von den Morpionen her ,
welche sich an den Augenwimpern ansiedeln . Wenn die Augenlider der
Kinder durch das angesammelte Secret verklebt sind , so pflegen die Mütter
dasselbe mit der Zunge abzulecken , was nicht sehr zuträglich sein kann, da
alle Burätenweiber Tabak kauen und rauchen (N. J. Kaschin ). Die Geor
gier halten das neugeborene Kind 24 Stunden in Salz , um die Entstehung
eines Ausschlags auf der Haut zu verhüten , ein Leiden , welches bei ihnen
häufig vorkommt, wenn das Kind, wie sie sagen , nicht auf diese Weise be
handelt wird.3) Eine sehr naive Pathologie und Therapie besteht unter den
Esten: Spielt das Neugeborene mit der Zunge , so hat es den „ Schlangen
fehler," muss also mit Schlangenhaut geräuchert werden ; schnappt es mit dem
Munde, so hat es den „ Wolfsfehler," wo Räucherung mit Wolfshaar hilft ;
will das Kind nicht gedeihen , so leidet es am „ Hundefehler," muss daher mit
Hundebaar geräuchert werden , oder man rollt es da, wo sich ein Hund ge
wälzt hat, aber in umgekehrter Körperlage; oder man wiegt es von Zeit zu
Zeit mit einer Handwage ; sind die Stuhlausleerungen grün , so muss man die
Windeln von der Morgensonne bescheinen lassen . 4)
In Dalmatien werden die Kinder von den Hebammen misshandelt, in
deren Händen sich überhaupt die Kinderpraxis befindet. Die Hauptmittel der
selben sind Klystiere aus den verschiedensten Ingredienzen , wurmtreibende
später einmal täglich , und erst vom dritten Monat an einen Tag um den
andern . )
Als Arznei bekommt das Neugeborene bei den Badagas, einem Volks
stamme im Nilgiri-Gebirge in Indien, am 3. Tage gewöhnlich drei Substanzen :
1. Korosanan (Gallenstein von Büffeln ), 2. ein nicht näher bezeichneter Stoff,
doch ebenfalls vom Büffel genommen und von reichen Brahminen täglich
genossen ; nicht alle Büffel haben es und die es besitzen , gehen der Heerde
voraus. Vielleicht Bezoar- Stein ? Nach Anderen ist Asa fötida diese zweite
Arznei, 3. Vasambu, d . i. Wurzel von Acorus calamus, angebrannt, die Kohle
und Asche davon mit Muttermilch gemischt. Die zweite Arznei kann aber
auch später als am 3. Tage gereicht werden , die dritte wird nur gegeben ,
wenn der Stuhl des Kindes nicht gelb ist. Die erste wird häufig auch ge
geben , wenn das Kind erkältet ist. 2)
Bei den Parsen in Indien wurde dem neugeborenen Kinde Haoma-Saft
in den Mund gedrückt , bevor es die Muttermilch erhielt. Haoma spielte
schon bei den alten Indern eine hervorragende Rolle . Der ausgepresste
Saft der Soma-Pflanze (Asclepias acida) war nemlich den Iraniern , wie den
Indern schon in sehr alter Zeit nicht blos ein Gegenstand religiöser Dar
bringung , der Geist dieses Saftes war diesseit wie jenseit des Indus selbst
ein mächtiger Gott, der Gott Haoma, wie das Zendavesta sagt. Der Soma
trank wurde auch von den Buddhisten neben Milch und geklärter Butter den
hungrigen und durstigen Göttern als Opfer dargebracht. 3)
Dass auch in Europa, beispielsweise in Frankreich , bezüglich der
Kinderkrankheiten und ihrer Behandlung schlimme Vorurtheile herrschen ,
ersieht man unter Anderem aus der Schrift des Dr. Bessières „ Les pré
jugés populaires sur les Maladies de l'enfance ; Paris 1876.“ Manche Volks
heilmittel Italiens lernt man in Woldemar Kaden's „ Skizzen und Cultur
I
dann vermuthet man das „ Anwussensin .“ Es wird jetzt zu einer alten Frau
geschickt, die in dem Rufe steht, dass sie das „ Afstricken
A " gut versteht.
Diese nimmt dann die Procedur vor , die darin besteht, dass sie mit beiden
Händen , die vorher mit ,, Hühnerflohm “ eingesalbt sind , den Leib des Kindes
sanft von der einen Seite hin nach der andern bestreicht.
In der Oberpfalz (Baiern ) giebt die Hebamme in grösseren Städten dem
Säugling vor dem Anlegen an die Mutterbrust ein reinigendes Säftchen. Um
das schreiende Kind zu beruhigen , haben bisweilen gewissenlose Mütter und
Mägde zu dem schändlichen Mittel gegriffen , den Schnuller in Branntwein
zu tauchen . Die Todesart der Kinder wird , wenn kurz vorher gelb aus
sehende Ausleerungen erfolgt waren , als „ gelber Brand " bezeichnet, oder
man glaubt an plötzliche Schlaganfälle der Kinder, oder giebt den Krämpfen ,
hier „ Unkraut“ genannt, welche oft unmittelbar vor dem Tode eintreten ,
die Schuld , natürlich alle diese Krankheiten als von selbst entstanden dar
stellend. Die Hülfe des Arztes wird in der Oberpfalz bei Kindern nicht
gesucht. Hie und da giebt die Hebamme ein Säftchen, einen Umschlag oder
ein Klystier, und darauf reducirt sich die ganze Behandlung.') – Da in der
gewöhnlichen Vorstellung der Bewohner der bairischen Oberpfalz das Neu
geborene an Leib und Seele unrein ist, wird der innere Mensch durch einen
Saft von Manna und Rhabarber gereinigt.2) In der bairischen Pfalz hält
man den Abgang des Kindspechs bei einem Neugeborenen für nothwendig ;
erfolgt dieser in den ersten Stunden nach der Geburt nicht , so muss man
ihm ,, Säftel“ geben , worunter man Syrupus Rhei versteht um damit Bahn
für alle späteren Quacksalbereien zu eröffnen . Das Kind soll auch darnach
lieber die Brust nehmen.3)
Auch in Schwaben sind Kindersäftchen aus Manna sehr gebräuchlich.4)
In Königsberg in Preussen bekommt der Neugeborene alsbald einige
Theelöffel Chamillenthee eingeflösst; Laxirmittel hingegen nicht (Professor
D. Hildebrandt).
Im sächsischen Vogtlande gehört die Anwendung von Rhabarbersyrup,
um eine erstmalige Ausleerung zu bewirken , zu den alten eingerosteten Vor .
urtbeilen . Dann wird Arow -Root, Reismehl, sogen . Nahrungsthee, Weizen
mehl, Zwieback , Semmel, Brod , Eiweiss , Fleischbrühe , dann Arzneistoffe,
wie Fenchel, Anis , Kümmel und Baldrian , die Dinge, mit welchen man im
buntesten Durcheinander losexperimentirt, und zwischen hinein giebt man
den unvermeidlichen Sauger, den Zulp . „Man kann sich nicht wundern ,
wenn viele der so behandelten Kinder sterben , wohl aber darüber , dass
trotzdem noch einige leben bleiben.5)
10 und 4 bis Uhr löffelweise eingegeben . Hat das Kind den „ rothen Scha
den ," so giebt man ihm den Absud des Krautes Heilallerwelt (Agrimonium
eupatorium ) zu trinken . 2)
Fragt man nach dem Ursprung der in deutschen Kinderstuben gebräuch
lichen Volksmittel, so findet man viele derselben schon in den von Rösslin ,
Rueff u . A. geschriebenen Hebammenbüchern des 16. Jahrhunderts. Die
Hebamm mmen jener Zeit galten als die klugen Rathgeberinnen ; aber ihre Lehr
herren , jene Aerzte , schöpften wiederum ihr ganzes Wissen aus der dürftigen
Quelle der mit abergläubischen Verordnungen verquickten älteren Recept
sammlungen , sowie aus den Schriften des Hippokrates, Galenus, der
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Die Art und Weise, wie bei den Völkern die an Neugeborenen vorkom
menden Missstaltungen aufgefasst werden , hat darin etwas Uebereinstimmen
des, dass zumeist die Einwirkungen böser Geister, des Teufels u . s . w . be
schuldigt werden . In der Regel werden bei den Urvölkern alle missgebil
deten Individuen sofort beseitigt, ja von einigen Völkern , z. B. den Betschua
nen , werden nicht blos Missgeburten , sondern auch nur übelgestaltete
Kinder der allgemeinen Sitte gemäss ausgesetzt ; – die wenigen Abnormi
täten , die vorkommen mögen , z. B. Albinos, verschwinden daher alsbald . ")
Es ist demnach sehr schwer zu sagen , ob angeborene Missbildungen bei
einem Volke mehr oder weniger häufig vorkommen . In Aegypten kommen
sie, wie R. Hartmann ) angiebt, häufig vor, dagegen gehören sie in Nubien
und Sûdan zu den Seltenheiten.
Die alten Inder meinten , wie aus Susrutas Ayurvedas hervorgeht,
dass Verkrümmungen , Verkrüppelungen , Sinnesfehler und Verkümmerungen
der Neugeborenen dadurch erzeugt worden wären , dass sich die Mutter wäh
rend der Schwangerschaft geängstigt habe , indem man ihre Gelüste nicht
genügend befriedigt und hierdurch eine Nervenverstimmung bei ihr veranlasst
habe. Die gleiche Anschauung wiederholt sich bei vielen Völkern . (Vergl.
die Kapitel: „ Das Versehen “ und „ Die Gelüste“ Band I. S. 32 und 33.)
Wir werden im nächstfolgenden Kapitel besprechen, wie leicht und schnell
sich viele Nationen der Kinder insbesondere der missgestalteten entäussern .
Hier nur einige Beispiele:
Bei den Negern der Landschaft Fetu an der Goldküste wird jedes Neu
geborene genau untersucht, ob es einen Fehler hat, und man tödtet es, wenn
man einen solchen findet. 3) Auch die Botokuden , wie viele andere Völker ,
die ich im nächstfolgenden Kapitel nenne, tödten die verkrüppelten Kinder ;
ein mir befreundeter Reisender sah, dass ein Botokuden-Weib ihr missgebil
detes Kind in den Fluss warf. Wird einem Basuto -Weibe ein Kind geboren ,
so wird es zunächst untersucht, ob es auch in jeder Hinsicht gesund und
wohlgestaltet ist. Ist es mit irgend einem Fehl behaftet, und als solcher
gilt schon das Vorhandensein von Zähnen, so wird es sofort getödtet, denn
eine Missgeburt bedeutet grosses Unglück . Wird ihr das Leben geschenkt ,
so bleibt gewiss der Regen aus und Dürre , Hunger und Krieg treten ein .
Um diese Unglücksfälle zu verhüten , wird das Kind in einem mit Wasser
gefüllten Gefäss ersäuft und dann dem Vater mitgetheilt , es sei todt geboren .')
Missgeburten werden auch bei den Negern der Loango -Küste sofort
heimlich getödtet ; Kinder mit unwesentlichen Verkümmerungen lässt man zu
weilen leben , doch vermag die Mutterliebe sie nicht zu retten , wenn der
Volksglaube aus irgend welchem Grunde in ihnen Unheilbringer , Träger
bösen Zaubers erkennt. Ein missgebildetes , als „ Ndodschi“ verschrieenes
Kind wurde von den Ngangas am Ufer des Chiloango bei Ebbe ausgesetzt,
damit die rückkehrende Fluth es fortspüle und „ hinführe , woher es gekom
men .“ Es hängt, wie Pechuel-Loesche mittheilt, von der Combination zu
fälliger Umstände ab , ob ein nicht wohlgebildetes Kind als Ndodschi ( Träger
bösen Zaubers) oder nur als Muana mu bi (Kind schlecht, hässlich) gilt. Die
Mutter trifft keine Schuld. Der Wahn mag sich sogar soweit verirren , ein
noc ungeborenes Kind zu beschuldigen ; man giebt dann der Mutter die
bei Ordalien gebrauchte Giftrinde , im festen Glauben , dass der Ndodschi,
wenn ein solcher vorhanden , durch Abortion unschädlich gemacht werde.
Sollte freilich die Schwangere selbst erliegen , so ist ja damit ihre eigene
Schuld erwiesen.2) Bei den Somali dagegen lässt man uneheliche Kinder
und Missgeburten am Leben . Letztere sind gewöhnlich ein Gegenstand des
Aberglaubens und der Furcht.3)
Die Griechen übertrugen , wie Platon im Theaitetos sagt , der Heb
amme die Pflicht, sogleich nach der Geburt des Kindes zu bestimmen , ob
das Geborene wirklich ein Kind sei oder nicht (ddelerá oder eilwia ), und
es geht daraus hervor, dass die Hebammen das Recht und die Pflicht hatten,
gewisse Formen von missgestalteten Früchten gar nicht als Kinder gelten
zu lassen .
So galten auch noch langeMonstra und Molen (sogenannte „Mond
kälber " ) als Erzeugnisse einer Behexung. In der Meinung des deutschen
Volkes „ geht die Sache nicht mit rechten Dingen zu ;“ vielleicht wähnte
man , dass der Mond einen besonderen Einfluss äussert.
Jetzt betrachtet man in Deutschland , z. B. in Schwaben (Buck ),
Missgeburten vielfältig als üble Vorbedeutungen oder als Strafe für geheimen
Frevel. Muttermäler haben in der Phantasie des Volkes bald Aehnlich
keit mit Dingen , an denen die Schwangeren erschrocken , z . B. mit einem
Hasen , einer Maus, einem rollenden Fass u . S. W., bald mit Speisen , die sie
sich vergeblich gewünscht, als Oelküglein , Lebzelten , Kaffee, Aepfel u . s. w .
Noch vor wenig Jahren glaubte das Landvolk in mehreren Gegenden
Deutschlands, dass die Eltern eines arg verunstalteten Neugeborenen über
Tod und Leben desselben zu verfügen das Recht hätten . Unter Anderem
wurde in der Gegend von Breslau ein Arzt zu einem ohne Arme und Beine
geborenen Neugeborenen gerufen , um an demselben Henkersdienste zu ver
richten , denn man meinte dort allgemein , dass so missgestaltete Kinder ge
tödtet werden müssten .
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
sie viele Jahre hindurch angewiesen und hat als Gegenleistung nichts zu
bieten als die Freude, welche seine Erzeuger an ihm als ihrem Werke finden
können , als wie Object zu sein für angenehme Gefühle, welche die Natur
allerdings in die Brust des Menschen gelegt hat, deren Stärke und Werth
schätzung aber von dem Grade seiner geistigen und gemüthlichen Ausbildung
abhängig ist. Dem Wilden muss daher ein grosser Kinderreichthum nur als
eine Erschwerung seiner Existenz und namentlich für Zeiten des Mangels,
welche für ihn periodisch wiederkehren , eine Beschränkung desselben sehr
wünschenswerth erscheinen . Ihn hindert nichts, sich der unnützen Mitesser
zu entledigen oder bei der Geburt schon dafür zu sorgen , dass das kleine
Wesen, welches noch durch kein Band mit dem Vater verknüpft ist, nicht
die Zahl derselben vermehre. “
Den Eltern fehlt das Bewusstsein der Immoralität dieser Handlung; sie
scheuen sich nicht, den Mord ohne Weiteres einzugestehen ; auf Tabiti können
sie nicht begreifen, dass der Europäer den Kindermord tadelt. Auf Neu
seeland stimmt man über der Leiche des gemordeten Kindes dieselbe Klage
an, als ob das Kind eines natürlichen Todes gestorben sei, auf Viti und Hawai
begräbt man die Leiche im eigenen Schlafgemach , in Australien (im Süden )
verzehren die Mütter das eigene Kind !
Bald glaubt man den Göttern dadurch, dass man ihnen das Liebste ,
was man hat, zum Opfer darbringt, das unwiderleglichste Zeugniss der
höchsten Verehrung kund geben zu müssen ; bald meinen die Eltern ihre
Kinder durch sofortiges Tödten vor den schlimmen Gefahren und vor dem
Elende des Lebens am sichersten zu bewahren ; bald wollen sie auch nur
selbst möglichst schnell der Sorge um das Kind enthoben sein . Indem wir
durch Vorführen der Thatsachen im Einzelnen auf diese und ähnliche Motive
aufmerksam machen , enthalten wir uns vorläufig allgemeiner Betrachtungen .
Die Geschichte des Kindermordes selbst ist es, die deutlicher als jedes
weitere Raisonnement zur Erkenntniss derjenigen sittlichen Momente verhilft,
welche die grösste Rolle spielten bei der Erscheinung eines allgemeinen
Brauches, die Kinder zu morden und auszusetzen . Die vor mehreren Jahren
von Dr. Franz J. Hügel “) bearbeitete Geschichte dieser schrecklichen
Unsitte wurde in Folgendem von uns nebst anderen Quellen benutzt.
Wir wenden uns zunächst zu den alten , dann zu den jetzigen Völkern .
Fast alle Völker, die auf niederer Culturstufe stehen , erkennen dem
Vater die volle Gewalt über Leben und Tod des neugeborenen Kindes zu .
Allein es giebt doch auch Ausnahmen , in welchen die Macht des Vaters
durch Sitte und Herkommen in dieser Beziehung beschränkt ist. Unter den
Pehuenche fordern die Verwandten der Mutter Rechenschaft des Vaters über
1) „ Das Findelwesen Europa's“ im Jahrb. für Gesetzeskunde und Statistik I. Wien 1862. S. 272
Reinecke, Diss . de expositione infantum . 1844. Prof. Dr. Jac. Becker, Die Behandlung ver
lassener Kinder im Alterthum . Frankfurt 1871. Dr.Wilh. Platz, Geschichte des Verbrechens der
Aussetzung unter besonderer Berücksichtigung seines Zusammenhanges mit dem Familienrechte von
den ältesten Zeiten bis in's 16. Jahrh. Stuttgart 1876. Der Kindermord als Volkssitte, von Carl
Haberland im Globus 1880. Nr. 2. S. 25.
1 . Bei den alten Völkern . 245
den Mord seines Kindes und sie verlangen Vergeltung , die meist durch Geld
busse gesühnt wird. In Neuseeland gilt das Kind zugleich als Stammes
eigenthum und in Folge dessen macht der Stamm den Vater für das Leben
des Kindes verantwortlich . Bei den alten Deutschen legte der Rechtsbrauch
dem Vater insofern Beschränkung auf, als das Gesetz den Mord durch Aus
setzen des Kindes verbot, sobald dasselbe die geringste Nahrung, wie Milch
oder Honig, wenn auch nur einen Tropfen davon , zu sich genommen, oder
sobald es die Wände beschrien hatte.
Bei rohen Völkern überlässt man es aber auch der freien Wahl der
Mutter, ob sie das Kind , welchem sie das Leben schenkte , auch fernerhin
erhalten will.
Wir werden in Folgendem nach diesen und anderen Richtungen hin
specielle Beispiele anführen .
Bei den alten Persern war bis nach der Eroberung Persiens durch
die Chalifen der Kindermord gestattet und cultusgemäss bei bestimmten Opfern
vorgeschrieben . Als man später eine Zunahme der Bevölkerung wünschte,
ward der Kindermord verboten . Im Jahr 1294 wurde eine Findlings-Ver
sorgungs -Anstalt in Persien errichtet. Nach Haidenstamm lassen die Schah ,
wenn sie zu viele Kinder haben , dieselben morden ; doch berichten Polak
und Andere nichts davon .
In Arabien waren in den ältesten Zeiten besonders die weiblichen
Kindermorde gestattet. Als Arabien mit Beginn der Osmanen -Herrschaft
unter den Einfluss der theologisch - juridischen Disciplin kam , wurden die
Kindermorde verboten . Noch zu Mohammeds Zeiten muss der Kindermord
nichts Ungewöhnliches in Arabien gewesen sein , denn im Koran wird diese
Unsitte hart getadelt : „ Ihr sollt Eure Kinder , aus Furcht, in die Armuth zu
gerathen , nicht tödten ; denn wir wollen sie erhalten , so wie wir Euch er
halten .“ 1) Insbesondere wurden Mädchen getödtet, denn der Koran sagt
hierüber : „ Hört der Araber , dass ihm eine Tochter geboren wurde , so
färbt die Traurigkeit sein Angesicht schwarz ; diese Nachricht dünkt ihm ein
so schmähliches Uebel, dass er sich vor keinem Menschen sehen lässt, und
er ist zweifelhaft, ob er die ihm geborene Tochter zu seiner Unebre be
halten , oder ob er sie in die Erde scharren soll.“ 2) Allein der Koran
selbst bezeichnet den Kindermord als eine entsetzliche Sünde. 3)
Bei den Aegyptern war nach Sextus Empiricus in den ältesten
Zeiten der Kindermord gestattet. Später wurden nach Diodorus Siculus
die Mörder von Neugeborenen verurtheilt, deren Leichname durch drei Tage
Erst unter Trajan (98 v . Chr.) wurde bestimmt, dass von Freigeborenen
abstammende Findlinge von der Sklaverei ausgeschlossen bleiben . Julius
Paulus war der Erste, welcher sich gegen die Aussetzung der Neugeborenen
aussprach. Im Justinianischen Rechte galt Tödtung des Kindes als Parrici
dium . Die Erhebung des Christenthums unter Constantin dem Grossen brach
die Bahn für eine mildere Auffassung der socialen Stellung jener unglück
lichen Geschöpfe. Dieser Fürst missbilligte wohl die oben genannten Ver
brechen gegen die Neugeborenen und Findlinge , aber er verhängte keine
positiven Strafen ") und glaubte genug gethan zu haben , indem er sich be
strebte , die Ursachen zu beseitigen . Er verordnete für Italien und später
für Afrika, dass Kinder armer Eltern auf Staatskosten , oder aus seiner Pri
vatkasse in Pflegeorten gehalten werden sollten. Nachdem die Auslagen für
ihre Erhaltung unerschwinglich wurden , empfahl er, ihr Schicksal der Privat
wohlthätigkeit anheimzustellen und Alles , secundum statuta priorum princi
pum “ einzurichten . Um diese Zeit traten die Kirchenväter auf; sie erklärten
jede Aussetzung als einen Mord , eiferten gegen den Kindermord und kauften
die in Sklaverei weilenden Findlinge los. Nunmehr begann eine bessere
Aera zum Schutze der Neugeborenen , indem sich die christliche Humanität
der Unglücklichen annahm . Aber auch die Geschichte der Findelhäuser in
christlicher Zeit weist eine Reihe höchst trauriger Thatsachen auf.
Die Kelten legten die neugeborenen Kinder auf einem Schilde in's
Wasser . Die Sarmaten und Slaven tödteten oder setzten schwache und
missgestaltete Kinder aus. Die alten Skandinavier, besonders die Nor
mannen, pflegten vorzugsweise Töchter in's Wasser durch Sklaven werfen zu
lassen . )
Ueber die Germanen sagt Tacitus (Germania Kap . 19): „ Der Zahl
seiner Kinder ein Ziel zu setzen oder ein nachgeborenes zu tödten , gilt bei
ihnen für Frevel und mehr wirken dort gute Sitten als anderswo gute Ge
setze. “ Doch hatte nach späteren Zeugnissen , die Jacob Grimm 3) an
führt, nach altdeutschem Rechtsgebrauch der Vater den freien Willen , sein
Kind auszusetzen. Sein erstes und ältestes Recht bei der Geburt des Kindes
ermächtigte ihn , es , aufzunehmen “ (tollere , dvarpsiolai) oder auszusetzen "
( exponere). Das Neugeborene lag auf dem Boden , bis der Vater sich er
klärte , ob er es leben lassen will oder nicht. Im ersteren Fate ,, hebt“ er
das Kind, und nun erst wird es mit Wasser besprengt und ihm ein Name
gegeben . Wollte er aber das auf der Erde liegende Kind nicht aufziehen ,
so hiess er es aussetzen. Man wollte hiermit das Kind nicht unbedingt tödten ,
vielmehr überliess man es dem Zufall, ob sich ein Anderer des Findlings er
barmen will. In den altdeutschen Sagen galten als Gründe der Aussetzung :
Missgeburt, Schwächlichkeit, uneheliche und verbrecherische Zeugung ; auch
1) Er erlaubte sogar, dass eben geborene Kinder (sanguinolenti) im Falle der Noth vom Vater
verkauft werden dürfen (Lex 2 C. de patr. qui fil. suos distraxerunt IV . 43).
2) W. Stricker, Archiv f. Anthropologie. Bd. V. S. 451.
3) J. Grimm , Deutsche Rechtsalterthümer. Gött. 1828 , S. 455.
1
1. Bei den alten Völkern . 249
1 ) Bayerische Sagen und Bräuche. 2. Bd. München 1855. S. 254 und 559.
2. Bei den jetzigen Völkern . 251
Allein hier bringt der Kampf um's Dasein nicht blos in den Einzelfällen das
schwächste Wesen zum Verderben , sondern auch durch Mangel an Nach
wuchs die ganze Gemeinschaft des Volkes zum Aussterben . Denn es ist
nicht bloss die Tödtung der Neugeborenen , durch welche man den jüngsten
kaum zum Leben erwachten Sprössling und sich selbst vor drohendem
Hunger, vor Noth und Elend schützen will, sondern meist geht neben der
Sitte der Kindestödtung auch die fast noch verderblichere Sitte der Kindes
abtreibung nebenher , eine Unsitte, deren Ausbreitung und Folgen wir an
einem anderen Orte besprechen werden . Wir können sagen , dass mit sol
chen Gebräuchen recht auffallend die Annahme eines „ Instinktes der Urvölker"
widerlegt wird , d. h . eines die Völker zu zweckmässigen Handlungen führen
den ,,Selbsterhaltungstriebes."
So interessiren uns denn nicht nur die kaltblütige Art und Weise , mit
der sich bei unzähligen Naturvölkern die Eltern , insbesondere die Mütter ,
ihrer neugeborenen Sprösslinge entledigen , sondern auch die Gründe , die
sie zumeist als Motive ihrer scheusslichen Handlung angeben. Das Kind
soll ihrer Meinung nach davor bewahrt werden , das ihm bevorstehende
Elend des Lebens zu erfahren , Ein ethisches, nach unseren Begriffen von
Moral allerdings unberechtigtes Gefühl ist es daher , das sich hier als „ Mitleid "
mit dem von traurigem Schicksal bedrohten kleinen Wesen ausspricht.
Allein es sind auch gewiss höchst bemitleidenswerthe, armselige Lebens
verhältnisse, die das Gefühl der Elternliebe völlig ersticken und den Tod
des Kindes als eine Wohlthat für dasselbe erscheinen lassen .
Die Tödtung des Kindes tritt bei vielen Völkern in der Form des Aus
setzens derselben auf. Man scheut sich , direct Hand an das Leben des
unglücklichen Wesens zu legen ; vielmehr entledigt man sich desselben, indem
man es einfach abseits legt und seinem Schicksal, d. h. dem Verderben ,
anheimfallen lässt. Dies ist vorzugsweise bei den Völkern im hohen Norden
Amerika's der Fall. So kommt das Aussetzen der Kinder bei den Indianern
in Alaska in Folge des Nahrungsmangels häufig vor (Lincoln nach Dall).
Von den Eskimo (Inuit) des Smith -Sundes berichtet Dr. Emil Bessels:-)
„ Die Zahl der Kinder einer Familie beträgt bei ihnen durchschnittlich zwei;
was darüber ist, wird meistens getödtet, indem die Mutter das Kleine ent
weder strangulirt oder es an einem entlegenen Orte aussetzt und dem Hunger
tode oder dem Tode durch Erfrieren preisgiebt. Zuweilen kommt es vor,
dass Säuglinge zur Zeit der Ebbe in die Spalte gelegt werden , welche
zwischen dem festliegenden Küsteneise und dem beweglichen Packeise ent
stehen ; bei steigender Fluth presst die bewegliche Masse das Kind zu Tode,
wenn es nicht schon erfroren war. Man scheint hierbei weniger auf das
Geschlecht, ob Knabe oder Mädchen , zu achten.“ Bessels erlebte einen
Fall, dass die Mutter das jüngste ihrer drei Kinder , ein Knäblein von fünf
Monaten , eigenbändig erdrosselte, um der Nahrungssorgen überhoben zu
sein , als ihr Mann starb ; Vater und Sohn fanden in demselben Grabe Platz .
Bessels ) erzählt : „ Als der Eskimo in Ita , Namens Majuk , starb , welcher
drei Kinder hinterliess, wurde das Jüngste, ein Knabe, von der Mutter er
drosselt und zusammen mit dem Vater verscharrt. Zwei unserer Leute
suchten den Kleinen zu retten . Es gelang ihnen auch, sein Leben um einige
Stunden zu verlängern ; allein als sie die Mutter kurze Zeit unbewacht liessen ,
vollbrachte diese die That.“ Dagegen konnte Pelitot bei den Eskimo am
Mackenzie- Fluss von Kindstödtung nichts bemerken .
Die Kutschin -Indianer im Norden Amerika's tödten die neugeborenen
Mädchen ; die Mütter thun dies, um ihren Kindern das Elend und die Leiden
zu ersparen , die sie selbst erdulden müssen.2) Da bei den Pimas, einem
Indianerstamme Nordamerika's, nach dem Tode eines Mannes dessen Besitz
thum zerstört wird, so dass seine Wittwe und die Kinder der Armuth ver
fallen , so ist unter ihnen Kindermord vor und nach der Geburt sehr häufig.3)
Die Indianer in Californien übten sonst den Kindermord, weil die Mütter
nicht die Mittel hatten , die Kinder zu ernähren ; erst Pater Salva Fierra
konnte dem barbarischen Gebrauche ein Ende machen.4)
In Nicaragua (Mittelamerika ) muss früher unter den Indianern Kinder
mord gebräuchlich gewesen sein ; wenigstens deuten darauf die Worte Peter
Martyr's: „ Hier opfern sie den Götzen das Blut ihrer Kinder, welches sie
durch eine Höhlung im Nacken giessen .“ Boyle , ein Reisender , meint,
dass viele der Götzenbilder sowohl im chontalischen Hochlande, wie auf den
Inseln im See von Nicaragua im Nacken eine eingebohrte Höhlung zeigten ,
die den Ausspruch Peter Martyr's erklärlich macht.
Dass die Mutter ihr neugeborenes Kind tödtet, kommt bei den In
dianern Südamerika's oft vor.5) Ist bei den Patagoniern ein Kind geboren
worden, so entscheiden Vater und Mutter über Tod oder Leben des Kindes,
welches sie, wenn ihnen das in den Sinn kommt, erdrosseln und an einen
Ort tragen, wo es die Beute der Hunde wird , Bei den Moxos-Indianern
wurden kleine Kinder mit der Mutter begraben, wenn diese starb . Die
Salivas und andere südamerikanische Völker tödten alle missbildeten Kinder ,
weil sie glauben , böse Geister seien die Ursache der Verunstaltung des
Kindes. ) – Unförmliche Kinder oder Missgeburten sollen von den Manaos
in Südamerika , wie berichtet wird , lebendig begraben werden, und es ist
merkwürdig , dass hier ein Gebrauch wiederkehrt, der von den Zigeunern
erzählt wird , dass sich nemlich die Familie oder die Bewohner der Hütte
heulend so lange im Kreise um die Grube bewegen , bis das Neugeborene
gänzlich von der Erde bedeckt ist, die Einer nach dem Andern darauf
wirft. “) Die bei vielen Stämmen Südamerika's heimische Sitte der Tödtung
der Neugeborenen scheint zusammenzuhängen mit dem Wunsche der Frauen ,
den Ehemännern gefällig zu sein ; bei den Guyacurus ist es sehr häufig , dass
die Weiber im Allgemeinen erst vom dreissigsten Jahre an Kinder zu ge
bären und aufzuziehen anfangen (v . Martius nach Prado). Von den
Guanas erzählt Azara (II. 93), dass die Mütter den grössten Theil ihrer
Töchter gleich nach der Geburt tödten , indem sie dieselben lebendig be
graben ; dies sollen sie thun , um das weibliche Geschlecht nicht zu zahlreich
werden zu lassen , dadurch ihm aber ein besseres Loos zu sichern ; und
in der That haben die Frauen bei den ackerbauenden Guanas im Ganzen
ein besseres Loos, als bei anderen Indianern ; bei ihnen heirathen die Mädchen
schon mit dem 9. Jahre. Die Mbayas tödten nicht blos weibliche, sondern
auch männliche Kinder . Dasselbe berichtet Azara von den ehemals zahl
reichen Guyacurus, den Lenguas, sowie den Abiponern . Da die Abiponerin
ihre Kinder sehr lange, oft drei Jahre lang säugt, und während dieser Zeit
sich des Umgangs mit dem Manne enthält, dieser aber dann nach einer
anderen Frau sich umsieht, so tödtet sie oft das Kind gleich nach der Geburt,
um keine Nebenfrau dulden zu müssen . Allerdings sagt bezüglich dieser
Angaben Azara's der Prinz Max von Neuwied : 2) „ Von diesen unnatür
lichen Gebräuchen findet man keine Spur unter den Tupuyas des östlichen
Brasiliens, welche auf der untersten Culturstufe stehen . Wiewohl ich Azara's
Angaben nicht geradezu für erdichtet erklären kann, so ist es mir doch
sehr wahrscheinlich , dass sie auf unzuverlässigen Sagen oder unzulänglichen
Beobachtungen begründet sind.“ Auch Waitz meint: „ Azara scheint sie
in zu grosser Allgemeinheit des Kindsmords zu beschuldigen .“ Allein viel
leicht beschränkt sich Azara's Mittheilung nur insofern , als bei einigen
Völkerschaften nur missgebildete Neugeborene, diese aber wohl immer und
wahrscheinlich in ausgedehnter Weise als unvollkommene Wesen bei Seite
geschafft werden .
Bei manchen wilden Völkerschaften mag der unter ihnen gebräuchliche
Kindermord sehr dazu beitragen , dass sie allmälig aussterben . Dies geht
besonders aus folgenden Thatsachen hervor.
Die Eingeborenen Australiens gehen einem raschen Untergange ent
gegen . Bedrängnisse durch die europäischen Ansiedler und Seuchen ( Blattern,
Syphilis ) mögen das Ihrige hierzu beitragen ; aber gewiss auch der Kinder
mord und die Kindersterblichkeit. Die erste Frage, welche die Mutter unter
den Eingeborenen Australiens am unteren Murray bei der Geburt eines
Kindes an sich stellt , ist die , ob das neugeborene Wesen dem Leben er
halten werden soll. Ist zu seinem Unglück ein Bruder oder eine Schwester
vorhanden , die noch unfähig sind, die Mutter auf ihren Zügen auf eigenen
Füssen zu begleiten , so ist sein Tod gewiss , denn zwei Kinder wird und
kann die australische Frau nicht tragen . Das gleiche Loos steht ihm bevor,
falls Entstellung oder Schwächlichkeit der Mutter mit grosser Sorge und
Mühe drohen . Und sollte des Kindes Aussehen verrathen , dass weisses
Blut in seinen Adern fliesst , so wird es unmittelbar der Rache des Mannes
zum Opfer fallen. Kinder unverheiratheter Personen sind dem Tode ver
fallen . Ersticken im Sande, Tödtung durch glühende Kohlen , welche man
in die Ohren stopft , sind gewöhnliche Mittel.:) Der Körper wird im Feuer
verbrannt.2) Besonders werden viele Mädchen umgebracht, wodurch man
die verbältnissmässig geringe Anzahl der Weiber erklären wollte. Es ge
schieht dies bald aus Aberglauben , bald blos um der Mühe der Verpflegung
überhoben zu sein , bald aus Rache gegen den treulosen Vater des Kindes .
Nach R. Oberländer 3) geschieht das Tödten der Kinder nicht aus Mangel
an mütterlicher Anhänglichkeit, sondern ist vom Willen des Stammes ab
hängig , sowie von der Schwierigkeit, herumziehenden Männern mit Säug .
lingen zu folgen und dem Mangel an natürlicher Nahrung für solche. So
bald sie so viele Kinder haben , als sie bequem mit sich herumschleppen
können , tödten sie die andern gleich nach der Geburt. Am Murray sah
Oberländer eine Frau , welche 10-11 ihrer Kinder getödtet hatte . Am
Spencer -Golf, Victorialand, an der Moreton -Bai und in Australia felix wur
den ausserordentlich viele Kinder umgebracht; das dritte Mädchen ganz
gewiss, oft schon das zweite , wenn nicht eine andere Frau es an Kindes
statt annimmt; ja, im Süden sollen die so getödteten von ihren Eltern ver
zehrt werden . Am Cap York unter den Muralugs zieht man nur sehr selten
mehr als drei Kinder auf, im Süden fast nie mehr als vier ; die unehelichen
werden gleich nach der Geburt ermordet, wenn der Vater nicht dagegen
ist , was indess selten vorkommt, und Mädchen , auch rechtmässige, werden
oft noch viel später getödtet. Mischlingskinder werden fast immer um
gebracht, in Westaustralien durch die Verwandten der Mutter ; in anderen
Gegenden nur die Knaben , während man gerade die Mädchen auferzieht.
In einzelnen Districten von Neu - Süd -Wales und an der Moreton - Bai lässt
man aber die Mischlingskinder alle leben . Umgebracht werden die Kinder,
welche bei der Geburt grosse Schmerzen verursacht haben , ferner alle
Krüppel und stets von Zwillingen das eine Kind. Stirbt die Mutter eines
Kindes , so wird dasselbe lebendig mitbegraben , wenn sich für das arme
Kind keine Adoptiveltern finden . Diese Sitte kann aus einem ähnlichen
Aberglauben stammen , wie ihn die Kaffern haben , dass keine Mutter ein
fremdes Kind säugen dürfe. Aberglaube ist oft die Veranlassung zu diesen
Morden , jedoch nicht immer ; mindestens eben so häufig beruhen sie auf
Faulheit oder Rache, letzteres namentlich dann , wenn das Kind von einem
Weissen stammt, welcher nach der Zeugung die Mutter verliess. Auch
1) Dies mag wohl nicht richtig sein ; denn auf solche Weise ein Kind zu tödten , wird gewiss
nicht gelingen und dasselbe nur unnöthig quälen .
2) Karl Emil Jung, „ Die Natur" 1878. S. 271.
3 ) Globus. Bd. 4. S. 279.
2. Bei den jetzigen Völkern. 255
wenn Kinder zu dicht auf einander folgen , so tödtet man das zuletzt ge
borene, damit es seinen Geschwistern nicht die Nahrung nehme.')
Den Kindermord halten die Eingeborenen Australiens vor den Weissen
so viel als möglich geheim . Die Frau hält ihre Niederkunft an einem vom
Lager abgesonderten Platze im Busche ab ; es bleibt ihr daher überlassen ,
ob sie das Kind aufziehen will oder nicht. Die Tödtung erfolgt gleich nach
der Geburt. Gegen die Kinder , welche sie leben lassen , zeigen sie bedeu .
tende Zärtlichkeit und versorgen sie. Verkrüppelte Kinder werden nicht
immer getödtet, sondern sehr oft mit einer abergläubischen Verehrung be
handelt, welche mit dem dunkeln Glauben an böse Geister, deren Werk die
Verkrüppelung ist, zusammenhängt.?)
Die Kinder werden nach Collins3) in Australien wenig zärtlich be
handelt. Wegen der Schwierigkeit, womit die Auferziehung der Kinder
verbunden ist,“ tödten die Mütter daselbst oft ihre Kinder (oder treiben sie
auch ab ) , namentlich in Fällen körperlicher Entstellung , oder bei denen ,
die aus dem Umgange mit Europäern herrühren. Wenn die Mutter stirbt,
so wird der Säugling lebend mit in das Grab gelegt, wie dies Collins
nach dem Berichte eines Augenzeugen versichert. Der Vater legte selbst
das Kind in das Grab, das dann eilig mit Erde bedeckt wurde.
Die Eingeborenen im Seen -Gebiet Australiens zeigen in ihrem Charakter
Contraste, die namentlich im Familienleben auffallend hervortreten . Während
sie ihre Kinder ohne Bedenken ermorden , finden wir Züge bei ihnen , die zu
den besten Seiten des menschlichen Geschlechts gehören . Liebe der Eltern
zu ihren Kindern und umgekehrt der Kinder zu den Eltern sind Eigen
schaften , die sie in hohem Grade besitzen , und deren Vernachlässigung
für ein schweres Vergehen angesehen wird . Die Kinder werden nie
bestraft, was sie auch thun mögen ; und sollte eine Mutter dieses
Gesetz verletzen , so darf sie auf eine scharfe Züchtigung durch den
Vater des Kindes rechnen . Trotzdem werden etwa 30 Procent der Kinder
umgebracht. Bei Coopers Creek und am grossen Eyre -See hat Jung ge
seben , wie die Mütter in Gemeinschaft mit anderen Frauen ihre eigene Leibes
frucht verzehrten. Die Männer nehmen an diesem entsetzlichen Schmause
keinen Theil, läugnen auch in der Regel jede Kenntniss beharrrlich ab . Es
ist höchst selten , dass man den Kindern das Leben lässt, welche auf die
Welt kommen , ehe ihre Vorgänger laufen können . Die Kinder, deren Mütter
nicht in ehelichen Verhältnissen leben , werden stets getödtet, ebenso wie
Zwillinge und missgestaltete Kinder.4)
Auf den polynesischen Inseln , wo der Kindermord so häufig wie
fast nirgends geübt wird, sind die ehelichen Verhältnisse besonders einfluss
reich für diese Unsitte . Verschiedenheit des Standes verhinderte die Schlies
sung des Ehebundes keineswegs; allein die aus der Verbindung von Vor
nehmen mit Gemeinen entsprungenen Kinder wurden jederzeit gleich bei der
Geburt getödtet, und dies ist nach Meinicke ) vorzugsweise die Quelle des
Kindermordes , obschon nicht geläugnet werden kann , dass er in neuerer
Zeit nicht blos um die Reinheit des Blutes der Vornehmen zu erhalten , son
dern auch aus Vergnügungssucht und der Unlust, sich mit dem Aufziehen
der Kinder zu beschäftigen, geübt wurde.
Kindermord war auf einigen Carolinen -Inseln , z. B. auf Batak , jedoch
nicht auf Ralik (Chamisso) sehr gebräuchlich . Keine Frau aus dem Volke
durfte wegen der Unfruchtbarkeit der Inseln mehr als drei Kinder auferziehen,
alle übrigen mussten lebendig begraben werden . Allerdings waren die
Häuptlinge von diesem Gesetze frei, und auch uneheliche Kinder , welche
meist von Eltern verschiedenen Standes abstammten , wurden nicht getödtet,
sondern meist , wenn sie etwas selbstständiger geworden waren , vom Vater
zu sich genommen,
Auf Tikopia , einer polynesischen Insel, werden , wie Capitän Dillon be
richtet, alle männlichen Kinder mit Ausnahme der zwei ältesten , nach der
Geburt erdrosselt. Alle Kinder weiblichen Geschlechts lässt man am Leben .
Auf den Schifferinseln im Stillen Meer ist Kindermord etwas Unerhörtes
(Turner ). Auch auf den Tongainseln , welche Cook die freundschaftlichen
Inseln nannte , ist Kindermord und Abtreibung nicht gebräuchlich , Allein
auf den Gesellschaftsinseln , deren grösste Taiti oder Otaheiti ist, trat jetzt
erst die Kinderabtreibung an die Stelle des früher gebräuchlichen Kinder
mordes. Auf Taiti giebt es Verbindungen von Männern , die sich Aritoys
nennen , mit Buhlerinnen leben und den Kindermord zu ihren Grundsätzen
erhoben haben . Nach Pater Le Gobien besteht eine gleiche Gesellschaft
auf den Marianen (de Rien zi) ?). Auf den Sandwichinseln war früher der
Kindermord gleichfalls heimisch , jetzt nicht mehr. Wenn auf den Fidschi
inseln ein neugeborenes Kind nicht alsogleich einen Namen erhielt, so be
trachtet es die Mutter als verstossen und ermordet es (Ch . Wilkes). Meist
sind es Mädchen, die umgebracht werden , da sie doch im Kriege nicht brauch
bar sind. Faulheit , auch wohl Eifersucht oder Rache gegen den Vater giebt
man als Grund an . In jedem Dorfe giebt es Leute, die aus dieser Ermor
dung ein Handwerk machen ; doch auch die Mutter selbst tödtet es , indem
sie dem Kinde Mund und Nase zuhält. Nach Angabe des Missionär Reina
werden auf der Insel Ruk 2/3 der Neugeborenen gemordet. Auf der Insel
Niihau in der Südsee dauerte der Kindermord bis zum Jahr 1840 ( Ch.
Wilkes ). 3)
In Hawai war es ehemals erlaubt, die Kinder zu tödten , um nicht die
Mühe der Erziehung derselben zu haben. 4)
1 ) Meinicke, Die Inseln des Stillen Oceans. Bd. I. S. 50 .
2 ) Dies berichtet Cook in seiner 3. Entdeckungsreise , übersetzt v . Forster. 1787. I. 439.
3) Veber den Kindermord auf den Südsee-Inseln siehe Waitz -Gerland , Anthr. d . Naturvölker
VI. Die Völker der Südsee. S. 638 .
4 ) Jules Remy in Nouv. ann. des voyages 1865. Dec. S. 331.
2. Bei den jetzigen Völkern. 257
Maherianda, d. h . Waise. Es ist dem Tode verfallen . Irgend ein Mann aus
der Bekanntschaft trägt es in den dichtesten Wald , legt es dort nieder , sucht
eine milchende Pflanze auf, bricht einen Zweig ab , träufelt den Milchsaft auf
die Brust der Verstossenen und verlässt die hilflose Kreatur. Uebrigens
wird dieser Brauch , mit welchem uns J. M. Hildebrandt ) bekannt macht,
in letzter Zeit vielfach umgangen, indem durch den eingedrungenen Moham
medanismus die Sitten gesänftigt wurden . Es folgt nämlich im Geheimen ein
anderes Weib in den Wald und holt sich das Kind, um es aufzuziehen und
Mutterpflicht an ihm zu üben . Niemals wird es aber, auch wenn erwachsen ,
seinen Eltern zurückgegeben . Niemand darf seine wahre Herkunft erfahren.
Wenn bei den Basuto (Betschuanen ) ein Kind mit den Füssen zuerst
geboren wird , so muss es getödtet werden ; man dreht ihm einfach das Ge
nick um . Auch solche Kinder, welche die Oberzähne zuerst erhalten , werden
getödtet. Fragt man warum ? so antworten sie : oa sola sie wissen aber
selbst nicht genau anzugeben , was das sagen will; sie legen sich aus, es be
zeichne: Das Kind wird uns umbringen und verderben. 2)
Bei den Kaffern ist Kindermord nicht selten ; namentlich werden miss
bildete und eines von Zwillingskindern getödtet.3) Bei den Zulus geschieht
dies nach Arbousset in ähnlichen Fällen, pflegt aber verheimlicht zu wer
den . J. Barrow 4) berichtet , dass die Kafferweiber ihm versicherten , eines
solchen Verbrechens machten sie sich nicht schuldig und würden, sobald sie
ein solches begingen , von ihrem Volke jedenfalls verjagt werden .
Von manchen Reisenden 5) wird erzählt, dass die Hottentotten ihre säu
genden Kinder, wenn die Mütter ihnen absterben , lebendig zu begraben
pflegen. Allein Le Vaillant ) versichert, dass eine solche abscheuliche
Gewohnheit unter den Hottentotten nicht existirt.
Die Wazaramo in Ostafrika tödten das Kind alsdann, wenn seine
beiden Schneidezähne in der oberen Kinnlade früher durchbrechen , als die
in der unteren , denn man glaubt, dass ein solches Kind der Familie Unglück
bringen möchte .?)
Uneheliche Kinder tödten die Habr - Yunis -Somalen in Ostafrika.
Bei anderen Ostafrikanern sind sie zwar schandbar, aber werden meist mit
in die Ehe genommen . Nicht blos missgestaltete , sondern auch solche Kinder,
welche sich in einer anderen als in Kopflage präsentiren , werden ebenso
wie von Zwillingen das zweitgeborene (Wakikuyu), Frühgeburten und solche
Kinder, deren obere Zähne vor den unteren durchbrechen , von den Waki
kuyu , Wanika, Wazegua und anderen ostafrikanischen Völkern , worunter
aber nicht die Masai und Wakamba, getödtet. Die Wakikuyu -Mutter
1) Zeitschr. der Gesellsch. f. Erdkunde zu Berlin, 1880. XV. S. 266.
2 ) Missionär Grützner in Zeitschr. f. Ethnol. (Verhandl.) 1877. S. 78.
3) Livingstone, Missionsreisen . II. 237.
4) Dessen Reisen durch die inneren Gegenden des südlichen Afrika. Weimar 1801 und 1803.
5) Z. B. vom Botaniker Dr. Sparrmann, Reise nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung.
Berlin 1784. S. 320.
6 ) Le Vaillant, Reisen in das Innere v. Afrika, deutsch. II. 43
7 ) Burton, Nouv. Annales des Voyages, Mai 1862.· S. 178.
2. Bei den jetzigen Völkern . 259
muss am Tage der Geburt eines solchen ,,Mana mugirro" dasselbe in eigener
Person in eine Haut gebunden in den Wald tragen , in eine seichte Ver
tiefung legen , mit Holzasche überdecken und den Hyänen zum Frass über
lassen . Auf diesem schweren Gange wird sie von zwei Dorfältesten begleitet
und , wenn nöthig, gestützt. Kommt die Mutter nach Hause zurück , so wird
sie von einem alten Weibe rasirt, bekommt Zaubersprüche vom Schamanen
eingeschüttet und ist dann wieder vollkommen „ rein ," so rein , dass, wie ein
Berichterstatter sich ausdrückte, sie Einem sogar Tabak anbieten darf. In
Unika erdrosseln die „Muanza “ besitzenden Häuptlinge das Kind im Walde,
bei den Wazegua drehen die geburthelfenden Weiber ihm den Hals um ,
tragen es in den Wald und stülpen einen leeren Kochtopf über die (unbe
erdigt bleibende) Leiche .')
Bei den Negern in Old -Calabar wird , wenn die Mutter im Wochenbett
stirbt, das lebende Kind zugleich mit derselben begraben .?)
Wenn bei den Niam -Niam in Centralafrika das neugeborene Kind
stirbt, oder wenn es todtgeboren ist, so wird die Frau nicht wieder von
ihrem Gatten aufgenommen , sondern verschmäht ; sie ist von diesem Augen
blick an wieder frei und kann sich nach Belieben mit einem anderen Manne
vermählen . Diese Sitte hat schon manche Frau , die sich ihres Mannes ent
ledigen wollte, verleitet, ihr Neugeborenes zu verlassen, als ob es todtgeboren
sei. Allein dieser Betrug wird fast immer entdeckt. Haben der Ehemann
und seine Freunde das ausgesetzte und verlassene Kind gefunden , so wird
sie stets gezwungen , ihren Säugling wieder aufzunehmen ; sie thut dies auch
gern , denn ein solches Kind gilt für ein Glückskind (Piaggia ).
Wenn unter den Negern in Centralafrika ein Kind den oberen Vorder
zahn vor dem unteren bekommt, so wird es als unglücklich getödtet ; dies
ist, wie Livingstone 3) fand, ein weit verbreiteter Aberglaube. Als sich
Livingstone 1859 unter den Makololo aufhielt, wollte eine von Sekeletu's
Frauen nicht zugeben, dass ihr Kind deshalb getödtet werde , aber Wenige
haben den Muth , im Widerspruch mit dem öffentlichen Gefühl zu handeln ,
wie sie es that. In Casembe's Land, am Ujiji-See, wird ein Kind getödtet,
wenn man sieht, dass es sich im Schlafe von einer Seite auf die andere
legt. Sie sagen von irgend einem Kinde, welches Etwas an sich hat, was
sie für einen Fehler halten : „ Es ist ein arabisches Kind,“ weil die Araber
von dieser Art Aberglauben frei sind, und sollte ein Araber in der Nähe
sein , so geben sie ihm das Kind : es würde der Familie Unglück bringen .
Wird bei den Sotho - Negern (Basutos) ein Kind mit einem Gebrechen
oder mit Zähnen geboren , so wird es von den Wehemüttern in einem schon
bereit stehenden Topfe mit Wasser ertränkt (Missionär Endemann).
Die Guanchen , die ausgerotteten Ureinwohner der Canarischen Inseln ,
sollen , um der Uebervölkerung ihrer Inseln vorzubeugen , in den frühesten
1 ) Hildebrandt in Zeitschr. f. Ethnol. 1878. S. 395.
2 ) Hewan , Edinb. med . Journ . 1864. Sept. 224.
3) David Livingstone's letzte Reise in Centralafrika. Deutsch . Bd. I. S. 332.
17 *
-
Zeiten nur das erste Kind der Ehe am Leben gelassen haben ; später hat
dieser angebliche Gebrauch schon aufgehört, als die Europäer auf diesen
Inseln anlangten , deren Bevölkerung schon damals durch Kriege und Epi
demieen sehr gelichtet war. ) Jetzt ist der Kindermord auf den Canarischen
Inseln nicht so häufig , als man bei der Verachtung, mit welcher man den
unehelich Geschwängerten begegnet, annehmen sollte . Dahingegen werden
die unehelichen Kinder sehr häufig an den Kirchenthüren ausgesetzt. )
In Kamtschatka war früher der Kindermord heimischer , als jetzt.
Man setzte hier die Kinder aus, erwürgte sie oder warf sie auch wilden
Thieren vor, wenn die Mutter in üblem Wetter geboren und für unglücklich
gehalten wird und die Eltern sich aus Armuth oder Faulheit bereden , keine
Kinder zu haben.“ 3)
Die Tschuktschen tödten alle missgestalteten Kinder ( v. Wrangel).
Unter den Hindus in Ostindien ist die Aussetzung oder Tödtung neu
geborener Mädchen , die sie nicht ernähren zu können glauben, noch immer
in Gebrauch . Es ist eine Art von religiöser Handlung unter den Radsch
kumars oder Radschputen bei Benares zu Kadiwad und Katsch , in Gudscharat
und unter allen Radschputen - Stämmen in Radschastan , dass die weiblichen
Kinder ermordet wurden. Diese Sitte entdeckte man zuerst im Jahre 1789.
Die Engländer suchten dieselbe lange Zeit vergeblich auszurotten ; mit einigem
Erfolg begann die Reform erst unter dem Oberstatthalter Bentinck im Jahre
1828 einzugreifen . Noch jetzt suchen die Altgläubigen unter den Brahmanen
die Unsitte aufrecht zu halten , indem sie sich auf das Rigveda , ihr Evange
lium berufen . Ueber dieses Ermorden der Töchter giebt ein Sachkundiger
in den „ Grenzboten “ 1865 Nr. 49, S. 384 genauere Auskunft: Man berech
net, dass früher unter dem Hindustamm der Radschkumares, welcher 125,000
Köpfe zählte, jährlich gegen 8000 Mädchen getödtet wurden . In der Regel
wurde das kleine Wesen von der Mutter selbst getödtet. An einigen
Orten erdrosselte man es, an anderen grub man es in die Erde oder er
tränkte es mit Milch , wieder anderswo vergiftete man es mit Opiumpillen .
Die Väter sagten : ,,es ist eine Sache der Weiber . und der Kinderstube,
um die wir uns nicht bekümmern ." Erst in den letzten dreissig Jahren
ist es den Engländern gelungen , das Uebel auf engere Grenzen zu be
schränken ; im J. 1847 berichtete Oberst Dixon , dass der Kindermord
seinen Todesstoss durch Verminderung der Kosten bei der Verheirathung
erhalten habe, denn die Schwierigkeit, die Töchter zu verheirathen , war der
Grund, dass man sich ihrer früh entledigte . Noch jetzt aber ist der Kinder
mord bei den Radschputen noch nicht völlig unterdrückt und er findet sich
noch unter den vielen der mittleren Khondstämme, westlich von Surat in
Kotingiah , Bundi, Goladaji, Tarabandy u . s. w . Man rechnet, dass in diesen
Bezirken jährlich 12 bis 1500 weibliche Neugeborenen ermordet werden .
Zwar verbietet das indische Sittengesetz die Tödtung des Kindes ; allein die
gefällige Religion hilft über die Bedenken hinweg ; eine einfache Reinigungs
ceremonie nimmt die Sünde wieder fort. Diese besteht darin , dass am
13. Tage der Dorf- oder Familienpriester , nachdem der Boden des Zimmers,
in welchem das Kind getödtet und oft auch begraben ist, mit Kuhmist über
zogen worden , in diesem Zimmer die ihm von der Familie gegebenen Nah
rungsmittel kocht und verzehrt, wodurch er die Sünde auf sich nimmt und
die Familie so reinigt, welche darauf ohne Weiteres das Zimmer wieder
benutzt.:)
Die Todas im Nilgiri-Gebirge (südliches Vorderindien ) üben den Kinder
mord wie ein nützliches Werk aus, indem sie zumeist die kleinen Mädchen
erwürgen ; das Weiberhalten erscheint ihnen als kostspieliges Ding, deshalb
haben sie auch die Polyandrie , wobei sich 3-5 Genossen in eine Frau
theilen . ) Bei den indischen Völkern im Nilgiri-Gebirg sind Mittel, die Leibes
frucht abzutreiben, nicht bekannt, daher das Tödten neugeborener Mädchen
bei den Todas und anderen Stämmen. (Jagor). Dass bei den Khonds,
ebenso wie auf Ceylon und bei manchen indischen Volksstämmen das Schick
sal des Kindes und sein Fortleben ganz in die Hände des Sterndeuters ge
geben ist, welcher den Tag der Geburt als unglücklichen bezeichnen konnte ,
haben wir Band I. Seite 87 besprochen . Auf andere Weise entschied man
auf Madagaskar (Bd. II. Seite 195) .
Die Munda -Kolhs in Chota Nagpore (Indien ) haben nach dem Berichte
des Missionärs Th. Jellinghaus 3) die Kinder lieb , die Väter fast noch
mehr als die Mütter . Allein hier und da kommt es vor, dass ärmere Ehe
frauen , wenn ihnen die Schwangerschaften zu rasch auf einander folgen , zu
schlechten alten Weibern gehen und Abtreibungsmittel anwenden . Ja
sie lassen sich auch oft ohne Wissen der Männer die Gebärmutter rer
drücken und verschieben, um die Plage der Schwangerschaft los zu sein .
Es scheint, dass sie diese scheussliche Unsitte von den niederen Kasten der
Hindus gelernt haben . Sie ist übrigens von der besseren öffentlichen Mei
nung unter ihnen entschieden verurtheilt. „ Der Mutterleib ,“ sagen sie, „ ist
Singbona's Ackerfeld , das darf man nicht zerstören . Welch eine Sehnsucht
nach Kindern ist in den Herzen kinderloser Eltern , die keine Kinder gehabt
haben , oder denen die Kinder gestorben sind , und Ihr bringt die Kinder
um !" Doch ist ihre Entrüstung viel geringer, wenn kurz nach der Empfängniss
die gewaltsame Abführung stattgefunden hat.
In China ist der Kindermord und das Aussetzen der Kinder nicht un
gebräuchlich . Doch werden fast nur Mädchen ausgesetzt, da sich die Chinesin
von einem Sohne schwer , aber um so leichter von einer Tochter trennt .
Neuerlich hat man mehrfach geläugnet, dass der Kindermord in China
wirklich heimisch ist; man stützte sich dabei auf das Zeugniss des verstor
1) Church Missionary Intelligencer 1860. S. 82.
2 ) Marshall , A phrenologist amongst the Todas. London 1873.
3 ) Zeitschr. f. Ethnol. 1871. III. S. 363.
>
262 Der Kindermord und das Aussetzen der Kinder .
1 ) Vergl. Arbeiten der kais. russischen Gesandtschaft zu Peking über China. Aus dem Russ. r .
Dr. C. Abel. Berlin 1858. Bd. II. S. 451. Milne, Life in China. London 1857. S. 40.
2 ) Magazin der Literatur des Auslandes. 1860 . Nr. 5. S. 58.
3) Zeitschr. d . k . k . Gesellsch . der Aerzte zu Wien . 1858. Nr. 9ff.
+) Ostasiatische Gesch. etc. Leipzig 1861. S. 362.
5 ) Vergl. dessen „ Acht Vorträge über China." Basel 1861. S. 172 .
6 ) „ Bilder aus dem chinesischen Leben.“ Leipzig u. Heidelberg 1881. S. 55 .
2. Bei den jetzigen Völkern . 263
Grossmutter. Man ermordet die Mädchen meist aus Armuth , scheut die
Kosten der Erziehung ; oft geschieht es auch aus Aberglauben , um Knaben
zu erzielen . Je öfcer ein Mädchen zur Welt kommt, um so grausamer wird
es umgebracht, um die Seele abzuschrecken , als Mädchen zu erscheinen ;
denn man nimmt an, dass die Seele der Gemordeten in dem nächsten Kinde
wieder als lebendes Wesen auftritt. Daher ist in manchen Hakkadistricten
ein grosser Mangel an Frauen und die Männer wissen oft nicht, wo sie eine
Frau suchen sollen, sie sind daher vielfach genöthigt, sich mit armen Punti
mädchen zu verheirathen . ")
In der Türkei scheint der Kindermord nicht gar selten zu sein . Ganz
eigenthümlich ist die Sitte, die männliche Nachkommenschaft der Seitenlinien
aus dem Geblüt des Sultans alsbald nach der Geburt zu tödten . Diese bar
barische Sitte stützt sich bekanntlich auf ein altes Hausgesetz des kaiser
lichen Hofes. „ Am beklagenswerthesten ,“ sagt J. v. Hammer , 2) ,, ist das
Loos der ausserhalb verheiratheten Prinzessinnen , wenn sie Mütter von
Knaben werden , weil das Herkommen des Reiches dieselben sogleich zum
Tode verdammt, um allen Samen von Zwietracht der kaiserlichen Familie
zu ersticken . Diese armen Kinder werden , indem man die Nabelschnur un
geknüpft lässt, gleich wenn sie in das Leben treten , wieder herausbefördert.“
Erst im November 1861 wurde das Gesetz wegen Ermordung der Kinder
männlichen Geschlechts aus der grossherrlichen Familie vom Sultan ab
geschafft. Allein diese Aufhebung des grausamen Gesetzes dauerte nicht
lange, denn schon im December des Jahres 1875 erliess die Mutter des
Sultans Abdul Aziz eine Verordnung an alle Insassen des grossfürstlichen
Palastes, in welcher sie das ausser Gebrauch gekommene Gesetz wiederum
zur vollen Geltung brachte. Sie befahl, dass dafür gesorgt werden müsse,
dass jede Bewohnerin des Palastes, sobald sie schwanger würde, zum Abortus
gebracht werde; gelinge die Abtreibung nicht, so dürfe bei der Geburt des
Kindes die Nabelschnur nicht unterbunden werden . Zur Ausführung dieser
Barbarei existirt eine eigene Klasse von Megären , welche unter dem Namen
Kanlü ebe, die „ blutige Hebamme" bekannt sind , und welche ihr schauer
liches Gewerbe in den Palästen der Grossen ungescheut treiben.3)
Während unter den bisher genannten Völkern das Leben des Kindes
nur wenig Werth hat, scheinen andere sich von solcher Unthat frei zu halten .
In den österreichischen Provinzen Krain , Dalmatien und den Küstenländern
kam während der Jahre 1845 bis 1848 nach den officiellen statistischen
Berichten nicht ein einzigesmal Kindermord vor. Das heisst freilich wohl nur :
Es kam kein Fall zur Anzeige .
Bei vielen Völkern , unter welchen die Kindertödtung und Aussetzung
Sitte ist, bemerkt man eine besondere Zärtlichkeit, welche man den am
Leben erhaltenen Kindern widmet. So zeigt man bei den Tungusen das
neugeborene Kind, welches man nicht aussetzt, sondern behalten will , mit
grossem Jubel der ganzen Bevölkerung der Ortschaft. Die Australier äussern
gegen die Kinder, welche sie leben lassen , bedeutende Zärtlichkeit und ver
sorgen sie ; verkrüppelte Kinder, welche man leben lässt, werden sogar mit
abergläubischer Verehrung behandelt. Haben sich bei den Patagoniern die
Eltern dafür entschieden, ihr Kind leben zu lassen , so wird es sogleich der
Gegenstand der zärtlichsten Pflege, und die Eltern legen sich die grössten
Entbehrungen auf, um seine Bedürfnisse zu befriedigen . – Uebrigens machen
wir darauf aufmerksam , dass sowohl bei den alten Deutschen ) und den alten
Römern, als auch bei den Chinesen die Eltern beim Aussetzen ihrer Kinder
hoffen , dass sich der mitleidige Finder des Kindes annehmen werde.
Das schnelle Aussterben vieler Urvölker darf nicht zum geringsten Theile
der Unsitte des Kindermordes zugeschrieben werden , z. B. bei den Bewohnern
der Antillen , der Sandwich -Inseln , der Marianen , auch bei manchen Indianer
stämmen Südamerika's . Zur theilweisen Entschuldigung der unnatürlichen
Handlungen möchten wir nicht blos die Beschränktheit der Şubsistenzmittel
anführen, die das Aufbringen einer zahlreichen Familie bei dem niedrigen
Culturzustand ungemein schwierig machen , die übermässige Arbeitslast, die
hier dem Weibe zufällt, der ewige Kriegszustand, der die Pflege des Kindes
fast unmöglich macht. Als mildernden Umstand dürfen wir auch nicht ver
gessen , dass bei vielen Völkern die Vorstellung herrscht, dass die Seele im
Jenseits in dem Zustande fortlebt, in dem sie hier den Körper verlässt. So
erscheint die That in einem milderen Lichte ; die Polynesier schreiben den
Kindergeistern eine Vermittlerrolle bei den Göttern zu ; die Bewohner der
chinesischen Provinz Honan trauen gleichfalls dem Geiste eines todten Kindes
eine bedeutende Macht zu ; sie bringen das zu ertränkende Kind auf Um
wegen fort, damit der racheerfüllte Geist den Weg zur Wohnung nicht
wiederfinden könne. )
Anstatt des organisirten Kindermordes, durch den die Otaheitier und
andere Polynesier der Gefahr einer Uebervölkerung begegneten , haben die
in sehr dürftigen Verhältnissen lebenden Aleuten an den Küsten der Behring.
strasse von jeher die äusserste Sorgfalt für die Erhaltung ihrer Nachkommen
schaft und , sowie bei den Koljuschen , eine unbegrenzte Liebe zu derselben
geherrscht. Bei zufälligem oder periodisch wiederkehrendem Mangel an
Nahrungsmitteln sah man Eltern abmagern , um ihre Kinder reichlich zu er
nähren ; und es gehörte sogar zur Landessitte, dass sich bejahrte
Väter tödteten , um einen im Meere ertrunkenen oder sonst ver
unglückten Sohn nicht zu überleben.3)
I ) Weinhold (Die deutschen Frauen etc. 2. Aufl. 1882. II. S. 92) führt sehr bestimmt unter
den Anlässen 'zum Aussetzen namentlich Theuerung, Hungersnoth und Armuth an.
2) Huc und Gabet, Wanderungen durch das chinesische Reich . Deutsch von R. Andree ;
Leipzig 1867. S. 331.
3 ) Erman in Zeitschr. f. Ethnol. 1871. III. S. 163.
Die Behandlung der Zwillingskinder. 265
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
geht eben nicht mit rechten Dingen zu.“ Oft sucht man die Schuld bei
der Mutter.
Dass sich auch in unserer deutschen Volkssage diese Idee Platz gemacht
hat, wurde von C. Haberland ') hervorgehoben : Die Stammsagen des Ge
schlechts der Welfen , der Grafen Hunt und der von Querfurt, sind schon
vielfach auf bürgerliche Verhältnisse übertragen, wie in der Sage des Gutes
Welpe im Oldenburgischen , welches seinen Namen ebenso wie die Welfen
und Hunt auf diese Sagen begründet. Aus Scham über die grosse Zahl der
geborenen Kinder will die Stammmutter sie von einer Dienerin ersäufen
lassen , wobei sie dieselben für junge Hunde (Welpen ) ausgeben soll; doch
die Dienerin hat Erbarmen , lässt sie heimlich aufziehen und fübrt sie später
der schuldigen Mutter zu . Mehrfach findet sich hierbei die Angabe, dass
die Mutter vorher die Zwillings- oder Drillingsgeburt einer anderen Frau,
da sie unmöglich von einem Manne herrühren könne, als Ehebruch erklärt
hat, und nun durch die eigene Geburt bestraft wird.2) Mit Recht macht
dabei Haberland auf diese interessanten Gegenstücke zu den Anschauungen
der modernen wilden Völker aufmerksam ; auch die Sitte der Orinoko- Indianer,
einen der Zwillinge, deren Geburt sie als eine Thierähnlichkeit ansehen , mit
dem Bemerken zu tödten , dass ihre Frauen keine Hündinnen wären ,3) berührt
sich eigenthümlich mit den erwähnten deutschen Sagen .
Einen sonderbaren Aberglauben fand Lady Gordon in Aegypten ; dort
heisst es : Alle Zwillinge streichen des Nachts als Katzen umher, wenn sie
hungrig zu Bett gegangen sind ; ihre Körper bleiben so lange wie todt zu
Hause liegen , aber Niemand darf sie anrühren , sonst sterben sie . Wenn sie
elf oder zwölf Jahre alt geworden sind, dann thun sie es nicht mehr .
Werden bei den Aïnos in Japan Zwillinge geboren , so dürfen dieselben
nicht in demselben Hause erzogen werden , denn sonst würde, so glaubt
man , eines derselben gewiss sterben.4 )
Wie ausgebreitet die Sitte der Zwillings- Tödtung ist, wird aus fol
gender Darstellung hervorgehen , wobei wir darauf hinweisen , dass bei
manchen Völkern nur bisweilen diese Sitte geübt wird , dass hingegen bei
vielen Neger -Völkern , den Betschuanen (oder Bendschuanen , auch Bed
schuanen ), bei den Moxos-Indianern in Südamerika, bei den Eingebore
nen in Guyana, bei den Kurilen und in Kamtschatka stets das eine
der Zwillingskinder getödtet wird.
1. Zwillingstödtung in Afrika.
Wir wenden uns zunächst zu den afrikanischen Völkerschaften . In
Loango, an der Westküste Afrika's, wird sogar auch die Mutter , wenn sie
Zwillinge zur Welt bringt, geopfert; höchstens darf sie der Mann loskaufen
und eine Sklavin statt ihrer opfern . Dahingegen opfern andere Neger
stämme das eine Zwillingskind nur deshalb , weil man wähnt, die Mutter
müsse sterben , wenn beide Kinder leben bleiben . In Old -Calabar betrachten
die Neger Zwillinge als Monstra und tödten dieselben ; die Mutter giebt selbst
die erste Veranlassung zur Tödtung. Ein irdenes Gefäss, wie man zum
Wassertragen dort benutzt, wird zu ihr gebracht; sie legt dann in dasselbe
ein Zwillingskind über das andere. So werden die Kinder hinaus in den
Wald geschafft, dort ausgesetzt und der Gefahr zu verhungern oder von
wilden Thieren zerrissen zu werden , überlassen ; meist werden die Kleinen
von einer Colonie gefrässiger Ameisen aufgefunden und in wenig Minuten
verspeist.") Für die Frauen von Bonny an der Küste von Guinea ist es
ein grosses Unglück , von Zwillingen entbunden zu werden ; es gilt als Be
weis von Schuld , und Mutter und Kind werden getödtet.2)
Auf meine Anfrage schrieb mir Dr. H. Barth hinsichtlich der Sitte in
Centralafrika: ,, So sehr Geburten überall in Achtung stehen und die
Frauen angesehener machen , in solchem Misscredit stehen Doppelgeburten
bei fast allen afrikanischen Völkern und werden Zwillinge wohl meist ge
tödtet. Drillinge sind etwas ganz Unerhörtes." Als Du Chaillu in einem
Dorfe der Neger des von ihm entdeckten Alpingi-Landes (äquitoriales Afrika)
weilte, gebar eine Frau Zwillinge; eines ihrer Kinder wurde sogleich ge
tödtet, weil das Volk wähnt, es würde der Mutter selbst das Leben kosten ,
wenn man beide Kinder aufziehen wollte . In Obindschi's Stadt sah Du
Chaillu das einzige Mal zwei lebende Zwillinge, welche sammt ihrer Mutter
davongekommen waren ; die Frau selbst aber wurde deswegen wie ein
blaues Wunder angestaunt. Die Apono-Neger im äquatorialen Afrika be
trachten nach Du Chaillu die Geburt von Zwillingen gleichfalls als eine
Unheilsdrohung . Die unglückliche Mutter muss eine eigene Hütte bewohnen
und jeder Verkehr mit ihren Verwandten wird ihr verboten. Auch die
Zwillinge werden von den andern Kindern ausgeschlossen, ferner dürfen die
Kochgeräthe und Wassergefässe der heimgesuchten Familie von Niemand
benutzt werden . Dies währt volle sechs Jahre, nach welcher Zeit man an
nimmt, dass der böse Zauber seine Kraft verloren hat, worauf dann das
Interdict der Mutter und der Zwillinge unter Veranstaltung einer grossen
Festlichkeit aufgehoben wird.3) Zu Watuta in Centralafrika sah Cameron 4)
zum ersten Male in Afrika eine Frau mit Zwillingen . Bei den Wakimbus
und Waniamwezys am Ujiji- See in Centralafrika kommen Zwillingsgeburten
verhältnissmässig weit seltener vor, als bei den Kaffern ; jene Völker, welche
Burton und Speke besuchten , tödten nicht immer das Eine der Zwillings
kinder. Die Wazaramo in Ostafrika und die Ibos in Westafrika pflegen
die Zwillingskinder zu verkaufen oder in den Dschungeln auszusetzen . ")
Unter den Szuaheli in Ostafrika erregen Zwillinge keine Freude; doch wer
den dieselben nicht getödtet (Dr. Kersten ). Bei den Makalaka (Süd
afrika) wird nach K. Mauch von neugeborenen Zwillingen immer einer,
der dazu durch die prophetischen Wurfhölzer bestimmtwird , lebedig in einem
Topfe weggetragen , wo er bald den Hyänen zur Beute wird .
Werden bei den Basuto oder Sotho -Negern ( einem Betschuanen -Stamm
in Südost- Afrika) Zwillinge geboren , so muss, je nach dem besonderen Ge
brauche des betreffenden Stammes, das eine oder beide Kinder sterben . In
einem solchen Falle wurde das Kind in ein Loch am Viehhofe geworfen ,
trockener Kuhmist über dasselbe geschüttet, und dann wurde es todtgetreten
(Missionär Endemann ). Diese Thatsache bezeugt Missionär Grützner ,
der angiebt, dass unter den Basuto's alle Zwillingskinder umgebracht wer
den , bei manchen Stämmen wenigstens eines derselben . Nach Chr. Stech ?)
wird das Loch im Viehdünger, in welches man das Kind einscharrte, deshalb
besonders festgetreten , weil man seinen Inhalt vor den Augen der Zauber
doctoren zu schützen sucht, welche sich denselben gern aneignen , um ihn
zu ihrer Medicin zu verwenden .
Nur selten gilt die Geburt von Zwillingen als etwas Erfreuliches.
Dies ist z . B. bei den Hottentotten der Fall, wo der Vater sich dieses
Beweises seiner männlichen Kraft freut und rühmt, und nur der Mangel an
Muttermilch die Tödtung des Einen veranlasst.3)
Also nur in dem Falle, wenn die Familie arm ist, und die Mutter nicht im
Stande sein sollte, die beiden Kinder selbst zu säugen , greift man zu dem
grausamen Entschlusse, eines derselben zu opfern. Es wird dann entweder
ausgesetzt , oder lebendig begraben . ) Von den Hottentotten erzählt auch
P. Kolbe, dass die Geburt männlicher Zwillinge nicht nur bei Vater und
Mutter , sondern auch bei den Angehörigen des Kraal die lebhafteste Freude
erregt, und dass der Vater dann einen grossen Schmaus veranstaltet. Sind
aber die Kinder weiblichen Geschlechts, so ist das Vergnügen minder gross,
und das schwächere Kind wird ausgesetzt, und das um so gewisser, wenn
man dafür hält, dass die Mutter zwei Kinder zugleich nicht säugen könne.
1) Burton, Nouv. Ann. des voyages. May 1862. 178.
2 ) „ Daheim " 1879. 24. S. 382.
3) Müller, Ethnol. S. 86 .
4 ) Novara-Reise, Anthropolog . Theil III. 118 .
2. Günstige Aufnahme der Zwillinge in Afrika. 269
Allein Le Vaillant ") fand, dass dieses Verfabren sehr selten ist und von
den Hottentotten selbst verabscheut wird ; er meint, dass , wenn dasselbe
einmal vorkommen sollte, nur die zärtliche Neigung der Mutter und die Furcht
derselben Schuld sein könne, dass sie für das Kind nicht hinlängliche Nahrung
habe. Bei dem Hottentottenstamme der Gonaquas macht man sich nach Le
Vaillant dieses Verbrechens nicht schuldig, denn auf seine Anfrage äusserten
die Gonaquas grossen Unwillen über eine solche Handlung ; Le Vaillant
sah selbst sehr häufig Hottentottenweiber ihre Zwillinge an der Brust
ernähren .
· Dieser Grund, dass man fürchtet, beide Kinder nicht aufziehen zu können ,
zwingt auch die californischen Indianer dazu , da ihnen anderweite Nahrung
nicht zu Gebote steht,2) das eine der Kinder zu tödten ; dasselbe ist der
Fall in Benin ) und bei den Dualla , welche eine Zwillingsgebärerin
sehr hoch halten ; 4) in Akim fand Missionär Riis sogar als König
einen Zwillingsgeborenen . Im Königreiche Benin an der Sklavenküste wird
allgemein die Ankunft von Zwillingen mit Musik und Gastmählern gefeiert.
Unter den Negervölkern am oberen Nil betrachtet man es überhaupt als ein
Glück , viele Kinder zu haben ; das Vermögen eines Mannes wird hier nach
der Zahl seiner Kinder bemessen ; auch Zwillinge werden gewöhnlich mit
grossem Entzücken begrüsst, denn sie vermehren das Vermögen der Familie ;
in manchen Fällen werden sie indess auch getödtet.5) Ebenso betrachten
die Bewohner der Goldküste ( die Fanti und Aschanti) die Geburt von
Zwillingen als besonders glückbringend ; dahingegen wird dort die Geburt
von Drillingen für unglücklich angesehen . ) In der Landschaft Fetu an der
Goldküste werden Zwillinge von einerlei Geschlecht aufgezogen ; von Zwil
lingen verschiedenen Geschlechts wird einer ausgewählt für das Leben, der
andere aber dem Tode geweiht.?)
Nach Livingstone's Angabe wird zwar bei den Kaffern nicht selten
eines von Zwillingskindern getödtet; allein nach Döhne's Bericht beschreibt
G. Klemm die Feierlichkeit, welche die Kaffern bei der Ankunft von Zwil
lingen vornehmen , und aus welcher man doch auch schliessen kann , dass
die Kaffern die Geburt von Zwillingen als ein freudiges Ereigniss betrachten :
Bei der Geburt von Zwillingen muss nemlich der Mann an der Südseite der
Hütte ein Stück vom Blatte der wilden Aloë pflanzen ; dieses schlägt aus
und ist in 9 Monaten eine Pflanze von vier Fuss Höhe; mit dem Milchsafte
derselben werden alsdann die Zwillinge gewaschen . Ein Arzt, Dr. H.Cal
loway, der zu Spring Vale in der Colonie Natal lebt, schreibt darüber an
die Londoner Anthropologische Gesellschaft Folgendes :
1) Reisen in das Innere von Afrika, deutsch . 2. Aufl. II. 42. IV . 198 .
2) Globus Bd. XXIX . S. 311.
3) Waitz , Anthrop. II. S. 124.
4 ) Baseler Missionsmagazin 1840. III. S. 97
5) J. H. Speke, Die Entdeckung der Nilquellen . A. d . Engl. Leipz. 1864. I. 7 .
6 ) Otto Finsch . Allg . Zeitschr. f. Erdkunde. Bd. 17. 1864. S. 361.
7) W. J. Müller, Die afrikanische, an der Goldküste gelegene Landschaft Fetu . Nürnberg 1675.
270 Die Behandlung der Zwillingskinder.
Die Eingeborenen haben ihre Kinder sehr lieb , aber das eigene Leben
haben sie doch noch lieber. Eltern werden unter gewissen Umständen ihre
Kinder zu Grunde gehen lassen , sie auch wohl tödten, wenn sie wähnen ,
dadurch ihr eigenes Leben erhalten oder auch nur Krankheit von sich ab
wenden zu können . Die Sitte, ein Zwillingskind umzubringen , kommt unter
einigen Stämmen und Familien der Kaffern vor und hat ihren Grund im
Wahnglauben . Unter manchen Stämmen sind Zwillingsgeburten selten , bei
anderen nicht; bei den letzteren lässt man beide Kinder aufwachsen , bei den
ersteren gilt solch eine Geburt für eine Ungeheuerlichkeit und deshalb muss
eins der Kinder sterben. Man untersucht beide sorgfältig und dem schwächsten
steckt man einen Erdklumpen in den Mund, an welchem es langsam erstickt.
Nachher begräbt man es neben der Eingangsthür der Hütte und pflanzt eine
Ikgena, d . h . Zwergaloë, auf die Grabstelle. Man meint, wenn beide Kinder
aufwüchsen, müsse Vater oder Mutter sterben , früher oder später ; auf jeden
Fall werde die Mutter früh alt und unfruchtbar , wenn man beide Kinder am
Leben lasse; im letzteren Falle sei auch unausbleiblich , dass die Zwillinge
einander tödten würden , indem einer dem anderen Krankheiten zu Wege
bringe . Die alten Weiber im Kraal schärfen allen diesen Widersinn , an
welchem sie streng festhalten, dem Volk ein . Nun trifft es, sich aber auch ,
dass ein Vater sich dem Kindermorde widersetzt. Dann wird er sofort von
den Alten im Dorfe bedrängt und gedrängt ; sie wissen ihm Beispiele vor
zuhalten und ausführlich zu erzählen , welches Unheil dadurch entstanden sei,
dass man beide Kinder am Leben gelassen habe, und sie lassen dann nicht
nach , bis er in die Tödtung willigt. Calloway kennt einen Fall , dass ein
Mann, in dessen Familie Zwillingsgeburten nicht selten waren , eine Frau aus
einem anderen Stamme heirathete, in welchem sie fast gar nicht vorkamen.
Die Frau gebar Zwillinge und sofort versammelten sich ihre Verwandten ,
um „ das Unglück abzuwenden.“ Der Mann widerstand und gab vernünftige
Gründe an ; der Mord unterblieb . Als aber die Kinder etwa 14 Jahr alt
waren , erkrankte die Mutter und nun verstand es sich von selbst, dass der
Mann daran schuld sei; hätte er ein Kind getödtet, dann wäre die Mutter
nicht krank geworden . So lautete die Logik der Wilden .
Das Kind wird dicht neben der Thür begraben , weil das dem über
lebenden Zwillinge zu Gute komme. Dieses letztere, so meint man , vermisse
das andere, und dieses habe aus dem Grab heraus eine wohlthätige Wirkung.
Wenn es schreit, so thue es das, weil es sich nach jenem sehne; dann trägt
man es auf das Grab und lässt es dort, bis es wieder ruhig wird . Deshalb
ist das Grab dicht bei der Hütte ; man braucht das schreiende Kind nun
nicht weit zu tragen . Die Aloë gilt als Vertreterin des Verstorbene in
ihr ist sein Geist oder Schatten . Man schneidet alle Stacheln ab, damit das
lebendige Kind sich nicht beschädige , sich an der Pflanze emporziehen könne
und dadurch stark werde.“ Er würde ein Gleiches an seinem Zwillings
bruder gethan haben , wenn dieser am Leben wäre.
Bei den Kaffern, welche Nahrungsmittel in Menge haben , hat diese
2. Günstige Aufnahme der Zwillinge in Afrika. . 271
sind , wurden von Zwillingskindern , deren Geburt als ein Beweis grober Aus
schweifungen galt, eines getödtet.")
Die alten Mexikaner meinten , dass, wenn eine Zwillingsgeburt statt
fand , das eine der beiden Kinder eines der Eltern um's Leben bringen
könnte ; deshalb wurde das eine nach der Geburt getödtet.
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
theilung. Aus solchen Anfängen hat sich nun ohne Zweifel die Befähigung
allmälich entwickelt, den erwachenden Gedanken Ausdruck zu geben und
mit Anderen in geistigen Austausch zu treten .
Es ist daran zu erinnern, dass zur Entstehung der Sprache sowohl beim
Individuum , als auch beim Menschengeschlecht überhaupt immer als Voraus
setzung zwei Persönlichkeiten gedacht werden müssen, die das Bedürfniss
haben , sich mit einander durch Zeichen zu verständigen , und die nun nach
und nach die Entdeckung machen , dass unter den ihnen zu Gebote stehenden
Zeichen die Benutzung der Artikulation der Sprachlaute am ergiebigsten und
vortheilhaftesten ist. Jedenfalls sind nun auch diejenigen Sprachlaute, welche
im Verhältniss zwischen Mutter und Kind die nächstliegenden Bedürfnisse
andeuten , sowohl in frühester Epoche, als auch noch jetzt die bevorzugten ,
eine geraume Zeit sogar noch einzigen Mittel zum gegenseitigen Verständniss.
Dann wurde und wird zu weiteren Mittheilungen fortschrittlich übergegangen,
indem auch für solche Dinge und Verhältnisse , für diejenigen Wünsche und
Bedürfnisse , welche ausserhalb der engeren Beziehung zwischen Mutter oder
Vater und Kind liegen , zu gegenseitigem Austausch Bezeichnungen mittels
der Sprachlaute durch eine Art Convention gefunden werden . Und diese
Uebereinkunft wurde dann in der Sprachentwickelung weiterhin über die
Grenze der Familie hinaus bestimmend für andere Individuen , die am natür .
lichen Lernprocess theilnahmen und es bequem und passend fanden, das Er
lernte wiederum zu eigenem Nutz und Frommen beim Gedankenaustausch
anzuwenden .
Wer ein Kind im ersten Stadium seines Lebenslaufs als eines der unbe
hülflichsten Wesen beobachtet, wird es in vielen Stücken bezüglich der In
telligenz weit zurückstehend finden hinter vielen im ersten Jugendzustand
befindlichen Thieren . Es wächst des Kindes anfangs noch tief schlummern
der und erst ganz allmälich erwachender Verstand nur in verhältnissmässig
später Zeit ; kaum folgt das Auge des Wochenkindes dem Eindrucke, den
das Licht auf die Netzhaut ausübt; es zeigt nur durch Schreien sein Unbe
hagen an , und dieser Schrei ist der Lockruf für die Mutter, zu helfen , dass
sie es pflege, trocken lege, oder ernähre. Dem Lock- oder Warnrufe der
Mutter lernt das Kleine erst später folgen . Dagegen verstehen sich Mutter
und Kind bei vielen Thieren weit besser. Man hat nun gemeint, dass, wie
wir bei unseren Kindern als erste Sprachzeichen die Worte Papa und Mama
auftreten sehen , so auch die Ursprache bei ihrer Entstehung die Worte
Papa und Mama zuerst bildete . Obgleich Max Müller und Steinthal
diese von uns weiter zu besprechende Theorie verspotteten , so scheint doch
in ihr ein Theil von Wahrheit zu sein . Wenigstens mag es gerechtfertigt
sein , der Spur nachzugehen .
1. Das Lallen des Kindes.
277
Wenn man recht aufmerksam darauf ist, wie die Sprache beim Kinde
nach und nach zu Stande kommt, so nimmt man ganz bedeutsame Erschei
nungen wahr, die theils mit der geistigen Entwickelung, theils mit den physio
logischen Bedingungen der Sprachorgane zusammenhängen . In dieser Be
ziehung stellte Prof. Dr. Fritz Schultz ") sinnreiche Betrachtungen an ; er
kommt zu dem Resultate, dass die Aneignung der einzelnen Sprach
laute so geschehe, dass die Laute von geringerer physiologischer
Schwierigkeit den schwerer sprechbaren vorausgehen ; die Ab
stufung der Einzellaute selbst wird durch eine Tabelle veranschaulicht; wir
können ihm im Ganzen wohl beistimmen .
Die Physiologie hat ohne allen Zweifel über die Sprache und ihre
Erlernung das erste Wort mitzusprechen , denn es handelt sich in physio
logischer Hinsicht zunächst darum , die Bewegungen und Stellungen zu unter
suchen , welche die Sprachwerkzeuge bei der Bildung der einzelnen Sprach
laute ausführen . Der Gegenstand bietet aber auch eine psychologische
Seite , denn es gilt auch , zu erörtern , wie die Seele die innere Bedeutung
des gesprochenen Wortes auffasst. In diesen beiden Beziehungen hat der
Tübinger Physiolog Vierordt in einer Abhandlung 2) Beiträge gebracht aus
Beobachtungen über die Leistungen und allmäligen Fortschritte des sprechen
den Kindes. Den Anlass zur Tonbildung durch die Stimm- und Sprechorgane
geben von Anfang an fast ausschliesslich nur unbehagliche Empfindungen :
Schmerzen, Hungergefühl etc. Erst später kommen Gefühle behaglicher Natur
zum Ausdruck . Während das Kind früher die Stimme ausschliesslich zum
Schreien gebrauchte, erhalten dann die Töne etwas sanfteres und wohl
klingendes, eine ganz andere Klangfarbe ( Timbre). Vom 3. und 4. Monat
an werden die anfangs blos für sich bestehenden Laute in die mannigfachsten
Verbindungen mit einander gebracht. Dabei ist es auffallend, dass das Kind
manche Laute mit Leichtigkeit hervorbringt, die ihm später beim Sprechen
lernen förmliche Schwierigkeiten machen . Die Einen lassen mehr die Lippen
laute (b , v), die Andern Zungenlaute (1, r, s) hören ; sogar die schwierigen
Gaumenlaute ( ch , k , das hintere n und das harte r ) kommen vor. Man hört
z . B. mam ämma fu pfu ess angka acha erra hab .
Diese Lautcombinationen entstehen ursprünglich durchaus unwillkürlich und
maschinenmässig . Vierordt macht darauf aufmerksam , dass wir diesen Laut
combinationen eine gewisse Bedeutung bei der allmäligen Entstehung und Er
findung der Sprache zuschreiben müssen .
Die Erzählung des Herodot (II, 2 ) über den Versuch des ägyptischen
Königs Psammetich , die ältesten aller Nationen und Sprachen ausfindig zu
machen , bietet hier ein gewisses Interesse dar. Er liess von einem Hirten
1) „ Die Sprache des Kindes." Leipzig 1880. E. Günther.
2) „ Die Sprache des Kindes " in R. Fleischer's „ Deutsche Revue." III. Heft. 4. 1879. S. 29
--
zwei Kinder aufziehen , ohne dass dieselben einen Laut hörten ; er liess ihnen
in einsamer Hütte fort und fort Nahrung reichen , doch befahl er, dass mit
ihnen Niemand sprechen solle. Nachdem der Hirte zwei Jahre so verfuhr
und einmal die Thür öffnete und hineintrat, kamen die beiden Knaben auf
ihn zu und sprachen „ Bekos,“ indem sie die Hände ausstreckten . Als auch
beim späteren Besuchen die Knaben dies Wort wiederholten , meldete er dies
dem Psammetich. Dieser erkundigte sich , welche Menschen Etwas „ Bekos“
nennen und erfuhr , dass die Phryger das Brod so nennen. Dies veranlasste,
dass die Aegypter meinten , die Phryger seien älter, als sie selbst. Die ganze
Erzählung erfuhr Herodot von den Hephästos- Priestern in Memphis .
Ein ähnlicher Versuch wurde, wie die Chronik des Franciskaners Salim
bene mittheilt, von Kaiser Friedrich II. angestellt: Er wollte erfahren , welche
Sprache und Ausdrucksweise Knaben bei ihrer weiteren Entwickelung zeigen,
wenn sie nicht im Sprechen unterrichtet werden . Er gab Wärterinnen und
Ammen die Anweisung , den Kindern Milch zu reichen und die Brust zu geben ,
sie zu waschen u . s. w ., ohne sie zu liebkosen oder mit ihnen zu reden ;
,, denn er wollte ersehen , ob sie hebräisch als die älteste Sprache , oder griechisch
oder lateinisch oder arabisch oder etwa die Sprache ihrer Eltern sprechen
würden . Aber er bemühte sich vergeblich , weil sie alle im Kindes- oder viel
mehr Säuglingsalter starben. Sie konnten ja nicht leben ohne den Beifall,
die Geberden , freundlichen Mienen und Liebkosungen ihrer Wärterinnen und
Ammen ; deshalb nennt man Ammenzauber die Lieder , welche das Weib
hersagt beim Schaukeln der Wiege, um das Kind einzuschläfern , ohne welche
dasselbe nur schlecht schlafen und keine Ruhe haben könnte ." Der alte
Chronist erklärt gewiss den frühen Tod der Kinder grundfalsch .
Dagegen giebt uns die aufmerksame Beobachtung des Kindes eine Reihe
bemerkenswerther Thatsachen kund .
Die Kindersprache zeigt schon in der Form viel Eigenthümliches, das
besonders durch die Unvollkommenheit einestheils der Sprachwerkzeuge,
anderntheils des geistigen Verständnisses bedingt ist. Man nennt diese un
vollkommene Kindersprache „ das Lallen." Hinsichtlich der Sprachorgane
sind nemlich gewisse unüberwindliche Schwierigkeiten vorhanden ; wie kann
man z. B. erwarten , dass das Kind die Dentallaute (Zahnlaute) ausspreche,
bevor ihm noch die Zähne gewachsen ? Daher werden die Kinder vor Er
reichung des ersten Lebensjahres wohl die Lippenlaute m , b , p hervor
bringen , aber die Dentalen t, d, n und den Labiodentalen f nicht; sie werden
für letztere einen Ersatz suchen oder sie überhaupt weglassen . In dieser
Hinsicht hat für die italienische Kindersprache Corazzini ) eine Tabelle in
den wichtigsten Dialekten Italiens zusammengestellt, durch die recht deutlich
sowohl das Ersetzen , als auch das allmälige Erlernen der Laute hervorgeht.
Erst nachdem die Kinder sich der Dentalen bemächtigt haben , folgt das
palatale (Gaumenlauter ) c und nach diesem das gutturale (Kehllauter) c,
1) Dessen: I componimenti minori della letteratura popolare italiana nei principali dialetti.
Benevento 1877.
2. Wie entstanden die Worte Papa und Mama ? 279
dann die Buchstaben 1 und s und ganz zuletzt die harten Laute r, v, 2.
Bevor sie diese letzteren aussprechen können , ersetzen sie dieselben durch
andere oder lassen sie ganz weg ; so sagen viele italienische Kinder pele ,
bele, olo für pere, bere, sowie ovo , osa anstatt ora und tea anstatt terra. In
solcher chronologischen Reihenfolge, wie im Italienischen , eignet sich ähnlich
auch bei uns das Kind seine Fertigkeit an , die Laute des Alphabets auszu
sprechen . Auch bei uns, wie gewiss überall, kommen zuerst die Lippen
laute zum Vorschein , die mit einem Vokal verbunden werden .
Ueber die Urlaute und Sprachanfänge eines während der ersten drei
Jahre täglich beobachteten Kindes hat vor Allen der Physiolog Preyer
(in Jena ) höchst interessante Mittheilungen gemacht.") Nachdem mannigfache
Lautäusserungen vom Kinde vorgebracht worden , wurden von der 42. Woche
an die Silben ma und pappa , tatta , appapa, babba, pa häufig geäussert;
doch noch immer scheiterten die Versuche , das Kind zum Nachsprechen vor
gesprochener Silben , selbst solcher zu veranlassen , welche es vorher von
selbst vorgebracht hatte. Erst im 11. Monat sagte das Kind das vorge
sprochene ,,ada“ nach ; und an demselben Tage antwortete es auf das ihm
zugerufene Wort „mamma" mit ,,nanna.“ Wir selbst fanden ganz Aehnliches ;
doch sprachen die Kinder auch oft richtig Mama nach . Unter den Selbst
lauten wird bei fast allen Kindern das a (meist mit der Annäherung an ä )
zuerst gebildet. Am nächsten liegt dann e und u ; am schwersten wird dem
Kinde das i, indem dieses die grösste Verengung des Zungen- und Mund
kanals erfordert. Unter den Mitlauten bilden sich zuerst b , p und m als
natürliche Produkte des Oeffnens und Schliessens der Lippen . Es liegt
demnach in der Natur der Sprachentwickelung begründet, dass sich bei den
Kindern als erste Zusammensetzungen mama, papa bilden , die als erste Be
zeichnungen für die Eltern dienen .
Wie kommt es nun , dass man Papa und Mama für Vater und Mutter
gewählt hat? Hierüber ziehen wir Peschels Worte an : a) „ Die Elternliebe
hat, so lange Menschen auf Erden wandeln , stets in süsser Täuschung das
Kind missverstanden , als sei ein Lockruf beabsichtigt gewesen , als verlange
das Kind nach Vater und Mutter. Dass nun diese ersten Uebungen der
Stimmwerkzeuge den Laut des künftigen Wortes, die Deutung der Eltern
aber den Sinn der Laute bestimmen , erkennen wir daraus, dass in einer
Anzahl von Sprachen der ba-Laut für Vater, der ma-Laut für Mutter gilt,
und in einer gleichen Anzahl das Umgekehrte eintritt.3) Andere Kinderlaute
für Mutter sind aithei (gothisch ) und atta (sanskrit), letzterer auch für die
ältere Schwester giltig . Das lallende Kind hat nun verschiedene Stufen des
Sprachverständnisses zu ersteigen , denn es muss zunächst die Erfahrung er
werben , dass bei ma- oder ba-Uebungen entweder die Eltern herbeikommen
oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird . Dann erst wird der Laut
von dem Kinde absichtsvoll geäussert, aber erst viel später und nicht ohne
entgegenkommende Bemühung der Eltern gelingt es endlich , dass der eine
Laut für den Vater, der andere für die Mutter als Lockruf angewendet
werden . Monate, ja Jahre verstreichen , ehe hierauf die Erkenntniss durch
bricht, dass Mama und Papa nicht Eigennamen sind, sondern für die Kinder
zunächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen . Erst bei einer späteren
Reife entdeckt das Kind weiter , dass jene Namen den Erzeugern zukommen
und den wahren vollen Inbalt erfassen selbst die Erwachsenen erst dann,
wenn sie Freuden und Sorgen von Vätern oder Müttern gekostet haben .
Wenn auch nicht vollständig , so doch annähernd gleicht der
Entwickelungsgang im zarten Lebensalter den ersten Sprech
versuchen unseres Geschlechts.“ Mit diesen Worten hat Peschel
offenbar, wie in so vielen Dingen der Völkerkunde, das Richtige getroffen .
Jedenfalls ist sehr bemerkenswerth , dass das WortMamma in einigen , durch
aus nicht mit einander verwandten Sprachen keineswegs die Mutter, sondern
die Frauenbrust bezeichnet, an welcher der Säugling trinkt; denn sowohl
im Lateinischen hat das Wort diese Bedeutung, als auch in der Sprache der
Tschuktschen ") ist Mámmah Frauenbrust, und „,säugen “ heisst auf tschukt
schisch Mammatkóurgin . Die Milchbrüste heissen in der Schweiz Mämmeli,
bei den siebenbürger Sachsen Mämcher und kommen als solche in den
Wiegenliedern vor. Der Lockruf wurde hier auf die ernährenden Organe
bezogen , nicht auf die Mutter selbst.
„Man darf die Namen , welche die Kinder für die Eltern gebrauchen ,
nicht so betrachten , als ob sie in der Sprache allein ständen .“ So sagt
E. B. Tylor2) und fährt fort: „ Sie sind nur wichtige Glieder einer Wort
klasse, welche, soweit unsere Erfahrung reicht, allen Zeiten und Ländern
angehört und eine Kindersprache bildet, deren gemeinsamer Charakter darauf
begründet ist , dass sie sich in der begrenzten Reihe der Vorstellungen , an
denen Kinder Antheil nehmen , bewegt und diese Vorstellungen mit der be
grenzten Reihe von Artikulationen ausdrückt, welche den ersten Sprach
versuchen der Kinder angemessen ist .... Verschiedene Beispiele von
Kinderwörtern liefern uns den Schlüssel zu dem Ursprunge einer Menge von
Namen in den verschiedensten Sprachen für Vater, Mutter, Grossmutter,
Tante, Kind , Brust, Spielzeug , Puppe u . s. w . Gleichzeitig wird erklärlich ,
wie bei dem geringen Vorrath verfügbaren Materials derselbe Laut für die
verschiedenen Begriffe dienen kann ; warum mama hier Mutter, dort Vater,
dort Oheim , dada hier Vater , dort Amme, dort Brust, tata hier Vater, dort
Sohn bedeuten kann .“
Die Sanscritforscher waren , so will es mir scheinen , auf eine ganz
falsche Spur gerathen : Das Wort Mutter, sanscrit matâ , lateinisch mater ,
griechisch výtop, führt, so sagten sie, auf eine Wurzel ma „ bilden ,“ bedeutet
also, wie Einige meinen, die Bildnerin " des Kindes. Allein es ist doch
darauf hinzuweisen , dass es Lallwörter des Kindes giebt, die sich überall
gleichlautend wiederholen, und dass auch bei solchen Völkern, die nicht dem
indogermanischen Sprachstamme angehören , ganz dieselben Lallwörter ge
funden werden . Mama und Papa kommen bei ausserordentlich vielen Völkern
des Erdballs vor . So mag es denn mehr als bedenklich , wenigstens zweifel
haft sein , ob man berechtigt ist, bei unserer indogermanischen Bezeichnung
der Mutter als Mama an eine ursprüngliche Bedeutung „ Bildnerin “ zu denken ,
bei anderen Völkern aber dieselbe Bezeichnung nur als „ Lallwort“ aufzu
fassen. Mit der Frage, wie diese Lallworte zu der Bedeutung kamen , wollen
wir uns in Folgendem beschäftigen .
Eine ganz richtige Bemerkung machte in dieser Beziehung Sir John
Lubbock : „ Die am häufigsten und besonders von Kindern gebrauchten
Worte werden selbstverständlich meistens durch die einfachsten und leich
testen Laute dargestellt. So haben wir z . B. in Europa Papa und daddy ,
Mama und baby, Puppe , Ammen u . s. w . Mehrere Gelehrte haben freilich
Pater und Papa von der Wurzel pa, ,, erhalten ,“ und Mater, Mutter von ma,
,,machen “ abgeleitet, und diese Annahme ist von den Vertretern völlig ver
schiedener Theorien gebilligt, wie z. B. von Pictet , Renan , Max Müller
und offenbar auch von Farrar." Max Müller nämlich sagt :
„ Dass der Name Vater in jener frühen Periode geprägt wurde,
beweist, dass der Vater die Sprösslinge seines Weibes als seine
eigenen anerkannte ; denn nur so hatte er ein Recht, den Titel
,, Vater " zu beanspruchen. Vater ist von einer Wurzel ,,Pa" ab
geleitet, welche nicht zeugen , sondern beschützen , unterhalten und
ernähren bedeutet. Der Vater, als Erzeuger , hiess im Sanscrit
ganitár, als Beschützer und Unterstützer seiner Nachkommenschaft
aber hiess er : pitár. Aus diesem Grunde werden im Veda beide
Namen zusammen gebraucht, um den vollen Begriff von „ Vater “ zu
bezeichnen . In ähnlicher Weise wird mâtar, Mutter, mit ganitů ,
genitrix verbunden und dies zeigt, dass das Wort mâtar bald seine
etymologische Bedeutung verloren haben und ein Ausdruck der
Verehrung und der Liebkosung geworden sein muss. Bei den
ältesten Ariern hatte måtar die Bedeutung : Macher, von ma,
gestalten ." )
Wie nun aber, wenn feststeht, dass der Urlaut Ma für die Bezeichnung
der Mutter, sowie Pa für die des Vaters bei einer grossen Zahl von Völkern
vorkommt, deren Sprache sich nicht um den Stamm des Sanscrit gruppirt?
Dies kann doch kaum als ein ,,Zufall" aufgefasst werden. In dem über
sichtlichen Verzeichniss, welches Lubbock ) über die Ausdrücke für Vater
und Mutter bei vielen Völkerschaften aller Continente aufstellt, und welches
inzwischen durch neue Beiträge zahlreicher Reisender vermehrt werden kann,
finden wir schon für Vater Pa, Baba und Papa, sowie Dada auch Ada oder
Aba in ganz Afrika, Baba im Türkischen, Mama im Georgischen , Ama im
Mandschu, Bapa im Javanischen und Malayischen, Dada in Siam ( Tibet), Pha
in Tibet, Aba in Nepal, Aba in Nordost-Bengalen , Ahpa in Birma, Ma in
Talaing (Siam ), Appu in Mittelindien , Baba in Santhal, Abba bei Khonds ,
Amme bei den Tuluva (Südindien ), Appa bei den Badagas, Appa bei Cing
halesen , Fu in China, Pa Matuatana auf Neuseeland, Tamny auf den Tonga
Inseln und Tama auf Kingsmill, Baab auf Lewi's Murray- Insel, Bab in Nord
australien , Marmuk in Nordwest-Australien , Murmme in Südaustralien , Pappi
in Port Lincoln, Atata bei Eskimo der Hudsonsbai, Atta bei Tschuktschen
in Nordasien ; und schliesslich unter den Indianervölkern : Appa bei Athapasken
(Canada ), Dadai bei Omahas (Missouri), Tantai bei Menitaries, Aunkke bei
Choktaws (Mississippi), Baba bei Caraiben , Yaya bei den Quichua, Pay ,
Ipaki, Pagui, Paica bei verschiedenen Stämmen am Amazonen -Strom .
Für Mutter kommt in Afrika häufig vor Iya bei Ota, Egba, Yoruba
U. S. W. auch Yeye, Ye und Inya ; ebenso Ni, Ne und häufig Na bei Man
dingo, Kabunga und anderen Negervölkern ; ferner Ba bei Bambarra und
Vei, auch Nga bei Soso etc. und schliesslich Ma bei den Mose in Hoch
Sudan und Dewoi in Guinea, Mma bei Kiriman in Südostafrika, und nicht
selten Mama bei Songo in Südwestafrika, bei Landoma, Embomma und Ma
lenba, Omma in Wadai und Umame bei den Kaffern . Ferner fand Stanley
die Bezeichnung Mama für Mutter bei Ki-Swaheli, Ki- Yanzi, Ki-Bwende,
Kakungo und Má-Má bei Macua ; Ma bei Setschwana, Imama bei Sakatu ,
Himama bei Watuta, Mayu bei Ki-Nyamwezy, Maweh bei Ki-Nyambu, Amay
bei Ki-Nyassa , Nane bei M -Fan , Emmi in Timbuktu u . s. w .
Weiterhin heisst die Mutter Ana türkisch , Dada Georgisch , Eme in
Mandschu , Ibu Javanisch , Ma Malayisch und Siamesisch , Ama in Tibet, Serpa
(Nepal), Dhimal (Nordost-Bengalen ), bei Cinghalesen und anderen Asiaten ,
Ami Birmanisch , Enga in Mittelindien bei Ho, Ayya bei Khonds, Appe bei
Tuluva, Avve bei Badagas in Südindien , Mu Chinesisch ; Matua wahina auf
Neuseeland, Fae auf Tonga-Inseln , Mama auf Kingsmill, Ama in Nord
Australien , Barbuk in Nordwest-Australien , Parppe in Süd-Australien , Maitya
in Port Lincoln ; Amama bei Eskimo der Hudsonsbai ; schliesslich unter den
Indianern : Unnungeul bei Athapasken , Jhong bei Omahas, Ika beiMenitaries ,
Iskeh bei Choctaws, Bibi bei Caraiben , Mama bei Quichua, Ami, Ipako,
Maou , Naca am Amazonas. Hier scheinen die Indianervölker dem allge
meinen Zuge nicht zu folgen ; dagegen macht Lubbock zur Erklärung des
1) Die Entstehung der Civilisation etc. Deutsch von Passow . Jena 1875. S. 354.
--
2 . Wie entstanden die Worte Papa und Mama? 283
Ueberhaupt mag es leicht auf falsche Wege führen , wenn man zunächst
die Entwickelung des Sprachvermögens und des Austausches von Vorstel
lungen durch die Sprache an den Thieren zu studiren sucht. Vielmehr ist
es gewiss vor Allem geboten , zu untersuchen , wie sich die Sache beim
Menschengeschlecht verhält, und welche Erscheinungen sich namentlich im
Leben der Völker bemerklich machen .
So hat man Uebungen für die meisten Buchstaben des Alphabets: „ Näge
mal de Boll , Boll, Boll, Boll, Boll, Boll." — ,, De dönne Diewel drog den dicke
Diewel dorch den dicke Dreck ." . „ Fritz, Fritz , friss frische Fische , Fritz !"
,, Jene graue Gans ging jenes grüne Gras grasen .“ – „ Hans haut Holz,
hinter Häckers Hinterhaus haut Hans Holz .“ „ Jung, säd de Jung, dat de
Jung dem Junge seggt, dat de Jung de Schwien utjeggt.“ – „ Kein klein Kind
kann keinen kleinen Kessel Kohl kochen .“ u . S. W.
Bei mehreren primitiven Völkern bestehen ähnliche Methoden , wie wir
im Kapitel über „ Erziehung “ nachweisen werden . So berichtet Dr. Pechuel
Loesche: „ Die Negermutter an der Loangoküste (Bafiote ) lehrt dem Kinde
I) Das deutsche Kinderbuch . Altherkömmliche Reime, Lieder u. s . w . 2. Aufl. Frankt. a .M. 1857
2 ) Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857.
3) Preussische Volksreime und Volksspiele. Berlin 1867.
286 Das Kind und die Muttersprache.
Das Volk legt einem Worte bisweilen mit der Zeit eine ganz andere
Bedeutung bei, als dasselbe ursprünglich hatte . Dies trifft auch unter An
derem die Ausdrücke, mit welchen man das jugendliche Individuum und sein
Treiben bezeichnet. Martin Luther durfte vor 300 Jahren noch schreiben :
Gott thue nichts als Schlechtes, und das Evangelium sei eine kindische
Lehre. Damals bedeutete also , wie noch heute in unserer Redensart recht
und schlecht, das Schlechte etwas Schlichtes, das Kindische etwas Kindliches.
Im Süden Deutschlands wird jedes männliche Kind ohne Arg ein Bube ge
Das Kinderspiel und Kinderlied . 287
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
1) Völkerkunde von Oscar Peschel. 5. Auflage von A. Kirchhoff. Leipzig 1881. S. 107.
2) Die Anfänge der Cultur. Leipzig 1873. I. S. 225.
3) W. Preyer , Dle Seele des Kindes. Leipzig 1882. S. 30+
288 Das Kinderspiel und Kinderlied.
1) Dr. Georg M. Biz yenos, Das Kinderspiel in Bezug auf Psychologie und Pädagogik .
Leipzig 1881. S. 2.
2 ) Rochholz, Alemann. Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz. Leipzig 1857. II. S. 357
Das Kinderspiel und Kinder ied . 289
Natur und ist sich also in allen Zeiten und Verhältnissen gleich . Denn was
dem rein Menschlichen angehört, bleibt frei von dem Wechsel der Systeme
und Moden ; so grosse Dinge , wie heute der sogenannte gute Geschmack
und die öffentliche Meinung , haben keinen Einfluss darauf, und kaum durch
das Nationelle erleidet es einen leisen Eindruck . Die Erzählungen hierüber
aus dem höchsten Alterthum machen daher noch immer eine Wirkung auf
uns, als stammten sie aus unseren eigenen Jugendjahren . Jene Mutter , die
dem eingeschlummerten Säugling die Fliegen wehrt, ist die schon von Homer
geschilderte , ist zugleich unsere eigene und wird auch den einst noch kom
menden Raphaelen der Gegenstand ihrer Madonnenbilder sein . Jenes Kind ,
das neben der Mutter herläuft und sie an der Schürze zupft , bis sie's auf
den Arm nimmt, ist das homerische Kind und sind wir selbst einmal gewesen .
Jenes Söhnlein , das vor des Vaters grossem Helmbusch erschrickt und sich
in die Schulter der Amme verbirgt, ist Hektor's Astyanax ; da nimmt der
Vater den Helm noch einmal ab , obgleich er eben auf dem Wege ist, in
den Kampf zu gehen , herzt und befiehlt den Göttern das Kind ; da muss die
Mutter durch die Abschiedsthräne hindurch mitlächeln über des Kleinen
reizende Scheu ; und da beschleicht uns selbst eine stille Sehnsucht und wir
müssen unserer eigenen lieben Eltern plötzlich gedenken . Nicht mehr das
Gedicht, nicht mehr das prächtige homerische Bildwerk ist es dann , nicht
mehr unser poetisches Wohlgefallen daran , sondern uns erfüllt ein höher
reichendes sittliches Frohgefühl; wir baben die Genugthuung , unsere innersten
und verschwiegensten Kindheitsstimmungen als die Empfindung der Welt vor
Jahrtausenden schon ausgesprochen und anerkannt zu sehen , da steigen dann
die so geheimen Liebesgedanken wie verschüttete alte Statuen an's Tages
licht empor und werden zu neuen Ehren gezogen . Es ist, als ob wir die
Wahrheit einen Sieg begehen sähen .“
„ Ueber der äusseren wandelbaren Natur steht unwandelbar die unseres
Herzens, unserer Neigung und Liebe. Daher wächst den edelsten Geistern
einer Nation diese Empfindung zu der grossen der Nationalität : das Andenken
an die Jugendzeit, Vater-, Mutter- und Geschwisterliebe, Kameradschaft und
Freundestreue ist ihnen die ursprüngliche Quelle ihres Wahrheitseifers, ihres
Schönheitssinnes. Der Mutterschoos, das Kindergärtlein , der Knabenspiel
platz steht noch immer lieb und freundlich vor ihrem Geiste, indess dieser
schon die öffentliche Arena betritt und zu solchen Werken sich anschickt,
an denen ein ganzes Jahrhundert zehren soll. Wie treu blieb Schiller dem
ersten Jugendfreunde, wie aufopfernd ein Goethe gegen die aus der Frank
furter Knaben -Kameradschaft, wie kameradschaftlich fühlt sich Klopstock als
Odendichter noch zu unbedeutenden Jugendspielen hingezogen , welch ein
guter Bruder und Freundschaftsheld ist Georg Forster , ist der grosse Les
sing ! Ihr theilweise ärmliches und beschränktes Leben im Elternhause brachte
ihnen doch das unschätzbare Glück , der Empfindung der Heimathlichkeit,
der trauten Kindertreue recht sicher geworden zu sein , und dieser Herzens
zug hielt durch ihr Leben aus.“
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl . 19
Das Kinderspiel und Kinderlied .
290
Rochholz führt eine Galerie von Helden und von Weisen vor, welche
das Spiel der Kinderwelt mitbetrachtet, oder mitgemacht, oder weiter aus
gedacht haben ; lauter Männer, die zusammen einstehen für die Wahrheit des
Schiller'schen Wortes, es liege oft hoher Sinn im kindischen Spiele . Das
selbe war auch des grossen Leibnitz Ansicht, der von der scharfen und un
nachahmlichen Erfindungskraft redet , die in den althergebrachten Spielen
stecke. Heraklit ordnete am Dianentempel zu Ephesus die Knabenspiele,
Sokrates machte sie zu Athen mit. Cosmus von Medicis verbesserte seinem
Enkel auf öffentlichem Platze die Pfeife ; Gustav Adolf spielte mit seinen
Officieren Blindekuh ; Leibnitz trieb das Grillenspiel, Wallis das Ringelspiel
und schrieb eine Abhandlung darüber; sogar der sonst so empfindsame
Lavater erfand das Spiel der hölzernen Bausteine. Der spartanische König
Agesilaos ritt mit den Kindern auf dem Stecken , Heinrich IV . von Frank
reich diente den seinigen selber zum Reitgaul und rutschte mit ihnen im
Zimmer umher .
Die Kaiserin Katharina die Zweite von Russland , diese geistvolle Frau,
schrieb einst an ihre Freundin , Frau von Bielke in Hamburg : „ Sowie ich
nur immer konnte, habe ich gelacht, und ich schwöre Ihnen , dass ich noch
jetzt , wo doch die ganze Last meines Standes auf mir liegt, Abends aus
Herzenslust mit meinem Sohne Blindekuh spiele . Wir sagen zwar , es ge
schehe der Gesundheit halber , unter uns gesprochen , geschieht es indess
nur, um Possen zu treiben .“
So ist denn auch die Lust zum Spielen den Kindern aller Völker
angeboren ; nur die grössere oder geringere Lebhaftigkeit ist etwas ver
schieden . ,,Heiterkeit ist den meisten Afrikanern angeboren," sagt R. Hart
mann ,') „ und die Spielplätze ihrer Kinder sind die . Stätten fröhlicher Lust.
Da geht es im Lärmen und Schreien gar toll her . Ich glaube nach meinen
eigenen Erfahrungen und nach denen befreundeter Personen nicht, dass unter
den Kindern auf dem dunklen Continent ein sehr viel anderes Gebahren
herrsche, als bei unserer lieben Jugend daheim . Die Kinder der Indianer,
der Mongolen , der Wasser-Malaien und Creolen sollen im Allgemeinen
ernster, ja düsterer sein , als diejenigen der Europäer , Polynesier und Afri
kaner, namentlich aber der Nigritier. Unter letzteren giebt es auch hübsche
Kurzweil mit Früchten , Samen , Steinchen , befiederten Stäben , mit gefloch
tenen Häuserchen, Nachbildungen von Thieren aus Holz, Thon u . S. W., mit
dem Bau von Kraalen aus Sand u . dgl., endlich die Beschäftigung mit zahmen ,
lebenden Thieren .“
- -
1. Aehnlichkeit der Kinderspiele bei allen Völkern . 291
keiten des Juno -Tempels zu Olympia erwähnt Pausanias eines kleinen , mit
Elfenbein verzierten Bettchens, das ein Spielzeug der Hippodameia gewesen
sein sollte. Thonpuppen gab es sowohl in Altgriechenland unter dem
Namen xopal (Guhl und Koner) , als auch unter den schon längst unter
gegangenen Völkern Nordamerika's , die in den Mounds oder Grabhügeln
dergleichen Spielsachen hinterliessen . Die naive Darstellung des Kinderspiel
zeugs insbesondere der Puppen wiederholt sich auch bei dem Volke der
alten Peruaner , in deren Gräbern , sobald sie Kinderleichen enthielten , in
mehreren Fällen von Reiss und Stübel') Holzpuppen mit Wiegen , auch
eine als Wickelkind ausgeputzte kleine Thonfigur gefunden wurde. Bei
dieser Figur war die kleine Thonpuppe einem , die Stelle der Wiege ver
tretenden Holzgestelle aufgebunden . Die Kinderpuppen der Griechen hatten
genau , wie unsere jetzigen , bemalte Holz- und Thonerde-Gesichter. Wenn
unter den alten Griechen das Mädchen mannbar wurde , so war es Sitte ,
dass es sein Spielzeug der Göttin Aphrodite weihte und im Tempel derselben
aufhing . Die Dichterin Sappho ?) begleitete diesen Act frommen Brauches
mit einem dichterischen Gebete, die Göttin möge die kindischen Geschenke,
als Puppen u . s. w . freundlich annehmen , und „ auch ,“ so fährt sie fort:
„ Die rothen Kopftüchlein der Puppen
Verachte nicht; dies hab ' ich, Sappho,
Geschenkt Dir als nicht unwerthes Geschenk .“
Die Kinderkläppern und Kinderrasseln hiessen bei den Griechen Platagai,
und die Sage hat sogar den Namen ihres Erfinders auf die Nachwelt ge
bracht; er hiess Archytas . Spielzeug erhielten die Kinder der alten Römer
schon an den feierlichen Tagen geschenkt, wo ihnen der Name beigelegt
wurde (dies nominum oder nundinae, bei Knaben der 9., bei Mädchen der
8. Tag). Diese Spielsachen hiessen crepundia und wurden selbst von Sclaven
dargebracht; sie wurden am Halse getragen und hatten daher vom Klappern
(crepare) ihren Namen . Die Kinder der Ureinwohner Deutschlands besassen
aber auch schon dasselbe Spielwerk , denn in den alten Heidengräbern findet
man solche einfache Instrumente ; es sind zwei birnenförmig hohle , an ein
ander gebackene Thonkugeln mit eingedrückten kreisförmigen Verzierungen ,
innen Klappersteinchen enthaltend.3) Ohne Zweifel tändelten die Kinder der
1) Reiss und Stübel, Das Todtenfeld von Ancon in Pera. Berlin , Asher. Taf. 88, 89 u. 90.
2 ) J. C. Poestion, Griechische Dichterinnen. Wien 1876.
3 ) In Urnengräbern fand man neben Kindesgebeinen rundgeschliffene Kiesel, wie noch heute die
Knaben beim Spielen benutzen (Bericht der Deutschen Gesellsch. vom J. 1829. Leipzig. S. 7.
Hostmann , Der Urnenfriedhof bei Darzau in der Provinz Hannover. Braunschweig 1874. S. 118).
In der Sammlung der „ Deutschen Gesellschaft“ zu Leipzig befindet sich ein offenbar als Kinder
klapper zu betrachtendes Spielgeräth aus einem uralten Kindergrabe stammend, ein kleiner Vogel aus
Thon mit Klappersteinen im Innern , Ein beinernes Gäulchen mit einem Kinderpfeifchen an der Stelle
des Rossschweifs beschreibt Preusker seiner ,, Vaterländischen Vorzeit" 1844. Auch in der Schweiz
(Züricher Antiquar. Mittheil. 2. 12.), in Württemberg (Schwäb. Merkur, 22. Januar 1842), in Sachsen
(Geinitz, Die Urnentelder von Strehlen und Grossenhain , Cassel 1876) wurden Kinderklappern und
Kinderrasseln in Heidengräbern gefunden, die aus der Broncezeit stammen . Kinderspielzeug, Vogel
figuren darstellend und aus prähistorischen Gräbern stammend, befinden sich : im Berliner kön , ethnogr.
Museum aus den Gräberfeldern von Gross-Czettritz in der Neumark , aus den Gräbern von Lederhose
bei Striegau (Schlesien ) und aus denjenigen bei Pförten in der Lausitz. Diese Vogelfiguren enthalten
kleine harte Steine und dienten als Rasseln .
19 *
292 Das Kinderspiel und Kinderlied .
1) Ueber catalonische Kinderspiele und deren Aehnlichkeit mit deutschen siehe Liebrecht,
„ Zar Volkskunde.“ S. 390. Hier ist es Fünffingerspiel, „ Taubenfliegen," Plumpsack etc.
2) Japanesische Puppen , 2 Stück , die eine gross, die andere klein (wenig über eine Spanne
lang) mit Papiermaché-Köpfen , bemalt und fleischfarben , mit beweglichen Gelenken , befinden sich in
der von von Siebold dem ethnographischen Museum zu München übergebenen Sammlung. Bogen
und Pfeile für Kinder als Spiel der Andamanesen befinden sich im ethnographischen Museum
zu Berlin unter der Nr. An 78. Die mannichfachen Spiele und Belustigungen der Kinder im Gouver .
nement Archangel werden in den (russischen ) Mittheilungen der Gesellschaft der Liebhaber der
Naturkunde Bd. XXX beschrieben (Arbeiten der ethnogr. Section 5. Buch 1. Lief. Moskau 1877) .
Die Kinder der Kasias (Bengalen ) amüsiren sich nach Dalton ähnlich wie die europäischen mit
Kreiseln und Stangenklettern (Zeitschr. f. Ethnol. 1873. S. 265). Kinderspielzeug in Südindien ge
bräuchlich : Thierfiguren , Zappelmännchen , Kugel etc. befinden sich im Berliner ethnogr. Museum .
Daselbst ist auch aus Bombay eine Kinderpuppe, sowie Gliederpuppen aus Athen von Terra otta zum
Ziehen , um die Glieder zu bewegen.
294 Das Kinderspiel und Kinderlied.
mühle , die an einem Stabe befestigt ist, und mit der die Kinder in Europa
wie in Japan und China gegen den Wind laufen , waren bei uns schon im
Mittelalter in den Händen der Kinder , wie Holzschnittbilder aus dem 16. Jahr
hundert mehrfach darstellen . Kugelspiele, denen sich unsere Jugend mit
Eifer widmet, sind in ähnlicher Weise unter den Kindern der Polynesier
heimisch .") Die Kinder der Australier haben ein Tauspiel, das eine gewisse
Aehnlichkeit mit dem englischen „ Cat's.cradle " hat, doch ist ihre liebste
Unterhaltung das Erlernen der Jagd und Fischerei (Lubbock).
Spielsachen für Kinder gab es schon im alten Aegypten in mannich
facher Art und gleich denjenigen , mit denen sich auch unsere Kinder ver
gnügen . So führt Champollion -Figeac ?) an : Eine Puppe von Holz mit
beweglichen Armen ; auf dem Kopfe waren natürliche Haare angebracht,
von denen man noch einige sieht. Eine sehr kleine Puppe aus Elfenbein .
- Ein Schmied von Elfenbein mit beweglichen Armen , roh gearbeitet.
Bälle aus Stücken Leder, die zusammengenäht und mit Häcksel gefüllt sind .
Ein hölzerner Ball mit roth und blau gemalten Abtheilungen . -- Ein
Knöchelchen aus Elfenbein . Kreisel aus Holz , welche gepeitschtwurden etc.
In der ägyptischen Abtheilung des Louvre zu Paris findet sich Spielzeug
der Kinder aus Altägypten : ein Ball, auch Puppen von Holz (unter der
Katalognummer M./173. 546) insbesondere eine Klapperpuppe, deren Arme
im Schultergelenk beweglich sind und deren Hände einen Holzklotz gefasst
halten , der beim Schütteln aufschlägt. Aehnliches enthalten andere ethno
graphische Museen .
Vielfach finden wir ganz ähnliche Spiele und fast gleiches Spielwerk
wie bei uns auch unter den Naturvölkern wieder. Die geistige Richtung
wiederholt sich überall, wofür wir nur einige Beispiele aus verschiedenen
Klimaten anführen .
Im Spiel zeigt sich die Kinderschaar der Eingeborenen Australiens
von Lebenslust bei voller Freiheit und Verzogenheit übersprudelnd. Kaum
haben sie den Magen angefüllt , so heisst es wohl ,, Tschupadu !" (lasst uns
spielen !) und nun geht es entweder an Verstecken , Kulkuri, oder Ball spielen ,
tschubu tschubu, oder eine Nachahmung der Erwachsenen im Kampf, im
Werfen oder in Tänzen , und dann ist ein Kreischen und Lachen , dass es
weit durch den Busch widerhallt, bis einer der älteren sein Kulu (d . i. genug !)
ertönen lässt, und dann kehrt Alles ohne Zögern zu seinen Hütten zurück .
Während des Spiels sehen die Alten zu mit unverhohlener Freude, der sie
häufig genug ebenso lauten Ausdruck geben, als ihre wilden Sprösslinge.3)
Die Knaben der Eskimo im hohen Nordosten des amerikanischen Con
tinents spielen gewöhnlich mit kleinen Schlitten und üben sich im Speer
werfen , nachdem sie sich umher tummeln können. Die Mädchen erhalten
Puppen aus Wallrosszähnen geschnitzt und mit Fellen bekleidet, oder kleine
1) Ueber die Spiele der Polynesier siehe Gerland, Die Völker der Südsee. S. 103.
2) Dessen „ Gemälde von Aegypten ." Frankfurt a. M. 1839. S. Schmerber. S. 306 .
3) Dr. E. Jung in : „ Aus allen Welttheilen.“ 1877. S. 347.
1. Aehnlichkeit der Kinderspiele bei allen Völkern. 295
Thierfiguren . Ein beliebtes Spielzeug bilden junge Hunde, die mit grenzen
loser Rücksichtslosigkeit gequält werden .')
Auch die Ostjakischen Kinder spielen mit Kinderpuppen (ostjak .
„ Agan " ), die von ihnen selbst verfertigt werden ; dies sind Darstellungen
eingeborener Frauen in ihren Pelzen etc. en miniature, die Köpfe durch
Entenschnäbel ersetzt. Auch haben sie Puppen aus Schwanenschnäbeln ;
die Knaben spielen mit Bogen .?)
Einige der Kinderspiele der Wakamba in Ostafrika sind den euro
päischen gleich , z. B. ,,Haschen “ und „ Versteckenspielen ;" auch tragen sich
die Kleinen , ganz wie unsere , nicht nur Huckepack , sondern auch Rücken
an Rücken mit verschränkten Armen und schaukeln sich in dieser Stellung
hin und her. Kleine Mädchen pflücken sich manchmal einen Strauss grell
farbener Blüthen . Die Jungen machen sich den Spass, einen frischgrünen
Sorghumhalm in der Asche eines Feuers zu erhitzen . Wenn hierdurch die
Luft in den inneren Zellräumen desselben in Spannung versetzt ist, schlagen
sie den Halm auf einen Stein , wodurch er mit starkem Knall zerplatzt. In
Zanzibar haben sich schon viele indische, ja selbst europäische Kinderspiele ,
Ballwerfen , Drachensteigenlassen etc. eingebürgert. Dort giebt es auch
Spielzeug , z. B. Puppen , aus Palmstroh.3)
Aehnlich hindeutend auf eigene Erfindungskraft ist das Kinderspiel in
anderen Theilen Afrika's beschaffen . Hartmann , der Afrikareisende, giebt
an, dass die Kinder der Machololo und anderer Betschuanen sich irdene
Figuren von Rindern u . s. w . anfertigen ; er selbst sah die Berabra-Kinder
sich einfache Spielzeuge aus je einem gestreckten Reissigstück und je zwei
kurzen Taubenfedern selbst herstellen , welche vom Winde bewegt, auch
dem oberflächlichen Kenner sofort das täuschende Bild einer hurtig über den
Wüstenboden dahineilenden Gespenstheuschrecke (etwa Bacillus) darboten.*)
Die Hütejungen beiSoto -Negern oder Basuto ( ebenfalls ein Betschuanen
volk ) vergnügen sich im Felde mit Fechtübungen , zu welchen Schild und
Stöcke dienen ; sie üben sich auch im .Werfen mit Wurfkeulen , stellen Jagden
nach Hasen und kleinem Wild an , stellen Sprenkel auf und legen Leimruthen.
Die Thiere, welche sie fangen , quälen sie gern zum Zeitvertreib . Auch ver
treiben sich die Knaben die Zeit mit dem Formen von Thonfiguren. Die
Mädchen vergnügen sich mit Springen über einen geschwungenen Riemen ,
sowie mit einem dem „ Sautreiben " ähnlichen Spiel u . S. w ., auch mit Tanzen,
mit Bauen von Kraalen aus Sand, mit Formen von Töpfen u . s. w . Im
Sommer bauen sie sich aus hohem Kraut Hütten.5 )
Nachdem die russischen Soldaten im Januar 1881 die Festung Gök -Tepe,
das Haupt-Bollwerk der Teke- Turkmenen ,mit Sturm erobert hatten , betrat
1 ) Bessels, Polaris -Expedition . S. 366. Eine Puppe der Tschuktschen s . bei Norden .
skiöld , Die Umsegelung. S. 139
2) Westsibirische Expedition in : „ Deutsche geogr. Blätter." 1877. II.
3) Hildebrandt in : Zeitschr. f. Ethnologie. 1878. S. 393.
+ ) Bericht der Berliner Anthropolog. Gesellsch . 1877. S. 457.
5) Missionär Endemann , Zeitschr. f. Ethnol. 1874. S. 37 .
296 Das Kinderspiel und Kinderlied.
der Chefarzt Dr. Heyfelder ) das Innere der stark zerstörten und ver
wüsteten Festung . Er bezeichnet es als ungemein rührend , dass sich unter
dem Schutt derselben auch Kinderspielsachen fanden ; er sagt: „ Nicht weniger
ist es ethnographisch und culturhistorisch interessant, dass diese Spielsachen
zugleich Urspielsachen sind, die ersten und einfachsten , im Alterthum und
zum Theil in der Neuzeit verbreitetsten : Der Ball und der Würfel, wenn
ich so den kleinen roth und gelb gefärbten Fusswurzelknochen vom Schafe
nennen darf, der sechs Flächen bietet und wahrscheinlich dem Würfel ur
sprünglich zu Grunde liegt. Ausser Nachrichten der Schriftsteller belehrt
uns auch eine antike Statue über dieses bei Griechen und Römern ver
breitete Spiel mit den vier Knöchelchen , welche auf eine Steinplatte ge
worfen werden . In Trier ist das Spiel heute noch so verbreitet, wie im
Alterthum , und wird ebenso mit zwei gelben und rothen Knochen gespielt,
wie in Gök- Tepe.
In den Spielen der Kinder spricht sich überall der Volksgeist und
der Nationalcharakter deutlich aus. Wir führen hier nur einige be
merkenswerthe Beispiele an . So heisst es von den Chinesen : ,,Selbst die
Spiele der Kinder sind vom Handelsgeiste gleichsam durchschwängert ;
ihr liebster Zeitvertreib besteht darin , dass sie offene Buden oder ein Pfand
haus halten , und bald nachdem sie laufen können , gewöhnen sie sich die
Handelssprache und Schacherausdrücke an , und an solchem Gedibber ist
die chinesische Sprache sehr reich .“ 2) Dies hat offenbar viel Aehnlichkeit
mit dem Gebahren jüdischer Kinder, die auch bei uns schon in ihren
Spielen das Kaupeln mit Vorliebe treiben .
Im Dorfe ist es der Dorfplatz, auf dem sich die chinesischen Kinder
unterhalten , wobei die Erwachsenen ihren Spielen zusehen . Dort unterhält
sich ein kleiner Spitzbube mit einem Wollball, der so fest gedreht ist, als
wäre er aus Gummi. Er schleudert ihn weder einem anderen Knaben zum
Fangen zu , noch benutzt er ein Schlagbrett, um ihn in die Höhe zu treiben .
Das Fangen und Schlagen des Balls sind hier unbekannt ; er stösst den Ball,
wenn derselbe vom Boden zurückprallt, mit flacher Hand in die Höhe und
wiederholt die Stösse, so oft ihm dies möglich ist, ohne den Ball zur Erde
fallen zu lassen . Wenn er es fertig bringt, sich auf der Ferse herumzudrehen ,
während der Ball im Fluge ist, und wenn er den Stoss mit abgewendetem
Gesicht auszuführen vermag , so wird er um so mehr bewundert. Fehlt er
den Ball, so nimmt ihn der zunächst stehende Knabe auf, und so fort, bis
die Reihe an alle Spielenden gekommen ist.
Hart nebenan sehen wir eine andere Gruppe von Knaben ; einer ron
1) Globus 1881. Bd. XL . Nr. 1. S. 10 .
2 ) Globus 1874. Nr. 17 .
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel. 297
ihnen ist damit beschäftigt , ein kleines rundes Ziegelstück auf einem
Bein hüpfend mit dem Fusse nach einer Richtung zu treiben . Ein
Stück des Bodens ist in gleichmässige Felder getheilt, die ganz genau
abgemessen sind, und uns an ein ähnliches Hüpfespiel unserer Jugend
erinnern . Vielleicht ist das chinesische Spiel das Original und unseres blos
eine Copie davon .
Einige Schritte weiter spielen zwei Knaben mit einem kleinen , an beiden
Enden zugespitzten Stückchen Holz, welches so auf einem Steine liegt, dass
die eine Spitze frei schwebt. Der eine der beiden Spielenden schlägt nun
mit einem Stäbchen auf dieselbe, wodurch das Hölzchen in die Höhe fliegt.
Auch dieses Spiel ist bei uns wohlbekannt.
Dort drüben hantiren einige Jungen mit Kupfermünzen und einem Dach
ziegel; sie lehnen den Ziegel gegen eine sonst passende Stütze , so dass er
eine geneigte Stellung bekommt, und nun wirft ein Junge nach dem andern
mit einer Münze derart nach seiner Fläche , dass das Geldstück einige
Schritt weit abspringt. Nachdem jeder der Spielenden seinen Wurf gethan
hat, kommt das Spiel zur Entscheidung : jede einzelne Münze wird dann von
ihrem Eigenthümer nach der ihr zunächst liegenden Münze geworfen , und
der, welcher glücklich genug ist, das gegnerische Stück zu treffen , steckt
dasselbe ein . Dies ist ein sehr beliebtes Spiel der kleinen Chinesen , ver
leitet jedoch die grösseren Knaben zur Uebervortheilung ihrer schwächeren
Kameraden . Wer erkennt nicht in diesem Spiel sofort das auch von unseren
Knaben gern geübte ,,Anmäuern ?"
Schreiten wir weiter. Dort unterhalten sich Kinder mit der Peinigung
lebender Zikaden . Die unglücklichen Geschöpfe sind an Zwirnsfäden ge
bunden , an welchen sie von ihren Peinigern mit der grössten Unbarmherzig
keit herumgeschwungen werden. Diese scheussliche Sitte , den Kindern
lebende Insekten zum Spielen zu geben , ist unter den Chinesen nur zu sehr
verbreitet.
Die Kinder , die sich solchergestalt unterhalten , stehen zwischen sechs
und zwölf Jahren und sind durchgehends Knaben . Den Mädchen ist das
Spielen überhaupt gänzlich verwehrt. Die Abgeschlossenheit, in wel
cher das weibliche Wesen in China mehr oder minder gehalten wird ,
ferner in den reicheren Klassen die Sitte , die zarten Füsse der
Mädchen von frühester Jugend an zu schnüren , lässt diesen Umstand er
klärlich finden .
Die kurze Reihe der eben beschriebenen Spiele erschöpft nahezu die
Unterhaltungen der chinesischen Knaben , bis auf das Theater, das Drachen
laufen, Federballwerfen und dergleichen Zerstreuungen mehr, welche die
Kinder mit den Männern gemeinsam haben . Dieselben tragen sämmtlich den
schwächlichen kindischen Charakter an sich , von dem sich die meisten
europäischen Jünglinge kaum einen Begriff zu machen vermögen . Ein That
kraft und physische Anstrengung erfordernder Zeitvertreib scheint dem scherz
liebenden Geiste des chinesischen Jünglings vollständig fremd zu sein ; von
298 Das Kinderlied und Kinderspiel.
1) Nach dem Englischen des Sir Walter Medhurst von L. V. Fischer in : „ Aus allen Welt
theilen ." 1881. XIII. Heft 3. S. 73.
2) „ Im fernen Osten .“ Wien 1881. S. 607.
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel. 299
.. - .-
Was das no nôdi heisst, weiss Niemand. Es gehört einzig in die Kinder
sprache und kommt etwa dem nachklingenden Jodel irgend eines Liedes
gleich; sagen soll der kleine Canon etwa : Das Vieh , das Vieh, das Vieh ,
es kommt, es kommt! Oder die Kinder, Jungen wie Mädchen , sehen einen
Reiter dahin galoppiren ; sogleich erklingt das stereotype : ea kabôlá , ea
kabôla es galoppirt, es galoppirt ; oder aber, falls das Pferd nur Schritt
geht, dann heisst es sicher : a e kabôlé, a e kabôlé . = lass es doch ga
loppiren , lass es doch eilen ! Denn das sehen sie gern . ")
Ausserdem üben sich die kleinen Mädchen im Picken kleiner Gärtchen ,
die sie besäen und jäten, wie im Sammeln von Gräsern , aus denen sie dann
Körbchen flechten . Die Jungen üben sich schon früh im Nachbilden von
Ochsen und Kälbern , die sie aus Thon formen und trocknen , und man kann
ihnen besonders im Nachbilden dieser Thiere ein gewisses Geschick nicht
absprechen. Auch kleine Viehkraale bauen sie , wenn sie einen freien Sand
platz finden , die sie vermittelst kleiner Pflöckchen einzäunen und in welche
sie dann die geformten Ochsen paarweise in längeren Zügen einwandern
lassen, gerade wie das lebende Vieh abends in den Kraal einwandert.
Hauptspiel bleibt jedoch das Kriegs- und Jagdspiel. Dazu wird nie ein
Junge der Basuto ohne einen Schild , der entweder kreisrund oder bei anderen
Stämmen oval ist, ausgehen , wozu natürlich auch ein kleiner Köcher mit
kleinen vergifteten Pfeilen gehört, wie auch ein kleiner Assagai (Art Spiess ),
ein Stock und ein Knopfkirri, ein kurzer Stock mit sehr dickem Knopf aus
festestem Eichenholz, zum Werfen . Ist, so bewaffnet, ein Haufen versammelt,
so beginnen alsbald allerhand Sprünge, ähnlich dem Wilde, das vom Jäger
gejagt wird , dann wieder Gestikulationen , die dem Jäger gelten , der etwas
auf der Spur hat. Plötzlich verkriechen sich einige hinter Klippen und
Büschen , bis in Schuss- oder Wurfweite des vermeintlichen Wildes einer
wirft, worauf er hervorspringt und auf jene Stelle zustürzt, gefolgt von allen
anderen unter lautem Jubel. Dann entsteht ein wechselseitiger Singetanz,
begleitet von allerhand geschickten Hüft- und Luftsprüngen. -- Aehnlich geht
es beim Kriegsspiel der Basutoknaben zu und Freunde und Feinde verstecken
sich erst, dann nachdem Fühlung gewonnen , stürzt man auf einander los
und wehe dem , der seinen Schild nicht geschickt zu handhaben weiss, um
die Schläge des Kirri richtig zu pariren. Denn es fallen harte Schläge, bei
denen Blut fliesst. Kleinere Jungen bekämpfen sich wohl erst noch mit
Ruthen und grünen Büschen . Der Feigling , Flüchtling oder gar Schreihals
1) Das Negerkind liebt einfach rhythmischen Gesang : Als Keith Johnston zum Nyassa reiste,
versammelten sich zu Nyamba die Kinder des Orts, Knaben und Mädchen, am Abend, placirten sich
in zwei Reihen einander gegenüber und unterhielten die Reisenden mit ihren Tänzen bis in die Nacht
hinein , während die übrigen den monotonen Gesang anstimmten : „ Nyambo-yambo," worauf die anderen
antworteten : „ oï, oï." (L'Afrique explorée et civilisée : Dec. 1879. S. 107.)
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel. 301
wird verlacht und verachtet. Wohl dem , der sich bei Zeiten gründlich
abzuhärten versteht, denn für die Zukunft kann er es gut gebrauchen .“ 1)
Eine nationale Bedeutung erhielten die Spiele " oder vielmehr Wett
kämpfe der Knaben bei den alten Griechen, denn unter den bei den
olympischen Spielen genannten Wettkämpfen standen auch diejenigen der
Knaben auf der Tagesordnung , so dass auch diesen bei jeder Olympiade
Gelegenheit gegeben war , sich in nationalen Kampfspielen vor ganz
Griechenland auszuzeichnen. Olympiade 37 wurde der erste Sieg eines
Knaben im Lauf und eines andern im Ringen erkämpft , während bis dahin
lediglich Erwachsene den Kampfplatz betreten hatten . Olympiade 41 fochten
auch im Faustkampf Knaben ; Olympiade 145 kam das Pankration der
Knaben hinzu . Dieses war eine sehr beliebte Complication des Ringens und
Faustkampfes, den die Knaben unter sich bestanden . Die Griechen er
theilten den kämpfenden Knaben , die sich wider die Anordnungen der Hella
nodiken bei den Kampfspielen vergangen hatten , Schläge (Peitschenhiebe )
als Strafe ; und wenn durch einen Knaben irgendwie ein Sieg erschlichen
worden war , so hielt man sich an seinen Vater , der dann die Strafsumme
zahlen musste.
Wie die Tänze der Jungfrauen , so sind auch noch die Spiele der
Knaben bei den Neugriechen dieselben , wie bei den Altgriechen , z. B.
das sogenannte Astragalusspiel, bei dem es derbe Schläge setzte , und bei
welchem einst Patroklus spielender Weise den Sohn des Amphidamas
erschlug.
Für nothwendig erklärte Plato die Kinderspiele, die nicht blos dazu
dienen , zu ernsteren Geschäften neue Kräfte zu verleihen , sondern die auch ,
richtig geleitet , geradezu dem Körper und Geiste förderlich werden. Er
wünscht sogar, dass der Staat für Spielplätze sorge und über die Spiele
eine Aufsicht übernehme.?) Aristoteles theilte diese Meinung des Plato . Man
muss ruhen, sagte er , um mit verjüngter Kraft wieder an ernstere Arbeiten
gehen zu können . Das Spiel aber ist ein Ausruhen des Geistes und zugleich
eine heilsame Aufheiterung desselben.3)
Wie bei uns, so sieht man auch im Orient die Kinder klein und gross
in den Höfen , vor den Häusern und auf freien Plätzen allerband Spiele
treiben. Bei diesen Spielen bilden jedoch vor Allem die Knöchel der Lämmer
üsse, welche die Grösse vom Gliede eines Daumens haben , eine Hauptrolle ;
man nennt sie Kaab , Würfel, und die verschiedenen Spiele , zu denen sie
gebraucht werden , „ Spiel mit Würfeln .“ H. Petermann 4) hat mehrere
derselben beschrieben . Das eine von ihnen heisst „ drei Schritt:“ Jeder der
Theilnehmer, deren Zahl beliebig ist, hat seinen eigenen Würfel ; sämmtliche
Würfel werden in einer Linie auf die hohe Kante gestellt, dann nimmt sie
sämmtlich einer der Knaben in die Hände, schüttelt sie zusammen und wirft
sie auf den Boden . Der , dessen Würfel (oder Knochen ) zuerst auf die
hohe Kante zu stehen kommt, fängt an , und die anderen folgen in der Reihe ,
in welcher ihre Knochen aufrecht stehend hingeworfen werden . Dann treten
sie in die Linie , welche die aufgestellten Knochen bilden , und werfen ihre
Knochen in der vorhin festgesetzten Reihenfolge von da weg . Der, dessen
Knochen am weitesten gefallen ist , beginnt nun das Spiel , und schnellt mit
dem Zeigefinger von der Stelle aus, wohin der Knochen gefallen ist, auf
die aufgestellte Linie , um einen oder mehrere von den Knochen derselben
drei Schritte und darüber weg zu schleudern , welche er dann „ isst,“ d . h .
gewinnt. Gelingt ihm dies, so schnellt er wieder von der Stelle aus, wohin
sein Würfel gefallen ist , und wiederholt dies so oft, als er Würfel die be
stimmte Strecke weit wegschleudert. Sieht der Letzte, dass die Anderen
wahrscheinlich nichts treffen werden , so stellt er seinen Würfel dicht vor
die Reihe und sagt dabei „ darin .“ Wenn dann die Tour an ihm ist , SO
schnellt er von diesem Stande aus auf die Linie , und wenn er von dieser
aus die Knochen drei Schritte oder darüber weggeschleudert, immer wieder
von dem Orte aus , wohin der seinige gefallen ist. Sind alle Knochen der
Linie „ gegessen ,“ d . h . weggenommen , so ist das Spiel zu Ende , und der,
welcher den letzten Knochen gewonnen hat, beginnt das neue Spiel. Die
Knochen der Spielenden können nicht gewonnen werden , da Jeder den sei
nigen , nachdem er geworfen hat , ohne zu treffen , wieder wegnimmt. Ist
aber beim Schnellen der Knochen eines Spielers auf die hohe Kante zu
stehen gekommen , so tritt sein Hintermann schnell hinzu , sagt „ 1100 Schritte
weg ,“ und schnellt ihn so weit als möglich fort; bleibt dieser wieder stehen ,
so wiederholt er dies , bis derselbe zu liegen kommt. Der Inhaber des auf
diese Weise so weit weggeschleuderten Knochens muss dann , wenn die
Reihe wieder an ihm ist, von der Stelle aus, wohin er geschleudert worden ,
seinen Knochen auf die Linie werfen . Trifft Einer die Knochen der Linie
so, dass keiner drei Schritte weggeschleudert ist, so beginnt das Spiel von
Neuem .
In Bag dad spielen die Kinder gleichfalls mit Knöcheln , wie in Da
maskus , oder auch so , dass sie nur zwei Knöchel nehmen und diese in die
Höhe werfen. Kommen beide beim Herunterfallen auf die eine der beiden
schmalen Kanten zu liegen , und zwar auf eine und dieselbe, so gewinnt der
Werfer doppelt, kommen sie auf verschiedene , so verliert er doppelt; liegen
beide auf der gleichen breiten Seite, so gewinnt und verliert er nichts, liegt
der eine auf der hohen schmalen , der andere auf der hohen breiten Seite,
so verliert er einfach u . S. W. Auch mit drei Knöcheln wird dasselbe
Spiel nach denselben Gesetzen gespielt , diese aber dann an die Wand ge
worfen . Ebenso haben sie das Spiel mit zwei Kugeln , die entweder gegen
einander, oder nach einem in die Erde gemachten Loch geworfen werden .
Ferner haben sie die Spiele mit einem Kreisel, mit der Schleuder und mit
einein Ball. Dieser wird entweder 100 oder mehr oder weniger Mal, nach
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel. 303
Auf diese Anrede halten jene beiden die Arme empor, so dass sie ein Thor
bilden und singen dabei:
Das Thor ist offen ,
Wer will hindurch gehen ?
Der erste aus der Gruppe erwidert:
Ich habe Furcht
Vor den Räubern ,
Dass sie mir ,
Meine Kinder nehmen .
Dann stürzt er sich in das Thor und alle Vebrigen folgen ihm . Der letzte
der Gruppe wird von jenen Beiden unter Absingen der Schlussverse :
Deine Kinderchen sind geraubt,
Du bist betrogen und geschlagen
gefangen genommen und mit irgend einer vorher abgemachten Strafe bestraft.
Sehr charakteristisch für den Volkshumor jeder Nation sind vorzugs
weise die Rundgesänge und Reigen , welchen immer eine herrschende,
allbeliebte Idee zu Grunde liegt.
Wie jede ernste Handlung des Lebens von den heiteren Kindern bei
ihren Spielen scherzhaft nachgeahmt wird , so spielen sie vor Allem auch
„ Freien “ und „Heirathen .“ Dabei kann man denn wahrnehmen : Wie die
Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen ." Bei Völkern, wo der
„ Frauenraub “ Sitte war oder noch ist, muss der Knabe im Spiel sich gleich
falls kämpfend und raubend des Mädchens bemächtigen . Ganz anders dort,
wo die Liebe werbend zärtlicher auftritt und bei den Eltern um deren Tochter
anhält oder durch einen Freiwerber (Gesandten) anhalten lässt.
In Piemont veranschaulicht die von jeher dort heimischen Bräuche das
Kinderspiel „ Der Gesandte," welches uns Freiherr von Reinsberg -Du
ringsfeld ') schildert :
Ein Knabe, dem die Rolle des Hausherrn zugefallen ist, hält an jeder
Hand ein Mädchen , denen zu beiden Seiten in langer Reihe andere sich an
schliessen . Ein anderer Knabe steht vereinzelt dieser Kette gegenüber, thut
einige Schritte vorwärts und singt:
Sur imbasciatur
(Herr Gesandter)
Lantanti rulirula
Sur imbasciatur
Lantanti rulirula.
Beim zweiten Verse ist er zurückgetreten, beim dritten wieder vorgegangen,
beim vierten endlich steht er , wo er stand. Auf dieselbe Weise beim ersten
vor, beim zweiten zurücktretend , und diese Bewegungen beim dritten und
vierten wiederholend, singt der Hausherr neben den beiden Mädchen , die
er führt :
Cosa völi vui ?
(Was begehrt ihr ?)
Lantanti rulirula
Cosa völi vui?
Lantanti rulirula .
Dialog aufweisen . In Venedig ist bei den kleinen Mädchen unter Anderen
das Fangspiel ,, Siora Cate " beliebt: Eines der Mädchen , die zur Signora
Catarina geworden , kniet innerhalb des Kreises ihrer tanzenden Genossinnen ;
nach einigen Rotunden halten diese an und fragen : „ Siora Cate, che ora
xè ?" d. i. Signora Cate, welche Stunde ist's ? Die Cate antwortet: „ Un boto
de note" (1 Uhr Nachts); der Kreis beginnt wieder zu tanzen und singt
zweimal: „ Siora Cate gà dito che xe un boto de note “ (S. C. hat gesagt,
dass es 1 Uhr Nachts ist ). Dann geht der Dialog weiter : Siora Cate , was
machen Sie ? „ Ich rühre die Polenta." S. C. hat gesagt, dass sie die
Polenta rührt. S. C. Werden Sie uns eine Schnitte davon geben ?
„ Wenn Ihr gut seid, werd ich sie Euch geben .“ Chor : S. C. Was suchen
Sie ? ,,Ich suche die Brille.“ Chor : Gott wolle , die Mäuse hätten sie
gefressen ! S. C. Was suchen Sie ? „ Ich suche ein Messer, um Euch
umzubringen .“ Da löst sich der Kreis unter Geschrei auf, die Mädchen
fliehen nach allen Seiten , die Siora Cate hascht Eines von ihnen, das nun
an ihrer Statt als Siora Cate im neuen Kreise umtanzt wird. ')
Viele Völker, die als wahre „ Reitervölker" sich charakterisiren, die
Patagonier , die Beduinen , Araber und manche asiatische Nomaden (Kir
ghisen etc.) setzen das Kind schon früh auf das Pferd , um ihnen fast noch
früher, als das Gehen , die Kunst des Reitens und die heitere Lust an dem
selben gleichsam spielend beizubringen .
Auch bei germanischen Völkern beginnt man schon längst, bevor das
Kind laufen lernt, mit demselben einen Reitunterricht, und übt es im Balan
ciren bei den Reitbewegungen , indem es Vater oder Mutter auf den Schenkel
setzen und unter hüpfenden Bewegungen lustige Reiterliedlein trällern .
Unter Anderen singt man :
,,Ens'r Bruder Malch'r, dar wold a Rait'r waan
A hatte ach kän Sabl; a konde känn'r wann .
D'Mottr naams knaa schait an ,
Hungs Malchan aan d'Sait ;
Rait, Malch'r, rait, a Saab'l aan d'r Sait."
(Oesterreichisch -Schlesien .)
„ Tross, tross, tross,
Der Reuter kommt vom Schloss,
Der Reuter kommt von Eisenach
Benne (wenn er) kommt ze womme (wollen wir) lach ."
( Thüringen .)
Schon in „ Des Knaben Wunderborn ,“ welches Archim von Arnim
und Clemens Brentano 1806 – 1808 herausgaben , finden wir ein Reiterlied
„ Tross, tross trill,
Der Bauer hat ein Füll,
Das Füll will nicht laufen ,
Der Bauer will's verkaufen " etc.
Auch bei den Reiterliedern für Kinder kommt hie und da manche Er
innerung an Heidnisches zum Vorschein . Aus Nieder-Oesterreich sammelte
1) Vgl. Canti populari Veneziani, Dom . Guis. Bernoni. Venezia 1872. Sowie desselben :
Nuovi Canti popul. Venez. 1874. Das Ausland : Volksthümliches aus Venedig , von Ida von Dürings
feld . 1876. Nr. 16 .
2. Nationaler Charakter im Kinderspiel.
307
1) Die Anfänge der Cultur. Von Edw. B. Tylor. A. d . Engl. von Spengel und Poske. I.
Leipzig 1873. S. 72.
2) Klemm , Culturgeschichte. II. S. 209.
3. Nachklänge aus alter Zeit in Kinderspiel. 309
Gebrauch . Trotzdem ist diese alte rohe Waffe von den Knaben in ihren
Spielen aufrecht erhalten , welche hierin wieder einmal die Vertreter einer
längst vergangenen Culturperiode sind.“
Wie sich das einfache Spiel mit Waffen nach und nach zu Uebungen mit
denselben gestaltet , zeigt sich an Folgendem : „ Sobald der Somali-Knabe
entwöhnt ist, kümmert sich seine Mutter nicht mehr viel um ihn . Sie lässt
ihn sich ruhig im Sande wälzen , wo die Sonne ihre glühenden Strahlen auf
ihn herabsendet , ihn wärmt und kräftigt und sein Wachsthum beschleunigt.
Sobald das Kind laufen und seine Hände gebrauchen kann , entfaltet es alle
Instinkte seiner Race; es macht sich kleine Bogen , Pfeile und Lanzen
und baut sich aus einem Brett und einem Fetzen Leinwand ein kleines
Schiff, das es auf dem Wassertümpel am Meeresstrande schwimmen lässt.
Der Somali-Knabe geht dann , zum Jüngling herangereift, zu ernsteren
Uebungen mit den Waffen über. Die Mädchen leben stets in enger
Gemeinschaft mit der Mutter, nehmen an keiner Festlichkeit Theil und gehen
wenig aus.“ 1) So mögen sich auch bei den alten Germanen, die auf ziem
lich gleicher Culturstufe standen , die spielenden Kinder beschäftigt haben.
Pfeil und Bogen sind auch noch bei unseren Kindern beliebt geblieben .
Eine höchst interessante Bemerkung über das Spielen der Kinder in
Unjanjembe (Centralafrika) notirte Dr. Livingstone ?) in seinem letzten
Tagebuche, als er sich in der Gegend des Tanganyika- See's befand : ,, In
manchen Theilen des Landes ist es auffällig , dass die Kinder so wenig
Spielzeug haben ; das Leben scheint für sie schon eine ernste Aufgabe zu
sein , und ihre Vergnügungen bestehen darin , dass sie die Arbeiten der Er
wachsenen nachahmen , indem sie Hütten bauen , kleine Gärten anlegen ,
Bogen und Pfeile , Schilde und Speere machen . An anderen Orten trifft
man wiederum Kinder , die ausserordentlich erfindungsreich sind und allerlei
hübsches Spielzeug haben , auch schiessen sie Vögel mit ihren kleinen Bogen
und richten gefangene Hänflinge zum Singen ab . Sie sind sehr geschickt,
Sprenkel und Fallen für kleine Vögel anzufertigen , wie in der Bereitung des
Vogelleims. Ebenso machen sie aus Schilf kleine Spiel- Flinten mit Hahn
und Lauf und stellen den aus letzterem kommenden Rauch durch Asche
dar , ja sie versteigen sich sogar zur Herstellung von Doppelflinten aus
06
Thon , bei denen der Rauch durch Baumwollenflocken nachgeahmt wird."
Sind die Völker , deren Kinder solche Anlagen zeigen , wirklich so wenig
bildungsfähig , wie manche Ethnologen glauben ?
Die Knaben spielen allerorten mit den Nachahmungen der Waffen ,
welche die Erwachsenen führen ; doch ist offenbar , dass sie auch solche
Kriegswerkzeuge dabei im Kleinen nachahmen , mit welchen das betreffende
Volk , wie beispielsweise jene Afrikaner mit den Schusswaffen , verhältniss
mässig spät bekannt geworden ist. Allein bei vielen solcher Nachahmungen
kam zur Zeit des Nero das Spiel mit Errathen der Fingerzahl vor, wobei
die Frage lautete : Bucca, Bucca, quot sunt hic ? Bei dem genuesischen Spiele
a Cancaignan legt ein Kind seinen Kopf auf den Schooss eines anderen ,
das sitzt und ihm mit beiden Händen die Augen so fest zuhält, dass es
nicht sehen kann . Nur muss es dann errathen , wie viel Finger ein drittes
Kind, das sich rittlings auf seinen Rücken setzt, in die Höhe hebt, indem
es dabei ausruft: Cancaignan , Cancaignan , quante corne l'ha o mae Can ?
(Wie viel Hörner hat mein Hund ?) In Florenz und Pisa heisst dieses Spiel
a biccicalla , und der Spruch , mit dem bei diesem der Liegende von dem
auf ihm Reitenden aufgefordert wird , die Fingerzahl zu errathen ,: Biccicalla ,
Biccicalla , quante corna ha la cavalla ? (Wie viel Hörner hat die Stute ?)
Bicicú , cú , cú, quante corna san lassu ? (Wie viel Hörner sind da oben ?)
Ein anderes Rathespiel heisst in China tsoey -moey, in Italien Morra, in Frank
reich Mourre . Auch die alten Aegypter hatten , wie ihre Skulpturen zeigen ,
eine Art Fingerspiel, und die Römer nannten ihr Fingerfunkeln : Micare
digitis . Tylor spricht noch von manchen anderen Spielen der Kinder , die
sich als scherzhafte Nachahmungen hochalter Sitten ausweisen .
In Italien wird das Spiel ,,Schlägel und Pflock ," Mazza e pivreza , ge
spielt: Die Ersten, welche das Loos trifft, nehmen den Pflock , die Anderen
den Schlägel in die Hand, und einer von denen , welche den Pflock haben ,
sucht ihn in eines der beiden Löcher festzutreiben , welche man dazu gemacht
hat, worauf der mit dem Schlägel schnell so nach dem Pflock schlägt, dass
er ihn möglichst weit fortschleudert. Wer den Pflock verloren hat , muss
ihn wieder holen , während die Spieler , welche den Schlägel haben , mit
unendlicher Geschwindigkeit von einem Loch zum anderen laufen und zählen,
wie oft sie hin- und herkommen . Können sie, ehe der Pflocksucher zurück
kehrt, zehnmal ihre Tour beenden , so werden sie Sieger und nehmen ihrerseits
den Pflock ; kann aber der mit dem Pflock früher zurück sein , so bleibt er
Sieger und darf den Pflock nochmals in ein Loch stecken (Freih . v. Reins
berg -Düringsfeld ). Aehnliche Spiele mit Varianten giebt es in Deutsch
land und England ; sie stammen gewiss aus alter Zeit. Vielleicht verbrei
teten sie sich bei der Wanderung der Völker über Europa.
In deutschen Landen hat sich, wie genauere Forschung narhwies, im
Kinderspiel recht viel Ueberbleibsel aus alter Zeit erhalten . Die eigenthüm
lichen Gesetze und Regeln , die Formen und Reden , die Sprüche und Lieder,
welche noch heute tausendfach bei unsern Kinderspielen vorkommen , waren
unzweifelhaft schon vor vielen hundert Jahren in Brauch und Mund der
Kinder ; sie werden durch diese immer wieder von Neuem frisch und jung ,
denn fort und fort lehren die grösseren Kinder den kleineren ihre Spielweise,
die Gesänge und deren Tonfall. Die meisten der Kinderspiele gehörten
selber noch der Kindheit unseres Volkslebens, den frühesten Jahrhunderten
unserer Geschichte an . Rochholz macht mit Recht dabei die treffliche
Bemerkung, dass Halliwell's englische und Chambers' schottische Samm
lung von Kinderliedern durchgängig den deutschen um so mehr ähnlich und
312 Das Kinderlied und Kinderspiel.
gleich sind , je älter und ursprünglicher sie selbst sind , sie müssen also
mindestens ebenso alt sein , als die Einwanderung deutscher Stämme in Bri
tannien . In vorchristlicher Zeit wurde auch einst der norwegische Kinder
spruch nach Island getragen.
„ Je mehr nach der Völkerwanderung,“ sagt Rochholz , „ die deutschen
Volksstämme sich auch in verschiedenartige Sprachstämme sonderten, um so
unmöglicher wurde ein gegenseitiges Abborgen dieser Reimsprüche aus
gegenseitig sich entfremdeten Mundarten und Sprachen ; der Kinderspruch
muss also so alt sein , wie unsere deutsche Heldensage, welche vor der
Völkerwanderung bei allen deutschen Volksstämmen einheimisch war, von
ihnen mit in die Fremde hinausgenommen wurde und in den sagenhaften
Erinnerungen des Skandinaviers und Angelsachsen heute noch ebenso fort
dauert, wie beim Schwaben , Hessen und Baier . Weil der Longobarde und
Gothe in Italien sesshaft wurde, und der Franke in Gallien , darum gleicht
selbst in diesen gallischen und italischen Landstrichen noch mancher einzelne
Kinderreim nach Inhalt und Form dem unsrigen."
Nachklänge der Zauber- und Runenlieder , die man sonst auf Bast
und Rinde ritzte, sind vielleicht jene Lieder, welche die Kinder beim Pfeif
chen- und Weidenflöten -Machen singen , und welche hier den Bast vom
Holze lösen sollen . Das sind Lieder, wie diese : „ Niklos , mach mir meine
Pfeife los !“ oder „ Anne Gret, mach , dass meine Pfeife geht“ u . s. w . Zu
dem Pfeifenliedchen :
„ Zapf, zapf, Pfeife !
Auf dem Mühlendeiche
Da steht ein Mann,
Der heisst Johann ,
Der hat so rothe Strümpfe an."
erinnert Rochholz an den rothstrümpfigen Wassermann der Sage, der auf
den Mühlendeich heraufsteigt, Regen bringt und den Mühlbach schwellt, sobald
man ihn mit der Pfeife lockt. ")
Auch in folgendem Liedchen , das die Kinder im Vogtlande singen , wenn
sie mit ihrer Messerscheide die Rinde losklopfen , haben wir jedenfalls eine
sehr alte Ueberlieferung vor uns:
„ Pfietsch o, pfeif o,
Lass dein Teich o ,
Wenn's Katzerl wiederkimmt,
Is mei Pfeif ro ."
Eine andere Reihe gewiss sehr alter Kinderlieder sind die Sprüchlein,
mit welchen unsere junge Welt die Thiere in Hain und Flur ansingt. Der
Maikäfer , wie das Marienkäferchen (Coccionella septempunctata ) haben eine
besondere Aufforderung zum Fortfliegen ; in Pommerellen singt nach Mann .
hardt, der in diesen Kinderreimen mythische Elemente vermuthet, das Kind :
,,Heergottspeerdke, dine Kinderke schriee, din Huuske brennt,
Fleeg weg !" Im nördlichen England heisst's nach Henderson ganz
1) Grimin , Mythol. 1190. Rochholz , Alemann . Kinderlied . 182. Firmenich, Ger
inaniens Völkerstimme. II. 102, 561.
3. Nachklänge aus alter Zeit im Kinderspiel. 313
ähnlich : „ Ladybird, ladybird, fly away home, – Thy house is on fire, thy
children all gone;" in der Leipziger Gegend heisst es : „Maikäfer fliege,
Dein Vater ist im Kriege, Deine Mutter ist in Engelland (auch in Pom
merland), - Engelland ist abgebrannt, — Maikäfer fliege!" Dies Sprüchlein
wird so oft wiederholt, bis das Käferchen sich aufschwingt. In Frankreich
singen die Kinder :
Hanneton , vole , vole !
Ton mari est à l'école,
Il a dit qu'si tu volais,
Tu aurais d'la soupe au lait,
Il a dit qu'si tu n'volais pas
Tu aurais la tête en bas.
Dieses in Reims gebräuchliche Liedlein und noch ein anderes, das man
im Elsass findet, übersetzt Kamp ') in folgender Weise:
„ Fliege, Käfer, flieg ' bergan,
In der Schule ist dein Mann ,
Hat gesagt, dass wenn du fliegst,
Du mit Milch die Suppe kriegst,
Hörst du aber nicht hierauf,
So bekommst du's hinten drauf.“
(Reims; Tarbe's Sammlung.)
„ April, fliehe schnell, Am Himmel, o Graus,
Der Mai ist zur Stell', Da brennt schon dein Haus,
Damit er gleich den Kopf dir fegt Die Türken kommen mit dem Schwert,
Und Frost und Regen niederschlägt. Dann wird dir deine Brut verheert
Flieg', Maikäfer , flieg', Flieg', Maikäfer, flieg',
Flieg ', Maikäfer, flieg'. Flieg ', Maikäfer, flieg'!
(Elsass; Champfleury's Sammlung.)
Das Schneckenlied variirt in Deutschland mannichfach : ,,Schneckenhaus ,
kriech heraus, Strecke deine vier Hörner heraus, Sonst werf ich dich
in Graben , - Fressen dich die Raben !“ In Nord -England sagen die
Kinder : ,, Snail, snail, put out your horn, Or I'll kill your father and
mother the morn !" In Süd-England dagegen : „ Snail, snail, come out of
your hole, Or else I'll beat you as black as a coal!" In Süd - Italien
lautet ein ähnliches Sprüchlein etwa: „ Schnecke, schnecke, streck aus dein
Horn , Deine Mutter giebt dir ihren Spott und Zorn , Denn sie hat just
einen kleinen Sohn geboren !" Anders klingt's im Polnischen : ,, Slimac,
slimac wypusc rogi, Dam ci grosz na pirogi!" (Im Polnischen heisst Pirog
feines Weizenbrod, Semmel.) — Den Schmetterling singt der Knabe in Nord
England an : „ Le, la , let, Ma bonnie pet !" Er wird hiermit eingeladen , sich
niederzulassen , damit man ihn fangen kann , wie dies der Junge in Nord
Deutschland thut: „Molketewer sett di, kömmt e Pogg de frett di !“
Oder in anderer Lesart : „Molketewer sett di, Gew di e Stökke Botter
brod ! – Botterbrod verlang öck nich , Dusend Dahler gewöck nich !“
Dagegen rufen die Kinder im Vogtland, wenn sie einen Schmetterling über
sich flattern sehen : „ Schmetterling setz dich , Wenn du dich nicht setzen
thust, Reiss ich dir dei Häusel ein , Kannst du net mer nein !“
Dies heisst: „ Der hat's Ei gelegt, der hat's in's Feuer gesetzt, der hat's
gekocht, der hat's gegessen , und dieser arme Kleine hat's nicht einmal
angerührt."
Das venezianische Fingerspiel lautet:
„ Questo domanda del pan,
Questo dise, no ghe n'è.
Questo dise, come faremo,
Quell' altro dice: rularemo,
Il mignolo dise: chi ruba 'npicca, 'mpicca.“
Aehnlich ist das toskanische Scherzlied :
,, Questo è l'occhio bello ,
Questo è il suo fratello ,
Questa è la chiesina,
Questi so ' i fratini,
Questo è il campain
Din din din,"
wobei man dem Kinde der Reihe nach auf die beiden Augen , dann auf den
Mund und auf die Zähne tupft und es zuletzt an die Nase fasst und
schüttelt. )
Ebenso heisst es im Plattdeutschen :
„ Könne wöppke,
Rod Löppke ,
Näse piepke,
Ogebrahnke,
Steern bahnke,
Schipp, schipp, Meirahnke."
Hierbei werden Kinn , Mund, Nase, Augen , Stirn des Kindes nach ein
ander berührt und bei dem letzten Verse das obere Haar gezupft.?)
Das Fingerlied der Kinder kommt auch in Frankreich vor:
„ C'est lui qui va à la chasse ,
C'est lui qui a tué le lièvre,
C'est lui qui l'a fait cuire,
C'est lui qui l'a mangé.
Et le petit glin glin
Qui était derrière le moulin ,
Disait: Moi, j'en veux, j'en veux,
J'en veux, j'en veux, j'en veux."
(Franche-Comté; nach Ph. Kuhff.)
Von vielen unserer volksthümlichen Scherzräthsel, deren einige sich
1) Corazzini, I componimenti minori della popolare italiana nec principali, o saggio di lette
ratura dialettale comparata. Benevento 1877.
2) Frischbier, Preuss. Volksr. u. Volkssp. 1867. S. 32 mit Hinweisung auf Anderes.
3. Nachklänge aus alter Zeit im Kinderspiel. 315
noch in den Kreisen der Jugend erhalten haben , ist es erwiesen , dass sie
bereits im neunten Jahrhundert bekannt waren . Unter anderen begegnet
man dem bekannten Räthsel von dem Schnee nnd der Sonne: „ Es kam ein
Vogel federlos, Sass auf dem Baume blattlos. Da kam die Jungfer
mundlos - Und ass den Vogel federlos Von dem Baume blattlos,“
in lateinischer Fassung bereits in einer Reichenauer Handschrift aus dem
Anfange des zehnten Jahrhunderts. Gerade dieses Räthsel scheint sich aus
gezeichnet in seiner ursprünglichen Gestalt erhalten zu haben ; Prof. Mül
lenhoff sagt von ihm : „Man braucht es nur Wort für Wort in's Althoch
deutsche oder Angelsächsische umzuschreiben und das Wort „ Jungfer" mit
„ magad " oder „,magath “ zu vertauschen , so erhält man eine Strophe von
regelmässig gemessenen und alliterirenden Versen ; jeder Vers hat vier He
bungen und je zwei Lidstäbe. " So darf man wohl das Alter dieses Räthsels
weit über das zehnte Jahrhundert zurückdatiren .
Unter Anderen zeigt ein schon von Simrock angeführtes, von Panzer
mit ähnlichen verglichenes :) Kinderliedchen , welches wohl als Abzählreim
dient, mythologische Anklänge :
„ Sonn, Sonn ', scheine !
Fahr über Rheine,
Fahr über's Glockenhaus ,
Gucken drei schöne Puppen raus;
Eine die spinnt Seide,
Die andere wickelt Weide,
Die dritte geht an's Brünnchen,
Find't ein goldig Kindchen ,
Wer soll's haben ?
Die Tochter aus dem Löwen ;
Wer soll die Windeln waschen ?
Die alte Schneppertaschen .“
Hier sind unter den „ Puppen “ wohl die Nornen als Schicksalsgöttinnen
der Neugeborenen gemeint.
Vorzugsweise scheinen viele von denjenigen Kinderliedern recht frühen
Epochen zu entstammen , welche sich an bestimmte Jahreszeiten knüpfen .
Dem Frühling jubeln die Kinder allenthalben entgegen . Wie noch heute bei
Beginn dieser schönen Jahreszeit die Kinder die ersten Veilchen suchen , so
geschah es auch im Mittelalter. Das erste Veilchen wurde jubelnd in's Dorf
getragen ; der glückliche Finder rief :
,,ir sult alle wesen fró,
ich han den summer funden."
Dann ward es auf eine Stange gesteckt und umjubelt und umtanzt. Noch
im Mittelalter galt der Brauch : ,,die Zeit empfangen,“ oder den ,, Sommer
empfahn .“ J. Grimm2) sagt: , Wer das erste Veilchen erblickte , zeigte es
an, nun lief das ganze Dorf hinzu , und die Bauern steckten die Blume auf
eine Stange und tanzten herum . Ebenso wurde der erste Maikäfer eingeholt,
die erste Schwalbe und der Storch begrüsst und die Thürmer der Stadt
waren angehalten , die Ankunft derselben anzublasen , wofür ihnen ein Ehren
trunk aus dem Rathskeller verabreicht wurde. “ Der sogenannte » wilde
Alexander “ gedenkt dieses Frühlingsjubels seiner Kinderjahre:
„ hie bevor, dô wir Kind waren
und diu Zeit was in den jaren,
daz wir liefen ûf die wiesen
von jenen wider her zu diesen :
da wir under stunden
viol funden
dâ sieht man nun rinder bisen."
Es giebt nun noch eine Menge Kinderlieder, die jedenfalls als mytho
logische Reste der von unseren germanischen Altvordern begangenen , ge.
wissen Gottheiten oder den personificirten Jahreszeiten gewidmeten Feierlich
keiten zu betrachten sind. Beispielsweise besteht die Sommerlust der Mädchen
hauptsächlich in dem Reihen- oder Ringeltanz, der von den Erwachsenen
längst aufgegeben ist. Die dabei üblichen Reihenlieder haben im Verlaufe
der Jahre gewiss manche Abänderung ') erhalten ; eines derselben lautet :
„ Ringel, Ringel, Rosenkranz,
Fuchsschwanz,
Sass auf einer Weide,
Spann so klare Seide,
So klar wie ein Haar,
Spann wohl über sieben Jahr,
Sieben Jahr gesponnen ;
Sieben Jahr sind um und um ,
Alte Hexe, dreh dich um ."
(Umgegend von Leipzig .)
Bei den letzten Worten muss sich eines der Mädchen umdrehen .
Haupt?) macht die Bemerkung, dass auch in der Lausitz ein ähnliches Lied
heimisch ist, und dass unter den im Liede erwähnten sieben Jahren die sieben
Wintermonate zu verstehen seien . Solche Lieder zeigen in der That deut
liche Spuren altdeutschen Götterglaubens, und wir besitzen in ihnen jeden
falls die Reste derjenigen Tanz- und Mädchenlieder, deren Gebrauch Boni
facius und die kirchlichen Concilien jener Zeit den neubekehrten Deutschen
untersagten . Man erkennt ferner unsere Mädchen -Ringeltänze wieder in den
Schilderungen des alten Springel- und Langtanzes der Dithmarschen , wie sie
Müllenhoff3) giebt. Sehr bestimmt tritt die alte Mythologie auch in jener
Abänderung des Spielliedes zum Vorschein , welche im Vogtlande heimisch ist:
„ Ringele, Ringele, Rosenkranz,
Wer sitzt drin ?
Der alte Kaiser.
Was macht er ?
Federn schleisst er ,
Kielen beisst er ;
Trägt die Magd das Wasser ein ,
Fällt der ganze Kessel ein ."
Hier erscheint uns Odhin als der alte Kaiser in seiner Wolkenburg ,
ohnmächtig und schwach geworden , da des Winters Herrschaft angegangen
ist ; er ist im Kinderspiele zur weibischen Beschäftigung des Federschleissens
herabgewürdigt worden ; die Federn aber sind die Schneeflocken , welche er
herabstreut; und der Schluss des Liedes mag das Gewitter andeuten . Solche
Auslegungen sind den Männern von Fach geläufig, doch muss man wohl auf
diesem Gebiete ziemlich vorsichtig sein . Vielleicht hielten sonst die Jung
frauen bei gewissen feierlichen Reigen an einer Kette oder Blumen -Guirlande ,
wenigstens weist darauf hin folgender Brauch : In der Schweiz wird , wie
Rochholz berichtet, bei diesen Ringeltänzen der Kinder aus den Hohl
stengeln des Löwenzahns ( Taraxacum pratense) eine der Ausdehnung des
Kreises in ihrer Länge entsprechende Kette gewunden ; wer sie zerreisst,
wird pfandpflichtig :
Trettet zue, trettet zue,
Sparet nit die nüe Schueh !
Trettet uf das chettemli,
Dass es soll erklingele,
Wer die schönste Jumfer sig ,
I dem ganze Ringele.“
Von deutschen Kinderspielen aus älterer Zeit sind uns zwei reiche
Verzeichnisse aufbewabrt. Zunächst in dem mittelhochdeutschen Gedichte :
„ Der Tugenden Schatz," sodann in Fischart's „ Gargantua.“ Bei einer
Durchsicht dieser und anderer Schriften aus jener Periode (Ende des 16. Jahr
hunderts ) stellt sich heraus, dass schon damals viele unserer jetzigen Kinder
spiele beliebt waren , wenn auch unter anderen Namen . Das bekannte
Blindekuhspiel ist in jenen beiden Verzeichnissen als ,, Blindemaus' angeführt,
doch setzt Fischart neben diesen Namen schon : „ Der blinden Kuh.“ Das
,,Hafen- oder Topfschlagen“ erwähnt Fischart unter der Bezeichnung :
Brich den Hafen .“ Das jetzt unter den Namen : ,,Platz wechseln," „ Käm
merchen vermiethen “ und „ Schneider leih mir deine Scheere " bekannte Spiel
wird in der Tugenden Schatz angeführt: „ Zwei sprachen : der Platz ist mein ;"*
und das bei Fischart genannte Spiel: ,,Schulwinkel" ist unser Versteckspiel
mit dem Blinzwinkel. Das Spiel „ Fuchs im Loch ,“ bei dem der Spielreim
heisst: „ Fuchs, Fuchs, beiss mich nicht etc.“ führt Fischart auf unter dem
Namen : „ Wolf, beiss mich nicht.“ Unser Spiel: „ Der Abt ist nicht zu Hause "
heisst bei Fischart : „ Des Abts und seiner Brüder.“ Das Rathespiel:
,, Pinkepank , in welcher Hand?" oder : ,,Pinkepank, wo steht der Schrank,
unten oder oben ?“ bei dem es darauf ankommt, zu errathen , in welcher
Hand der Stein verborgen sei, erwähnt Fischart unter dem Namen „ Stein
verbergen .“ Weitere Angaben über die Kinderspiele jener Zeit finden sich
in den von den beiden Schwarz (Vater und Sohn) hinterlassenen Aufzeich
nungen ,') aus welchen wir ersehen , dass in der Mitte des 16. Jahrhunderts
das ,, Tribeln ," d . h . ein Stück Holz in die Luft prellen , das Klukern,"
d. h . Marmorküglein in ein Loch an der Erde werfen , das „ Raifftreiben ,"
sowie das „ Eggeti,“ d . h. das Aufsuchen der sich um die Ecke des Hauses
Verbergenden unter den Knaben Deutschlands beliebt war. So begegnen
wir noch so manchen anderen Spielen und Scherzen unserer Kinderwelt in
jenen Verzeichnissen ; mit nicht geringer Zähigkeit hält demnach die Jugend
an ihren Traditionen fest.
Ein dem „ Fascheln “ oder „ Fasseln “ der Berliner Jugend ähnliches Spiel
ist in der Gegend von Wernigerode heimisch und heisst dort ,,Ueberhänd
chenspiel,“ das statt der Steinchen , welche man in die Höhe wirft, um sie
wieder aufzufangen , mit „ Knöcheln " gespielt wird . Dies sind die klassisch
antiken Astragali (die Talus der Hammel) ; und in dem Spiel selbst findet
Dr. Max Bartels ) die Nachklänge alter Ueberlieferung:
Schon frühzeitig mag, wie Weinhold 3) vermuthet, die Tocke bei den
deutschen Mädchen beliebt gewesen sein . Tocke oder Docke (wahrschein
1) Math. und Veit Conr. Schwarz nach ihren merkwürdigen Lebensumständen und Kleider
trachten, nach dem zu Braunschweig befindlichen Original beschrieben von C. C. Reichard, Magde
burg 1786. Der ältere oder der Vater Schwarz lebte zwischen 1496 und 1560 , der jüngere erwa
1541 bis 1561. Vgl. Scheible's Kloster VI. Bd. 2. S. 558. Petrarchae Trostspiegel zeigt Ab
bildungen von Steckenpferd, Windmühle u. s. w . aus der Zeit von 1572.
2 ) Zeitschr. f. Ethnol. 1881. S. 283
3) Weinhold , Die deutschen Frauen im Mittelalter . 2. Aufl. Wien 1882. I. S. 10; f .
3. Nachklänge aus alter Zeit im Kinderspiel.
319
lich ursprünglich ein Holzkästchen bedeutend) ist das alte deutsche Wort
für Puppe und noch in Oberdeutschland und Schlesien üblich . Im 9. und
10. Jahrhundert war dieses Spielzeug schon allgemein bekannt ; die Gedichte
des 13. Jahrhunderts schildern die Freude der Mädchen an vielen und schönen
Puppen ; sie bereiteten sich dabei in leichtem Kindessinn auf die schweren
Mutterpflichten vor . Mit kleinen und vollen Schreinen und Kasten , mit Haus
geräth und Putz wurde gespielt; und Berthold von Regensburg spricht
in seinen Predigten davon, wie die Mädchen alle ihre Liebe auf eitle Sachen
würfen , wie kleine Vögel und Hündchen , Puppen, Glasringe, Kränze und
dergleichen . Die Kinder der Vorzeit spielten auch mit Thierbildern , die aus
Thon, Holz und Metall gemacht waren . Derartige Nachbildungen , oft sehr
einfacher und alterthümlicher Art und zum Kinderspiel bestimmt, haben sich
bis in die Gegenwart forterhalten ; nicht minder die kleinen thönernen oder
gläsernen Gefässe, mit denen die Mädchen schon im Mittelalter die Küchen
wirthschaft der Mutter nachahmten. Ein interessanter Fund von über hundert
Thonfigürchen aus dem 14. Jahrhundert ward 1859 in Nürnberg unter dem
Strassenpflaster gemacht ; es waren weibliche Gestalten , gepanzerte Reiter,
nackte Kindlein , Wickelkinder , auch einige heilige Figuren , dann kleine
Töpfe, Kannen, Schalen , Hörner und ähnliches irdenes Spielzeug. Ganz
ähnliche Frauenbildchen aus gebranntem Thon , in der Tracht der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts hatte man früher auf der Burg Tannenberg in
Franken gefunden .') In Schlesien sind kleine, etwa 9 Centimeter hohe
Frauenfigürchen aus Kalkstein ausgegraben , die nach der Tracht dem
späteren 14. Jahrhundert angehörten.a)
Vieles Ueberkommene sucht man in der Neuzeit ohne Berechtigung aus
zutilgen . Sehr richtig bemerkt ein Mitarbeiter der ,,Grenzboten ," 3) die be
klagenswerthe Erscheinung , dass man das Kinderlied in Deutschland gleich
sam absterben sieht und dass man an seine Stelle einen recht schlechten
Ersatz schiebt. „ Die Stätte , wo das Kinderlied ausser der Kinderstube allein
gedeiht und wo es vor anzig Jahren auch in den grösseren Städten noch
von Mund zu Mund ging, sind Garten, Hof und Strasse . Aber in unseren
grossen Städten haben die Kinder keine Gärten und Höfe mehr, und die
Strasse ist immer gefahrvoller für sie geworden. So werden sie denn in
den Kindergärten mit allerhand neumodischen Spielen und Reimen gefüttert,
die der gute Fröbel und eine Anzahl Fröbelianerinnen ausgeklügelt haben ,
und die kindlich sein sollen , aber in Wahrheit kindisch sind . Um das körper
liche Wohl und die Zucht und Sitte der ihm anvertrauten Kleinen erwirbt
sich der Kindergarten unstreitig grosse Verdienste , aber um die geistige
Speise, die er ihnen bietet, ist es recht traurig bestellt. Der Kindergarten
hat, es muss das einmal ausgesprochen werden , - die schwere Sünde
auf sich geladen , dass er die gute alte Kinderpoesie hinausgeworfen hat,
weil sie angeblich aus albernen Gassenliedern besteht, die keinen Sinn haben ,
und hat äusserst gedankenvolle, aber auch äusserst abgeschmackte und
poesielose Verslein an ihre Stelle gesetzt.“
Erst seit wenig Jahrzehnten hat sich die Aufmerksamkeit der Freunde
des Volkes auf einen der liebenswürdigsten Züge im Leben der Nation ge.
richtet; man hat begonnen, die Spiele und Lieder aufzusammeln , mit welchen
sich die frohe Kinderschaar beschäftigt. Es sind Erfindungen eines jugend
lichen Volksgeistes, bei welchen in charakteristischer Weise Humor und
Phantasie zusammenwirkten . Lust und Heiterkeit dictirten die Worte und
Reime, und der Sinn dieser Worte, sowie des Spiels ist eben nicht weit her.
Allein hier macht sich das Gefühl und Gemüth ganz frei geltend ; und deshalb
sind diese Kinderlieder unserer Beachtung weit mehr werth , als die elenden
Machwerke von Poesie, mit der sich unsere, oft recht läppische Kinder
gärtnerei breit macht. Wir geben in Folgendem eine kleine, wenn auch
keineswegs vollständige Uebersicht derjenigen deutschen Werke auf diesem
Gebiete, welche uns selbst als die wichtigsten erscheinen.
A. v. Arnim und Cl. Brentano , Des Knaben Wunderhorn . 1 . Bd.
1. Aufl. 1806-1808 . 2. Aufl. 1845-1846 . Ferner : ,,Kinderlieder ," Anhang
zum Wunderhorn . 1808 .
Stöber, Elsässisches Volksbüchlein , Strassburg 1842.
Müllenhoff, Sagen , Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig,
Holstein und Lauenburg . Kiel 1845.
Gutsmuth's Spiele zur Erholung und Uebung des Körpers und Geistes.
Fiedler , Volksreime und Volkslieder in Anhalt-Dessau . Dessau 1847.
Aus dem Kinderleben . Oldenburg 1851.
Meier, Deutsche Kinderreime und Kinderspiele aus Schwaben . Tü
bingen 1851.
Stöber, Die Sagen des Elsasses. St. Gallen 1852. 19. 60 etc.
Weinhold , Weihnachtsspiele und Lieder. Graz 1855.
Schmitz, Sitten und Bräuche, Lieder , Sprichwörter und Räthsel des
Eifler Volks. Trier 1856. 66 .
Simrock , Das deutsche Kinderbuch ; altherkömmliche Reime, Lieder
u . S. W. 2. Aufl. Frankfurt a . M. 1857 .
Rochholz , Alemannisches Kinderlied und Kinderspiel aus der Schweiz.
Leipzig 1857 .
Baslerische Kinder- und Volksreime. Basel 1857
Mannhardt , Germanische Mythen . Berlin 1858. 338 ff.
A. Schleicher , Volksthümliches aus Sonneberg . Weimar 1858.
Curtze, Volksüberlieferungen aus dem Fürstenthum Waldeck ; Märchen ,
Sagen, Volksreime. Arolsen 1860.
4. Die Literatur des Kinder -Spiels und -Liedes. 321
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
Der Einfluss des Erziehungswesens auf Leben und Charakter der Völker
ist von unberechenbarer Tragweite. Es giebt Kriegsvölker , Hirtenvölker,
Ackerbauvölker, speculative Handelsvölker und industrielle Völker . Wenn
sich nun der Geist, in dem die Kinder bei solchen Völkern specifisch erzogen
werden, nach einer bestimmten Richtung hinwendet , so steigert sich gewiss
der specifische Charakter der Nation von Generation zu Generation .
Immer ausgeprägter kommen die nationalen Züge zum Vorschein ; sie werden
zum erblichen Merkmal und zum unterscheidenden geistigen Eigenthum eines
jeden Volkes oder Stammes.
In dieser Beziehung erscheint es von höchstem Interesse , nachzuforschen,
welche Pflege des Geistes der heranwachsenden Generation ein jedes Volk
nach Brauch und Sitte angedeihen lässt. Auf allen Höhegraden der Cultur
von den Urzuständen an , in welchen nur primitive Züge dieser Pflege
zur Erscheinung kommen , bis zu den Verhältnissen hochcivilisirter Nationen
- giebt es eine Stufenleiter von Volksgebräuchen, die für viele wesentliche
Momente des Erziehungswesens maassgebend sind .
Die grössere oder geringere Liebe der Eltern zu ihren Kindern , die Art, in
welcher das Gefühl der Liebe zum Ausdruck gelangt, die Sorgfalt, welche die
Eltern auf die Entwickelung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten ihres
Kindes verwenden , die Strenge und die Methode, welche bei der Anleitung des
Die Erziehung der Kinder. 323
Kindes in Anwendung kommt dies Alles wird bei Beurtheilung des Civili
sationsgrades eines jeden Volkes ganz besonders in Erwägung zu ziehen sein .
Jedenfalls überlassen unter den rohesten Völkern die Eltern ihre
Kinder in höchster Sorglosigkeit um deren moralische und intellectuelle
Fortbildung völlig sich selbst. Der Nachahmungstrieb , welcher vorzugs
weise im Seelenleben der kleinen Kinder bei der psychischen Ausbildung
eine Rolle spielt, kann sich dann frei und ungehindert geltend machen .
Alles Gute und alles Schlechte , das die Kinder um sich her von menschlichen
Handlungen sehen , wird ohne Auswahl je nach Lust und Belieben von letzteren
nachgeahmt. Das unterscheidende Urtheil, ob das und jenes gut oder schlecht
ist, ob man dies oder jenes thun oder lassen darf, wird dem Kinde nie oder
nur selten beigebracht. Eine Besserung durch Strafen suchen die Eltern
nur insofern zu erzielen, als ihnen selbst die Unterthänigkeit unter den elter
lichen Willen , die häusliche Disciplin , nützlich erscheint.
Hier sieht das Kind ganz einfach den Eltern ohne specielle Anleitung
ab , wie sie beim Bau der Laubhütte , beim Herstellen der Waffen , beim
Erlegen der Thiere , beim Zerlegen derselben , beim Bereiten der Speisen
verfahren . Das Kind erwirbt sich selbst ohne Beihülfe sein geringes Wissen
und Können , eine eigentliche „ Anleitung“ dazu findet zwar fast überall, doch
nur im geringsten Maasse statt, indem Vater und Mutter eben nur Gelegenheit
zum Einsammeln von Erfahrungen geben . Auf dieser Stufe stehen die rohesten
Naturvölker.
Etwas anders, d. h . mit wenig mehr pädagogischem Verständniss
verfahren die Eltern bei denjenigen Völkern , die schon ein besonderes Ziel
der Erziehung vor Augen haben . Hier gilt es den Eltern , ihren Knaben
möglichst fest und hart im Charakter zu machen , ihm auch Fertigkeiten
beizubringen , die ihn später stark gegen Feinde und geschickt im Erwerben
der Nahrung machen sollen . Die rauhe Behandlung seines Körpers hat den
Zweck , ihn abzuhärten ; er muss sogar den Schmerz ohne Klage ertragen
lernen ; schon früh übt man den Kleinen im Gebrauch von Pfeil und Bogen ,
im Schnelllauf, Klettern und Schwimmen . Dem Mädchen werden von der
Mutter die kleinen Künste für die häusliche Beschäftigung gelehrt, das Ein
sammeln und Bereiten der Früchte zur Nahrung, das Kochen des Fleisches,
das Stricken der Netze, die Herstellung der Kleidung und der Geräthe, das
Gerben der Felle, das Weben der Decken , das Nähen u . s. w . Auch gewisse
moralische Züge im Kinde werden geweckt und gepflegt, welche dem Sinne
und Geiste des Volkes entsprechen . Hiermit fährt man fort bis zur Pubertät
von welchem Zeitpunkt an man meist die Söhne und Töchter unter Vornahme
eines feierlichen Actes für selbstständig und genügend ausgebildet hält, ohne
dass dieselben jedoch bei Völkern, unter denen patriarchalische Familien
verhältnisse herrschen , volle Freiheit und Selbstständigkeit geniessen , so
lange Vater und Mutter noch leben .
Ein höherer Grad pädagogischer Einsicht findet sich in solchen Völker
schaften, die eine auf die fortschreitende psychische Entwickelung von Stufe
21 *
324 Die Erziehung der Kinder.
-
1. Pädagogische Bedeutung des Kinderspiels. 325
Die Furcht vor Gespenstern ist ein bei der Erziehung beliebtes
Volksmittel. Die mannigfachsten Schreck- und Spuk -Geister hat dabei die
Phantasie und der Witz der Völker erfunden . Vor Allen sind wir Deutsche
überreich an solchen märchenhaften Gestalten , die zum Theil in der alt
germanischen Mythologie eine Rolle spielen . Da gibt es die Elben oder
Elfen , die theils als Licht - Elben auftreten , gutmüthig und munter sind ,
theils als Schwarz - Elben, die bösartig sind , auf Wiesen Tänze aufführen ,
Menschen herbeiziehen und zerreissen . Dann kommen die Zwerge und die
ihnen verwandten Kobolde, Wichtelmännchen , Bergmännchen , Hojemännl,
Grieschel, Unterirdischen u . s . w ., die meist des Nachts ihr neckendes
Wesen treiben und als Bergleute und Schmiede in der Erde arbeiten . Als
Kinderschrecken treten die Kobolde auf unter den Namen Popanz,
Pozelmann , Pögel, Grau- oder Erdmännle , auch Scherremändle , Butze,
Heinzelmännchen , Rumpelgeister , Hütchen , Gütel, Kolbuk u . s. w .: sie stehen
in Beziehung zum Gewitter, Donner und häuslichen Feuer. In den grösseren
Gebirgen gibt es Berggeister , z. B. auf dem Fichtelberge den Katzenveit,
im Harz den Gübich , im Riesengebirg den Rübezahl. Während die Wald
geister meist als gutmüthig geschildert werden , ) haust in Getreidefeldern
ein weiblicher Korndämon, genannt das Kornweib , die Korn- oder Roggen
mutter , Roggenmuhme , Rockertsweibel, Erbsenmutter und wilde Frau.
Die Stampa in Tirol mit Pferdekopf, welche Kinder und Wöchnerinnen
entführt, ist eine Gestalt der Frigg. Die Sträggele tritt als locale Varia
tion der Hulda oder Berchta in der Schweiz auf; sie ist eine menschen
fressende Riesin , mit der man den Kindern und unfleissigen Spinnerinnen
droht. Im Wasser treiben die Nixe, auch Nickel, Wasserweiber, See
jungfern u . s. w . ihr Spiel; sie sind tückisch und verlocken die Menschen,
dass sie ertrinken ; namentlich ziehen sie gern Kinder in's Wasser. Ein
gespenstischer Reiter , der Schimmelreiter oder Hardtreiter , geht beson
ders im Badnischen um und schreckt die Kinder , wie auch ein weisses
Rösslein ohne Kopf. Wenn im Badischen die Kinder nicht an's Heim
gehen denken wollen, so sagt man : „ Geh heim , oder die Nachtfrau holt dich!"
In Karsen ist „ der Bollenmann ,“ bei Röttingen ,der Berch “ mit ungeheurem
Bauch und Maul der beliebteste Kinderschrecken . Ausser den Gespenster
Pferden gibt es noch andere sagenhafte schlimme Thiere: die Wölfe in
Gestalt der Werwölfe , die Hunde aus dem Gefolge des wilden Jägers, die
1) Die Wald- oder Hartweiblein , Lohjungfern , Holzweibel, die nach Birlinger an verschiedenen
Orten Badens auch Gilzen-, Gestäudener ., Mauerholz-, Baure-, Schleier- und Falkenhofer-Weible heissen ,
weisen nach Wolf im Allgemeinen als Waldfrauen auf Genien der Bäume hin . Das Baureweible
sitzt in den höchsten Gipfeln der Waldbäume, hängt dort unter Seufzen und Klagen Windeln aut, bei
deren Waschen es ein Klagliedlein singt:
,Wässerle, Wässerle, wasche rein ,
Getödtet hab ' ich mein Kindelein .“
3. Pädagogische Bedeutung der Religion . 327
fabelhaften Drachen , während der sonst so tückische Fuchs , das dem roth
bärtigen Donar heilige Thier, mehr als schelmischer Geselle gilt: er hat die
Ostereier gelegt, die dem Donar und der Göttin Ostara geweiht sind, am Oster
morgen von den Eltern versteckt und von den Kindern gefunden werden . Auch
der Teufel, der in Tirol an verschiedenen Orten Argsmann, Taxenhacker, Grün
äugel heisst, wird hie und da als Kinderschrecken benutzt. Der Bumann ist in
Oldenburg eine Kinderscheuche allgemeinster Art und ohne hervorragendeEigen
schaften , nur dass man ihn sich schwarz und im Dunkeln hausend vorstellt.
„ Der Sandmann kommt,“ sagt man fast überall in Deutschland zu den
Kindern , welche sich nicht zu Bette bringen lassen wollen : er streut den
Kindern Sand in die Augen . Die Kindergespenster der Schweizer heissen
Butzenmann , Klaubauf und Böggel, und der Wauwau holt die Ungeberdigen .
Im Spreewald ist bei der dort wohnenden slavischen Bevölkerung der
Sserp oder Scerpel ein wie ein Mensch mit langem Kopf aussehendes
Gespenst, mit dem man die Kinder schreckt, indem man sagt: „ Geht nicht
dahin , da ist der Sserpel, der wird euch den Kopf abschneiden ." )
Als ein besonderes Erziehungsmittel durch Furcht und Schreck wirkt
unter Anderem zur frohen Weihnachtszeit in Deutschland der gewiss schon
im Heidenthum wurzelnde Brauch des Erscheinens des St. Nikolas oder
Knecht Rupprecht.2 ) In manchen Gegenden (z. B. im Fränkisch -Henne
bergischen ) kommt diese Schreckgestalt schon am 6. December Abends,
wenn die Lichter angebrannt sind, vermummt in einem Pelz und eine Gerte
oder Ruthe in der Hand ; er lässt die Kinder ein Gebet hersagen , droht den
Ungezogenen, öffnet jedoch auch seinen Sack , aus dem er Nüsse und Aepfel
unter die Kinder wirft. In der Meininger Gegend heisst diese Schreckgestalt
Herscheklo -es.
Doch auch die alten Griechen hatten schon ihre Schreckgestalten für
die Kinder, die Akko und Alphito ; auch drohten sie den schlimmen Zög
lingen , dass sie vom Arges Steropes und dem kohlengeschwärzten Merkur
geholt würden. Die Lamia ist schon im altgriechischen Volksglauben eine
wilde, Menschen fressende , zumal den Kindern sehr gefährliche Unholdin .
In Epirus ist es noch heute üblich , die Kinder durch Erwähnung dieses
Schreckgespenstes zum Gehorsam zu bringen.3)
als eine Mitgift der Natur eingeboren ist ? Dieser Alternative gegenüber
möchten wir zunächst betonen , dass nach unserer Ueberzeugung das Kind
nur die Veranlagung mitbringt, unter dem vielen Guten und Schlechten,
was es erlernen kann, auch religiöse Begriffe und Vorstellungen in sich auf
zunehmen .
In letzter Zeit ist nun viel darüber discutirt worden , ob es überhaupt
religionslose Völker giebt? Th. Waitz , O. Peschel, A. de Quatrefages
Sir John Lubbock , E. Tylor und viele andere Ethnographen ; ferner
Zeller , Meiners, 0. Pfleiderer und andere Philosophen sprachen sich
in verschiedenem Sinne aus, denn der Begriff „ Religion “ war bei ihnen kein
übereinstimmender . Wir baben schon an früheren Stellen unseres Buches
auf die Thatsache aufmerksam gemacht, dass die Naturvölker zumeist an die
Existenz der Seelen und Geister glauben . Darauf weist die Manenver
ehrung vieler Völker , der Dämonenglaube, der Fetischismus und der Schama
nismus anderer Völker hin . Mit den Vorstellungen nach diesen Richtungen
hin wird die Jugend stets früh bekannt und vertraut. Es wird ihrer Ein
bildungskraft das Wesentliche dieses Spiritualismus früh eingeimpft. Und
auch selbst von dem Götzendienste, den Völker vor Erreichung einer höheren
Culturstufe einst getrieben haben , bleiben noch Spuren oder „ Ueberlebsel“
bei hochcivilisirten Völkerschaften in Form von Aberglauben zurück .
Die Ansicht, dass kein Volk ohne Religion ist , vertritt besonders
Gustav Roskoff;') nachdem er nachzuweisen versucht hat, dass die Sitt
lichkeit des Wilden in der Beobachtung der Sitte besteht und die Macht der
Sitte auf religiösem Grunde beruht, also die Sittlichkeit auch im Glauben
an böse Wesen und Zauberei beeinflusst wird , glaubt er auch behaupten
zu dürfen , dass dieser Glaube, der auf das Gefühl der Gebundenheit an
übersinnliche Einflüsse , als zauberhafte Wirkungen , hinweist, der auch das
Moment einer zurückgebliebenen Wirkung auf das Leben des Wilden ent
hält, also dem eigentlichen Sinne des Wortes „ religio “ entspricht, dass
dieser Glaube an Zauberei als Religion gelten und mit diesem Namen
belegt werden darf.
Demnach ist nach Roskoff aller Glaube an Uebersinnliches schon Re
ligion , also auch der ganze unter uns und bei jedem Volke herrschende
Aberglaube. Weiterhin sagt er am Schlusse seines Buches , indem er
1) Das Religionswesen der rohesten Naturvölker. Leipzig 1880 ; in diesem lesenswerthen Buche
findet man die reichhaltige Literatur berücksichtigt. Eine Zusammenstellung des Wichtigsten, was
über die grosse Streitfrage: „ Giebt es oder hat es Menschenstämmemit so niedriger Cultur gegeben,
dass sie noch durchaus keine religiösen Begriffe gehabt haben ?" findet sich unter kritischer Beleuch
tung in dem Kapitel „ Animismus“ bei E. B. Tylor „ Die Anfänge der Cultur,“ Leipzig 1873. S.41 ff.
Wir stimmen diesem Autor in den meisten Punkten zu . Wie sehr man sich im Allgemeinen gewöhot
hat, Religion und Aberglauben als ganz Verschiedenes zu betrachten , geht aus vielen Stellen in der
Literatur hervor. In der Regel trennen auch die Reisenden diese beiden Begriffe. So äussert O.
Finsch (Zeitschr. der Gesellsch. f. Erdkunde zu Berlin . 1881. XVI. t. u. 5. S. 302) efst neuerlich ,
,,dass die Neu-Britannier keine Religion, also auch keine Götzen, Fetische, Schamanen, Zauberer oder
Fetischpriester besitzen ; man hat aber Gelegenheit, bei ihnen mancherlei abergläubische Ceremonien ,
namentlich bei Krankheit zu beobachten ."
4. Pädagogische Bedeutung der Sagen und Märchen . 329
sich auch auf Zeller ') beruft: „ Die Religion ist dem Menschen weder an
geboren noch ist ihm Religion durch äussere Offenbarung mitgetheilt, was
vom Ursprunge des religiösen Lebens überhaupt gesagt werden muss."
Wollen wir in der That den Religionsbegriff so weit ausdehnen , dass er
auch den ganzen vorhandenen Aberglauben umfasst , so müssen wir sagen ,
dass bei allen Völkern , sowohl den „ wilden ,“ als auch den „ hochcivilisirten ,“
die Vorstellung einer Existenz des Uebersinnlichen ein wesentlicher Gegen
stand der Erziehung und Belehrung schon in der frühesten Jugend ist.
Mutter und Vater , alle Angehörigen prägen dem kindlichen Gemüth durch
Erweckung von Furcht vor bösen Wesen und von Ehrfurcht gegen gute ,
übersinnliche Mächte die Idee einer Einwirkung friedlicher oder freundlicher
Naturkräfte ein , unter deren zauberhaftem Einfluss schon das Kind in sitt
licher Hinsicht zu gutem oder bösem Thun hingeleitet wird . Da giebt es
denn eine ganze Reihe übersinnlicher Wesen , an die das Kind schon zeitig
glauben lernt, und die sein zartes Herz mit einer Art religiösen Schauers
erfüllen sollen .
1) Zeller, Veber Ursprung und Wesen der Religionen (in : Vorträge und Abhandlungen II. 8.)
330 Die Erziehung der Kinder.
Eine der ersten Aufgaben für die Erziehung besteht darin , das Ver
langen und Begehren des Kindes schon früh zu zügeln . In dieser Be
ziehung wird bei allen Naturvölkern gar sehr gefehlt, indem auf der einen
Seite die Willkür zu sehr beschränkt , auf der andern Seite aber dem
Kinde schon eine zu grosse Selbständigkeit eingeräumt wird . Die Unarten
und Eigenwilligkeiten , welche den Kindern auch bei halbcivilisirten Völker
schaften eingeprägt und ungeahnt zugelassen werden , geben die Grundlage
zu einem wilden Wesen im späteren Leben . Die halbcivilisirten Völker des
Orients suchen dagegen fast nur das Gefühl für Sittlichkeit im Kinde zu
wecken und ihm die Kunst des Schmiegens in die Fesseln beizubringen,
welche durch conventionellen Landesbrauch vorgeschrieben werden , und
welchen sich unterzuordnen als eine der höchsten Pflichten gilt. Der Sinn
für Höheres und Wahres und ebenso die geistige Bildung durch allmälige
Reifung im klaren Denken und Begreifen werden erst in bewusster Weise
bei civilisirten Nationen Erziehungszwecke.?)
Regeln der Aberglaube bemächtigt hat, welcher vor einer gewissen Behand
lungsweise des Kindes durch Androhen supponirter Gefahren warnt.
Im deutschen Volke gehen von Mund zu Mund gewisse abergläu
bische Regeln , deren Befolgung oder Unterlassung bestimmten Einfluss
auf die Erziehung und geistige Entwickelung des Kindes äussern soll, und
von denen wir hier nur einige anführen können . So heisst es fast überall,
dass man Kinder unter einem Jahr nicht abbilden , nicht bekränzen , nicht in
einen Spiegel sehen lassen soll u. s. w ., und knüpft an solche Handlungen
die Meinung, dass sie dem Kinde den Tod bringen oder ihm sonst schaden
würden ; doch sind sie wahrscheinlich entstanden aus der einfachen Absicht,
um nicht die Kinder schon früh eitel zu machen . Wenn es ferner in Ost
preussen heisst, dass Kinder nie an einem Fusse unbekleidet sein dürfen ,
sonst würden sie nie zu Brod kommen , so enthält dieser Spruch wohl nur
eine Drohung gegen die Unordnung an der Fussbekleidung des Kindes.
Dem ähnlich heisst es in Thüringen : Wenn den Kindern die Strümpfe an
den Beinen herabhängen , so wird's schlecht Wetter ; das unordentliche Kind
wird hiermit für die Witterung verantwortlich gemacht. Und in vielen Ge
genden , z. B. um Meiningen ') sagt man : Wenn die Kinder zündeln (mit.
Feuer spielen , anderwärts „ kokeln ),“ so pissen sie des Nachts in's Bett.
Eine rein erzieherische Regel cursirt unter Anderem in Hessen : Knaben
und Mädchen müssen vor dem Ende ihres siebenten Jahres zu Arbeiten
angeleitet werden , die ihrem künftigen Beruf angehören , z. B. Mädchen zum
Spinnen , dann werden sie Glück haben . Auch auf den äusseren Anstand,
zu dem das Kind angehalten werden soll, wirkt die Macht des Aberglaubens
durch ,,unfehlbare" Sätze ein : Mädchen dürfen , wie's in Böhmen und Schlesien
heisst, nicht pfeifen , sonst lacht der Teufel, oder so weint, wie's in Oesterreich
heisst, Unsere liebe Frau, oder so kommen, wie der Thüringer Spruch lautet,
die Mädchen einst zu Fall .
leidenschaft Anderer über sie vertheile und so factisch dem armen Kleinen
eine Erleichterung geschaffen werde. Die kleinen schwarzen Wesen mit
den grossen lebendigen Augen , der schwarzen Haut und den blendend
weissen Zähnen sind drollig genug . Ein höchst interessanter Anblick ist
es , einer Schwimmstunde beizuwohnen . Sie beginnen schon früh , oft ehe
die Kleinen schon laufen können . Die Lection ist die einfachste. Die
Mutter nimmt das Kind auf die Schultern , geht in's Wasser und taucht
plötzlich unter, und nun arbeitet das kleine schwarze Ding wie ein schwarzer
Pudel im Wasser umher , die Mutter stets sorgsam in der Nähe , sofort das
Kleine auf den Rücken ladend , wenn seine Kräfte nachlassen . Nirgends
ist übrigens der Weg zum Herzen des Vaters und der Mutter sicherer
durch das Kind zu finden , als in Australien . Ein freundliches Wort , ein
Geschenk für die Kleinen hat manchen Reisenden den Weg durch die uner
forschten Gebiete gebahnt, manchen wohl aus Gefahr gerettet. Selbst dann
werden die Kinder bei den Australiern nicht bestraft, wenn sie sich an dem
Eigenthum Anderer vergriffen haben ; der Vater und die Mutter müssen für
alle Vergehen ihrer Sprösslinge haften und sind gebunden , auf Verlangen
des Bestohlenen mit demselben zu kämpfen ; solche Begegnungen laufen
allerdings gewöhnlich nur mit ein paar Beulen ab. Ist ein älterer Bruder
in der Familie , so hat derselbe den Eltern gegenüber für das Thun seines
jüngeren Bruders einzustehen ; die Sprache besitzt sogar einen bestimmten
Ausdruck für diese Haftpflicht, welche man munmananie nennt. ")
Auf den Inseln Melanesiens (Papua auf Neu -Guinea , Solomo-, Neu
Hebriden- und Fidschi- Insulaner etc.) ist innige Liebe der Eltern zu den
Kindern häufig zu bemerken , wie Seemann, Williams, Turner, Mei
nicke u. A , bezeugen. Dies hat auf die Erziehung grossen Einfluss, denn
man bestraft sie nur zu selten . Dennoch beobachtet man , wie die Eltern
ihre Kinder zu gewissen Dingen anleiten , z. B. auf Baladea sucht man ihre
Sinne recht zu schärfen und an einigen Orten Neu -Guinea's werden sie nach
Finsch im Waffenführen unterrichtet. Auf Neucaledonien geniessen stets
Knaben gemeinschaftlich diese Anleitung ( Turner ), während die Mädchen
schon früh mit den Müttern in den Pflanzungen arbeiten müssen ; allein diese
gehen , wenn sie früh verlobt werden , schon im 7. Jabre , in die Familie
ihres Verlobten. Bei den niedrigstehenden , sehr culturarmen Bewohnern des
melanesischen Archipels (Neu -Irland, Neu -Hannover etc.) fand v . Schleinitz
ein hübsches Familienleben : der Vater führt den kleinen Sohn an der Hand
bei sich und dieser flüchtet sofort zum Vater , wenn ihm irgend Etwas Angst
verursacht. Die Töchter sind immer bei der Mutter zu finden . „ Es deutet
dies,“ sagt v. Schleinitz , „ und manche andere Zeichen auf Vorhandensein
von Gemüth und edleren Gefühlen ." Auf der Insel Ruck fand Reina keine
Liebe der Eltern zu den Kindern , während auf den Torres - Inseln sich die
Väter gegen die Kleinen sehr zärtlich zeigten. Auf den Fidschi-Inseln werden
fünften oder sechsten Jahre ganz unter Aufsicht der Mutter ; später lehrt
man die Mädchen Wasserholen , Muschelsuchen , Mattenflechten u. s. w . Die
Knaben aber gehen mit dem Vater hinaus in die Pflanzung, zum Kahn- und
Hausbau , zum Fischen u . s. w . und lernen alle Arbeit auf diese Weise
(Turner). Auf Nukahiva haben die Eltern ebenfalls keine Gewalt über
ihre Kinder , die sich höchst übermüthig gegen Vater und Mutter betragen .
Bei den Andamanesen (Minkopies) einem Urvolke, das sich durch
sehr naives Wesen auszeichnet, sah Jagor, wie die kleinen Knaben sich
üben , Pfeile wie Wurfspiesse in Bananen -Stämme zu schleudern .
Malayische Eltern (Bugis auf Celebes , Javanesen , Sumatraner etc.)
behandeln ihre Kinder mit inniger Liebe; sie nennen sich nicht selten nach
diesen , besonders wenn es ein Sohn ist, auf welchen sie grosse Hoffnungen
setzen . Namentlich sollen die Lampangs auf Sumatra eine wahre Affenliebe
für ihre Kinder hegen , wie Zollinger fand.
Unter den Mikronesiern der Südsee (Marianen-, Karolinen-, Marshall
und Gilbert- Archipel) wuchsen die Kinder ganz frei auf, ohne dass die Zucht
der Eltern und daher die Scheu der Kinder vor ihnen sehr gross gewesen
wäre (Le Gobien ); doch liebten auf den Marianen die Eltern ihre Kinder
auf's zärtlichste . Auch Unterricht fehlte so gut wie ganz; wer etwas lernen
wollte , sah , wie es der thätige Arbeiter machte , und bildete sich so durch
Uebung , Nachahmung und Erfahrung (Gerland). Jetzt ist die Erziehung
nach spanischem Muster gebildet.
Auf den Karolinen ist Erziehung so gut wie gar nicht; auf Tobi be
kommen die Kinder nur dann einen Schlag , wenn sie zu gierig nach der
Speise, die sie mit den Eltern theilen , verlangen und die Eltern dadurch
zornig werden. Wenn auf Kusaie den oft unverschämten Kindern eines der
Eltern wirklich im Zorn einen Schlag gibt, so kann man sicher darauf rechnen ,
dass das andere sofort die Partei des Kindes ergreift. Doch erwähnt Can
tova von den östlichen Karolinen , dass daselbst in jedem Districte zwei
öffentliche Erziehungshäuser seien , in deren einem die Knaben , im anderen
die Mädchen unterrichtet werden, und zwar in dem , was sie von der Astro
nomie wissen ; der Lehrer hat dazu eine Kugel, auf welcher der Stand der
Sterne meistens roth angegeben ist (Sprengel).
Die Liebe der nordamerikanischen Indianer zu ihren Kindern ist so
zärtlich und innig , als sie sein kann . Tritt Hungersnoth ein , so erhalten die
letzteren stets das Meiste und Beste. Selbst arbeitsunfähige und blödsinnige
Kinder werden von den Potowatomie wohl verpflegt. Die Erziehung der
Kinder bei den Indianern Nordamerikas ist im Allgemeinen darauf berechnet,
in ihnen einen unabhängigen Geist auszubilden . Sie werden daher sich selbst
überlassen und von den Eltern in den seltensten Fällen gezüchtigt. Die
Strafen , besonders bei den Knaben , sind derart, dass sie diesen Namen gar
nicht verdienen ; man begnügt sich damit , das Kind einfach zur Rede zu
stellen oder mit kaltem Wasser zu begiessen . Man sieht es gern , wenn die
Kleinen frühzeitig die Verrichtungen und Neigungen der Erwachsenen nach
PLOSS, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 22
338 Die Erziehung der Kinder .
ahmen . Man lässt sie mit den Schädeln der erschlagenen Feinde spielen und
unterrichtet sie im regelrechten Scalpiren derselben . Durch eine solche Er
ziehung , oder vielmehr durch den Mangel an aller Erziehung , wird in den
Kindern ein unbändiger, störrischer Sinn herangebildet. Dieselben zeichnen
sich frühzeitig ebenso durch Ungehorsam gegen ihre Eltern, als durch Zügel
losigkeit und Uebermuth gegen ihre Altersgenossen aus. Aus solcher
Jugend wächst ein unbändiges, stolzes und gewaltthätiges Geschlecht heran,
welches jeden Versuch von Seite des Weissen , es zu civilisiren , als einen
Eingriff in seine Freiheit und Unabhängigkeit betrachtet und allsogleich zu
blutigen Thätlichkeiten bereit ist.") Bei den Irokesen wurden in älterer
Zeit die Kinder, besonders die Töchter, sehr gut von der Mutter erzogen ,
hauptsächlich durch freundliches Zureden (La Potherie); die Zucht war
meist äusserst nachsichtig . Harte Schläge galten meist für eine Barbarei und
scheinen , wie Schoolkraft anführt, fast nur von den Chippeway und den
Dacota , doch von diesen blos den Mädchen , nicht den Knaben ertheilt
worden zu sein . Man freute sich vielmehr über die Zügellosigkeit und Wild
heit der Knaben, weil man in diesen Eigenschaften einen Beweis von Kraft
sah . Nach Hunter ging man sogar so weit , dass Knaben , die sich feig
gezeigt hatten , zu Hause von der Mutter auf jede Weise gereizt wurden ,
und dass diese sich gern den Schlägen und Stössen der Kinder preisgab ,
in der Hoffnung , sie dadurch zu Muth und Kühnheit zu erziehen . Kinder
der Sioux nahmen an allen Grausamkeiten gegen die Gefangenen Theil; die
rohen Takhali geben in dieser Beziehung ihren Kindern förmlich Unterricht.
Als Strafen , welche die Kinder erhielten, werden bei den Creek Nadelstiche
in's Bein , sonst aber nur Schwarzmachen des Gesichts und damit verbundenes
Fasten genannt. Wer nicht zeitig aufstehen wollte , wurde mit kaltem Wasser
begossen (Keating). Spielend lernten die Kinder die nöthigen Fertigkeiten,
die Knaben vom Vater , die Töchter von der Mutter. Bei den Irokesen
wurden die Kinder zeitig in den Waffen (Schiessen mit dem Blasrohr) geübt;
auch sollen nach Irving die Kinder der Krähenindianer schon im dritten
Jahre zu reiten versuchen .
Die Nachsicht, welche die Indianer sowohl Nord- als Süd- Amerika's
gegen ihre Kinder, besonders die Knaben , bei der Erziehung walten lassen ,
hat nach Waitza) die natürliche Folge , dass die Kinder nicht blos schon
früh im höchsten Grade ungehorsam und zügellos werden , sondern dass auch
der wilde Unabhängigkeitssinn und der Abscheu gegen jeden Zwang , die
dem Indianer so charakteristisch sind , schon in der ersten Jugend in seinem
Herzen festwurzelt . Stilles Ertragen von Schmerz und Krankheit mit voll
ständiger Selbstüberwindung fordert der Indianer von Jedem als Beweis der
Mannhaftigkeit. Allein der Indianer macht es sich auch zur Aufgabe , in
seinem ganzen äusseren Benehmen grosse Ruhe und Gleichmässigkeit zu
zeigen ; durch Selbstbeherrschung hat er seine Gemüthsbewegungen so voll
1 ) F. Müller, Allgem . Ethnologie. Wien 1873. S. 250.
2) Th. Waitz, Die Indianer Nordamerika's. Leipzig 1865. S. 101.
--
ständig in seiner Gewalt, dass selbst die stärksten Leidenschaften nur selten
an ihm äusserlich sich darstellen . Ohne Zweifel ist auch dieser Charakter
zug Wirkung der eigenthümlichen Indianer-Erziehung. – Auch bei den süd
amerikanischen Horden , den Passés, Mundrucus, Omaguas u . s. w ., wird die
Standhaftigkeit und Unempfindlichkeit an Jünglingen durch Geisselungen er
probt. *) Die Vaupés und einige andere Stämme dehnen diese Emancipations
prüfung sogar auf die Mädchen aus .
Im tropischen Amerika stehen im indianischen Hauswesen und in den
mit Indianismus reich vermischten Volksschichten die Kinder dem Vater fern .
Sie sind scheu vor ihm und in der zartesten Jugend von ihm entfremdet;
sie fliehen Zuflucht suchend in die Arme der Mutter ; frühzeitig entwachsen
sie dem väterlichen Hause, und die Mutter wird , wie einst ihres Mannes, so
ihres Sohnes Dienerin ; doch kindliche Ehrfurcht auch im vorgeschrittenen
Lebensalter ist ein allgemein vortheilhaft hervortretender Charakterzug.
In dem Hause des weissen Mannes erzogen , welches dort dem Indianismus fern
steht, lehrt der Vater das Kind Achtung und Ehrerbietung der Mutter , und
die Mutter dem Vater erweisen ; aber das Kind wächst dennoch nicht in
und mit Vater und Mutter, sondern zwischen Vater und Mutter auf,
zwischen der ,, Señora " des Hauses und ihrem „ Cavalier," dem ,, Señor ;" und
alle Ehrfurcht , die ihm eingeprägt und die es zu beobachten gelehrt , wird
nicht so sehr durch das Herz , wie durch die Form , durch den Geist der
Urbanität geboten.2).
Ob man bei den Eskimo (Inuit) von einer „ Erziehung“ der Kinder
sprechen darf, ist sehr zweifelhaft; denn wenn gleich unter ihnen die Kinder
von ihren Müttern im Allgemeinen zärtlich , ja sogar mit übergrosser Zärt
lichkeit behandelt werden , so wird doch immerhin die geistige Pflege des
Sprösslings wohl ebenso thierisch sein wie die leibliche. Letztere charak
terisirt sich dadurch , dass das neugeborene Kind von der Mutter trocken
geleckt wird , und dass auch in späterem Alter die Kleinen, die bis zum
7. Jahre sowohl in der Kapuze getragen , als auch ebenso lange gesäugt
werden , von der Mutter nur durch Ablecken , nie durch Abwaschen vom
Schmutze gereinigt werden ; auch das Putzen der Nase wird von der Mutter
lediglich mit dem Munde besorgt. Nach den Mittheilungen E. Bessels'3)
soll es sogar in King Williams Land nicht selten vorkommen , dass ein
14- oder 15 - jähriger Junge , der eben von der Jagd kommt, die Brust der
Mutter nimmt, um zu trinken . Hier verharrt demnach der Knabe bis zur
Pubertät auf der Säuglingsstufe. Die Eskimo, die östlich im hohen Norden
wohnen , behandeln ihre Kinder liebevoll, zuweilen mit fast übertriebener
Zärtlichkeit. Zu körperlicher Züchtigung nimmt der Itaner , sagt Bessels, 4)
niemals seine Zuflucht. Die Kleinen wachsen auf wie die Schosshunde. Das
-
9. Das Erziehungswesen bei Naturvölkern.
341
1) Nordenskjöld , Die Umsegelung Asiens und Europa's. Deutsche Ausgabe. 1881. S. 395.
2) Lighton Wilson , Westafrika. A. d. Engl. von Lindau. Leipzig 1862. S. 83.
342 Die Erziehung der Kinder.
Die Ausbildung der Kinder bei den Alt - Mexikanern mag höhere
Leistungen erzielt haben . Das Kind blieb bis zum 6. oder 7. Jahre im
Hause der Mutter ; dann erhielt es einen oder mehre mit Sorgfalt gewählte
'Gesellschafter ; im 10. Jahre übergab man es den Priestern zur Erziehung
im Tempel. Dies geschah nach Gomara schon im 5., nach Cortes im
7. - 8., nach Anderen im 15. Lebensjahre. Torquemada giebt an , dass
vom 6. - 9 . Jahre alle Kinder zum Unterricht in den Tempel geschickt wurden .
Die Zöglinge dieser Schulen wurden äusserst streng gehalten , durften den
Tempel nicht verlassen, mussten fasten , beten , sich an harte Arbeit gewöhnen ,
überhaupt ascetisch leben . Der Unterricht in diesen Tempelschulen um
fasste geistliche und weltliche Gegenstände. Auch die Mädchen erhielten
eine ähnliche klösterliche Erziehung im Tempel und mussten dazu schon am
40. l'age nach der Geburt dem Priester angemeldet werden. Sie mussten
im Tempel ein streng religiöses Leben führen und wurden erst mit ihrer
Verheirathung entlassen . Ausser jenen Klosterschulen gab es Militärschulen ,
in welchen die künftigen Krieger herangebildet wurden , so dass der junge
Mann von Stande bei den Alt-Mexikanern, wie Waitz ') sagt, eine gelehrte
oder eine militärische Erziehung erhielt.
Wunderbar schön , von wahrem mütterlichen Gefühl durchhaucht sind
die Verhaltungsregeln , welche eine aztekische Frau ihrer Tochter für das
Leben mitgab . Ein spanischer Franziskaner -Mönch, der Missionär Bernar
dino de Sahagun , hat eine Geschichte von Mexiko verfasst, in welcher die
religiösen , socialen und kulturhistorischen Verhältnisse dieses interessanten
Landes dargestellt sind ; er starb im Jahre 1590, und sein Werk wurde erst
im Jahre 1829 zum ersten Male herausgegeben (von Bustamento , Mexiko,
3 Bände in Octav). Der Inhalt dieser Vorschriften einer guten Mutter für
ihre zur Jungfrau heranwachsende Tochter zeugt von einem lauteren Sinne
echt weiblicher Natur. )
Es war in Mexiko gebräuchlich, dass das Kind vom 3. Jahr an täglich
eine bestimmte Kost bekam und dass ihm gewisse Dinge gelehrt wurden ;
vom 4. – 6. Jahre an musste es kleine Lasten tragen und geringe Hülfe
leisten , das auf dem Markte Verschüttete auflesen u . dergl. Mit 7 Jahren
lernt der Knabe mit dem Netze fischen , das Mädchen spinnen ; mit 13 - 14
Jahren holt der Knabe Holz im Kahne und fährt auf den Fischfang aus, das
Mädchen kehrt, reibi Mehl, bäckt und webt. Die Söhne der Handwerker
wurden von ihren Vätern in den Gewerben unterrichtet. Stechen mit Dornen ,
Peitschen mit Nesseln und Räuchern mit Aji in Nase und Auge waren die
gewöhnlichen Strafen des Ungehorsams. Die Mädchen wurden streng zu
Fleiss und Reinlichkeit angehalten ; sie sprachen ihren Vater selten ; wünschte
dieser sie zu sehen , so wurden sie von ihrer Erzieherin zu ihm geführt, doch
1) „ Anthropol. der Naturvölker." IV . S. 134. Man vergleiche auch das mir leider erst nach
Beendigung meiner Arbeit zugegangene Werk : Hubert Howe Bancroft, The native reces of the
Pacific States of North-America . Leipzig 1875. Band II.
2 ) „ Cornelia," Zeitschr. f. bäusl. Erziehung. Von Dr. C. Pilz. XXXIII. 1880. S. 87.
10. Erziehungswesen bei alten Völkern. 347
Lehrer, sondern Erzieher und soll einen sittlichen Menschen aus dem anver
trauten Kinde machen . Der erste Unterricht, den der ypauljatırús ertheilte ,
bestand im Lesen (auf deutliche und bestimmte Aussprache wurde gehalten )
und Schreiben ypáupata mandávely . Die Schulen waren Privatanstalten und
eine Aufsicht des Staates über den Unterricht fand gar nicht oder in sehr
beschränktem Maasse statt , daher die Aermeren , im Gegensatze zu den
žhevilépws TSTOLÔEUPÉVOL oft früh zu einem Handwerk übergingen ; ja es mochte
vielleicht in einzelnen , wiewohl sehr seltenen Fällen vorkommen , dass Kinder
ganz ohne Unterricht blieben . Die Elementarlehrer standen im Allgemeinen
nicht in besonderer Achtung; ihre Einnahmen bestanden ausschliesslich im
Honorar, welches wohl nach dem Rufe und der Tüchtigkeit in ihrem Fache
verschieden war. Zu dem Lesen und Schreiben kamen im Orðaozalcoy auch
noch die Anfangsgründe im Rechnen . – Nach Vollendung des Elementar
unterrichts trat bei dem ypapluatizós ein höherer Unterricht ein, der besonders
im Lesen , Auswendiglernen und Vortragen poetischer Stücke bestand. Grund
lagen dieses ganzen Unterrichts waren neben ethischen Gedichten und Fabeln
die Gesänge des Homer , dessen Ansehen und Herrschaft in der Schule die
abweichenden Ansichten einiger Philosophen , die ihn wegen leichtfertiger
Ansichten von den Göttern aus der Schule verbannt wissen wollten , nicht
zu erschüttern vermochte . Homer blieb die Quelle und der Mittelpunkt
hellenischer Bildung. Neben diesen grammatischen Unterricht trat dano
etwa im dreizehnten Jahre der musikalische ein , der nicht allein des Ver
gnügens wegen betrieben wurde, denn die Musik galt als die edelste Be
schäftigung während der Musse; sie hatte für den Griechen eine ethische
Bedeutung. Von Anfang an wurden auch die mathematischen Fächer von
Philosophen- und Sophisten -Männern und Jünglingen vorgetragen ; im 5. Jahr
hundert waren sie schon allgemeiner Unterrichtsgegenstand für Knaben .
Ein wesentlicher Theil der faldela war ferner die Turnübung in der Palästra
und dem Gymnasium ; man ging dabei vom Leichten , den kindlichen Kräften
Entsprechenden (Ballspiel , Laufen , Springen ) stufenweise zum Schweren
(Ringkampf, Faustkampf, Pankration ) über. Damit verbunden waren Uebungen
im Schwimmen , wie auch in der Orchestrik . Im Epheben - Alter trat als
Vorbereitung zum Kriegsdienst die Uebung in den Waffen und in der Reit
kunst ein . Den Unterricht in der Gymnastik leiteten die Paidotriben , die
Sophronisten saben auf Anstand und Ordnung , die Alcipten hatten die diä
tetische Aufsicht und besorgten das Einreiben mit Oel. Die Zucht war
streng und auf Anstand, edle Haltung und Sitte wurde ein besonderes
Augenmerk gerichtet. Abgeschlossen wurde die geistige Bildung durch den
Unterricht bei den Sophisten und Rhetoren, der besonders die Rhetorik ,
Philosophie und Staatskunst umfasste. - Die Ausbildung des weiblichen
Geschlechts geschah ausschliesslich im Hause und wurde wohl nur von den
Müttern und Wärterinnen besorgt, daher höhere Bildung beim weiblichen
Geschlecht fast immer mit sittlicher Leichtfertigkeit und Zügellosigkeit ver
bunden ist und sich fast nur bei Hetären findet.
--
-
10. Erziehungswesen bei alten Völkern . 349
1) Diese Darstellung ist dem zuverlässigen „ Reallexikon " von Fr. Lübker entnommen . Aus
führliches findet man in : Prof. Dr. Lor. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen
Alterthum . 1. Theil: Die leibliche Erziehung bei Griechen und Römern. Würzburg, Stahel, 1864 und
1868 ; 2. Theil: Der musische Unterricht oder die Elementarschule bei den Griechen und Römern , da
selbst 1876. In Pouqueville's ,,Gemälde von Griechenland" (Frankfurt a. M. 18 ..) ist auf Taf. 86
eine altgriechische Schule (Copie einer alten Darstellung) abgebildet, in welcher ein Knabe durch
Ruthenschläge scharf gezüchtigt wird . Auch ist die Art, wie ein altgriechischer Pädagog einen Knaben
zűchtigt, in einer kleinen Terracotta-Gruppe zu erkennen , die sich im Berliner Archäologischen Museum
befindet und etwa einen Finger hoch ist (unter Nr. 7084 im Schrank ). Vgl. Fr. Cramer, Geschichte
der Erziehung und des Unterrichts im Alterthum . 2 Bde. Elberfeld 1832 - 1838.
Die Erziehung der Kinder.
350
Geist im Laufe der Zeit von den Griechen wieder verlassen. Die Gymnastik
wurde zur Athletik , die Jugend aber verweichlichte.
Zur Zeit der früheren römischen Republik scheint nach der Be
schreibung des Tacitus die Kindererziehung eine trefflichere gewesen zu
sein , als zu der Zeit , in welcher dieser Schriftsteller selbst lebte. Derselbe
sagt: „Man verbarg damals die von tugendhaften Müttern geborenen Kinder
nicht in der abgelegenen Wohnung einer gedungenen Amme. Sie wurden
in den Armen und an der Brust ihrer Mutter auferzogen , deren grösster
Ruhm darin bestand , ihrem Hauswesen vorzustehen und sich ihren Kindern
zu widmen . Man wählte damals immer ältere durch Sittenreinheit ausge
zeichnete Verwandte , denen man die junge Familie anvertraute; vor einer
solchen wagte man weder etwas zu sagen , noch zu thun , was gegen die
guten Sitten verstiess. Eine solche bewährte Erzieherin überwachte nicht
blos die Beschäftigungen , auch die Erholung und die Spiele , bei denen Be
scheidenheit und Anstand nie fehlte. Auf diese Weise leitete Cornelia ,
die Mutter der Gracchen , Aurelia , die Mutter Cäsar's , und Atia , die Mutter
des Augustus, die Erziehung ihrer Kinder und bildeten aus ihnen die grössten
Männer ihres Jahrhunderts . Durch diese Weise Erziehungsart nahm die
Natur, die sich in ihrer Reinheit und Unverdorbenheit erhielt, die keine un
sittlichen Eindrücke empfing, ohne alle und jede Zerstreuung die nützlichen
Erziehungsmittel in sich auf, die man ihr bot, und sie widmeten sich aus
schliesslich den gewählten Wissenschaften , sie mochten den Krieg , das Recht
oder den Rednerstuhl betreffen . Jetzt ist das ganz anders ! Sobald ein
Kind geboren ist , überlässt man es der Dienerschaft, etwa irgend einer
Griechin , der man einen oder zwei Sclaven zugiebt, nur zu oft die schlech
teste der Haushaltung, die zu keinem ernsten Geschäft geschickt sind. Die
Tollheiten und Irrthümer derselben sind nun die ersten Keime, die in den
weichen Köpfen sprossen , und kein Mensch im ganzen Hause bält es der
Mühe werth , auf das zu achten , was von dem jungen Kinde gesprochen
wird und geschieht. Ja noch mehr . Die Väter selbst , anstatt ihre Kinder
von frühester Zeit an an gute Sitten und an Bescheidenheit zu gewöhnen , sind
vielmehr die ersten , welche die Zerstreuungen derselben gut heissen , ja wohl
gar anordnen , die dann nach und nach den Rest der Scham und der Ach
tung vor sich selbst und Anderen entfernen .“ 1)
Wenig bekannt sind wir mit dem Erziehungswesen der alten Inder.
Aus vielen in ihren Schriften gefundenen Belegen ist zu erkennen , dass bei
ihnen eine Elternliebe herrschte , welche auch Strafen auf Vergehen kennt,
und dass die Kinder gegen ihre Eltern Liebe und Ehrfurcht hegten . Bei
spielsweise sagt ein altindisches Dichterwort: Ein Beter verneigt sich , „ wie
ein Knabe vor seinem herannahenden Vater , dem er seine Ehrfurcht bezeigt.“
Als Erziehungszweck galt, wenn ein Sänger als Geschenk eines guten Gottes,
1) Weiteres findet man in : Dr. Alb. Forbiger, Hellas und Rom . 1. Ahtheilung : Rom in Zeit
alter der Antonier. 2. Aufl. Leipzig , Fues' Verlag. Das 5. Kapitel bespricht die Kindererziehung
der alten Römer. – Friedländer, Sittengeschichte Roms. 2. Aufl. 1865. I. S. 31o .
11. Erziehung bei den Germanen. 351
das Soma einen Sohn bezeichnet, und dabei von den Eigenschaften seines
Sohnes sagt: „ Soma giebt die Milchkuh , Soma das Ross , das schnelle,
Soma den Heldensohn , den werkgewandten , der häuslich ist, tüchtig in der
Versammlung und tüchtig im Rath , seinem Vater Ruhm erweist – er giebt
solchen dem , der ihm huldigt.“ – Je nach den Jahren des Alters tummelte
sich wohl die lustige Kinderschaar im Hause „ gleich den schmucken Füllen
oder spielenden Kälbern im Stalle, so lange sie Milch trinken .“ Der Eltern
Zucht und Beispiel, Erfahrung waren die gemeinen, wenn nicht einzigen Er
ziehungsmittel für heranwachsende Kinder. ")
Unsere Vorfahren , die alten Germanen , mit deren Stämmen die Römer
durch langdauernde Kriege wiederholt in Berührung kamen , unterschieden
sich in ihrem Erziehungswesen vielfach von den oben genannten Natur
völkern . Im Allgemeinen ist uns freilich in dieser Beziehung nur Unvoll
ständiges bekannt, da die altrömischen Schriftsteller , wie Cäsar , Tacitus
U. S. w ., nur einzelne charakteristische Grundzüge berichten. Allein aus dem
Geiste , der alle germanischen Völker durchdrang , geht schon hinreichend
hervor , dass es besonders der Unabhängigkeitssinn , auf der anderen Seite
aber auch die Treue war, welche nach psychischer Richtung hin schon in
der Jugend ausgebildet wurden , während in physischer Behandlung des
Kindes sich das Bestreben kundgab , dessen Körper durchaus zu kräftigen
und ihn an Ertragung von Strapazen zu gewöhnen . – Der Grundzug des
germanischen Charakters war das Bedürfniss der Selbständigkeit des Ein
zelnen , sowie der Gemeinde und des ganzen Stammes . Daher zeichneten
sich die Germanen durch Achtung der Persönlichkeit (auch der weiblichen )
und durch Treue gegen die selbstgewählten Anführer und Genossen aus.
„ Die beiden Seiten des germanischen Lebens ,“ sagt Anhalt ), sind das
Gemeinde- und Geleitwesen . Während sich im Gemeindewesen der Trotz
der Unabhängigkeit , spricht sich im Geleitethum die Treue und Innigkeit
des deutschen Gemüths aus. Dort macht sich die Persönlichkeit in natür
licher Ausbreitung und in dem Stolze der Selbständigkeit geltend , hier ist
die unbedingte Anerkennung des Anderen die eigene Befriedigung.“ Sehr
bezeichnend sagt Tacitus 3) von den Germanen : „ Durchweg im Hause
nackt und dürftig wächst die Jugend heran zu dem Gliederbau , zu der
Leibesgestalt, die wir anstaunen . Jeden nährt der eigenen Mutter Brust,
nicht Ammen und Mägden werden sie ausgeliefert. Keine feinere Erziehung
scheidet den Herrn vom Knechte . Auf dem gleichen Boden wachsen beide
zwischen den Thieren des Hauses auf, bis das Alter den Freigeborenen ab
sondert, der innere Adel ihn hervorhebt.“ Von einem germanischen Volks
stamme, den Tenktrern , sagt Tacitus (c . 32 ) : „ Die Reitkunst ist bei ihnen
der Kinder Spiel, der Männer Wettstreit und noch der Greise Beschäftigung.**
In altgermanischer Zeit war somit das Kind nach Tacitus völlig allein
der Schule der Mutter übergeben und es blieb frei von Verzärtelung .
Gewöhnlich erzog man es , wie auch in Skandinavien in Gemeinschaft und
in Gesellschaft unfreier Kinder , mit denen es gleich behandelt wurde in
gleicbem Spiel und gleicher Beschäftigung. Im Norden war es allgemein
Sitte, dass die Eltern ihre Kinder Verwandten und Freunden zur Erziehung
übergaben und dazu gern geringere, als sie selbst waren , wählten . So übergiebt
Eirick von Hördaland seine Tochter Gydha einem reichen Bauer . Dieser
Erzieher (Fostri) übernahm die leibliche Pflege und sonstige Ausbildung
des Kindes, suchte ihm Alles was er verstand, zu lehren und seine Erfahrung
und Gewandheit ihm anzueignen. Lebensklugheit und der Anstand, die Zucht,
waren hierbei gewiss Hauptsache. Bei den Knaben kam natürlich die Aus
bildung in körperlichen Fertigkeiten und in der Waffenführung , bei den
Mädchen der Unterricht in den Runen und überhaupt den geheimen Künsten
hinzu . Eine ähnliche Sitte wie in Skandinavien mag in dieser Hinsicht auch
in Deutschland bestanden haben . Die Fürstentochter Gudrun wird zu
ihren Verwandten nach Dänemark wegen der Zucht geschickt, und
man übergiebt ihren Bruder Ortwin dem alten von Sturmland.')
Nachdem in früherer Zeit die Erziehung bei den Germanen lange
Zeit den Eltern allein als Aufgabe galt, kamen in späterer Zeit Zuchtmeister
auf, althd . Magaczogo, mhd. magezoge, zuerst ohne Zweifel nur für Königs
oder Fürstensöhne, später auch bei Vornehmen und Adel überhaupt. Kennt
niss der Gesetze und des Schriftthums verlangte gesonderten , durch Geist
liche geleiteten Unterricht, den namentlich Karl der Grosse förderte.2)
Ohne Zweifel wurden die Kinder der Deutschen in der Zeit bis in's
Mittelalter hinein so erzogen , dass die freiste Entfaltung ihrer jugendlichen
Kraft möglich war. Die Kinder waren nicht in dumpfe enge Stuben einge
engt, denn in den grossen Städten waren die Gemächer weit und hoch und
der Marktplatz breit, Anger und Trift boten sich zu Lauf und Spiel dar ;
auch in den Burgen nahm der Burghof, draussen der Wallgraben die spie
lende Jugend auf. Den Kindern der Edlen gesellte man Gespielen zu , meist
aus den Kreisen niederer Geschlechter. „ Hoher Herren Kinder“ sagt der
Pater Berthold von Regensburg , der im 13. Jahrh . seine Predigten hielt,
,,erhalten Zuchtmeister, die Jungfrauen Zuchtmeisterinnen , die allzeit bei ihnen
sind und sie Zucht und Tugend lehren. Ihr armen Leute könnt sie Euren
Kindern nicht halten . Da Ihr aber und Eure Kinder das Himmelreich eben
so nöthig habt, sollt Ihr sie selber erziehen .“ Und nun giebt er ihnen dazu
1 ) Weinhold , Die deutschen Frauen . 2. Aufl . 1882. S. 9o .
2 ) Götzinger, Reallexicon des deutschen Alterthums. Leipzig 1881. S. 93 .
11. Erziehung bei den Gerinanen . 353
Rath und Anschlag. In der Zeit, da das Kind zu sprechen anfängt , sollt
Ihr ein kleines Rüthelein bei Euch haben , das jederzeit in der Diele oder in
der Wand steckt, so sollt Ihr ihm ein Schnitzlein geben auf die blosse Haut.
Ihr sollt es aber nicht auf das blosse Haupt schlagen , wenn Ihr es nicht
wollt zu einem Thoren machen. Thut Ihr nicht also, so werdet Ihr Kummer
an dem Kinde erleben .“ Man brachte die jungen Mädchen wohl
auch in Frauenklöstern unter. Dort lernten sie von den Nonnen feine
weibliche Arbeit und die Kenntniss alter Legenden , Gebete und biblische
Geschichte . Im Mittelalter wurden in Deutschland die Töchter der Land
bevölkerung zum Hüten des Geflügels, zu kleinen Arbeiten im Hause und
Felde verwendet, sie lernten nothdürftig den Katechismus, kaum lesen, selten
schreiben . Anders freilich die Töchter der Vornehmen ; diese wuchsen ent
weder bei Pflegeeltern auf oder wurden der Obhut einer Erzieherin , Meisterin
oder Zuchtmeisterin übergeben , die zugleich über die gesammte weibliche
Umgebung des Fräuleins gesetzt war. – Wie die eignen Kinder des Frankenkönigs
Karl d. Gr. erzogen wurden , erzählt Einhard's Bericht : 1) Söhne wie Töchter
wurden in allen Kenntnissen, die er selbst zu gewinnen suchte , unterrichtet.
Die Töchter mussten ausserdem weben und spinnen lernen . Den wissen
schaftlichen Theil des Unterrichts leitete immer ein Geistlicher oder Mönch .
An den Höfen übernahm der Kaplan die Lehrstunden ; oft auch wurden die
Mädchen gleich den Knaben in Klosterschulen geschickt. Die Lehrzeit
begann mit 5, sogar mit 4 Jahren ; indessen fand die Unterweisung in den
Elementen der Wissenschaft bei den Germanen wenigstens in Bezug auf die
Knaben nur sehr schwer Eingang. Dem Manne gehören die Waffen ; sie
führen zu lernen und die Glieder des Leibes und damit die Seele zu stärken ,
war seine Erziehung ; das Weib hingegen mochte sich die Künste des
Lesens und des Schreibens aneignen . )
Die Ruthe war von jeher ein rechtes deutsches Erziehungsmittel; so
erklärt denn auch der Volksmund: Frische Ruthen , fromme Kinder ; Ruth
macht böse Kinder gut; kein Streich verloren , als der daneben fällt ; mit
den Ruthen schlägt man dem Hintern kein Bein entzwei u . s. w . Wenn es
dann noch heisst: Allzu gelind , zieht böse Kind so begreift man , dass
das Ruthenküssen eine ganz übliche Erziehungssitte war , welche Grimm
aus Geiler von Kaisersberg (Christl. Bilder ) nachwies : Wenn man ein
Kind houwt,“ sagt Geiler , „ so muss es dann die ruoten küssen und sprechen :
Liebe ruot, true ruot,
werestu , ich thet niemer guot;
sie küssent die ruot und springen darüber , jo sie hupfen darüber." Noch
in unseren Tagen hat die Kinderwelt dieses alte Sprüchlein als Reminiscenz,
(,,Ueberlebsel“ ) aus früher Zeit aufbewahrt ; A. Schleicher fand in der
Umgegend von Sonneberg in Thüringen , dass die Kinder sangen :
Liiwa ruut,
Mach mich guut,
Mach mich frum ,
Das ich nei is himela kum .
Vergl. den sich an das Schlagen mit Ruthen knüpfenden Aberglauben S. 208 .
Zur Zeit der Minnesänger blieben im Deutschen Reiche die heranwach
senden Kinder bis zum siebenten Jahre unter dem Schutze der Frauen in
der Kemenate ; selbst das Gesetz erkannte an , dass ein Kind bis zu diesem
Alter der mütterlichen Pflege nicht entbehren könne. Vor dem siebenten
Jahre durften die Kinder auch nicht am Tische ihres Vaters erscheinen .
Hatten sie dieses Alter erreicht, so begann die Erziehung : sie wurden in
der feinen Sitte, im höflichen Betragen unterwiesen . Ein dörfischer Lümmel
zu sein , galt für den höchsten Schimpf. Zur Bildung aber gehörten ausser einem
anständigen Benehmen die Kenntniss der gewöhnlichen Spiele , der Musik
und der Sprachen. Schon im zwölften Jahrhundert war es in Deutschland
Sitte, Franzosen zu engagiren, damit die Kinder von früher Jugend an dieses
schon damals als Umgangssprache so hoch geschätzte Idiom lernten . Wer
nicht persönlich um die Erziehung seiner Kinder sich bekümmern konnte,
übergab die Söhne einem Hofmeister und nahm auch für die Töchter eine
Dame an , die sich deren Beaufsichtigung und Unterweisung widmen musste.
Die Mädchen behielten ihre Meisterinnen bis zu ihrer Vermählung . Lesen und
Schreiben wurde den Kindern wohl auch gelehrt , aber wenige Männer , die
Höchststehenden abgerechnet, haben es in diesen Künsten weit gebracht; nur
die Damen scheinen in der Regel des Lesens kundig gewesen zu sein ; einige
verstanden selbst zu schreiben. Dabei wurde aber ihre Vorbereitung für
den Beruf der Hausfrau nicht vernachlässigt. Nähen und Spinnen und alle
weibliche Handarbeit mussten sie von früher Jugend an erlernen .")
1) Stambul und das moderne Türkenthum . Politische, sociale und biographische Bilder. Von
einern Osmanen. Leipzig 1877. – Ueber ,, Türkisches Kinderleben“ siehe in Murad Efendi ,, Türkische
Skizzen ." Leipzig 1877. A. Dürr. 2 Bde.
23 *
Die Erziehung der Kinder .
356
schulen , die erst unter Sultan Abdul Medschid gestiftet wurden , wird noch
etwas Geographie und Geschichte gelehrt , aber das Niveau dieser Schulen
reicht noch nicht einmal an dasjenige unserer Dorfschulen . Für die mora
lische Erziehung des Kindes geschieht sehr wenig , für die physische gar
nichts. Reichere Türken , von der Unzulänglichkeit dieser Schulen überzeugt,
halten ihren Kindern Hauslehrer , meist irgend einen Chodscha aus irgend
einer Medresse , der seine Zöglinge mit Ach und Krach nach 5-6 Jahren
dahin bringt, dass sie leidlich lesen und schreiben können , auch etwas
arabisch und persisch verstehen , im übrigen aber sie in ihrem Racenhoch
muth nur noch weiter bestärkt; es kommt auch zuweilen vor, dass der
Chodscha sich widersetzt , wenn der Vater für den Unterricht seiner Kinder
in fremden Sprachen , Geschichte , Mathematik , Zeichnen , Musik und ähnlichen
Lebrgegenständen noch europäische Lehrer engagiren will."
In den türkischen Provinzen Kleinasiens wächst das Kind unter
Bedingungen auf, die schlimmen Einfluss auf dessen Charakter ausüben .
Während bei uns das Kind auf den Bürgermeister , Pastor oder Lehrer mit
heiligem Respect schaut , sagt es sich : > Wenn ich fleissig und ordentlich
bin und etwas Tüchtiges lerne, so kann ich es auch vielleicht noch so weit
bringen .“ So erhält das junge Geschlecht etwas Ideales. Im Orient aber
erhebt sich auf der einen Seite die Furcht: „ Der Mann kann uns schaden,"
auf der andern Seite der Hass: „ Der Mann hat uns schon viel Unrecht
gethan .“ Da tritt denn in der Kinderseele die Vorstellung hervor: „ Um ein
solcher Mann zu werden brauche ich nicht Fleiss, nicht Tüchtigkeit , nur
Geld , nur Geld ." )
Die semitischen Völkerschaften befolgen in ihren Erziehungsmethoden
keine ihnen allen gleichmässigen Gebräuche. Im Allgemeinen werden die
Kinder der Semiten recht liebevoll behandelt und erzogen ; der Familiensinn
ist bei ihnen sehr ausgebildet und erzeugt schon im Kinde warme Anhäng
lichkeit an die Eltern , eine natürliche Neigung , welche durch gewisse von
der Religion für die Erziehung vorgeschriebene Maassnahmen ganz besonders
zur Ausbildung gelangt. So finden wir es bei den alten und neuen Juden .
Jedoch gelangte auch bei manchen semitischen Völkern die Erziehung nur bis
zu einer Art Abrichtung, wodurch es dann kommt, dass schliesslich nach Beendi
gung der für die Erziehung bestimmten Jahre der Sinn für weitere Ausbildung
ganz fehlt . So hält es beispielsweise Eugene Gelliow -Danglar ) für
erwiesen , dass der egyptische Semite bis zum 15. oder 16. Lebensjahre
intelligent und bildsam ist, während sich nach dieser Zeit sein Gehirn gegen
den Eintritt weiterer Gedanken zu verschliessen scheint.
Das Familienleben der Tscherkessen ist orientalisch . Die verhei
ratheten Frauen leben ziemlich in derselben Abgeschiedenheit , wie überall
im Orient. Auch die Kinder bleiben nur bis zu einem gewissen Alter in der
Familie und werden dann einem Vasallen zur Erziehung übergeben , der dafür
1) Ausland 1877. S. 137.
2 ) Lettres sur l'Egypte contemporaine. Paris 1876.
12. Erziehung bei Orientalen . 357
keine andere Entschädigung zu beanspruchen hat als die Ehre, durch dieses
Verhältniss in eineArt von verwandtschaftlicher Verbindung mit der Familie seines
Zöglings, besonders mit diesem letzten zu treten . Diese Erziehung verhindert
natürlich jede Verzärtelung, und der Vasall, der sich einer Vernachlässigung
in der Erziehung eines Fürstensohnes, namentlich aber in der Uebung des
selben in allen ritterlichen Künsten schuldig gemacht , oder einen nicht eben
bürtigen Mann für die seiner Erziehung anvertraute Tochter gewählt hätte,
würde zu schwerer Verantwortung gezogen werden . Als ein ganz besonders
glückliches Resultat einer vollendeten Erziehung wird es betrachtet, wenn
der Zögling so weit gewitzigt worden ist, dass er, nachdem er seinen Erzieher
tüchtig bestohlen hat, unbemerkt entweichen kann . Der gewandt und kühn
ausgeübte Diebstahl ist bei ihnen eben so wenig ein Verbrechen wie bei den
Spartanern . – Von einer geistigen Ausbildung ist hierbei natürlich keine
Rede und die Wenigsten kennen den Gebrauch der Schrift.")
Das Alles, was wir oben ( S. 347) über die alten Perser berichteten , bat
sich im jetzigen Persien zu einem ganz anderen Bilde gestaltet. Der
Einzug des Mohammedanismus und die Missregierung förderten zugleich die
sociale Verderbniss und Verweichlichung. Das Ziel und die Aufgabe der Er
ziehung ist nicht mehr Streitbarkeit, körperliche Abhärtung und Förderung
des Gerechtigkeitssins, vielmehr äusserlich anständiges Gebahren und ober
flächliche Bildung .
Die häusliche Erziehung der Perser schildert Dr. Polak , der lange Zeit
am persischen Hofe weilte , doch auch einen Einblick in das Innere vieler
Privathäuser erhielt, in folgender Weise : „ Die Zeit bis zum siebenten Jahre
bringt das Kind in Gesellschaft der Mutter , der Mägde und Sclavinnen im
Harem zu , und zwar meist mit Spielen unter freiem Himmel. Das Gemisch
der sich tummelnden Kinder, verschieden an Alter, Geschlecht und Hautfarbe,
und des zahlreichen Hausgeflügels macht auf den Besucher den Eindruck
einer kleinen Menagerie. Nicht selten fällt das Kind in das offene Bassin ,
welches die Mitte des Hofraumes einnimmt, und kommt auch wohl, wenn
nicht Hülfe bei der Hand ist, darin um . Kinder der ärmeren Klasse bewegen
sich ohne alle Aufsicht vor den Häusern oder auf den Misthaufen in den engen
Strassen . Die Kinder begleiten oft die Mutter in die öffentlichen Bäder. Im
siebenten Jahre verlässt der Knabe den Harem , um sich von nun an im Birun
(Männergemach ) zu bewegen. In den vornehmen Ständen erhält er einen
Ludimagister (laleh), der ihn in den Regeln des Anstandes (adab ), im Lesen
und Schreiben, im Koran und im Verständniss der Nationaldichter unterrichtet.
Vor allem wird ihm das Ceremoniel des äusseren Benehmens eingeprägt.
Er soll in Gegenwart von älteren Leuten sich ruhig verhalten, nicht kindische
Fragen an sie richten , überhaupt nicht widersprechen , sondern von Jugend
auf eine altkluge Würde behaupten . In Abwesenheit oder nach dem Tode
des Vaters sieht man oft schon den achtjährigen Sohn den Ehrenplatz als
Chef der Familie einnehmen , die Eintretenden begrüssen , sie nach ihrem Be
finden fragen und die Diener anweisen , Kaffee und Pfeifen für die Gäste bei
zubringen . Jener kindliche Muthwille , die Lebhaftigkeit, welche uns in
Europa an Knaben jugendlichen Alters erfreut, wird in der persischen Jugend,
besonders in Gegenwart von Fremden , streng getadelt; man verbietet den
Kindern jede rasche Bewegung und erzieht sie zu phlegmatischer Ruhe."
In Altägypten war das innere Familienleben , wie es scheint, fromm
und liebevoll. In einem der Grabmäler von Gurnah sieht man , nach dem
Berichte des Champollion - Figeac ') das Innere eines Hauses gemalt.
Eine Familienmutter kommt mit ihren drei Töchtern verschiedenen Alters,
begleitet von einem alten Diener und einer nicht mehr jungen Dienerin, nach
Hause. Sie gehen durch das erste Zimmer in das zweite , an das mebrere
andere stossen ; drei junge dienende Frauen kommen ihnen entgegen und
bieten ehrfurchtsvoll Früchte und Erfrischungen an . Im Vorzimmer trinkt
eine der drei Töchter, während die Dienerin einem kleinen Mädchen und
einem kleinen Knaben , die beide nackt ihrer Mutter an die Thür entgegen
gelaufen waren , Blumen und Spielwerk vertheilt.
In Oberägypten werden nach Klunzinger die Kinder in Ehrfurcht
erzogen , die uns oft despotisch erscheint. In Gegenwart des Vaters zu
rauchen , zu sitzen , mehr als nothwendig ist , zu sprechen , wäre frevelhaft.
Sind Gäste da, so isst der Sohn nicht mit, sondern bedient; nur auf beson
deres Verlangen des Gastes darf er theilnehmen . Der jüngere Bruder hat
sich ebenso gegen seinen älteren zu benehmen .
Man schickt in Aegypten die Kinder frühzeitig zur Kettab (Schule),
woselbst sie von einem Figi oder Schullehrer, oft sehr roher und unwissender
Art, im Lesen , Hersagen des Koran und im Rechnen, schon seltener im
Schreiben , unterrichtet werden . Ein Knabe, welcher Lesen lernt, muss
auf dem Boden hockend seine mit Buchstaben oder Koransprüchen be
schriebene Holztafel vor sich auf den Knieen halten und seine Lection laut
herschreien , wobei er mit seinem Oberkörper pagodenmässig hin und her
zu wackeln pflegt; geht es zu langsam , so saust die Peitsche des Figi da
zwischen. Töchter erhalten eine nur dürftige Geistesbildung ; sie lernen
selten Lesen und Schreiben und kaum je mehr, als das Aufsagen einiger
Koranstellen .2)
Die Aufnahme des Schulunterrichts in das Erziehungswesen kommt
bei einer nicht geringen Zahl asiatischer und nordafrikanischer Völkerschaften
vor. Freilich sind die Methoden des Unterrichts zum grössten Theil noch
ganz primitiv . Sie mögen wohl in vieler Hinsicht den noch im alten Rom
gebräuchlichen Einpaukereien gleichen , wo der Ludimagister seinen Bakul
über die Häupter der plärrenden und buchstabirenden Kinderschaar schwang.
1) Gemälde von Aegypten . Nach Champollion - Figeac. Mit Abbild . Frankf. a. M. 1839
S. 293.
2 ) Hartmann, Naturgeschichtl.-medicin . Skizze der Nilländer. II. Abth . Berlin 1860. S. 229
12. Erziehung bei Orientalen . 359
Das Lehren ist da noch keine Aufgabe einer gesunden Pädagogik , sondern
nur ein handwerksähnlicher Beruf.
Unter den Nayers in Malabar wird das Kind im 5. Jahre in die
Schule geschickt; der Schulmeister empfängt ein Geschenk von rohem Reis
und plattem Reis, Bananen u . s. w . Die Kinder lernen zuerst die Buchstaben
mit dem Zeigefinger in flach auf dem Boden ausgestreuten Paddi (Reis mit
Hülsen), dann in Sand malen , später mit eisernem Griffel in Palmenblätter
einritzen oder in neuester Zeit) auf Papier schreiben . Ausser malayischem
Lesen und Schreiben pflegen sie in den Volksschulen nicht viel zu lernen ;
Rechnen gilt für höheren Unterricht und wird , wie auch Sanskrit, gewöhnlich
in besonderen Schulen gelehrt. Reiche Kinder gehen zuweilen bis zum 16 .
Jahre in die Schule (Jagor).
Sobald bei den Battah's in Indien ") das Kind im Alter ist, wo es
etwas lernen soll, schicken die Häuptlinge oder die reichen Einwohner des
Dorfes ihren Sprössling zu einem Mann, der geschickt ist, ihm das Schreiben
zu lehren . Es ist sehr zu beachten, dass ein so barbarisches und grausames
Volk (sie sind Menschenfresser) auf eine solche Erziehung hält; freilich
erstreckt sie sich nur auf Schreiben, die Kenntniss einiger Gesetze und die
Führung der Waffen.
Sir Forsyth besuchte bei seiner Gesandtschaftsreise nach Turkestan
in Jarkand eine Schule : in dem kleinen Lehmhause standen auf einem Raume
von 20 Fuss Länge längs der Mauern , eine über der anderen, zwei Reihen
Bänke, auf welchen etwa 20 Kinder hockten , die damit beschäftigt waren ,
eine Stelle aus dem Koran auswendig zu lernen . Alle recitirten zu gleicher
Zeit ihre Lection , was einen ziemlichen Lärm verursachte.
In Ost- Turkestan sendet man die Kinder im Alter von 8-10 Jahren
in die Schule, ein niedriges, schlecht gelüftetes Erdgeschoss in einer belebten
Strasse, wo die Kinder, die Knaben auf der einen , die Mädchen auf der
anderen Seite, auf treppenförmig sich erhebenden Tritten kauern. Man lehrt
den Kindern lesen und schreiben , den grössten Theil der Zeit nimmt das
Einüben der Gebete in Anspruch. Der Lärm dabei ist unglaublich gross.
Die Schulen sind Privatunternehmungen, doch üben Geistliche und Beamte
auf die Eltern einen Druck aus, damit Jeder lesen und schreiben lerne.
Höhere Lehranstalten , Madrassa , finden sich mehrere in jeder grösseren
Stadt, auch hier wird jedoch zu viel Gewicht auf die Religion gelegt.2)
In Kaschgar werden nach Papier 3) die Kinder aller Bevölkerungs
kiassen mit einer gewissen Sorgfalt unterrichtet. Im 8. Jahre wird das Kind
in die Elementarschule geschickt, mit dem 14. Jahre geht es in ein Collegium
oder Madrassé, wo es Medicin , Jurisprudenz, Theologie, Geschichte und
Poesie gelehrt erhält ; mit dem 16. Jahre besitzt es bei seinem Abgang einen
Fonds mannichfacher und solider Kenntnisse ; allein die Studien über physi
Mit einem gewissen Rechte hat Alcock Japan ,, Das Paradies der
Kinder“ genannt. Ihre Erziehung wird mit grosser Ruhe und Milde geleitet.
Heftige Affectsäusserungen und körperliche Züchtigungen sind gesellschaftlich
verpönt. Wenn eine Nation in diesem Punkte es weit gebracht hat, so ist
es die japanische. Hier werden die Eltern zu Kindern und freuen sich ebenso
am Kreiselschnurren , Drachensteigen u . s. w . wie diese. Es ist ein schöner
Anblick , an sonnigen Nachmittagen Schaaren des Volkes, festlich geschmückt ,
familienweise heranrücken zu sehen , um sich des schönen Anblicks zu er
freuen , den ihnen etwa eine bei schön gelegenen Theehäusern zur Blüthe
gekommene Lieblingspflanze gewährt: „ Welche friedliche , glückliche Stimmung
spiegeln nicht die Gesichter ab bei Jung und Alt ! Wie unablässig bemüht
sind nicht die Eltern , den Kindern Freude zu machen, an ihren Spielen Theil
zu nehmen , sie mit Süssigkeiten zu versehen !“ 1) In der Kinderstube wer
den Geist und Imagination durch Märchen und Heldensagen geweckt.
Das Mädchen wird bei den Japanern schon lange vor der Menstruation
von den Knaben beim Unterricht abgesondert; es hört auf, mit denselben zu
spielen , es tritt unter die Obhut der Mutter und der Obassans (alten Tanten
und sonstigen Verwandten des Hauses). Von diesen wird sie auch über die
Bedeutung des Vorgangs der Menstruation unterrichtet und erfährt, was sie
beim Eintritt derselben zu thun hat (Wernich).
Bei den Aïnos, einem in Japan lebenden eigenthümlichen , rohen Urvolke,
wird von den ersten Lebensjahren an strenger und unbedingter Gehorsam
von den Kindern verlangt, daneben von den Knaben das Befolgen der her
gebrachten Höflichkeitsformen . Einen höchst sonderbaren Anblick soll es
gewähren, wenn auch die kleinsten dieser nackten, braunen Geschöpfe, die
sich noch kaum auf den Füssen zu halten vermögen , bei jedesmaligem Ver
lassen oder Betreten des Hauses alle Anwesenden , mit Ausnahme ihrer Mutter,
der Reihe nach mit den vorgeschriebenen Handbewegungen begrüssen. )
Der sanfte Charakter der Aïnos bringt es aber auch mit sich , dass
im häuslichen Verkehr Keiner, sei es Mann oder Weib oder Kind, eine ent
schieden bevorzugte oder eine entschieden unterdrückte Stellung einnimmt.
Die väterliche Autorität erscheint naturgemäss als die leitende, wie es in
Japan der Fall ist, die allein maassgebende zu sein . Die Mutter ist für die
Töchter, was der Vater für die Söhne ist : sie unterrichtet die Töchter in
allen häuslichen Arbeiten , besonders im Sticken und Weben . Die Söhne
hingegen müssen schon in früher Jugend den Vater in den Wald , auf die
reissenden Flüsse und auf das offene Meer begleiten , um von ihm die Kunst
des Bogenschiessens und des Fischfangs zu erlernen . Der willige, von Furcht
freie Gehorsam der Kinder gegen die Eltern kann bei den Aïnos ebenso sehr ,
wie bei den Japanern , rühmend hervorgehoben werden . Das „ ungezogene
Kind scheint auch bei den Aïnos, wie in Japan, unbekannt zu sein.3)
In China ist das Verhältniss zwischen Kindern und Eltern das Erste
und Wichtigste, welches die Gesetze feststellen , und das Gesetz ist dort der
unmittelbare Ausfluss des kaiserlichen Willens. Als die Grundlage aller bäus
lichen und bürgerlichen Tugend, als Wurzel des Staatswohls wird die kind
liche Liebe betrachtet, und die väterliche Gewalt ist unbeschränkt. Den
Eltern ist es dagegen zur Pflicht gemacht, dass sie ihre Kinder unterrichten
und zu Menschen , d . h. zu echten Chinesen erziehen , deren höchste Kunst
im mechanischen Nachahmen , deren feinste Bildung in geselliger Höflichkeit
und pedantischem Ceremoniell bestehen . Hierauf geht aller Unterricht aus,
und freie Bewegung ist dem jugendlichen Wesen nur in geringem Grade
gestattet.
Bei der Erziehung ihrer Kinder halten die Chinesen sich streng an den
Spruch : „ Wer die Ruthe schont, verdirbt sein Kind.“ Die grösste Liebe
zu den Kindern hindert die Eltern nicht, dieselben unbarmherzig zu züchtigen .
Stirbt ein Kind an der erlittenen Strafe, so werden die Eltern nicht zur
Verantwortung gezogen . Unter der Flussbevölkerung ereignet es sich oft,
dass aufgebrachte Mütter ibre schlimmen Kinder in's Wasser werfen und,
wenn dieselben sich an die Boote klammern , wüthend zurückstossen , bis sie
ertrinken . Die Chinesen halten die Bestrafung ihrer Kinder, falls die Noth
wendigkeit dazu eintritt, für eine wichtige Pflicht. Daher rührt es, dass
selbst den Söhnen vornehmer Bürger zuweilen zu Hause Fesseln angelegt
werden , wenn sie spielsüchtig sind oder anderen lasterhaften Neigungen
fröhnen . Eine andere Bestrafung besteht darin , dass man dem Knaben seinen
Antheil an dem Schweinefleisch vorenthält, das alljährlich unter die Familien
mitglieder vertheilt wird, wenn sie von der Anbetung der Gräber der Vor
fahren zurückkehren. Viel strenger noch werden die Kinder bestraft, die
ihre Eltern schlagen ; zuweilen werden sie sogar enthauptet.")
Die alten Chinesen machten , wie Plath ) nachwies, in der Erziehung
der Knaben und der Mädchen grosse Unterschiede; jene wurden mehr für
die Aussenwelt, diese für die Häuslichkeit erzogen . Das Mädchen wird ferner
nach Angabe des alten Buches Li-ki Nei-tse angewiesen , langsam Yü (Ja )
zu antworten , der Knabe schnell Wei (Ja ). Sie soll sanft reden , freundliche
Gesichter machen , den Befehlen gehorchen , Seidencocons abwickeln , nähen,
weben , Kleider machen und alle Frauenarbeiten thun. Eine ältere Frau (Mu,
die Frau Mutter genannt) lehrt dem Mädchen Artigkeit in Worten und Ma
nieren, zu hören und zu folgen , die Hanfsorten zu behandeln , Seidencocons
abzuwinden, zu weben und Quasten zu machen . Ausser der Anfertigung von
Kleidern lernen die Mädchen die Opfer zu besorgen und den Wein , die Reis
brühe und die Bambusgefässe mit Opfergaben zu präsentiren , ebenso Gefässe
mit eingemachten Früchten und die Gebräuche, um bei den Libationen mit
auszuhelfen . Die Pflichten der Kinder gegen die Eltern sind durchgängige
Aufmerksamkeit, völlige Hingabe an den Vater, mit Verläugnung aller Selb
1) L. Katscher, Bilder a. d . chinesischen Leben . Leipzig u . Heidelberg 1881. S. 54
2 ) Joh. Heinr. Plath , Ueber die häusl. Verhältnisse der alten Chinesen. München 1863. S. 34 h .
12. Erziehung bei Orientalen . 363
1) H. Scheube, Das häusliche Leben in Frankreich . Aus dem Englischen . Berlin 1876. S. 7.
13. Erziehung bei modernen Culturvölkern. 365
lernt das Mädchen ein Weib werden etc.“ Viel härter lautet das Urtheil des
Engländers über die Erziehung der Knaben in Frankreich : „ Es würde im
Princip unverständig sowohl, als ungerecht sein , wollten wir sagen , dass alle
französischen Knaben Schleicher sind ; allein so viele derselben sind dies in
der schlimmsten Bedeutung dieses hässlichen Wortes, dass selbst die eifrigsten
Freunde Frankreichs sich wider ihren Willen zur Constatirung der Thatsache
genöthigt sehen und zugeben müssen, dass die grosse Mehrzahl der Knaben
in Frankreich entsetzlich schlecht ist, wenn man den englischen Maassstab
anlegt und danach in's Auge fasst, was Knaben eigentlich sein sollten . Das
Uebel rührt wesentlich von der mangelhaften Unterweisung her. Die einzigen
Knaben in Frankreich , die im Allgemeinen unsere Begriffe von Muth , von
Mannhaftigkeit und Ehre verwirklichen , sind die Kinder von Landedelleuten
( deren es nicht eben viele giebt), die reiten und schiessen lernen , sich im
Freien bewegen und angehalten werden , sich wie Männer zu betragen .
Weitaus die meisten aber sind unstreitig kleine Schurken , Feiglinge und un
gezogen . Wie können dergleichen Knaben jemals zu braven Männern er
wachsen ? Im Allgemeinen haben die französischen Knaben etwas mädchen
haftes. Um mit ihnen zu plaudern , sind indess viele von ihnen angenehm
genug . Sie haben meist gute Manieren (darin sind sie uns überlegen ), sind
fast immer zärtlich und liebevoll, selbst leidlich gehorsam und scheinen somit,
wenn man nach dem Aeussern urtbeilt , das Beste zu versprechen . Sie sind
gute Söhne und treue Brüder ; sie sitzen fleissig über ihren Büchern , sagen
ihre Gebete auf, so lange sie klein sind, allein es ist kein rechtes Zeug in
ibnen . Sie dürfen ja nicht, wie ordentliche Knaben , mit einander balgen und
versteigen sich selten weiter, als zum Kratzen . Die Disciplin macht sie
tapfer, wenn sie Soldaten werden .“
Russland bildet in culturhistorischer Hinsicht gewissermaassen den
Uebergang vom Occident zum Orient; die Bevölkerung ist von der euro
päischen Civilisation angehaucht, huldigt aber noch vielem barbarischen
Brauche asiatischer Völker ; seiner Gesittung ach kann man es als „ Halb
asien “ bezeichnen . Am deutlichsten kommen diese Culturzustände bei der
Erziehung zur Erscheinung. – Ueber die russische Erziehung lässt sich
ein patriotischer Altrusse in der conservativen Moskau'schen Zeitung also
vernehmen : Was soll man vollends von unserer Jugenderziehung sagen ?
Die Intelligenz erzieht ihre Söhne und Töchter im Geiste des Occidents :
das Kind plappert von der frühesten Jugend an französische, deutsche und
englische Verse her, das Vaterunser kennt es nicht. Die unterste Volksklasse
weiss nicht, wie ihre Kinder gelenkt werden , und in den Dorfschulen treiben
materialistisch gesinnte Lehrer ihr Wesen . Familienleben wo bleibt das ?
Die Kinder brauchen blos in eine höhere Classe ihrer Lehranstalt hinüber
zu kommen , um die Väter als abgelebt anzusehen und sich über sie lustig
zu machen ; 16–17jährige Jungfrauen aber suchen selbständige Arbeit und
vertiefen sich bis über die Ohren in die Naturwissenschaft. Alles das, was
man früher in Gegenwart eines Mädchens nicht erwähnen durfte, setzt ein
366 Die Erziehung der Kinder .
Schule auch Einfluss auf die häusliche Zucht haben kann . Allein noch be
stehen im Volke manche recht unvollkommene Anschauungen über die Auf
gaben der häuslichen Erziehung .
„ Auf die Erziehung,“ sagt ein Berichterstatter aus dem Fränkisch -Henne
bergischen ,') „ wird heutzutage weit mehr Sorgfalt verwendet, als dies in
früheren Zeiten geschah und möglich war. Doch treibt man auch hier die
Sparsamkeit zu weit. Auch traut man gewissen äusseren Erscheinungen
und Handlungen unfehlbare , unerklärliche Wirkungen zu . Sucht z . B. das
Kind auf Johanni Kümmel, so wird es gescheit. Will das Kind durchaus
nicht gehorchen , so droht ihm die Mutter und spricht (in Meiningen ) : Du
kömmst in die Betterhell on muhst stänerne Hütes on Steckno-edelsbrüh
ess etc.“
Welche Rückwirkung erzieherische Fehler auf den Geist der Nation
haben , setzte Lazarus in seinem Buche „ Das Leben der Seele" aus
einander :
„ Der Mensch als Einzelwesen findet , wenn er als solches zum Selbst
bewusstsein gelangt und aus kindlichem Thun herausschreitet, in sich selbst
eine Summe von Anschauungen und Vorstellungen , die er aus der Familie,
aus dem Volke schöpfte, worin er lebt, und die sich forterbt von Geschlecht
zu Geschlecht zum Guten oder Schlechten , je nachdem die Söhne das geistige
Erbe der Väter wachsen oder erstarren issen : so ist auch das inzelne
Volk , obgleich individuell, nur relativ selbständig und athmet und entfaltet
seine Entwickelung nur als Theil des Ganzen .“
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL .
Der Sinn für Feste ist ein recht allgemeiner , ziemlich über die ganze
Erde verbreiteter. Es mag nur wenige Völker geben , welche es unterlassen ,
ihren Gefühlen bei besonderen Ereignissen durch gemeinschaftliche Veran
staltungen lauten Ausdruck zu geben . Seitdem sich der Mensch dem Menschen
gesellte , seit die Familie besteht, seit die Völker entstanden , wurden Feste
gefeiert. Eine pseudonyme Dame?) äuſserte in dieser Beziehung neulich ganz
treffend : „ Kein Volk , kein Stand, kein bewusstes Lebensalter fehlt in dem
gewaltigen Chor, in welchem , dem Himmel sei Dank , die Jubeltöne über
wiegen . Aber aus diesem Bedürfniss nach äusserer Manifestation starker
1. Das Osterfest.
dere mit der Spitze seines Ei's darauf schlägt. Der, dessen Ei eingeschlagen
wird , muss es an den glücklichen Gewinner abtreten , so dass man mit Hülfe
eines recht starken Eies zu einem ganzen Vorrath gelangt. Im sächsischen
Vogtlande macht der Jugend das sogenannte „ Eierhärten“ Spass. Schon
vier Wochen vor Ostern sehen sich die Buben nach harten Eiern um und
bezahlen ein solches , das eine recht feste Schale hat, ziemlich theuer . Er
scheint nun Ostern , so versammelt sich die ganze Jugend und das Härten
beginnt. Ehe jedoch der eine mit dem anderen härtet, nimmt er das Ei des
Gegners und pocht damit gegen die Zähne, indem er dabei mit der einen
Hand das Ohr zubält, um die Stärke der Schale zu prüfen . Glaubt er nun ,
sein Ei sei. härter, so härtet er mit dem Gegner „ auf Rück und Spitz“ , oder
blos „ auf Rück oder Spitz,“ d . h . sie schlagen entweder sowohl mit der
Spitze als mit der unteren Seite der Eier oder nur mit der oberen und un
teren Spitze zusammen . Der, dessen Ei zerbricht, hat verloren. Wer dabei
betrügt, z. B. sein Ei mit Pech ausgegossen hat , wird jubelnd vom Platze
vertrieben . Jetzt hat diese Lust sehr abgenommen , da die Polizei solchen
Lärm nicht auf öffentlichem Platze duldet (Spiess).
In manchen Gegenden , in welchen das Verstecken und Aufsuchen der
angeblich vom Hasen gelegten Ostereier nicht gebräuchlich ist, spielen die
Ostereier eine andere Rolle . So unterhalten sich in der Lausitz Jung und
Alt mit dem sogenannten „ Wâleien,“ einem Spiele , bei dem auf einer ab
schüssigen , 5 oder 6 Fuss langen , oben drei Hände breiten , unten sich herz
förmig erweiternden Bahn (Wâlei) Eier herabgerollt werden . ) Jede von den
8-10 am Spiele sich betheiligenden Personen hat ihr wohlgezeichnetes
Osterei, das sie kunstgerecht von oben hinunterkugeln lässt an das Ende der
Bahn , das in drei oben offene Abtheilungen ausläuft. Wessen Ei getroffen
ist, der hat es aus der Abtheilung herauszunehmen und hat an den, welcher
es mit dem seinigen getroffen hat, Busse (einen Pfennig oder eine Stecke
nadel) zu zahlen . Lübben , wo dieses Spiel besonders eifrig betrieben wird ,
hat dazu seinen eigenen Spielberg , dünenartig aus reinem Sande gebildet
( F. Weineck ). Ausser dem „ Härten ,“ d . h . dem Aneinanderschlagen mit
der Spitze unter der Bedingung, dass das zerbrechende Ei dem Gegenpart
gehöre, giebt es für die Kinder in der Oberpfalz noch das „ Ringeln :“ Es
werden hierbei mehrere Eier, von jedem Mitspieler eines , in einiger Entfer
nung neben einander aufgestellt; es wird dann von den Mitspielenden von
einem flachgehaltenen Brett aus ein Ring gegen die Eier losgelassen und
wer so ein Ei trifft, darf es behalten . 2) Das Werfen der Eier in die
Wanne auf 50-60 Schritt war ehemals ein Oster - Vergnügen der Kinder in
Schwaben (Birlinger ); auch warfen dort die Kinder die bunten Ostereier
auf der Wiese, wobei es darauf ankam , das Ei so zu wenden , dass es auf
1) Interessant sind die Analogien , dass auch bei den Wotjäken zu Ostern sowohl die Kinder
mit Eiern kollern , als auch die Eier auf dem Felde (zugleich mit dem Korn ) ausgesäet werden , wo
sie die Kinder aufsuchen. Vgl. Dr. Max Buch im Globus 1881. XL . S. 285.
2 ) Albert Bierling, Erinnerungen aus der Oberpfalz . Weiden 1878.
24 *
372 Kinderfeste und ihre Bedeutung.
eine Spitze fällt und nicht zerbricht. Im Saterlande (Oldenburg ) wirft man
ebenfalls mit Eiern auf Wiesen , und wer in Jever sein Ei am weitesten wirft,
bekommt die Eier der übrigen (Strackerjan). Das ,, Eierwalzen " besteht
auch an einigen Orten des bairischen Vogtlandes in der Gegend bei Bayreuth
(Köhler). In Ostfriesland wird von den Kindern das Osterfest in ver
schiedenen Gegenden in verschiedener Weise begangen . Hier wird gehickt,
d . h . zwei Knaben ' messen durch Aufschlagen ihrer Eier die Stärke derselben
und das schwächste fällt dem Gegner zu . Dies findet besonders in Emden
statt . In anderen Städten und Dörfern , wo , wie auf der Geest, das Terrain
etwas eben ist, lässt man die Eier von einer vorhandenen oder gemachten
Höhe hinter einander berrollen und sich treffen , und das dabei verletzte fällt
dem Gegner zu. An diesem Spiel betheiligen sich auch die Mädchen . Auf
der Insel Borkum suchen sich Mädchen und Knaben eine recht moosreiche ,
folglich weiche Stelle der Gemeindewiese aus, und werfen dort mit der
Schleuder die Eier hoch in die Luft. Dabei wird gesungen :
Gele Dole (gelber Dotter) gele Dole, Kiewitsei,
War is mien Ei?
War blift mien Ei?
War is mien Pinkster- un Paaske (Ostern ) -Ei??)
In Kurland ist das „ Eierkullern" in hohem Grade beliebt. Es wird
nämlich der Fussboden mit weichen Tüchern bedeckt und auf diese ein schräg
gerichtetes Brett gelegt. Nun lässt man der Reihe nach die Eier das Brett
herabrollen. Trifft ein herabgerolltes Ei ein , zwei oder drei der schon
liegenden , so gehören diese Eier dem Besitzer des Rollenden . Spielt man
ungeschickt oder mit besonderem Unglück , so kann man in kurzer Frist um
seinen ganzen Vorrath kommen (Th. Hermann).2)
In einem alten Schriftchen : ,, Das Augsburgische Jahr einmal,“ das in
Knittelversen die Festfreuden der Kinder aufzählt, heisst es :
„ Kommt Ostern , so legt Eier der Has
Sowohl in Häusern als im Gras.
Am Osterdienstag, man darf's glauben,
Ist's eine Freude um's Eierklauben "
day, and to open the sports of the season with a chorus of bagpipes and
moneen dance. " )
Nach Friedel in Berlin findet sich auf dem Hausberg bei Eberswalde,
Kreis Oberbarnim , ein sonderbarer Irrgang aus verschlungenen Rasenstücken
gebildet, auf denen früher Steine gelegen haben . Um Ostern laufen oder
besser hüpfen Kinder durch ihn ; wer sich herausfindet, ohne überzutreten
oder sich zu verwirren , bekommt ein Ei zur Belohnung . Solche aus Hecken
oder Rasen gebildete Irrgänge (Labyrinthe) scheinen in heidnischer Zeit mit
dem Naturgottesdienst zusammen gehangen zu haben ; darauf deutet ihre Be
nutzung an bestimmten Festtagen , z. B. an Ostertagen .
Unweit Samaden (im Oberengadin ) am Inn pflegen die Kinder der Um
gegend am Morgen des Palmsonntags Weidenzweige (von Seidelbastweide)
mit eiförmigen Kätzchen olivas – zu suchen und in die Dörfer zu tragen ,
wo man sie als Zeichen des herannahenden Frühlings in den Stuben auf
bewahrt und ehrt.
Wenn die Natur um Ostern aus ihrem winterlichen Schlaf erwachte , so
jubelte bei unseren heidnischen Vorfahren Alles der sich verjüngenden Zeit
entgegen . Man verbrannte eine Strohpuppe, die den Winterriesen darstellte,
in feierlichem Aufzuge. Die Asche des Osterfeuers wurde in's fliessende
Wasser geschüttet, nicht aber auf die Felder gestreut. Bis in die neue Zeit
hat sich diese symbolische Feuerweihe des erwachenden Frühlings im Volke
erhalten .
Das noch hier und da, z. B. in Oldenburg, gebräuchliche Anzünden der
Osterfeuer ist nunmehr meist den Kindern überlassen. Schon Wochen lang
zuvor schleppen die Knaben hierzu das Holz zusammen , theils plündern sie
die Zäune , theils betteln sie die Scheite zusammen, indem sie in possierlicher
Verkleidung von Haus zu Haus gehen unter dem Absingen von Osterbettel
liedern .
Auf der kleinen Insel Marken an der holländischen Küste gegenüber
von Monnickendamm haben die Kinder ihre Festtage , an denen sie in Reihen
tanzen , SO am Niklastage, dem 30. April, an welchem auf allen Deichen
grosse Feuer angezündet und von den Kindern umtanzt werden , wie de Coster
berichtet. )
Die in slavischen Gegenden , z. B. in Schlesien , Ostpreussen u . s. w .
üblichen Schmackostern (Schmeckostern ), aus Weidenruthen geflochtene ,
mit rothen Bändern verzieřte , zum Hauen bestimmte Gerten , die man den
Kindern giebt, um damit die Leute zu schlagen und dafür Geschenke zu
empfangen , ist ein unzweifelhaft heidnischer Gebrauch ; äbnlich ist es im Vogt
lande, wo es „ Aufpeitschen," in der Höfer Gegend auch „ Fitzeln “ heisst;
von dem Geschlagenen erhalten sie dort Pfefferkuchen und Branntwein .
1) Proceedings of the Royal Irish Academy. Dec. 1875. I. S. 267.
2 ) Eine hübsche Abbildung „ Tanz der Kinder auf Marken" giebt „Globus" 1880. 24. S. 373 .
374 Kinderfeste und ihre Bedeutung.
2. Das Maifest.
Man nennt die Kindheit gar oft und gern den Mai des Lebens ; Kindheit
und Mai können in der That als die Wonnezeit in der Natur, wie im mensch
lichen Leben gelten : König Lenz ist der Glückbringer für die Jugend ; ihm
jubelt die kleine Schaar vom Herzen zu, wenn er einzieht in die Felder und
Fluren ; jauchzend sieht sie da Alles sprossen , pflückt draussen die ersten
Schneeglöckchen , die ersten Primeln oder ,,Himmelschlüssel" und kehrt dann
stolz mit ihren bunten Frühlingssträussen heim . Und wie die Natur erwacht aus
ihrem Winterschlummer, so erwacht da auch in den Kreisen der Kinder das
Gedächtniss an die alten Naturfeste , die schon die Ahnen feierten , und die
jetzt noch hier und da in der jugendlichen Erinnerung , neu belebt, in man
nichfacher Gestalt als Aeusserung lauteren Frohsinns von Jahr zu Jahr wieder
kehren. Die oberdeutsche Dorfjugend hat ein Frühlingsspiel, bei dem sie
Haselgeschosse auf den Weidenbogen legt, um sie als „ Blitzpfeilę bis über
das Beckenhaus hinüber zu schiessen . Sie sollen das lastende Märzgewölke
durchbohren und der Sonne den Weg bahnen , dass sie die Saaten wieder
erwärmen und den „ Beckerwecken " reifen lasse, Rochholz macht darauf
aufmerksam , dass diesem Jugendbrauche nächstverwandt ist die altnordische
Sage vom Oberwandil, d . h . der mit dem Pfeil Arbeitende und (nach Uhland):
der aus der Saat hervorstechende, aufschiessende Fruchtkeim .
Eine besondere Form nimmt das Frühlings- und Sommerfest am 1. Mai,
am Walpurgistag an (Walperntag ). Dieser Tag, dem Donar geweiht, trägt,
wie Grimm , Mannhardt, Grohmann , Wuttke und Andere hervorheben,
als einer der heiligsten Tage des deutschen Heidenthums, als Opfer- und
Gerichtstag der Maiversammlung des Volks, noch immer in dem ihm an
hängenden Aberglauben rein heidnischen Charakter . Besonders ist es die
vorangehende Nacht, in welcher alle Zaubermächte losgebunden werden .
Der Maitag war bei den Schwaben und anderen deutschen Stämmen
ein grosser volksthümlicher Festtag ; heute haben meist die Schulkinder mit
ihren Kinderfesten diesen Tag für sich in Beschlag genommen , während sie
sonst in Procession mit Baumzweigen und Bändern geschmückt auf das Feld
zogen (Birlinger). Das Maien holen ist jedoch noch immer ein wesent
licher Theil unserer Kinderlust. Am Niederrhein wird das Maifest durch
das Holen der sprossenden Blüthen und knospenden Zweige symbolisch
gefeiert. Mit grünen Zweigen und Blumensträussen geschmückt zieht die fröh
liche Jugend von Haus zu Haus und singt kindliche Frühlingshymnen :
Guten Tag, guten Tag in's Haus !
Hier bringen wir den Mai in's Haus,
Wir haben heute Maie,
Der giebt uns unsere Weihe .
Dann erhalten sie Eier und Kuchen , werden aber von neckischen Ge
müthern sehr häufig auch zum Willkommen mit Wasser bespritzt. In der
deutschen Schweiz ziehen die Kinder gleichfalls mit jungen Maibäumen,
2. Das Maifest. 375
die man mit bunten Eiern und Blumen verziert, von Haus zu Haus und sin
gen ihre Maiverse, die oft mehr naiv und herzlich , als poetisch und ästhetisch
sind. Im Oberelsass geht das Mairöschen , oder wie es im Dialekt heisst,
das „ Maienreesele “ um , in der Thanner Flur ein Mägdlein mit Blumen und
Bändern phantastisch ausgeputzt, das einen Korb für die geschenkten Gaben
in den Händen trägt, denn auf Schenkungen laufen diese Kinderfestlichkeiten
stets hinaus . Bekannt ist im Rheinthale das Brunnenkranzfest in Bacharach ,
wo im Mai die vier grossen Brunnen gereinigt werden ; dies ist mit einer
Festivität verbunden , bei der sämmtliche Kinder des Ortes hinter dem jugend
lichen Träger des Brunnenkranzes einen Zug bilden , Speisen und Delikatessen
sammeln und schliesslich einen Kinderschmaus veranstalten .
In mehreren Gegenden Deutschlands, z. B. in Niedersachsen , besteht
das Maifest im Aufrichten eines Maibaumes, um welchen man tanzt.
Im Städtchen Wolfhagen (Niedersachsen ) versammeln sich die Maijungen , als
Zimmerleute mit Schurzfell, Tornister bekleidet, auf dem Markte. Unter den
Klängen rauschender Musik bewegt sich der Zug nach dem Walde, dort
weist der Magistrat junge Birken an , die gefällt werden ; diese ,,Maibäume"
werden dann mit Sang und Klang durch den Ort getragen und an den ein
zelnen Häusern aufgepflanzt. Dem Zuge voran fährt ein Wagen , auf dem
eine symbolische Figur, die Maigöttin sitzt, hinter ihr marschirt die militärisch
bekleidete männliche Jugend . Aehnlich findet es in Eschwege in Thüringen
statt. Als personificirter Mai, eine duftige Blumenkrone auf dem Haupte und
am ganzen Leibe mit grünem Reisig und den ersten Frühlingsblumen bedeckt,
zieht im Tecklenburgischen ein Knabe als „ Pfingstblume" mit einem
Kindergefolge von Hof zu Hof. Die Sitte ist in Nord- und Süddeutschland
verbreitet; statt Pfingstblume wird der Knabe auch hin und wieder „ Pfingst
küäm “ oder „Kaudernest,“ oder „ Füstge Mai“ titulirt, im Elsass aber
,,Pfingstquark " genannt. Die Kinder folgen ibm von Thür zu Thür und
singen :
„ En Ei heraus, en Ei heraus !
Oder i schick de Marder in's Hühnerhaus !"
Rudolf habe sie in Gemeinschaft mit den Erfurtern 1289 erschlagen und das
Schloss zerstört; da habe die Edelfrau mit ihren Söhnen den Kaiser fuss
fällig um das Leben ihrer Kinder gebeten ; diese Bitte sei erfüllt , die ge
schmückten Edelsöbne seien mit ibrem Geschmeide behängt auf Pferden
nach Erfurt gebracht worden. Zum Andenken an die Einnahme des Schlosses
wurde von den Erfurtern der Walperzug alljährlich veranstaltet, bei dem
die zwei geschmückten Knaben vorritten . Allein Uhland bemerkt zu dieser
Sage: „ Der Walperzug mochte von Anfang an auf eine Eroberung aus
gehen , aber die Besiegten sind nicht Raubritter , sondern Winterunholde,
denen der freundliche Sommer abgewonnen wird . Im Sinne des Ganzen
sind dann auch die erheblichen Einzelheiten aufzufassen . Die zwei reich
geschmückten Knaben , die man mit den Maibüscheln jubelnd in die Stadt
geleitete, waren ursprünglich nicht Söhne der Edelfrau, sondern Träger des
einkehrenden Frühjahrs."
Das Frühlingsfest gestaltet sich in Frankreich ein wenig anders als
in Deutschland . In Lons-le-Saulnier und Château-Chalon (Jura) tragen am
1. Mai die jungen Mädchen ein mit Blumen geschmücktes Kind , „ die Neu
vermählte,“ im Triumphe umher und singen dabei folgendes Liedchen :
„ Beschenkt zur Hochzeit uns're Braut,
Sie bringt den Mai und Jubel überlaut;
Beschenkt zur Hochzeit uns're Braut
Mit Gaben reich.
Es ist der Mai, den hier ihr vor euch schaut,
Drum gebet gleich .“
(Aus Champfleury's Sammlung.)
Die Kinder von Salles an der Marne sammeln nach Angabe Tarbes
Mehl und Eier im Anfang Mai (Marienmonat), backen Waffeln davon und
kaufen aus deren Erlös eine Kerze , die sie zu Ehren der Mutter Gottes an
zünden und singen :
„ Frau, gebt mir ein kleines Ei
Und ein wenig Mehl dabei ;
Nicht für mich allein
Soll die Gabe sein,
Eine Kerze kauft ich gern
Für die Mutter unseres Herrn." )
3. Das Sommerempfangen .
1) Otto Kamp, Frankreichs Kinderwelt in Lied und Spiel. Wiesbaden 1878. S. 43.
3. Das Sommerempfangen. 377
1) Grimm , Mythol. S. 735. Vgl. Sello , Frühlingsfeste, in der Wochenschrift „ Im neuen Reich.“
1881. Nr. 22. S. 821.
2 ) Otto Kamp, Frankreichs Kinderwelt in Lied und Spiel. Wiesbaden 1878. S. 40.
378 Kinderfeste und ihre Bedeutung.
Hier ist daran zu erinnern , dass die Franken, Sachsen , Thüringer, doch
auch die Serben und Wenden am 25. März ihr neues Jahr antraten ! Das
symbolische ,,Todaustragen ,“ durch welches im Volke gleichsam der Winter
vertrieben wird , besteht auch bei vielen slavischen Völkern , wie in
Schlesien , Böhmen und Mähren , so auch wenn auch nur in Resten der
ursprünglichen Ceremonie in Krain und in Altserbien . In Mähren wie in
Oesterreichisch -Schlesien wird der Tod in Form einer Puppe in weissem
weiblichen Anzuge von Mädchen ausgetragen und in's Wasser geworfen ;
dies geschieht da am dritten Sonntag vor Ostern , welcher der Todsonntag
heisst. Auf dem Heimwege tragen sie einen geschmückten Tannenzweig
und singen :
„ Den Tod haben wir ausgetragen,
Den Sommer bringen wir wieder,
Den Sommer und den Mai,
Der Blümlein allerlei."
An demselben Tage ist auch das Maifest der Kinder . In dem Liede
derselben wird der Mai als Pathe angeredet:
„ Poth Mai, Poth Mai,
Gebt inir ein Kreuzer und ein Ei!"
Eine Strophe heisst :
„ Die goldne Kett liegt um das Haus,
Die schönste Jungfrau geht heraus,
Sie geht in ihrem Rocke,
Als wie die schönste Docke."
(Vernaleken.)
Als weibliche Figur wird demnach in rein slavischen Gegenden der
Winter symbolisch vernichtet, der Sommer als Jungfrau begrüsst.
In Böhmen wird der Tod in Gestalt eines bässlichen Strohgebildes,
das eine alte Frau darstellt im Slavischen ist der Tod weiblichen Geschlechts ),
unter Gesängen , Liedern und lautem Jubel in den Strassen umbergetragen
und schliesslich in's Wasser geworfen . Dies geschieht am „ Todtensonntag “
( Judica). Anderwärts z. B. in Kroatien und Slovenien wurde die Puppe
zu Mittfasten entzweigesägt. Die hierhin gehörenden Thatsachen von alten
Gebräuchen hat der Gymnasialprofessor in Pettau , Fr. Huber ') zusammen
gestellt.
In Spanien und Italien haben sich ähnliche Bräuche noch bis in
unser Jahrhundert erhalten . In hellen Schaaren liefen die Kinder z. B. in
Barcelona durch die Stadt ; die einen trugen Sägen , andere Holzklötze
und noch andere sammelten Gaben ; dazu sangen sie ein Lied, dass sie das
älteste Weib suchten , um es entzwei zu sägen . In italienischen Städten
hingegen veranstaltete die Strassenjugend die sogenannte ,, Scampanata,“ d. h.
1) Die Frühlingsfeier der Slaven, im Globus 1880. Bd. 38. S. 336. Ebenso wie die Kinder von
Rhodos ziehen auch heutzutage in Klein russland und Bulgarien im Anfang des März die
Kinder von Haus zu Haus, besingen den Frühling und tragen eine hölzerne Schwalbe oder Gebäck in
Form von Lerchen herum . Die Schwalbe steht bei den Slaven wie bei den übrigen Völkern in hohem
Ansehen ; sie heisst deshalb bei den Czechen der „ Vogel der Jungfrau Maria," bei den Russen der
heilige“ oder „göttliche,“ in Deutschland der Herrgottsvogel, bei den Franzosen „ La poule de Dieu.“
Daselbst Nr. 20 . S. 314
Kinderfeste und ihre Bedeutung .
380
sie lärmte herum , zerbrach alte Töpfe , läutete mit alten Glocken , schrie
und lärmte , bis sie schliesslich eine Puppe, welche sie das älteste Weib
nannten , zersägte .
In Russland dagegen tragen die Kleinrussen zur Zeit des Frühlings
empfanges eine weibliche Puppe (Mara ) durch die Gassen und Felder und
verbrennen sie auf einer Anhöhe.
Eine besondere Frühlingsfeier hat man im Kreise Murom , russ. Gou
vern. Wladimir nach Dobrynkina. Dort wird mit dem Namen ,,Kostroma"
eine weibliche, aus Stroh gemachte und bekleidete Puppe bezeichnet. Die
Jünglinge und Mädchen , die sie angefertigt haben, entkeiden sie wieder unter
Gesängen und Scherzreden und werfen sie schliesslich in den Fluss Oka
oder in ein anderes Gewässer. An anderen Orten wird die Puppe begraben ,
oder es wird auch wohl ein junges Mädchen in einen Kasten gelegt und als
„ Kostroma“ in den Wald getragen und unter einer Birke abgesetzt , später
vereinigt sie sich mit ihren Gespielinnen . Man nennt diese und ähnliche
Gebräuche ,, die Bestattung oder Beerdigung der Kostroma," und die Sitte hat
die Bedeutung ,, dem Frühling das Geleit zu geben.“ Die Kostroma ist der
Frühling und repräsentirt eine alte , von den finnischen Stämmen Merja und
Murom verehrte Gottheit. Vielleicht war diese Göttin des Frühlings Simzerla
oder ihre Tochter Merzana .
Diese Mittheilung machte Dobrynkina im Jahre 1874 in der Sitzung
der Kais. Russ. Gesellsch . der Freunde der Naturkunde, Anthropologie und
Ethnologie .
Auch in jenen Gegenden der Schweiz , in der sich eine rhätische,
romanisch sprechende Bevölkerung seit alter Zeit erhalten hat , kommen
ähnliche Bräuche vor , doch wird da dem Winter in Gestalt eines männ
lichen Popanz der Tod gebracht.
Im Bergell (Schweiz) wird noch immer von den Knaben das Früh
lingsfest des ersten März (Calendae Martii) gefeiert, in einer Art und Weise,
die sich in den Ortschaften vom Comersee bis ins Engadin volksthümlich erhalten
hat, obgleich zu dieser Jahreszeit im Bergell und Engadin noch viel Schnee
liegt und das Frühjahr noch keineswegs ins Land gekommen ist. Die Knaben
ziehen an jenem Tage in militärischer Ordnung durch die Dörfer , die
grösseren mit Soldatenmützen , Säbeln und Fahnen , die kleineren mit Glöck
chen oder mächtigen Kuhschellen versehen . Durch diesen Lärm wollen sie
den Frühling ankündigen , wenngleich sie vielleicht noch im Schnee waten
müssen. Sie sammeln von Haus zu Haus, indem sie manchmal auch Etwas
deklamiren , Gaben in Naturalien oder Geld , und theilen diese dann unter
einander, oder laden für den Nachmittag die Mädchen zum Feste ein .")
Die Engadiner Schuljugend fertigte dabei noch vor wenig Jahren
einen Strohmann an , setzte ihm einen grell bemalten Holzkopf auf und zog
ihm eine drastische Militärkleidung an ; ein breitkoppiger Tschakko und
4. Sommerfeste.
Noch bis in die neueste Zeit fanden sommerliche Auszüge der Kinder,
namentlich der Schuljugend, an mehreren Orten Deutschlands statt, und
ähnliche Sagen dienten zu ihrer historischen Begründung. Zunächst ist an
das sogenannte Kirschfest zu Naumburg zu erinnern ; von ihm berichtet die
Sage , dass bei der Belagerung der Stadt durch die Hussiten sich Prokop
von 559 weinenden Kindern zum Abzug bewegen liess, und dass seitdem
die Kinder das Recht haben , am 28. Juli in einen Buchenwald zu selbst
gefertigten Laubhütten zu ziehen und Obst in einem bestimmten Umkreise
abzupflücken . Abends kehren dann die Kinder , grüne Zweige schwingend ,
unter Musik heim . Aehnliches wird von einer, Forstfest genannten , zu
Camenz gebräuchlichen Schul-Feierlichkeit erzählt ; auch hier sollen die
Schålkinder durch Bitten den Feind abgehalten haben, die Stadt zu plündern ;
deshalb habe ein Fleischer zum Andenken an das abgewendete Unglück als
Vermächtniss den ihm gehörenden Forst dazu bestimmt, dass sich die Kinder
in ihm während der Bartholomäuswoche vergnügen . Der noch an manchen
382 Kinderfeste und ihre Bedeutung .
anderen Orten von Schulkindern ausgeführte „ Ruthenzug ," bei dem sie aus
dem Walde mit grünen Reisern kommen , ist entschieden ein Rest altdeutscher
Frühlingsfeier. Ein anderes auf den Herbst verlegtes kriegerisches Kinder
fest bestand in Winterthur ; unter Trommel- und Pfeifenschall zog das Knaben
volk sammt Lehrer und Stadtrath auf den Limperg , der sich in der Neuzeit
durch die daselbst entdeckten Opfergeräthe und Götzenbilder als ein ge
weihter Berg ausgewiesen hat. Im südlichen Deutschland , besonders aber
in der Schweiz, erwuchsen aus solchen Festen die regelmässigen kriegerischen
Uebungen der Jugend, wie die Kadettenfeste der Schweiz , das sogen . Dätsch
Schiessen in Memmingen u . s. w .')
Ein Kinder- und Schulfest, das fast überall in Deutschland bis noch vor
Kurzem gefeiert wurde, ist das Gregoriusfest , welches ebenfalls aus frü
hesten Zeiten stammt, doch wohl nicht germanischen , vielmehr wahrscheinlich
griechischen Ursprunges ist; es scheint eine Nachahmung der griechischen
Panathenäen (Volks- und Freudenspiele) und der römischen Quinquatrien
(Fest der Minerva) zu sein ; beim Uebergange heidnischer Völker zum
Christenthum musste selbstverständlich dem Feste ein anderer Name gegeben
werden und es mussten ihm auch andere Zwecke untergeschoben werden ;
Papst Gregor IV . wandelte 828 das grosse Minervafest in das Gregoriusfest
um . Eigenthümlich wurde noch bis vor Kurzem unter Auswählung eines
„ Bischofs" aus der Zahl der Knaben das Fest an mehreren Orten des
Fränkisch - Hennebergischen begangen .2) In Meiningen wurde dieses alte
Bischofsfest mit seinen Umzügen erst im Beginn unseres Jahrhunderts ganz
abgeschafft.
5. Das Weihnachtsfest.
Unter den christlichen Völkern , vor Allem aber in Deutschland 'ist das
Weihnachtsfest ein rechtes und grosses Kinderfest. Schon bevor das
eigentliche Fest beginnt, fühlt man sein Nahen : Der Nikolaustag , der
6. December , erscheint und mit ihm jene alte mythisch -pädagogische Schreck
gestalt, der Nikolaus oder Klaos der Schwaben , der Heilig -Mann der Nieder
rheinländer . Als ,,Knecht Rupprecht" geht dieser Popanz ebenfalls schon
einige Zeit vor Weihnachten in Norddeutschland um ; eine vermummte Ge
stalt klopft an Thüren und Fenster , verspricht und gibt Aepfel, Nüsse und
Kuchen den guten Kindern , droht aber mit seiner grossen Ruthe den bösen .
Das Mittwinterfest, bei den Germanen auch Julfest genannt,
begann mit seiner Vorfeier eigentlich schon im November. Gegen December
aber wurde das Hauptfest gefeiert; dasselbe dauerte bis zum Perchtentage
d . i. den 6. Januar. Dieses war die Zeit der Zwölften , Rauchnächte oder
Loostage ; diese Tage waren dem obersten Gotte, dem Allvater der Götter,
dem einäugigen Wuodan , geweiht, welcher auf weissem Rosse durch die
Lüfte , durch Thal und Wälder ritt und sich jagend ergötzte (Egger). Als
Knecht Ruprecht nahm Wuodan christliche Form an ; er heisst in Süddeutsch
land auch Bartel, Bärdel, Klaubauf, in Mecklenburg früher ,,Wode.“
In der Lausitz erscheint ebenfalls dieser bekannte Kinderspuk unter dem
Namen Knecht Ruprecht, Klaubauf oder Bärtel. Dieser Name ist
volksetymologisch (mit Rücksicht auf seinen langen Bart) aus Bartel ent
standen . Als Schimmelreiter tritt oft Ruprecht auf; er ist allerdings der
Hruadperaht, der Ruhmglänzende, Wuodan . In Schlesien heisst er auch ,,der
alte Joseph ,“ im nordwestlichen und südlichen Deutschland der heilige Niko
laus , in Norddeutschland der Klas, Bullerklas, Aschenklas oft zu Pferde, öfter
geradezu auf dem Schimmel. Ganz das heidnische Wesen bewahrt sein Be .
gleiter, Grampus, in Oesterreich , Bartel in Kärnten , Klaubauf in Baiern, ge
pelzt, gehörnt, mit rother Zunge, den Tragkorb auf dem Rücken . ")
Kommt dann in jetziger Zeit das Weihnachten und die Zwölften
und bringt der „ Heilige Christ die Bescheerung , so heisst's, der „ Weih
nachtsmann“ habe die Gaben gebracht, die bald am Abend , bald am
Morgen aufgetischt sind . Da reiht sich an das Spielzeug , an die Kleider und
Bücher das anziehende Geschenk der süssen Speise : das Backwerk , das
nicht fehlen darf , und Kleidungsstücke. Dieses Geschenk erhalten die
Pathchen bis zum 12. Lebensjahre. Wenn es das letzte Mal geschieht, steckt
ein Messer im Weck , zum Zeichen , dass die Schenkerei nun abgeschnitten
sei. So kommt's, dass man die Kinder fragt: „ Biste scho abgeschneite ?"
„ Na," lautet die Antwort, ,, ich krie no mahl.“ 2)
In Kärnthen gehört, wie Rud. Waizer schreibt,3) der 28. December,
der sogenannte „ unschuldige Kindertag ,“ den Kleinen . Zur Erinnerung an
die Hinmetzelung der 300 Knäblein unter Herodes gehen die Kinder von
Haus zu Haus mit einer Ruthe „ Frisch und gesund göb’n “ und heimsen hier
für kleine Gaben in Geld , Nüssen, Aepfeln , Kletzenbrod u. s. w . ein . Im
Möll- und Lavantthale nennt man diesen Brauch „ Schappen ,“ und die Ruthe
heisst ,, Schappruath'n .“ Im Lieserthale heisst man's „ plissner gean ," und
da man dort keine Ruthe, sondern ein Fichten- oder Tannenästchen zum
Wixen “ verwendet, so heisst man's „ Plissenastl,“ da man die Tannen- und
Föhrennadeln „ Plissen “ zu nennen pflegt. Während des Schappens oder
Plissens sagen die Kinder folgendes Sprüchlein : „ Plisse lustig , frisch und
g'sund, lang löb'n , g'sund bleib'n , gern hab'n.“ Oder: „ Frisch und g'sund !
Frisch und g'sund ! Wünsch a glückselig neugs Jahr und a Christkindl mit
kraussem Haar !" Sie erhalten hierfür ihre Spenden .
Am sogenannten „ Kindstag, " d. h . den Tag der unschuldigen Kindlein ,
binden in Baiern Knechte und Buben mehrere Besenreiser in Büschel und
hauen damit die Frauen um die Füsse herum - das nennen sie ,,kindeln ."
In der Goldenen Aue geschieht dies durch Kinder bei ihren Pathen mittelst
Rosmarinstengel.
Mit dem Drei -Königs- Tage schliesst der ganze Cyklus . Am Vor
abend desselben , auch Perchtentag in Kärnthen genannt, visitirt Abends
die „ wilde Gjad “ die Spinnstuben und die ,, Sternsinger " ziehen in ihren
Lodenmänteln , Hirten- uud Dreikönigslieder singend, von Haus zu Haus.
Im Norden und Süden unserer deutschen Lande erscheinen dann in der
Dreikönigsnacht die Heiligen drei Könige;" diese Nacht ist sogar im
Steierischen nach der Versicherung Rosegger's ") die wichtigste unter den
heiligen Nächten des ganzen Jahres . Ein sonderbarer Aufzug bewegt sich
durch die Strassen des Dorfs : Voran hüpft ein Junge und trägt auf einer
langen Stange einen grossen „ goldenen Stern ;“ diesem folgt die Schuljugend
in buntem Anzug, zuletzt gar drei grosse Herren in goldenen Gewändern.
Das sind die „ Könige aus dem Morgenlande." Sie singen den Weib
nachtsgruss. „ Sie singen vom falschen Herodes, vom holden Jesuskindlein ;
sie singen von Gold , Weihrauch und Myrrhen ... O , nichts sonst haben
sie gemeinsam mit den drei Weisen aus Osten, als die Myrrhen , die bitteren
Myrrhen . Sie , die da glitzern in Rauschgold und Sonnenpracht - sie sind
nur da , um vor den Thüren der Wohlhabenden ein Stücklein Brod zu er
bitten ; es sind die Aermsten der Gemeinde.“
Am zweiten Christtag begegnet uns in der Rhön ein eigener Brauch ,
1) P. K. Rosegger, Sittenbilder aus d . steierischen Oberlande. Graz 1870. S. 49 . Die
Weihnachtslieder, wie sie in verschiedenen Gegenden Deutschlands gesungen werden, haben zumeist
viel provinziell Charakteristisches. Man hat sie zum Theil aufgesammelt, und wir führen nur einige
solcher Sammlungen an, während die Lieder zumeist auch in Werken zu finden sind, die dem deutschen
Volksliede überhaupt gewidmet sind. So giebt es „Weihnachtslieder," gesammelt von Carl) Sch (ell
negger), Graz 1870 ; A ugust Hartmann, Weihnachtslied u . Weihnachtsspiel in Oberbaiern , München
1875 ; Karl Weinhold , Weihnachts -Spiele und -Lieder aus Süddeutschland und Schlesien, Graz 1853
(Neue Ausgabe Wien 1875) u . s. w . Vergl. auch Anton Schlossar, Deutsche Volkslieder aus
Steiermark . Innsbruck 1881. S. 30 ff. Simrock , Deutsche Weinachtslieder, neueAusgabe. Leipzig 1874.
Schröer, Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungarn . Wien 1858. W.Pailler, Weihnachtslieder und
Krippenspiele aus Oberösterreich und Tirol. Innsbruck 1881. Dann besitzen wir noch Einzelnes von
Pröhle , Aug. Hartmann , Rosegger, Vernaleken und Anderen ; dic Literatur bei Pailler.
5. Das Weihnachtsfest.
385
Allein trotz dieser Drohung bringt St. Niklas den Unfolgsamen eine
Ruthe, die dann zur Warnung im Schornstein aufgehängt wird . Am
Weihnachtsabend wandern die Kinder von Haus zu Haus mit der Frage:
,, ist's erlaubt ?" und singen dann so gut und schlecht es geht, eines der
Kersliederen oder Weihnachtslieder, um dafür Pfefferkuchen , Aepfel oder
Nüsse zu erhalten . Am Tage der „ unschuldigen Kinder“ oder onnoozel
kinderen dag (28. December ) sind die Kinder die Herren im Hause . Schon
am Morgen verkleiden sich die Knaben mit Weste und Schlafmütze des Vaters
und Grossvaters, die Mädchen mit Jacke und Haube der Mutter und gehen
truppweise von Haus zu Haus, rufend:
„ Ich bin Väterchen , ich bin Mütterchen ,
Habt Ihr Nichts zu geben ? etc."
Pfeffernüsse, Pfennige und was sie bekommen , stecken sie in einen
grossen Sack , den sich die Mädchen dazu umgebunden haben , und zu Hause
wird dann gekocht und gebraten , was die Kinder bestellen . Am Abend
vor den drei Königen (5. Januar) ziehen sie mit einem Stern aus buntem
Papier herum und singen ein Lied , dessen Strophe nahe der holländischen
Grenze ungefähr lautet :
„ Wir kommen hier mit unserm Stern,
Wir suchen den Herrn, wir hätten ihn gern ;
Stern , ihr müsst so still nicht stehn,
Ihr müsst mit uns nach Bethlehem gehn ,
Nach Bethlehem der schönen Stadt,
Wo Maria mit ihrem Kindchen sass.“ 2)
Die Abhängigkeit der Menschen von der sie umgebenden Natur macht
auch in der Kinderwelt bei ihren sten und Spielen geltend. So haben
die Kinder Italiens kein Weihnachtsfest in unserem Sinne. Hierüber schreibt
Otto Badke: 1) „ Die Bedeutung , welche dieses Fest für uns Deutsche und
unsere nordischen Nachbarn , die Schweden und Norweger, hat, besitzt es bei
den Italienern durchaus nicht. Von dem Range eines Hauptfestes sinkt es
hier zu einem ganz untergeordneten Festtage herab . Der Himmel ist hier
zur Weihnachtszeit ein ganz anderer, als jenseits der Alpen ; die Sitte ist es
auch. Für die Italiener fällt ein Reiz fort, den das Weihnachtsfest auf die
nordischen Bewohner entschieden ausübt, nämlich der , für eine in Eis und
Schnee erstarrte Natur einen Ersatz im Zimmer an dem frischen Grün der
Tanne zu haben , sich ein Stück Frühling in den kalten Winter hinein zu
zaubern .... Und fragst du einen italienischen Knaben , weshalb wir
Weihnacht feiern , so antwortet er : „ Perche fù nato il bambino.“ Der
Italiener kennt Christus nur als „ bambino ," als Kind in der Krippe. Sein
späteres Leben ist für ihn so gut, als nicht vorhanden , und damit geht ihm
auch sein Leben verloren . Die Madonna vertritt hier seine Stelle ; sie ist
dem italienischen Landbewohner der Inbegriff aller Religion . Um das Weih
nachtsfest in Italien kennen zu lernen , muss man in die Kirchen und auf die
Strassen gehen .“
6. Das Neujahrsfest.
7. Fastnacht.
Dann reicht diese oder jene freigebige Bäuerin einen Kloss oder einen
Kohlkopf, ein paar Eier oder ein Stück Speck , und wenn dann die jungen
1 ) Ignaz V. Zingerle, Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes. 1871. S. 140.
Ueber die Bedeutung dieser Sitten siehe: Panzer, Bayerische Sagen und Bräuche II. 1855. S. 539.
2 ) Der hier als musikalisches Instrument gebrauchte Lärmtopf, Rommelpot genannt, ist ein
irdener Topf, mit einer Blase überspannt, in deren Mitte ein Stroh- oder Binsenhalm befestigt ist.
Macht man nun Daumen und Finger nass und fährt damit am Halme auf und ab , so giebt der Topf
einen schnarrenden Ton von sich, welcher dem unserer Waldteufel gleicht.
390 Recht, Stellung und Pflicht des Kindes.
Leute an Brennholz und Esswaaren genug haben , so suchen sie eine arme
Frau auf und schenken ihr beides, damit sie sich einen Eierkuchen machen
kann. Hinterher wird gesprungen und getanzt, wobei man die Kleider
umkehrt.
Der Huitzel-Sonntag, das ist der erste Fastnachtssonntag, wird in der
Rhön von der Schuljugend dadurch gefeiert, dass die Knaben mit langen
Strohfackeln (mit Stroh umwundenen Stangen) auf den nächstgelegenen Berg
ziehen und bei Anbruch der Dunkelheit dieselben anzünden . Bald in langer
Reihe, bald in Windungen und kreisförmig oder die Fackeln um sich schwin
gend, so dass ein feuriger Kreis gezogen wird , laufen sie herab in's Dorf.
Hier gehen sie nun von Haus zu Haus und „ haischen “ Eier, Hutzel (d. i.
gedörrte Zwetschgen , Birnen und Aepfelschnitte ) und Fleisch unter Absingen
von Bettelliedern . )
Im Fulda'schen sammeln am sogen. Hutzeltage (8 Tage nach dem Fast
nachtssonntag ) die Knaben in den Häusern des Dorfes Stroh , binden es in
Bündel und verbrennen diese unter unendlichem Gejauchze auf den . Höhen ,
indem sie mit demselben hin- und herlaufen und funkensprühende Räder
schlagen , ähnlich den „ Osterlichteln “ am ,,fränkischen Landrücken “ . Nach
diesem bewegt sich der Zug der Knaben jubelnd und lärmend in's Dorf zurück .
Von Haus zu Haus gehend, singen sie :
Siller ?) kale Erwes )
Mit Hutzelbrüh' geschmelzt.
Wenn d'r “) uns kei' Hutzel gat,5)
Soll der Baum kei' Birna troa. )
Schäba 7) bie , Schäba her,
Gat uns die besten Hutzeln her u . s. w .
Ist dieses Lied abgesungen , so werden die Knaben mit Hutzeln und
Krapfen , wohl auch mit einem Trunk Bier regalirt, und sie setzen dann ihren
Marsch weiter fort.8)
DREISSIGSTES KAPITEL .
Leben und Tod des Kindes haben , wie , lange ihre Verpflichtung dauert,
die Kinder zu verpflegen , ob sie dieselben verkaufen dürfen , wie sich weiterhin
das gegenseitige Erbverhältniss zwischen Kindern und Eltern gestaltet, in
welchem Alter die Mündigkeit eintritt und wie es überhaupt mit der Vormund
schaft gehalten wird .
1. Das Familiensystem .
Bevor wir diese Fragen besprechen , müssen wir einen Blick auf die
Entwickelung des Familiensystems werfen . Wir selbst haben uns gewöhnt,
unserer eigenen sittlichen Anschauung zufolge anzunehmen , dass das Kind in
gleich naher Verwandtschaft zu seinem Vater wie zu seiner Mutter steht.
Allein in den Urzuständen des Menschengeschlechts scheint das Verhältniss
ein ganz anderes gewesen zu sein . In dieser Beziehung sagt Lubbock :-)
„ Wir sind zu der Annahme berechtigt, dass das Verwandtschaftsverhältniss
eines Menschen anfangs nur seinen Stamm , dann seine Mutter und nicht
seinen Vater, darauf seinen Vater und nicht seine Mutter, und erst ganz
zuletzt beide Eltern betraf." In neuer Zeit haben nemlich mehrere Forscher
auf dem Gebiete der Culturgeschichte mit grosser Wahrscheinlichkeit dar
gethan, dass der gesellschaftliche Urzustand des Menschengeschlechts ein
alles ehelichen Lebens baarer Hetärismus war. Dies suchten in scharfsinniger
Weise namentlich M'Lennan , ) sowie Dr. A. H. Post3) nachzuweisen ; der
selben Ansicht huldigt auch Lubbock , welcher dieses Verhältniss mit dem
Namen „ Gemeinschaftsehe " (communal marriage ) bezeichnete, weil alle zu
einer kleinen Gemeinschaft gehörenden Männer und Weiber sich als gleich
mässig unter einander verheirathet betrachteten . Die ältesten Geschlechts
genossenschaften, von welchen das ganze menschliche Staats- und Rechts
leben seinen Ausgangspunkt genommen hat, sind nach Post's Ansicht
wahrscheinlich Horden von verschiedenem , jedoch nicht bedeutendem Umfange,
in denen Weiber, Kinder und Gut allen Geschlechtsgenossen gemeinsam ge
hörten , und in denen ein gewähltes oder durch eine Erbfolgeordnung be
stimmtes Oberhaupt eine patriarchalische Gewalt ausübte. Nach dieser mo
dernen Theorie bestand die Horde eigentlich aus einer ohne Ehe, folglich
auch ohne Familienverband lebenden Ansammlung von Menschen . Diese
Genossenschaften zerfallen allmälig in engere Kreise, welche in einem ge
meinsamen Verbande verbleiben , wenn schon derselbe ein laxerer ist, als der
ursprüngliche. Es entstehen in dieser Weise complicirtere Gebilde, Stämme,
welche aus Geschlechterverbänden , Geschlechterverbände, welche wieder aus
Geschlechtern zusammengesetzt sind. Durch den Zerfall der ursprünglichen
Geschlechtsgenossenschaft bildet sich alsdann eine complicirtere geschlechts
1) Sir John Lubbock, Die Entstehung der Civilisation. Jena 1875. S. 62.
2) Studies in ancient History, comprising a reprint of primitive Marriage. London 1876 .
3) Die Geschlechtsgenossenschaft der Urzeit und die Entstehung der Ehe. Oldenburg 1875 .
Dessen : Bausteine für eine allgem . Rechtswissenschaft. 2 Bände. Oldenburg 1881.
392 Recht, Stellung und Pflicht des Kindes.
genossenschaftliche Organisation und Verfassung aus, die sich über die ganze
Erde zu allen Zeiten bei jeder Völkerschaft wiederholt, welche eine gewisse
Entwickelungsstufe erreicht.
Wenn nun in den ältesten Zeiten dieser Anschauung gemäss alle Stammes
genossen mit einander in ungeschiedenem geschlechtlichen Umgange lebten ,
so fehlten auch selbstverständlich vollständig irgend welche Verhältnisse,
welche den uns geläufigen zwischen Eltern und Kindern analog wären . Alle
Kinder sind Kinder des Stammes, sie haben keinen individuellen Vater, und
auch ihrer Mutter gelten sie nicht näher verwandt, als irgend einem anderen
Stammesgenossen oder wenigstens einer Klasse von anderen Stammgenossen.
So haben sich denn Verwandtschaftsverhältnisse herausgebildet, deren
merkwürdige Beziehungen bei den verschiedenen Völkern namentlich Lewis
Morgan ') und Lubbocka) studirten ; sie entsprechen unseren europäischen
Begriffen von Verwandtschaft in keiner Weise ; sie beherrschen aber vor
Allem die Stellung der betreffenden Personen zu einander, namentlich die
Verpflichtungen und Rechte der Kinder, denn deren Stellung ist mehr durch
ihr Verhältniss zum Stamm , als durch das zur Familie bedingt. Bezüglich
der mannichfachen Verwandtschaftssysteme verweise ich auf die soeben an
geführten Autoren . Es giebt Völker , die nicht einmal den Ausdruck für
Vater und Mutter haben , und Latham berichtet, dass beispielsweise bei den
Nairs in Indien kein Sohn seinen Vater, kein Vater seinen Sohn kennt.
Einer weiteren Entwickelungsstufe gehört die Erscheinung an , dass
Kinder, welche dem Stamme gemeinsam sind , in einem bestimmten Lebens
jahre einem individuellen Vater zugetheilt werden.3)
Je nach den Zuständen der Verbände gestaltet sich auch das Erbrecht
verschieden . So lange die alte geschlechtsgenossenschaftliche Vermögens
gemeinschaft besteht, giebt es, wie Post hervorhebt, eine Erbtheilung überall
nicht. Ein Erbrecht entwickelt sich wohl zuerst dadurch, dass die Genossen
allmälig nicht mehr verbunden erscheinen . Dann sind bestimmte Personen
befugt, gewisse Gegenstände nach dem Tode des Eigenthümers zu bean
spruchen . Namentlich Waffen fallen ausschliesslich den männlichen Erben
zu . Schon bei den brasilianischen Indianern fallen Waffen und Schmuck,
wenn sie nicht auf das Grab gelegt werden , den Söhnen zu.4) Nach deut
schem Volksrecht erhielt das Heergeräthe oder doch das Schwert der nächste
waffenfähige Schwertmagen.5)
1) Over de primitieve vormen van het huwelyk en den vorsprong van het gezin „ De indische
Gilds." 1881. Amsterdam . S. 1-152.
2) O. Peschel, Völkerkunde. 1. Aufl. 1874. S. 244. 5. Aufl. von Kirchhoff, 1881. S. 228.
Den Ansichten Lubbock's wird hier allerdings nicht beigetreten ; Peschel nennt es einen „ häss
lichen " Gedanken , dass die Frauen einer Horde Gemeingut aller Männer gewesen seien.
3) J. J. Bachofen , Das Mutterrecht. Stuttgart 1861.
Recht, Stellung und Pflicht des Kindes.
394
nicht für schändend, sehen darüber hinweg oder gestatten ihn sogar , wenn
er nur lukrativ ist. Die Kinder erben also auch nicht Rang, Vermögen und
Namen vom Vater, sondern vom Onkel, worauf bei den Familien grosser
Häuptlinge besonderes Gewicht gelegt wird. Von den Kindern eines Häupt
lings sind also die vor Allen erbberechtigt, die aus der Ehe mit einer Nichte
hervorgegangen sind, ein Bündniss, das von ihnen , wenn irgend thunlich ,
jedem anderen vorgezogen wird. Söhne, denen die Behandlung des Vaters
nicht zusagt, gehen einfach zum Onkel, ihn nennen sie tatu , das Vater und
Herr zugleich bedeutet. Je mehr Söhne und natürlich auch solche freiwillige
Söhne ein Mann im Hause hat, desto reicher , desto mächtiger ist er ; denn
die Kinder verursachen ihm weder Erziehungskosten , noch giebt er ihnen
viel Nahrung ; im Gegentheil, sie sind seine Diener, sie gehen für ihn auf
die Jagd , sie führen Krieg für ihn, sie sind sein Hofstaat.“
Die meisten Völker jedoch sind schon jetzt in das Stadium der Andro
kratie getreten, d . h. sie gestatten dem Vater ein fast unbeschränktes Recht
über die Mitglieder seiner Familie und insbesondere über seine Sprösslinge.
Er entscheidet über die Frage, ob er das Kind als das Seinige anerkennen
will; er schaltet über Leben und Tod des Neugeborenen , wie wir in dem
Kapitel über Tödtung und Aussetzen des Kindes besprochen haben (Bd. II.
S. 243). Doch das Kind hat dann auch wieder gewisse Rechtsansprüche an
ihn, sobald er es einmal als das Seinige anerkannt hat ; und auf der anderen
Seite verlangt er von demselben die Erfüllung eines immer erweiterten Kreises
von Pflichten . Nach und nach , wenn sich die Völker aus dem rohen Ur
zustand zu höheren Culturstufen erheben , kommen Rechtsverhältnisse, zuerst
eingeführt und gestützt durch Sitte und Brauch , zum Vorschein , durch welche
das Recht des Vaters über das Kind mehr und mehr geregelt, durch welche
auch die Ansprüche der Kinder hinsichtlich der Erbfolge geordnet werden .
Es entwickeln sich Rechtsbräuche, die mit dem Volke alt werden , dem Vater
sogar gewisse Pflichten gegen sein Kind auferlegen . Schliesslich regelt sich
durch Staatsgesetze das ganze Recht des Kindes nach allen Seiten hin.
Ein geringeres Recht auf Fortleben , als gesunde, wohlgestaltete Kinder,
haben bei vielen Völkern die missgebildeten ; wir führten Bd. II . S. 241
viele Beispiele an , in welchen der Grundsatz zur Geltung kam , dass die
Eltern sich ihrer Missgeburten entledigen dürfen . Allein der sociale Instinct ist
sich in dieser Beziehung nicht überall gleich ; bei den Altmexicanern kam es
vor, dass die Cretinen verpflegt wurden . ) Hier spielte vielleicht eine aber
gläubische Scheu das Motiv , denn man meinte dort wahrscheinlich ebenso ,
wie in unseren Ostalpen , wo Cretinen gleichfalls in der Familie sorgliche
Pflege finden , dass diese armen Geschöpfe für die Sünden der Familien
genossen büssen. ) Anderwärts (z. B. auf den Fidschi-Inseln ) geschieht es
aus Liebhaberei, dass die Häuptlinge zu ihrem Vergnügen Krüppel füttern.3)
Das Recht der Eltern , die Kinder mit einander zu verloben , besteht
bei sehr vielen Völkern . Ueber diese Sitte sagt Peschel: ) „ Der Glaube,
dass der Himmel die Verlobten besser schütze, kann zu Verlobungen in der
Wiege, folglich zu Heirathen nach dem alleinigen Willen der Eltern führen."
Aus jenem Grunde wird bei den Riça , einem südalbanesischen Stamme, ein
Sohn, von welchem der Vater meint, er werde sein einziger bleiben , selten
3 Jahre alt, ohne eine Braut zu haben . Aus anderem Grunde nehmen die
Jívaros-Indianer im Waldland an der Ostcordillere Ecuadors bisweilen ein
noch an der Mutterbrust liegendes Kind zur Frau, um es sich recht nach
eigenem Wunsch zur Gattin zu erziehen.?)
Mehr noch als dies interessiren uns gewisse alte Rechtsgebräuche, von
denen sich hie und da Spuren als Ueberbleibsel erhalten haben , und die
uns in Folgendem beschäftigen werden .
3. Germanisches Kinderrecht.
Wie überall so hatte auch bei germanischen Völkern den grössten Ein
fluss auf das Kinderrecht die gegenseitige Stellung zwischen den Ehegatten ,
insbesondere die rechtliche Stellung der Frau in der Familie . Der Mann
war der Herr des Hauses und seiner Familie , und das eheliche Regiment
wurde in den meisten Fällen von dem Manne streng gehandhabt. Man dari
wohlnicht verschweigen, dass im Geiste der Zeit und des Volkes nicht selten
die träge Selbstsucht oder die Rohheit der Männer die Ehe herunterdrückte,
und dass es nicht immer so schöne Verhältnisse des ehelichen Lebens unter
den alten Deutschen gab , von welchen Karl Weinhold 3) einige treffliche
Beispiele anführt. Allein die Herrschaft des Gatten hatte bei den Germanen
für die Frau (und die anderen Mitglieder der Familie ) nicht das Herab
würdigende wie bei den anderen alten Völkern und namentlich bei den Orien
talen und Griechen ; die deutsche Ehefrau ward als die Genossin des Mannes
an Recht und Stand, án Lust und Leid betrachtet, und was ihr das Gesetz
verwehrte, räumte ihr die Liebe ein oder verschaffte ihr die Klugheit. Es
ist wahr, dass der Gatte sein Weib letztwillig vermachen , dass er sie in
Norwegen ) verschenken, sogar verkaufen durfte, allein ein solches Verfahren
musste für die Frau die härteste Strafe sein und als solche finden wir sie
auch angewandt. In Deutschland war es in Nothfällen dem Manne bis in
das 13. Jahrhundert wenigstens gestattet, sein Weib und Kind zu ernähren.4)
Ein zweiter berücksichtigenswerther Umstand besteht darin , dass sich
die Germanen zwar in der Regel an einer Frau genügen liessen , dass sie
jedoch auch aus politischen Rücksichten , wie es besonders bei den Nord
1) K. Weinhold , a . a . 0. S. 18 .
2 ) W. Platz, Geschichte des Verbrechens der Aussetzung unter besonderer Berücksichtigung
seines Zusammenhangs mit dem Familienrechte. Leipzig 1876 .
398 Recht, Stellung und Pflicht des Kindes .
deren Bedeutung später in die christliche Taufe mit hinüberging , für das
Kind den Werth eines Rechtsschutzes . Ursprünglich durften nach dem
ältesten nordischen germanischen Rechte die Eltern mit dem Kinde hinsicht
lich seiner Aussetzung oder Tödtung nach Belieben verfahren , doch die mit
dem Kinde bei der Namengebung vorgenommene Wasserweihe sicherte dem
selben ebenso das Leben , wie die Darreichung von Milch und Honig dem
Kinde Schutz vor dem Aussetzen gewährte , und wie bei den Südgermanen
die Namengebung, mit der in christlicher Zeit die Taufe verbunden wurde,
das Kind schützte . Als ein Nachklang kann es bezeichnet werden , wenn
noch in christlicher Zeit das ungetaufte und namenlose Kind sowohl seinen
Eltern wie Fremden gegenüber eines geringeren Rechtsschutzes genoss, und
zwar meist desselben , wie das neugeborene. Auch um dem Kinde die
Erbfähigkeit zu sichern, genügte keineswegs die normale Geburt und das
Leben des Kindes an sich ; vielmehr erscheint ausser der Wasserweihe (oder
Taufe ), sei es neben derselben , sei es allein ohne dieselbe, in einigen nor
dischen Rechten das Nehmen der ersten Nahrung ; bis zu diesem Zeit
punkt war im friesischen Rechte das Aussetzen erlaubt. Ueber dieses
Nebeneinander zweier, die volle Rechtsfähigkeit bedingender Momente meint
Konrad Maurer, ') dass die Darreichung der Nahrung wohl der ältere, die
Wasserweihe vielleicht der jüngere Brauch sei, zumal in südgermanischen
Rechten nur die Namengebung maassgebend erscheine, während man nicht
nachweisen könne, ob die damit verbundene Ceremonie die Wasserweihe war .
Nach westgothischem Rechte knüpfte sich der Rechtsschutz des Kindes aller
dings an die Taufe.
Dass sich im Leben der germanischen Völker das Recht des Neuge
borenen auf Fortleben ganz ähnlich wie bei anderen Naturvölkern gestaltete,
stellt der hier mehrfach citirte Karl Weinholda) dar : „ In dem Alterthum
trat der Einzelne hinter die Gesammtheit zurück . Wie selbst die Dichtkunst
nicht als eine Gabe zu Lust und Nutz des Einzelnen galt, sondern der Dichter
nur der Mund schien , durch welchen der Volksgeist seine Poesie ausströmen
liess, so war auch in allen übrigen Verhältnissen die Gemeinde der lebendige
Quell, aus dessen Fluth der Einzelne bald Leben, bald Tod schöpfte . Das
Leben des Einzelnen hat natürlich in solchen Zuständen keine hohe Bedeu
tung , sondern wenn die Gesammtheit es zu vernichten beschliesst, so muss
es erlöschen . Dem Staate, der auf der Männer Stärke gebaut war, musste
daran liegen, diese sich zu wahren ; darum tritt überall im Alterthume das
Streben hervor, einen schwächlichen Nachwuchs zu unterdrücken und jedem
freien Vater wird das Recht ertheilt, schwache Knaben bald nach der Geburt
auszusetzen . Das Leben der Mädchen war völlig dem Gutdünken des Vaters
überlassen .“
„ Diese allgemeinen Bemerkungen sind auch für die Germanen als richtig
aozunehmen . Wir räumen damit jener Mittheilung des Tacitus, dass die
1) „ Ueber die Wasserweihe des germanischen Heidenthums.“ München 1880 .
2 ) A. a . 0. S. 90 .
3. Germanisches Kinderrecht. 399
Zahl der Kinder irgend zu beschränken , unter ihnen für verbrecherisch gelte
(Germ . 19 ), nur eine bedingte Wahrheit ein . ") Auch bei den Germanen
herrschte einst allgemein die alte Sitte , die Kinder auszusetzen . Sie schränkte
sich jedoch früh auf einzelne Stämme ein .“
Von da an schritt das Kind mit den Jahren in gewissen Zeitabschnitten
zu höheren Rechtsvortheilen empor. Vom dritten bis zum neunten
Jahr erhöhte sich nach westgothischem Rechte alle drei Jahre das für das
selbe zu zahlende Wergeld um 10 Solidi; vom neunten Jahre an mit jedem
Jahre um ebensoviel höher. Das Delbrücker Landrecht macht gewisse Rechts
vortheile für das Kind davon abhängig , ob es eine Lampe auszublasen
vermag.
Die rechtliche Stellung der Kinder in der Familie der alten Germanen
geht unter Anderem aus folgendem Brauche hervor : Wenn in frühen Jahr
hunderten die ganze Familie ausging , so schritten zuerst die Mädchen , dann
die Mutter, sodann der Vater, schliesslich die Söhne. Dem Vater folgten
die Söhne , weil sie, gleichsam das stehende Heer des Hauses, ihn als ihren
Waffenmeister und Feldherrn an der Spitze haben mussten .?)
Eine gewisse Zurechnungsfähigkeit trat schon vor der Mündigkeit
ein . Mit dem siebenten Jahre wurden die Knaben den Frauen genommen
und bei Männern erzogen ; von dieser Zeit an fängt das Kind an zu lernen .
Bis zum achten Jahre hat der Vater alle Handlungen des Kindes zu verant
worten ; vom achten Jahre an nimmt und büsst der Knabe halbes Recht.
Kinder unter sieben Jahren lässt die Volkssage auf folgende Art prüfen : Es
wird ihnen ein Apfel und ein Geldstück vorgehalten ; greifen sie nach dem
Apfel, so kann ihnen ihre That nicht vorgeworfen werden.3)
Die deutschen Stämme hatten verschiedene Zeiten für die Mündigkeit ;
mit zehn Jahren wurde bei den Angelsachsen das Kind mündig ; ebenso bei
den Westgothen ; mit zwölf Jahren bei den Longobarden , mit dreizehn Jahren
nach schwäbischem Landrecht, mit fünfzehn Jahren in Burgund . Allein das
ist nur die erste Stufe : 4) der Knabe gelangte hiermit erst „ zu seinen Jahren ,"
oder „ zu seinen Tagen ;“ und die volle Majorennität trat erst mit achtzehn
Jahren ein , denn im schwäbischen Landrecht heisst's :
„ Wann ein Mann komt zu achtzehen jaren , so hat er seine volle Tage.“
Dagegen heisst's in Lambrecht's Alexander :
1) Tacitus scheint bei diesem „numerum liberorum finire flagitium habetur“ römische Zustände
im Auge gehabt zu haben und es als ungermanisch zu bezeichnen , durch künstliche Mittel den Abortus
zu bewirken .
2 ) Götzinger , Reallexikon des deutschen Alterthums. Leipzig 1881. S. 93.
3) Grimm , Rechtsalterth. S. 410.
4 ) Auch bei den alten Indern gab es verschiedene Lebensstufen ; die erste Stufe eines Arya
begann mit dem 7. bis 15. Jahre. Reste alter Rechtsbräuche finden sich vielleicht in jenen Sitten,
welche noch immer hier und da, z. B. in der baierischen Oberpfalz, von den Gevattern hinsichtlich der
Beschaffung der Kleidung für den kleinen heraufwachsenden Pathen beobachtet werden . Das kleine
und das grosse „ Dodegewand“ werden dem Kinde zu bestimmten Zeiten und in gewissen Altersperioden
übergeben. Den Zeitpunkt, wo der Knabe aus der mütterlichen Pflege in die höhere Stufe der väter
lichen Erziehung eintritt, bezeichnet die Vertauschung des bisher getragenen Kittels mit den Hosen.
Hierüber Näheres im ersten Bande Seite 218 und 219 .
400 Recht, Stellung und Pflicht des Kindes.
Ein eigentliches Recht auf das Fortleben hatten die Kinder auch im
alten Griechenland und in Rom nicht. In Griechenland war mit Aus
nahme von Theben die frühe Aussetzung des Kindes nicht verboten , nament
lich kam die Aussetzung oft bei Töchtern vor, weil man fürchtete, sie aus
statten zu müssen . Allein sobald man angefangen hatte, ein Kind aufzuziehen ,
wurde es für strafbar gehalten , dasselbe noch auszusetzen .
Bei den Altgriechen theilten die Gesetze alle Kinder in vier Klassen :
1. rechtmässige, von der Gattin geborene Kinder, 2. unrechtmässige , von
einer Beischläferin geborene, 3. Kinder , deren Vater unbekannt war und
4. Adoptivkinder . In den Zeiten vorgeschrittener Civilisation erkannte das
Gesetz nur die als rechtmässige Kinder an , deren Vater und Mutter Bürger
eines und desselben Staates waren. In gewissen Staaten erbten die unehe
lichen Kinder das Vermögen ihres Vaters, wenn keine ehelichen Kinder vor
handen waren . Das natürliche Gefühl, Liebe zu den Eltern , bewog die
Kinder, die gewöhnlichsten häuslichen Arbeiten bei ihren Eltern zu verrichten ,
z . B. ihre Füsse zu waschen , sie zu salben etc. Sie sorgten für ihre Be
dürfnisse und opferten Alles auf, um ihrer sterblichen Hülle ein anständiges
Begräbniss zu geben . Die Gesetze Solons bestraften diejenigen mit der Atimie
(dem Verluste der bürgerlichen Rechte ), welche die Urheber ihres Lebens
misshandelten ; auf der anderen Seite entbanden sie die Kinder von der Pflicht,
für den Unterhalt ihrer Eltern zu sorgen , wenn diese vernachlässigt hatten ,
sie ein Geschäft lernen zu lassen , das sie in den Stand setzte, sich zu er
nähren (Pouqueville). In Athen wurden Kinder von Staatswegen gegen
die väterliche Gewalt in Schutz genommen .
Ueber die Stellung der Kinder zu ihren Eltern bei den alten Griechen
im Heroen -Zeitalter und in den Anschauungen Homers sagt Pouqueville
recht treffend : „ Die Zuneigung und die Zärtlichkeit der Gatten theilte sich
den Kindern mit. Während der Vater in der Tochter die Reize seiner Gattin
wiederfand , freute sich diese , an den Söhnen die Züge des Vaters wieder
zuerkennen . Hieraus entsprang die Ehrfurcht der Kinder vor ihren Eltern,
die einer göttlichen Verehrung nahe kam .“ Zu jener Zeit hielt sich unter
den Brüdern jeder für verpflichtet, dem Erstgeborenen nachzustehen .
4. Griechisches und römisches Kinderrecht. 401
die Eide seiner Töchter ' für null und nichtig zu erklären , während er dies
mit denen seiner Söhne nicht thun konnte. ")
Was das Verhältniss zwischen Eltern und Kindern betrifft , " sagt
Plath ), ,,50 förderte die tief untergeordnete Stellung des Sohnes unter
den Vater offenbar das System der Unterordnung und des unbedingten
Gehorsams, welchen das ganze chinesische Leben beherrscht; aber die
gänzliche Unselbstständigkeit des Sohnes bei Lebzeiten des Vaters wird
auch zu dem Mangel einer selbstständigen freien Entwicklung in China
wesentlich beigetragen haben . Die Vorschriften über Pietät gehen oft in's
Kleinliche und fast in's Abgeschmackte." Es wird in den ältesten Büchern
der Chinesen , welche Vorschriften über das Benehmen geben, streng unter
schieden zwischen den beiden Altersepochen der Kindheit ; insbesondere
müssen die Knaben und Mädchen , die noch nicht den männlichen Hut und
die Haarnadel angelegt haben , von früh bis Abends in kleinlichster Weise
zahlreiche Zeichen der Aufmerksamkeit und Unterthänigkeit beobachten ;
doch auch die älteren Söhne und Töchter sind auf ein fortgesetztes ehr
ehrerbietiges Betragen angewiesen , dessen ausführliche Darstellung in jenen
alten Werken (Li-ki, I - li und andern ) uns höchst lächerlich erscheint. Die
den Kindern auferlegten Pflichten der Pietät gipfeln in völliger Hingabe
unter des Vaters Willen und in Gehorsam gegen die Mutter, die doch
immerhin nur den zweiten Platz einnimmt. Bei der in China heimischen
Polygamie müssen auch die Kinder der zweiten Frau die erste Frau vor
schriftsmässig als Mutter ehren .
Von manchen asiatischen Völkern können wir nur Rühmliches bezüglich
der Stellung melden , welche sie dem Kinde in der Familie einräumen . Im
bäuslichen Leben ist der Mongole, wie Prschewalski bezeugt, ein aus
gezeichneter Familienvater und seine Kinder liebt er leidenschaftlich. Wenn
man einem Nomaden etwas gab , so vertheilte er es stets unter alle seine
Familienglieder, wenngleich bei einer solchen Vertheilung , z . B. der eines
Stückchens Zucker, nur ein kleines Körnchen auf jeden kam . Die Kinder
gewähren den älteren Mitgliedern der Familie hohe Achtung. Nach der
Beobachtung des Dr. Brehm erfüllt die Ostjakin ihre Mutterpflichten in
der besten Weise, und sie liebt ihre Kinder zärtlich , Denselben wird vor
Allem Ehrfurcht vor Gott und Friedfertigkeit im Verkehr mit den Nachbarn
eingeprägt.
Die väterliche Gewalt ist bei den Dravidas, den Urbewohnern Vorder
Indiens, unbedingt und hat keine Schranken , und ein Sohn kann vor des
Vaters Ableben keinerlei Art von Eigenthum besitzen : Grund und Boden
vererbt, sammt dem Vieh , nur auf die Söhne; Töchter können kein Land
besitzen . In manchen Bezirken bekommt der älteste Sohn einen Extra
antheil; Schmucksachen , Hausgeräth , Geld , überhaupt bewegliche Sachen,
fallen den Töchtern zu , welche von den Brüdern erhalten werden , bis sie
1 ) Leopold Katscher, Bilder a . d . chines. Leben . Leipzig und Heidelberg 1881. S. 53 .
2) „ Ueber die häusl. Verhältnisse der alten Chinesen." München 1863. S. 47 .
6. Kinderrecht der Afrikaner. 405
heirathen ; dann erhalten sie eine Ausstattung . Ein Grundbesitzer, der ohne
Manneserben stirbt, wird von der Dorfgemeinde beerbt, und diese vertheilt
den Nachlass .
Bei mehreren Völkern Afrika's gilt, wie wir oben anführten , das Neffen
erbrecht. Als eines von den vielen Beispielen nennen wir die Kimbunda,
bei welchen die Söhne als Eigenthum des mütterlichen Onkels gelten , wel
chen sie auch beerben. Derselbe verfügt über sie unbeschränkt und kann
sie im Nothfalle auch verkaufen. Nur die von Sklavinnen geborenen Kinder
gelten als Eigenthum des Vaters und sind auch seine Erben .")
Die Afrikaner zeichnen sich durch eine ganz bedeutende Anhänglich
keit an die Mutter aus, welcher die Sorge für die Kinder fast ausschliess
lich anheimfällt; daher fühlen sich die Kinder zur grössten Liebe für sie
verpflichtet; sie ehren dieselbe und fürchten den Vater . Mungo Park
spricht von diesem schönen Zug im Charakter der Mandingo -Neger und
gedenkt als eines Beweises für diese Thatsache eines Sprichworts , das bei
ihnen in Aller Munde ist : „ Schlage mich , aber fluche nicht meiner Mutter."
Wilsona) constatirt, dass dieses Gefühl allen afrikanischen Stämmen eigen
ist: „ Ein Afrikaner wird überall Alles, was gegen seine Mutter gesagt wird ,
sei es auch noch so unbedeutend, schneller ahnden , als irgend eine ihm
selbst zugefügte Beleidigung, und wenn ihn nach seinen Begriffen von Ehre
und Pflicht irgend Etwas veranlassen kann , das Blut seines Nebenmenschen
zu vergiessen , oder sein eigenes Leben zum Opfer zu bringen , so ist es
gewiss die Vertheidigung der Ehre seiner Mutter.“ Dies ist auch ganz be
sonders bei den Kru -Negern der Fall. „ Unter Knaben sind Verunglim
pfungen der Mutter immer die hauptsächlichsten Ursachen heftiger Streitig
keiten und Zwiste.“ 3) Bei Streitigkeiten der Kinder unter sich wird hier der
Vater als Schiedsrichter der Familie angerufen , da zwischen den Kindern
der verschiedenen Mütter eines und desselben Haushaltes bei der Polygamie
Streit und Zwietracht fortwährend im Gange sind. Die Kinder hören , wie
ihre Väter von den Müttern der Parteilichkeit beschuldigt werden , und oft
genug mag sich ihnen die Frage aufdrängen , ob ihrem Vater überhaupt
irgend ein Grad von Theilnahme für sie eigen sei? Alle dem Vater zuge
wandte kindliche Zuneigung entwickelt sich gewöhnlich erst im reiferen
Alter, wenn die Kinder ihre Stellung besser begreifen lernen und im Verkehr
mit der Gesellschaft ausserhalb des Hauses häufiger des Beistands und der
Vermittelung des Vaters , als der Mutter bedürfen . Eine besondere recht
liche Stellung haben die Kinder bei den Negervölkern nicht. Unter den
Batta -Negern werden die Kinder zu schwerer Arbeit angehalten , damit die
Eltern faullenzen können . In Zeiten der Noth soll es bei mehreren Neger
stämmen vorgekommen sein , dass Väter ungestraft ihre Kinder in die Sclaverei
verkauften .
Das Verhältniss der Kinder zu Mutter und Vater ist bei den Negern der
Loango -Küste ein solches, dass man sieht, wie sehr die Mutter fort und
fort bevorzugt wird. Selbst ältere Personen rufen noch , in Erinnerung der
sorgsamen Schützerin ihrer Kindheit, bei Schmerzen , Noth und Kummer stets
das Wort: Mutter , Mama. Den Vater hört man in dieser Weise nicht er
wähnen . Die Mutter titulirt auch ihre längst erwachsenen Sprösslinge stets
noch „ Kind." )
Die Negerinnen in Angola (Westafrika) scheinen sämmtlich sehr viel
von ihren Kindern zu halten, wenigstens lässt die Mutter dem Kinde oft eine
äffische, übergrosse Sorgfalt zu Theil werden , und misshandelt oder straft
das Kind fast niemals. Nur ein einziges Mal sah Pogge in Loanda ?) eine
Mutter ihr Kind auf sehr schimpfliche Weise strafen . „ Wahrscheinlich ,“ sagt
derselbe, „ ist diese Liebe eine natürliche, wenngleich auch die socialen Ver
hältnisse etwas Einfluss üben könnten ; nach alten Traditionen nemlich gehört
in Angola (ohne Cassange) gerade so , wie jetzt noch in Songo , Minungo
und Kioko, das Kind dem ältesten Bruder resp . den Brüdern der Mutter .
Stirbt ein Kind , so ist der Vater oder die Familie desselben verpflichtet,
dem gesetzlichen Eigenthümer den Schaden mit Sclaven oder Vieh zu
ersetzen .
Wo das Neffen -Erbrecht gilt, sagt Pechuel-Loesche bei seiner Be
sprechung der Zustände an der Loango-Küste unter den Bafiote - Negern ,
behält die Frau viel festere Beziehungen zu der Familie , der sie entstammt,
als sie mit dem Gatten eingeht, dem sie folgt. Ihre Kinder werden nicht
diesem , sondern ihrer Familie geboren ; nicht der Vater, sondern die Mutter
und deren Anverwandte, namentlich der Erbonkel, haben die wichtigste Ver
fügung über dieselben . So sind die höchsten Geiseln und Bürgen des Negers
nicht die eigenen Kinder eines Mannes, sondern die seiner Schwester. Ver
schiedene Klauseln des unter diesen Negern geltenden Erbrechts sind so
günstig für Mutter und Sprösslinge, die ausserordentliche Liebe und Ver
ehrung, welche Letztere für ihre Erzeugerin hegen , geben dieser ein solches
Gewicht in der Familie, dass naturgemäss auch ihre öffentliche Stellung da
durch wesentlich beeinflusst wird.3)
Erst vom 20. Lebensjahre an ist der junge Neger auf der Goldküste
sein eigener Herr. Während fast bei allen Negerstämmen die Kinder von
dem Vater erben, ist es auf der Goldküste Sitte , dass die Bruder- und
Schwesterkinder erben . . Wenn unter den Galla ein Vater stirbt und viele
Kinder hinterlässt, so erbt der älteste Sohn Alles ohne Theilung. Lebt der
Vater, wenn der Sohn anfängt, sein Haupt zu scheeren , was so viel heisst,
als dass er die Mannheit erlangt habe, so giebt er 2-3 Melkkühe nach
seinem Vermögen . Ueberdies ist der älteste Sohn verbunden , den altersschwachen
Vater zu ernähren . Bei den Betschuanen bleiben die Mädchen ganz bei der
sie erziehenden Mutter, bis sie verheirathet werden ; die Knaben hingegen
übernimmt vom 6. Lebensjahre an der Vater, um sie zu Jägern , Viehhirten
oder Ackerbauern auszubilden . Wenn dann der junge Mensch sich im Dienste
seines Vaters oder eines Anderen einiges Vermögen erworben hat, so kauft
er sich mehrere Ochsen und eine Frau .
Die Erbschaftsgesetze der Somali sind von denen der meisten mo
hammedanischen Völker abweichend . Nur die männlichen Nachkommen
erben , während die Töchter gar keinen Anspruch haben ; selbst das mütter
liche Erbtheil geht auf die Söhne über . Stirbt ein Familienvater ohne
männliche Nachkommen , so sind die Söhne seines Bruders die nächsten
Erben ; erst in zweiter Instanz erben seine männlichen Nachkommen . Der
Sobn muss nach dem Tode seines Vaters seine nächsten weiblichen Ver
wandten ernähren (Haggenmacher ).
Unter den Arabern Algeriens herrschte von jeher nur der Familien
begriff: Vater, Mutter und Kinder, das waren für sie die unentbehrlichen ,
aber auch genügenden Bedingungen des Gemeinwesens. Und dieses von
der Natur geordnete Zusammenleben musste durch das Nomadenthum noch
eine besondere Verkittung und Ausprägung erfahren . Die Weltverlassenheit
auf den endlosen Steppenweiden , die mancherlei Gefahren , das waren Dinge,
die das einfache väterliche Zelt als trautes Heim erscheinen liessen und das
Band , das die Natur geschlungen , noch verstärken . Ganz besonders aber
wurde die Stellung des Vaters durch das Nomadenleben gehoben . Doppelt
nothwendig musste ja in so unstetem Dasein eine feste leitende Hand, eine
einheitliche Führung erscheinen . So wurde der Hausvater zum Hausherrn,
zum unumschränkten Herrscher , dem gegenüber alle Familienglieder nur
Unterthanen, Diener , willenlose Individuen waren . Wenn man nun auch
dieses Unterwürfigkeitsverhältniss die Söhne in unwillkürlichem Vorgefühl
davon, dass sie ja auch einst zu ähnlicher Machtstellung berufen sein würden ,
weniger fühlen liess, wenn diese gewissermaassen als Erbprinzen vom Vater
gehätschelt wurden , so mussten es dafür um so mehr die weiblichen Familien
glieder empfinden , die ja niemals eine andere Geltung, als die absolut Unter
gebenen erlangen konnten . )
Das Familienleben der Malayen ist meist friedlich und glücklich ; der
Vater wird von seinen Kindern hochgeehrt und bleibt dies auch , wenn letztere
erwachsen sind.
legen ) vererbt sich das Landstück stets auf die Verwandten „ derselben Seite
des Hauses,“ d . b . auf die Kinder der Schwester. Im Falle keine männ
lichen Nachkommen leben , fällt den Töchtern die Hinterlassenschaft zu .")
9. Die Adoption .
Die Adoption nimmt im Rechte des Kindes eine ganz besondere Stelle
ein . Selbst tieferstehende Völker, von welchen wir schon einige Beispiele
angeführt haben , üben die häufig bei ihnen vorkommende Sitte, dass sie an
genommene Kinder fast ganz den leiblichen gleichstellen . Die Eskimo
knüpfen mit Kindern dergleichen Verbindungen , die ebenso eng sind , wie die
Bande des Blutes ; der Pflegesohn gilt bei ihnen als Erbe der Familiengüter
(Cap . Lyon). Auch unter den Fellatah in Centralafrika soll die Kinder
Adoption sehr verbreitet sein und nach Denham fällt dann die ganze Erb
schaft den fremden , nicht den eigenen Kindern zu . Auf Madagaskar
nimmt man verwandte Kinder in Pflege, achtet sie wie die eigenen, und die
wirklichen Eltern geben dagegen alle ihre Rechte auf (Sibree). Spuren
einer Adoption finden wir schon bei den Oceaniern. Auf den alten
Marianen - Inseln wird das Kind einer verstorbenen Mutter von einer weib
lichen Verwandten aufgezogen (Freycinet), ebenso auf den Gilbert - Inseln ;
hier glaubte man , dass die Seelen gestorbener Kinder von früher gestorbenen
Verwandten im Himmel ernährt werden (Hale). Auch auf den Tonga
Inseln herrscht nach Mariner die Sitte , dass Frauen sich zu Müttern fremder
Kinder machen, um sie zu ernähren ; dieselbe Sitte besteht ferner auf den
Samoa-, Marquesas- und anderen polynesischen Inseln , ) z . B. auf den Banks
Inseln. )
Bei den Römern spielte die Adoption eine wichtige Rolle . Sie wurde
durch eine Nachahmung des Geburtsactes abgeschlossen und war obne diese
Scheinhandlung nicht gültig . Selbst Juno, als sie das Kind ihres Gatten,
den Herkules, adoptiren wollte, musste , wie Diodor sehr bezeichnend sagt,
dieser „ Sitte der Barbaren “ sich unterziehen . Ebenso musste der Adoptiv
vater bei den Aethiopiern dem Adoptivkinde kurze Zeit die Brust oder den
Daumen reichen, damit es einen Augenblick daran sauge. Einige Völker
gebrauchen noch heute als Symbol der Adoption das Säugungsgeschäft;
will z. B. eine Circassierin Jemand adoptiren , so reicht sie ihm die Brust.
In Japan findet eigenthümliche Adoption statt; dies ist ein System ,
durch welches ganze Generationen sich auf Abnen berufen können , von denen
sie in Wirklichkeit gar nicht abstammen ; es hat diese Adoption die Absicht,
dasselbe Geschäft wenigstens scheinbar in derselben Familie fortbestehen zu
lassen . Ein Musiker z. B. erkennt vielleicht irgend einen Musiker als Sohn
an , während vielleicht sein leiblicher Sohn von einem Arzt adoptirt ist und
dessen Generation fortsetzt.
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL .
Völkern Afrika's in Siam u . s. w.-) Eine nicht geringe Zahl der Urvölker
begeht hingegen bei solcher Gelegenheit ein weitläufiges Ceremoniel, das
mit nicht geringen Peinigungen und Standhaftigkeits - Prüfungen des jungen
Menschen verbunden ist. Es liegt in der Natur solcher Völker , den Jüng
ling , sogar selbst das junge Mädchen erst dann als „ mannbar“ zu be
trachten , wenn sie im Stande waren , zu zeigen , dass sie nicht Geringes im
Ertragen von Schmerz und Weh leisten .
Die Naturvölker sind, wie wir in Folgendem sehen werden , in den quä
lenden Proceduren , die dabei vorgenommen werden , äusserst erfindungs
reich . Sie unterwerfen die jugendlichen Wesen so mannigfachen Misshand
lungen , dass wir uns fragen müssen , wie und warum sie gerade diese be
sondere Form von Probe wählten und keine andere . Man bleibt die
Antwort schuldig ; denn man findet keine Andeutung , warum beispielsweise
die Australier ebenso wie die Pepos in Formosa das Ausbrechen eines
Zahnes , die Battas auf Sumatra das Zuspitzen und Schwärzen der Zähne,
der Indianer dagegen den Biss der Ameisen , andere Völker wieder andere
Prüfungs-Methoden wählten . Allein es ist wohl anzunehmen , dass alle diese
Methoden sich schon in sehr früher Zeit bei ihnen heimisch gemacht haben ,
und dass ein jedes Volk sich ursprünglich für diejenige Aufnahme-Ceremonie
entschied , die sich seinem Empfinden und Denken gemäss als ein der wich
tigen Uebergangsperiode angenommener Act darstellt, und mit welcher man
dann noch manche festliche Bräuche verband . Dass dagegen die mit der
Mannbarkeits-Erklärung bei vielen Völkern verbundene Beschneidung die
besondere Aufgabe hat, dem jungen Manne die sexuelle Reife zu verschaffen ,
zeigten wir Bd. I. S. 368.
Das Klima und die ganze Naturumgebung üben einen bestimmenden
Einfluss auf die Zeit der Mannbarkeits -Erklärung aus . Dies hat schon Th.
Waitz 4) hervorgehoben : „ Mit der Wirkung des Klima's steht die leibliche
Präcocität in einer inneren Verbindung theils direct, theils insofern die Länge
der Kindheit, die man als einen Hauptvorzug des Menschen vor dem Thiere
schon oft hervorgehoben hat, die Dauer der grössten Bildungsfähigkeit be
stimmt und ihr Ende in leiblicher wie in geistiger Hinsicht einen gewissen
Abschluss der Entwickelung herbeiführt, theils insofern kurz nach dem Ein
tritt der Pubertät beide Geschlechter in neue Lebensverhältnisse einzutreten
pflegen, in denen sie sich selbständig bewegen und eine Reihe von Thätig
1) Dabei Aenderung des Namens bei Eintritt der Mannbarkeit: am Nutkasund, in Neu-Guinea,
Japan, bei Samojeden siehe R. Andree in Zeitschr. f. Ethnol. 1876. S. 257 . Unter den Bewobnern
des Seengebiets in Australien wechselt die Bezeichnung für Knaben und Mädchen nicht; es giebt
keinen Ausdruck für Kind, wie man keinen für Mensch hat. Nur mit den Altersstufen wechseln die
Bezeichnungen ; Knaben unter 9 Jahren heissen kurawulie, nach dieser Zeit mockaworo etwa bis zum
12. Jahre, nach der Beschneidung heissen sie thutschawara. Die Mädchen unter 10 Jahren heissen
kupu, von da ab führen sie den Namen munkara . Ein junger Mann, stolz im Besitz des ersten Bart
haares, heisst thurrie, später mathani, die alten Männer pinaru ; die verschiedenen Altersstufen der
Frauen bezeichnen die Worte widla, kudlaku und widlapena . E. Jung in : „ Aus allen Welttheilen."
1877. S. 353. Heft 12 .
1) Anthropologie der Naturvölker. 1. Aufl. 1859. I. S. 398.
1. Australier.
413
keiten und Sorgen für sich und Andere zu übernehmen haben , die ihnen
gewöhnlich weder Musse noch Neigung zu fernerer eigener Fortentwickelung
übrig lassen .“
Die Reihe der Urvölker , welche wir im Folgenden Revue passiren
lassen , würden sich wohl vergrössern lassen . Allein sie genügt, um zu
zeigen , wie diese rohen Menschen den wichtigsten Schritt im menschlichen
Leben behandeln , und wie sehr sich ihr ganzer Charakter dabei in jedem
Zuge ihres Benehmens ausspricht. Eine Neigung zu höherer Anschauung ,
eine wirklich geistige Auffassung der Einweihung eines Jünglings zum Manne,
eines Mädchens zur Jungfrau fehlt ihnen fast ganz. Die körperliche Kraft
und die Tugend der Standhaftigkeit und der Disciplin werden bei ihren
Weihe-Acten vor Allem hervorgehoben als die Forderungen , die man dem
jungen Menschen bei der nun gewählten grösseren Selbstständigkeit zu
stellen , sich für berechtigt hält. Wie anders fassen dagegen gesittetere
Völker die wichtige Uebergangsepoche auf! Bei ihren Einweihungsacten
kommt mehr und vorzugsweise die Anerkennung der grösseren geistigen
Reife zur Geltung . In dieser Hinsicht spricht sich schon ein dem Edleren
zugewendeter Charakter in den Sitten und Bräuchen der alten Mexikaner
und Peruaner , sowie der Römer und der Germanen zu jener Zeit aus, wo
diese letzteren Völker in die Geschichte eintreten .
1. Australier .
Augenzeuge mit. Alle Jünglinge aus der Nachbarschaft von Port Jackson ,
an welchen bisher diese Operation noch nicht vorgenommen worden
war , wurden gegen Ende des Januar zu der Ceremonie zusammenge
rufen auf einen offenen Platz, genannt Yoolang, der zu dieser Handlung her
gerichtet war. Hier hatten sich die eingeborenen Stämme versammelt,
bemalt und bedeckt mit Federn und anderem Schmuck , bewaffnet mit Keulen
und Spiessen . Bevor nun diese Ceremonie selbst stattfand , wurde jede
Nacht getanzt, doch am zweiten Februar langte das Volk von Cammeray
(Camera -gal) an und mit ihm der Koradjee oder Priester , der die Operation
des Zahnausbrechens ausführen sollte. Auf der einen Seite des Platzes
stellten sich die von ihren Freunden umgebenen Knaben auf, deren jeder
einen Zahn hergeben musste. Auf der anderen Seite befand sich das be
waffnete Volk , welches die Ceremonie mit Singen und Schreien , mit Zu
sammenschlagen der Schilde und mit dem Aufstampfen der Füsse eröffnete,
indem der ganze Trupp gegen die Knaben vorging . Bei denselben fast an
gelangt, stürzte einer der Männer aus der Schaar vor, ergriff einen Knaben
und kehrte zu seiner Partei zurück . Hier wurde der Knaben mit einem
lauten Schrei empfangen ; man nahm ihn in die Mitte und hielt die Speere
vor ihn , damit er nicht wieder befreit würde. In dieser Art wurden die
Knaben , ungefähr 15 an der Zahl, nach und nach eingefangen ; sie wurden
an dem einen Ende des Yoolang niedergesetzt; jeder von ihnen hielt seinen
Kopf mit den Händen und kreuzte die Beine unter sich .
Nun begannen die Koradjees ihre mystischen Bräuche. Einer von ihnen
warf sich plötzlich auf den Erdboden , verfiel in eine scheinbare Bewusst
losigkeit, und während die Andern um ihn her tanzten , sangen und ihn mit
Stecken schlugen , that er, als ob er von einem Knochen befreit würde, der
dann bei der folgenden Ceremonie eine Rolle spielte. Kaum hatte sich
dieser Mann, in Schweiss gebadet, vom Boden erhoben , so fiel ein Anderer
in scheinbare Agonie und es wurde abermals ein Knochen producirt , nach
und nach so viele , als Knaben vorhanden waren , die in die Männerwelt
-
Das Vorzeigen eines todten Känguruh sollte andeuten , dass die Knaben
fähig würden , solche Thiere zu tödten , während das Reissigbündel das
Nest des Thieres vorstellte. Indem einige der Männer langes Gras sam
melten , das sie wie einen Schwanz an ihren Hintertheil hielten , suchten sie
lebende Känguruhs vorzustellen , auf die zwei Andere mit ihren Waffen Jagd
machten .
Plötzlich ergriff dann jeder dieser Männer einen Knaben , hob ihn auf
seine Schultern , trug ihn im Triumph umher, und ebenso nahmen Männer
andere Männer auf die Schultern , wobei sie wilde Grimassen machten,
Andere legten sich nieder und die Knaben wurden auf deren Körper gelegt.
Dergleichen excentrische Schaustellungen wurden noch in mancherlei Form
vorgenommen , dann aber schritt man zur eigentlichen Operation. Zuerst
wurde ein Knabe auf die Schultern eines im Grase sitzenden Mannes ge
setzt. Der Knochen , welcher am Tage zuvor zum Vorschein gekommen
und an einem Ende zugeschärft war, wurde dazu benutzt, das Zahnfleisch
aufzuschneiden , um die Extraction des Zahns leicht zu bewerkstelligen .
Mittels eines Holzsteckens von 8-10 Zoll Länge, welcher vom Operateur mit
dem einen Ende am Rande des Zahnfleisches angesetzt wurde , während er
auf das andere Ende mit einem grossen Steine schlug , war es bald ge
lungen , den Zahn auszubrechen . Nachdem dies vollbracht, wurde der Knabe
wieder in die Nähe seiner Freunde gelegt, die sein Zahnfleisch schlossen
und ihn mit den Decorationen seines neuen Standes versahen . Rings um
seinen Unterleib legte man einen Gürtel, in den man ein hölzernes Schwert
steckte, auch wand man um seinen Kopf ein mit den Blättern des Gras
baumes geschmücktes Band. Seine linke Hand legte er auf seinen Mund,
um ihn zu verschliessen , denn der junge Mann durfte nicht sprechen und
den ganzen Tag über nichts essen . Das Blut, welches aus der Wunde des
Zahnfleisches floss, wurde nicht abgewischt und rann auf die Brust des
Patienten und auf den Kopf des Mannes herab , auf dessen Schultern jener
sass ; hier musste es trocknen und liegen bleiben . Die Knaben hiessen von
nun an „ Kebarrah“ vom Worte „ Keba,“ d. i. Fels oder Stein .
Die Kebarrah - Ceremonie , wie sie von den Stämmen des Macquarie
Districts im Osten des Continents geübt wird , ist in ihren Einzelnheiten
einigermaassen verschieden von der beschriebenen , welche die südlich woh
nenden Stämme im Brauch haben . Zur Sommerzeit versammeln sich eines
Morgens die Stämme auf den Macquarie-Hügeln , um die Mysterien zu feiern .
Bei solcher Gelegenheit halten die feindlichen Stämme Frieden . Wenn der
Schall des Cooi-Rufes die Vorbereitungen verkündet, ziehen sich die Weiber
und Kinder in die Klüfte zurück . Die Stämme, bei denen die Ceremonie
ihren Anfang nimmt, eröffnen dieselbe mit einem langgezogenen schreck
lichen Schrei, der im Walde widerballt , und die anderen Stämme beant
worten denselben ringsum . Nach kurzem Schweigen ziehen sich die alten
Männer zurück , um eine Berathung abzuhalten , inzwischen schlagen die
jungen Männer die Bäume nieder, um den Platz frei zu machen . Ein anderer
416 Der Abschluss der Kinderjahre.
Schrei folgt, und der ganze Stamm versammelt sich im Kreise ; der Wakui,
eine Waffe , wird geschwungen , ihr Zischen ertönt in die Ferne und grosse
Feuer werden angebrannt. Bei solchen Gelegenheiten sind oft fünf- bis
sechshundert Eingeborene gegenwärtig ; ihre nackten Leiber haben sie mit
Thon bemalt und die Köpfe reichlich mit dem Flaum des weissen Schwans
bedeckt. Ein alter Mann stellt sich an einen Baum , macht die wüthendsten
Gesten und wirbelt seinen Wakui um sich her. Nun werden die Jünglinge
durch ihre Väter oder nächsten Verwandten in den Kreis gebracht und der
Kebarrah -Gesang beginnt, indem den Kandidaten auf's Schlimmste die Qualen
geschildert werden , welchen sie sich unterwerfen müssen . Dann schreitet
man zum Ausbrechen eines Vorderzahns. Dies wird so ausgeführt , dass
man in einen Baumstamm ein Loch macht, in welches man einen Stab von
hartem Holz steckt; dann bringt man den Zahn in Berührung mit dem Ende
des Stabes, indem eine Person den Kopf des Knaben in der richtigen Po
sition hält, worauf ein Anderer mit aller Kraft den Kopf von hinten nach
vorwärts stösst. Die Erschütterung bewirkt , dass der Zahn zumeist mit
einem Theil des anhängenden Zahnfleisches ausfällt. Einige Männer stehen
bei dem Leidenden und drohen ihm , ihn sofort zu tödten , wenn er Schmerz
äussert, während Andere lange Streifen in seinen Rücken und in jede
Schulter mit scharfen Steinen schneiden . Sobald das Opfer sein Leiden
nicht ruhig erduldet, vielmehr Klagen laut werden lässt, so proklamiren die
Operateure durch lauten Schrei, dass der Unglückliche nicht werth sei, sich
unter die Männer des Stammes zu mischen ; dazu kommen die Weiber und
bezeichnen spottend den Beschimpften als einen der Ihrigen . Hält jedoch
der junge Mensch die Qualen , ohne zu zucken , aus, so ist er hiermit in den
Rang eines Jägers und Streiters eingetreten ; man umringt ihn und über
giebt ihm das Mundi, d. i. ein kleines Stück einer krystallhellen Substanz,
das stets vor den Weibern verborgen gehalten wird. Schliesslich begrüssen
den Aufgenommenen , den man mit dem Schilde und den Kriegswaffen ge
schmückt hat, Männer und Weiber mit lautem Cooi-Rufen .
In den westlichen und südlichen Gegenden Australiens wird die Ein
führungs- Cerenomie mit dem Knaben in dessen 12. Lebensjahre vorge
nommen ; sie heisst dort Wily al Kanye und besteht in Folgendem : Jeder
Novize hat einen gewählten Pathen , der ihn auf dem Rücken in eines ande
ren Mannes Schoos legt; die Operateure stehen rings umber. Nun werden
den jungen Leuten die Augen verbunden und man legt sie auf einer ent
fernten Stelle nieder . Die Weiber klagen und kreischen . Die Knaben
werden mit ihrer Vorderseite auf den Erdboden gelegt, mit Kängurub
Fellen bedeckt, und die Männer lassen alle 3-5 Minuten Weberufe ertönen .
Nach einiger Zeit werden die Knaben wieder aufgehoben, und während sie
noch immer die Augen verbunden haben, werfen zwei Männer grüne Zweige
auf sie ; auch machen dieselben mit ihren Waffen und Schreien einen ganz
gewaltigen Lärm , während die Anderen im Halbkreise aufgestellt sind.
Plötzlich bringt Einer von diesen Leuten einen Zweig herbei und lässt ihn
1. Australier.
417
fallen , Andere folgen , und so wird nach und nach ein Haufen von Zweigen
gebildet, auf den schliesslich wie auf eine Plattform die Knaben ge
legt werden . Nun holen die Pathen ihre kleinen , geschärften Quarz
stückchen hervor, indem sie zugleich einen neuen Namen wählen für jeden
Knaben , den derselbe dann für's ganze Leben behält. Diese Namen enden
stets auf alta , ilti oder ulta . Die Pathen öffnen dann die Venen an ihren
eigenen Armen , lassen ihren Knaben den Mund aufsperren und träufeln
ihnen zunächst etwas Blut in den Schlund. Hierauf fallen die Knaben auf
Hände und Kniee , das Blut lässt man auf ihren Rücken rinnen , wo es zu
einer Masse gerinnt und eintrocknet ; ist diese fest genug, so bezeichnet ein
Mann die Stellen , auf welchen die Tättowirung stattfinden soll, indem er
mit seinem Daumen -Nagel das Blut entfernt. Nun macht der Pathe dem
Knaben mit seinem Kiesel einen tiefen Einschnitt in den Nacken und bringt
ihm breite, zolltiefe Wunden von der Schulter bis zu den Hüften bei. Ein
Büschel grünes Laub wird rings um den Unterleib geschlungen , um welches
noch ein Gürtel von Menschenhaar gebunden wird ; jeder Arm wird gerade
über den Ellenbogen mit einem Band umwunden ; um den Nacken windet
man ebenfalls ein Band , welches über den Rücken herabreicht und an den
Gürtel von Haar befestigt wird . Das Gesicht und die Vorderseite des
Körpers der jungen Männer werden mit Kohle geschwärzt. Zum Beschlusse
der Ceremonie umschwärmen alle Männer den Aufgenommenen ; sie ermahnen
ihn , einige Monate lang nur zu flüstern , und ertheilen ihm Unterricht im
Jagen , Fechten und Ertragen der Strapazen *).
Ganz eigenthümliche Gebräuche hat der Goulbourn -Stamm , nördlich
von Melbourne, unter anderen auch das Zahnausschlagen . Ein Jüngling,
der zur Mannheit eingeweiht werden soll , wird von den Stammgenossen in
den Wald geführt , wo er zwei Tage und eine Nacht bleibt und sich zwei
obere Schneidezähne ausschlägt, die er sorgfältig aufhebt und zurückgekehrt
seiner Mutter giebt. Dann geht er wieder in den Wald , wo er nun zwei
Nächte und einen Tag bleibt. Die Mutter aber sucht einen jungen Gummi
baum , den nur Wenige, nie aber der Sohn selber wissen dürfen , und steckt
die beiden Zähne in die obersten Aeste. Stirbt der Sohn , so schält man
die Rinde unten am Baum und tödtet letzteren durch ein Feuer, welches man
unten um den Stamm anzündet, so dass er als ein Denkmal des Todten
stehen bleibt (Wilhelminach W. v. Bandowski).
Bei den Frauen von Murray ist die einzige wichtige Handlung, die
Eyre kennen lernte , das „ Einkerben “ oder das Tättowiren des Rückens;
sobald ein Mädchen erwachsen ist, muss sie sich dieser schmerzlichen Ope
ration unterwerfen . Das junge Frauenzimmer kniet nieder und legt ihren
Kopf zwischen die Kniee einer alten starken Frau und der Operateur
1) In etwas abweichender Art werden diese Feierlichkeiten beschrieben von Wilhelmi, Man
ners and customs of the Australian natives. Melbourne 1862. 24. -- Köler, Monatsschrift der Geogr.
Gesellsch. zu Berlin , N. F. I. 55. Berlin 1844. Wilhelmi, „Aus allen Welttheilen ." 1. Jahrg.
1870. 122 . Nach diesem wird die Ceremonie im 18. bis 20. Lebensjahre vorgenommen.
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker . 2. Aufl. 27
418 Der Abschluss der Kinderjahre.
dies ist immer ein Mann macht mit einem Muschel- oder Feuersteinstück
reihenweise von der rechten zur linken Seite quer über den Rücken bis
dicht an die Schulter lange tiefe Einschnitte in das Fleisch . Der ganze
Anblick ist äusserst empörend , während die Schmerzensausbrüche des armen
Opfers sich zu einem langen Angstschrei steigern . Dennoch unterziehen sich
die Mädchen bereitwillig dieser Qual; denn ein gut gekerbter Rücken wird
sehr bewundert ) .
Im Seengebiet Australiens vollzieht man bei Mädchen und Knaben
die Operation ( Tschirrintschirri genannt) in folgender Weise : Zwei
etwa 30 cm lange Stäbe vom Cuyamurra -Holz werden an den Enden ge
schärft, so dass sie die Gestalt eines Keils haben , und zu beiden Seiten
eines der herauszuziehenden Zähne eingetrieben . Auf den Zahn selbst legt
man ein Stück Wallaby-Fell in 3—4 Falten und setzt darauf ein scharfes
etwa 60 Centimeter langes Stück Holz. Ein bis zwei Schläge mit einem
schweren Stein auf dieses Holz genügen in der Regel, den Zahn so zu
lösen , dass er mit der Hand herausgezogen werden kann. Der zweite Zahn
wird auf dieselbe Weise entfernt, worauf man dann feuchten Thon auf die
Wunden drückt, um die Blutung zu stillen . Obschon die Kinder noch sehr
jung sind und die Operation durchaus nicht schmerzlos sein kann, so verrathen
sie doch kaum durch ein Zucken des Gesichts , dass sie leiden . Drei Tage
nach der Operation muss das Kind sich wohl hüten, den Rücken von irgend
Jemand zu sehen , sonst wächst sein Mund zu und es muss Hungers sterben .
Dagegen ist es ihm gestattet, seinen Freunden in's Gesicht zu sehen. Die
ausgezogenen Zähne hüllt man in ein Bündel Emu -Federn , welche mit dem
unvermeidlichen Fett beschmiert sind, und bewahrt sie ein Jahr oder darüber
sorgfältig auf, damit die Adler sie nicht finden und dem Kinde dann an
Stelle der ausgezogenen grössere wachsen , welche sich in die Höhe krüm
men und unter grossen Schmerzen den Tod verursachen.
Fragt man nach dem Zwecke dieser Operation und Ceremonie , so er
hält man keine Antwort; augenscheinlich haben die Eingeborenen keine
Kenntniss eines solchen ; aber von dem Ursprung erzählen Sie , dass der
gute Geist , Muramura , nach Erschaffung des ersten Kindes diesem die be
treffenden beiden Zähne ausgeschlagen habe warum wird nicht ge
sagt. Die Veränderung im Aussehen des Kindes habe ihm zugesagt,
und daher sei der Befehl gegeben worden , man solle so mit jedem Kinde
verfahren .
Bis hierher haben sich Knaben wie Mädchen den vorgeschriebenen Riten
unterziehen müssen . Die merkwürdige Thatsache, dass die Australier durch
operative Entfernung der Eierstöcke bei jungen Mädchen weibliche
Castraten herstellen , hat erst neuerlich N. von Miklucho -Maclay ?) ge
meldet, nachdem man schon früher durch Roberts 3) von ähnlichen Exstir
1) Lubbock , Die vorgeschichtliche Zeit etc. Deutsch von Passow . Jena 1874. II. S. 150
2) Zeitschr. für Ethnol. 1882.
3 ) Dr. Roberts, Reise von Delhi nach Bombay, in Möller's Archiv . 1843.
1. Australier. 419
Der junge Mann darf bei diesen Besuchen das Lager nicht betreten ; bei
Tage ist er mit seinen Genossen auf der Jagd, bei Nacht schläft er allein
mehrere hundert Schritt von den andern .
Zur bestimmten Zeit kehrt der Jüngling in die Nähe seines Lagers
zurück – gewöhnlich dauert die Rundreise vierzehn Tage – und kündigt
seine Ankunft seinen Angehörigen dadurch an , dass er während des Tages
2- oder 3 mal ein Feuer von grünen Zweigen anzündet, dessen weithin sicht
bare Rauchsäule seinen Aufenthalt angiebt. Nun wird eine Anzahl alter
Frauen abgeschickt, um ihn in's Lager zu führen . Vater , Mutter und
Brüder kommen ihm entgegen , um ihn zu begrüssen , aber , ehe noch viele
Worte gewechselt sind, stürzt eine Anzahl junger Männer herbei , einer
packt sich den Jüngling auf den Rücken und , während die alten Männer
einen dreimaligen Ruf erschallen lassen , geht es etwa hundert Schritt weg
vom Lager. Der junge Mann wird auf die Erde gelegt und mit Fellen zu
gedeckt. So verbarrt er bis zum nächsten Morgen .
Im Lager ist es inzwischen lebhaft zugegangen . Die männlichen An
gehörigen fallen über die anderen Männer her , auf deren Anordnung die
ganze Sache geschieht, zuerst mit Worten , später mit Knütteln und Keulen ,
und es dauerte nicht lange , so ist die ganze Schaar damit beschäftigt, ein
ander gründlichst zu bearbeiten . Man hütet sich wohl, einander ernstlich
zu verwunden , aber Streiche und Stösse können nicht immer sorgfältig ab
gemessen werden , und wenn schliesslich Jeder seine eigene Hütte aufsucht,
so ist mancher Tropfen Blut geflossen , und der Kopf thut mehr als Einem
weh . Die Weiber haben ihr Möglichstes gethan , den Lärm und Aufruhr zu
vermehren ; sie kämpfen nicht selber, aber sie schreien , weinen , zischen und
regaliren ihre Feinde mit allen Schimpfworten , welche ihnen die Sprache
zur Verfügung stellt. Nun tritt verhältnissmässige Ruhe ein , die Weiber
schweigen ganz, ruhen auch wohl; die Männer aber bewegen , am Boden
sitzend, ihren Oberkörper fortwährend hin und her und singen oder summen
dabei auf eine höchst eintönige, unmelodische Weise den sogenannten Tha
hama. Gegen 4 Uhr Morgens müssen sich alle Weiber und Kinder wenig
stens 400 Schritt vom Lager entfernen . Hier lagern sie sich , die Weiber
legen ihre hölzernen Mulden , Pirras, vor sich nieder und schlagen auf die
selben in gemessenen Zwischenräumen von etwa einer Minute , die Männer
schlagen in gleicher Weise in ihrem Lager die Antwort auf ihre Pirras. So
bis der Morgen tagt.
Jetzt begeben sich alle Männer zu dem jungen Mann und umstellen
ihn in einem Kreise , in welchen der Alte tritt, dem die Operation zufällt.
Einer der jungen Männer ergreift eine Hand voll Sand und streut ihn,
schnell im Kreise um die Anwesenden laufend, auf den Boden . Dies treibt
den bösen Geist Kutschie aus und schliesst den Muramura, den guten Geist,
ein . Die Operation mit dem scharfen Stein , gewöhnlich Quarz , ist gewiss
höchst schmerzhaft, doch auch hier stösst der Leidende keinen Laut aus.
Ist sie vollendet, so beugt sich der Vater oder der nächste männliche Ver
1. Australier . 421
wandte über den am Boden Liegenden und giebt ihm unter dem Einflusse
des guten Geistes einen neuen Namen , den er fortan trägt. Der Knabe,
der zuerst ein Kurawulie und nachher ein Mockaworo gewesen ist , tritt
nun unter die Thutschawaras ein ; er hat fortan alle Rechte und Privilegien ,
welche den Männern zukommen .
Aber noch hat er zwei Prüfungen zu bestehen , ehe er die höchste
Manneswürde erreicht. Das erste ist das Willy aru, das Tättowiren .
An irgend einem Abend fallen plötzlich die alten Männer über den ahnungs
losen Thutschawara und tragen ihn aus dem Lager fort. Die Weiber er
heben sofort wieder ihr Geschrei und Weinen , das bis tief in die Nacht
hinein dauert. Der junge Mann schläft mit seinen Entführern einige hundert
Schritte vom Lager. Mit Sonnenaufgang kommen auch die übrigen Männer ,
die alten wie die jungen , zur Stelle, nur sein Vater und seine Brüder bleiben
zurück . Man gebietet ihm die Augen zu schliessen . Ein alter Mann , wel
cher dazu bestellt ist, lässt nun 3 oder 4 alte Männer zur Ader , so dass
das Blut auf den Körper des jungen Mannes strömt. Der Aderlass geschieht
nach Unterbinden des rechten Oberarms vermittels eines scharfen Steins .
Der junge Mann ist bald von Kopf bis zu Fuss mit Blut bedeckt, eine sehr
unangenehme Situation , wenn das Blut trocknet und hart wird. Das soll
dem jungen Krieger Muth einflössen ; er soll sich an den Anblick von Blut
gewöhnen . – Nun folgt der zweite Act. Dem jungen Mann wird befohlen ,
sich auf das Gesicht zu legen . Zwei junge Männer ergreifen scharfe Steine
und machen tiefe Einschnitte , an Zahl 6–12, auf Nacken und Schultern.
Wenn die Wunden heilen , so bleiben dicke Wülste als Narben , auf welche
der Eingeborene stets mit einem gewissen Stolze zeigt. Bis sie aber heilen ,
muss der junge Mann sich fern vom Lager halten . Man giebt ihm ein Stück
Holz, Yuntha ; es ist etwa 22 Ctmtr . lang, 6 Ctmtr. breit und kaum 2 Mm .
stark ; an dem Ende ist ein Loch , in welchem ein mehr als 2 Meter langer
Faden befestigt ist. Diese Yuntha muss der Jüngling auf seinen Jagden
schwingen , man glaubt , dass dadurch Schlangen , Eidechsen und anderes
essbares Gethier sich vermehrt; ebenso muss er jede Nacht, bis seine
Wunden ganz geheilt sind , in die Nähe des Lagers kommen , aber nicht
näher als 400 Schritte , und die Yuntha schwingen , damit ihr waldteufel
artiges Summen seinen Angehörigen anzeige, dass er noch am Leben ist
und sie ihm Speise bringen können.
Ist die Heilung vollendet, so kehrt er zurück und es fehlt nicht an
Beweisen von Freundschaft unter seinen Genossen . Aber er hält sich nur
kurze Zeit bei den Seinen auf, er muss auf die Yinainda, auf die Wander
schaft bei befreundeten Stämmen gehen. Einige seiner Freunde begleiten
ihn . Er darf kein Lager ohne irgend ein Geschenk verlassen , sei es Speer,
Bumerang , ein gestrickter Beutel, ein paar schöne Federn etc. Diese Ge
schenke vertheilt er bei seiner Rückkehr unter die Freunde, welche thätigen
Antheil an der Operation genommen haben . Inzwischen hat ein junges
Mädchen , das zu diesem Zweck den Auftrag erhalten hat, ein Gedicht ver
422 Der Abschluss der Kinderjahre.
fasst, welches sie nach einer ihrer Weisen vorsingt, man tanzt , kreischt,
lacht, isst, trinkt, kurz man feiert die Rückkebr des Wiederkommens in best
möglichster Weise .
Die letzte Ceremonie , die sich der junge Mann gefallen lassen muss,
ist die schmerzhafte Aufschlitzung des Penis, Kulpie genannt. Sie erfolgt,
sobald der Bart des jungen Mannes so lang ist , dass man die Bartenden
zusammenbinden kann. Die alten Männer halten im Geheimen eine Ver
sammlung , bestimmen den Tag , an welchem die Operation vorgenommen
wird , und geben vor, dass eine grosse Jagd stattfinden solle, an welcher alle
Männer sich betheiligen . Ueber den Rath der Alten hinaus verlautet Nichts
über den eigentlichen Zweck der Expedition. Früh am Morgen bricht das
ganze Lager mit Ausschluss der Weiber und Kinder auf. Sobald man am
verabredeten Platze immer mehrere Kilometer vom Lager gelegen und
durch grosse Bäume, Felsen oder andere Naturmerkmale ausgezeichnet -
angelangt ist, so werfen sich fünf junge kräftige Leute, von den Alten dazu
bestimmt, auf den Nichtsahnenden . Zwei erfassen seine Arme, zwei die
Beine, der fünfte setzt ihm das Knie auf die Brust und verschliesst ihm
den Mund mit der Hand. Indessen das ist kaum nöthig , denn auch bei
grösstem Schmerze zeigen die Schwarzen eine Selbstbeherrschung , die
einen alten Römer geehrt haben würde. Bis seine Wunden geheilt sind ,
wird der Jüngling von zwei Altersgenossen begleitet und unterstützt, und
kehrt er in's Lager zurück , so darf er auch vor Frauen ohne die Unpa
oder Thippa erscheinen , welche er vorher stets tragen musste.
Der Gebrauch findet sich bei andern , weiter südlich wohnenden Stäm
men nicht, auch ist er im Osten unbekannt. Die Eingeborenen des See
distrikts vermögen, wenn man sie über den Ursprung und Zweck desselben
befragt, eine befriedigende Antwort nicht zu geben . Sie haben ihn von
ihren Vorfahren überkommen und bewahren ihn mit einer heiligen Scheu ;
kein junger Mann dürfte daran denken , sich ihm zu entziehen , selbst wenn
er es vermöchte .
Wie also die Beschneidung bei mehreren Stämmen Australiens und
ebenso auf mehreren polynesischen Inseln als heilige Sitte und als Symbol
der Mannhaftigkeit betrachtet wird , so hat das Zahnausschlagen , das bei
einigen australischen Stämmen auch Chirrincherrie heisst , gewisser
maassen die Bedeutung eines Zeugnisses für die Erhöhung des Jünglings zum
Mann . Die übrigen Abtheilungen des feierlichen Actes sollen ihn theils auf
eine Strenge und Festigkeit des Charakters hinweisen, theils mit den äusse
ren Zeichen seiner neuen Stellung versehen , theils mag auch das Zahn- und
Blutopfer dabei eine mystische Rolle spielen .
Bei Jünglingen nehmen manche australische Stämme nicht blos die Be
schneidung, sondern auch die Mika- Operation (siehe Bd. I. S. 358), d . h .
die Aufschlitzung der Harnröhre vor, um den jungen Mann zu einem sogen .
Hypospadiäus zu machen , bei dem der Ausfluss nicht blos des Urins, son
dern auch des Semen virile an der Wurzel des Penis stattfindet, so dass der
2. Oceanier. 423
Betreffende wohl den Coïtus ausüben (immissio penis), jedoch keine Befruch
tung (injectio seminis) stattfinden lassen kann. Die Eingeborenen thun das,
um nicht zu viele Kinder zu haben ; man erzählte N. v .Miklucho - Maclay,')
dass am Herbert-Fluss besonders schwache Männer dieser Operation aus
gesetzt seien , und von Zeit zu Zeit schliefen die Weiber der Operirten bei
nicht operirten Männern, um befruchtet zu werden . Ein Messer (Quarz
splitter im Holzschaft eingelassen ), mit dem die Mika-Operation vollzogen
wird , hat Miklucho-Maclay abgebildet. Vom Stamme der Nasims, der
am Küstenstrich an der Westseite des Carpentaria -Golfs wohnte , erfuhr er
Folgendes : „ Hier wird an den Knaben im Alter von 14 Jahren von den alten
Männern ohne irgend welche Ceremonie zuerst die Beschneidung vorgenommen,
und wenn dieselben 18 Jahre alt geworden sind , wird an einigen die Ope
ration der Aufschiitzung des Gliedes mittelst einer Muschel oder eines Quarz
splitters ausgeübt. Nachdem die Harnröhre aufgeschnitten ist, wird ein
Stöckchen oder ein dünner Knochen in die Wunde gelegt. Wenn die Wunde
geheilt ist, erscheint der Penis sehr zusammengezogen ,,and has in its col
lapsed state the appearance of a large button .“ Es scheint, dass die stärk
sten jungen Leute vorzugsweise für die Operation gewählt werden , welche
Wahl bei diesem Stamme als Ehre gilt. Die Weiber ziehen die Operirten
den Nichtoperirten vor. "
Wir haben die in den verschiedenen Distrikten so sehr abweichenden
Ceremonien deshalb ausführlich beschrieben , weil es gewiss interessant ist,
durch Vergleichung die jedem Stamme eigenthümlichen Gebräuche möglichst
genau festzustellen, und die etwa vorhandenen Aehnlichkeiten oder Berüh
rungspunkte kennen zu lernen . 2)
2. Oceanier.
* Auf Neuseeland wird der junge Mensch mit dem 16. Jahre durch
die Tättowirung für mannbar erklärt. Auf Taiti wird mit dem 8. Jahre
die Beschneidung an mehreren Knaben zugleich durch einen Priester vor
genommen , unter religiösen Feierlichkeiten (Cook ); dann folgt mit der ge
schlechtlichen Reife die Tättowirung, auf welche die Mädchen sehnsüchtig
warten , denn nicht mannbar sein , gilt als Schande für sie. 3)
Bei den Noeforezen , einem Papua -Volke auf Neu -Guinea wird bei
herangewachsenen Knaben , vielleicht im 12. Lebensjahre die Namensver
änderung sehr feierlich vorgenommen . Der Knabe muss eine Reise machen
nach einer entfernten Insel. Von hier kehrt er etwa nach einem Monate
zurück , und nun wird ein Fest veranstaltet, wobei Musik nicht fehlen darf.
Es wird auch gesungen , aber nicht getanzt, weshalb das Fest auch nicht
bis zum Morgen währt, was sonst der Fall ist. Die Hauptsache ist immer
das Essen und werden dazu einige Tage zuvor Kähne voll Vorräthen her
beigeschafft, denn es darf an Nichts fehlen . Der Tisch muss beladen sein
mit Näpfen voll Reis , Sagobrei, Bohnen , Potatoes , gebratenen Pisangs,
Zuckerrohr u . A. Wenn es irgend möglich ist, darf der Sagoweer (Palm
wein) nicht fehlen . Der König des Festes wird gebadet, erhält einen Maar
und wird dann von einer Menge von Frauen umhergefürt auf den dazu aus
gebreiteten Messingschüsseln . Danach bekommt er einen neuen Namen ,
wobei zwei- bis dreimal über den Kopf des Knaben mit einem Gewehr ge
schossen wird , um dem Feste mehr Weihe zu geben ").
Auf Tonga wird die feierliche Beschneidung erst im 14, Jahre vorge
nommen (Mariner ), in Samoa dagegen im 9. - 11. Jahre; hier finden dabei
keine Feierlichkeiten statt, während das Tattuiren der Knaben im 17. Jahre
mit manchen Ceremonien verbunden ist. Die Mädchen auf Tonga haben
ein Fest für sich beim Eintritt der Mannbarkeit, wobei man sie beschenkt.?)
Bei den Malaien , namentlich bei den Atjinesen ist das Abfeilen der
Zähne zur Zeit der Pubertät gebräuchlich und gilt als Verschönerung.3)
Beim Mannbarwerden legt der junge Alfur auf der Insel Ceram
(Niederländisch -Indien ) den djidako , d . i. ein weisser , aus Baumbast gefer
tigter Gürtel, an. Dann wechselt der Vater den Namen . Ein Vater heisst
z . B. Sapialeh , beim djidako- Anlegen seines Sohnes Teleamie heisst er
Sapialeh - Teleamie -amay ; wird darauf der zweite Sohn mannbar , so ver
ändert sich der Name des Vaters in Sapialeh - Teleamy-Karapupuleh - amay
u . s. w .; je länger der Name, desto mehr Ansehen , denn der Betreffende
liefert dem Stamme viele wehrbare Männer. Uebrigens bleibt doch der
Geburtsname immer der Hauptname, die Zusätze dienen mehr zum Unter
schiede, da das Namen -Repertoir bei ihnen ziemlich dürftig ist. 4)
Bei den Battas auf Sumatra feilt man den Kindern im 10. – 12 . Jahre
die Zähne spitzig und schwärzt sie (Burton ). Dagegen ist unter den Pepos
in Formosa das Ausschlagen der Augenzähne gebräuchlich bei Kindern ron
6-8 Jahren , um , wie sie meinen , das Athemholen zu fördern .
Nach erfolgter Mannbarkeit verlassen auf einigen Archipelen des Stillen
Oceans, z . B. auf den westlich gelegenen Banks - Inseln die jungen Män
ner zur Zeit der Nacht die elterliche Hütte , um im Gamal, dem Gemeinde
hause (dem Mbure der Vitianer), zu schlafen.5)
Auf Wuap , einer der Carolinen - Inseln , findet die Isolirung der
Mädchen beim Herannahen der Reife statt; dann verlassen die Mädchen das
elterliche Haus im Dorfe und leben einige Zeit (2 bis 3 Monate ) in kleinen
Hütten , welche eigens für diesen Zweck unweit dieses Dorfes, aber an einem
abgelegenen Orte errichtet sind. Dort halten sie sich während der ersten
Regeln und noch einige Zeit nachher auf. :)
Auf mehreren Südsee - Inseln haben beim Eintritt der Menstruation die
Mädchen ein Fest, wobei man sie beschenkt.
3. Indianer Südamerika's .
WO es von der Mutter mit dünnen Ruthen gegeisselt wird , ohne eine
Schmerzensklage ausstossen zu dürfen , welches die schlafenden Bewohner
der Hütte aufwecken könnte, ein Ereigniss, das nur Gefahr für ihr künftiges
Wohl im Gefolge haben würde. Bei der zweiten Periode der Menstruation
findet diese Geisselung wieder statt, später aber nicht mehr. Das Mädchen
kann wieder unter den Bewohnern erscheinen , es ist rein , und wenn es be
reits versprochen sein sollte , so erscheint der Bräutigam am folgenden Tage
in der Hütte und führt die junge Braut heim .")
Noch qualvoller waren die Martern , welche ehemals andere Caraiben
Völker in Britisch-Guyana den mannbar werdenden Mädchen zu Theil werden
liessen . Dem Mädchen wurden zuerst die Haare abgebrannt, dann wurde
es auf einen Stein geführt, wo ihm der Zauberer mit den Nagezähnen der
Dasyprocta zwei tiefe Einschnitte längs des Rückens und von Schulter zu
Schulter machte, die er mit Pfeffer einrieb , ohne dass die Gequälte einen
Schmerzenslaut ausstossen durfte. Nach dieser Operation wurde sie mit an
den Körper gebundenen Armen in die Hängematte gelegt und ihr ein Amulet
von Zähnen umgehangen . Nachdem sie drei Tage ohne Speise und Trank,
ohne ein Wort sprechen zu dürfen , gelegen , wurde sie abermals auf die
Platte getragen , wobei die Füsse aber die Erde nicht berühren durften.
Dann wurden die Arme losgebunden und das Mädchen nach der Hängematte
gebracht, die es nun einen Monat hüten musste, ohne etwas anderes zu sich
zu nehmen als ungekochte Wurzeln , Cassadabrod und Wasser . Am Ende
des Monats wiederholten sich diese Operationen nochmals und erst nach
Ablauf des dritten Monats war die Prüfung überstanden . )
Die Coroados in Brasilien sondern die jungen Mädchen während der
ersten Periode von allem Verkehr mit den Eltern , Geschwistern und Stamm
genossen ab und sie sollen sogar nach Angabe der Brasilianer in einem be
sonderen aus Baumrinde geformten Behälter (casca ) diesen Zeitraum zubringen
müssen ; 3) von da an dürfen sie heirathen .
Die Conibos am Ucayale-Strom in Peru feiern das Mannbarwerden der
Mädchen mit grossen Festlichkeiten . Dabei werden neue Flöten gespielt,
denn das Chenianabiqui-Fest soll würdig begangen werden , und es ist dabei
ausnahmsweise den Frauen erlaubt, gemeinschaftlich mit den Männern zu
tanzen ; neben der Flöte mit fünf Löchern erschallt die Trommel; die jungen
Mädchen müssen sich toll und voll trinken und werden einen Tag und eine
Nacht lang von den alten Frauen im Tanz herumgedreht, bis sie niedersinken
und wie Leichen am Boden liegen .4)
Ueber die am Ucayale- Fluss hausenden Chunchas und die von ihnen zur
Pubertätszeit an Mädchen vorgenommene Ceremonie und Beschneidung
vergl. Bd. I. S. 313 .
1) Nach Bates, TheNaturalist on the river Amazonas. London 1864. „ DasAusland" 1864. 50. S.1182.
2 ) Antonio Ruis, Conquist. espiritual de Paraguay,
3) Globus 1881. XI . Nr. 6. S. 81.
-
4. Indianer Nordamerika's . 429
4. Indianer Nordamerika's.
nannten und beim „ Feste der grossen Fluth “ begangen wurden . Den jungen
Männern , welche während des vergangenen Jahres die Mannbarkeit erreicht
hatten , wurde nemlich ein Gottesgericht der Entbehrung und körperlichen
Marter auferlegt, das wahrhaft grauenerregend ist. Den durch vierthalb
tägiges Fasten und ebenso lange Schlaflosigkeit mattgewordenen Jünglingen
stiessen zwei maskirte Operateure ein zugespitztes Messer mit ausgezackter
Klinge, so dass jeder Einschnitt den grösstmöglichen Schmerz verursachen
musste, am Vorder- und Oberarm , Schenkel, Kniegegend und Waden , dann
an Brust und Schultern durch das Fleisch , worauf spitze Holzpflöcke von
der Dicke eines Fingers sofort durch die Wunden geschoben wurden . Dann
liess man vom Dache der Medicinhütte einen Lederstrick herab , den man
an diese Pflöcke von Brust oder Schulter befestigte und woran man die
Gemarterten , die obendrein mit Medicinbeutel, Schild und an Armen und
Füssen befestigten Büffelköpfen beschwert wurden , soweit emporhisste , dass
letztere frei hin- und herbaumeln konnten . Endlich drehte man die Dulder
um sich selber herum , anfangs langsam , dann immer schneller und schneller ,
bis der Gewirbelte das Bewusstsein verlor und regungslos dahing , den Kopf
vornüber , die Zunge weit aus dem Munde heraus. Die Marter in der Luft
dauerte 15-20 Minuten . Dann nahm man den Gepeinigten und entfernte
die Pflöckchen an Brust und Schultern, beliess aber die übrigen . Wer sich
endlich zu erheben vermochte , schleppte sich zu einem neuen Quälgeist, von
welchem er sich zu Ehren des grossen Geistes den kleinen Finger abhacken
liess , ein Gebrauch , der ganz gleich beiden Buddhisten Hinterindiens wieder
kehrt. Zuweilen wurde darauf mit dem Zeigefinger in derselben Weise rer
fahren . Endlich zur Medicinhütte hinausgeführt, hatten sie noch das „ Je
kinahka Najaik “ den letzten Lauf zu überstehen . Man packte sie nemlich
und schleppte sie so wild , als nur möglich , um die Hütte herum , so dass
Büffelköpfe , Schild und alles andere an den Pflöcken Befindliche auf- und
niedersprang , wobei sie das Bewusstsein verloren , ehe sie auch nur den
halben Kreis durchgemacht hatten . Endlich riss man ihnen , was an den
Pflöcken befestigt war, mit Gewalt ab, bedeckte sie mit Weidenbüschel und
liess sie liegen . Nach einiger Zeit erhoben sie sich und gingen , so gut sie
konnten , nach ihrem Wigwam , wo man die Wunden verband . So unem
pfindlich ist der Indianer, dass man seit Menschengedenken sich nur eines
einzigen tödtlichen Ausganges dieser Marter zu erinnern wusste . Im Zusam
menhange mit diesem Feste stand der „ Bellokh Napik ,“ der grosse Büffel
tanz, dessen Ausführung die Mandan das Kommen der Büffel zuschrieben,
um sie während des folgenden Jahres mit Nahrung zu versorgen . ")
Einige bei anderen Stämmen vorkommende eigenthümliche Handlungen
hat Waitza) zusammengestellt. Wenn in Nord - Carolina die jungen Männer
und selbst die jungen Mädchen 5-6 Wochen lang in ein dunkles Haus ein
1) Eine ziemlich ausführliche Schilderung des O -ki-pa siehe im Globus Bd. XVI., 4-7 und 17-21.
Vergl. Catlin , Nord-Am .-Indians, Vol. I. S. 172.
2) Waitz, Anthrop. der Naturvölker. Leipz. 1862. III. S. 118.
4. Indianer Nordamerika's . 431
nahm , durfte kein Mensch ihr Antlitz sehen ; wenn daher Einer in ihre Nähe
kam , bedeckte sie das Gesicht mit ihren Händen . Der Mann, welcher ge
waltsam ihr Gesicht enthüllt hätte , wäre sofort dem Tode verfallen . So
wanderte Nish -Fang, nur von Wasser und Wurzeln lebend, über die bren
nenden Felsen , deren Pfade das Maulthier erklomm ; sie stieg hinab in die
tiefen Canaons der Stromthäler, sie schritt durch die Wälder . Als Nish -Fang
schwach und müde wurde, leiteten sie ihre Gefährtinnen . Schon war die
Höhe der zweiten Bergkette erreicht, wo ein silberheller Quell zum Heimaths
thal fliesst. Die Mädchen rasteten bei der Quelle und erfrischten sich durch
das kühle Wasser. Als sie aber aufbrachen und vor sich die wilden Rosen
saben , und die flüsternden Blätter des Manzanita , da war Nish-Fang's Kraft
erschöpft, und sie sank mit den Händen über den Augen ohnmächtig auf den
Moosgrund . Da hoben die Gefährtinnen sie auf und trugen sie in das sonnige
Trinity - Thal hinab , wo sie im Schatten dünnblättriger Eichen erwachte und
die Hupa um sie her den Jungferntanz aufführten und die alten Chorgesänge
in ihr Ohr tönten . Der Aelteste des Stammes nahm sie bei der Hand, und
Nish -Fang , das Mädchen , wurde unter die Weiber des Stammes aufge
nommen . )
Der Kin -Alktha oder Jungferntanz ist ein langes Fest. An neun Tagen
kommen die Männer des Abends zum Tanze zusammen . Die Frauen nehmen
keinen anderen Antheil am Tanze , als dass sie dazu singen . Das Mädchen
darf unterdess kein Fleisch essen und sich vor keinem Manne sehen lassen .
In der zehnten Nacht versteckt es sich in einem Winkel der Hütte. Es
kommen dann zwei junge Männer und zwei alte Weiber aus ihrer Verwandt
schaft, um die Jungfrau zu suchen und hervorzuholen . Die jungen Burschen
stülpen sich eine Maske aus Leder und Schilf auf den Kopf, der an den
Seelöwen erinnert, und nehmen das Mädchen in ihre Mitte ; rechts und links
von ihnen stellen sich die alten Frauen auf, So treten die Fünf unter die
Versammlung . Das Mädchen schreitet zehn Mal vorwärts und rückwärts ,
erhebt die Hände zu den Schultern und singt. Das letzte Vorwärtsschreiten
endigt mit einem Hochsprung. Darauf begrüsst die Versammlung das junge
Geschöpf durch laute Zurufe und die Ceremonie ist beendigt. ,
Die Wintun - Indianer, ein californischer Stamm , veranstalten , wenn
ein Mädchen in das Alter der Mannbarkeit zwischen dem 12. und 14. Lebens
jabre tritt, einen grossen Tanz , der bathless chuna (Reifheitstanz) genannt
wird , und zu welchem die Bewohner aller umliegenden Dörfer eingeladen
werden . Das Mädchen hat sich für das Fest in der Weise vorzubereiten,
dass es drei Tage vor Beginn desselben sich jeder animalischen Nahrung
gewissenhaft enthält und nur von Eichelbrei lebt. Während dieser Fastenzeit
ist sie aus dem Lager verbannt und hat allein in einer entfernten Hütte zu
leben . Todesstrafe wird über den verhängt, der sie während dieser Zeit
berührt oder es nur wagt, sich ihr zu nähern . Nach Ablauf der drei Tage
1) Nach Power's „ Tribes of California ." Elcho in Westerm . III. Mon.-Heften , 1881. Nr. 29 &
S. 502.
4. Indianer Nordamerika's . 433
nimmt sie eine geweihte Suppe zu sich , die von den Früchten der buckeye
california in folgender Weise bereitet wird : die Früchte werden erst eine
geraume Zeit unterirdisch geröstet, um das Gift auszuziehen ; dann kocht
man sie in einem Sandloch mittels heisser Steine. · Durch das Verzehren
dieser Masse macht sich das Mädchen würdig , an dem bevorstehenden Tanze
Theil zu nehmen und die Pflichten einer Frau zu übernehmen. Die einge
ladenen Stämme erscheinen nun nach und nach und der Tanz kann beginnen .
Sobald eine Ortschaft oder die Deputation einer solchen auf dem Gipfel
eines Hügels erscheint, dann formirt sie sich in eine lange Reihe und tanzt
den Hügel hinunter und um den Lagerplatz, feurige, sinnliche Lieder singend.
Wenn alle Deputationen versammelt sind , was 2-3 Tage in Anspruch
nimmt, dann vereinigen sich Alle zu einem grossen Tanze, der aber streng
genommen nur in einem Rundmarsch um das Dorf besteht, während ununter
brochen Chorgesänge erschallen . Zum Schluss der Ceremonie nimmt der
Häuptling das Mädchen bei der Hand und tanzt mit ihm die ganze Linie
entlang, während die Gäste für diese Festivität improvisirte Gesänge anstimmen.
Dieselben haben nie eine feste Form und wechseln mit der Veranlassung,
für welche sie gedichtet sind. Ein Lied , wie es bei einem grossen Tanze
zu Ehren eines Mädchens gesungen wurde, lautet in der Uebersetzung:
Du bist kein Mädchen mehr (bis )
Der Häuptling, der Häuptling (bis )
Ehret dich,
In dem Tanz, in dem Tanz,
In der langen und doppelten Linie
Des Tanzes.
Tanz, Tanz, Tanz, Tanz.
Nicht immer sind die Gesänge so unschuldig und keusch , wie der vor
stehende, sondern so obscön werden sie manchmal, dass eine Publication
derselben unmöglich sein würde. Dann kommen auch Gesänge, in welchen
jeder Indianer seine eigenen separaten Gefühle ausdrückt, doch halten sie ,
seltsam genug, vollkommen Tact mit einander . Doch die Frauen drücken
bei dieser Gelegenheit keine unkeuschen Gefühle aus. ")
Die Thlinket oder Thlinkiten in Alaska ( ehemals Russisch - Amerika)
pflegen die Mädchen bei Beginn der Mannbarkeit ganz eigenthümlich zu be
handeln . Sie gelten für unrein und werden durch drei Monate , früher
sogar durch ein Jahr in eine abseits gelegene Hütte verbannt. Hier darf
das Mädchen Niemand besuchen ausser der Mutter und der weiblichen
Dienerin , welche ihm die Speisen zuträgt. Zu Ende des bestimmten Termins
wird ihm die untere Lippe durchbohrt und ein silberner Stift, das Zeichen
der Reifheit, durchgesteckt. )
Die Koljuschen an der Küste der Bering -Strasse verbinden den Ge
brauch der Absperrung der Mädchen zur Zeit der Menstruation mit dem
Gebrauche , durch eine Operation den Kaljuga oder Holzklotz in die Unter
lippe einzusetzen . Cl. Erman ') berichtet hierüber Folgendes : Ausserhalb
des koljuschischen Dorfes steht eine Reihe von 6-8 Fuss hoher Hütten
oder Käfige, die nur mit einem vergitterten Lichtloch versehen sind. In
jedem dieser Ställe befand sich ein Mädchen ; nur eines derselben zeigte ihr
Gesicht, welches mit Russ und Kohle unsauber beschmiert war. Man erfuhr,
dass diese Mädchen eben menstruiren . Verheirathete und unverheirathete
Frauenzimmer werden dieser Behandlung in ganz gleicher Weise unter
worfen ; von einer schweren Sünde, und zwar für beide Theile , sei erst dann
die Rede , wenn etwa eine dieser Eingeschlossenen von einem Manne be
sucht werde. Wenjaminow giebt an , dass die erste solcher Einsperrungen ,
die ein Mädchen erlebe , nach altem Gebrauche ein Jahr gedauert habe,
und dass sie von der Durchschneidung der Unterlippe und dem mit dieser
verbundenen Feste unmittelbar gefolgt wurde. Bei den Sitchaer Koljuschen
sei diese Zeit zwar auf 3-6 Monate heruntergesetzt, die sonstigen Ueblich
keiten während derselben aber vollständig beibehalten . So werde nament
lich während derselben der Betroffenen eine Art von Hut mit sehr langer
Krempe aufgesetzt, damit sie nicht durch ihre Blicke den Himmel verun
reinige. Jede spätere Einsperrung für die koljuschischen Mädchen soll nur
3 Tage dauern und ebensolange die gewöhnliche Einsperrung der Frauen,
vor deren unheilvoller Nähe die menschliche Gesellschaft nach jedem Ge
bahren noch ausserdem 10 Tage lang in der besagten Weise geschützt
wird . Dieselben Vorsichtsmaassregeln , werden auf den aleutischen Inseln in
ebenso strenger Weise wie auf Sitcha beobachtet. Nach Wenjaminow
bestand die Sitte dort sogar in Absperrungen , welche für Frauen und ältere
Mädchen jedesmal sieben Tage dauerten , nach der ersten Menstruation aber
zweimal, resp . 40 und 20 Tage. Sie ist dort erst durch die immer häufi.
geren Bekehrungen zum Christenthum abgeschafft worden. Bei den Ttynai
( etwa 65 ° Breite, 200 ° 0. von Paris ) sah und beschrieb Capitän Sagoskin
dieselbe Sitte noch 1842 wie folgt: „ In dem Wohnorte Kadichljakakat be
fanden sich jetzt nur zwei Frauen (die Männer waren zur Jagd gegangen ),
eine alte und eine jüngere ; die letzere war aber in der Menstruation be
griffen und deshalb mit schwarz bemaltem Gesichte unter einer ledernen
Zeltdecke eingesperrt.“
5. Asiaten .
-
5. Asiaten .
435
waschen sich die Weiber vom Eintritt der Menstruation an nicht mehr bis
zum Lebensende (N. J. Kaschin ).
Manche Völker halten das Weib überhaupt vom Eintritt ihrer Mann
barkeit an bis zu einem gewissen Grade für „ unrein .“ So darf bei den
Lappen kein mannbares Weib den Platz hinter dem Hause berühren , der
dem Thor und der Sonne geheiligt ist, ebensowenig darf es eines jener ge
heiligten Gebiete und Berge betreten , auf welchen die religiösen Denkzeichen
des „ Storjunctare " errichtet sind .")
In Siam werden , wie mir der verstorbene, dort mehrere Jahre als
Consul angestellte Sir Robert Schomburgk mündlich mittheilte , dem
Mädchen beim Menstruationseintreten die Haare abgeschoren und manchmal
5-6 Tage Feierlichkeiten abgehalten , welche besonders bei königlichen
Prinzessinnen gross sind. Nach Grehan wird dem siamesischen Knaben im
12. - 13 . Jahre der Haarschopf feierlich abgeschnitten .
Dagegen wird bei den Hindu den Knaben im 8. bis 12. Jahre der
Kopf rasirt, und von da an unterrichtet ihn der Oberpriester in den heiligen
Gebräuchen . Ueber die Lebensstufen der Inder berichteten wir oben S. 363.
Während der ersten Menstruation muss bei den Badagas im Nilgiri
Gebirg das Mädchen (wie die Wöchnerin ) 3 Tage lang in einer abgeson
derien Hütte verweilen und darf keine Milch berühren . Freundinnen bringen
ihr Nahrungsmittel, die für stärkend gelten . Die Absonderung findet nur für
das einemal statt.
Den Eintritt der ersten Menstruation zeigt das Nayer - Mädchen in
Malabar durch ihre Mutter ihrer Schwiegermutter , d. h . der Mutter ihres
zur Zeit begünstigten Liebhabers an , die ihr einen Krug Wassers über
den Kopf giesst. )
Zwischen dem 12. und 14. Jahre werden bei den Badagas im Nilgiri
Gebirg die Mädchen tättowirt und danach trägt man ihnen eine schwarze
Stirnkruste auf,3) .
Wenn bei den Vedas, einer südindischen Sclavenkaste , sich bei
dem jungen Weibe +) die Geschlechtsreife einstellt, so wird dasselbe in einer
für den Zweck erbauten besonderen Hütte untergebracht, in welcher es 5
Tage verweilt; nach Verlauf dieser Frist bezieht es eine andere , halbwegs
zwischen jener und der Wohnstätte ihres Mannes belegene Hütte, in der es
abermals 5 Tage zubringt. Täglich geht das junge Weib aus, um sich zu
waschen . Am zehnten Tage aber wird sie von ihrer und ihres Mannes
Schwester an das Wasser geführt, sie badet, wäscht ihre Kleidung , reibt
sich mit Turmerik ein , badet abermals , ölt ihren Körper und kehrt dann
(am 10. Tage) mit ihren Begleiterinnen in ihre Wohnung zurück . Dort
angekommen , kochen die drei Frauen Reis und verzehren ihn gemeinschaft
1) Scheffer, Lappland. S. 113.
2) Jagor im Bericht der Berliner Anthrop. Gesellsch. 1878 .
3) Derselbe daselbst. 1876. S. 196 u. 200.
4 ) Das mit dem 7. bis 9. Jahre verheirathete Weib cohabitirt mit ihrem Manne schon vor Eintritt
der Geschlechtsreife.
28 *
436 Der Abschluss der Kinderjahre .
lich. Während jener Tage der Absonderung darf der Mann in seiner
Hütte nur Wurzeln essen , keinen Reis, aus Furcht, vom Teufel umgebracht
zu werden ; am 9. Tage aber findet ein Fest statt. Der Boden der Hütte
wird mit Palmbranntwein besprengt , man ladet Freunde ein und bewirthet
sie mit Reis und Branntwein . Die Frau hält sich noch abgesondert in der
zweiten Hütte. Am 10. Tage aber muss sich der Gatte aus seiner Woh
nung entfernen und darf sie erst wieder betreten , nachdem die Weiber den
Reis aufgezehrt haben . Während der nächsten 4 Tage darf der Mann
weder Reis im eigenen Hause essen , noch Umgang mit seiner Frau pflegen .
Jedes Versehen in dem vorgeschriebenen Ceremoniell wird von den Tschawus
(den zu Teufeln gewordenen Geistern gestorbener Vorfahren ) streng ge
ahndet. )
Allerdings bestehen die Förmlichkeiten , mit welchen der junge Mensch
in die Reihen der Erwachsenen bei halb civilisirten Völkern z . B. in China
und Japan eingeführt wird , im Wesentlichen noch mehr in Aeusserlich
keiten ; ein geistiger Inhalt wird bei diesem Acte vermisst. So wird bei den
Chinesen der Eintritt in das Jünglingsalter bei Knaben (vom zwölften bis
fünfzehnten Jahre) durch die Verleihung einer Mütze gefeiert; bei Mädchen
gilt als mitsprechendes Zeichen das Schmücken mit der Nadel, dem Kopf
putz der Frauen .
Bei den alten Chinesen , deren Sitten und Gebräuche besonders Plath
nach den Angaben ihrer aus sehr früher Zeit stammenden Bücher schildert,
wurden zur Zeit der Aufnahme des Kindes in die gesellschaftlichen Kreise ,
im 15. Lebensjahre, dem Knaben der männliche Hut, dem Mädchen die Haar
nadel angelegt.
In Japan schneidet dem Jüngling von 15 Jahren dessen Pathe die vor
dere Haarlocke ab und giebt ihm einen neuen Namen . Die Locke wird
aufbewahrt und später dem Verstorbenen in den Sarg gelegt.
Der Uebertritt des Knaben in das Mannesalter wird bei den Aïnos in
Japan mit Festlichkeiten begangen , bei denen, wie gewöhnlich, der Saké die
Hauptrolle spielt. Wie bei den Japanern , findet dabei ein bestimmter
Haarschnitt und das Aufsetzen einer Art von Mütze statt. 2)
Dass die Beschneidung der Jünglinge , welche unter den bei der Mann
barkeits -Erklärung erwähnten Gebräuchen einen sehr wesentlichen Platz
einnimmt, auch bei den Südarabern gleichsam als Befähigungszeugniss
zum Eintritt in die Männlichkeit und in das Kriegsleben gilt, haben wir nach
Niebuhr und Anderen schon im ersten Bande Seite 351 angeführt. Bar
barischen Völkern gilt ohne Zweifel diese Operation nicht nur als nothwen
dige Vorbereitung zur Ausübung sexueller Function , sondern auch als Wahr
zeichen für persönlichen Muth und männlichen Charakter. Im Dschauf in
Südarabien gilt nach Halévy die Circumcision als der erste Act der Männ
lichkeit und als feierlicher Eintritt in das Kriegerleben ; wer nicht den Muth
1) Jagor im Bericht der Berliner Anthrop. Gesellsch. 1879. S. 169.
2) H. v . Sieboldt, Zeitschr. f. Ethnol. 1881. Supplement S. 32 .
6. Afrikaner.
437
hat, diese Operation als Erwachsener an sich vornehmen zu lassen , gilt als
Feigling und seine Berührung könnte einen auf seinen Ruf eifersüchtigen
Gegner nur beschmutzen.
6. Afrikaner.
Wir gehen nun zu den Völkern Afrika's über. Sobald bei dem
Mädchen unter den Szuahelis in Zanzibar die Zeichen der Mannbarkeit ein
treten , was gewöhnlich im 12. und 13. Jahre geschieht, so wird sie an dem
selben Tage von einer alten Frau gewaschen , mit einer für diesen Zweck
gebräuchlichen Malerei im Gesicht versehen , schön frisirt, mit Schmuck
behangen und bei ihren Bekannten in der Stadt herumgeführt , wobei sie
Geschenke einsammelt, aber auch viele Neckereien von ihren Gefährten dul
den muss.") Nach Mittheilungen des Dr. O.Kersten werden dort die Mäd
chen von jenem alten Weibe in der Kunst „ Digitischa“ unterrichtet, d. h .
in der Ausführung gewisser Hüftbewegungen , die den Reiz des Coïtus an
geblich erhöhen.
Unter den Bewohnern von Sennar (Schilluk ) wird nach Lord Prudhoe
bei beiden Geschlechtern zur Zeit der Pubertät ein Zahn aus dem Ober
kiefer herausgenommen .
In Ostafrika beschneiden die Wanika (Wadigo ), Wakamba , Wad
jagga, Masai und Wakikuyu die Mädchen nach dem ersten Zeichen der
Pubertät. Die Kiswaheli -Mädchen werden bei der ersten Menstruation ge
schmückt und von ihren frohlockenden Freundinnen begleitet, durch die Strassen
der Stadt geführt, gleichsam um öffentlich zu zeigen, dass sie mannbar seien .
Bei den Mohammedanern der Zanzibar -Küste werden gewöhnlich die gleich
altrigen Knaben einer Verwandtschaft oder Freundschaft am gleichen Tage
beschnitten . Bei den Masai, Wanika, Wakikuyu und anderen Vereinigen
sich hierzu jedes 3. oder 4. Jahr alle reifen Kinder eines kleineren oder
grösseren Districts. Die Knaben werden getrennt von den Mädchen , von
einem Zauberpriester, die Mädchen von einer alten Frau beschnitten . Das
von dem Wakamba gebrauchte Operationsmesser wird von von einem be
stimmten Schamanen aufbewabrt . Es wurde Hildebrandt etwa o , 1 m lang sehr
dünn und von weichem Eisen gemacht, spatelförmig und nur an einer Seite
schneidig beschrieben . Dasselbe Messer wird , nachdem die Operation an
den Knaben vollzogen ist, zur Beschneidung der Kikamba-Mädchen benutzt,
zu dessen Zwecke aber oben an der abgerundeten Spitze umgebogen .
Grosse Festlichkeiten beschliessen diesen Act bei den Wakamba. Aehnlich bei
den Wakikuyu. Hier werden Jünglinge von 16-17 Jahren , d . h. wenn sich
bereits Bartflaum zeigte , und die mannbaren Mädchen eines Districts am
gleichen Tage beschnitten . Zuerst auch hier die Jungen . Sie hocken alle
in einer Reihe. Der Beschneider, der aber kein Zauberer ist , hat sich
festlich geschmückt, ihm hilft ein hinter der Reihe stehender Mann , welcher
das Glied des Jünglings festhält. Der Operateur beginnt beim ersten in der
Reihe. Sein Messer ist etwa 0,2 m lang mit lanzenförmiger, zweischneidiger
Klinge. Er hält es beim Schnitt in eigenthümlicher Weise, indem der Mittel
finger hinter dem Messerhefte , die anderen Finger vor demselben zu liegen
kommen . Die abgeschnittene Vorhaut wird vor jedem in die Erde ver
graben , wozu sich der Beschneider eines spitzen Stabes bedient. Das Blut
wird zur Erde rieseln gelassen und später wieder bedeckt. Zur Stillung
übermässiger Blutung der Beschneidungswunde stecken die Kiswaheli-Knaben
das Glied in heissen Sand . Die Somal und Wakamba streuen gepulverte
Styrax -Lösung oder andere adstringirende Stoffe auf. Zur Heilung nimmt
man Fett, Ricinusöl und dergl. Die Kikuyu-Mädchen werden von einem
alten Weibe mit einem der dort gebräuchlichen dreieckigen Rasirmesser
operirt, d . h . das langgezogene Praeputium clitoridis abgetragen . Zum
Auffangen des Blutes wird das junge, noch unaufgerollte Spitzenblatt der
Banane vorgehalten , welches dann sammt dem Fleische verscharrt wird .
Nachdem die Procedur an allen Kindern vollzogen ist, führen die Eltern und
die Kinder einen grossen Tanz auf, die männlichen Mitglieder des Distrikts
um die Jünglinge , die weiblichen um die Jungfrauen . Die Operirten , welche
auf der Erde sitzen bleiben, werden in ein grosses Ledertuch gehüllt , nur
der Kopf bleibt frei. Die Angehörigen schütten ihnen grosse Massen frischer
Milch über den Kopf und Körper und sie sind unter die Erwachsenen
des Stammes aufgenommen . Dann erst erhalten sie vom Vater Waffen .
Auch 2–3 Ochsen geben die Eltern jedem der Jünglinge. Diese begeben
sich gemeinschaftlich weit von den Dörfern weg in den Wald , schlachten
dort die Ochsen und verzehren deren Fleisch . Nach etwa einem Monat
kehren sie zum elterlichen Dorfe und Hause zurück , erhalten nochmals Vieh
und ziehen wieder in ihr Waldversteck . So treiben sie es, so lange Fleisch
da ist und bis sie des Fressens und Faullenzens müde und „ stark und fett"
geworden sind . Dann verschaffen ihnen die Väter Weiber. ")
Bei einigen Völkern Westafrika's, z. B. den Mandingo -Negern , werden
die jungen Leute beiderlei Geschlechts mit eintretender Geschlechtsreife be .
schnitten. ) Die Operation wird immer an mehreren jungen Leuten zu
gleich verrichtet, welche dann zwei Monate lang von jeder Arbeit frei sind
und während dieser Zeit eine besondere Gesellschaft ausmachen , welche
Solimane heisst ; sie ziehen in den Ortschaften der Nachbarschaft umher,
tanzen und singen und werden überall gut bewirthet; auch eine weibliche
Solimane sah Mungo Park in Kamalia . Man findet über die an der West
küste Afrika's gebräuchliche Circumcision Genaueres in Band I. S. 364 dieses
Werkes . Auch unter den Negern in Old -Calabar wird jedes Mädchen , wie
Archibald Hewan angiebt, bei Eintritt der Pubertät beschnitten , d. h .
es wird ihr die Clitoris amputirt.
1) Hildebrandt: Zeitschr. f. Ethnol. 1878. S. 399.
2) Mungo Park , Reisen im Innern von Afrika. Berlin 1799. S. 238 .
6. Afrikaner.
439
1) Verhandlungen der Gesellsch. für Erdkunde zu Berlin . III. 9 u . 10. 1876. S. 226 .
2 ) Die Beschneidung wird von den Mohammedanern nicht immer nach dem Vorbilde Ismael's erst
im 13. Lebensjahre vorgenommen ; in einzelnen Ländern findet sie im 5. oder 6. Jahre statt, in der
Regel jedoch viel früher, am liebsten in der frühesten Kindheit (van den Berg ).
6. Afrikaner. 441
wird . Sie werden in eine Reihe gestellt und vor ihnen nehmen die älteren
Leute des Dorfes Platz , mit langen Ruthen oder Gerten bewaffnet und die
selben unter Springen und Tanzen schwingend. Dann beginnt die Prüfung.
Willst Du den Häuptling gut schützen ?" so fragen die Tänzer den Knaben .
„ Ich will," antwortet dieser. Alsbald fallen gleichsam als erster Lohn für
die Loyalität die Hiebe mit der Ruthe auf des Knaben Rücken ; und obgleich
die Kraft eines jeden Streiches einigermassen gebrochen wird durch die
Sandalen , welche der Knabe wie einen schützenden Schild vorhält, so färben
doch nach einiger Zeit blutrothe Streifen die Haut des Geschlagenen . Allein
der Knabe darf sich nicht zurückziehen ; er springt umher und grinst. „ Willst
Du wohl das Vieh hüten ?“ „ Ja .“ Und wiederum fallen die Schläge auf den
Rücken nieder, und abermals hüpft und greint der Arme vor seinen Quälern.
Dies ist der barbarische Katechismus einer Probe , nach deren Ueberstehen
sich der junge Kaffer nun selbst als Mann fühlt und sich als anerkannt unter
den Geschlechtsgenossen betrachten darf. Ein Kaffern -Mädchen würde nie
einen Jüngling lieben , der nicht diese Seccho -Probe bestanden hat.
Die Kaffern üben nicht blos an den Knaben die Circumcision aus ,
sondern auch die Mädchen werden zur Pubertätszeit einer besonderen Cere
monie ausgesetzt, welche Intonjane heisst. Sie wird 7-10 Tage in eine
besondere Hütte gesetzt, in der sie nur von einer einzigen Gefährtin gepflegt
und lediglich mit Milch ernährt wird . Ist das Mädchen aus guter Familie,
so schlachtet man dem Feste zu Ehren 7—10 Stück Vieh und es ist während
dieser Zeit des Festes manche unmoralische Handlung erlaubt. Bei dieser
Gelegenheit lassen sich alle Mädchen , welche in das Alter der Pubertät ge
langt sind, mit ihren Liebhabern ein , oder es werden von älteren Frauen
Männer ausgewählt, die mit ihnen cohabitiren , so lange das Fest dauert.
Das Mädchen dagegen , um deren willen das Fest gefeiert wird , begiebt sich
unter Begleitung ihrer Gefährtinnen im Dunkel des Abends to a convenient
spot, nicht weit vom Kraal, where the carefully hider ander ground the fork
with wich hat been accustomed to eat food during the time of her separation .
Hiermit wird sie am nächsten Morgen für „ intombi“ erklärt, d . h . für ein
getreten in den Zustand der Weiblichkeit und reif zur Verheirathung: ')
Den Brauch einer ähnlichen Ceremonie fand Livingstone bei den
Betschuanen. Hier wird sie Boguera genannt, und ist eine mehr durch
die Sitte , als durch Religion vorgeschriebene Institution . Alle Knaben zwischen
10 und 14 oder 15 Jahren alt werden als die Lebensgefährten für die Söhne
eines der Häuptlinge ausgewählt. Sie müssen sich an einem Platze im Walde
versammeln , wo ihnen für ihre Unterkunft Hütten errichtet werden . Dann
kommt ein bestimmter alter Mann zu ihnen , und dieser lehrt ihnen nicht blos
das Tanzen , sondern er unterrichtet sie auch in den Geheimnissen der afri
kanischen Politik und Verwaltung . Jeder Knabe muss eine Lobrede auf sich
selbst ausdenken und diese mit der gehörigen Geläufigkeit halten . Ein guter
Theil Schläge ist nöthig , bevor diese Leistung beigebracht ist, so dass
sämmtliche Knaben zahlreiche Narben auf dem Rücken haben, wenn sie aus
ihrer Abgeschiedenheit zurückkehren . Sie befolgen von da an die Anord
nungen ihres jugendlichen Commandanten , führen unter sich gleichsam ein
Leben der Gleichheit und des theilweisen Communismus und nennen sich
untereinander Kameraden (Molekane). Die Ceremonie des Boguera ist ein
ausgezeichnetes Mittel, die Mitglieder des Stammes an die Familie des Häupt.
lings durch strenge Disciplin zu fesseln . Bei der Rückkehr von der Cere
monie erhält derjenige Knabe einen Preis , der am schnellsten laufen kann.
– Bei den Makatisses, einem Betschuanen -Volke, wird nach Delaguorge
zur Pubertätszeit der Mädchen die Beschneidung vorgenommen . Die Bet
schuanen feiern die Beschneidung überhaupt als nationales Fest, ähnlich wie
die Kaffern .
Unter den Basutos findet das Fest der Mannbarmachung , die Koma,
bei grossen Stämmen jährlich , bei kleineren alle zwei oder drei Jahre statt
und währt vom Mai oder Juni bis in den August. Zunächst wird ein an
gesehener Zauberer ersucht, die Koma zu leiten. Dieser wählt nun einen
verborgenen Platz im Felde oder im Gebüsch aus und „ feit" ihn durch
Zaubermedicin gegen auswärtige oder auch einheimische neidische Zauberer.
Sodann wird der Platz mit Dorngebüsch umzäunt. Aber auch schon in
einiger Entfernung von dem Hain wird Dorngebüsch ausgestreut, um jede
Annäherung Unberufener fernzuhalten . Zugleich werden aber auch andere
Haine mit solchen Dornhaufen umgeben, denn der Ort der Koma muss bis
zum Eintritt derselben geheim gehalten werden . Wer den Platz unbefugter
Weise betritt, wird jämmerlich zugerichtet oder gar getödtet.
Ist der Platz eingezäunt, so schneiden sich die schon für mündig erklärten
jungen Burschen eine Anzahl langer Ruthen von der Dicke eines Fingers
und der Länge eines Menschen . Eine solche Ruthe wird in das Strohdach
eines jeden Hauses gesteckt, in welchem sich die jungen Leute befinden , die
der Koma unterworfen werden sollen .
Ist Alles vorbereitet, so wird der Platz bekannt gemacht, damit die
Mütter und die erwachsenen Mädchen wissen , wohin sie während dieser
Monate das für die Feiernden , die Zauberdoctoren , die Häuptlinge und die
übrigen Theilnehmer bestimmte Essen bringen sollen. Die Koma selbst be
ginnt mit einer Beichte, welche die Aspiranten auf Mündigkeit abzulegen
haben . Die dabei zu Tage tretenden Vergehen werden durch harte Züchti
gung geahndet. Sodann macht ein grosser Topf voll Zaubermedicin die
Runde und ein Jeder muss davon trinken . Wer die Wahrheit gesagt hat,
dem soll die Medicin nicht schaden , während der Lügner alsbald die furcht
harsten Schmerzen empfindet und endlich todt zu Boden stürzt. So sonder
bar sie klingt, so ist an der Thatsache selbst wohl nicht zu zweifeln , denn
ernste , nüchterne und verständige Schwarze haben dem Missionär Chr. Stech
in Blauenbergen ) wiederholt versichert, dass sie es mit eigenen Augen an
1) „ Dahcim " 1879. 24. S. 384.
6. Afrikaner.
445
gesehen hätten , wie Lügner todt zu Boden stürzten . Es hängt das natürlich
so zusammen , dass der Zauberdoctor und der Häuptling in solchen Fällen
wussten , dass sie einen Lügner vor sich hatten , und ihm so oder so Gift
einflössten .
Nachdem sodann die jungen Leute beschnitten worden und unter die
Erwachsenen aufgenommen sind , beginnt ein wahrhaft entsetzliches systema
tisches Quälen der armen Menschen. Die Härtesten kommen am besten weg ;
wer schreit, wird gequält, bis er verstummt oder zu den Schmerzen lacht.
Jeder Mündige hat das Recht, sein Müthchen an den Opfern der Koma zu
küblen und sie mit langen Ruthen nach Lust zu schlagen . Dann bekommen
sie auch selbst Ruthen in die Hände, mit denen sie sich gegenseitig den
Rücken zerfleischen müssen . Man quält sie auch sonst auf jede Weise , hält
sie über Feuer u . s. w . Die Mädchen müssen z . B. Tage und Nächte lang
im Wasser zubringen , oder ihre Glieder werden zusammengeschnürt und sie
müssen Tage und Wochen lang in den unnatürlichsten Stellungen dasitzen .
Viele erliegen den Qualen , aber die Mütter und Schwestern bringen nach
wie vor das Essen für sie , und erst nach Monaten, wenn die Koma zu Ende
ist, erfahren sie, dass ihr Liebling nicht wiederkehrt. „ Die Koma hat ihn
gefressen ,“ heisst es dann . An eine Flucht aus dieser Hölle ist nicht zu
denken schon der Versuch wird mit dem Tode bestraft.
Alle diese Proceduren werden unter Tanz, Getrommel, und weitschallen
den Gesängen vorgenommen . Tanzen , Essen , Trinken und Quälen der jungen
Leute bilden während dieser ganzen Zeit die ausschliessliche Beschäftigung
der Festgenossen . Gegen Ende des letzten Monats werden die jungen
Leute mit den Namen der Götter und anderen Geheimlehren bekannt ge
macht und sie müssen geloben , sie nicht zu vergessen .
Nunmehr findet als Schlussact eine gemeinsame Jagd statt, an der sich
auch der Häuptling betheiligt, und zu der die für mündig Erklärten sich weiss
oder grau färben . Dann geht es in die Hauptstadt, wo der Häuptling sie
als seine Kinder , als wahre Männer, bezüglich Männinnen begrüsst und ihnen
neue Namen giebt. Damit sind sie denn für Erwachsene erklärt.
Mit einigen Varianten beschreibt ein anderer Missionär, K. Endemann ,
diese Aufnahme-Ceremonieen der Basutos, die derselbe Sotho - Neger
nennt; wir geben in Folgendem seinen Bericht,') der auch die mit den Mäd
chen vorgenommenen Gebräuche enthält. Nach ihm heisst der · Act, durch
den die jungen Leute in den Kreis der Erwachsenen eingeführt werden ,
pollo ;" die Bedeutung desselben ist die Erklärung der weiblichen Reife .
Für das männliche Geschlecht findet dabei die Beschneidung statt. Pollo
von volla heisst „ Auszug," weil die Betreffenden hinaus in's Feld ziehen .
Das Pollo findet nicht jedes Jahr statt, auch nicht zu gleicher Zeit für beide
Geschlechter. Wer sich ihm nicht unterwerfen wollte , würde getödtet, min
destens verjagt werden . Alle , die zusammen das pollo durchgemacht, bilden
heit gab in einer wohlgesetzten Rede der Vater aus höheren Ständen dem
jungen , in die Welt tretenden Mädchen als Ermahnung auf ihren Lebenspfad
mit. Waitzł) gab diese schönen Sprüche nach den Aufzeichnungen aus
führlich wieder. Nachdem jeder Knabe von Priestern während des 6. - 9 .
Lebensjahres (nach Anderen bis zum 15. Jahre) Unterricht im Tempel er
halten hatte , wurde er dann mit einer Vermahnung vom Priester entlassen ,
um eine selbständige Stellung im bürgerlichen Leben einzunehmen . Die Ent
lassung der Mädchen aus der Tempelschule geschah erst , wenn sie sich
verheirathen wollten .
Die alten Peruaner des untergegangenen Inka-Reiches scheinen zwei
Feste für die Einweihung der Jünglinge gehabt zu haben . Im 10. oder 12 .
Lebensjahre wurde das erste derselben begangen , wobei der Knabe seinen
zweiten Namen erhielt; im 16. Lebensjahre kam das zweite Fest, die Wehr
haftmachung , verbunden mit der Ohrdurchbohrung ; dabei wurde viel
leicht ein Huldigungseid dem Inka geleistet. Die jungen Leute von Adel
fasteten zuerst sechs Tage, dann mussten sie um die Wette laufen , mit ein
ander kämpfen und wurden einen Monat lang in jeder Weise auf ihre Ge
schicklichkeit und Gewandtheit, Kraft und Standhaftigkeit geprüft. Nach
bestandener Probe durchstach ihnen der Inka die Ohren , wodurch sie in
den Adelstand aufgenommeu wurden , und nun verlieh er ihnen die Schürze
als Zeichen des männlichen Alters. 2)
8. Die Römer.
stets mit dem 15. Jahre begangen worden sein ; allein der Vater konnte den
üblichen Termin etwas hinausschieben. Der für diese Feierlichkeit bestimmte
Tag waren die Liberalia, der 16. März ; da wurde im Hause den Laren
geopfert, wo der Knabe seine Bulla und die übrigen Insignia puerilia
(Zeichen seiner Knabenschaft) ablegte ; dabei trug er eine Tunica recta oder
regilla. Die ihm angelegte Toga virilis hiess auch Toga pura, sowie libera .
Dann zog man mit Freunden zum Forum , opferte auf dem Kapitol, und nun
mehr konnte der Jüngling in das öffentliche Leben eintreten .
1) C. Tacitus, Germania Kap . 13. Ante hoc domus pars videntur, mox reipublicae.
2 ) Daselbst Kap. 31.
3 ) H. Zimmer, Altindisches Leben. Berlin 1879. S. 222.
9. Germanen und Deutsche. 449
den Speer schwingen konnte, oder auf andere Weise. In den „ Weisthümern “
heisst es : ,, dass Alles , was Spiess und Stangen tragen mag , Heerfolge
thun muss.“ Der mündige Bauernjunge trug einen Stab , oben und unten
mit Ring und Stachel versehen . Ueber das Lebensjahr, in welcher bei den
verschiedenen Stämmen die „ Wehrbarmachung eintrat, siehe im Kapitel
über „ Kinderrecht."
Noch einmal lebte im deutschen Volke während des 12. und 13. Jahr
hunderts beim romantischen Ritterwesen die alte Sitte der Wehrhaftmachung
auf durch den Ritterschlag . Nicht mehr alle Deutsche empfingen diese
Würde, nicht mehr nahm die Familie daran Antheil, nicht mehr die Volks
versammlung , an deren Stelle die Kirche getreten war . Auch das Uebrige
war 'ausgebildeter ; wer Ritter werden wollte , musste erst den Stand der
Buben und den der Knappen durchlaufen und sich einer so hohen Ehre, wie
der des Ritterstands, würdig gemacht haben . ) Die Schwertleite , die zum
Ritter machte, verlieh die rechte Mündigkeit.
Allein es mögen unter den Germanen auch gewisse Prüfungsmetho
den für die Jünglinge üblich gewesen sein . Vielleicht ist der folgende
Brauch ein Ueberbleibsel aus alter Zeit. Die Angelsachsen in Altengland
prüften den Knaben, indem sie ihn auf ein abschüssiges, sehr geneigtes Dach
setzten , ob er sich muthig benimmt: „ It was a usual trial of a child's cou
rage, to place him on the sloping roof; if he helt fast, he was styled a stout
land brave boy. " 2)
Wenn bei der Confirmation in Deutschland sich hie und da einige
abergläubische Sitten zeigen , so sind dieselben 'gewiss ebenfalls noch
als Ueberbleibsel altgermanischer Bräuche aufzufassen ; denn wahrscheinlich
wurden auch unter den gemeinsamen Völkern gewisse Ceremonien beim
Eintritt der jungen Leute in die Gemeinschaft der Erwachsenen vorgenom
men . So stecken sich in Brandenburg bei der Konfirmation die Mädchen
Nadeln in's Haar , um sich vor Kopfschmerz zu bewahren . In Mecklenburg
heisst es : Wenn bei der Confirmation eine Kerze auf dem Altar verlischt,
so stirbt ein Confirmand. In Ostpreussen und Mecklenburg behalten bis
weilen die jungen Konfirmanden , ,,um glücklich zu werden ," beim Abend
mahl das geweihte Brod im Munde, ohne es zu geniessen , und bewahren
es dann beimlich auf. Dagegen glaubt man in Oldenburg , dass man die
Hexenkunst schon früh , am besten am Tage vor der Confirmation erlernen könne.
Die christliche Kirche hat es nicht versäumt, den Act der Mannbar .
keits -Erklärung durch ihre weihende Betheiligung gewissermaassen zu ver
edeln und die ethische Bedeutung der geistigen Reife in den Vordergrund
zu stellen. Durch die Confirmation erkennt sie den jungen Menschen als
selbstständiges Mitglied der christlichen Gemeinde an . Der Genuss des
Abendmahls soll ja nach christlichem Lehrsatz mit einer Selbstprüfung ver
bunden sein , ob man würdig sei, an dem heiligen Mahle theilzunehmen .
1 ) F. Bülau, Weiske und v . Leutsch , Die Germania des Tacitus. Leipzig 1828. S. 209.
2 ) S. Forsyth , The antiquary's portfolio . I. London 1825. S. 14 .
Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. 2. Aufl. 29
450 Der Abschluss der Kinderjahre.
29 *
Register.
Afrikaner, Besprengen des Kindes ! Amulete, bei den Römern II. 401.
I. 259. in Australien II. 421.
Durchbohren der Lippe I. 297. Anahita als Geburtsgöttin I. 41.
Exstirpation der Brustwarze I. 298 . Anaitis als Geburtsgöttin I. 38.
Plattdrücken der Nase I. 303. Anblasen des Kindes II. 200.
Anspitzen und Abraspeln der Zähne Andamanesen , Namengebung I. 160 .
I. 306 . Haarabschneiden I. 292 .
Verunstaltung des Schädels I. 319 . Richten der Glieder I. 301.
Beschneidung I. 361. 362, 363. 364 . Kindespflege II. 6. 7 .
Deformiren der weiblichen Geschlechts Tragen des Kindes II. 69.
theile I. 374 . Erziehung II. 337.
Beschneidung der Mädchen I. 377. Androkratie II. 393. 395.
Vernähen der Mädchen 1. 385. Anerkennung des Kindes durch den
Behandlung der Nachgeburt II . 199. Vater 1. 61. II. 395.
Aberglaube beim Zahnen II. 227. bei Germanen II. 397 .
Kindermord II. 258 . bei Altgriechen I. 62.
Zwillingstödtung II. 267 . bei Römern II. 401.
Mutterrecht II. 394. Angola , Kinderrecht II. 406 .
Kinderrecht II. 405. Anhauchen des Kindes II. 200 .
Brauch bei Pubertät II. 437 . Ankleiden des Kindes als feierlicher
Ainbeth , eine der Nornen 1. 41. 'Akt I. 286 .
Aïno, Namengebung I. 160. 185. Anlage, verschiedene, des Kindes II. 7
Trinkgelage nach der Geburt I. 65. Anthun II. 210 .
Tätowiren I. 336 . Apono, Zwillingstödtung II. 267.
Tragen des Kindes II. 70. Araber, Geburtsgöttin ders. I. 38.
Säugen des Kindes II. 144 . Ceremonien nach der Geburt I. 70 .
Aberglaube bei Zwillingen II. 266 . Horoskop I. 84.
Erziehung II. 361. Wahl des Namens I. 161.
Brauch bei Pubertät II. 436 . Namengebung I. 170. 171. 173. 180. 185.
Akkadier , Beschwörungen II. 211. Abreiben des Kindes mit Salz I. 280 .
Akko als Kinderschrecken II. 327. Beschneidung I. 344. 351. 354. 370.
Alaska,Reinigen desNeugeborenen II.19. Beschneidung der Mädchen I. 377. 382 .
Kinderstuhl II. 119 . Vernähen der Mädchen I. 386 .
Säugen der Kinder II. 145. Reinigen des Neugeborenen II. 14 .
Brauch beiReife des Mädchens II. 433. Reinigen des Kindes II. 22.
Albinos II. 241. umhüllen das Kind nicht II. 27 .
Aleuten , Liebe zum Kind II. 264. Legen des Kindes II. 57. 58.
Erziehung II. 340. Kriechen ihrer Kinder II. 125 .
Alfuren , Nabelschnurbeidenselben I. 16 . Säugen des Kindes II. 152.
ihre Behandlung Schwangerer I. 23. Ammen bei denselben II . 178.
Anerkennung durch den Vater I. 61. Entwöhnen II. 185.
Opfer bei der Geburt I. 81. Kindermord II. 245.
Haarabschneiden I. 292. Kinderrecht II. 407.
Tragen des Kindes II. 67 . Brauch bei Pubertät II. 436 .
Mannbarkeitserklärung II. 424 . Araukaner, Namengebung I. i63. 167.
Algier, Schutzmittel gegen bösen Blick Argentinische Republik , Seelen früh
I. 137 verstorbener Kinder 1. 103 .
Kinderrecht II. 407. Armenier, ihre Behandlung Schwan
Alitta als Geburtsgöttin I. 39. gerer I. 19.
Alkohol als Kinderheilmittel II. 231. Geburtsgöttin derselben I. 38 .
Alphito als Kinderschrecken II. 327. Wahl des Namens I. 162.
Alpingi, Zwillingstödtung II. 267. Namengebung I. 164. 180 .
Ama -Xosa siehe Kaffern. Reinigen des Kindes durch Salz I. 280 .
Ammen wesen II. 175. Richten der Glieder I. 299.
Amulete I. 121, 125. 135. II. 194. 196.212. Bestreuen desNeugebornenmitSalz II.16 .
454 Register.
Armenier, Reinigen des Kindes II. 20. Australier, Tragen der Kinder II .
Wickeln des Kindes II. 35 . 66. 71 .
Wiege derselben II. 107. Dauer des Säugens II. 171.
Laufapparat II. 125. Kindermord II. 253 .
Stellung beim Säugen II. 146. 153. 156 . bei Zwillingen II. 275.
Dauer des Säugens II. 171. 173. Kinderspiel II. 294. 389.
Entwöhnen II. 184. 186 . Dämonen daselbst II. 329.
Betäubungsmittel II. 233. Erziehung II. 333.
Arzneien, Sympathie dabei II. 287. Kinderrecht II. 408 .
Arzneiliche Behandlung II. 230, Mannbarkeits - Erklärung II. 413 .
Aschera , Göttin der Israliten I. 39 . Auszüge beim Sommerfest II. 381.
Asiaten , Bräuche beim Mannbarwerden Azteken , Erziehung H. 346.
II. 434.
Assyrer, Geburtsgöttin derselben I. 39.
Beschneidung I. 344. B.
Tragen des Kindes II. 64 .
Beschwörungen II. 211. Babongo , Tragen b . Kindes II. 76 .
Astarte als Geburtskönigin I. 39 . Babylonier , Geburtsgöttin ders. I. 39.
Astrologie II. 193. Bad , Sympathie dabei II. 201.
Aufhebung als Anerkennung des Kin Badagas, Ceremonien nach der Geburt
des II. 397 I. 65.
des Neugeborenen bei den Römern Austheilung von Nahrung bei der Ge
II . 401. burt I. 83.
Aufnahme des Kindes I. 48. Horoskop I. 84.
in die Gemeinschaft II. 411. Schutzmittel gegen Unholde I. 126.
Augenkrankheiten II. 235. Schutzmittel gegen bösen Blick I. 133.
Augenlider, Schwarzfärben ders. II. Namengebung I. 163. 168. 186 .
201. Reis bei der Namengebung dem Kind
Augurium I. 21. II. 195 . in den Mund gesteckt I. 284..
Ausschlag , sympath. Mittel II. 219. Richten der Glieder I. 300.
Aussegnung der Wöchnerin I. 251. Verunstaltung des Schädels I. 320 .
als Entzauberung I. 51. Tättowiren I. 337.
Aussetzen der Kinder II. 243. Cauterisiren I. 339.
bei Germanen II. 398 . hüllen das Kind nicht ein II. 32 .
bei den alten Griechen II. 400 . Kinderheilmittel II. 237 .
bei den Römern II. 401. Brauch bei Mannbarwerden II. 435 .
Australier, Nabelschnur daselbst I. 15. Baden des Neugeborenen Il. 10 .
Behandlung der Schwangeren bei ihnen des Kindes als mystischer Akt I. 257 .
I. 22. Badewasser des Kindes I. 51.
Elternliebe I. 61. Bärtel am Weihnachtsfest II. 503.
Tod des Kindes I. 91. Bafiote , Kinderrecht II. 406. Siehe auch
beim Tode der Mutter I. 109. Loango .
Namengebung I. 160. 163. 165. 169. Brauch bei Pubertät II . 439.
170. 172. 178. 186 . Bagdad , Wiege daselbst II. 97. 105.
Ablösen eines Fingergliedes I. 288. Spiel daselbst II. 302.
Ordnen der Glieder I. 299. Baiern , Wickeln des Kindes II. 38 .
Duchbohrung der Nasenwand I. 305. Kindersterblichkeit durch Nichtstillen
Abschneiden eines Fingergelenkes I. II. 162.
335 . künstl. Ernährung II. 189.
Tättowiren I. 336 . Feier des Kindstags II. 384.
Beschneidung 1. 357. 358. Baktrer, deren Geburtsgöttin I. 38 .
Deformiren der weiblichen Geschlechts hielten Wöchnerinnen für unrein I. 54 .
theile I. 376 . Ballspiel II. 293.
Waschen des Neugeborenen II. 14 . Banat, Namengebung I. 177.
umhüllen d . Kind mit Asche II. 26 . | Banks - I., Mannbarkeitserklärung 11.424.
Register 455
-
Ermahnungen , gute, an das Neugebo
Durchräuchern des Kindes I. 283. rene I. 75 .
| Ermorden des Kindes II. 243.
Ernährung des Kindes II. 141.
E. künstliche II. 180 .
Erziehung II 322.
Ecuador, Beschneidung der Mädchen Eskimo, Absonderung im Kindbett I. 61.
I. 385. beim Tode der Wöchnerin I. 109.
Ehemann , dessen Verhalten bei Schwan Wechselbalg I. 118. 121.
gerschaft der Frau I. 35. Durchbohren der Backen I. 298 .
Ehe- Verhältnisse II. 391. Verunstaltung des Schädels I. 314 .
Eierhärten II. 371. Tättowiren I. 336 .
Eierkullern zu Ostern II. 372. Kindespflege II. 4 .
Eierstöcke , Exstirpation II. 419. Einhüllen des Kindes II. 35 .
Eierwalzen II. 372. Tragen des Kindes II. 65. 84.
Eihäute als Glückshaube I. 12. Dauer des Säugens II. 171.
Einhüllen des Kindes II. 25. Entwöhnen II. 181.
Sympathie dabei II. 202. Aussetzen des Kindes II. 251.
Einmauern von Kindern I. 82. II. 219 . Kinderspiel II. 294. 308.
Einschläfern des Kindes II. 126 . Erziehung II. 339.
Einsegnung der Wöchnerin I. 251. Adoption II. 410.
Einweihungsact bei Pubertät II. 413. Essen , Sympathie bei dems. II. 204 .
Eiresione, Oel- oder Lorbeerzweig II. Esten , ihre Behandlung Schwangerer I. 27 .
369. Schutzmittel gegen bösen Blick I. 138 .
Elfen als Schreckmittel II. 326. 142.
Elsass, Maifest II. 375. Reinigen des Neugeborenen II. 19.
Emancipation II. 411. Wickeln des Kindes II. 36 .
Engadin, Osterfest II. 373. Wiege desselben II. 95. 104.
Frühlingsfest II. 380. Säugen des Kindes II. 158 .
England, Aberglaube daselbst über Her Dauer des Säugens II. 174.
kunft der Kinder I. 7 . Entwöhnen II. 187.
Glaube daselbst an Glückshaube I. 14 . Räucherung bei Krankheit II. 235 .
Seelen verstorbener Kinder I. 97. 101. Kindermärchen II. 330 .
Namengebung I. 183. Etrusker , deren Geburtsgöttin I. 39 .
Taufzeug I 211. Cauterisiren I. 339.
Taufmahl I. 225 . Mutterrecht II. 393.
Kindtaufskuchen I. 228 . Ewe- Neger, Erziehung II. 343.
Ausdrücken der Brustwarze I. 298.
Verunstaltung des Schädels I. 325.
Einhüllen des Kindes II. 37 .
Kriechen der Kinder II. 122.
Wiegenlied II. 132. Fabulinus als Schutzgott beim Sprechen
Schlaftränkchen II. 232 . lernen I. 40 .
Literatur des Kinderspiels II. 322. Färben der Augenlider II. 201.
Erziehung II. 364. Fallhut II. 123.
Spiel mit Ostereiern II. 372. Familie , Aufnahme in dieselbe I. 48.
Mairitt II. 276 . Familiensystem II. 391.
Entführung der Wöchnerin durch Un Fascien II. 28 .
holde I. 110 . Fastnacht II. 388 .
Entwöhnen II. 110 . Feld , aus dem die Neugeborenen kom
Aberglaube dabei II. 190. men I. 7 .
460 Register .
Fellah , Einhüllen des Kindes II. 32. | Frankreich , Gebet bei Krankheit II.
Fellatah , Adoption II 410 . 213 .
Fenster , Sympathie mit dems. II. 203. Kinderheilmittel II. 237.
Feste der Kinder II. 367. Kinderspiel II. 305.
Fett, Bestreichen des Kindes I. 280. Reiterlied II. 307.
Feuer, mystische Kraft dess. II. 194. Literatur des Kinderlieds II. 321.
Spielen mit dems. II. 206 . Erziehung II. 364 .
zu Ostern angebrannt II. 373. Frühlingsfest II. 376. 377 .
Feuerbrände zu Fastnacht II. 389. Weihnachtsfest II. 385.
Feuerländer, deren Kindespflege II. 4 . Freia als Geburtsgöttin I. 42.
Tragen des Kindes II. 65. Freundschaftsinseln , Castriren I. 341.
Fezzan , Säugen des Kindes II. 152 . Friesland , Wiegenlied daselbst II. 139.
Kinderheilmittel II. 236 . Frigg siehe Freia .
Fidschi, Nabelschnur daselbst I. 15. Cultus derselben zu Fastnacht II . 388.
Feierlichkeiten nach der Geburt I. 67 . Frühlingsfeier II. 369. 374 .
Namengebung I. 179. in Frankreich II. 376. 377 .
Einsegnung der Speise I. 284. Frühlingsvorfeier II. 388.
Beschneidung I. 360. Fuchs als Kinderbringer I. 7 .
Reinigung des Neugebornen II. 18 . als Spender der Zähne II. 229.
Tragen des Kindes II. 67. Fünffingerliedchen II. 314.
Säugen des Kindes II. 145. 148. Füsse , Verunstaltung derselben I. 330 .
Kindermord II. 256 . Furcht als Erziehungsmittel II. 326. 329.
Erziehung II. 335. 336 .
Mutterrecht II. 393.
Unart der Kinder II. 408. G.
Fingergelenk , Abschneiden desselben
I. 335 . Gängelbänder II. 123.
Fingerspiel II. 311. Galla , Kinderrecht II. 406 .
Finnen , Kindbett als Reinigung I. 57 . Geburt, Taufe vor derselben II. 197.
Tod des Kindes I, 93 . Geburtsact,macht Wöchnerin und Kind
umhüllen das Kind nicht II. 26 . unrein I. 49.
Legen des Kindes II. 59. Geburtsgottheiten I. 37 .
Wiege II. 95. Geburtstage, gute und schlimme I. 88.
Wiegenlied II. 132. Gefahren , die dem Kind und der Mutter
Entwöhnen II. 183. drohen I. 89.
Firmung II. 411. Gehen der Kinder II. 40. 120 .
Formosa , Ceremonie nach der Geburt Gehkorb II. 123.
I. 63. Gelüste der Schwangeren I. 33.
Forstfest II. 381. Gemeinschaftsehe II. 391.
Franken , Verunstaltung des Schädels Georgier, Behandlung der Wöchnerin
I. 324. 327. bei denselben I. 55 .
Frankreich , Aberglaube daselbst über Reinigen des Kindes durch Salz I, 280.
Herkunft des Kindes l. 7 . Bestreuen des Neugeborenen mit Salz
Glaube an Glückshaube I. 13. 14 . II. 16 .
Seelen früh verstorbener Kinder I. 96 . Wiege II. 107.
Schutzmittel gegen bösen Blick I. 136. Kinderarznei II. 235.
Männerkindbett I. 146 . Germanen, Glaube derselben über
Taufzeug I. 211. Herkunft der Kinder I. 3 .
Taufmahl I. 225 .
Aberglaube bei Schwangerschaft I. 29.
Salz als symbolisches Nahrungsmittel hielten das Kind für unrein I. 51.
I. 286 . Seelen früh verstorbener Kinder I. 95.
Verunstaltung des Schädels I. 325. Wahl des Namens l. 162 .
Wickeln des Kindes II. 37. Namengebung I. 164. 168. 178.
Wiegenlied II. 133 . Taufgebräuche I. 190.
Säugen des Kindes II. 158. Gevatterschaf t I. 191.
Register. 461
-
Register. 463
Maori, Behandlung der Beine I. 334. Mexikaner, Segensprüche für das Kind
Säugen des Kindes. II. 147. I. 76 .
Erziehung II. 336 . Begraben der Nabelschnur I. 79.
Mutterrecht II. 393. Schenken von Thieren I. 80 .
Maravis , Reinigen des Kindes II. 21. Horoskop I. 85.
Mareien als Schicksalsgöttinnen 1. 47. Tod des Kindes I. 90 .
Margarethe, heilige, als Schutzgöttin Sterben der Wöchnerin I. 108.
Gebärender I. 46 . Wahl des Namens I. 162.
Marianen - Inseln , Unreinsein im Kind Namenertheilung I. 163. 164. 177. 186 .
bett I. 58. Taufakt I. 262.
Austheilung von Nahrung bei der Ge Legen in die Wiege I. 287. II. 93.
burt I. 83. Verunstaltung des Schädels I. 310.
Wahl des Namens I. 162. Beschneidung I. 356 .
Namengebung I. 170. 176 . Säugen des Kindes II. 146 .
Pathen I. 191. 162. bei Zwillingen II. 275.
Erziehung II. 337. Erziehung II. 346 .
Adoption II. 410. Kinderrecht II. 409.
Marienkäfer als Kinderbringer I. 12 . Brauch bei Pubertät II. 446 .
Marokko, Glückwünsche für das Kind Miaotse, Glaube derselben über Her
1. 77 . kunft der Kinder I. 3 .
Schutzmittel gegen bösen Blick I. 137. * Männerkindbett I. 147.
Namengebung I. 180. 185. Haarabschneiden I. 291.
Haarabschneiden I. 292. Mika -Operation II. 422.
Beschneidung I. 355. Mikronesier, Erziehung II. 337 .
Tragen des Kindes II. 75. Milch , Darreichen derselben I. 284.
Dauer des Säugens II. 169. Missbildung II. 241. 395 .
Maroniten , Wiege derselben II. 107. Mittwinterfest II. 383.
Marshal- Inseln , Unreinsein im Kind Mören als Schicksalsgöttinnen I. 47.
bett I. 58 . bringen Merkmale am Kinde hervor
Erziehung II. 337. I. 48.
Masai, Brauch bei Pubertät II. 437 . Mohammedaner, Feierlichkeiten nach
Massaua , Säugen des Kindes II. 152. der Geburt I. 65.
Mauren , Verunstaltung des Schädels Kinderrecht II. 402.
I. 319. Moldau , Tanzovationen nach der Ge
Maus, Beziehung zum Zahnen II. 227. burt I. 66 .
Mayas, Pathen I. 191. Molukken , Horoskop I. 83.
Taufhandlung I. 260. Männerkindbett I. 147 .
Mecklenburg , Aberglaube II. 200 . Mond, Einfluss auf das Kind II. 193.
Meder, deren Geburtsgöttin I. 38. Mondgöttin I. 38 .
hielten Wöchnerinnen für unrein I. 54 . Mongolen , Gebete für Schwangere I. 26 .
Meer, aus dem die Neugebornen kom Absonderung der Wöchnerin I. 57.
men I. 6 . Horoskop I. 86 .
Melanesier , Tod des Kindes I. 92. Namengebung I. 163. 175.
Beschneidung I. 359. Wochengeschenke I. 245.
Erziehung II. 335. Taufe I. 265.
Menstruations- Eintritt II. 412 . Abwaschen des Kindes mit Salzwasser
Merkmale am Kinde I. 48. I. 281.
Messen des Körpers I. 302. II. 200. Verunstaltung des Schädels I. 321.
Messverfahren bei Neug bornen I. 40 . Reinigen des Kindes II. 13. 20 .
Mexikaner, ihr Aberglaube beiSchwan Wiege wird geschenkt II. 116 .
gern I. 25 . Säugen des Kindes II. 144. 155.
Geburtsgottheit derselben I. 43. Dauer des Säugens II. 171.
Feierlichkeit nach der Geburt I. 66 . Kinderrecht II. 404.
Schenken ins Wochenbett I. 70 . Montenegriner , Ceremonien nach der
Symbole für das Kind I. 72. Geburt I. 68.
30 *
468 Register.
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Register. 469
Schweiz, Glaube daselbst über Her Serben , Sympathie derselben II. 215.
kunſt des Kindes I. 5 . Sessel des Kindes II. 117 .
Anerkennung durch den Vater I. 62. Siam , Namenge bung I. 175 .
Pflanzen von Bäumen I. 79 . Haarabschneiden I. 291.
Seelen früh verstorbener Kinder I. 98. Verunstaltung des Schädels I. 340.
IOI. Wiege daselbst II. 100 .
Hebammen zu Frauen der Unholde ge Dauer des Säugens II . 172.
holt I. 110 . Brauch beim Mannbarwerden II. 435.
Schutzmittel gegen Unholde I. 122. Sicilien , Tanz nach der Geburt I. 06 .
Schutzmittel gegen Beschreien I. 135. Austheilung von Nahrung bei der Ge
139 . burt I. 83.
Namengebung I. 181. Tod des Kindes I. 93 .
derselbe Name an Kind und Thier I. 189. Tanz nach der Taufe I. 219.
keine Namen Verstorbener I. 189. Einkleidung I. 286 .
Gevatterbitten I. 195. Wiegenlied II. 133.
Zahl der Pathen I. 198 . Säugen des Kindes II. 156 .
Taufkleid I. 211. Siebenbürgen , Glückshaube I. 14 .
Kindtaufsmahl I. 222. 225 . Aberglaube daselbst bei Schwanger
Geschenke an die Wöchnerin I. 246. schaft I. 30 .
Haarabschneiden I. 295. Horoskop I. 89.
Verunstaltung des Schädels I. 322. 325. Schutzmittel gegen Beschreien I, 141.
326 . Wahl des Namens I. 162.
Baden des Kindes II. 25 . Zahl der Pathen I. 197 .
Tragen des Kindes II. 85. Rechte und Pflichten der Pathen I, 198 .
Wiegenlied das. II. 137 . Tracht der Gevattern I. 200 .
Nichtstillen daselbst II. 166. Bedeutung der Taufe I. 209.
Sympathie II. 217. nach der Taufe I. 219. 220 .
Maifest II. 374 . Gäste beim Taufmahl I. 224 .
Frühlingsfest II. 380 . Empfang im Taufhaus I. 227.
Schwertleite bei Mündigwerden II. 449. erster Kirchgang I. 253.
Schwitzbad , Reinigen des Neugebor Baden des Kindes II. 25.
nen in solchem II. 19 . Einhüllen des Kindes II. 39.
Scrophuolosis II. 218. Wiege daselbst II. 114 .
Seelen der Kinder fliegen als Insecten Wiegenlied daselbst II. 140.
umher I. 3. Sigillaria als Kinderfest II. 382.
der Kinder vom Storch gebracht I. 11. Sioux , Namengebung I. 160. 176. 185.
früh verstorbener Kinder I. 95 . Tragen des Kindes II. 82.
der Kinder im wilden Heer II. 196 . Dauer des Säugens II. 168.
Segensspruche für das Kind I. 76 . beim Tod des Kindes II. 197 .
Semiten , Beschneidung 1. 343. Sittlichkeit im Erziehungswesen II .331.
Erziehung II. 356 . Sitzen des Kindes II. 40. 116 .
Sennaar, Vernähen der Mädchen I. 387. Siwa, Geburtsgöttin der Slaven I. 42.
Serben , Horoskop I. 88. Slaven , ihr Aberglaube bei Schwanger
Unholde verfolgen das Kind I. 113. schaft I. 27.
Schutzmittel gegen Unholde I. 125. Geburtsgottheit derselben I. 42.
Schutzmittel gegen Bezaubern I. 138. 139. Geschenke an Mutter und Kind l. 71.
Name der Pathen I. 193. Seelen früh verstorbener Kinder I. 102.
Gevatterbitten I. 195. Unholde verfolgen das Kind 1. 114.
Geschenke an die Wöchnerin I. 246 . Wechselbalg I. 119.
Milch und Honig als erste Nahrung Schutzmittel gegen Unholde I. 125 .
I. 285 . Schutzmittel gegen bösen Blick I. 139 .
Tragen des Kindes II. 86 . 141.
Ammen bei denselben II. 180. Wahl des Namens I. '162 .
Aberglaube beim Entwöhnen II. 191. Taufe I. 188 .
Sympathie mit Blut vom Nabel II. 199 keine Namen Verstorbener I. 189.
Register. 475
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