Tolstoi Und Dostojevski

Als pdf oder txt herunterladen
Als pdf oder txt herunterladen
Sie sind auf Seite 1von 200

'RHUQH0DUWLQ

7ROVWRMXQG'RVWRMHZVNLM]ZHLFKULVWOLFKH8WRSLHQ

*|WWLQJHQ
=
XUQQEQGHEYEEVE

'LH3')'DWHLNDQQHOHNWURQLVFKGXUFKVXFKWZHUGHQ

Copyright
Das Copyright für alle Webdokumente, insbesondere für Bil- The Bayerische Staatsbibliothek (BSB) owns the copyright for
der, liegt bei der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Folge- all web documents, in particular for all images. Any further use
verwertung von Webdokumenten ist nur mit Zustimmung der of the web documents is subject to the approval of the Baye-
Bayerischen Staatsbibliothek bzw. des Autors möglich. Exter- rische Staatsbibliothek and/or the author. External links to the
ne Links auf die Angebote sind ausdrücklich erwünscht. Eine offer of the BSB are expressly welcome. However, it is illegal
unautorisierte Übernahme ganzer Seiten oder ganzer Beiträge to copy whole pages or complete articles or parts of articles
oder Beitragsteile ist dagegen nicht zulässig. Für nicht-kom- without prior authorisation. Some individual materials may be
merzielle Ausbildungszwecke können einzelne Materialien ko- copied for non-commercial educational purposes, provided that
piert werden, solange eindeutig die Urheberschaft der Autoren the authorship of the author(s) or of the Bayerische Staatsbibli-
bzw. der Bayerischen Staatsbibliothek kenntlich gemacht wird. othek is indicated unambiguously.
Eine Verwertung von urheberrechtlich geschützten Beiträgen Unless provided otherwise by the copyright law, it is illegal and
und Abbildungen der auf den Servern der Bayerischen Staats- may be prosecuted as a punishable offence to use copyrighted
bibliothek befindlichen Daten, insbesondere durch Vervielfälti- articles and representations of the data stored on the servers
gung oder Verbreitung, ist ohne vorherige schriftliche Zustim- of the Bayerische Staatsbibliothek, in particular by copying or
mung der Bayerischen Staatsbibliothek unzulässig und strafbar, disseminating them, without the prior written approval of the
soweit sich aus dem Urheberrechtsgesetz nichts anderes ergibt. Bayerische Staatsbibliothek. It is in particular illegal to store
Insbesondere ist eine Einspeicherung oder Verarbeitung in Da- or process any data in data systems without the approval of the
tensystemen ohne Zustimmung der Bayerischen Staatsbiblio- Bayerische Staatsbibliothek.
thek unzulässig.
i^S.2U 1.0M
MARTIN D O E R N E

TOLSTOJ UND D O S T O J E W S K I J

Zwei christliche Utopien

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN


Martin Doerne

geb. 20.3.1900 in Schönbach (Kr. Löbau/Sa.), 1924—1927 im


Kirchendienst, 1927—1934 Studiendirektor am Predigerseminar
Lückendorf (ev.-luth. Landeskirche Sachsens), 1934 Prof. f. prakt.
Theologie in Leipzig, 1947 Prof. f. systemat.Theologie in Rostock,
1952 in Halle, seit 1954 wieder f. prakt.Theologie in Göttingen,
1968 emeritiert. Dr. phil. Leipzig 1924, D. theol. h. c. Erlangen
1934.
Verf. u. a. „Die Religion in Herders Geschiditsphilosophie",
Leipzig 1927; „Bildungslehre ev. Theologie" (im Handbuch d.
deutschen Lehrerbildung), München 1932; „Neubau der Konfir-
mation", Gütersloh 1936; „Grundriß des Theologiestudiums"
(Herausgeber, eigene Beiträge in Bd. I u. III), Gütersloh
1947—1949; Homiletische Auslegung der sog. altkirchlichen
Perikopen: „Er kommt auch nocl} heute" (Evangelien) 5. Aufl.
Göttingen 1961. „Furcht ist nicht in der Liebe" (Episteln), 2. Aufl.
Berlin 1950, u. d. Titel „Die Alten Episteln" neu bearbeitet,
Göttingen 1967. — „Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk",
Göttingen, Kl.Vandenhoeck-Reihe 50150a, 2.Aufl. 1962. —
„Die Finsternis vergeht", Predigten, Göttingen 1963.

f ' """^
Bayerisch«
Staatsbibliothek
München
V. '

Kleine Vandenhocck-Reihc )04 S


Umschlag: Hans Dieter Ullrich. — © Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 1969. — Alle Rechte vorbehalten. — Ohne ausdrückliche
Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile
daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen.
Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
INHALT

E i n f ü h r u n g : Tolstoj und Dostojewski}? 5

Erster T e i l : Tolstoj 16

I. Gedichtetes Leben 16
1. Selbstdarstellung und Konfession 18
2. Fürst Nechljudow 19
3. Kontinuität und Differenzierung des Selbstporträts . 21

I L D e r Realismus d e r W a h r h e i t 25
1. „Der Held meiner Erzählung" 26
2. Entheroisierung der Geschichte 27
3. Der Verdacht des Selbstbetruges 29
4. Die Freiheit vom Vorurteil 32

I I I . D e r K a m p f mit d e m T o d e 36
1. Auge in Auge mit dem Tode
(Das „arsamasische Grauen") 37
2. „Der Tod des Iwan Iljitsch" 40
3. Ambivalente Todesweisheit 44

I V . D i e M a s k e n des Teufels 48
1. Tolstojs Religiosität: Rationale Grundstruktur und
dualistische Hintergründe 49
2. Die dichterische Konzeption des Teufels im Spätwerk 54
3. Die drei Masken des Teufels 57

V . D a s Reich Gottes in uns 61


1. Gott in mir 62
2. Die Lehre Christi und ihre Verfälschung, die Kirche . 66
3. Gesellschaftskritik und Gewissensreligion 73

Z w e i t e r T e i l : Dostojewskij 83
I . „Ein Realist im h ö h e r e n Sinne" 83
1. Der Mensch — ein Geheimnis 83
2. Das Modell der „Erniedrigten und Beleidigten" . . . 86

3
3. Die hohe Schule des „toten Hauses" 88
4. Der verhinderte Mensch 93
(Zu den „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch") . .

I L Wege z u r christlichen I n t e g r a t i o n 97
1. Lebensgeschichtliche Spuren 98
2. Humanismus ohne Illusionen 101
3. Der vollkommene schöne Mensch („Der Idiot") . . . 106

III. D i e zwei Gesichter v o n Dostojewskijs C h r i s t e n t u m 113


1. Der kulturpolitische Publizist 117
a) Zeitkritik und politische Polemik 117
b) Die messianische Utopie 122
2. Der Dichter zwischen Glauben und Unglauben . . . 125
a) Die nie gelöste Frage nach Gott 125
b) Die geheime Nachbarschaft von Glauben und Athe-
ismus 130

I V . Allmenschliche Synthese u n d G o l d e n e s Z e i t a l t e r . . 134


1. Dialogik und Dialektik 135
2. Die allmenschliche Vereinigung 141
a) Die Puschkinrede von 1880 141
b) Schuldgemeinschaft und Allverzeihung 142
3. Das Goldene Zeitalter 146
a) Urständ und Ideal 147
b) Sündenfall und Vereinzelung 150
c) Das Paradies auf Erden 152

Schluß: Das Gemeinsame in den Unterschieden . . . . 156

1. Gemeinsame utopische Motive 157


2. Moralischer Utopismus — christlich-utopische Wahr-
träume 159
3. Zwei „neue Christen" 167

Anmerkungen 171

4
Dayenscno
Staatsbibliothek
M ü r « ' ••'

E I N F Ü H R U N G : TOLSTOJ UND
DOSTOJEWSKIJ?
Tolstoj und Dostojewskij, die beiden großen Dichter, mit denen
die russische Literatur des 19. Jahrhunderts in den höchsten
Rang der Weltliteratur einging, sind einander zeitlebens nie
persönlich begegnet. Beide haben bei Gelegenheit ihr Bedauern
über die verfehlte Begegnung ausgesprochen. Trotzdem läßt
sich vermuten, daß irgendein inneres Widerstreben die beiden
voneinander ferngehalten hat. Wie das auch sein mag, der
Glücksfall der Befreundung zwischen Goethe und Schiller hat
sich zwischen den zwei größten russischen Schriftstellern ihres
Jahrhunderts nicht wiederholt.
In der vorliegenden Schrift sollen Tolstoj und Dostojewskij
nicht posthum miteinander befreundet werden. Diese Fiktion
bliebe der produktiven Phantasie eines Dichters anheimgegeben.
Allerdings gehört es zur Absicht dieser Studie, Tolstoj und
Dostojewskij so nebeneinanderzustellen, daß dabei nicht nur die
offen zutage liegenden Unterschiede und Gegensätze belichtet
werden, sondern daß hinter ihnen auch ein verborgenes Gemein-
sames sichtbar wird. Das ist ein gewagter Versuch. Die Gegen-
sätzlichkeit zwischen Dostojewskij und Tolstoj ist oft genug
herausgestellt worden, zuerst wohl von Dm.Mereschkowskij
(Tolstoj und Dostojewskij als Menschen und als Künstler, Leip-
zig 1903). Thomas Manns gewichtige Beiträge zur Würdigung
Tolstojs, vor allem sein großer Essay „Goethe und Tolstoj —
Fragmente zum Problem der Humanität" (1922, wiederabge-
druckt in: Adel des Geistes, Stockholm 1945, S. 178—307), sind
von Mereschkowskij, speziell in der Kontrastierung Tolstoj —
Dostojewskij, stark mitbeeinflußt. Thomas Mann seinerseits hat
die Differenz zwischen den beiden Russen mit der zwischen den
zwei Großen der klassischen deutschen Literatur, Goethe und
Schiller, parallelisiert. Dostojewskij rückt innerhalb dieser Kon-
figuration nahe an Schiller heran, vielleicht noch überzeugender

5
als Tolstoj in Goethes Nachbarschaft zu stehen kommt. Die
Zuordnung Dostojewskij — Schiller wird bei Th.Mann frucht-
bar ergänzt durch die Intuition einer „Geistesbruderschaft"
zwischen Dostojewskij und Nietzsche 1 . Mit gutem Recht spricht
er von der positiven Bedeutung der Krankheit für beide als
Stimulus eines außerordentlichen Tief- und Fernblicks für bisher
unerschlossene Horizonte der Humanität. Auch angesichts der
von Dostojewskij wie von Nietzsche unabhängig gewonnenen
Entdeckungen in der terra incognita der menschlichen Seele, im
besonderen angesichts der Vorwegnahme von Nietzsches Über-
menschen in Dostojewskijs Romanfiguren Raskolnikow und
Stawrogin ist diese geheime Verwandtschaft evident. Eben sie
bekräftigt nochmals den Abstand zwischen Dostojewskij und
Tolstoj; an dem großen Alten von Jasnaja Poljana wird schwer-
lich jemand eine unterirdische Gemeinsamkeit mit Nietzsche
entdecken.
Auch die gelehrte Literaturwissenschaft hat in der Vergleichung
Dostojewskijs und Tolstojs den Blick vorwiegend auf die tiefen
Unterschiede der beiderseitigen künstlerischen Form und die
darin abgespiegelte Differenz des inneren Wirklichkeitsbildes
gerichtet. Der amerikanische Literaturforscher George Steiner
hat neuerdings den fundamentalen Unterschied zwischen beiden
als Schlüsselprinzip für seine „Analyse des abendländischen
Romans" gehandhabt (Tolstoy or Dostoevsky, New York
1959, deutsch München-Wien 1964). Steiner möchte „bei der Be-
trachtung ihrer Leistungen das Wesen ihres Genius durch den
Kontrast definieren" (deutsche Ausgabe S. 13). Es ist im wesent-
lichen der Kontrast zwischen dem Epiker und dem Drama-
tiker.
Ungefähr ebenso scharf stellt sich der Kontrast den meisten
Autoren dar, die Tolstojs und Dostojewskijs Werk auf seinen
Gedankengehalt, auf die religiösen, philosophischen, sozialen
und politischen Ideen befragt haben. Unter den russischen Inter-
preten, die in deutscher Sprache schrieben oder ins Deutsche
übersetzt wurden, mögen beispielshalber nur die gehaltvollen
Bücher von N.Berdjajew, Die Weltanschauung Dostojewskijs,
München 1925 (besonders S. 11—13), und F.Stepun, Dosto-
jewskij und Tolstoj. Christentum und soziale Revolution, Mün-

6
chen 1961, genannt sein. — Für die tiefwirkende Neuformung
der evangelischen Theologie nach 1920, der man das (frag-
würdige) Etikett der dialektischen Theologie beilegte, empfing
Dostojewskij zeitweise fast die Dignität eines Kronzeugen. Karl
Barths nächster Freund, Ed. Thurneysen in seinem schönen Buch
„Dostojewskij" (München 1921, seither vielmals neu aufgelegt),
sieht in Dostojewskijs Werk eine spontane Neuentdeckung des
evangelisch-reformatorischen Zentralthemas von der Rechtferti-
gung des Sünders allein aus Gnade durch Glauben. Er hat
Dostojewskij in einer bestimmten Perspektive kongenial ver-
standen; seine Deutung erfaßt das überaus vielschichtige Gefüge
der dichterischen wie der religiösen Intentionen dieses Schrift-
stellers in großartiger, freilich auch anfechtbarer Verein-
fachung.
In der religiös-theologischen Selbstreflexion des evangelischen
wie auch des katholischen Christentums während der letzten
Jahrzehnte ist Tolstoj gegenüber Dostojewskij sehr in den
Hintergrund getreten. Religiös relevant war ja vor allem das
Spätwerk Tolstojs, seine Lehr- und Kampfschriften seit „Meine
Beichte", 1879, in der deutschen Ausgabe von R. Löwenfeld als
„Sozialethische Schriften" geführt 2 , daneben namentlich die
Erzählung „Die Kreutzersonate" mit ihrem grundsätzlichen
Nachwort und der Roman „Auferstehung", beide glücklich er-
gänzt durch die volkstümlichen Legenden und Märchen, in
Deutschland als „Volkserzählungen" schon in den 1890er Jah-
ren bekannt. — Während zwischen 1890 und 1914 dieses
Spätwerk Tolstojs kräftig anregend, z.T. auch bestätigend in
die Bemühungen um ein „undogmatisches Christentum" hinein-
wirkte, stellte sich für die evangelisch-theologische Neuorien-
tierung, die neben Kierkegaard und den beiden Blumhardt auch
Dostojewskij zu ihren Gewährsleuten zählte, Tolstojs „Lehre
Christi" mit ihren radikalen sozialkritischen Forderungen, seine
Hinneigung zu einem spirituellen christlichen Anarchismus,
auch seine entschiedene Absage an alles Kirchliche als eine teils
gesetzliche, teils enthusiastische Fehldeutung des Evangeliums
Jesu Christi dar. Einzelne Tolstoj gewidmete kirchen- und
frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchungen und Würdigungen
änderten nichts daran, daß die evangelische Theologie und Pre-

7
digt das „Bergpredigt"-Christentum Tolstojs aus dem Blickfeld
verlor. Man gedachte seiner allenfalls als eines Musterbeispiels
von Mißdeutung des Neuen Testaments, auch der Bergpredigt
selbst. — Für die katholische Theologie ergibt sich im ganzen
das gleiche Bild. Zur Auslegung und Würdigung Dostojewskijs
haben katholische Forscher und Denker, R. Guardini, Th. Stein-
büchel, Th.Kampmann3 und andere Ergiebiges beigesteuert,
rühmlicherweise nicht behindert durch den ungebändigten anti-
katholischen Affekt des Dichters der Legende vom Großinqui-
sitor. Soweit ich es übersehe, ist Tolstoj auch bei den Katholiken,
kaum anders als bei den Protestanten, gegenüber Dostojewskij
in den Schatten getreten.
Inzwischen ist unter den Christen beider westlicher Konfes-
sionen eine tiefgreifende Revision des Selbstverständnisses,
namentlich in Sachen der christlichen Weltverantwortung, in
Gang gekommen. Zur Abklärung dieser Revisionsprobleme
scheint evangelischerseits die aus der „dialektischen Theologie"
erwachsene Theologie des Wortes Gottes, einschließlich ihrer
anthropologischen und hermeneutischen Seitenformen und Ab-
wandlungen nicht ganz Genüge tun zu können. Ansätze zu
einer soziologisch imprägnierten Neuformierung des reflektier-
ten christlichen Selbst- und Weltbewußtseins und Bemühungen
um die Wiedergewinnung von kritischen Positionen, die nach
1920 mehr gewaltsam beiseitegedrängt als wirklich „überwun-
den" wurden, wetteifern in Beiträgen zu einer Revision der
dogmatischen wie der ethischen Überlieferung, vor allem der
binnenkirchlichen Horizontverengung, die sich im Gefolge der
allzu forcierten Rückwendung zur reformatorischen Theologie
— entgegen den Absichten ihrer Stimmführer — einstellte.
Wieso das Werk der beiden großen Russen, deren dichterisches
Wort, trotz tiefer Unterschiede, beiderseits auf einen religiösen
Appell hingeordnet ist, für die heute zur Klärung anstehenden
Probleme des Christentums etwa eine mehr als historische Be-
deutung haben sollte, diese Frage dürfte weithin mit Skepsis
aufgenommen werden. — Die vorliegende Studie beruht auf der
Überzeugung, daß bei Tolstoj und Dostojewskij für die gegen-
wärtige Selbstüberprüfung der christlich-kirchlichen Tradition

8
eine Hilfe, zumindest eine Orientierungshilfe, bisher zu wenig
genutzt, bereitliegt. Beide Männer sind nicht in ihrem 19. Jahr-
hundert gefangen. Tolstojs zeitüberdauernde archaische Riesen-
gestalt ragt mit ihrem letzten Jahrzehnt noch ins 20. Jahrhun-
dert hinein. Dostojewskij hat in seinen, von apokalyptischem
Wetterleuchten erfüllten Großromanen die Lebensfragen, auch
die bedrängenden Aporien unseres Jahrhunderts visionär vor-
ausgeahnt. Beide Dichter und Denker haben ihren Ort nicht nur
in Rußland, beider Sendung erschöpft sich nicht in der vergan-
genen Geschichtsepoche, die inzwischen ihre Nation wie die
Menschheit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weiter hinter sich ge-
lassen hat.
Für Dostojewskij bezeugte das Albert Camus im Vorwort zu
seinen „Dramen" (deutsch Hamburg 1962):
Lange Zeit hat man Karl Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts
gehalten. Heute weiß man, daß, was er prophezeite, auf sich warten
läßt. Und wir erkennen, daß Dostojewskij der wahre Prophet war.
Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der
Macht über die Gerechtigkeit vorausgesehen . . . Für mich ist Dosto-
jewskij in erster Linie der Schriftsteller, der, lange vor Nietzsche, den
zeitgenössischen Nihilismus erkannte . . . und der versuchte, die Bot-
schaft des Heils zu bestimmen. Er wußte, daß von diesem Augenblick
an unsere Zivilisation das Heil für alle oder für niemanden fordern
würde. Aber er wußte auch, daß dieses Heil nicht allen zuteil werden
konnte, wenn man darüber die Leiden auch nur eines einzigen vergaß.
Mit anderen Worten: er wollte keine Religion, die nicht sozialistisch
war im weitesten Sinne dieses Wortes. Aber er wollte auch keinen
Sozialismus, der nicht religiös war im weitesten Sinne dieses Wortes.
So hat er die Zukunft der wahren Religion und des wahren Sozialis-
mus gerettet, obwohl die Welt von heute ihm in beiderlei Hinsicht
Unrecht zu geben scheint.
Für Tolstoj hat Thomas Manns Gedenkwort von 1928 noch
immer Gültigkeit. Im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg
sagte er:

Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, daß er es nicht gewagt
hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdrin-
genden Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen
wären.

9
Und für das befremdliche Verwerfungsurteil, das Tolstoj über
sein eigenes Dichtwerk bis 1878 sprach, um Verständnis wer-
bend, erklärt Th.Mann:
Tolstoj begriff, daß eine Epoche angebrochen sei, der mit nur leben-
steigernder Kunst nicht wahrhaft genug geschehe, sondern in welcher
der leitende, entscheidende und erhellende, sozial sich bindende und
dienende Geist dem objektiven Genie, das Sittliche und Intelligente
dem unverantwortlich Schönen voranstehen müsse, und nie hat er auf
seine Naturgröße hin geistig gesündigt4.
Für Dostojewskijs Gegenwärtigkeit bedarf es, alles in allem
genommen, kaum der Besorgnis. Seine Romane und Erzählun-
gen haben sich, auch in Deutschland, ihre gefesselten Leser bis
heute beinahe selbsttätig gewonnen, von der Vielzahl der Ver-
filmungen und sonstigen Aufbereitungen für die Massenkom-
munikationsmedien darin vielleicht unterstützt, manchmal frei-
lich auch auf falsche Fährte gelenkt. Ein Zeitalter, in dem, nach
Max Schelers Wort 5 , „der Mensch sich völlig und restlos pro-
blematisch geworden ist" wie noch niemals in der bisherigen
Geschichte, wird bei Dostojewskij, ähnlich wie bei den anderen
Großen des 19. Jahrhunderts, die in die Zukunft hinüberdeuten,
etwa S.Kierkegaard, K.Marx, Fr.Nietzsche, sich mit seinen
eigenen Problemen und Beunruhigungen wiederfinden.
Dieser Gegenwärtigkeit Dostojewskijs wollte meine Schrift
„Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk" (Göttingen 1957,
erweitert 1962 2 , Kl. Vandenhoeck-Reihe 50/50 a) dienen. In
derselben Reihe hat der inzwischen verstorbene Freiburger Ger-
manist W.Rehm mit der Schrift „Jean Paul — Dostojewskij,
Zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens" (Göttingen 1962,
Kl. Vandenhoeck-Reihe 149/150) Dostojewskijs religiöse Kern-
thematik an einem weitgespannten geistes- und literatur-
geschichtlichen Bildzusammenhang exemplarisch beleuchtet. —
Der Hallische Kirchenhistoriker K. Onasch, ein gründlicher Ken-
ner des Ostkirchentums, hat in den beiden Büchern „Dosto-
jewskij-Biographie" (Materialsammlung zur Beschäftigung mit
religiösen und theologischen Fragen in der Dichtung F. M.
Dostojewskijs, Zürich 1960) und „Dostojewskij als Verführer
(Christentum und Kunst in der Dichtung D.s, Zürich 1961)
unser Wissen aus genauem Studium der neueren und neuesten

10
sowjetischen Dostojewskijforsdiung dankenswert bereichert und
uns gewarnt vor einer allzu direkten theologischen Beschlag-
! nähme dieses listenreichen Odysseus unter den großen Schrift-
stellern der Neuzeit.
Mein Verständnis Dostojewskijs ist gegenüber 1962 zwar nicht
grundlegend verändert, in manchen Stücken aber differenziert
worden durch erneuten Umgang mit dem Autor selbst, auch
durch inzwischen greifbar gewordene Literatur, vor allem an-
geregt durch die französische Übersetzung des grundlegenden
russischen Werkes von K.Motschulskij (franz. Motchoulski),
Dostoievski. L'homme et l'ceuvre, Paris 1963, daneben auch
durch die amerikanischen Gesamtdarstellungen von E. Simmons,
Dostoevsky. The making of a novelist, London 1950, und
A. Yarmolinsky, Dostoevsky. His life and art, London 1957 2 .—
Vor allem schien mir nötig, die unausgeglichene Spannung zwi-
schen den zwei Gesichtern von Dostojewskijs Christentum, hier
dem Vorstellungskreis um den „russischen Christus", dort der
kühnen, weit vorwärtsweisenden dialektischen Zuordnung von
Glauben und Atheismus, schärfer herauszuarbeiten, mit gestei-
gerter Deutlichkeit der Kritik an der messianischen Ideologie
von Rußlands künftigem Welterlösungsauftrag. Der Unter-
scheidung dieser „zwei Gesichter" ist das III. Kapitel des
Zweiten Teils gewidmet. — Zunehmend klar wurde mir bei
fortgehender Beschäftigung mit Dostojewskijs Werk, wie weiten
Raum, entgegen seiner scheinbar festen Wurzelung in der rus-
sischen Orthodoxie, ein utopisches Zukunftsbild des Christen-
tums innerhalb seines Dichtens und Denkens einnimmt. Diese
utopischen Aspekte kommen im IV. Kapitel des Zweiten Teils,
namentlich im 3. Abschnitt, zur Sprache. Wenn die Utopie in-
nerhalb der nirgends fixierten Konturen christlichen Geschichts-
und Zukunftsdenkens ihr kaum bestreitbares Recht hat, so wird
den utopischen Elementen in Dostojewskijs Zukunftsbild neben
den uns seit Ed. Thurneysens Buch vertrauten genuin evange-
lischen Zügen seiner dichterischen Glaubensrede erhöhte Auf-
merksamkeit zukommen. Die Spannung zwischen den bezeich-
neten zwei Gesichtern von Dostojewskijs Christentum wird
dann allerdings wohl noch tiefer widersprüchlich.

11
Wiederum zeigt sich beim Aufmerken auf das Utopische in
Dostojewskijs Geschichtsbild eine verborgene, manchmal sogar
offenkundige Verwandtschaft zwischen ihm und Tolstoj. Ihr
zu Diensten ist die vorliegende Studie eigentlich entstanden.
Die bisher vorherrschende rein antithetische Verhältnisbestim-
mung zwischen den zwei großen Dichtern bedarf, wie mir
scheint, einiger Korrekturen, nicht hinsichtlich der beiderseits
grundverschiedenen künstlerischen Art, aber hinsichtlich ihrer
humanen und religiösen Leitvorstellungen. Um es etwas deut-
licher zu sagen: an Tolstoj wird nicht viel Ähnlichkeit mit
Dostojewskij aufzuspüren sein. Dagegen wird sich bei Dosto-
jewskij mehr Berührung und potentielle Gemeinsamkeit mit
Tolstoj finden, als wir uns im Banne des Kontrastschemas wahr-
zunehmen erlauben wollten. — Diese Berührungen zeigen sich
vorzugsweise im Umgang mit Tolstojs Spätwerk, vereinfachend
ausgedrückt, mit seinem Bergpredigt-Christentum. Darf man
dieses besondere und absonderliche Christentum des alten Tol-
stoj jedoch nicht völlig von den religiösen und philosophischen
Tendenzen seiner früheren und mittleren Lebenszeit isolieren,
so wird sich auch der Bereich des Gemeinsamen verbreitern. Es
ist ein Gemeinsames, das mitten in (oder unter) den offenbaren
Gegensätzen versteckt ist. Es sind, was die gedankliche, die
„ideologische" Realisierung betrifft, weithin konträre Utopien.
Doch eben in diesen Kontrasten läßt sich etwas wie ein Komple-
mentärverhältnis der Utopien vermuten.
Mein erster Versuch, auch Tolstojs Werk auf seinen religiösen
Gehalt und Hintergrund näher zu befragen, ist ein Wagnis,
auch angesichts meiner begrenzten Überschau über die einschlä-
gige Literatur, die überdies nur teilweise erreichbar war. Für
die Dostojewskij-Literatur stand mir eine wesentlich breitere
Auswahl zur Verfügung. Allerdings steht der Gesamtertrag der
deutschsprachigen bzw. in deutscher Übersetzung zugänglichen
Tolstoj-Literatur, wenn ich nicht sehr irre, hinter dem der
Literatur über Dostojewskij erheblich zurück.
Desto dankbarer nenne ich hier das Buch, dessen Gewicht vieles
an der sonstigen Tolstoj-Literatur zu Vermissende glückhaft
aufwiegt, K'dte Hamburger, Tolstoj. Gestalt und Problem (Bern
1950>, erweitert Göttingen 1963*, Kl. Vandenhoeck-Reihe 159

12
k
bis 161). Ich schulde diesem Buch, vor allem für die ersten drei
Kapitel des Ersten Teiles, reiche Belehrung. Mir ist, eingeschlos-
sen die seinerzeit als Standardwerk geltende Biographie Romain
Rollands, Das Leben Tolstojs, französisch 1912, deutsche Aus-
gabe von W.Herzog, Frankfurt/M. 1922, und Karl Nötzel,
Tolstojs Meisterjahre (Einführung in das heutige Rußland,
2. Teil), München/Leipzig 1918, kein Buch über Tolstoj bekannt,
das zu Person und Werk des rätselhaften großen Mannes ver-
gleichbar Reelles und Ausgewogenes böte.
Was die religiöse Substanz in Tolstojs tief problematischem
Spätwerk betrifft, so schätze ich sie um einiges höher ein, unbe-
schadet aller notwendigen Kritik an der kräftigen Portion un-
belehrbaren Eigensinnes und an der doktrinalen Verhärtung
seines Lebens-Begriffes, in der ich mit K.Hamburger überein-
stimme. Was nach allen gebotenen Zurechtstellungen bei Tolstoj
übrigbleibt an urchristlicher Radikalität und personalistischer
Gewissensgläubigkeit, läßt sich, aufs Ganze gesehen, wohl als
ein Beispiel des Mutes zu christlicher Utopie begreifen, und darin
steht Dostojewskij, wie im Zweiten Teil und im Schluß dieser
Studie gezeigt werden soll, ein gutes Stück näher bei Tolstoj,
als beide verstehen wollten und auch die meisten Interpreten
bisher erkannt zu haben scheinen.
Das heutige Christentum sowohl im evangelischen wie im
katholischen Bereich, jedenfalls seine Avantgarde, ist von einem
brennenden, zuweilen auch fanatischen Eifer um seine konse-
quent weltbezogene, gesellschaftskritische und -umwandelnde
Bewahrheitung erfüllt. Im Strahlungskreis dieses weltzuge-
wandten christlichen Ethos liegt auch der Entwurf einer Theo-
logie, der die Mitmenschlichkeit als kritisches Maß aller Christ-
lichkeit einschließlich ihrer lehrhaft reflektierten Selbstaussage
gilt. Es meldet sich hier auch das Bemühen an, den Gottes-
gedanken bzw. die Wirklichkeit Gottes als eine Funktion dieses
je zu realisierenden mitmenschlichen Ethos einsichtig zu machen.
Eben für diese Neigungen ließe sich der alte Tolstoj als ein
Kronzeuge, wenn man will, als ein Schutzpatron anrufen. Fast
möchte man sich wundern, daß von denen, die es angeht, dieser
Schutzpatron noch nicht wiederentdeckt worden ist. Ich könnte
mir aber gut denken, daß der späte Tolstoj den Theologen der

13
Mitmenschlichkeit für ihre Selbstklärung durch gewisse Trans-
formationen hindurch Hilfe tun würde — so merkwürdig es
angesichts mancher moralistischer Standardformeln des eigen-
willigen Selbstdenkers Tolstoj zunächst klingen mag, Hilfe
gerade zur Wiedergewinnung eines nicht funktionalistisch ent-
mächtigten Gottesgedankens. Nach Tolstoj ist die Liebe zu Gott
das Maß der Bruderliebe, nicht umgekehrt die je vollbrachte
Liebestat die einzig mögliche Realisierung Gottes.
Für eine andere Strebelinie in der evangelischen Theologie heute,
die in der Formel „Theologie nach dem Tode Gottes" parolisiert
ist, wäre Dostojewskij beispielsweise mit seinem Grenzgedanken
eines „Atheismus um Christi willen" zwar nicht als Schutz-
patron, doch als Gesprächspartner und Ratgeber nicht minder
hörens- und bedenkenswert. — In dieser Richtung möchte die
vorliegende Schrift auch als ein bescheidener Beitrag zu den
ungelösten Problemen gegenwärtiger christlicher Selbstbesinnung
und theologischen Nachdenkens aufgenommen werden.
Der Dostojewskij-Teil dieser Schrift wird durch meine schon
genannte Schrift, namentlich durch die ausführlichen Anmer-
kungen in der erweiterten Zweitauf läge von 1962, ergänzt.
Wiederholungen waren nicht ganz zu vermeiden, sind aber auf
das mir unumgänglich scheinende Mindestmaß beschränkt. Ich
verweise auf die frühere Schrift, vor allem auf die in den An-
merkungen der 2. Auflage dargebotenen Belege für das jetzt in
Kap. I—III des Zweiten Teiles rekapitulierte Gesamtbild.
Eine Grenze der vorliegenden Studie soll nicht verschwiegen
werden. Mangels eigener Kenntnis der russischen Sprache war
ich für Tolstoj, ebenso wie für die frühere Dostojewskij-Schrift,
auf deutsche Übersetzungen angewiesen. Für Tolstoj benutzte
ich in erster Linie die Dünndruckausgabe des Winkler-Verlages
(sechs Einzelbände), für die späteren Erzählungen die zwei
Bände „Der Leinwandmesser" (1861—1903) und „Hadschi
Murat" (1903—1910) des Ladyschnikow-Verlages, Berlin o. J.
Für Dostojewskij hielt ich mich zuerst an die neue Dünndruck-
ausgabe des Piper-Verlages, für das „Tagebuch" an die deutsche
Ausgabe von AI. Eliasberg, 4 Bde., München 1923/24. Mit diesen
Übersetzungen wurden nach Möglichkeit andere mir erreichbare
verglichen, für Tolstoj namentlich die zwei Bände „Erzählun-

14
gen" sowie „Anna Karenina" in der Ausgabe des Insel-Verlages
(Leipzig o. J.), zu „Krieg und Frieden" die vierbändige des
Gutenberg-Verlages (Hamburg o. J.), zu Dostojewskij die Aus-
gabe der Gutenberg-Gilde, z.T. auch des alten Leipziger Verlags
Hesse und Becker, überdies die zwei Bände Rowohlt-Klassiker
111/112 und 122—124. — Soweit Rückfrage beim russischen
Originaltext erforderlich oder wünschbar war, bin ich für kun-
dige Beratung meiner Tochter, Dr. Christiane Doerne, zu Dank
verbunden.
Die sog. Sozialethischen und Theologischen Schriften Tolstojs
werden nach der 1. Auflage der Gesamtausgabe von R. Löwen-
feld (Jena 1901—1911), I. und IL Serie, angeführt. Die anders
geordnete 2. Auflage der Löwenfeld-Ausgabe konnte ich trotz
Bemühungen nicht erreichen. Tolstojs und Dostojewskijs Ro-
mane und größere Erzählungen werden nach der Originaltei-
lung in Bücher bzw. Teile (I. II usw.) und Kapitel (1.2 usw.)
zitiert, mehrere Dostojewskij-Romane auch mit ihrer Untertei-
lung in Abschnitte. Der Leser bleibt so unabhängig von der
Seitenzählung in den verschiedenen deutschen Ausgaben.
Um die Darstellung möglichst durchsichtig zu halten, ist auch
hier der Großteil der Belege, ebenso die Bezugnahme auf die
Interpretationsliteratur sowie die Erläuterung einzelner Texte
und Selbstzeugnisse den Anmerkungen überwiesen worden.
Zur Biographie, auch zu Titeln und Erscheinungsjahren von
Tolstojs und Dostojewskijs Werken leisten die Rowohlt-Mono-
graphien von Janko Lawrin: Tolstoj, rm57,1961, Dostojewskij,
rm 88, 1963, dem Leser den nötigen Dienst. Einige seither er-
schienene Bücher und Abhandlungen sind, ohne Anspruch auf
Vollständigkeit, in den Anmerkungen berücksichtigt.
Herrn cand. theol. Reinhold Lanz danke ich für freundliche
Hilfe beim Lesen der Korrektur.

15
ERSTER TEIL: TOLSTOJ

I. K a p i t e l

Gedichtetes Leben

Kaum einer unter den russischen Schriftstellern des 19. Jahr-


hunderts hat seinen eigenen Stil so unabhängig von den Ge-
pflogenheiten und Doktrinen der zeitgenössischen literarischen
Schulen gefunden wie Tolstoj. Kaum einer bekundet schon von
den frühesten Veröffentlichungen an solch eine gereifte Meister-
schaft künstlerischen Gestaltens. Von Beginn an bis zum Ende ist
er seinen Weg in souveräner Freiheit, auch in unbeirrbarer
Eigenwilligkeit mitten durch die rivalisierenden Gruppen und
Cliquen der Petersburger Literaten gegangen, näher befreundet
nur mit dem Lyriker Fet, seinem Gutsnachbarn im Gouverne-
ment Tula, im Alter Tschechow und Gorkij väterlich zugetan,
sonst vom literarischen Betrieb fast ein wenig geringschätzig
Abstand haltend.
Seine hohe Kunst beruht auf der Gabe des ursprünglichen Se-
hens. Wie Lynkeus, der Türmer, ist er „zum Sehen geboren, zum
Schauen bestellt". Dieses Auge ist aber nicht das des „schauen-
den" Romantikers. Es ist das Auge des Försters und Jägers.
Thomas Mann rühmte „die tierische Schärfe dieses Blicks, die
einfache Wucht dieses Bildnergriffs, die von keiner Mystik ge-
trübte, vollkommen durchsichtige Rationalität dieses plastischen
Schriftstellertums" 1 . Dm.Mereschkowskij2 nannte Tolstoj den
„großen Seher des Leibes", im Unterschiede zu Dostojewskij,
dem „Visionär der Seele". Der Dichter Tolstoj war und blieb
immer der Gutsherr von Jasnaja Poljana, der im Grunde nir-
gends sonst als auf dem Lande leben konnte. Aber seine Blick-
schärfe ist nicht nur der Landschaft, Feld und Wald, der Kreatur
der Erde und dem darüber ausgespannten Himmel zugekehrt.
Diesem Auge sind nicht minder die Menschen offenbar, ihr Ge-

16
sieht mit dem, was es verrät und verbirgt, die Spiegelung der
geheimen Bezüge zwischen Mensch und Mensch im bewegten
Mienenspiel, im beschwingten, beeiferten oder zögernden Fluß
der Rede.
Dieser „plastische Realismus" Tolstojs (J.Stender-Petersen)3
hat eine innere Affinität zum epischen Dichten. Alle Interpreten
stimmen darin überein, daß das Epische Tolstojs Domäne ist.
Unter den großen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts ist ihm
in der Breite und Mächtigkeit des epischen Vermögens wohl nur
H . d e Balzac ebenbürtig. Tolstojs Epik fließt wie ein gewaltiger
Strom dahin, der viele Flüsse und Bäche mitnimmt, immer in
Bewegung — aber mitten in der Bewegung ist, wie bei den
großen Strömen im Flachland, auch das majestätische Gleichmaß
der Ruhe. „Ohne falsche Bescheidenheit — das ist wie die Ilias",
hat er über „Krieg und Frieden" selbst, nach M.Gorkijs Zeug-
nis 4 , geurteilt. Homerische Fülle und Gelassenheit des Anschau-
en«, findet sich ebenso in dem zweiten monumentalen Roman
der „Meisterjahre" 5 , in „Anna Karenina"; Szenen wie die Be-
schreibung des Offiziersrennens in Krasnoje Selo (II, 19—21.25.
26) oder Konstantin Lewins Mittun bei der bäuerlichen Heu-
mahd (III, 4—6) haben den langen Atem des großen Epikers,
der sich auch dem Leser gleichsam heilkräftig mitteilt.
Kate Hamburger hat die „Tendenz zur offenen Form" als ein
Grundmerkmal von Tolstojs dichterischem Schaffen überzeugend
aufgezeigt. Die „Technik der Dezentralisation" 6, vollendet in
„Krieg und Frieden" durchgebildet, kennzeichnet die spezifisch
epische Natur von Tolstojs Dichtertum, in längst bemerkter
Unterschiedenheit von Dostojewskijs spezifisch dramatischer
Romandichtung. Aber diese „offene Form" hängt ebenso zu-
sammen mit dem „autobiographischen Moment" in Tolstojs
Dichtung 7 . Fürs erste scheint das ein widersprüchlicher Befund.
Epik ist „objektiv", autobiographische Dichtung ist „subjektiv".
Die Literaturwissenschaft mag zusehen, wie diese tatsächlich
vorhandene Spannung in Tolstojs dichterischem Werk zu ver-
stehen ist. Uns beschäftigt hier, unbeschadet seines epischen
Grundcharakters, die autobiographische Zielung seines dichte-
rischen Werkes.

17
1. Selbstdarstellung und Konfession

Goethe sagte rückschauend von seinen Werken, sie alle seien


„Bruchstücke einer großen Konfession". In Tolstojs Munde wäre
die Rede von einer Konfession noch gültiger als bei Goethe. Der
Fünfzigjährige hat das Buch geschrieben, das ausdrücklidi „Meine
Beichte" betitelt ist. Es will öffentliche Bekundung der Abkehr
von seinem bisherigen „schlechten" und „müßigen" Leben sein,
zu dem ihm jetzt, 1879, auch sein ganzes Dichtwerk zu gehören
scheint. Doch Tolstoj hat hier, wie durchweg in der kritischen
Selbstauslegung seit 1879, seiner Vergangenheit Unrecht getan.
Denn auf eine Art von Beichte, auf eine fortgehende schonungs-
lose Gewissensprüfung war sein Dichtwerk von Anfang her an-
gelegt.
Blicken wir auf die ersten Veröffentlichungen, vor allem auf die
1857 zur Trilogie gerundeten Erzählungen „Kindheit —
Knabenalter — Jugendzeit" (1852—1857) und halten wir sie
zusammen mit dem „Tagebuch der Jugend" (1847/52) 8 : zwi-
schen beidem, der publizierten und der intim-persönlichen
Niederschrift ist ein fließender Übergang. Hier wie dort dieselbe
unerbittlich scharfe Selbstbeobachtung, der gleiche Hang zur
Entlarvung der Unaufrichtigkeit und Eitelkeit bei allen Men-
schen, vorzugsweise bei sich selbst, gerade in den „edlen" Re-
gungen und Taten, auch der gleiche, manchmal fast pedantisdie
und zugleich rührende Eifer, mit Hilfe von Lebensregeln und
Vorsätzen, am besten schriftlich fixiert, sich zu einem „guten
Menschen" zu erziehen. Vortrefflich ist diese ungewöhnliche
Nähe zwischen dem Jugendtagebuch und der literarischen Selbst-
darstellung von Kindheit und Jugend bei K.Hamburger be-
schrieben: .

Im Jugendtagebuch weist nichts darauf hin, daß in ihm sich ein künf-
tiger Dichter ausspricht. Keine . .. Träume künftigen Dichterruhms
sind hier vermerkt.. . Der Übergang von der unmittelbaren Selbst-
aussprache des Tagebuchs zur künstlerischen Arbeit scheint gleichsam
ohne Zäsur, ohne Bewußtheit gewissermaßen, vor sich gegangen zu
sein9.
Die Stoffe und Anschauungsbilder in den Erzählungen der 1850er
Jahre, dem „Morgen eines Gutsbesitzers", den drei Geschichten

18
aus dem Kaukasus („Ein Holzschlag", „Ein Überfall", „Eine
Begegnung im Felde"), den Sewastopol-Berichten sind größten-
teils aus dem Erleben des jungen Gutsbesitzers und Offiziers
selbst geschöpft. Das ist an sich kein ungewöhnlicher Befund;
auf ähnliche Weise vollzieht sich die künstlerische Kristallisa-
tion bei vielen, vielleicht bei den meisten Dichtern, speziell in
ihren Jugendwerken 10 . Bei Tolstoj aber greift dieser Zusammen-
hang tiefer in die Werkstruktur ein. „Dem autobiographischen
Moment ist die Funktion eines Formprinzips zuzuschreiben",
eben die „Tendenz zur offenen Form" n , deren Verwandtschaft
mit der epischen Form der Dichtung schon vermerkt wurde.

2. Fürst Nechljudow
Am einprägsamsten zeigt sich das autobiographische Motiv in
Tolstojs Werk an dem Personnamen des Fürsten Nechljudow;
viermal kehrt er in den Früherzählungen wieder, und ein letztes
Mal begegnen wir ihm in dem Altersroman „Auferstehung".
(1) Erstmals erscheint der Name im Morgen eines Gutsbesitzers
1852, dem Fragment eines nicht vollendeten Romans. Genau
wie Tolstoj kehrt Nechljudow neunzehnjährig von der Univer-
sität auf sein Landgut zurück. Von seinen schönen Vorsätzen
schreibt er an seine Tante:
Ich habe einen Entschluß gefaßt... Ich will die Universität verlassen,
um mich dem Leben auf dem Dorfe zu widmen . . . Wenn Sie nur zwei
von meinen Bauern sehen könnten, David und Iwan, so bin ich über-
zeugt, daß allein der Anblick dieser beiden Unglücklichen Ihnen mehr
als alles, was ich Ihnen sagen kann, meinen Entschluß erklären würde.
Ist es nicht meine heilige Verpflichtung, mich um das Schicksal dieser
700 Menschen zu kümmern, für die ich Gott werde Rechenschaft ab-
legen müssen?
(2)In den Knabenjahren und der Jugendzeit ist Nechljudow der
ältere Freund des Ich-Erzählers Nikolaj Irtenjew: bewundertes
und beneidetes Vorbild, sozusagen Tolstojs Ideal-Ich, dem frei-
lich ähnliche Schwächen und Zwiespälte anhaften wie dem Er-
zähler selbst, nur daß er sie besser zu disziplinieren weiß. Die
beiden Freunde versprechen sich feierlich, einander alle heim-
lichsten Gedanken und Träume mitzuteilen, auch solche, deren
sie sich vor jedermann sonst schämen würden.

19
(3) In den Aufzeichnungen eines Marqueurs (1856) ist Nech-
ljudow der liebenswerte junge Mann aus gutem Hause, der sich,
gegen den eigenen Willen, in Petersburg durch schlechte Gesell-
schaft in ein Leben der Selbstvergeudung beim Kartenspiel und
bei den Dirnen hineinreißen läßt und schließlich keinen Ausweg
als den Selbstmord findet. In dem hinterlassenen Brief heißt
es:
Ein einziger schrecklicher Augenblick der Selbstvergessenheit... ließ
mich zur Besinnung kommen. Ich erschrak, als ich sah, welch eine uner-
gründliche Kluft mich von dem trennt, was ich hatte sein wollen und
sein können.
(4) Ein Jahr später erscheint die Erzählung „Luzern" mit dem
Untertitel „Aus den Aufzeichnungen des Fürsten Nechljudow",
wahrheitsgetreue Wiedergabe einer Episode, die Tolstoj auf
seiner ersten Europareise selbst erlebte. Mit exakter Datierung
ist der Vorfall gegen Ende des Berichts in Sperrdruck rekapitu-
liert:
Am 7. Juli 1857 sang in Luzern vor dem Hotel Schweizerhof, in dem
die reichen Leute absteigen, während einer halben Stunde ein armer
fahrender Sänger seine Lieder zur Gitarre. Etwa hundert Menschen
hörten ihm zu. Der Sänger bat dreimal um eine Gabe. Kein Mensch
gab ihm etwas, und viele lachten über ihn.
Pathetisch reflektiert der Erzähler:
Hier ist ein Ereignis, das die Geschichtsschreiber unserer Zeit mit
unauslöschlichen Flammenzeichen in ihre Chronik eintragen müssen ...
Es ist viel bedeutsamer... als alle Tatsachen, von denen die Ge-
schichtsbücher und die Zeitungen berichten . . . Das Ereignis scheint
mir neu und höchst seltsam . . . [es] gehört nicht in die Geschichte der
menschlichen Taten, sondern in die des Fortschritts und der Zivilisa-
tion.
Diese unmenschliche Gleichgültigkeit, meint der zornige junge
Graf, ist die Kehrseite des zivilisatorischen Fortschritts.
(5) Noch einmal begegnet uns Fürst Nechljudow als die eine der
beiden Hauptpersonen des Romans Auferstehung. Er ist der
reiche Kavalier, der einst, als junger Leutnant auf der Reise in
den Krieg, die Zofe seiner Tante verführte und durch dessen
Schuld diese Katerina Masiowa schließlich in die Prostitution

20
gestoßen wurde. Zehn Jahre später, als sie unschuldig wegen
Totschlags angeklagt ist, sitzt ihr einstiger Liebhaber und Ver-
führer als Geschworener in der Strafkammer, die sie, gegen
seinen Widerspruch, zur Deportation nach Sibirien verurteilt.
Nechljudow erkennt in ihrem Unglück die Schuld seiner
Herzensträgheit. Er folgt der Verurteilten nach Sibirien, will sie
heiraten und das Elend mit ihr teilen. Sie nimmt die Buße nicht
an und hält ihm vor, er wolle durch sie nur seine eigene Seele
retten. — Die Handlung beruht auf Tatsachen, die Gegenstand
eines Moskauer Strafprozesses waren. Der Fürst steht stell-
vertretend für den Dichter selbst; auch er ist, nichtsahnend, doch
dadurch nicht entschuldigt, an dem Jammer vieler Armer, Unter-
drückter, Schutzloser mitschuldig geworden. Sein Bemühen um
Wiedergutmachung ist auch hier ebenso umsonst wie in der
Früherzählung der fürsorgerische Eifer des jungen Guts-
besitzers.

3. Kontinuität und Differenzierung des Selbstporträts


Die autobiographische Zielung von Tolstojs Dichtwerk hängt
nicht an dem Namen des Fürsten Nechljudow. In der Trilogie
„Kindheit-Knabenalter-Jugendzeit" ist es Nikolaj Irtenjew,
dem zwar nicht die tatsächliche, aber die innere Entwicklungs-
geschichte des jungen Tolstoj beigelegt wird 1 2 . Im Fortgang des
Gesamtwerkes bis zu „Anna Karenina" heben sich vier Per-
sonen als Träger Tolstojscher Selbstdarstellung heraus. In dem
Roman „Die Kosaken" der Fahnenjunker Olenin. In „Anna
Karenina" ist der adlige Gutsbesitzer Konstantin Lewin, bis in
zahlreiche lebensgeschichtliche Details, vor allem aber in der
Beschreibung seiner religiös-ethischen Lebenskrisis, ein besonders
getreues Spiegelbild der Geschichte Tolstojs zwischen seiner Ver-
mählung und dem Anbruch der tiefen seelisch-geistigen Erschüt-
terung, deren direktes (nicht mehr dichterisch überformtes)
Zeugnis „Meine Beichte" ist. Endlich erscheint Tolstojs Wesens-
bild gleichsam aufgeteilt auf die zwei männlichen Hauptpersonen
von „Krieg und Frieden", Fürst Andrej Bolkonskij und Graf
Pierre Besuchow.
Ganz nahe beim Typus der Nechljudows steht Fahnenjunker
Olenin in „Die Kosaken". Aus den Verstrickungen seines flotten

21
Kavalierlebens, drückenden Geld- und Gewissensschulden,
flüchtet sich der junge Olenin in plötzlichem Entschluß durch die
freiwillige Meldung zur Kaukasusarmee, festen Willens, dort
ein neues Leben anzufangen. Am Nordhang des Hochgebirges,
längs des Terek, sind in Militärdörfern Kosaken angesiedelt,
großenteils Altgläubige, in loser Verbindung mit der russischen
Armee zum Grenzkrieg gegen die noch nicht unterworfenen
Bergvölker; sie leben ihr „einfaches Leben" nach eigenen Ge-
setzen und Bräuchen. — Olenin läßt sich in einem dieser
Kosakendörfer nieder, fasziniert von der Majestät der hohen
Schneeberge und der ursprünglichen Landschaft, stark angezogen
von der naturnahen Lebensweise dieses Kosakenvölkchens. In
einer Mischung von leidenschaftlichem Begehren und scheuer
Verehrung liebt er die Tochter seines Quartierwirtes, die schöne
Marjanka, die mit einem der schneidigsten jungen Kosaken
schon halb verlobt ist. Menschlich angezogen fühlt sich Olenin
auch durch den alten Kosaken „Onkel Jeroschka", der ihn auf
die Jagd begleitet und in mancher durchzechten Nacht seine
naturalistische, „heidnische" Lebensweisheit lehrt. Die große
Wandlung, die Olenin sich von der Flucht ins einfache Leben
versprach, bleibt am Ende ein schöner Traum. Mit der klaren
Absage, die ihm Marjanka auf seinen Heiratsantrag erteilt, ver-
fliegt auch der Zauber des Eintauchens ins „natürliche Leben" 13.
Was übrig bleibt, ist die Überzeugung, das allein wahre Glück
bestehe darin, andere glücklich zu machen; doch steht diese Ma-
xime mit Olenins vital-naturalistischem Lebensgefühl in unent-
schiedenem Widerstreit. — In Olenins Geschicken und Selbst-
betrachtungen spricht der Rousseausche Idealbegriff der „Natur"
kräftig mit. Als Tolstoj das neun Jahre zuvor begonnene Werk
1862 vollendet, ist dieses jugendliche Traum- und Sehnsuchts-
bild einer „heilen Welt" ihm schon weit entrückt; das gibt dem
schönen Roman eine gewisse Undeutlichkeit.
In Konstantin Lewin, diesem klugen und schüchternen, hoch-
reflektierten und eigenwilligen Hauptträger der antiparallelen
Zweithandlung der „Anna Karenina" hat Tolstoj sein eigenes
Porträt während der 1870er Jahre unmittelbarer als je nach-
gebildet. Lewins lange, mühselige Werbung um die Gattin, Kitty
Schtscherbazkij, die dramatische Vorgeschichte und der idyllische

22
Schlußakt der Verlobung, dann ihre glückliche Ehe fern von der
großen Stadt auf Lewins Herrensitz: dies alles ist das kunstvoll
eingezeichnete Gegenbild zu der tragischen Haupthandlung,
Frau Anna Kareninas Liebe zu dem Rittmeister Wronskij, um
deretwillen diese schöne und gute Frau den Gatten und auch
den Sohn verläßt und schließlich nach langen, qualvollen
Wirrungen ihr Leben gewaltsam endet.
Unverschlüsselte Autobiographie gibt der Bericht von Lewins
Verlobung mit Kitty. Wie Lewin hat Tolstoj seiner jungen
Braut die Tagebücher mit der schonungslosen, selbstquälerischen
Wiedergabe seiner Junggesellenerlebnisse zu lesen gegeben; Sofja
Andrejewna hatte ebenso schwere Mühe wie Kitty, diese Lektüre
zu verwinden. — Im VIII. Teil hat Tolstojs angestrengtes Rin-
gen um Gott und den Sinn seines Lebens die genaue Entspre-
chung in Lewins fast verzweifeltem Suchen nach Glauben und
seiner endlichen Erleuchtung durch den Mittlerdienst eines ein-
fachen Bauern. Lewin findet, wie vorübergehend Tolstoj selbst,
einen Weg zu positiv-kirchlicher Frömmigkeit. Zwar kann er
mit dem orthodoxen Dogma nichts anfangen, doch er tröstet
sich, daß die Kirchenlehre seinem selbstgewonnenen ethischen
Gottesglauben jedenfalls nicht widerspreche.
Sublime Autobiographie, diesmal stärker chiffriert, ist auch das
Kerngefüge der Romantetralogie „Krieg und Frieden". Im
weiteren Sinn autobiographisch ist das breit angelegte Schaubild
der beiden russischen Adelsfamilien, um die herum das zeit- und
weltgeschichtliche Panorama der Jahre 1805 bis 1812 geordnet
ist: der gräflichen Familie Rostow in Moskau, weithin eines
Abbildes von Tolstojs väterlicher Familie, und ihres Gegen-
stückes, der fürstlichen Familie Bolkonskij. Die einzige Tochter
des alten Fürsten trägt Charakterzüge von Tolstojs Mutter, die
wirklich die reiche Erbtochter eines Fürsten Volkonskij war,
äußerlich nicht anziehend, aber von einer verborgenen inneren
Schönheit, die aus dem Blick ihrer tiefblauen Augen zuweilen
herrlich aufleuchtet. Der alte Fürst ist ein Grandseigneur aus der
Zeit Katharinas IL, ein aufgeklärter Freigeist, im Hause ein
harter Tyrann, der seinen Kindern, dem Sohn Andrej und der
Tochter Marja, das Leben schwer macht.

23
Im engeren Sinne Selbstdarstellung sind die beiden einander
befreundeten, von Grund auf wesensverschiedenen Männer,
Andrej Bolkonskij, der einzige Sohn des alten Fürsten, und
Pierre Besuchow, der uneheliche, aber zum Alleinerben einge-
setzte Sohn des Grafen Besuchow, der am Hofe eine führende
Stellung hatte und Besitzer schier unermeßlicher Ländereien
war. — Andrej Bolkonskij ist eine ausgeprägt männliche Natur,
selbstsicher bis zur Schroffheit, Stabsoffizier bei Kutusow, zwi-
schen den beiden Napoleonischen Kriegen von 1805 und 1812
zeitweise hoher Staatsbeamter, vielseitig gebildet, nie zufrieden,
die Gedanken anderer nachzudenken. Seine eigenen Denk- und
Lebensprobleme scheinen immer schon auf den Tod hingeordnet
und finden ihre Lösung erst mit seinem Sterben, nach schwerer
Verwundung in der Schlacht von Borodino und monatelangem
Krankenlager. — Sein merkwürdiger Freund Pierre Besuchow
ist zugleich Andrejs Gegenbild, lebensscheu, unbeholfen, ein
idealistischer Weltverbesserer, nebenher auch ein gutmütiger und
willensschwacher Genießer; nach schmerzhafter Enttäuschung
in seiner ersten Ehe findet er, über viele Umwege, seine innere
Mitte in den Leiden und Proben französischer Gefangenschaft
und schließlich in der Ehe mit Natascha Rostow, der früheren
Verlobten seines verstorbenen Freundes Andrej. Ähnlich wie
Lewin in „Anna Karenina" erfährt auch Pierre Hilfe zur Selbst-
findung durch einen Bauern; der fromme bäuerliche Soldat Pia-
ton Karatejew lehrt ihn durch sein Beispiel, was wahrhaft Leben
ist. Die Analogie ist nicht von ungefähr: auch Olenin in den
„Kosaken" und Nechljudow in „Luzern" finden in der Begeg-
nung mit Menschen aus dem Volk zu ihrer Wahrheit.
Der autobiographische Aspekt wäre ergiebig weiterzuverfol-
gen durch das Spätwerk seit 1880. Für „Auferstehung" ist er
schon vermerkt. Nicht weniger deutlich zeigt er sich in der
„Kreutzersonate". Während aber hier die Selbstdarstellung
durch das Medium einer brutalen kriminellen Tat erfolgt, bietet
das erst nach Tolstojs Tod veröffentlichte Fragment „Aufzeich-
nungen eines Wahnsinnigen" ( 1 8 8 3 ) u eine exakte Nacherzäh-
lung von Tolstojs eigenen Krisenerlebnissen im Jahr 1869 (s.u.
III. Kap.) und dann gegen das Ende der 1870er Jahre; in
seinem ersten Stück ist es eine Vor- oder Nebenform der Er-

24
Zählung vom „Tod des Iwan Iljitsch". Zwei andere abgeschlos-
sene Erzählungen, ebenfalls erst posthum veröffentlicht, „Vater
Sergej" und „Der Teufel" 15, sind, ähnlich wie die „Kreutzer-
sonate", dramatische Übersteigerungen von Tolstojs vorehe-
lichen Lebenskrisen, auf die in Kap. IV zurückzukommen ist.
Die fortdauernde Spannung von Tolstojs dreißig letzten Lebens-
jahren, sein Hin- und Hergeworfensein zwischen den Konse-
quenzen seines urchristlichen Radikalismus und der Bindung an
Familie und Gutsherrnrolle ist, kaum verhüllt, der Gegenstand
des unvollendeten Dramas „Das Licht scheint in der Finster-
nis". Mittelbar geht es auch in dem anderen unvollendeten
Drama „Der lebende Leichnam" um dieselbe ungelöste Span-
nung.

II. K a p i t e l

D e r Realismus der W a h r h e i t

Autobiographische Dichtung bewegt sich zwischen den Polen


der Selbstdarstellung und der Konfession. Das Verhältnis zwi-
schen beiden Polen ist dialektisch. Alle Selbstdarstellung oszil-
liert zwischen Selbstbespiegelung und Selbstbekenntnis. Die
Konfession, sobald sie aus der Intimsphäre des Tagebuches in
die Öffentlichkeit heraustritt, schlägt oft unversehens in heim-
liches Wohlgefallen an der öffentlichen Selbstentblößung um.
J.-J.Rousseaus „Confessions" sind das berühmteste Beispiel für
diesen Umschlag 16 . Eben hier unterscheidet sich Tolstoj von dem
geliebten Lehrer und Vorbild seiner Jugend. Sein „plastisdier
Realismus" mitsamt dem kräftigen Einschlag von Naturalismus,
auch die nicht genug zu preisende Genialität dieses Künstler-
auges, dem im Leben der Natur wie in der Welt des zwischen-
menschlichen Daseins nichts entgeht, empfängt seine Direktive
aus einem nie gestillten Willen zur Wahrheit. Käte Hamburger
beginnt ihr Tolstoj-Budi mit einem Kapitel „Das Ethos der
Wahrheit". „Bei Tolstoj wird die Idee der Wahrheit von An-
fang an thematisch, die intellektuelle und moralische Ausgangs-
situation." 17 Durch diesen Willen zur Wahrheit hebt sich Tol-

25
stojs Dichtung von allen nur ästhetischen Auslegungen des
künstlerischen Realismus deutlich ab. In diesem „Ethos der
Wahrheit und der Wahrhaftigkeit" 18 schwingt, nicht erst seit
der Lebenskrisis, deren erstes Dokument „Meine Beichte" (1879)
ist, sondern schon von den frühesten Anfängen an ein religiöser
Ton mit. Tolstojs Gott, so könnte man sagen, ist die Wahr-
heit.

1. „Der Held meiner Erzählung"

Der 2. Teil der „Sewastopol"-Erzählungen 19 schließt mit einem


Satz, der „als Motto .. . über Tolstojs Gesamtwerk stehen
könnte" 2 0 :
Der Held meiner Erzählung, den ich mit allen Kräften meiner Seele
liebe, den ich mich bemüht habe in seiner ganzen Schönheit darzu-
stellen und der immer schön war und ist und sein wird — dieser Held
ist die Wahrheit.
Einen geradezu zärtlichen Namen gibt dieser Tolstojs Werk
beherrschenden Macht der alte Stabsoffizier in „Krieg und Frie-
den" (II, 5): „Sie können sich beleidigt fühlen, wenn Sie wollen,
oder nicht, ich werde Ihnen aber immer die Wahrheit sagen,
das Mütterchen Wahrheit."
In dem zweiten Satz zeigt sich besonders deutlich, daß dieser
Begriff der Wahrheit, dem Tolstoj als Küntler ebenso wie als
Mensch sich verpflichtet weiß, zentral ethisch bestimmt ist. Er
meint die Wahrheit, die einem weh tun kann, die entweder
gesagt oder verschwiegen, entweder „getan" oder verleugnet
wird. Für diese ethische Prägung von Tolstojs Wahrheitswillen
findet sich eine erleuchtende Charakteristik in den Erinnerungen
der Gräfin Alexandra Tolstoj, seiner besten Freundin:
Lew Nikolajewitsch hatte eine schreckliche Angst, unwahrhaftig zu
sein, nicht nur in Worten, sondern auch in Handlungen, wodurch er
jedoch manchmal gerade in den Fehler verfiel, den er vermeiden
wollte. ,Indem Sie unbedingt wahrhaftig sein wollen, bringen Sie nur
Karikaturen der Wahrheit zustande', pflegte ich ihm in solchen Fällen
zu sagen, und er war damit völlig einverstanden".
In guten Stunden ließ sich Tolstoj von Alexandra solche Offen-
herzigkeiten willig sagen; ein andermal, in seinen späteren

26
Jahren zunehmend häufig, hatte sein Wahrheitseifer aber auch
einen Unterton von Unbelehrbarkeit. Als Alexandra ihm seine
Voreingenommenheit gegen die Traditionen der orthodoxen
Kirche vorhielt, gab er ihr zur Antwort: „Allerdings bin ich
stolz darauf, der erste zu sein, der endlich der Wahrheit hab-
haft geworden ist." 22 Der Begriff von Wahrheit, an den Tolstoj
auch als Schriftsteller sich bindet, hat durchweg eine kritische
Funktion gegenüber den Schritt für Schritt angetroffenen Ver-
färbungen, Stilisierungen, Entstellungen der Wirklichkeit. Inso-
fern ist sein schriftstellerisches Ethos als ein kritischer Realismus
anzusprechen.

2. Entheroisierung der Geschichte

Dieser kritische Wahrheitsdrang entzündet sich zuerst an den


unbewußten Stilisierungen erlebter Geschichte, wie sie schon im
Gespräch zwischen Mensch und Mensch, in den Gepflogenheiten
geselliger Konversation, erst recht in den Spielregeln der öffent-
lichen Berichterstattung sich einstellen. In „Krieg und Frieden"
(III, 7) erzählt der junge Graf Nikolaj Rostow Kameraden, die
nicht dabei waren, von seiner Beteiligung an dem Gefecht bei
Schöngraben. Nikolaj, schreibt Tolstoj,

war ein wahrheitliebender junger Mann. Er begann seine Erzählung


mit der Absicht, alles zu berichten, genau wie es wirklich gewesen war.
Aber unmerklich, unwillkürlich .. . kam er ins Unwahre hinein. Hätte
er seinen Zuhörern . . . die Wahrheit gesagt, so hätten sie ihm entweder
nicht geglaubt oder — noch schlimmer — sie hätten gedacht, er selbst
wäre schuld, daß ihm nicht widerfahren war, was Kavalleristen, die
von ihren Attacken erzählen, zu widerfahren pflegt... Er hätte sich
anstrengen müssen, um nur das zu erzählen, was tatsächlich geschehen
w a r . . . Es ist sehr schwer, die Wahrheit zu berichten, und junge Leute
sind selten dazu imstande.

Die Beispiele für derlei kritische Reflexionen über soldatische


Erlebnisberichte ließen sich auch aus den Sewastopol- und den
Kaukasuserzählungen häufen. Nicht viele Schriftsteller haben
sich so fachmännisch auf militärische Dinge verstanden wie
Tolstoj. Die Schilderung der Schlachten von Austerlitz 1805
und Borodino 1812 gehört zu den Hochleistungen des Epikers

27
Tolstoj. Er hat dafür von Stendhals berühmter Darstellung der
Schlacht von Waterloo (in der „Kartause von Parma") gelernt,
aber sein Vorbild an Genauigkeit und noch mehr in der
Mächtigkeit des epischen Atems übertroffen.
Angesichts der nahen Beziehung des ehemaligen Offiziers zur
militärischen Sphäre doppelt eindrucksvoll ist die vollkommene
Freiheit von aller Kriegsromantik und Glorifizierung des mili-
tärischen Lebens, die Tolstojs Kriegs- und Schlachtenberichte
schon seit „Sewastopol" auszeichnet. Schon in diesem Frühwerk
klingt überall sein Axiom an: „Es gibt keine Helden" — es
gibt, auch in dieser dramatischen Grenzsituation, nur Men-
schen 23 .
Mit höchster Folgerichtigkeit hat Tolstoj die Entheroisierung
nicht nur des Krieges, sondern des völker- und weltgeschicht-
lichen Geschehens überhaupt in „Krieg und Frieden" durch-
geführt. Sie ist zu der Zeit, in der dieses Monumentalwerk
geschrieben wurde (1864—1869), noch nicht in einer grundsätz-
lichen Verneinung des Krieges und des Soldatenberufs über-
haupt begründet, wie sie dem späten Tolstoj ungefähr seit 1880
Gewissenssache wurde; sie verbindet sich hier noch mit hoher
Würdigung der Tugenden des russischen Soldaten in den Napo-
leonischen Kriegen, stellenweise sogar mit Zügen eines leicht
überhitzten russischen Patriotismus.
„Krieg und Frieden" ist ein stärkstes Dokument des Tolstoj-
schen Wahrheitseifers auch in den problematischen Übersteige-
rungen dieses Eiferns.
In den letzten der 15 Teile dieses Riesenwerkes, namentlich
vom IX. Teil an, wird der epische Bericht immer häufiger
durch geschichtstheoretisdie Reflexionen unterbrochen. Auf den
XV. Teil folgt ein „Epilog", in der ersten Originalausgabe dazu
noch ein zweiter 2 4 , der ganz der geschichtsphilosophischen Dok-
trin des Autors gewidmet ist. Der Kern dieser Doktrin ist etwa
dieser: Niemals und nirgends sind die sogenannten welt-
geschichtlichen Ereignisse nach bewußten Absichten und Pla-
nungen von führenden Personen, Königen, Ministern, Feld-
herren und Diplomaten verlaufen. Sowohl in den politischen
Szenenwandlungen wie in den kriegerischen Entsdieidungen
walten verborgene „natürliche" Gesetzlichkeiten, an denen der

28
Wille des einzelnen nichts Wesentliches ändern kann. Dem un-
voreingenommenen Betrachter stellen sich diese Gesetzlichkeiten
als ein undurchschaubares Spiel von Zufällen dar, ebenso wie
etwa Naturkatastrophen aller Berechenbarkeit entzogen. Diese
Geschichtsbetrachtung, schon der dichterischen Reproduktion des
Krieges von 1812, noch schärfer artikuliert den beiden Epilogen
zugrunde liegend, läuft im ganzen auf einen „Fatalismus" hin-
aus 25 . Die Frage legt sich nahe, wie dieser sich mit dem ethi-
schen Gewissens-Denken Tolstojs verträgt. Die Aporie, in der
die Frage sich verfängt, verliert den Anschein des simplen
Widerspruchs, wenn man nach der leitenden Absicht des Autors
zurückfragt. Dann hat dieser „Fatalismus" vor allem den
Sinn einer entschlossenen Absage an jede Art von Heldenver-
ehrung.
Das fortgesetzte Ineinanderflechten von Geschichtserzählung
und geschichtstheoretischer Reflexion im ganzen letzten Viertel
von „Krieg und Frieden" ist eine souveräne Mißachtung der
Gesetze, die für Form und Maß des sprachlichen Kunstwerkes
gelten. Für einen anderen Romancier hätte diese Grenzverlet-
zung fast mit Sicherheit katastrophale Folgen gehabt. Es ist
staunenswert, daß Tolstoj sich solche Extravaganz erlauben
konnte, ohne daß die künstlerische Integrität von „Krieg und
Frieden" dadurch entscheidend beeinträchtigt würde. — Das
Problem, das sich hier anmeldet, verdichtet sich im Spätwerk
allerdings zu einer essentiellen Gefährdung der künstlerischen
Legitimität. Am härtesten fühlbar ist diese Gefährdung in der
„Kreutzersonate" (mit ihrem rein doktrinalen „Nachwort"),
weithin auch in „Auferstehung", während sie in Meisterwerken
der Spätzeit wie „Der Tod des Iwan Iljitsch" oder „Herr und
Knecht" völlig außer Betracht bleibt.

3. Der Verdacht des Selbstbetruges

Der kritische Wahrheitswille, verbündet mit dem Ethos der


Selbstverantwortung, durchwirkt Tolstojs Dichtwerk von Be-
ginn an bis zum Ende. Dadurch rückt dieses Werk — nicht erst
für die Spätzeit — in die Nähe der „Tendenzdichtung", d. h.
einer Dichtung, deren Wirklichkeitsbild durch bestimmte moral-

29
und gesellschaftskritische Absichten überformt ist. Aber eben
Tolstojs Werk, jedenfalls bis zu „Anna Karenina" und darüber
hinaus bis zum „Tod des Iwan Iljitsch", führt eine apodiktische
Verwerfung der Tendenzdichtung, das kunstrichterliche Aus-
spielen eines rein selbstzwecklichen Verständnisses der Kunst
(l'art pour l'art) ad absurdum. Vielmehr gibt das Hinstreben
zur psychologischen und sozialkritischen, insgesamt zur „ge-
wissenhaften" Selbsterhellung des Menschseins dem Werk Tol-
stojs gerade die humane Anrede-Kraft.
Es ist zu bedenken, daß Tolstoj in der moralpädagogischen und
gesellschaftskritischen Zielung des literarischen Schaffens mit der
Mehrzahl der russischen Schriftsteller seines Jahrhunderts, nicht
zuletzt mit Dostojewskij, in einer Linie steht. Von Gogol an ist
die russisdie Literatur durch einen eigentümlichen Hang zum
Mißtrauen gegen den Selbstbetrug sowohl der Gesellschaft wie
des einzelnen charakterisiert; eben mit diesem Beitrag hat sie
einen unvertretbaren Anteil an der gemeineuropäischen Fort-
bildung und Schärfung der humanen Selbstkritik.
Heute kaum umstritten, kommt der entscheidende Beitrag zur
kritischen Durchleuchtung des Menschen innerhalb der Literatur
des 19. Jahrhunderts der zugleich existentialistischen, foren-
sischen und ärztlichen Psychologie Dostojewskijs zu. Es ist be-
zeichnend, daß in Europa außerhalb Rußlands zuerst Fr.
Nietzsche diese epochemachende Bedeutung Dostojewskijs er-
kannte. Die umwälzende Vertiefung der wissenschaftlichen Er-
kenntnis des Menschen, die S. Freuds Psychoanalyse, im weiteren
Sinn die sogenannte Tiefenpsychologie in Gang brachte, hat an
Dostojewskijs Entdeckungen ebenso wie an Nietzsches moral-
kritischer Verdachts-Psychologie ihre Wegbereiter. — An dem
Tiefgang von Dostojewskijs herzenskritischen Analysen ge-
messen, mögen die Früchte von Tolstojs Wahrheitseifer ver-
gleichsweise unausgereift, in Anbetracht ihres rationalistischen
Einschlags streckenweise sogar naiv erscheinen. Doch verführt
dieser häufig angestellte Vergleich zu einer ungerechten Ein-
schätzung Tolstojs. Die Verführung wäre wahrscheinlich gerin-
ger, wenn der Ertrag seiner dichterisch-humanen Wahrheits-
erforschung nur an den Werken bis zum „Tod des Iwan Iljitsch"

30
gemessen würde. Bis hierher erweist sich Tolstojs Wahrheitseifer
als eine unerhört positive Energie im Aufspüren und Entlarven
der hundert Erscheinungsformen menschlichen Selbstbetruges.
Dieser Dichter scheint allen Menschen, zu allererst sich selber,
mit dem Verdacht gegenüberzutreten, in ihrem zwischenmensch-
lichen Verhalten sei die angenehme Selbsttäuschung, die Selbst-
bestätigung oder auch Selbstberuhigung der beherrschende
Antrieb. Hier berührt sich Tolstojs mißtrauisdi-distanzierte
Menschenprüfung mit H. Ibsens Axiom von der Notwendigkeit
der „Lebenslüge". Aber auch hier ist ein Unterschied zwisdien
den beiden. Tolstojs Verdachtspsychologie bewährt sich (zu-
mindest bis zum „Iwan Iljitsch") als eine zur Interpretation
menschlicher Charaktere und Lebensbezüge förderliche heuri-
stische Methode deshalb, weil sie sozusagen kompensiert ist
durch die epische Gelassenheit, auch durch einen Humor, der
— jedenfalls beim jungen und mittleren Tolstoj — sein skep-
tisches „Vorverständnis" des Menschen freundlich begleitet oder
umspielt. Tolstojs heuristisches Mißtrauen will nicht verwechselt
sein mit dem menschenscheuen, insgeheim menschenfeindlichen
Mißtrauen, mit dem der verbitterte oder mit sich selbst zer-
fallene Mensch, der Mensch des ressentiment seinen Mitmenschen
von vornherein entgegentritt.
Man wird freilich in diesem Tolstojschen Vorverständnis des
Menschen als des selbsttäuschungsbedürftigen Wesens das Ele-
ment der Skepsis nicht geringschätzen dürfen. Zeitgenossen, die
ihn kannten und sogar verehrten, z. B. /. Turgenew und M.
Gorkij, haben geurteilt, eigentlich geliebt habe Tolstoj am Ende
keinen Menschen als allenfalls sich selbst. Sie hätten nur hinzu-
fügen sollen, daß er auch niemanden so bitter gehaßt und ge-
geißelt hat wie sich selber. Sonst wäre das Urteil unbillig. Auf
dieses undurchsichtige Beieinander von Selbstliebe und Selbst-
haß, das sich in dem skeptischen Einschlag von Tolstojs Men-
schenkennerschaft spiegelt, läuft auch das tragische Kapitel seiner
innersten Geschichte hinaus, das K.Hamburger „Das Mißlingen
der Liebe" überschreibt'-6. Doch diese Skepsis ist wiederum kom-
plementär verbunden mit einem höchst positiven Grundzug von
Tolstojs Wahrheitswillen.

31
4. Die Freiheit vom Vorurteil

Nirgends vielleicht hat Tolstoj die hohe Gabe der Vorurteils-


freiheit so großartig entfaltet wie in dem reifsten Meisterwerk
vor der Krisis, dem Roman „Anna Karenina". Und am aller-
meisten kommt diese Gabe gerade denjenigen Menschen und
Charaktertypen zugute, die seinem eigenen Naturell und der
seelischen Struktur seines Abbildes, Konstantin Lewin, genau
entgegengesetzt sind: Alexej Karenin, Stepan Oblonskij, nicht
zuletzt Alexej Wronskij.
Dank dieser Immunität gegenüber den vorgefertigten Urteilen
und Schablonen sind seine Charakteranalysen eben in der Ent-
hüllung des Selbstbetruges, in dem diese Menschen alle befan-
gen sind, so vertrauenswürdig. Dem jovialen Genießer Stepan
Oblonskij, den keine Gewissensbisse beschweren, der seine ge-
hobene Beamtenstellung genau nach dem Gehalt einschätzt,
das sie abwirft, nicht niedriger, nicht höher, kann der Leser
ebensowenig wie seine Gattin Darja Alexandrowna ernst-
lich gram sein. — Tolstoj lehrt uns auch den unglückseligen
Gatten von Frau Anna, den Juristen Alexej Karenin verstehen:
seine kümmerliche Mitgift an menschlichem Empfinden, seine
tragikomische Rolle als betrogener Ehemann, der sich verbietet,
über die innere Lage und Gefährdung seiner Gattin, dieser mit
einem Übermaß von Liebreiz und Resonanzfähigkeit gesegneten
und belasteten Frau, ernstlich nachzudenken, weil ihn das in
seinen hohen Amtspflichten stören würde. Doch plötzlich, in
einer kritischen Stunde seiner Ehetragödie, steht dieser Un-
glücksmann als ein nobler und selbstloser Mensch da 2 7 , so daß
er uns nicht nur ehrliches Mitleid, sondern sogar gebührenden
Respekt abgewinnt, trotz allem Versagen.
Merkwürdig: der Dichter, der diese Gestalten mitsamt ihrer
Umwelt plastisch vor unser Auge hinzuzaubern weiß, eine jede
unverwechselbar anders, ist für seine Person, ebenso wie Lewin,
ein Moralist, ein fast überempfindlicher Gewissensmensch —
und doch lernen wir von ihm, wie verkehrt alle Schwarz-Weiß-
Malerei, alle richterliche Scheidung zwischen „guten" und
„bösen" Menschen ist. Kaum ein anderer Dichter seiner Zeit,
Dostojewskij ausgenommen, vermöchte die Leser so eindringlich

32
über die Untunlichkeit dieser richterlichen Aufteilung der Men-
schen in Schuldige und Unschuldige, in Gerechte und Ungerechte
zu belehren wie Tolstoj. Und gerade in dem Altersroman, der
am meisten unter allen seinen größeren Werken moralische
Tendenzdichtung ist, in der „Auferstehung", fügt er der Er-
zählung von Nechljudows mißlingender Liebe eine breit aus-
ladende Belehrung über die Vorurteile der populären „Men-
schenkenntnis" ein:

Es ist ein gewöhnlichster und weitest verbreiteter Aberglaube, daß


jeder Mensch nur eine einzige Eigenschaft habe, die ihm zugehört, daß
ein Mensch entweder gut oder böse, oder klug oder energisch oder
apathisch sei usw. Die Menschen pflegen nicht so zu sein. Wir können
von einem Menschen zwar behaupten, er sei öfter gut als böse, öfter
klug als dumm, öfter apathisch als energisch oder umgekehrt. Aber es
trifft einfach nicht zu, wenn wir von einem Menschen behaupten, daß
er gut oder klug sei, und von einem anderen, daß er böse oder dumm
sei. Und doch teilen wir die Menschen immer so ein. Das ist falsch. —
Die Menschen sind wie Flüsse: das Wasser ist überall gleich, überall
dasselbe, aber jeder Fluß ist bald schmal und rasch, bald breit und
still, bald rein und kalt, bald trübe und warm. Ebenso ist es auch mit
dem Menschen. Ein jeder trägt in sich die Keime aller menschlichen
Eigenschaften, das eine Mal kehrt er die einen heraus, das andere Mal
die anderen, und oft scheint er sich selbst überhaupt nicht mehr ähn-
lidi zu sein, während er doch immer derselbe Mensch bleibt (1,60) is .

Die gleiche Absage an alles richterliche Urteilen ist im Titel


einer nicht vollendeten Erzählung aus Tolstojs letzten Jahren
proklamiert: „Es gibt keine Schuldigen auf der Welt." 2 9 Der
Titelsatz entspringt nicht einer vorübergehenden Anwandlung;
er ist zwar nicht der Zentralsatz, aber ein Kernthema seiner
Menschenkenntnis seit den frühesten Anfängen seines Denkens
und Schreibens.
Von diesem vorurteilslosen Menschenkenner nehmen wir denn
willig eine Lehre an, die uns, aus anderem Munde, vielleicht zu
heftigem Protest herausfordern würde: daß in allen Idealen und
Hochzielen, die einen Menschen erfüllen, gerade in ihnen der
Selbstbetrug besonders wirksam im Spiel ist.
Andrej Bolkonskij war ein Bewunderer des Ministers Speran-
skij, dem Alexander I. das Werk der großen Reformgesetz-

33
gebung, die Wegbereitung eines freiheitlichen neuen Rußland
anvertraut hatte. Er wird Speranskijs Mitarbeiter. Doch eines
Tages bemerkt er mit Bestürzung, wie unerschütterlich dieser
Mann an die „Macht und Rechtmäßigkeit der Vernunft" glaubt.
Niemals befällt ihn ein Zweifel, „ob nicht alles, was er denke
und glaube, Unsinn sei" (VI, 6). Seitdem kühlt sich sein Ver-
hältnis zu dem damals allmächtigen Minister ab. Erst nachdem
Speranskij gestürzt ist und von seinen Rivalen verleumdet wird,
tritt Bolkonskij wieder entschieden für ihn ein (VIII, 21).
Eine ähnliche Desillusionierung erlebt Pierre Besuchow an seinen
Freimaurer-Brüdern, die ihn einst aus der Verzweiflung für den
Glauben an Gott, Tugend, Unsterblichkeit zurückgewannen. Sie
wußten hinreißend zu reden von der Pflicht, für die bedrängten
Mitmenschen alles hinzugeben, und sie glaubten, was sie redeten.
Wenn es aber zu opfern gilt, so finden sich in dem Spenden-
teller, der während der Logensitzungen unter diesen meist
schwerreichen Grundherren umgeht, ein paar schäbige Rubel
(VI, 7).
Noch tiefer werden Anna Karenina und Kitty Schtscherbazkij
auf ihrer Auslandsreise in Bad Soden (II, 34—36) durch die
Pietisten enttäuscht. Die Gräfin Lydia Iwanowna in Petersburg
ist eine exemplarische Christin, eine Erweckte, die von dem
beseligenden Wunder der Gnade so bezaubernd zu reden weiß,
daß die Hörer zu Tränen gerührt werden. Aber wie kommt es
nur, fragt sich Anna (I, 32), daß diese Musterchristin immer
auf jemanden zornig ist und überall Feinde wittert, die ihr
entgegenarbeiten? Gehören diese überhitzte Frömmigkeit und
die beständige Gereiztheit gegen irgendwelche Ungläubige etwa
gar zusammen? Es muß wohl so sein. Als Karenin nahe daran
ist, seiner Frau, die ihn verließ, den Sohn zurückzugeben oder
ihr wenigstens das erbetene Wiedersehen mit ihm zu ermög-
lichen, da belehrt die fromme Gräfin ihn eines Besseren. Karenin
darf keinesfalls nachgeben; denn im Umgang mit dieser ver-
derbten Mutter würde der Charakter des Knaben nur Schaden
leiden (V, 22—25).
So scharf durchschaut Tolstoj alle hochsinnigen Ideale und Ideo-
logien. Vergessen wir nicht, daß er mit seinen eigenen Idealen
ganz ebenso skeptisch umging wie mit den freimaurerischen

34
oder den pietistischen Heilslehren vom „neuen Menschen". Zu
barer Ungerechtigkeit versteigt sich seine Skepsis vorzugsweise
in der Selbstanalyse; vom Jugendtagebuch bis ins hohe Alter
zieht er seine eigene Wahrheitsliebe, sein Streben zur Selbst-
vervollkommnung unablässig in Zweifel. Das ist eindrucksvoll.
Freilich, irgendetwas an diesem Hang zur Selbstverurteilung ist
dem nachdenklichen Leser nicht geheuer.
Was hier bedenklich stimmt, das hat Cousine Alexandra am
schonendsten und zugleich aufs treffendste in ihrem brieflichen
Echo auf „Anna Karenina" ausgedrückt. „Ich verfehlte nicht,
schreibt sie, mich in Gedanken in die Sphäre Ihrer ungewöhn-
lichen Wahrhaftigkeit zu versetzen." 30 Sie wußte besser als
irgendeiner, daß diese ungewöhnliche Wahrhaftigkeit ihre zwei
Gesichter hat. Ein andermal erzählt sie von einem Besuch in
Jasnaja Poljana und ihren Diskussionen mit Lew Nikolajewitsch:
„Seine Grundsätze — oder vielmehr seine Verneinungen (die bei
ihm in erster Linie standen) hatten sich meinem Gedächtnis fest
eingeprägt. Wenn ich aber zuweilen an sie erinnerte, ereignete
es sich nicht selten, daß er sie nicht nur widerlegte, sondern über-
haupt nichts von ihnen wissen wollte." 31
Tolstojs Grundsätze wären demzufolge in erster Linie seine
Verneinungen. Die Gräfin hat recht gesehen. Der Wahrheits-
eifer, dessen Intensität auch seine schriftstellerische Meisterschaft
mitbedingt, ist eng verbündet, scheint zeitweise identisch mit
seinem Widerspruchsgeist, seinem elementaren Drang zum
Protestieren. Es sind nicht immer bestimmte Gesinnungen und
Ideen, die diesen Protest auslösen; seinem Protestieren scheint
eine gewisse Selbstzwecklichkeit innezuwohnen. — Menschen,
die viel mit Tolstoj umgingen, berichten, wie oft er sie ver-
blüffte, indem er heute genau das verneinte, was sie, unter
Berufung auf frühere Äußerungen des verehrten Mannes, als
eigene Position verfochten. Diese intimen Kenner des Grafen
wissen allerdings auch zu erzählen, was für Menschen diese
„Tolstojaner" großenteils waren, wie subaltern, wie beflissen,
wie innerlich unfrei ihre Jüngerschaft war. Man freut sich mit,
wenn Gorkij 3 2 berichtet, wie der Graf diese Tolstojaner desa-
vouiert, so daß den guten Leuten schwindlig wird. „Wer sich
nicht selbst zum Besten haben kann, der ist gewiß nicht von den

35
Besten." Zu diesen Besten, die die Freiheit haben, sich von sich
selbst zu distanzieren, gehört Tolstoj außer Zweifel.
Und doch ist neben dem herrlichen Spieltrieb dieses ewig jungen
Menschen in seinem Selbstwiderspruch, dem sublimsten Modus
seines Widerspruchsgeistes, noch ein anderes Motiv am Werk.
Dazu muß man wieder Gorkij hören, den hohen Verehrer Tol-
stojs, einen ebenso unverdächtigen Zeugen wie seine Cousine
Alexandra. Gorkij entdeckte in den Selbstwidersprüchen des
rätselhaften alten Mannes einen tief verborgenen „Nihilismus",
vor dem ihn, Gorkij, manchmal grauste. Keineswegs als Dok-
trin, aber als Lebensgefühl steckt in Tolstoj, wie Gorkij
schreibt,
der tiefste, böseste Nihilismus, der auf dem Boden einer unendlichen,
durch nichts abwendbaren Verzweiflung erwachsen ist, und einer
Einsamkeit, die vor diesem Menschen wahrscheinlich niemand mit
solch erschreckender Klarheit erprobt hat 33 .
Damit sind wir schon mitten in den Kern von Tolstojs Lebens-
problematik eingeführt.

III. K a p i t e l

Der Kampf mit dem Tode

Gorkijs Meditation über Tolstojs wurzelhaften „Nihilismus"


setzt sich fort:
Er i s t . . . weit von den Menschen fortgegangen in eine Wüste, und
dort starrt er unverwandt unter der ganzen Anspannung aller Kräfte
seines Geistes auf die „Hauptsache" — auf den Tod 34 .
Gorkij hat ihn einmal „mit einem spitzen Lächeln" sagen
hören:
Wenn ein Mensch es gelernt hat, zu denken, so denkt er stets, worüber
er auch nachdenken mag, immer nur an seinen Tod. Alle Philosophen
sind so! Und was gibt es auch für Wahrheiten, wenn es den Tod
gibt35.
Tolstojs ganzes Werk gibt diesem Selbstzeugnis Bestätigung: die
persönliche Auseinandersetzung mit dem Tode ist ein durch-

36
gehaltenes Kardinalthema seines dichterischen Schaffens ebenso
wie seines Nachdenkens. Das Ringen mit dem Existenzproblem
des Todes hat bei Tolstoj ein Gewicht wie bei kaum einem
anderen großen Dichter und Schriftsteller. Wir suchen uns zu
vergegenwärtigen, was diese beständige Konfrontation mit der
Todesfrage für sein dichterisch-humanes Wirklichkeitsverständ-
nis — und das heißt auch schon: für sein religiöses Denken
austrägt.

1. Auge in Auge mit dem Tode


(Das „arsamasische Grauen")
Der beharrlichen Konzentration Tolstojs auf das menschliche
Grundphänomen des Todes liegen bestimmte lebensgeschicht-
liche Erfahrungen zugrunde. Keine von ihnen soll den Sach-
befund kausal erklären; denn schon in den frühesten Arbeiten
und Tagebüchern kündigt sich das Todesthema an 3 6 . Aber seine
Verdichtung steht, laut Tolstojs eigenem Zeugnis, mit einigen
besonderen Erlebnissen im Zusammenhang.
Während seiner ersten Europareise 1857 hat Tolstoj in Paris
einer öffentlichen Hinrichtung beigewohnt. Wie tief dieser Ein-
druck in ihm fortgewirkt hat, davon schreibt er zweiund-
zwanzig Jahre später in „Meine Beichte" 37 ; der Anblick über-
zeugte ihn, „wie schwankend und haltlos [s]ein Aberglaube an
den Fortschritt war". — Verstärkt wurde diese Erschütterung
durch den Tod des ihm besonders nahestehenden Bruders Niko-
laj im Jahre 1860. Nikolaj starb siebenunddreißigjährig an
Lungentuberkulose; Tolstoj erlebte die letzten zwei Monate
dieses qualvollen Sterbens in unmittelbarer Nähe mit 38 . An
Cousine Alexandra schreibt er: „Meine ganze Lebensenergie ist
mit Nikolaj begraben. Ich weiß nicht, wozu ich leben soll, wenn
er gestorben ist."
Noch zwei Monate später bekennt er ihr:
Ich bin überzeugt, daß es mir nicht beschieden sein wird, das Leben
besser als er zu ertragen, und noch weniger das Sterben. Und mehr
weiß ich nichtSB.
Aber noch entscheidend näher ist Tolstoj von der Erfahrung
des immer mitgegenwärtigen Todes berührt, angefochten, über-

37
fallen worden im Jahr 1869, auf einer Reise, in der kleinen
Stadt Arsamas. Knapp und sparsam berichtet er davon in einem
Brief an seine Frau 4 0 . Viel genauer festgehalten und zugleich
interpretiert ist dies Erlebnis in dem Fragment Aufzeichnungen
eines Wahnsinnigen Ende 1883, das erst 1912 aus dem Nachlaß
veröffentlicht wurde 4 1 .

Er übernachtet in einem Gasthaus in Arsamas. Schon als er ins Gast-


zimmer eintritt, wird ihm traurig zumute. Er versucht vergeblich zu
schlafen. Aber die Beunruhigung steigert sich.
„Das ist doch alles töricht, sprach ich zu mir selbst. Vor wem fürchte
ich mich eigentlich? — ,Vor mir, antwortete unhörbar die Stimme
des Todes. ,Ich bin da.' Ein Frostschauer überlief mich. Ja, mir bangte
vor dem Tode. Er wird kommen, er ist da — und er sollte nicht sein!
Mein ganzes Wesen empfand das Bedürfnis zu leben — und zugleich
den Vollzug des Todes. Die rote Flamme der Kerze, ihr langsames
Schwinden, der verglimmende Docht — alles sagte mir dasselbe. Es
gibt nichts im Leben als nur den Tod — und er sollte nicht sein."
Der Erzähler tut, was er „wohl zwanzig Jahre lang" nicht getan hat:
er betet. „Herr erbarme dich." Für einen Augenblick hilft es ihm.
Aber ein „Bodensatz" des schrecklichen Erlebnisses bleibt in seiner
Seele haften. Bald nachher, eines Nachts in Moskau, kehrt das „Ge-
fühl des Entsetzens", wie er es in Arsamas erfuhr, noch verstärkt
wieder:
„Ich fühlte einen furchtbaren Riß durch mein ganzes Wesen. Ich lebe,
ich muß leben — und ringsum ist der Tod . . . Was soll nun das Leben?
Ist es nur da, um abzusterben? Soll ich mich nicht gleich jetzt töten?
Doch davor fürchte ich mich noch mehr. Also muß ich schon am Leben
bleiben. Doch zu welchem Zweck?"
Der Erzähler möchte Gott zur Rede stellen, warum er so über
Menschenmaß gequält wird. „Doch plötzlich fühlte ich, daß es mir
nicht ziemte, von Gott Rechenschaft zu fordern, daß Er längst alles
Nötige gesagt hatte — und daß alle Schuld bei mir allein war. Und
ich begann, Ihn um Vergebung zu bitten, und ich empfand Abscheu
vor mir selbst."

Der Autor zieht aus dieser ihm im Lichte des kommenden Todes
aufgegangenen Selbsterkenntnis dann seine Folgerungen. Er war
unterwegs, um einen neuen Gutshof zu kaufen; jetzt begreift er,
daß sein Besitz „mit der N o t und Armut der Bauern erkauft
sein würde".

38
Ich sagte mir, daß die Bauern ebenso leben wollten wie wir, daß sie
Menschen, Brüder, Söhne des Vaters seien, wie es im Evangelium
heißt. Und plötzlich war mir, als löse sich etwas, was mich bisher
bedrückt hatte, von meinem Wesen los, als werde etwas in mir ge-
boren. Meine Frau schalt mich, mir aber wurde freudig zumute. —
Das war der Anfang meiner geistigen Erkrankung.

Doch diese angebliche Erkrankung ist in Wahrheit, wie der letzte


Abschnitt des Fragments zeigt, eine Erleuchtung. Während der
Erzähler am Hochamt teilnimmt, geht ihm auf,

daß dies alles [d.h. sein bisheriges Leben als Parasit, als Ausbeuter
seiner Bauern] nicht sein dürfe — und nicht ist [NB!] und daß, wenn
es nicht ist, auch kein Tod und keine Furcht ist.
Und das Licht erleuchtete mich vollends, und ich wurde eins mit dem,
was da ist. Wenn das alles aber nicht ist, so ist es vor allem nicht in
mir. — Und ich verteilte dort, in der Vorhalle der Kirche, alles, was
ich bei mir hatte — es waren 36 Rubel — an die Armen und ging, mit
dem Volke redend, nach Hause.
Hier bricht die Niederschrift ab. Doch ihr Inhalt stimmt weit-
gehend überein mit dem Bericht der fünf Jahre zuvor geschrie-
benen „Beichte". Und ähnliche Erfahrungen werden Konstantin
Lewin zuteil (Anna Karenina VIII, 8—13), auch ihm in unter-
irdischer Fortwirkung der quälenden Fragen, die der Tod des
Bruders in ihm ausgelöst hatte (V, 19. 20).
Weder Lewin noch der Autor der „Beichte" stehen im Verdacht
des Irrsinns. Die Geschichte vom beginnenden Wahnsinn des
Fragmentisten von 1883 ist also eine ironische Verschlüsselung
der Gewißheit, daß er im Durchgang durch das Grauen der
Todesbegegnung zu der existentiellen Wahrheit über sich selbst
gelangt sei: Mein bisheriges Leben war kein rechtes Leben; ich
muß umkehren von meinem Parasitendasein zur praktischen
Nachfolge Christi — dann gibt es für mich keinen Tod und
keine Todesangst mehr. — Genau dies ist die Summa der
religiös-sozialethischen Schriften von 1880 an: Meine Beichte.
Mein Glaube. Was sollen wir denn tun? Das Reich Gottes ist
in euch. Über das Leben. — Geistig krank ist nicht der Frag-
mentist von 1883, vielmehr stehen die anderen Menschen, die
so weiterleben, wie er lebte, im Banne eines „Wahnes".

39
Wenn die Situation „Auge in Auge mit dem Tode" so verstan-
den wird, dann scheint Gorkijs Rede von Tolstojs Verzweiflung
und „Nihilismus" als dem Effekt des gebannten Starrens auf
den Tod praktisch widerlegt. Dann wäre diese erfahrene Gegen-
wart des Todes im Gegenteil Tolstojs Weg zum Leben, ja seine
allgemeingültige Anweisung zum wahren Leben. Das ist in der
Tat Tolstojs eigene Überzeugung und Lehre, und eben in ihr
besteht für ihn das wirkliche Christentum. Aber dieser Einbruch
der Todeserfahrung in Tolstojs Lebensgefühl ist nicht durchweg
so positiv-sinnvoll auslegbar. Etwas in seinem „arsamasischen
Grauen" 4 2 widerstrebt der von Tolstoj gewollten religiös-
ethischen Sinngebung. Das mächtigste Zeugnis dafür ist die
Erzählung

2. „Der Tod des Iwan Iljitsch" «


Das ist die ganz alltägliche traurige Geschichte vom Sterben
eines Mannes auf der Höhe des Lebens. Landgerichtsrat Iwan
Iljitsch Golowin, ein angesehener Jurist in der Gouvernements-
stadt, Gatte und Vater, erkrankt an einem Krebsleiden und
muß nach ein paar Monaten schweren Leidens sterben.
Mit hohem Kunstverstand läßt Tolstoj die Erzählung am Tage
nach Golowins Tod beginnen. Dieser Tod wird zunächst ange-
sprochen in der Ebene des „Geredes", wie Heidegger die Spiege-
lung der „Man"-Sphäre, des „uneigentlichen" Daseins im ge-
selligen Reden nennt. — Die Amtskollegen unterhalten sich
über die eben gelesene Todesanzeige. Was sind ihre ersten Ge-
danken? Vor allem „ein Gefühl der Freude: gestorben ist er,
nicht ich" (1). Dann die Frage: was wird sein Tod für unsere
erhoffte Beförderung bedeuten? Die objektive Heuchelei der
Kollegen, die mit Iwan Iljitsch freundschaftlich verkehrt und
regelmäßig Whist gespielt haben, setzt sich fort in Kondolenz-
besuchen bei der Witwe und in der Teilnahme an der feierlichen
Totenmesse im Hause.
Dann blendet der Erzähler zurück. Zunächst wird die „sehr
einfache" Lebens- und Berufsgeschichte des Verstorbenen vor
der Erkrankung rekapituliert (2. 3). Als sich allmählich die
Unheilbarkeit von Iwan Iljitschs Krankheit herausstellt, unter-
ziehen sich die Angehörigen der gleichen Pflicht der objektiven

40
Heuchelei, die nach dem Todesfall den Kollegen zufallen wird.
Natürlich um des Kranken willen muß Frau Praskowja Fjo-
dorowna immer so reden, als würde Iwan Iljitsch sicherlich
wieder gesund werden. In Wahrheit dient dieses gute Zureden
mindestens ebensosehr zu ihrer eigenen Beruhigung wie zur
seelischen Aufmunterung des lieben Patienten. Deshalb werden
die Ärzte zum Consilium zitiert, auch dann noch, als es hoff-
nungslos ist (8). Selbst der Priester, der die Sterbesakramente
reicht, wird, wollend oder nicht, in das System der Lügen mit-
einbezogen. Und, was das Schlimmste ist: der Patient selbst
muß mitlügen (6).
Die Hauptqual für Iwan Iljitsch war die Lüge, daß er nur krank sei,
aber nicht sterben müsse, und daß man ihn selbst zwang, diese Lüge
mitzumachen . .. dieser unmittelbar vor seinem Tode an ihm verübte
Betrug, der das schreckliche, feierliche Ereignis seines Todes auf das
Niveau ihrer Visiten herabdrücken wollte . . . Der grauenhafte Vor-
gang seines Sterbens wurde von den Seinen zu einer zufälligen Un-
annehmlichkeit erniedrigt (7).
Aus seinem Logik-Lehrbuch hatte Iwan Iljitsch als Student den
alten Syllogismus gut gelernt: „Alle Menschen müssen sterben.
Cajus ist ein Mensch. Also muß auch Cajus sterben" (6).
Aber
er hatte ihn sein Leben lang nur in bezug auf Cajus für richtig gehal-
ten, nie aber in bezug auf sich selbst. Cajus war der Mensch überhaupt,
aber er war kein Cajus, er w a r . . . ein von den anderen ganz ver-
schiedenes Wesen . . . Es ist recht und billig, daß Cajus stirbt; ich aber,
ich bin etwas ganz anderes. Es kann nicht sein, daß ich sterben muß.
Das wäre zu schrecklich.
Bei diesem beschwerlichen Umlernen kommt ihm kein Mensch
zu Hilfe. Der einzige, der ein bißchen Mitleid mit dem Kranken
hat und ihm wohltut, ist der bäuerliche Hausdiener Gerasim.
Sonst ist während der letzten zwei Monate um Iwan Iljitsch
eine grausige Einsamkeit. Das Ehe- und Familienleben der
Golowins hatte schon bisher nie eine besondere Wärme — das
war bei den meisten Familien auch nicht anders. Jetzt aber,
beim langsamen und stetigen Herannahen des Todes zerreißen
alle Schleier des vorgetäuschten Miteinanderseins. Patient und
Familie, beide gehen höchst rücksichtsvoll miteinander um. Aber

41
man erreicht einander nicht. Frau und Kinder verhehlen müh-
sam ihr ungeduldiges Warten: wann wird er endlich sterben?
Der Kranke unterdrückt noch mühsamer die Bitterkeit gegen
die „Seinen", die ihn jedenfalls überleben werden.
Dann kommt das Ende. Es beginnt mit einem Schmerzens-
Aufschrei, drei Tage und Nächte lang; ähnlich brutal, wie bei
Rilke der alte Kammerherr Brigge, stirbt Iwan Iljitsch. Zwei
Zimmer weit hören sie ihn schreien.
Drei Tage zappelte er in einem schwarzen Sack, in den eine unsicht-
bare Gewalt ihn stopfte . . . Seine Qual bestand darin, daß er in den
Sack gestopft wurde, aber noch mehr darin, daß er nicht hinein konnte.
Daran hinderte ihn die Überzeugung, daß sein Leben nicht gut ge-
wesen war.
Plötzlich aber stieß irgendeine Gewalt ihn vor die Brust, preßte ihm
noch stärker den Atem zusammen, er stürzte ins Loch hinab, und dort
unten, am Ende des finstern Raumes, leuchtete etwas auf. — ,Ja, alles
das war nicht das Richtige', sagte er zu sich selbst. ,Was aber ist das
Richtige?' Jetzt wird ihm offenbar, daß sein Leben nicht so gewesen
war, wie es hätte sein sollen, daß es aber noch gutgemacht werden
konnte . . . J a , ich quäle sie. Es ist ihnen ja doch leid um mich, es ist
besser für sie, wenn ich sterbe.' Mit äußerster Anstrengung spricht er
zu seiner Frau: ,Führ den Jungen weg, er dauert mich . . . auch du . . . '
Er wollte noch sagen: .vergib', sagte aber statt dessen nur ,gib'. Ver-
bessern konnte er sich nicht mehr . . . Der, auf den es ankam, würde
ihn schon richtig verstehen.
Und dann: ,Wo ist der Tod?' Er suchte, er fand nicht. Er fühlte keine
geringste Furcht mehr; es gab gar keinen Tod. Statt des Todes war
Licht da. — ,Das also ist es, sagte er plötzlich laut — welch eine
Freude', — ,Es ist zu Ende', sagte jemand über ihm. In seiner Seele
wiederholte er die Worte: ,Mit dem Tod ist es zu Ende, er ist nicht
mehr.' Er reckte sich aus und starb.
Das ist der Tod des Iwan Iljitsch. Keine von Tolstojs Erzäh-
lungen ist bis ins letzte so vollkommen durchmodelliert wie
dieses Spätwerk — es sticht von manchen Produkten der Ten-
denz- und Traktatliteratur dieser 1880er Jahre sonst in seiner
makellosen Vollendung geradezu strahlend ab. Auch in der
Exaktheit humaner Daseinsdeutung steht diese Erzählung hoch
obenan. Alle Kenner haben sie gerühmt, unter den Dichtern
vor allem R. M. Rilke44, unter den Philosophen namentlich
M.Heidegger*6.

42
„Hier wird das Phänomen der Erschütterung und des Zusam-
menbruchs des ,man stirbt' dargestellt." — In der „Alltäglich-
keit des Daseins" wird der Tod verstanden „als ein unbestimm-
tes Etwas, das irgendwoher eintreffen muß, zunächst aber für
einen selbst noch nicht vorhanden und daher unbedrohlich ist".
Das Sterben wird sonst in ein öffentlich vorkommendes Ereignis
verkehrt, das dem Man begegnet. ,Man stirbt', diese öffentliche
Daseinsauslegung' ermöglicht jedermann, sich einzureden: ,je
nicht gerade ich'. Indem diese Fehlauslegung des Todes „dar-
gestellt" wird, so meint Heidegger, wird sie in ihrer Verkehrt-
heit auch schon aufgedeckt.
Noch deutlicher lesen wir es bei K. Hamburger w:

Dies ist die gewaltigste Sterbegeschichte, die jemals geschrieben wurde.


In ihr erscheint der Tod unverblümt, als das was er ist, nicht als das,
was er religiös, philosophisch oder poetisch gedeutet wird: als
Feind der Kreatur und ihr Peiniger, nicht als Erlöser ... Was dieser Er-
zählung den Aspekt des „Ungeheuren" gibt — wenn man dieses Wort
nicht nur in seiner gewöhnlichen Bedeutung „gewaltig", sondern auch
in seinem Grundsinne „nicht geheuer" versteht —, das ist die Reali-
sierung des Sterbens vom Sterbenden und nicht von denen her, die
dem Sterben des Sterbenden nur zusehen.

Zuletzt schränkt K.Hamburger das hohe Lob allerdings ein 4 7 :


Es darf nun freilich nicht übersehen werden, daß in ähnlicher Weise
wie die Sterbegeschichte Fürst Andrejs auch die des Iwan Iljitsch mit
einem Erlösungsmotiv endet . . . Man kann nicht umhin, das Erlösungs-
bild als einen Sprung zu empfinden, durch den die Phänomenologie
des Todes, die der eigentliche Gegenstand der Erzählung ist, in eine
Sinndeutung des Todes umgewandelt wird . . . Die Vision des Lichtes
am Ende des dunklen Sackes gehört einer ganz anderen Ebene der
Darstellung an als alle die anderen Beobachtungen, die hier an einem
Sterbenden gemacht sind. . . Mit dieser Vision ist insofern ein Sprung,
ja ein Bruch erfolgt, als die Tatsache, daß sie als Befreiung von der
Todesfurcht erlebt wird, nur in ihrer symbolischen Bedeutung hin-
genommen, aber nicht mehr auf empirischem Wege verifiziert werden
kann.

Hier ist die Problematik in und hinter dieser „gewaltigen Er-


zählung" scharf erkannt. Die Analyse führt zu einer letzten
Überlegung:

43
3. Ambivalente Todesweisheit

Der Tod hat bei Tolstoj zwei Gesichter. Gorkij sieht recht:
Tolstoj hat als Mensch und auch als Dichter das „arsamasische
Grauen", den unterirdischen Einbruch der Todeserfahrung in
das ethisch-personale Sinngefüge des Menschseins nicht voll-
ständig „überwinden", nicht in eine höhere oder höchste Sinn-
gebung des Daseins transformieren können. Der „Bodensatz"
jener Ur-Erfahrung von Arsamas behält in seinem Lebensgefühl
wie in seinem Dichtwerk ein Eigengewicht, das sich keiner ethi-
schen und religiösen Sinndeutung fügen will. „Es gibt im Leben
nichts als den Tod, und er sollte nicht sein." Der Satz steht nicht
nur in den zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht gebliebenen
„Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", er hat Parallelen über-
all in Tolstojs CEuvre, die genaueste in den eingangs aus Gorkijs
Erinnerungen angeführten mündlichen Äußerungen.
Wir könnten nicht wünschen, daß sie fehlten, daß dem Denker
und Dichter Tolstoj eine völlige Überwindung dieses elemen-
taren Todesgrauens gelungen wäre. Der Tod als „Feind der
Kreatur" (K.Hamburger) — wer diese ursprüngliche Erfah-
rung durch noch so tiefsinnige oder auch fromme Sinngebungen
des Todes weginterpretieren wollte, würde der Wirklichkeit,
und zwar eigens der menschlichen, ein Wesentliches schuldig
bleiben. „Der letzte Feind . . . ist der Tod", heißt es doch auch
1. Korinther 15,26. Zwar wird die Aussage hier durch den
Relativsatz determiniert „der letzte Feind, der überwunden
wird". Aber der Kontext ist unmißverständlich: noch ist dieser
letzte Feind nicht aufgehoben. Insoweit stimmt die christliche
Todestheologie des Paulus und die a-christliche Existenzanalyse
Tolstojs (und Heideggers) überein. In der dichterischen Reali-
sierung dieser Erkenntnis hat das „arsamasische Grauen" mit-
samt der tiefen Traurigkeit, die es mit sich bringt, sein bleiben-
des Gewicht.
Die Lichtvision, in die Iwan Iljitschs Sterben ausgeht, und ebenso
der offene Himmel über dem verwundeten Fürsten Andrej ist
nach K.Hamburger „ein gewissermaßen gewaltsamer Versuch,
die unabweisbare Wirklichkeit der Todesverfallenheit in der
Idee zu überwinden, oder, mit anderen Worten, die Erfahrung

44
durch einen Glauben zu ersetzen" (a.a.O. 71). Tatsächlich steht
bei Tolstoj nahezu widersprüchlich beides nebeneinander: die
ursprüngliche Mächtigkeit des kreatürlidien und erst recht des
menschlichen Todesgrauens hier — und dort das Bestreben, dies
Todesgrauen als die Freilegung der sonst überall verfälschten
letzten Wahrheit, die Desillusionierung des menschlichen Da-
seinsbewußtseins zu verstehen.
Als Andrej Bolkonskij in der Schlacht von Austerlitz fast zum
Tode schwer verwundet wurde, „war über ihm nichts als H i m -
mel . . . ,Wie still, ruhig und feierlich, ganz anders als da wir
noch liefen, schrien und kämpften . . . Wie habe ich denn früher
nicht diesen hohen Himmel gesehen? Und wie bin ich glücklich,
daß ich ihn endlich erkannt habe. Ja, alles ist eitel, alles Trug,
außer diesem unendlichen Himmel. Außer ihm ist nichts, gar
nichts. Doch auch er ist wohl nicht. Nichts ist außer der Stille,
der Ruhe. Gott sei Dank!" (KrFr I I I , 16). — Noch weiter öffnet
sich ihm der Horizont der Wirklichkeit sieben Jahre später in
seiner Todesstunde (XII, 15.16). Sogar die Liebe, die er jetzt
von der wiedergefundenen Natascha empfängt — sogar sie ist
das Nichtige. Einen Augenblick hat diese Liebe ihn noch zurück-
halten wollen in einem „letzten . . . Anfall des Grauens vor dem
Unbekannten". Doch der Anfall wird überwunden. Mit einem
unerhört paradoxen Satze beschreibt der Dichter Andrejs Ster-
ben als ein „Erwachen vom Leben". „Es lag nichts Furchtbares
und Schroffes in diesem . . . langsamen Erwachen."
Es ist des Fragens wert, ob K.Hamburgers Satz von der bei
Tolstoj versuchten Überwindung des wirklich erfahrenen Ster-
bens durch eine „Idee", einen „Glauben" den Sachverhalt ganz
zureichend erfaßt. Um nochmals auf das Sterben des Iwan
Iljitsch zurückzukommen: die Lichtvision, in die jene drei-
tägige schier übermenschliche Arbeit des Sterbens sich am Ende
aufhebt, kann in der Tat, wie K.Hamburger sagt, „nicht mehr
auf empirischem Wege verifiziert werden". Was aber voranging,
das läßt sich sehr wohl verstehen und auch verifizieren: nämlich
das Durchleben eines radikalen Gewissensgerichts im Angesicht
des zukommenden Todes. In seinen Fieberphantasien hört Iwan
Iljitsch wiederholt, aus der Erinnerung seiner Gerichtspraxis,
den Ruf „Das Gericht kommt". Noch protestiert er hartnäckig

45
gegen die Vorstellung, das Gericht solle ihn verurteilen (10).
„Die Rechtfertigung seines Lebens behinderte ihn" (12). Aber
schließlich bringt die Gewalt, in deren Händen er ist, seinen
Protest zum Schweigen. Er gibt die Selbstrechtfertigung auf, er
muß anerkennen: sein Leben ist „nicht das rechte" gewesen, er
hat nicht in der Liebe gelebt, er hat seinen Platz und Rang in
der Gesellschaft mit seinem eigentlichen Sein verwechselt.
Ähnliches widerfährt an der Pforte des Todes auch anderen
Gestalten in Tolstojs Werk. Zwei Veranschaulichungen dieser
erleuchtenden und reinigenden Todesweisheit verdienen hier vor
allem Aufmerksamkeit.
Die erste findet sich in „Anna Karenina" (IV, 17. 18). — Anna,
die ihren Gatten verlassen hat, wird nach der Geburt ihres von
Wronskij empfangenen Kindes todkrank. Sie ruft Karenin,
ihren bisher verabscheuten Mann, aus Moskau zu sich zurück,
um sich vor dem Tode mit ihm — und ihn mit ihrem Geliebten
Wronskij zu versöhnen. Karenin läßt sich rufen und, was nie-
mand diesem kargen, beinahe ausgetrockneten Herzen zugetraut
hätte, er versteht und vergibt alles. Unter der Drohung des
Todes begibt sich etwas wie ein Wunder von Herzensverwand-
lung, nicht nur bei der todkranken Frau, sondern auch bei den
bitter verfeindeten Rivalen. — Es tut der von Dostojewskij
hoch gerühmten menschlichen Eindruckskraft dieser Geschichte
keinen Abbruch, daß die Herzenswandlung im Ganzen der
Romanhandlung eine Episode bleibt und daß die jetzt vom
Tode errettete Anna einem ungleich furchtbareren Geschick, dem
selbstgewählten Tode unter den Rädern des Güterzuges, auf-
gespart wird.
Das zweite Beispiel ist die späte Erzählung Herr und Knecht
(1895) 48 . Der Kaufmann Wasilij Brechunow, ein hartgesottener
Egoist, der die Menschen nur als Mittel für seine Zwecke aus-
zunutzen gewohnt ist, gerät auf einer winterlichen Geschäfts-
fahrt mit seinem Knecht Nikita in einen Schneesturm — und er
wird, beinahe wie zufällig, zum Lebensretter dieses Knechtes.
Als er den Erfrierungstod vor sich sieht, kommt auf einmal eine
bisher nie gekannte innere Ruhe und Freude über ihn. Er weiß,
er wird jetzt sterben, aber Nikita wird es überstehen. „Er lebt,
folglich lebe auch ich, sagte Wasilij feierlich zu sich selbst."

46
Eben in diesem erstaunlichen inneren Monolog des sterbenden
Kaufmanns zeigt sich indessen auch das andere Gesicht von Tol-
stojs Todesweisheit, mit K.Hamburger zu reden, die Umset-
zung der „Erfahrung" in die „Idee", fast dürfte man sagen: in
eine Ideologie. „Er lebt, folglich lebe ich auch." Was hat es auf
sich mit diesem, dem sterbenden Kaufmann in den Mund ge-
legten, metaphysischen Syllogismus („folglich")? Darüber emp-
fangen wir genaue Auskunft in Tolstojs streng systematisch
angelegter Schrift Über das Leben (1886/87). Aus dieser
Möglichkeit, dieser Chance einer inneren Lebensrevision und
-erneuerung, die die existentielle Konfrontation mit dem Tode
in sich trägt, hat Tolstoj in der genannten Schrift, auch sonst in
seinem moralphilosophischen Alterswerk, eine Theorie, eine
Doktrin vom „wahren Leben" gemacht. Auch in die Beschrei-
bung und Auslegung von Fürst Andrejs Sterben ( K r F r X I I ,
15. 16) spielt diese Doktrin hinein. Aufs kürzeste rekapituliert,
ist ihr Inhalt folgender. Im Unterschiede zum biologischen, zum
„tierischen" Leben, dem Tolstoj überraschend das Prädikat der
„Persönlichkeit", das heißt der sich selber um jeden Preis er-
halten wollenden Individualität zuschreibt, ist das wahrhaft
menschliche Leben nicht an diese sich selbst ängstlich festhaltende
Persönlichkeit gebunden und also nicht dem Tode unterworfen.
Mit Tolstojs eigenen Worten:

Das Übel in der Gestalt des Todes und der Leiden ist dem Menschen
nur sichtbar, wenn er das Gesetz seiner leiblichen, tierischen Existenz
für das Gesetz seines Lebens ansieht. Nur wenn er, obwohl ein Mensch,
auf die Stufe des Tieres herabsteigt, nur dann sieht er die Leiden und
den Tod. — Das Leiden und der Tod stürmen von allen Seiten wie
Schreckbilder auf ihn ein — und treiben ihn auf den einzigen ihm
offenstehenden Pfad des menschlichen Lebens, das dem Gesetz der
Vernunft unterworfen ist und sich in der Liebe äußert. — Der Tod
und das Leiden sind nur Übertretungen des Gesetzes seines Lebens.
Für den Menschen, der nach seinem (seil, menschlichen) Gesetz lebt,
gibt es keinen Tod und keine Leiden4'.

Was von dieser Doktrin vom wahren Leben, dieser gewalttätigen


Kombination von Moral und Metaphysik, zu halten ist, darüber
ist das Schlüssigste bei K.Hamburger („Der Kampf um den
Glauben", S. 73 ff.) gesagt. Der Lebens- und der ihm zugeord-

47
nete Gottesbegriff trägt die Züge eines philosophischen Postu-
lats. „Die Existenz Gottes wird als Garant eines sinnhaften
Lebens postuliert und hypostasiert" (74). Die N o t der existen-
tiellen Todeserfahrung wird von Tolstoj, jedenfalls seiner Ab-
sicht nach, überwunden durch ein „sozusagen erklügeltes und
künstlich hergeleitetes Prinzip" (78). Dieses rationale Prinzip
des Lebens und, mit ihm gleichsinnig, der Liebe „verdankt
seinen Ursprung dem Bedürfnis, sich vor dem Gedanken des
Todes und der Vernichtung zu erretten" (ebd.). Damit hängt
seine „Abstraktheit, sein Mangel an Überzeugungskraft" zu-
sammen.
Für die Verfestigung der Todesweisheit zu einer Theorie vom
„wahren Leben" mitsamt den z. T. sehr „umwegigen" (Ham-
burger) Begründungsmühen, wie die Schrift „Über das Leben"
sie entwickelt, trifft diese Diagnose völlig zu 5 0 . Die religiöse,
zuletzt die christliche Erfahrung des Todes als eines für den
wachen Menschen immer schon vernehmbaren Rufes zum Ge-
wissensgericht — und die Ideologie des „wahren Lebens", das
der Mensch durch vernunftgemäße Selbstbesinnung jederzeit
ergreifen und in Kraft setzen kann: beides liegt bei Tolstoj kaum
unterscheidbar dicht beisammen, während es hier gerade auf
eine sorgliche Unterscheidung ankäme.

IV. K a p i t e l

D i e Masken des Teufels

Alle drei Aspekte, unter denen Tolstojs Werk bisher bedacht


wurde: die autobiographisch-bekenntnishafte Zielung seines
Dichtens, seine Orientierung am Maßstab der Wahrheit und
Wahrhaftigkeit, auch seine Bezogenheit auf den Horizont des
Todes, gehören mindestens in den Vorhof des religiösen Selbst-
und Lebensverständnisses, das in der Spätzeit zur Mitte seines
Denkens wie Dichtens wird. Die Nähe des Todes zeigte sich im
vorangehenden Kapitel als die immer mitgegenwärtige Bedro-
hung von Tolstojs Lebensgefühl und Weltverständnis. Diese an

48
die Wurzeln greifende Bedrohung präsentiert sich im Spätwerk
noch unter einer zweiten, mythischen Gestalt, in der Chiffre des
Teufels. Zur Ortsbestimmung dieser Chiffre bedarf es einer
Vororientierung über den Bereich, dem sie phänomenologisch
zugeordnet ist, über die Religiosität Tolstojs.

1. Tolstojs Religiosität:
rationale Grundstruktur und dualistische Hintergründe

Die einschneidende Zäsur in Tolstojs Innengeschichte, die durch


die Niederschrift von „Meine Beichte" 1879 markiert ist, will
nicht so bestimmt und direkt, wie es häufig geschah, als eine
religiöse „Bekehrung" angesprochen sein. Erstens bleibt zu
fragen, ob die Intention der damals vollzogenen Wendung ein-
deutig religiös zu verstehen ist. Zweitens ist, was an dieser
Radikalisierung und Konzentration seines Denkens als religiöse
Wendung angesehen werden kann, schon von den frühen An-
fängen her vorbereitet und als Unterton, bald verhaltener, bald
deutlicher durch das ganze CEuvre Tolstojs hindurch zu ver-
folgen.
Schon der siebenundzwanzigjährige Artillerieleutnant schrieb in
sein Tagebuch 1855 folgende Sätze:
Gestern brachte mich ein Gespräch über das Göttliche und den Glau-
ben auf eine große . . . Idee. Diese Idee ist die Gründung einer neuen
Religion, die der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit ent-
spräche: der Religion Christi, nur gereinigt von Dogmen und Mystik
— einer praktischen Religion, die nicht künftiges Heil verspricht,
sondern Heil auf Erden gibt. Ich sehe ein, daß dazu die bewußte
Bemühung von Generationen nötig ist. Mit Überlegung zur Einigung
der Menschen durch Religion beizutragen, ist der Grundgedanke, der
mich, wie ich hoffe, beherrschen wird 51 .
Zwei Gedanken in dieser frühen Aufzeichnung deuten schon
klar voraus auf die Grundstruktur des Verständnisses von
Religion, die sich in den Schriften von 1879 an entfalten wird,
1. die „Reinigung der Religion Christi von Dogmen undMystik",
2. eine „praktische Religion, die schon auf Erden Heil gibt". In den
Schriften der Spätzeit konzentriert sich diese undogmatische und
praktische Auffassung der Religion auf zwei Leitbegriffe, Ver-

49
nunft und Liebe, und beide sind antithetisch, nämlich im Wider-
spruch gegen den Glauben im Sinne der orthodoxen Kirche, ja
gegen die dogmatische und kultische Tradition des geschicht-
lichen Christentums überhaupt, zu verstehen.
Zuerst also: Tolstoj will eine Religion der Vernunft. Man tut
ihm nicht Unrecht, wenn man sein Lebens- wie auch sein Gottes-
verständnis, jedenfalls soweit es sich gedanklich fixiert hat, als
„rational", ja als rationalistisch definiert. Tolstoj selbst hat sich
in den philosophisch-ethischen Schriften nach 1880 ausdrücklich
und wiederholt zu Descartes und dem durch ihn inaugurierten
klassischen Rationalismus bekannt, und ebenso zu dem er-
kenntnistheoretischen Idealismus Kants und Schopenhauers, den
er von der idealistischen Systemphilosophie mit Recht unter-
scheidet 52 .
Sein Vernunftbegriff wiederum ist von vornherein religiös deter-
miniert. In der Vernunft hat sich Gott allen Menschen ein für
allemal unmittelbar bezeugt. In diesem spezifisch menschlichen
Gesetz der Vernunft, dem Inbegriff der Wahrheit, ist, als ihr
praktisches Korrelat, auch die Liebe mitgesetzt. Noch mehr: in
der Liebe als der ethisch realisierten Vernunft ist Gott selbst
gegenwärtig. Zu den Kardinalsätzen von Tolstojs Lebenslehre
gehört 1. Joh. 4,16 b : „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt,
der bleibt in Gott und Gott in ihm." „Gott" und „Liebe" sind
vertauschbare Worte 5 3 . „Wo die Liebe ist, da ist auch Gott", so
ist eine von Tolstojs schönsten „Volkserzählungen" betitelt; der
Titel ist die genaue Wiedergabe dieser geschlossenen Korre-
lation.
Was Tolstoj unter Liebe versteht, dem wird im Zusammenhang
seiner Lehre vom Reich Gottes, speziell seiner Auslegung der
Bergpredigt, noch nachzufragen sein. Auf jeden Fall drückt sich
in der geschlossenen Korrelation von Gott und Liebe ein durch-
weg ethisches Verständnis der Religion — und zugleich des
„Lebens", das heißt der menschlichen Existenz aus. Auch hier
sucht Tolstojs Denken enge Anlehnung an die johanneischen
Schriften des Neuen Testaments; ganz in ihrer Linie liegt die
Ineinssetzung von „Leben" (zoee) und „Liebe" (agapee). Man
kann im Sinne Tolstojs eine dreifache Zuordnung, beinahe eine

50
dreifache Identität der Grundbegriffe vollziehen: Leben =
Liebe = Vernunft (Wahrheit).

Eine besonders durchsichtige Veranschaulichung der Identität von


„Leben" und „Liebe" gibt die bekannte Volkserzählung Wovon die
Menschen leben. — Der arme Schuster Semjon bringt eines Tages an-
stelle des erhofften Erlöses für seine Schuhflickerarbeit einen kaum
bekleideten unbekannten Gast nach Hause. Seine erzürnte Frau Mat-
rjona will dem Gast Nachtlager und Brot verweigern; sie haben ja
selbst kaum das Nötigste zu essen. Da erschrickt der Gast, nicht für
sich, sondern für die Schustersfrau. Auf ihrem finsteren Gesicht sieht
er das Zeichen des Todes. „Sie will mich wieder in die Kälte hinaus-
jagen, und ich weiß doch, wenn sie das tut, so wird sie sterben." Aber
Semjon sagt zu Matrjona: „denk an Gott", und sie überwindet sich,
dem Fremden Gastrecht und Brot zu gewähren. Jetzt atmet der Fremde
auf, jetzt ist der Tod vertrieben. Denn „wovon die Menschen leben"
und am Leben erhalten werden, das ist die Liebe.

Tolstojs Religiosität trägt, alles in allem, die Gesichtszüge eines


ehrenwerten ethischen Rationalismus. Wo er dieser praktischen
Lebenslehre gedankliche, wenn man will, philosophische Begrün-
dung und Form zu geben bemüht ist — und er hat das, von den
weitausgreifenden geschichts- und lebensphilosophischen Ex-
kursen in „Krieg und Frieden" an, vollends in den theoretischen
Schriften seit 1880 unermüdlich getan — 54, da trägt diese
Lebenslehre das Gepräge eines, aus naturalistischen und idealisti-
schen Motiven begrifflich anfechtbar ineinsgefügten, Monismus.
In der Geschichtstheorie des zweifachen Epilogs von „Krieg und
Frieden" zeigt dieser Monismus, wie schon im IL Kapitel ange-
deutet, betont deterministische (fatalistische) Gesichtszüge. Was
auch geschieht, das geschieht nach unwandelbaren natürlichen
Gesetzen — also nach Gottes Willen 55 . Darum kann Tolstoj
auch sagen „Es gibt keine Schuldigen", ebensowenig wie es Hel-
den gibt.
Aber man darf Tolstoj bei diesem fatalistischen Monismus nicht
so streng behaften, wie die scheinbare Allgemeingültigkeit der
einschlägigen Aussagen dem Leser nahelegt. Der Satz von der
unwandelbaren Gesetzlichkeit alles Geschehens im durchhin
„natürlichen", auch im menschlichen Leben, gilt für Tolstoj nur
als kritisches Prinzip gegenüber dem heillosen Irrtum, unser

51
Wille, unser Wünschen, unser nur scheinweise vernünftiges
Planen könne an dem natürlichen Gang des Geschehens Wesent-
liches verändern. Bevorzugte Formen dieses allgemeinmensch-
lichen Irrtums sind beispielsweise die heroische Geschichtsauf-
fassung oder der Glaube an einen manipulierbaren Fortschritt
der menschlichen Zivilisation, desgleichen auch das objektiv
heuchlerische Suchen nach „Sündenböcken" oder die selbst-
gerechte Aufteilung der Menschen in „Böse" und „Gute".
Für die Lebenspraxis des einzelnen Menschen ist demgegenüber
der monistische Fatalismus keinesfalls ein Naturgesetz. Für den
einzelnen, auf den es bei Tolstoj hier und jetzt entscheidend
ankommt, gilt im Gegenteil das strenge Gesetz des Entweder —
Oder, das unverbrüchliche Maß „gut oder böse". — In scharfer
Frontwendung gegen den Begriff der „geschichtlichen Größe"
sagt Tolstoj ( K r F r X I V , 19):

Für uns, die wir von Christus den Maßstab von Gut und Böse erhalten
haben, gibt es nichts, was nicht daran zu messen wäre. Wo keine
Schlichtheit, Güte und Wahrhaftigkeit ist, da ist auch keine Größe.

Nicht überall führt Tolstoj diesen unverbrüchlichen Maßstab auf


Christus zurück. Für ihn ist der Maßstab schon in der Vernunft
als dem für den Menschen verbindlichen Gesetz ursprünglich
gegeben. Wo Tolstoj von Vernunft spricht, ist ihr Begriff immer
schon ethisch verstanden. Noch mehr: sein Lebens- und Welt-
verständnis ist ethisch zentriert. Im Ethischen liegt das eigent-
liche Pathos seines Denkens wie auch seines Dichtens. Dieses
ethische Pathos wiederum verbindet sich mit einem ausgeprägt
kritischen und kämpferischen Temperament. Tolstoj begegnet
allen vorgefundenen Modellen und Konventionen der Wirk-
lichkeitsdarstellung wie der Verhaltensorientierung im zwischen-
menschlichen Wirklichkeitsfeld mit einer angeborenen Leiden-
schaft des Zweifels an ihrer Wirklichkeitsgemäßheit. Er nimmt
grundsätzlich Partei für die Seite der Wirklichkeit, die „man"
übersieht, und vor allem für die Menschen, die in jenen vor-
geformten Urteils- und Verhaltensmodellen benachteiligt wer-
den. Mit ungestümer Energie kehrt sich dieses kritisch-kämpfe-
rische Ethos gegen die Vorurteile — und Vorteile seines eigenen
privilegierten Standes, ja der Hauptgegenstand seiner Gewissens-

52
kritik ist sein eigenes Drinstehen in diesen angeerbten Privile-
gien und Vorbelastungen. In dem Moralisten Tolstoj lebt ein
Zug zum ethischen Dualismus. Er widersetzt sich zwar der
konventionellen Schwarz-Weiß-Malerei in der Beurteilung und
Klassifizierung menschlicher Charaktere. Aber der Wertgegen-
satz zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge gilt
für ihn nichtsdestoweniger absolut.
Fest verwurzelt ist die Neigung zu dualistischem Denken vor
allem in seiner Anthropologie. Mit wachsender Bestimmtheit
unterscheidet er am Menschen die „tierische" (animalische) und
die „geistige" Seinsweise. Von Nechljudow, der Hauptperson
des Romans „Auferstehung" heißt es:
In ihm steckten, wie in allen Leuten, zwei Menschen; der eine — der
geistige —, der für sich nur ein solches Heil begehrt, das auch anderen
Menschen zum Heil wäre, und der andere — der animalische —
Mensch, der nur für sich selbst das Heil sucht und bereit ist, für dieses
Heil das Heil der ganzen Welt zu opfern (I, 14)58.
Dieser anthropologische Dualismus, der auch in der Sprache der
neutestamentlichen Briefe gebräuchlich ist, grenzt, wie in man-
chen Partien des Neuen Testaments, so auch bei Tolstoj nicht
selten an den ontologischen Dualismus an, dessen klassische
religionsgeschichtliche Ausprägung die Gegenüberstellung einer
guten und einer bösen Gottheit in der iranischen Religion ist.
Von dort her ist der Dualismus auf verschiedenen Wegen einge-
strömt in das Misch- und Sammelbecken der spätantiken helle-
nistisch-orientalischen Religiosität, deren spekulativ-theosophi-
sche Ausprägung, die sogenannte Gnosis, auch christliche bzw.
nebenchristliche Bildungen hervorgebracht hat. Das Christen-
tum selbst hat, vor allem im Mönchtum, darüber hinaus aber in
der Formierung seiner Anthropologie und Ethik überhaupt,
asketische Motive aus diesem Traditionsstrom des ontologischen
Dualismus in sich aufgenommen. Zwar wurden die manifest
häretischen Formen dieses Dualismus, zunächst die verschiedenen
gnostischen Sekten, im 4. Jahrhundert der Manichäismus, aus der
Großkirche ausgestoßen. Aber als unterirdische Bewegungs- und
Beunruhigungskraft wirkt der asketische Dualismus in der Ge-
schichte des Christentums fort. Namentlich im Raum des öst-
lichen Christentums bilden sich Rand- und Sondergruppen, die

53
das Erbe der Gnosis und des Manichäismus, zugleich mit dem
Protest gegen die verweltlichte Großkirche, durch die Jahr-
hunderte weitertragen. Einen besonders günstigen Nährboden
bot für diese Sondergruppen die orthodoxe Staatskirche nach
der Liturgiereform des Patriarchen Nikon im 17. Jahrhundert
und erst recht nach der völligen Unterordnung der Kirche unter
den Selbstherrscher und seine Behörde, den „Allerheiligsten
dirigierenden Synod", unter Peter I. Neben dem „Raskol", den
sogenannten Altgläubigen, die schon die Nikonischen Reformen
als Werk des Antichrist verwarfen, bildeten sich im 18. und
19. Jahrhundert zahlreiche religiöse Sondergemeinschaften mit
spiritualistischen und weltpessimistischen, weithin auch asketi-
schen Zügen; die religiöse Absonderung von der „rechtgläu-
bigen" Staatskirche verband sich bei den Anhängern, zumeist
kleinen Leuten, weithin auch mit der Abkehr vom Staat, und
die harten Verfolgungen, denen diese Sekten staatlicherseits aus-
gesetzt waren, beförderten natürlich diese Staats- und weitab-
gewandte Haltung 5 7 . Eine von diesen Gemeinschaften, die
Duchoborzy (Geisteskämpfer), fand an Tolstoj einen wirksamen
Förderer und Fürsprecher. Ein Stück dieses sektiererischen Welt-
pessimismus und der ihm zugeordneten asketischen Wertset-
zungen ist auch in Tolstojs Denken lebendig; es berührt sich z.T.
mit der intensiven Einwirkung Schopenhauers wie mit den in-
dischen und fernöstlichen Überlieferungen, die er in den letzten
drei Jahrzehnten seines langen Lebens in sich aufnahm.

2. Die dichterische Konzeption des Teufels im Spätwerk

Die dualistische und weltpessimistische Unterströmung in Tol-


stojs Lebensgefühl schafft sich Raum in der dichterischen Kon-
zeption des Teufels. Es handelt sich, wie zu betonen ist, nicht
um einen Leitbegriff seiner religiösen Lehre, sondern um eine
dichterische Konzeption. In seiner „Lehre" hat alles, was nach
Metaphysik und „Mystik" schmeckt, keinen Raum; darin ist er
lebenslang dem Programm der „neuen Religion" von 1855 treu
geblieben. Trotzdem spielt die mythische Figur, das Ideogramm
des Teufels in der Spätdichtung Tolstojs (wie auch in seinen
Alterstagebüchern) eine gewichtige Rolle.

54
Die bündigsten Dokumente sind erst aus dem Nachlaß ver-
öffentlicht: die Erzählung Der Teufel (1889), in zwei vonein-
ander abweichenden Fassungen des Schlusses58, und die 1890
begonnene, erst 1898 abgeschlossene Erzählung Vater Sergej™.
Beide Erzählungen stehen in nahem Zusammenhang mit einem
der bekanntesten Werke der Spätzeit, der Kreutzersonate
(1889, Nachwort 1890). Dem Kreise dieser Teufels-Dichtung
gehört auch das bedeutendste der vier Dramen zu, „Die Macht
der Finsternis" (1886).
In diesen Dichtungen erscheint der Teufel, mehr oder weniger
verhüllt, als die mythische Grenzgestalt der christlichen Glau-
bensüberlieferung, nämlich als die quasi-persönliche Gegenmacht
Gottes. Für Tolstoj hängt nichts an dieser mythischen Vergegen-
ständlichung; ganz unmythisch, entmythologisiert, stellt sich
diese gegengöttliche Macht der Verführung zum Bösen dar in
der Erzählung Der gefälschte Coupon (1904).
In welchem Sinn der alte Tolstoj vom Teufel redet und dichtet,
ist sachlich genau vorausbezeichnet in Ev. Joh. 8,44. Hier werden
dem Teufel zwei Prädikate beigelegt, er heißt 1. ein Mörder von
Anbeginn und 2. der Vater der Lüge.
1. „Mörder von Anbeginn" ist der Teufel auch für Tolstoj. —
Das Leben hat einen Widersacher; er kommt von außen, als
fremde Gewalt, über das Lebendige, er hat seinen Sitz aber auch
im Lebendigen, im Menschen selbst. Daß der Feind in uns selbst
sitzt und wirkt, das ist sein ethischer Modus; auf ihn kommt es
dem Dichter eigentlich an. Diese ethische, man mag auch sagen
„vernünftige" Interpretation der lebensfeindlichen Gewalten ist
das Kernthema seiner religiös-sozialethischen Schriften wie der
Zentralgedanke seiner sogenannten Volkserzählungen. — Aber
auch der externe, der mythische Modus wird von dem Dichter
beschworen.
Am eindrücklichsten geschieht das in der tragischen Geschichte
von Frau Anna Karenina. Anna und ihr Geliebter, Graf Wron-
skij, haben beide fast gleichzeitig einen grausigen Traum gehabt.
Sie sahen „einen kleinen Bauern mit zerzaustem Barte", der sich
„in gebückter Haltung" an irgendeinem Gegenstande zu schaffen
macht und dabei ein paar französische Wörter vor sich hinsagt:
il faut le battre le fer, le broyer, le petrir, man muß es schlagen,

55
zerstoßen, kneten, das Eisen (IV, 2.3). Das Traumbild dieses
schrecklichen Bauern steht in gewolltem Zusammenhang mit dem
Erscheinen des Eisenbahners, der Frau Anna auf ihrer Rückreise
von Moskau nach Petersburg nachts im Halbschlaf stört und sich
an den Rädern des Waggons zu schaffen macht (I, 29.30). Als
sie, in den Anfängen der Schwangerschaft, von dem unheimlichen
Bauern träumt, wird ihr der Traum von dem Diener Kornej'
(noch innerhalb des Traumes) gedeutet: „Im Wochenbett wer-
den Sie sterben, Mütterchen, im Wochenbett." So kommt es
nicht. Doch viel schrecklicher wird Anna sterben. Gemartert von
dem „bösen Dämon" (VII, 12.26) grundloser Eifersucht 80 , wird
sie eines Tages sich selbst unter die Räder eines Güterzuges
werfen. Kurz vor dem bösen Ende wiederholt sich der Angst-
traum noch einmal (VII, 26), und auf ihrer letzten Fahrt wird
sie durch das Erscheinen eines „garstigen" Bahnarbeiters an ihn
erinnert (VII, 31). — Weder vorher noch nachher hat Tolstoj
ein Traumsymbol von solch archetypischer Mächtigkeit gebildet;
hier ist der unsichtbare „Mörder von Anbeginn", zweifach ver-
hüllt, in den Bereich des Sichtbaren hereingeholt.
2. Noch intimer kennt der Dichter den Teufel in dem anderen
Revier seiner mythischen Grenzgängerei, als den „Vater der
Lüge". Fast könnte man das Teufels-Ideogramm in Tolstojs
Sinn als die menschheitlich ausgeweitete Macht der Lüge defi-
nieren. Diese Macht bedarf aber zu ihrem Agieren immer der
Masken. Für den einzelnen, den sie betrügen will, ist die Maske
desto besser, je gefälliger sie sich gibt. In der größeren, der
gesellschaftlichen Sphäre ihrer Aktion tritt anstelle der gefälligen
Verkleidung die Faszination der Unwiderstehlichkeit. Lockung
und Drohung, Entzücken und lähmender Schrecken: zwischen
diesen beiden Polen spannt sich die Vielzahl der Masken, unter
denen der Teufel sein Handwerk treibt. — Natürlich läßt sich
diese Vielzahl nicht in ein System ordnen. Aber drei Masken
spielen in Tolstojs Teufelssymbolik eine bevorzugte Rolle. Die
erste, gegenständlich-drastisch anzuschauen, ist die Frau. Ab-
strakter gefaßt scheint die zweite: das Ineinanderspiel von
Staat und Kirche. Noch ungegenständlicher, darum desto gefähr-
licher ist die dritte Maske: der Selbstbetrug des Gewissens.

56
3. Die drei Masken des Teufels

Es ist unerquicklich, aber es muß gesagt werden: das unvergleich-


lichste, das geliebteste Werkzeug des Teufels in seinem schlimmen
Spiel mit dem einzelnen ist die Frau, sprachlich noch plastischer:
das Weib. Mulier instrumentum diaboli. Das ist keine Tolstojsche
Prägung; mit diesem Verleumdungsprädikat haben die Theo-
logen, die Lehrer der frühen Christenheit, angefangen schon im
1. Brief an Timotheus 2,14 f., das weibliche Geschlecht beladen.
Aber es ist merkwürdig: Tolstoj hat sich sonst von der Kirchen-
lehre entschlossen losgemacht, hat geflissentlich alle Beweis-
mittel zusammengetragen für seine Behauptung, zwischen der
Kirchenlehre seit Konstantins Zeiten und der ursprünglichen
Lehre Jesu klaffe der vollkommene Widerspruch. Nur in diesem
einen Punkte, dem Mißtrauen gegen das Weib, geht er ganz in
den Bahnen der Kirchenväter, ja er übertrifft sie noch an Schärfe,
er folgt, jedenfalls in den genannten Späterzählungen, der
strengsten mönchisch-eremitischen Observanz. Sicher hat er seine
absonderliche Meinung von der essentiellen Gefährlichkeit des
weiblichen Geschlechts nicht dorther gelernt; die Übereinstim-
mung ist immerhin nachdenkenswert.
Bündigsten Ausdruck hat dieses Mißtrauen gegen die Frau in
der Geschichte des Vater Sergej gefunden.
Sergej, ehemals kaiserlicher Gardeoffizier mit einer glänzenden Zu-
kunft, wurde in seinem Ehrgeiz tödlich verletzt, als seine Braut ihm
gestand, sie sei einst die Geliebte des Zaren gewesen. Ersatzweise
wählte sein Ehrgeiz sich nun die Ruhmespalme des makellosen Aske-
ten und Büßers zum Ziel. Er wurde Mönch und Einsiedler, er bestand
siegreich eine raffinierte erotische Verführung, die möglicherweise selbst
dem Heiligen Antonius zum Fallstrick geworden wäre. Desto schmäh-
licher unterliegt er einer zweiten sexuellen Verführung — allerdings
mit dem Gewinn, daß sein gottwidriger Hochmut endgültig gebrochen
wird. Jetzt gibt er sich mit dem Leben eines demütigen Pilgers zu-
frieden, wandert von Dorf zu Dorf, überwindet alle Herzen durch
seine Sanftmut — „und allmählich beginnt Gott sich ihm zu offen-
baren."
Vater Sergej ist eine Schlüsselfigur in Tolstojs Gesamtwerk.
Seine Geschichte hat mit der Erzählung Der Teufel ein gemein-
sames Wurzelgeflecht. Diese letztere ist, nach authentischen

57
Dokumenten, die späte Sublimierung, allerdings auch tragische
Dramatisierung eines persönlichen Erlebnisses des Dichters in der
Zeit unmittelbar vor seiner Heirat. Tolstoj hat für seine Person
die Anfechtung besser bestanden als Jewgenij Irtenjew in der
„Teufels"-Geschichte sie besteht. Doch das nimmt der Erzählung
nichts von ihrem unmenschlichen Rigorismus. Daß Stepanida,
die arme Arbeiterfrau, weil der Herr Baron auch als Ehemann
nicht von ihr loskam, in der Erzählung wörtlich mit dem „leib-
haftigen Teufel" identifiziert wird, das ist ebenso schaurig wie
die Unverfrorenheit, mit der Posdnyschew, der Ich-Erzähler
der „Kreutzersonate", alle Schuld an seiner Ehekatastrophe auf
seine Frau abwälzt, die er unterdessen eigenhändig umgebracht
hat. — N u r mit befremdetem Staunen kann man vermerken,
daß Tolstoj das zelotische Nachwort zur „Kreutzersonate", diese
mit Gewissenspathos vorgetragene Ächtung der Geschlechtsliebe,
an die Ehetragödie angehängt hat, die seitens des Erzählers nur
als Dokumentation seines (zeitweiligen) sexuellen Überdrusses
zu begreifen ist. Die „biblische" Begründung dieser Absage an
die Geschlechtsliebe auf Ev.Matth. 5,28; 19,10—12 macht die
Sache nicht besser.
Die „Kreutzersonate" mitsamt den genannten Nachlaß-Erzäh-
lungen ist nicht nur ein (lebensgeschichtlich bedingtes) Aus-
nahmewort. Die Spuren dieser bitterbösen Einschätzung der
Frau als des auserwählten Teufels-Rüstzeuges ziehen sich durch
das ganze Werk. Schon in „Krieg und Frieden" hat sie einen
Sprecher an dem alten Fürsten Bolkonskij. Ein Stück aus dem
vertraulichen Gespräch des Alten mit seinem jung verheirateten
Sohn vor dessen Abgang zum Feldzug von 1805 lautet so:
„Schlimme Sache, was?" — Was ist schlimm, Vater? — „Die Frau",
sagte der alte Fürst kurz und bedeutsam. — Das verstehe ich nicht,
sagte Fürst Andrej. — „Ja, da ist nichts zu machen, Freundchen",
sagte der Fürst. „Sie sind alle so, wen man auch heiratet, es ist immer
dasselbe" (I, 28)«1.
Wie Tolstoj bei solchem Mißwollen gegenüber der Frau fünf-
zehn Jahre lang selbst eine glückliche Ehe führte, wie er mit der
Cousine Alexandra über Jahrzehnte und über tiefe sachliche
Gegensätze hinweg eine beiderseits bereichernde Freundschaft
halten konnte, wie er schließlich in „Krieg und Frieden" das

58
vollendet schöne Frauenporträt der Natascha Rostow zu bilden
vermochte, das ist sein Geheimnis. Noch staunenswerter ist viel-
leicht, daß er in dem Roman, dessen Haupthandlung die Un-
treue einer Ehefrau zum Gegenstand hat, in „Anna Karenina",
das Bild dieser unglücklichen Frau, unbeschadet der Problematik
ihres Charakters, nicht im geringsten abschätzig oder zweideutig,
im Gegenteil bis zum Ende liebens- und mitleidenswert hin-
stellt. Widersprüchlich steht beides nebeneinander, dieses tiefe
Verstehen von Frauenseelen und jene bestürzende Ungerechtig-
keit gegenüber dem anderen Geschlecht 82 .
Wie es um die zweite Teufelsmaske, das Bündnis der Autoritäten
von Staat und Kirche bestellt ist, darauf ist im letzten Kapitel
zurückzukommen. — Die janusköpfige zweite Teufelsmaske ist
umspielt von einer offenen Reihe der Hilfsmasken. Die bedeu-
tendsten unter ihnen sind das Recht, die Wissenschaft, der gesell-
schaftliche Fortschritt. In einer der (seltenen) Spätdichtungen,
die dem angeborenen, doch in der Spätzeit moralisch gedrossel-
ten Humor Tolstojs Raum geben, dem allegorischen Märchen
Die Zerstörung der Hölle und ihr Wiederaufbau (1902) M wird
eine groteske, aber auch nahezu systematische Heerschau über
diese Hilfsmasken oder Unterteufel gehalten. Dreizehn Hilfs-
teufel stehen hier dem obersten Teufel, Beelzebub, zu Dienst:

1. Der Teufel des technischen Fortschritts. 2. Der der Arbeitsteilung.


3. Der Teufel der Verkehrswege. 4. Die Medizin. 5. Die Buchdrucker-
kunst. 6. Die Kunst. 7. Die Kultur. 8. Die Erziehung. 9. Die Besse-
rungsanstalten. 10. Die Betäubung (durch Alkohol und Tabak). 11. Die
Wohltätigkeit. 12. Der Sozialismus. 13. Die Frauenemanzipation.
Um die Groteske vollständig zu madien, rangieren über dieser Truppe
der dreizehn Hilfsteufel noch zwei vornehmste Teufel: der Pelerinen-
und der Talarteufel, das heißt (wie uns erklärt wird) die zwei ver-
brüderten Höllengeister Kirche und Wissenschaft. Schließlich erscheint
in der obersten Stufe der teuflischen Funktionärshierarchie zum Über-
fluß noch der „schwarzbraune Weibsteufel".

Man könnte diese ganze Hierarchie, diese Phänomene der


zweiten Teufelsmaskierung, auch die Gesellschafts- oder Völker-
teufel nennen. Dann wird hinter allem fast übermütigen Spott
des allegorischen Märchens der schwere Ernst von Tolstojs
Gesellschafts- und Zivilisationskritik sichtbar.

59
An dieser zweiten Maske des Teufels interessiert innerhalb des
relativ fest geschlossenen Kreises der dichterischen Teufelssym-
bolik vor allem dies: sie verrichtet ihren Dienst immer arbeits-
teilig mit der dritten Maske, dem Selbstbetrug des Gewissens.
Staat und Kirche mit ihren Hilfsorganen, von Tolstoj oft unter
dem Generalnenner der „Gewalt" zusammengefaßt, könnten
ihre durchschlagenden Erfolge nicht gewinnen ohne die stetige
Selbstumsetzung in den Gewissensbetrug. Die Gewalt und die
ihr jeweils hörige Ideologie vergeistigt sich zu Gesinnungen und
Überzeugungen. Erst vermöge dieser geistigen Umsetzung wird
das Diktat des Polizeistaates, die kirchliche Rechtsprechung oder
ersatzweise die quasi-religiöse sozialistische Wirtschafts- und
Heilslehre für den einzelnen Menschen zur persönlichen Ge-
wissensautorität. Dieser Umsetzungsvorgang von massiver Ge-
walt zu moralischer Autorität ist geradezu das Geheimnis der
bis heute, auch „nach Christus" ungebrochenen Teufelsherrschaft.
Tolstoj gebraucht für diesen, innerhalb der Strategie des Bösen
entscheidenden, Vorgang der Umsetzung gern die Kennworte
„Suggestion", „Einschläferung", „Hypnose". Der beste Gehilfe
der von Kirche und Staat einmütig gewollten Gewissensperver-
sion ist für die große Mehrzahl der Untertanen das Teufelchen
der Betäubung: der Schnaps und der Tabak. Für die oberen
Stufen dieser Zauber-Hochschule ist eine verfeinerte Form der
Betäubung nötig und verfügbar, nämlich die Kunst, allermeist
die Musik, von der primitiven Magie der schmetternden Militär-
musik bis hinauf zu den musikalischen Gipfelmöglichkeiten,
etwa zu Beethovens „Kreutzersonate" oder zu Richard Wagners
raffinierten Musikdramen.
Absurde bilderstürmerische Einfälle und scharfsichtige Wahr-
nehmungen zur psychologischen Technik der Menschenlenkung
sind in dieser Teufelssymbolik schwer entwirrbar vermischt. Wo
die Grenze verläuft zwischen den zivilisationsfeindlichen Affek-
ten dieses genialen Bauern — und den sozialanthropologischen
Tiefblicken des zeitüberdauernden Weisen, der in den Bauern
von Jasnaja Poljana verkleidet ist, das ist auch im Zeitalter der
zweiten technischen Revolution, das völlig jenseits von Tolstojs
Gesichtskreis lag, nicht so sicher zu bestimmen. Wenn Tolstoj mit
seiner Entdeckung vom essentiellen Selbstbetrug des Gewissens

60
als der dritten, undurchsichtigsten „Maske des Teufels" recht
behält, so ist auch seine Einsicht in das zielstrebige Zusammen-
spiel dieses eigentlich diabolischen Gewissensbetruges mit der
suggestiven Mächtigkeit der öffentlichen Institutionen, in seiner
Sicht also vor allem des Staates und der Kirche, nicht von der
H a n d zu weisen. Wir müssen heute die Generalformel für die
gewissensformenden und -manipulierenden öffentlichen Mächte
nur wesentlich weiter und elastischer fassen. Weder Kirche noch
Staat haben in unserem Jahrhundert solch eine unwidersprech-
liche Autoritätsvollmacht, wie Tolstoj sie für das zaristische und
patriarchalische Rußland seiner Zeit voraussetzen konnte.
Die angespannte Denk- und Herzensarbeit, die Tolstoj während
seiner letzten drei Jahrzehnte an die Entlarvung der angemaßten
Gewissensautoritäten wandte, wird auch durch den stattlichen
Einschlag von hartnäckigem Eigensinn und fanatischer Unge-
rechtigkeit nicht diskreditiert. Soziologen und Theologen haben
es heute leicht, Tolstojs provokative Kampfthesen zu wider-
legen. Doch keine Widerlegung seiner Irrtümer und Übertrei-
bungen dispensiert uns von dem Gewissensappell, der dieser
Gigantenarbeit an der Entlarvung des Bösen fortwirkend inne-
wohnt.

V. K a p i t e l

D a s Reich Gottes in uns

Der religiöse Grundantrieb in Tolstojs Denken und Dichten ist


sein unbedingter Wille zur Wahrheit, einer Wahrheit, die sich
verwirklicht im niemals nachlassenden Aufspüren und Auf-
decken der Unwahrheit, des essentiellen Selbstbetruges. Die
Wahrheit, sagten wir, ist nicht nur der Held, sondern beinahe
der Gott Tolstojs. So hat er selbst es freilich nicht ausgesprochen.
Für seinen Gottesglauben maßgebend ist die johanneische Gleich-
setzung von Gott und Liebe. Zwischen diesen beiden Gottes-
prädikationen Wahrheit und Liebe steht, gleichsam vermittelnd,
eine dritte, die Ineinssetzung Gottes mit der Vernunft. Der
eigentliche Ort der Vernunft, so wie Tolstoj sie versteht, ist
allerdings nidit sowohl die Ratio des diskursiven Denkens als

61
das „Herz" •*, Gegenüber der zünftigen Wissenschaft ist seine
Vernunft aufs äußerste mißtrauisch. Ebenso bestimmt aber
schließt sie jeden „Aberglauben" an supranaturale Wunder aus,
und sie gebärdet sich weite Strecken lang durchaus rationa-
listisch.
Diese Dreiheit der Motive in Tolstojs Religiosität und seinem
ihr entsprechenden Gottesverständnis wird im Spätwerk unter
der Chiffre „Reich Gottes" integriert. Er hält sich dabei vor
allem an das Wort Jesu, wie es Evang.Luk. 17,20 b . 21" über-
liefert ist: „Siehe das Reich Gottes ist in eurer Mitte", und er
versteht das griechische Ortsadverb entos hymoon im Einklang
mit der verbreiteten älteren Auslegung, die auch in Luthers
Übersetzung „inwendig in euch" festgehalten ist, „innerlich",
nämlich unter Abweisung jedes äußerlich, zeitlich oder räumlich
fixierten Kommens dieses Gottesreiches (vgl.Luk. 17,20 b .21°) 65 .
In dieser Deutung ist das Jesuswort zum Titel des zusammen-
fassenden religiös-sozialethischen Buches von 1893 geworden:
Das Reich Gottes ist inwendig in euch, erläutert durch den
Untertitel: „Das Christentum als eine neue Lebensauffassung,
nicht als eine mystische Lehre", eine ziemlich getreue Wieder-
aufnahme der Idee einer „neuen Religion" im Tagebuch von
1855. — In diesem Doppelthema verbinden sich zwei Leit-
gedanken, die Innerlichkeit (Spiritualität) seines Gottesverständ-
nisses und (durch die Rede vom Reich Gottes bezeichnet) der
praktisch-ethische Charakter seiner Religiosität, im besonderen
ihr enger Zusammenhang mit seiner grundsätzlichen Sozial- und
Kulturkritik.

1. Gott in mir

Der erste Eindruck, den der Leser von diesem Religions- und
Gottesverständnis Tolstojs empfängt, geht dahin, daß Religion
und Ethik hier beinahe ganz ineinsfallen. Der Eindruck ist in-
sofern richtig, als der Glaube an Gott für ihn sich im Tun des
Menschen verwirklicht und bewahrheitet. Gott ist gegenwärtig
in dem hier und jetzt zu leistenden Gehorsam gegenüber dem,
in sich selbst evidenten, „Gesetz" oder „Willen", dessen Inhalt
mit den Leitworten Liebe, Selbstvervollkommnung, Überwin-

62
düng des animalischen Ich durch das geistige (göttliche) Selbst
umschrieben wird. „Es gibt keinen Gott für den, der so wie ich
für den Ruhm vor den Menschen gelebt hat", spricht Vater
Sergej, ganz in Tolstojs Namen, im vorletzten Akt seiner Ge-
schichte zu sich selbst und fährt fort: „Von jetzt an will ich Ihn
suchen." Am bestimmtesten tritt dieser ethische Grundzug von
Tolstojs Religiosität in der Antithese gegen alles „äußerliche",
„mystische", kultische Religionswesen heraus. Er steht hier der
moralischen Auslegung des Christentums in Kants „Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" nahe. Tolstoj hat
nicht umsonst Kant ausgiebig studiert, und sein Name begegnet
neben dem Schopenhauers unter den angeführten philosophi-
schen Gewährsleuten am häufigsten.
Sowohl diese ethische wie auch die mit ihr eng verknüpfte ratio-
nale Komponente in Tolstojs Gottes- und Religionsbegriff geben
Anlaß zu ernstlicher Infragestellung seines genuin religiösen
Charakters. Schon in dem Kapitel „Der Kampf mit dem Tode"
wurde K. Hamburgers einschlägige Kritik angeführt; sie versteht
Tolstojs Gottesgedanken (in nächster Nachbarschaft zu seinem
Begriff des Lebens) als ein sekundäres gedankliches Postulat,
als eine Schutztheorie gegenüber der Bedrohung durch den Tod
oder, was dasselbe ist, gegenüber der Verzweiflung an einem
Sinn des Lebens.
Diese Kritik ist desto bedenkenswerter, als sie nicht aus einem
theologischen Vorurteil, sondern aus einer höchst sorgsamen
Befragung von Tolstojs Texten und Selbstzeugnissen kommt.
Sie trifft auch genau die Schwächen und Undeutlichkeiten in
Tolstojs eigenwilliger lebens- und religionsphilosophischer Dok-
trin. Immerhin wird sie einiger Einschränkung bedürfen. Tol-
stojs „Gott" ist nicht nur eine theoretische Konstruktion zwecks
Abwehr der nihilistischen Verzweiflung. Hinter den bemühten
und anfechtbaren religionstheoretischen Reflexionen steht eine
religiöse Substanz, die ihnen an Echtheit überlegen ist. Man
wird sie vorläufig am besten so kennzeichnen, daß Tolstoj
lebenslang jedenfalls ein redlicher Gott-Sucher war.
Mit schöner Unmittelbarkeit bekundet sich dieses grüblerische
Gottsuchen in der Darstellung von Lewins religiöser Krisis und
ihrer Lösung (AK VIII, 8—13). Wer ist Gott? und was ist der

63
Sinn meines Lebens? Diese zwei Fragen sind eigentlich nur zwei
Aspekte derselben einen Existenzfrage, auf die Lewin eine Ant-
wort finden muß, um weiterleben zu können. Die Erleuchtung
kommt ihm mit der Entdeckung, daß im Grunde ja alle Men-
schen immer schon gewußt haben (und auch er selbst mitten
unter den Zweifeln und Verzweiflungen zuinnerst gewußt hat):
der Sinn des Lebens verwirklicht sich im Da-sein für die anderen.
Man lebt „für Gott" und „für seine Seele", indem man tut, was
man den Mitmenschen (im engeren wie weiteren Sinne) schuldig
ist.
Ob Lewins Erleuchtung ein für allemal standhält, das ist ihm
selbst schon bei den ersten mitmenschlichen Proben nicht völlig
gewiß (vgl. V I I I , 19 Ende). Erst recht gibt es für Tolstoj selbst
keine für immer gültige Erleuchtung. Eben da, wo „Anna Kare-
nina" endet, setzt sein unruhiges Suchen und Fragen nach Gott
mit neuer Intensität ein. Die „Beichte" von 1879 ist nicht nur
zeitlich, sondern auch sachlich dem Abschluß von „Anna Kare-
nina" dicht benachbart. Anderthalb, ja zwei Jahrzehnte später
finden wir den Siebzigjährigen in den (uns deutsch zugänglichen)
Alterstagebüchern von 1895 bis 1903 noch und wieder von den-
selben Fragen umgetrieben. Merkwürdig rational — und in der
rationalen Reflexion zugleich auch fast rührend unbeholfen zeigt
sich namentlich in den Tagebüchern das niemals endende Mühen
um die rechte Definition Gottes. Keine, die er sich zurechtlegte,
befriedigt ihn, er kann sich nie genug tun und wird nie ver-
drossen, deutlicher zu fassen, was ihm vorschwebt. Aus dem Text
der Alterstagebücher und anderen Aufzeichnungen haben seine
literarischen Sachwalter im zensurfreien Ausland, Tschertkow
und Tschumikow, schon zu Tolstojs Lebzeiten zwei von ihm
autorisierte Sammlungen von Aphorismen und Reflexionen
zusammengestellt: Was ist Religion? und Gedanken über
Gott6«.
Tolstoj zeigt sich im Spiegel dieser Aufzeichnungen als ein
ebenso passionierter wie unmethodischer Denker. Der Gottes-
begriff, um den sie kreisen, trägt weitgehend pantheistische und
(trotz der Verwahrung gegen die Mystik) auch mystische Züge.
Gott ist das Universum des Lebendigen, das All-Leben. Vor
allem aber ist Gott in mir, in uns. Nichts wissen will Tolstoj

64
von einem „persönlichen" Gott; denn Persönlichkeit ist für ihn
die an den Körper, das animalische Leben gebundene Indivi-
dualität, die der geistige, der wachgewordene Mensch als die
beengende Fessel seines Daseins erfährt. So wenig nach seiner
Überzeugung eine persönliche Unsterblichkeit dem wahren
Menschsein gemäß wäre, kann Gott ohne Verkennung seines
Gottseins persönlich gedacht werden.
Doch hinter diesen Reflexionen verbirgt sich, zuweilen auch
deutlich heraustretend, eine Gottes-Erfahrung, die in ihrer Echt-
heit nicht angezweifelt werden kann. Wenngleich nicht persön-
lich, ist Gott doch der „lebendige Gott" 6 7 , wie er schreibt: „ein
Wesen, an das man sich wenden kann . . . Es gibt eine Bezie-
hung zwischen mir, der begrenzten Persönlichkeit, und dem
unergründlichen, aber existierenden Gott." • Bestätigt wird
diese trotz allen Vorbehalten persönliche Gottesbeziehung durch
Gorkijs Erinnerungen. Zur Beurteilung eines Menschen ist für
Tolstoj vor allem die Frage widitig: glaubt er an Gott?; ja er
kann einem näher bekannten Besucher direkt ins Angesicht die
Frage stellen: „glauben Sie an Gott?" oder „warum glauben Sie
nicht an Gott?" 6 9 .
Vor allem aber: Tolstoj hat einen Gott, zu dem er betet. —
Allerdings verwirft er das „törichte" Bittgebet um Dinge, die
das persönliche Wohlergehen oder auch die Rettung aus eigener
Gefahr betreffen. Er betet zu dem „wahren göttlichen Selbst"
in und hinter dem „tierischen" Ich 70 , daß Gott ihn auf dem
Weg des Gehorsams führen und erhalten möge. Alle gequälte
Gottes-Reflexion, alle rabiate Auflehnung gegen die dogma-
tische Gotteslehre der Kirche mitsamt den grimmigen Ausfällen
gegen den unter dem Namen Gottes getriebenen Volks- wie
Selbstbetrug bleibt umgriffen von einem beständigen Leben im
Gebet. Kaum eines von den bemühten Selbstgesprächen der
Tagebücher, das nicht ausklingt in den Gebetsruf „Herr hilf
mir". „Gott vergib", „Herr, gib mir Kraft, deinen Willen zu
tun". Eine eindrucksvolle Probe für dieses Leben im Gebet gibt
das Schlußstück der „Gedanken über G o t t " 7 1 :
Was bin ich hier, den man in die Welt geworfen hat? An wen soll ich
mich wenden? bei wem Rat suchen? — Bei den Menschen? Sie wissen
nicht, sie lachen, sie wollen nicht wissen. Aber ich weiß, sie glauben

65
selbst nicht, was sie sagen. Sie quälen sich ebenso wie ich unter der
Furcht vor dem Tode, vor sich selbst und vor Dir, Herr, den sie nicht
nennen wollen. — Auch ich habe Dich lange nicht genannt... ich
kenne den Betrug und weiß, wie er das Herz drückt, wie schrecklich
das Feuer der Verzweiflung . . . brennt in dem Herzen dessen, der
Dich nicht nennt.
Aber, Herr, ich habe Dich genannt, und meine Leiden haben ein Ende
genommen. Meine Verzweiflung ist nicht mehr. Ich fluche meiner
Schwäche, ich suche Deinen Weg, aber ich verzweifle nicht mehr. —
Dein Weg ist klar ... Dein Joch ist gut und Deine Last ist leicht. Ich
aber habe lange außerhalb Deiner Wege geirrt. In den Sünden meiner
Jugend hatte ich in Hochmut Deine Last abgeworfen . . . und mich
entwöhnt, Deine Wege zu wandern. Und mir ist noch jetzt schwer
sowohl Deine Last wie Dein Joch, obwohl ich weiß, daß sie gut und
leicht sind. — Herr, vergib mir das Irren meiner Jugend und hilf mir,
Dein Joch ebenso freudig zu tragen, wie ich es auf mich nehme.
Zeugnisse wie diese lassen hinter allen religiösen Reflexionen
und auch Negationen eine persönliche Frömmigkeit erkennen,
die respektiert werden will und an der eine wohlberatene theo-
logische Kritik sich nicht vergreifen wird 7 2 .

2. Die Lehre Christi und ihre Verfälschung, die Kirche


Die Frage stellt sich enger und bestimmter: ob und inwiefern
Tolstojs Frömmigkeit christlicher Glaube ist. Auch dazu liegt
uns sowohl aus den religiös-ethischen Schriften der Spätzeit
wie aus dem dichterischen Werk schon der mittleren Zeit eine
Fülle von Zeugnissen vor. Insgesamt besagen sie jedenfalls eines
mit Bestimmtheit: Tolstoj will durchaus ein Christ sein. Er läßt
jedoch sein Christentum nicht messen an den kirchlichen Be-
kenntnissen und an der Frömmigkeits- und Gottesdienstpraxis
des orthodoxen, überhaupt alles kirchlichen Christentums. Viel-
mehr steht sein Ja zum Evangelium Jesu Christi, zur Lehre
Christi, wie er sich ausdrückt, in bewußtem und schroffem
Widerspruch zu der gesamten kirchlichen Tradition seit dem
4. Jahrhundert. Das Schwergewicht seiner denkerischen und
wissenschaftlichen Arbeit während der etwa zwölf Jahre zwi-
schen 1878 und 1889, der zuliebe er sein dichterisches Schaffen
zeitweise ganz ruhen ließ, liegt auf dem Bemühen, das wahre
ursprüngliche Evangelium Jesu von der systematischen Ver-

66
fälschung durch die gesamte Geschichte der christlichen Kirche
und Lehre zu reinigen.
Was versteht aber Tolstoj unter der „Lehre Christi"? — Sie ist,
wenngleich im einzelnen schon hier durch abergläubische Zu-
taten und Mißdeutungen getrübt, im Ganzen der vier Evangelien
erhalten. Diese Lehre Christi, die er in der „Übereinstimmung
und Auslegung der vier Evangelien" (1882) wissenschaftlich
rekonstruiert zu haben meint, ist die reine Wahrheit — nämlich
die, die „getan" sein will (Ev. Joh.3,21; l.Joh. 1,6) und ohne
gehorsames Tun nicht erkannt werden kann (Joh. 7,17). Sie
beansprucht aber nicht, so fügt er hinzu, die alleinige und aus-
schließliche Wahrheit zu sein. Alle großen Lehrer der Mensch-
heit haben dieselbe Wahrheit verkündet, „die Lehrer der Brah-
manen, die jüdischen Propheten, aber auch Confucius, Marc
Aurel, Sokrates, Epiktet und alle wahrhaften Weisen" 73 , und,
wie er anderwärts erklärt, auch Buddha, ebenso aber auch Kant
und Schopenhauer, sie alle stimmen im Wesentlichen mit Jesus
überein. Der Einklang greift noch viel weiter: im Grunde weiß
jeder Mensch, „daß im Menschen ein göttliches Licht leuchtet,
das vom Himmel kommt, und daß dieses Licht die Vernunft
ist; daß man ihm allein dienen und in ihm allein das Heil
suchen muß" 7 4 . Darum kommt es für Tolstoj auf die Person
Jesu Christi als solche nicht entscheidend an. Selbst wenn die
Gelehrten recht hätten, die seine Person für eine legendäre
Erdichtung halten, die in den Evangelien überlieferte „Lehre"
bliebe von ihrer Kritik unberührt, weil sie die alte und immer
neue ewige Wahrheit ist. — Wenn das Christentum, so wie es
sich in den Schriften des Neuen Testaments bezeugt, eine per-
sönliche Treu- und Glaubensbindung an Jesus Christus bedeutet,
so ist die Frage nach Tolstojs Christenglauben entscheidend
schwerer positiv zu beantworten als die nach seiner Frömmig-
keit. Wiederum verwehrt uns seine persönliche Überzeugung,
Christ zu sein, das Recht, ihm das Christentum abzusprechen.

Exkursweise soll hier nur einiges Nötigste zu der wissenschaftlichen


Bemühung Tolstojs um die Wiederherstellung der reinen Lehre Christi
notiert werden. — Tolstoj, der schon zu Anfang der 1870er Jahre das
Griechische gründlich nachgelernt hatte, scheute keine Mühe, sich unter
Anziehung aller ihm erreichbaren wissenschaftlichen Hilfsmittel die

67
zu seiner Zeit geltenden Grundsätze neutestamentlicher Text- und
Literarkritik anzueignen, benützte auch zahlreiche Kommentare
und Geschichtsdarstellungen der englischen wie der deutschen prote-
stantischen Theologie, nahm die Ergebnisse allerdings nur in einer
souverän-willkürlichen Auswahl derjenigen Autoren auf, die seinem
praktisch-ethischen Vorverständnis der Predigt Jesu Bestätigung ga-
ben.
Lehrreiche Aufschlüsse über diese exegetischen und kirchengeschicht-
lichen Studien gibt das Buch von Franz-Heinrich Philipp, Tolstoj und
der Protestantismus ( = Marburger Abhandlungen zur Geschichte und
Kultur Osteuropas, Bd.2), Gießen 1959; durch Philipp wird die ältere
Arbeit von Joh. Ackermann, Tolstoj und das Neue Testament (Theol.
Diss.), Leipzig 1927 stattlich ergänzt, teilweise auch korrigiert. —
Obwohl Philipp urteilt, Tolstojs „religiöser Standort nach 1880" sei
„genuin biblisch", zeigt gerade seine verdienstliche Untersuchung, wie
eklektisch dieser Autodidakt in der Auswertung seiner exegetischen
Gewährsmänner verfuhr. — Zweifellos bestehen breite Zusammen-
hänge zwischen Tolstojs Bemühen um die Erhebung der reinen „Lehre
Christi" und der historisch-kritischen Evangelienforschung des 19.
Jahrhunderts. Auch seine Anschauung vom Reich Gottes hat zumindest
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem rein ethischen Reich-Gottes-Begriff
A. Ritschis (den er selbst kaum gekannt hat). Doch darf man diese
Einwirkungen und Analogien nicht überschätzen. Mindestens in zwei
Stücken unterscheidet sich Tolstojs Vorstellung von der Lehre Christi
deutlich von der zeitgenössischen protestantischen Evangelienfor-
schung, 1. in der starken Einzeichnung der johanneischen Schriften in
sein Bild der Predigt Jesu, 2. in seiner völligen Ignorierung der Wende
in der neutestamentlichen Wissenschaft, die mit der Wiederentdeckung
des eschatologischen Charakters der Predigt vom Reich Gottes durch
Joh. Weiß einsetzte.

Das maßgebliche Summarium der Lehre Christi, so wie Tolstoj


sie verstand, ist die sogenannte Bergpredigt, Ev. Matth. 5—7,
und innerhalb ihrer vor allem die sechs „Antithesen" Matth.
5,21—48, in denen Jesus, nach der Matthäusüberlieferung, seine
neue Botschaft der bisher gültigen jüdisch-synagogalen Lehr-
tradition schroff entgegensetzt. Zuerst in der Schrift „Was ist
mein Glaube?" (1883/84) faßte Tolstoj den Inhalt dieser Anti-
thesen in fünf Gebote zusammen 75 :
Du sollst nicht zürnen mit deinem Bruder
Du sollst dich nicht scheiden von deinem Weibe

68
Du sollst niemandem einen Eid leisten
Du sollst dem Bösen nicht widerstehen
Du sollst alle Menschen lieben (auch diejenigen, die nicht
deine Volksgenossen sind).

Unter diesen fünf Geboten erhält den Hauptton das vierte du


sollst dem Bösen nicht widerstehen, mit dem oft wiederholten
erläuternden Zusatz: nicht mit Gewalt, sondern immer nur
durch Nicht-Beteiligung an jeder Art von Gewaltübung. Dieses
für Tolstoj wichtigste Gebot wird häufig, ja fast doktrinal mit
dem Gebot der Liebe gleichgesetzt, obwohl dieses auch in der
Fünferreihe seinen besonderen, den fünften Platz erhält.
Diese Gleichsetzung ist auffällig, weil sie das Schwergewicht des
(positiven) Liebesgebots in eine negative Weisung, ein Verbot
zu verlagern scheint. Man würde Tolstoj unrecht tun, wenn
man ihn bei dieser problematischen Gleichsetzung grundsätzlich
behaften wollte. Die sogenannten Volkserzählungen, beispiels-
weise die kostbare Geschichte „Die beiden Alten" oder die
Legende „Wo die Liebe ist, da ist auch Gott" 76 , ebenso die große
Erzählung „Herr und Knecht" legen die Liebe zum Nächsten
ganz positiv und personal aus. Man kann indes nicht über-
sehen, daß in den Lehrschriften der Spätzeit das Liebesgebot
in erster Linie die Weisung zum konsequenten Verzicht auf
Gewalt besagen soll. Mit dieser Weisung greift die Lehre Christi
nach dem Tolstojschen Verständnis über die personal-zwischen-
menschliche Sphäre hinaus auf die transpersonal-gesellschaftliche
Welt, allerdings unter eigentümlicher Verkürzung der perso-
nalen Grundbedeutung von „Liebe". Das Verbot jedes Mittuns
bei der Gewaltübung ist Tolstojs Generalanweisung für die
Reinigung und Erneuerung des menschheitlichen Lebens über-
haupt; wenn man will, ist dies die politische Ausweitung des
Liebesgebots. Diese Formulierung wäre freilich nicht im Sinne
Tolstojs. Denn in seiner Sicht kann die Erneuerung der mensch-
lichen Gesellschaft nur mit dem Entschluß des einzelnen an-
fangen, die heute vom Staat, unter Billigung und Sanktionie-
rung der Kirche, geforderte Mitwirkung an der Gewalt-Ord-
nung des öffentlichen Lebens zu verweigern: kein Wehrdienst!
keine Mitarbeit im Gerichtswesen und an den polizeilichen

69
Hilfsorganen der Staatsgewalt! darum auch Verweigerung der
Steuerleistungen an den Staat, der mit diesen Steuergeldern
seinen Machtapparat unterhält! Dieser Entschluß zum Gewalt-
verzicht nicht nur im privaten Bereich zwischen Mensch und
Mensch, sondern auch in Gestalt der Nicht-Beteiligung an allen
staatlichen Funktionen muß ohne Scheu vor den, nach Menschen-
ermessen unvermeidlichen, polizeistaatlichen Repressionen und
Verfolgungen festgehalten werden; er ist innerhalb des öffent-
lichen Lebensbereichs die entscheidende praktische Probe auf
das geforderte „Tun" der Lehre, das heißt der Wahrheit
Christi.
Ehe die einschneidenden sozialkritischen Folgerungen der so ver-
standenen Lehre Christi gezeigt werden, bleibt noch ein Wort
über Tolstojs radikale Kritik an der Kirche als der vorsätzlichen
und systematischen Verfälschung der Lehre Christi zu sagen.
Von der „Beichte" bis zu dem Abschlußwerk „Das Reich Gottes"
begleitet die radikale Kirchenkritik Schritt für Schritt die Darlegung
der Lehre Christi. Zunächst und am härtesten wird natürlich die ortho-
doxe Kirche von ihr betroffen. Von dem Dogma der Orthodoxie hat
sich Tolstoj schon bald nach der Niederschrift der „Beichte" ausdrück-
lich und endgültig distanziert; die zweibändige „Kritik der dogma-
tischen Theologie" hält sich ganz an die damals meistgeschätzte rus-
sische Dogmatik, das Werk des Metropoliten Makarios von Moskau
„Dogmatische Theologie der orthodoxen Kirche" (2 Bde.). Gedruckt
wurde Tolstojs Kampfschrift erst 1891 in Genf (Löwenfeld II, 1.2).
Eine knappe Zusammenfassung von Tolstojs sachlich nicht allzu ergie-
biger, weil massiv-rationalistischer Widerlegung der orthodoxen
Kirchenlehre enthält der 1881 verfaßte Schluß".
Eine besonders drastische Polemik gegen die orthodoxe Liturgie führt
Tolstoj („Auferstehung" I, 39.40) in der karikierenden Darstellung
eines Gottesdienstes im Moskauer Gefängnis; ein Vorspiel dieser Pole-
mik ist der Bericht von der Vereidigung der Geschworenen im
Masiowa-Prozeß durch den eigens für diesen Zweck angestellten
Gerichtspriester (1,8). Das Kap. 1,40 ist lesenswert als Probe für den
didaktischen Stil des späten Tolstoj. In suggestiver Wiederholung
bestimmter Wendungen wird hier 1. der heillose Widerspruch zwischen
der Lehre Jesu und der kirchlichen Praxis, 2. die erschreckende Ge-
dankenlosigkeit in der Verdrängung dieses Widerspruchs aus dem
Bewußtsein aller Beteiligten dem Leser eingeprägt.

70
„Niemandem unter den Anwesenden kam es in den Sinn, daß der-
selbe Jesus, dessen Namen der Priester unzählige Male mit wohl-
tönender Stimme wiederholte . . . daß gerade dieser Jesus all das ver-
boten hatte, was hier verrichtet wurde. Niemandem von den Anwesen-
den kam es in den Sinn, daß alles, was hier verrichtet wurde, die
größte Lästerung und Verhöhnung des gleichen Jesus sei, in dessen
Namen all das geschah. Niemandem kam es in den Sinn, daß jene
Priester, die sich einbilden, unter der Gestalt von Brot und Wein den
Leib Christi zu essen und sein Blut zu trinken, wirklich seinen Leib
essen und sein Blut trinken, aber nicht in Brot und Wein, sondern
dadurch, daß sie jene „Kleinen", mit denen Christus sich gleichgestellt
hat, verführen, sie des größten Heils berauben und den größten Qua-
len anheimgeben, indem sie ihnen jene Heilsverkündigung vorent-
halten, die er ihnen gebracht hat."
Der Priester tut das alles mit ruhigem Gewissen, weil er von Kindheit
an in dem Gedanken erzogen worden ist, dies sei die einzig wahre
Religion, an die die gesamte geistliche und weltliche Obrigkeit glaubt.
„Er glaubte nicht daran, daß aus dem Brot Fleisch würde... — daran
kann man nicht glauben —, sondern er glaubte, daß man an diese
Religion glauben müsse." — Ebenso denken die Gefängnisbeamten;
sie haben nie begriffen, was all das bedeutete.. . „doch sie glaubten,
daß man unfehlbar an diese Religion glauben müsse, weil die höchste
Obrigkeit und der Zar selber an sie glaubten . . . Außerdem fühlten
sie, wenn auch dunkel . . . daß diese Religion ihr grausames Amt recht-
fertigte."
Diese persiflierende Darstellung des orthodoxen Gottesdienstes
gab den letzten Anstoß zu Tolstojs Exkommunikation durch
den Heiligen Synod im Jahr 1901 78. Man wird der orthodoxen
Kirchenbehörde die Berechtigung zu diesem Ausschluß nicht
ernstlich bestreiten können. Tolstoj hat das gute Recht seiner
Kritik an der weithin formalistisch erstarrten Kultpraxis dieser
Kirche und speziell an der fugenlosen Einpassung ihres H a n -
delns in die Zwecke des Polizeistaates durch die hier beliebte
Form unverhüllter Feindseligkeit, die nicht mehr zwischen dem
substantiellen sakramentalen Sinn des Kultus und seiner tat-
sächlichen Sinnentleerung unterscheidet, nicht eben glaubwürdig
gemacht. Für die sonderbare Vermischung von rationalistischer
Kritik an der Substanz und gehässiger Verhöhnung der Praxis
charakteristisch ist die Unterstellung, der Priester glaube für

71
seine Person nicht an die sakramentale Dignität der Kulthand-
lung, weil „man daran nicht glauben könne".
Vergegenwärtigen wir uns aber in Kürze den sachlichen Gehalt
dieser Kirchenkritik, die auch im Spätwerk nicht immer so
massiv rationalistisch und affektgeladen vorgetragen wird:
1. Die Kirche als solche ist für Tolstoj die Verleugnung der
Lehre und des Willens Jesu, der niemals eine Kirche gestiftet
oder auch nur für die Zukunft prophezeit hat. Der (betrüge-
rische) Grundirrtum der Kirche ist die Inanspruchnahme der
alleinigen unwidersprechlichen Lehrautorität durch einen be-
amteten Klerus. Mit diesem Anspruch verletzt sie die von Jesus
gelehrte Gewissensbindung des einzelnen an die allen Menschen
von Gott eingestiftete Wahrheit.
2. Der Erfolg dieser angemaßten kirchlichen Herrschaft über die
Gewissen beruht entscheidend auf der Einschläferung und Be-
täubung des sittlichen Gewissens durch die übernatürlichen
Gnadenmittel. Anstelle des praktischen Gehorsams gegen die
Norm der Vernunft und der Liebe ist das Vertrauen auf eine
Gnade getreten, die dem Menschen das Sündigen tatsächlich
erlaubt, vorausgesetzt, daß er nur die Ordnungen und Ge-
bräuche der Kirche befolgt. Besonders raffiniert begründet wird
diese Fesselung der Menschen an die kirchliche Heilsökonomie
durch die Behauptung, Jesu Gebote seien für den Menschen
unerfüllbar, und die von der Kirche gelehrte und verwaltete
Erlösung durch Christus sei der Ersatz für den nicht geleisteten
Gehorsam gegen seine Gebote. Dieser Betrug appelliert an das
egoistische Glücks- und Bequemlichkeitsverlangen des „tieri-
schen" Menschen. Die kirchliche Gnaden- und Sakramentsord-
nung bestärkt den Menschen in seiner angeborenen Herzens-
trägheit.
3. Der Betrug hat sich, seit Konstantin, vollendet in dem Bünd-
nis zwischen Kirche und weltlicher Gewalt. Die Kirche hat sich
dazu hergegeben, der Machtübung des Staates die religiöse
Rechtfertigung zu liefern, und sie hat für diesen Preis ihre
privilegierte Stellung gewonnen, die sie nicht haben könnte und
dürfte, wenn sie die Lehre Christi treulich bewahrt hätte. Dank
dieser objektiv teuflischen Verbündung von Kirche und Staat

72
ist es gelungen, die Autorität der Gewaltordnung im Bewußt-
sein der Völker mit dem Nimbus einer sittlichen Ordnung zu
umkleiden, der zu gehorchen und auch aktiv Vorschub zu leisten
nunmehr als Gewissenspflicht gilt.

3. Gesellschaftskritik und Gewissensreligion

Ebenso summarisch wie Tolstojs Kritik an der Kirche ist wäh-


rend seiner letzten dreißig Jahre auch seine Kritik an der
Gesellsdiaft. Beides hat sich von langher in ihm vorbereitet, und
in der Spätzeit gehen Gesellschafts- und Kirchenkritik Hand in
Hand. Ihr nächstes und greifbarstes Objekt hat seine Sozial-
kritik an der wesentlich feudalistischen Gesellschaftsordnung des
zaristischen Rußland, an der er selbst als adliger Grundherr
beteiligt ist, mit einem ausgeprägten Gefühl der Verantwortung
für seine Bauern und Leibeigenen, von früh an aber auch mit
einem beschwerten Gewissen. Der schroffe Gegensatz zwischen
dem Großgrundbesitz und der gedrückten Lage der überwiegen-
den Masse von Abhängigen wurde auch durch die Aufhebung
der Leibeigenschaft im Jahr 1861 nicht wesentlich gebessert. In
den hoffnungsvollen Anfängen der Ära Alexanders IL, die durch
diesen Entschluß und die ihr folgende Reformgesetzgebung ein-
geleitet wurde, tat Tolstoj selbst zeitweilig als staatlich bestellter
„Vermittler" zwischen Grundbesitzern und Bauern eifrig mit,
meistens als Anwalt der Bauern, legte dieses Amt aber ange-
sichts der Widerstände des Adels gegen eine wirklich soziale
Bereinigung der strittigen Fragen bald nieder. Schon vor der
Aufhebung der Leibeigenschaft hatte er für die Kinder von
Jasnaja Poljana seine Schule gegründet und — bald von frei-
willigen Junglehrern unterstützt — selbst mit viel Liebe völlig
unkonventionell unterrichtet 79 . Aber aller Eifer für die Förde-
rung der Volksbildung, dem die beiden Ausgaben seines „Lese-
buches" in den 1870er Jahren und später seine Volksschrift-
stellerei dienten, konnte für die Dauer seinem Gewissen
ebensowenig genug tun wie seine Bemühungen um eine soziale
Reform der Bodenverhältnisse im eigenen Bereich80. Mit Re-
formen, wie Lewin und Nechljudow sie wohlmeinend versuch-
ten, war nach der seit 1880 immerzu befestigten Überzeugung

73
Tolstojs der Unrechtmäßigkeit des privaten Grundeigentums
und vollends seiner Vererbbarkeit nicht abzuhelfen. Diese Über-
zeugung begegnete sich mit der schon von den Slawophilen neu
entdeckten und romantisch überdeuteten volkstümlich-russischen
Auffassung vom Gemeinbesitz des Bodens und mit der in Resten
noch erhaltenen bäuerlichen Institution der „Dorfgemeinde".
Praktische Möglichkeiten zur Beseitigung des ungerechten Groß-
grundbesitzes entdeckte Tolstoj dann in den Schriften des ameri-
kanischen Sozialreformers Henry George81, die eine „Boden-
reform" proklamierten, ähnlich wie sie in Deutschland später
Ad. Damaschke vertrat. Doch für die Verwirklichung dieser
Gedanken gaben die russischen Verhältnisse wenig Raum.
Tolstojs Auflehnung gegen die feudalistischen Besitzverhältnisse
wurzelt in einer tiefen Sympathie für das „einfache" bäuerliche
Leben als die natürliche menschliche Existenzform. Zum mensch-
lichen Dasein gehört seiner Anschauung nach allererst die H a n d -
arbeit; nur in einem ausgewogenen Gleichgewicht von Hand-
und Geistesarbeit bleibt der Mensch auch mit seinem Denken
und Fühlen gesund 82 . Tolstoj hat auf seine Weise redlich und
rührend versucht, dieses Gleichgewicht in der eigenen Lebens-
führung einzuüben. Für ihn ist es abnorm und ungerecht, daß
jemand sich von anderen bedienen läßt. Durch die vorgefundene
Aufspaltung der Gesellschaft in eine kleine besitzende Ober-
schicht und eine erdrückende Mehrheit von Dienenden werden
beide Teile korrumpiert; bei den Besitzenden wird der „tieri-
sche" Egoismus ins Extreme gesteigert, bei den Dienenden wird
zwangsläufig entweder der ebenfalls tierische Stumpfsinn oder
der unterschwellige H a ß und Neid großgezogen. Tolstoj wun-
dert sich, wie stark sich bei dem bedrückten kleinbäuerlichen
Volk die Tugenden des Gemeinsinns, der Ehrlichkeit, des Mit-
leids mit den Notleidenden bisher erhalten haben. Der herr-
schenden Klasse (zu der er selbst widerwillig gehört) wirft er
vor, sie tue alles, um diese Tugenden des Volkes zu untergraben,
und er sieht ein böses Ende voraus.
Der angeborenen Liebe zum ländlichen Leben entspricht sein
tiefer Widerwille gegen die Stadt, vor allem gegen die Groß-
stadt. Der elementare Abscheu gegen das Stadtleben befestigt
sich in ihm, seitdem er (etwa seit der Mitte der 1870er Jahre)

74
um der Erziehung der Kinder willen einen Teil des Jahres in
Moskau verbringt. Vollends unerträglich wird ihm die Groß-
stadt, nachdem er 1881 als freiwilliger Helfer bei einer Volks-
zählung in Moskau das bisher kaum geahnte Elend der klein-
bürgerlichen und proletarischen Wohn- und Lebensbedingungen
kennenlernte. Der ausführliche Bericht über die damals gewon-
nenen Erfahrungen in dem Buch „Was sollen wir denn tun?"
(1883/86) gehört zu den eindrücklichsten Partien seiner sozial-
ethischen Schriftstellerei 83 . Tolstojs Gefühl neigt zu einer be-
dingungslosen Verwerfung der städtischen Existenz überhaupt.
Seine zornigen Urteile über die Probleme und Nöte der indu-
striellen Gesellschaft, die sich in Rußland erst seit den 1860er
Jahren allmählich zu bilden beginnt, bleiben im Banne einer
summarischen Verneinung des industriellen Lebens als totaler
Perversion des Menschseins, kommen eben darum freilich an die
konkrete sozialpolitische Problematik nur von ferne heran.
Alle diese Überzeugungen, Sympathien und Antipathien fließen
etwa seit 1880 zusammen in eine grundsätzliche Absage an den
Staat — nicht etwa nur an die absolute Monarchie Rußlands
mit ihren bürokratischen Hilfsorganen, sondern ebenso an das
konstitutionelle Staatswesen in West- und Mitteleuropa. Tolstoj
bleibt auch darin „Bauer" und Gutsherr, daß er für die liberalen
Ideen, die sich seit den 1840er Jahren unter der adligen Jugend
und der großstädtischen bürgerlichen Intelligenz ausbreiteten,
keinerlei Sympathien hat. Lewin in „Anna Karenina" — und
unter Lewins Namen der Dichter selbst — legt im Gespräch mit
den adligen Vertretern des politischen Liberalismus zuweilen
noch ganz konservative, ja reaktionäre Meinungen an den
Tag.
Wenn aber dem tiefen Verderben der Gesellschaft durch die
überkommene Gewaltordnung des Staates auch mit freiheit-
lichen, liberalen und demokratischen Reformen nicht abzuhelfen
ist, was soll dann geschehen? Die Antwort scheint nahezuliegen:
nur die revolutionäre Beseitigung der herrschenden Gewalten
kann Hilfe bringen. — Tolstojs sozialkritische Diagnose hat in
der Tat viel Gemeinsames mit dem revolutionären Sozialismus,
der in Rußland zunächst in seiner aus Frankreich (St. Simon,

75
Fourier) importierten „utopischen" Frühgestalt, seit den 1880er
Jahren, parallel mit dem Entstehen eines großstädtischen Indu-
strieproletariats auch als „wissenschaftlicher Sozialismus" in Er-
scheinung trat. Dennoch hat Tolstoj den Weg der sozialistischen
Revolution entschieden abgelehnt; er hat dadurch im Jahr 1905
seine Anhänger unter der Arbeiterschaft, auch unter der gebil-
deten Sozialrevolutionären Jugend tief enttäuscht 84 . Die Absage
an die Revolution ist aber die bündige Folge seines Verständ-
nisses der Lehre Christi, die ihren Jüngern ein für allemal ver-
wehrt, „dem Bösen mit Gewalt zu widerstehen".
Gorkij hat ihm, trotz aller Liebe und Verehrung, noch nach
seinem Tode gegrollt. „Er verkörperte in seiner gewaltigen
Seele alle Fehler der Nation, alle Verstümmelungen, die uns
durch die Marter unserer Geschichte beigebracht wurden; seine
neblige Lehre des ,Nichtstuns', des ,Nicht-Widerstrebens dem
Übel', die Predigt des Passivismus, alles das ist die ungesunde
Gärung des alten russischen Blutes, das vom mongolischen
Fatalismus vergiftet und sozusagen chemisch feindlich gegen den
Westen ist." 85 Hier tut Gorkij Tolstoj unrecht. Daß die Wei-
sung des passiven Widerstandes, der Nicht-Beteiligung an den
Vollzugsformen des Polizeistaates unter bestimmten Voraus-
setzungen auch ein politisch möglicher Weg ist, das hat in Indien
Gandhi, in Tolstojs letztem Jahr sein Briefpartner und Schüler,
praktisch bewiesen 86 . Daß Tolstojs Weisung auch in Rußland,
wäre sie von vielen befolgt worden, das Ziel der Ablösung des
Machtstaates durch eine gewaltlose soziale Harmonie erreicht
haben würde, ist mindestens schwer vorstellbar, und es ist die
Frage, ob er selbst das ernstlich erwartet hat. Durch die Revolu-
tion ist das Ziel freilich auch nicht erreicht worden. Tolstoj hat
richtig vorausgesehen, daß auch die sozialistische Revolution,
entgegen ihrer humanistischen Ausgangsbasis, auf den Weg der
Gewaltübung gedrängt wird, daß in ihrer Konsequenz neue
politische Ordnungen entstehen, die der des absolutistischen
Zarismus tief verwandt sind.
Im übrigen hat er an seinem Teil bewiesen, daß seine Weisung
des strikten Gewaltverzichts kein „Passivismus" war. Die not-
wendige Kritik an seinem utopischen Sozialdenken darf nicht

76
außer acht lassen, wieviel er selbst für sein Verständnis der
Lehre Christi gewagt und riskiert hat. Es gereicht Tolstoj zur
Ehre, wie aktiv und unerschrocken er sich für die vom Staat
verfolgten und schikanierten Sektierer eingesetzt hat. Den
Duchoborzy hat er durch persönliche Intervention bei den höch-
sten Stellen die Auswanderung nach Kanada ermöglicht, hat
aus eigenen Mitteln, z. B. durch das hohe Honorar für „Auf-
erstehung", wesentlich zur wirtschaftlichen Fundierung ihrer
Freiheit beigetragen. Während des russisch-japanischen Krieges
1904/05 hat er durch illegitim verbreitete Flugschriften bewußt
das Odium des Vaterlandsverräters auf sich genommen. Es ist
wahrlich nicht seine Schuld, daß die Regierung trotz allem nie-
mals Hand an ihn zu legen riskierte.
Es ist die Eigentümlichkeit — und zugleich die Grenze von Tol-
stojs Sozialethik, daß sie alle Probleme und Erfordernisse der
gesellschaftlich-politischen Welt entschlossen zurückverweist an
die Entscheidung des persönlichen Gewissens — eines Gewissens,
das für ihn durch die „Lehre Chriti" in ihrer behaupteten
Identität mit der Norm der Vernunft und der Liebe gebunden
ist. Nach zwei Seiten unterliegt diese Reduktion der politisch-
sozialen Sachfragen auf die personale Gewissensentscheidung
einer kritischen Überprüfung. Zuerst: es ist die Frage, ob der
spirituelle Personalismus seiner Ethik die Wirklichkeit des
Staates zureichend erfaßt hat, wenn er Staatlichkeit und Ge-
waltordnung uneingeschränkt einander gleichsetzt. Zutreffend
urteilt K.Hamburger: „Die Staatsidee ad absurdum zu führen,
lag allerdings in Tolstojs Absicht. Ihm gelingt das, indem er
die Augen vor der Frage schließt, wie Menschen überhaupt Ge-
meinschaft bilden können, und damit vor dem Unterschied, der
zwischen Gewalt und Gesetz besteht." 87 In der Rückfrage nach
den Ursachen dieser Blickverengung, „die ihn die Idee des
Staates als solchen verkennen läßt", erschließt sich für K . H a m -
burger auch die andere Seite der notwendigen Überprüfung von
Tolstojs ethischer Radikalität. Bei nachdrücklicher Bejahung
seiner Angriffe auf die vorgefundene Gestalt von Staat, Gesell-
schaft, Kirche sieht sie in Tolstojs „Sicht des Staats- und Gesell-
schaftsproblems . . . auf eine merkwürdige Weise Wahres und
Falsches" verbunden. Es ist nach K.Hamburger „die Vehemenz

77
und zugleich die Abstraktheit seines Liebesethos", die „ihn ge-
wissermaßen das Kind mit dem Bade ausschütten, das heißt das
Problem des Staates an sich verfehlen läßt" M . Das führt zurück
auf die schon berührte Verengung des Liebesgebots auf das
Verbot jeder Teilnahme an Gewaltübung 8 9 . Daß diese Reduk-
tion hinter der anderweit von Tolstoj eindringlich bezeugten
positiven Verinhaltlichung des Liebesgebots auffallend zurück-
bleibt, wurde im 2. Abschnitt, im Einklang mit K.Hamburger,
schon bemerkt.
Für eine christlich-theologische Beurteilung von Tolstojs Ge-
wissens- und Liebesethik deuten beide untereinander zusammen-
hängende Schwächen und Einseitigkeiten dieser Ethik zurück auf
eine Vergesetzlichung der „Lehre Christi", auf ein mangelndes
Wissen von der Vorordnung des Evangeliums, der guten Bot-
schaft von Gottes eigens dem Sünder zugewandter Gnade, und
auf ein ebenso unzureichendes Verständnis von der Rüdebin-
dung aller Gebote Christi an diese Botschaft von der in Jesus
Christus offenbaren voraussetzungslosen Gnade Gottes. Tol-
stojs christliche Liebes- und Gewissensreligion würde sich somit
als eine Fehlauslegung des Christentums im Sinne eines abstrakt-
moralischen Radikalismus darstellen. Wie gesagt, dieses — von
christlichen Theologen oft genug ausgesprochene — Votum liegt
nahe.
Trotzdem darf es nicht als das letzte Wort stehen bleiben. Ge-
rade das hat Tolstoj in den Schriften und Selbstzeugnissen der
Spätzeit ausdrücklich bestritten, daß die „Lehre Christi" in
seiner Auslegung nur eine Radikalisierung des „Gesetzes" sei,
die vom Menschen Übermenschliches fordere. Es verdient in
diesem Zusammenhang Beachtung, daß eines der bei Tolstoj
meistangeführten Jesusworte das Logion Ev. Matth. 11,28—30
ist, mit besonderer Betonung des Schlusses (V. 30): „Mein Joch
ist sanft und meine Last ist leicht."
In der Erläuterung dieses nicht-gesetzlichen Charakters der
Lehre Christi verbinden und überschneiden sich bei Tolstoj zwei
Gedankengänge.
1. Jesus, so sagt er, unterscheidet sich von den „Pharisäern und
Schriftgelehrten" einschließlich ihrer Nachfolger zu allen Zeiten

78
gerade dadurch, daß er den Menschen kein Gesetz auflegt,
keinen Zwang auf ihr Gewissen ausübt. Vielmehr erinnert er
sie nur an das innere Gesetz, das einem jeden „ins Herz ge-
schrieben ist" und das keiner, trotz aller Betäubung und H y p -
nose, gänzlich vergessen kann. Jesu Liebesgebot, die strenge Be-
grenzung des „tierischen" Glücks- und Besitzverlangens durch
die Rücksicht auf das Wohl und Heil der Mitmenschen, ist nur
die Wiedereinprägung des ewig-menschlichen Grundgesetzes.
Dieses ewig-menschliche Herzensgesetz ist aber die Grund- und
Urbedingung alles menschlichen Miteinanderseins, ist also auch
identisch mit dem recht verstandenen Sinn des menschlichen
Glücksverlangens. — H a r t ist nicht das Joch Christi, wenn-
gleich es dem „tierischen" Menschen hart erscheinen mag. Das
wirklich harte Joch hat sich die Menschheit in der Irrtums-
geschichte ihrer Gott- und Selbstvergessenheit selbst auferlegt:
in ihrem Enthusiasmus für den technischen Fortschritt, in der
Loslösung von den Bedingungen des „natürlichen Lebens", in
ihrer Herzensverhärtung, die durch die kirchliche Heilslehre
und -praxis zusätzlich mit der Prämie eines vermeintlich guten
Gewissens ausgestattet wurde.
Trotz seiner vernichtenden (und summarisch-utopischen) Zivili-
sationskritik ist Tolstoj am Ende kein Pessimist, eher Bekenner
eines optimistischen „Dennoch" 90 . Er rechnet darauf, daß die
Menschheit mit wachsendem Zivilisationsfortschritt samt den
durch ihn ausgelösten Krisen und Katastrophen mehr oder
weniger zwangsläufig zur Erkenntnis ihres grundverkehrten
Lebensweges geführt werden wird. Sein historischer Fatalismus
schlägt zuweilen in eine erstaunliche Zuversicht für die Zukunft
der Menschheit um 9 1 . Hier scheint seine Geschichtsauffassung
von ferne der des dialektischen Materialismus verwandt: die
Logik der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung, die sich
krisenhaft zuspitzt, führt eine Revolution herauf, in seiner
Sicht allerdings eine Revolution der Herzen. Eben jetzt, da die
Völker unter der zunehmend brutalen Ausbeutung durch eine
hauchdünne Oberschicht von Parasiten und unter den unver-
meidlichen kriegerischen Zusammenstößen der konkurrierenden
Weltmächte seufzen — eben jetzt „ist das Reich Gottes nahe
herbeigekommen". Das bedeutet: jetzt müssen die Menschen

79
sehen, daß die Lehre Christi der einzige Ausweg aus dem her-
aufziehenden Unheil ist. Der Jesusruf „tut Buße", „besinnt
euch" erhält in der Geschichts- und Gesellschaftskrise, die Tol-
stoj zur nahen Katastrophe reif sieht, eine geradezu prag-
matisch-utilitäre Begründung. Auch in diesem von Tolstojs
bäuerlicher Weisheit nicht verschmähten pragmatischen Sinne
ist das Christentum, so wie er es auslegt, eine „praktische
Lcbenslehre".
2. Die Nicht-Gesetzlichkeit der Lehre Christi wird von Tolstoj
aber auch ganz anders, von innen her, begründet. Der Pragma-
tismus, mit dem er gelegentlich operiert, ist nur der Vorder-
grund eines religiösen Spiritualismus. — Kein Gesetz legt
Christus uns auf. Seine Lehre ist ein Wegweiser. Er zeigt eine
„Richtung", ein „Ideal", vielmehr das Ideal, auf das hin jeder,
der sich durch Christi Wort erinnern läßt, sein Leben hinordnen
muß. — Tolstoj ist am Ende doch nicht, wie es beispielsweise
in der „Kreutzersonate" so befremdlich erscheint, ein abstrakt-
rigoristischer Moralprediger. Er weiß aus schonungsloser Selbst-
erforschung, wie schwach, wie zwiespältig, wie wenig seiner
selbst sicher das Menschenherz ist 92 . Es gibt keine Vollkommen-
heit, es gibt nur Annäherungen an sie. Noch nüchterner: es gibt
in der Schule Christi immer nur Anfänger. Wer über das Sta-
dium des Anfängers hinaus zu sein meint, der verfällt schon
dem „Teufel" des Hochmuts; ihm kann vielleicht nur durch so
tiefen Fall zurechtgeholfen werden, wie er dem Vater Sergej in
seiner zweiten Versuchung widerfuhr.
Die Lehre vom ethischen Ideal ist, nicht nur in Tolstojs Prä-
gung, dem Verdacht ausgesetzt, eine Selbstrechtfertigung für den
Schwachen und den Schuldigen zu sein. Von seinen Anhängern
und Verehrern empfing Tolstoj viele Briefe, die ihn selbst an-
klagten, er verleugne sein Bergpredigt-Christentum gröblich
durch sein Verbleiben in der Rolle des patriarchalischen Guts-
herrn. Diese anklagenden Briefe stießen offene Türen ein. Er
selbst litt schwer unter dem Widerspruch zwischen seinem be-
dingungslosen Nein zu der objektiv ungerechten Gesellschafts-
ordnung und seinem eigenen Stande des privilegierten Grund-
besitzers 93 . Neben zahllosen Briefen und Tagebuchaufzeichnun-

SO
gen ist das (nicht vollendete) Drama „Das Licht scheint in der
Finsternis" ein bewegendes Dokument dieses Leidens. Die
schweren Wirrnisse seines Familienlebens, die Ungerechtigkeiten,
die seine Gattin durch ihn erfuhr, die Fülle von Unerquicklichem,
das die Besucher von Jasnaja Poljana und leider auch die näch-
sten Angehörigen in ihrer beiderseits parteiischen Skandal-
chronik der Nachwelt überliefert haben — dies alles widerlegt
zwar das stilisierte Gliche" eines „Heiligen", das seine fatalen
Jünger und Jüngerinnen dem Grafen aufdrängen wollten. Im
tiefsten ist seine Lehre vom Ideal der Christusnachfolge doch
ein ernstzunehmender Versuch, das spezifisch Evangelische in
der Predigt Jesu zu ergreifen. Hier stimmt Tolstoj mit der
wiederentdeckten Wahrheit des evangelischen Christentums bei
den Reformatoren tiefer überein als es den Anschein hat: Es
gibt keine vollkommenen Christen, es gibt nur das Unterwegs-
sein, die Pilgerschaft in Jesu Nachfolge.
Auch Tolstojs Irrtum, alle politisch-soziale Problematik aufzu-
heben und aufzulösen in die Entscheidung des persönlichen Ge-
wissens, ist am Ende nicht nur ein Irrtum. Viel tiefer als sein
oft ärgerlich anzuhörender protestlerischer Rationalismus es
wahrhaben will, lebt auch seine Sozialutopie von dem Geheim-
nis der „Torheit" des Evangeliums. Daß die Weltveränderung
nirgends sonst anfängt als bei dir und mir, daß es nicht anders
wird zwischen den Menschen und auch in den Institutionen der
Gesellschaft, wenn wir nicht anders werden, darin behält Tol-
stoj recht. Aller, von ihm selbst schonungslos gerügte, Mißbrauch
der „Innerlichkeit", alle fragwürdigen Fehlanwendungen dieser
Innerlichkeit im Interesse der Macht, der Besitzenden, des
„Establishment" heben nicht die Wahrheit auf, daß die Lehre
Christi — und das Evangelium (das mehr ist als Tolstojs „Lehre
Christi") es zuerst und auch zuletzt mit dem einzelnen zu
tun hat.
Man kann vermuten, es ist sogar wahrscheinlich, daß die jüngst
in stürmische Bewegung geratene Selbstkritik der Christenheit
am Rande ihrer Selbstauflösung, ihres draußen und auch drin-
nen ausgerufenen bevorstehenden Bankerotts früher oder später,
vielleicht sehr bald, auch Tolstojs wunderliches Evangelium aufs

81
neue in unser Blickfeld hineinholen wird. Dann werden die
geschulten Theologen alsbald aufs neue sich anschicken, Tolstoj
zu widerlegen, und die noch besser geschulten Soziologen wer-
den ihnen an die Hand gehen mit dem Nachweis der offenkun-
digen Untauglichkeit seiner primitiven Sozialdoktrin für die
hochindustrialisierte, in die weltweite Interdependenz verwie-
sene Gesellschaft von heute und morgen. Möchte darüber das
ur-christliche Pathos und die verborgene Weisheit in der „Tor-
heit" Tolstojs nicht überhört werden.

82
ZWEITER TEIL: DOSTOJEWSKIJ

I. K a p i t e l

„Ein Realist im höheren Sinne"

Zwei Selbstzeugnisse charakterisieren die Besonderheit von


Dostojewskijs Dichtertum besser, als alle möglichen Einord-
nungen in die Geschichte und Typologie der Literatur es ver-
möchten. Das eine stammt von dem achtzehnjährigen Absol-
venten der Petersburger Militär-Ingenieursschule, das zweite ist
eine Eintragung in sein letztes Taschennotizbuch von 1880,
wenige Wochen vor seinem Tode.
An seinen Bruder Michail schreibt Fjodor Michajlowitsch am
16. August 1839 »:
Der Mensch ist ein Geheimnis. Man muß es enträtseln, und wenn Du
es ein ganzes Leben lang enträtseln wirst, so sage nicht, Du hättest die
Zeit verloren. Ich beschäftige mich mit diesem Geheimnis, denn ich
will ein Mensch sein.
Die Eintragung in das Notizbuch von 1880 lautet 2 :
Bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen finden . . .
Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur
ein Realist im höheren Sinne, das heißt: ich zeige alle Tiefen der
Menschenseele.

1. Der Mensch — ein Geheimnis


Mit einer Intensität und Einseitigkeit, die ihn von dem Künst-
ler Tolstoj unterscheidet, ist Dostojewskijs dichterisches Werk
auf den Menschen konzentriert; die „Welt", die Natur, die
Landschaft existiert für ihn nur in ihrer Beziehung auf den
Menschen. Das meinte Mereschkowskij, wenn er Dostojewskij
den „Visionär der Seele" nannte. Man mag wohl sagen, er reprä-
sentiert in genialer Steigerung den „introvertierten" Typus. —

83
Tolstojs Gesichtsfeld ist weiter, zumindest breiter; et sieht den
Menschen eingefaßt in das Gesamtleben der Natur. Dem Scharf-
blick seines Auges kann zwischen Himmel und Erde nichts ent-
gehen. Dostojewskijs spezifische Gabe ist der ideierende Tief-
blick. Er sieht nur Menschen, er sieht sie von innen her, er
nimmt sie alle gleichsam hinein in sein eigenes, grenzenlos weit-
räumiges, nach allen Seiten hin offenes Dasein. — Auch dieser
Künstler ist ein großer Arbeiter. Er verläßt sich nicht auf die
dichterische Inspiration. Er übt, er korrigiert, er subtilisiert sich
lebenslang im Anschauen des wirklichen Menschen, von Werk
zu Werk immer skeptischer gegen die vorgefertigten Menschen-
typen der Literatur.
In der verbreiteten theologisch-philosophischen Dostojewskij-
Deutung ist zeitweise fast vergessen worden, daß es diesem
großen Psychologen um dichterische Menschenkenntnis zu tun
ist. Als solche geht sie immer von der Wahrnehmung des ein-
zelnen aus und ist der Besonderheit je dieses einzelnen auf der
Spur. Ein jeder ist anders, keiner gleicht einem zweiten. Um
„bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen zu
finden", hat Dostojewskij unermüdlich daran gearbeitet, sich
von allen charakterologischen Schablonen freizumachen.
Aber — das ist sein „höherer Realismus" — in den vielen ein-
zelnen Menschen sucht er den Menschen, sein unter hundert
Variationen mit sich selbst identisch bleibendes Wesensbild.
Ihm genügt es nicht, hören wir in der Taschenbuchnotiz von
1880, als Psychologe gerühmt zu werden. Hinter seiner beispiel-
los hellsichtigen Charakterologie steht eine (freilich unsystema-
tische, weil dichterisch inkarnierte) philosophische Anthropo-
logie, die von „Schuld und Sühne" an beständig auch ins
Theologische transzendiert. Diese Hinordnung aller psycholo-
gischen Menschendarstellung und -erforschung auf ein Wesens-
bild des Menschen, das der empirischen Betrachtung und Analyse
unzugänglich bleibt, das über sich selbst in die religiöse Sinn-
sphäre hinüberdeutet, hat der Achtzehnjährige intuitiv voraus-
genommen in dem Satz: „Der Mensch ist ein Geheimnis."
Eben das Wissen vom Geheimnis des Menschen begründet
Dostojewskijs künstlerische Konzeption eines „Realismus im

84
höheren Sinne". Realisten sind alle großen Schriftsteller Ruß-
lands — und Europas etwa seit dem vierten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts, Dostojewskij wahrlich nicht weniger als seine
russischen Zeitgenossen Gontscharow, Turgenew, Tolstoj, Ne-
krasow, Ostrowskij, Saltykow-Schtschedrin 3 . Aber sein Realis-
mus gründet in einem gegenüber der literarischen Tradition aufs
äußerste ausgeweiteten und dynamisierten Begriff der Wirklich-
keit. Zur Wirklichkeit, wie Dostojewskij sie versteht, gehört
auch das „Phantastische" 4 ; sie selbst ist nie vorhersehbar, sie
ersdieint mit Vorliebe in der Gestalt des Unerwarteten und
Unwahrscheinlichen 5 . / . Stender-Petersen hat Dostojewskijs
„psychologischen Realismus" gut gekennzeichnet:

Sein Ziel war es, die blassen verallgemeinerten Typen, Vertreter alter
und neuer Generationen . . . durch alleinstehende, einzigartige, un-
wiederholbare Individuen, ja durch Spielarten solcher Individuen zu
ersetzen. Er grub sich in ihre Seele ein und sprengte sie von innen
(a.a.O. S. 283).
Das Geheimnis seiner psychologischen Kunst bestand vor allem darin,
daß er mit unermüdlichem Eifer seine Kraft und Fähigkeit daran-
setzte, die landläufige Psychologie, mit der der Realismus bisher
gearbeitet hatte, das oberflächliche Menschenverstehen des gesunden
Menschenverstandes, zu unterhöhlen [im Orig. gesperrt] .. . [Seine]
psychologische Kunst beruhte auf der Voraussetzung, daß das Seelen-
leben an sich komplex sei. Von dem romantischen Doppelgängermotiv,
das rein literarisch war, gelangte er zu dem Motiv von der Zwie-
spältigkeit der Menschenseele und nahm damit die Ergebnisse der
modernen Psychologie voraus (S.288—290).

Aber dieser „höhere Realismus" Dostojewskijs ist nicht nur die


Frucht seiner Entdeckungsfahrten im unerforschten Neuland
einer komplexen Psychologie. Das Geheimnis des Menschen,
dessen Enträtselung der Lebensvorsatz des Achtzehnjährigen
war, liegt über alle Psychologie hinaus in seinem religiös, von
Gott her begründeten Wesensbild. Mit den Leitworten der
Menschenwürde und der Selbstachtung kündigt sich dieses reli-
giöse Grundverständnis des Menschengeheimnisses schon im
Frühwerk an. In ihnen meldet sich aber zugleich die eigentüm-
liche Problematik und Gefährdung des Menschseins an.

85
2. Das Modell der „Erniedrigten und Beleidigten"

Das Bemühen um die Enträtselung des Geheimnisses Mensch


vollzieht sich bei Dostojewskij in der experimentellen Erpro-
bung bestimmter Modelle des Menschenbildes, Modelle, die bei
ihm die vorfabrizierten Charaktertypen und die mit ihrer Be-
nennung immer schon latent gesetzten Wert-Vorurteile ab-
lösen.
Das beherrschende Modell zumindest der frühen und mittleren
Periode (1846—1864) hat Dostojewskij selbst einprägsam be-
nannt im Titel seines Romans Die Erniedrigten und Beleidigten
(1861). J.Meier-Graefe* urteilt, an diesem „Hintertreppen-
roman", dem Tiefpunkt der sentimentalistischen Gefährdung
Dostojewskijs, sei der Titel, „eine der Wortverbindungen, die
zu Signalen werden", das Beste. Man kann den Roman mit
guten Gründen auch höher einschätzen 7 . Auf jeden Fall ist in
seinem Titel dasjenige Modell scharf konturiert, das im Mittel-
punkt der frühen Romane und Erzählungen steht — und über-
dies auch in den Großromanen der Reifezeit, von „Schuld und
Sühne" an, einen breiten Raum behält.
In den Armen Leuten, dem Erstlingswerk von 1846, erscheint
das Modell in der Rolle des armseligen Schreibers Makar
Dewusehkin mitsamt seiner Seelenfreundin Warwara, die ihr
Leben ebenso kümmerlich wie Makar fristet, bis ihr reicher ein-
stiger Verführer sie eines Tages heiratet und in unerreichbare
Ferne entführt. Der kleine Amtsschreiber ist beherrscht, beinahe
besessen von der quasi-religiösen Ehrfurcht vor Seiner Exzel-
lenz, dem hohen Vorgesetzten. Noch ärger erniedrigt und be-
leidigt ist der traurige Held des Doppelgängers (1846). Von
ihm ergreift die erniedrigende Furcht vor dem Vorgesetzten und
auch vor den Kollegen, zugleich der sie überkompensierende
Geltungsdrang, persönlich Besitz; beides verleiblicht sich in der
Gestalt des „anderen" Goljadkin und verdrängt den wirk-
lichen Goljadkin mitsamt seinen hochfliegenden Zukunftsplänen
aus allen Positionen und Zufluchtsorten der eigenen Existenz,
Schritt für Schritt unaufhaltsam, bis er für das Irrenhaus reif
ist 8 . — Der Maskenzug dieser getretenen und verschüchterten
Existenzen setzt sich weiter fort über „Netotschka Neswa-

86
nowa", das verwaiste Kind, das die traumatische Versdirecktheit
seiner frühen Jahre auch in freundlicherer Umgebung gleichsam
spontan aufs neue in sich erweckt, bis zu der zwölfjährigen
Nelly in den „Erniedrigten und Beleidigten", Tochter einer in
Elend und frühen Tod gestoßenen Mutter und Enkelin eines
Großvaters, der seinerseits bis zur Auslöschung seiner Mensch-
lichkeit gekränkt und betrogen wurde. — Ein Erniedrigter und
Beleidigter ist auch der groteske Foma Fomitsdi, die Haupt-
person des Romans „Das Gut Stepantschikowo", der für frühere
Ehrenkränkungen durch despotische Seelentyrannei an der
Familie seines gutmütigen Gastgebers Rache nimmt. Zu höch-
stem Personformat ist das Modell des früh gekränkten Herzens
schließlich in der tragischen Gestalt der Nastasja Filippowna
(„Der Idiot") gesteigert.
Wegen seiner Vorliebe für die Erniedrigten und Beleidigten ist
Dostojewskij oft als der Dichter des großen Mitleidens ange-
sprochen worden. Der späte Tolstoj, der der selbstzwecklichen
Kunst — einschließlich seiner eigenen „schlechten Bücher" bis
zu „Anna Karenina" — in wunderlicher Selbstzüchtigung ab-
schwor, hat um dieses Mitleidens willen Dostojewskij, den
Autor der „Aufzeichnungen aus einem toten Hause" und der
„Erniedrigten und Beleidigten" zusammen mit Ch. Dickens
und Harriet Beecher-Stowe, der Verfasserin von „Onkel Toms
Hütte", hoch belobigt 9 . Aber das Lob beruht, auch von der
fatalen Koordination mit der braven Beecher-Stowe abgesehen,
auf einem Mißverständnis. Allerdings ist Dostojewskijs Fähig-
keit zum Mitleiden mit den Leidenden aller Art eine Wurzel
seiner vorurteilsfreien Menschenerforschung. Man muß dieses
Mitleiden aber gut unterscheiden von dem, was in unserer Um-
gangssprache Mitleid heißt. Mitleid in diesem sensuell-emotio-
nalen Sinne, sozusagen eine Nervensache, kann ebenso wie sein
Gegenteil, Animosität und Mißtrauen, das Bild des Mitmenschen
verfälschen und verfehlen. Dieses Mitleid ist nicht Dostojewskijs
Art. — Der zeitgenössische Kritiker Michajlowskij hat ihn im
Gegenteil ein „grausames Talent" genannt — nicht ganz ohne
Grund. Indes ist diese Grausamkeit bei Dostojewskij, ähnlich
wie bei Nietzsche, nur das Außenbild einer unbestechlich exak-
ten Diagnostik.

87
Solche, wenn man will, grausame Züge kommen beispielsweise
zum Vorschein in seiner Entdeckung, daß die Erniedrigten und
Beleidigten ziemlich oft ein heimliches Verlangen in sich tragen,
sich von den anderen kränken und demütigen zu lassen. „Das ist
für midi kein Schmerz, sondern ein Genuß, mein Herr", sagt
der Säufer Marmeladow (Schuld und Sühne, I, 2) zu seinem Be-
gleiter Raskolnikow, als seine Frau ihn bei der Heimkehr von
der fünftägigen Schnapskeller-Exkursion an den Haaren ins
Zimmer hereinzerrt. — Noch gründlicher kennen sich in diesen
pathologischen Bewußtseinsverkehrungen natürlich die aktiven
Quäler und Beleidiger aus. Fürst Walkowskij, der schwarze
Mann im Titelroman, hat eine Frau, Nellys Mutter, nicht nur
um die Liebe, sondern auch um den letzten Pfennig ihres Ver-
mögens betrogen und in den Tod getrieben. In dem schaurigen
Wirtshausgespräch mit dem Ich-Erzähler läßt der Fürst sich mit
genüßlichem Zynismus über die Verstorbene aus:
Wenn ich ihr geholfen hätte, so hätte ich sie doch nur um den Genuß
gebracht, sich durch mich zugrundegerichtet zu fühlen. Glauben Sie
mir, das ist wie ein wunderbarer Rausch, wenn man mitten im Elend
sich ganz in seinem Rechte fühlen kann, wenn man weiß: man hat
großmütig gehandelt und ist deshalb um so mehr berechtigt, seinen
Beleidiger einen Schurken zu nennen.
Diesen bösartigen Zyniker hat Dostojewskij in jenem Wirts-
hausgespräch, das in Swidrigailows Geständnissen (Seh. u. S.
VI, 4) seine Fortsetzung findet, überhaupt zum Sprecher seiner
eigenen tiefenpsychologischen Entdeckungen gemacht:
Ich will Ihnen etwas sagen. Wenn es möglich wäre (es ist allerdings
unmöglich), daß einer von uns einmal sein ganzes Innenleben schil-
derte und vor aller Augen bloßlegte . . . was er sonst . . . nicht einmal
seinen besten Freunden anvertraut hätte, ja noch mehr: was er sich
selbst nicht einmal einzugestehen wagt — das würde einen solchen
Gestank hervorrufen, daß wir alle daran ersticken müßten10.

3. Die hohe Schule des „toten Hauses"


Vier Jahre war Dostojewskij im Zuchthaus von Omsk. Die
Sträflinge waren größtenteils Kriminelle, zumeist Leibeigene,
Kleinbauern, Kleinbürger. Als politischer Verbrecher, auch als
Adliger war Dostojewskij unter diesen Zuchthäuslern zunächst

8S
hoffnungslos isoliert. Wie alle seinesgleichen war er bevorzugtes
Objekt ihres Spottes und ihrer unterschwelligen Haßgefühle
gegen die ehemaligen Herren. „Ihr Adligen habt eiserne Schnä-
bel, ihr habt uns zerhackt. Früher, als ihr Herren wart, habt
ihr das Volk gepeinigt. Jetzt, wo es euch schlecht geht, wollt
ihr unsere Brüder sein" n , solche Reden mußte er täglich hören.
Für den gesundheitlich labilen, seelisch reizbaren Dostojewskij
waren diese Jahre noch beschwerlicher, als die Diskretion der
„Aufzeichnungen aus einem toten Hause" erkennen läßt. Trotz-
dem, vielleicht eben darum, war das Zuchthaus für ihn die hohe
Schule sowohl der menschlichen Abhärtung wie der charaktero-
logisdien und menschengestaltenden Meisterschaft.
Die Zuchthäusler, unter denen er lebte, waren zu einem erheb-
lichen Teil allerdings nur eine neue Spielart seines alten Grund-
modells. Aber nicht alle waren „Erniedrigte und Beleidigte".
Gerade unter den Schwerverbrechern fand er zu seiner Über-
raschung auch Menschen mit einem ungebrochenen Ehrgefühl,
mit einem gewaltigen Vorrat von seelischer Energie und Behar-
rungskraft. So kam Dostojewskij eben durch die Erfahrungen
im „toten Hause" los von der Versuchung, sein Menschenbild
ausschließlich an dem Modell der „Erniedrigten" zu orientieren.
Zwar wurde es in dem so betitelten Roman, ein Jahr nach seiner
Rückkehr aus Sibirien, noch einmal, fast über Gebühr, durch-
geprobt. Dafür wiesen die zwei folgenden Werke, 1862 die
„Aufzeichnungen aus einem toten Hause" und 1864 die „Auf-
zeichnungen aus einem Kellerloch" den Autor als Meister einer
Menschenkennerschaft aus, die nicht mehr an ein einzelnes Vor-
zugsmodell gebunden war. Schon das erste, eine kunstvoll ver-
schlüsselte Wiedergabe der Erfahrungen im Zuchthause, bekun-
det ruhmvoll, daß das teure Lehrgeld jener Jahre nicht umsonst
gezahlt war. Ohne dem künstlerischen Formgesetz dieser Auf-
zeichnungen Schaden zu tun 1 2 , entnehmen wir ihnen einige
Hauptregeln und Perspektiven von Dostojewskijs Menschen-
kennerschaft, die nicht nur für den Bereich des Zuchthauses
gelten.
1. Menschenkenntnis, so lernte und lehrt der Autor des „toten
Hauses", beginnt mit dem sorgsamen Unterscheiden zwischen
den einzelnen. Dem Neuling erscheinen die Sträflinge zuerst als

89
ein Kollektiv mit lauter vorgeformten Verhaltensregeln und
situationsdienlichen Konventionen. Je mehr er aber von der
niederdrückenden Gewalt dieser Ersteindrücke frei kommt, je
mehr er sich aus der inneren Isolierung herausarbeitet, desto
deutlicher tritt vor sein inneres Auge der Einzelmensch, jeder
anders, jeder eine kleine Welt für sich. Die charakterologischen
Typenbegriffe, die die Sprache in einem Vorrat von Eigen-
schaftswörtern im voraus fertig zum Gebrauch anbietet, sind
als vorläufige Ordnungsbehelfe nützlich; aber sie werden falsch,
sie behindern die wirkliche Menschenkenntnis, wenn sie zu
einem festen System von Menschenarten mit ihnen zugeord-
neten positiven und negativen Werteinstufungen schematisiert
werden.
2. Wer ein Menschenkenner sein will, müßte vor allem die
Grenzen bedenken, die aller sogenannten Menschenkenntnis ge-
setzt sind. Auch jene ursprünglichste Weise von Menschenkennt-
nis, die sich im Umgang mit diesem Menschen hier einstellt,
ermächtigt nicht zu der Meinung, man kenne diesen Iwan Petro-
witsch oder Semjon Andrejewitsch durch und durch. — Dazu
bieten die „Aufzeichnungen" Beispiele in bedachter Häufung.
In jedem Menschen, hören wir, ist ein Unberechenbares; nach
jahrelangem gelassenen und gleichmäßigen Verhalten gibt es
„dieses seltsame Aufzucken von Widerstand und Trotz" (1,1),
das bei geringfügigsten Anlässen unversehens ausbrechen kann.
3. Auch das scharf geprägte individuelle Charakterbild ist in sidi
selbst noch widersprüchlich. Einer der friedfertigsten unter den
Sträflingen ersticht eines Tages, aus einem lächerlichen Anlaß,
den Wachoffizier mit dem Bajonett (I, 3). — Ein anderes Bei-
spiel: ein gefürchteter Raubmörder schließt sich dem Ich-Erzäh-
ler merkwürdig kameradschaftlich an; diesem selbst ist es fast
unheimlich. Doch er erfährt von diesem Petrow Beweise einer
völlig uneigennützigen Hilfsbereitschaft — und derselbe Petrow,
der beinahe sein Freund wurde, bestiehlt den Erzähler, nicht nur
einmal, und bleibt absolut verständnislos, als dieser ihm das
Unrecht dieses Diebstahls vorhält (I, 8). — Nicht alle Menschen
sind gleichermaßen widersprüchlich. Akim Akimytsdi, ein ehe-
maliger Hauptmann, der einen Tscherkessenhäuptling im Kau-
kasus niedergeschossen hatte, der verläßlichste, freilich auch der

90
pedantischste Mensch im ganzen Ostrogg, wird niemandem eine
Überraschung bereiten, weder im Bösen noch im Guten. Aber
Akim Akimytsch ist ein Ausnahmefall. Beinahe scheint es, als
verhielte sich die Widersprüchlichkeit eines Charakters positiv-
proportional zu seiner personalen Substanzdichte.
4. Ein Schlüssel allerdings zum Verständnis von jemandes Hand-
lungen und Reaktionen versagt selten: der Geltungsdrang.
Dostojewskij hat das Wort noch nicht im Sprachvorrat, desto
genauer versteht er sich auf den Befund. — Geltungsdrang ist
nicht von vornherein ein Fehler, ein moralischer Makel. Dieser
allgemeinmenschliche Drang ist ambivalent; auf der einen Seite
dem sogenannten Ehrgefühl, richtiger dem Gesetz der Selbst-
achtung dicht benachbart. Auf der anderen Seite aber ist er (was
nicht erst Alfred Adler entdeckte) eine „Uberkompensation",
ein versuchter Ausgleich für verlorene oder (wie hier im Zucht-
haus) gewaltsam niedergehaltene Menschenehre. Aus diesem
letzten Grunde sind Sträflinge stärker geltungssüchtig als die
anderen, die in der Freiheit leben.
5. In gewissem Sinne stellt der Sträfling ein charakterologisches
Sondermodell dar. Ein paar kennzeichnende Züge: er lebt mit
dem Bewußtsein der Uneigentlichkeit, des provisorischen
Charakters seiner Existenz. Er fühlt sich — eine aus Unter-
haltungen erlauschte plastische Bildrede — „von der Gesell-
schaft abgeschnitten wie eine Brotscheibe vom Brotlaib". Des-
halb ist er in den seltenen Stunden, wo ihm erlaubt wird, sich
zu verhalten wie Menschen sonst, „moralisch verwandelt"
(1,11). Als ihnen am Weihnachtsfest eine Theateraufführung
ganz aus eigener Initiative gestattet wird, sind die Sträflinge
nicht nur großartige Sdiauspieler, sondern auf einmal auch
liebenswerte und gelöste Menschen. Fehlen solche Gelegenheiten
der Entlastung, so kann das Abgeschnittensein sich zu völliger
Entmutigung steigern. Einer „verlischt gleichwie eine Kerze"
(1,7) oder er „vertrocknet"; der eine wird krank, der andere
geht einfach ein. — Die innere Gegenwehr gegen dieses „Ver-
trocknen" ist der heimlichst gehegte Gedanke: wir werden nicht
immer hier sein, wir sind im Zuchthaus nur zu Gast (I, 7; II, 7),
leben auf Zukunft, auf den Tag der Freiheit hin. Was irgend
imstande ist, einen „Traum von Freiheit" (I, 5) herbeizuzaubern,

91
am besten etwas Geld in der Tasche (I, 3), aber auch der gemein-
same Marktausgang, der ihnen zum Ankauf eines neuen Pferdes
fürs Wasserfahren bewilligt wird (II, 6), solche und ähnliche
kleine Zuteilungen von Freiheit halten einen Sträfling am
Leben.
6. Dem Auge des Dichters wird diese Sträflingspsychologie
transparent für die Psychologie des Menschen überhaupt. In
einem doppelten Sinne: Erstens ist die Sträflingsexistenz ge-
steigertes Schaubild menschlichen Daseins durchweg, in der
Spiegelung des Gefangenenlebens lernt man den Menschen über-
haupt als den homo captivus, den gefangenen Menschen be-
greifen. Zweitens: hier ist ein Extremfall von innerer Verstö-
rung und drohender Selbstzerstörung, an dem der andere, freie
Mensch, wenn er wach sein wollte, ein Warnbild seiner eigenen
essentiellen Selbstzerstörungsgefahr erkennen könnte. In diesem
Zusammenhang geht dem künftigen Dichter des homo capti-
vus13 eine erregende Wahrnehmung auf: Die schlimmsten unter
den Sträflingen sind ihren schlimmsten Bewachern und Vor-
gesetzten, z.B. dem in ganz Sibirien berüchtigten Platzmajor
des Omsker Zuchthauses (1,1.2.11), zum Verwechseln ähnlich.
Bei mandien Sträflingen zeigt sich das in ihrer lustvollen Selbst-
erniedrigung (z.B. 1,5), beim Platzmajor in der sadistischen
Freude an der Demütigung des Sträflings, der seinem virtuellen
Zäsarentum (I, 8) wehrlos ausgeliefert ist.
Das Fazit dieser Erfahrungen zieht der Ich-Erzähler der „Auf-
zeichnungen" beinahe untertreibend so: „Wer weiß? Vielleicht
sind diese Menschen gar nicht so viel schlechter als die anderen,
die draußen, außerhalb des Zuchthauses, geblieben sind! Indem
ich das dachte, schüttelte ich selbst den Kopf. Mein Gott, wenn
ich damals gewußt hätte, wie sehr auch dieser Gedanke richtig
war" (I, 5). Der Satz sagt mehr als die lockere Redeweise er-
kennen läßt. Die Zuchthäusler sind nicht von Natur schlechter
ab wir, die wir vermutlich nie ins Zuchthaus kommen. Und
umgekehrt: wir Unbescholtenen, nie vorbestraft, nie ernstlich
zu Straftaten versucht, sind doch allesamt potentielle Sträflinge.
— Ohne solche Horizonte ist alle sogenannte Menschenkenntnis
eine armselige Scheinweisheit, eine trügerische Tarnung unserer
Selbstvergessenheit.

92
4. Der verhinderte Mensch
(Zu den „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch") 14

Zu anthropologischer Grundsätzlichkeit verdichtet sich Dosto-


jewskijs Psychologie des erniedrigten und gefangenen Menschen,
zwei Jahre nach dem „toten Hause", in den „Aufzeichnungen
aus einem Kellerloch", namentlich in ihrem I.Teil, einem großen
inneren Monolog des fingierten „Vertreters einer aussterbenden
Generation", der zugleich ein fortgesetzter Dialog, ein Streit-
gespräch mit dem imaginären Widersacher, dem Menschen der
„Tat" und des „gesunden Menschenverstandes" ist. In keiner
Schrift Dostojewskijs ist seine Anlage zum ironischen Dialek-
tiker so verwegen und verwirrend entfaltet wie in diesem
Vexier- und Negativbilde des Menschen, das der Ich-Erzähler
vorstellt. J.Meier-Graefe leitet die Interpretation dieses miß-
verständlichsten unter allen Werken Dostojewskijs mit folgen-
den Sätzen ein:
Wenige Menschen werden unversucht bleiben, diesen Monolog nach
den ersten zehn Seiten empört in die Ecke zu schleudern. Auf diesen
Ton ist man in belletristischen Dingen nicht gefaßt.
Der Leser wird angeredet und muß sich tolle Dinge sagen lassen. —
Zehnmal wirft man das Buch weg, zehnmal holt man es wieder, und
schließlich kommt man nicht mehr los. — Nie ist dergleichen von
einem Menschen gedacht, wenigstens nicht bis zu diesem Ende ge-
dacht, viel weniger je, auch nur in groben Umrissen, geschrieben
worden. Wo immer die arme Seele ein Versteck findet, da leuchtet
die Blende des Intellekts unbarmherzig hinein und hetzt die Maus
weiter . . . jene hundertmal zerrissene und doch immer noch lebendige
Seele15.
Versuchen wir, den ganz und gar systemwidrigen, geradezu
antilogischen Inhalt dieser absonderlichen Beichte doch in einigen
Durchblicksätzen aufzufangen.
Worauf will dieser aufgeregt-räsonnierende Monolog hinaus? —
Geistesgeschichtlich plaziert, ist er eine Kampfansage an die
„wissenschaftlidie Weltanschauung", die damals, hauptsächlich
durch englische Autoren, J. St. Mill, Th. Buckle, J. Bentham ver-
mittelt, auch in Rußland Eingang fand. Es ist, in Kürze gesagt,
die Moralphilosophie des gesellschaftlichen Nutzens, verbunden
mit einer soziologischen Geschichtstheorie und einer mit etwas

93
„Sozialdarwinismus" angereicherten Wirtschaftslehre. Mit die-
sem rational und ökonomisch fundierten Welt- und Geschichts-
verständnis werdet ihr alle glücklich werden, so versprachen
seine Propagandisten; ihr müßt euch nur genau an seine Spiel-
regeln halten. Der Kellerloch-Philosoph antwortet: es ist nicht
wahr, was man euch verspricht. Der wirkliche, das heißt der
einzelne Mensch wird mit diesem Rezept nicht glücklich werden.
Denn das Rezept verlangt, er solle aufhören, er selbst zu sein.
Der Höhepunkt des Protestes ist die große Rede vom „wahren
Vorteil des Menschen" (7—9). Ihr Weltbeglücker verwechselt
den wahren „Vorteil" des Menschen naiv mit seinem Nutzen
und seiner Bequemlichkeit. Der wirkliche Menschenvorteil ist
aber die Behauptung des freien Personwillens, zum ersten gegen-
über dem brutalen Zwang der sogenannten Naturgesetze, zum
zweiten gegenüber dem übermächtigen Kollektiv, dem sozial-
utilitären Gesellschaftsideal, das die Menschheit in einen perfekt
geordneten Ameisenhaufen umformen will. „Ordnung" — es
klingt so reell, so vernünftig, räsonniert der Sonderling im
Kellerloch. Aber die Ordnung, die eure wissenschaftliche N u t -
zensdoktrin anbietet, ist keine menschliche Ordnung.
Diesen Protest trägt der fingierte Autor der „absterbenden
Generation" absichtsvoll provokativ vor, und er verschärft die
Provokation durch die ebenso absichtsvolle ironische Verfrem-
dung seines Widerspruchs gegen Fortschrittsglauben und Zu-
kunftsplanung. Es scheint ganz so, als stritte der Philosoph im
Souterrain für eine rein negative, eine nihilistische Freiheit,
dafür, daß jedermann nach Neigung und Laune tun darf, was
er will 16 . Der Protest verbündet sich mit einer geschichtsphilo-
sophischen Skepsis. Beinahe zynisch scheint sie die bestehenden
sozialen Zustände mit aller ihrer Ungerechtigkeit, auch die in
der Weltpolitik bisher herrschende Maxime des Macht-Gleichge-
wichts mit ihrer latenten Hinneigung zu kriegerischem Austrag
der Spannungen zu bejahen. Das ist die Maske des „Gentleman
mit der reaktionären Physiognomie" (Kap. 7), der eines Tages
vielleicht aus purer Langeweile das ganze auf Vernunft und
Nützlichkeit begründete Gebäude der Zivilisation zum Einsturz
bringen wird.

94
Der Leser soll sich durch diese Maskierungs- und Verfremdungs-
technik des Autors nicht täuschen lassen. Hinter der höhnischen
Karikatur des künftigen „Kristallpalastes", der auf dem Gesetz
der ökonomischen Vernunft errichtet werden soll, verbirgt sich
eine tiefe Besorgnis um die fernere Zukunft, um die Ereignisse
und Katastrophen, die dieser skeptische Einsiedler für das 20.
Jahrhundert vorausahnt. — Die vermeintlich durch Vernunft-
und Naturgesetz verbürgte harmonische Weltordnung wird
umschlagen in blutige Gewalt. Schon heute, „sehen Sie sich
um, fließt Blut in Strömen, so kreuzfidel, als wäre es Cham-
pagner" (I, 7). In Zukunft wird es erst recht fließen, mit zu-
nehmender Zivilisation nur desto reichlicher. Wiederaufsteigende
primitive Instinkte werden das Gebäude unserer Zivilisation
erbarmungslos zerschlagen. Was auf uns zukommt, das sind
Ausbrüche archaischer Wildheit, Kriege und Bürgerkriege,
doppelt schaurig, weil sie sich selbst als Glaubenskriege ver-
stehen werden 1 7 .
Erst gegen Ende des I.Teiles kommt wenigstens halbwegs deut-
lich heraus, welche Freiheit der rebellische Denker im Kellerloch
eigentlich im Sinn hat. Es ist nicht, wie es anfangs aussah, eine
nihilistische Spiel- und Willkürfreiheit. Es ist nur die Freiheit,
das Menschsein nicht definiert sein zu lassen durch Wohlergehen,
Sicherheit, wachsenden Lebensstandard. Für den Menschen, wenn
er Mensch bleiben oder werden soll, ist das Leiden, ja auch der
Wille zum Leiden, ganz ebenso lebensnotwendig wie der Wille
zum Glück. Aus dem wahren Menschenglück ist die Bereitschaft
zum Leiden nicht fortzudenken 18 .
Über die geschichts- und kulturkritischen Perspektiven hinaus
wird in den Monologen dieses Sonderlings aber auch psycholo-
gisches Neuland betreten. Der I.Teil der „Aufzeichnungen"
setzt an zu einer kritischen Interpretation des Bewußtseins, die
— wieder unter ironischen Verkleidungen — nahe an die Ent-
deckungen der modernen Tiefenpsychologie heranführt. — Das
Bewußtsein, im besonderen das „geschärfte" Bewußtsein des
neuzeitlichen Menschen mit seinem Trend zu unendlicher Re-
flexion ist eine krankhafte Entartung der Menschennatur, meint
der Kellerloch-Denker. Er sagt es noch pointierter: „das Be-
wußtsein ist eine Krankheit." Das bestätigt sich ihm auch darin,

95
daß der Mensch des gesteigerten Bewußtseins, vor allem er selbst,
zum Handeln unfähig wird.
Die kritische Analyse des Bewußtseins führt ihn zur Entdeckung
des Unbewußten; sie deutet auf Freuds Psychoanalyse und auf
ihre philosophische Entsprechung in Nietzsches Moralkritik vor-
aus. Nicht von ungefähr befinden wir uns im „Kellerloch". Im
Kellergeschoß der Seele stauen sich geheime Triebe und Wünsche,
die vom Bewußtsein gewaltsam verdrängt werden, weil sie in
der gesellschaftlichen Umwelt keine Aussicht auf Erfüllung ha-
ben und also um der Erhaltung der Person willen unterdrückt
werden müssen. — Das surrealistische Symbol dieser wirklichen
Person, mit Einschluß ihrer zurückgestauten Wünsche und
Affekte, ist die rachsüchtige und zugleich ohnmächtige Maus
(Kap. 3).
Für den Menschen mit dem „geschärften Bewußtsein" kann es
keine bösartigere Kritik geben als seine Vergleichung mit dieser
widerlichen Maus, die ihr tristes Mäuseleben in ihrem „scheuß-
lichen stinkenden Kellerloch" zubringt, hin- und hergetrieben
zwischen der Angst vor ihren Feinden und der nie gestillten
ohnmächtigen Rachsucht, überdies „sich mit ihrer eigenen Phan-
tasie boshaft verspottend und aufstachelnd". Ist dieses „über-
bewußte" Reflexionswesen identisch mit dem Widersacher, gegen
den die grandiose Disputation über den wahren Menschenvorteil
(Kap. 7—9) gezielt ist? Beinahe möchte man es vermuten. Doch
je gründlicher man in die Untertöne dieses selbstquälerischen
Monologes hineinhorcht, desto deutlicher wird einem, daß der
fiktive Autor der „Aufzeichnungen" in dem abscheulichen Spott-
bilde des Menschen mit dem geschärften Bewußtsein niemanden
sonst als sich selbst entblößen und geißeln will. Der wirkliche
Autor denkt sich, wie die hintersinnige redaktionelle Vorbemer-
kung besagen soll, mit diesem fiktiven Autor, einem „Charakter
der jüngstvergangenen Zeit", zwar nicht zu identifizieren. Und
doch steckt in der bitterbösen Karikatur dieses gestrigen Men-
schen auch ein gutes Stück Selbstbekenntnis. Die Spottlust der
„Maus", eben noch giftige Selbstverspottung, schlägt mitten
im Zuge des 3. Kapitels plötzlich um in abschätzige Verhöhnung
des „normalen" Tat- und Erfolgsmenschen, der seine — manch-
mal beneidenswerte — Selbstsicherheit am Ende nur seinem

96
vollkommen naiven Lebens- und Selbstverständnis verdankt.
Es ist schwer, den immerzu wechselnden Wendungen und Aus-
fällen dieses überlegenen Florettfechters zu folgen. Die letzte
Spitze der kritischen Bewußtseinsanalyse ist doch wieder die
Absage an die Erhebung der Vernunft (bzw. des Verstandes)
zum eigentlich menschlichen Vermögen. Der Verweis auf das
Unbewußte, der in Dostojewskijs späteren Werken immer
wiederkehrt, und der rebellische Protest gegen die vermeinte
Unwiderruflichkeit der Gesetze, auf die der Verstand die Wirk-
lichkeit festlegen will, beides verbindet sich in dem Bekenntnis
zum Primat des Willens, zur personalen Freiheit des Menschen
und darüber hinaus zu jenem „Ganzen" des Menschseins, das in
den Romanen der letzten fünfzehn Jahre mit der Formel vom
„lebendigen Leben" umschrieben werden wird.

IL K a p i t e l

Wege z u r christlichen Integration

Kaum zwei Jahre nach den „Aufzeichnungen aus einem Keller-


loch", die 1864 in der kurzlebigen Zeitschrift „Epodia" 1 9 er-
schienen, begann im „Russischen Boten" die Veröffentlichung
des Romans „Schuld und Sühne", des ersten der fünf Groß-
romane. Sie alle, „Schuld und Sühne", „Der Idiot", „Die Dä-
monen", „Der Jüngling", „Die Brüder Karamasow", kreisen
um das Thema des Glaubens, genauer des Widerstreits zwischen
Glauben und Unglauben. N u r im „Jüngling" tritt dieses
Generalthema relativ zurück; doch auch hier ist es in den reli-
giösen Disputationen zwischen Wersilow und seinem Sohn
Arkadij, der Hauptperson des Romans, und noch eindrücklicher
in der Gestalt des Pilgers Makar Iwanowitsdi mitgegenwärtig.
Außer diesen fünf Großromanen schuf Dostojewskij während
der letzten fünfzehn Jahre seines Lebens nur noch die beiden
kürzeren Romane „Der Spieler" (1866) und „Der ewige Gatte"
(1870), dazu die zwei „phantastischen Erzählungen", „Die
Sanfte" und „Der Traum eines lächerlichen Menschen". Im

/-9? .
Bayerische
Staatsbibliothek
München
Mittelpunkt der fünf „Romantragödien", die von 1866 an das
Gesamtbild und die künftige Wirkungsgeschichte Dostojewskijs
überwiegend bestimmen, steht außer Zweifel die Frage, die in
den Vorstudien zu den „Dämonen" knapp so formuliert ist:
„Ist das Gläubigsein überhaupt möglich? . . . kann man gläubig
und zugleich zivilisiert, das heißt ein Europäer sein?" 2 0
Von diesem religiösen Thema, das die Großromane beherrscht,
war in Dostojewskijs Werken von 1846 bis 1864 nirgends aus-
drücklich die Rede; es war allenfalls als Horizont der Proble-
matik des Menschseins gelegentlich erkennbar. So scheint zwi-
schen dem Werk der frühen und mittleren Jahre hier und dem
CEuvre der Zeit von 1866 bis 1880 dort ein tiefer Einschnitt
gesetzt. Es stellt sich die Frage, wie er zu verstehen ist.

1. Lebensgeschichtliche Spuren

Über die religiöse Position des jungen Dostojewskij in den Jah-


ren vor seiner Verwicklung in die Affäre der Petraschewzen
wissen wir wenig Genaues. Sowohl von Belinskij, dessen früher
Tod (1848) ihn aufs schmerzlichste bewegte, wie auch in dem
Lese- und Debattierzirkel um Petraschewskij hörte er harte An-
klagen gegen die orthodoxe Staatskirche, und es gab — nament-
lich in dem engeren Kreise der revolutionären Aktivisten um
Speschnew und Durow, in den er hineingezogen wurde 2 1 —
auch radikal-religionskritische und atheistische Stimmen. Der
sowohl von Belinskij wie von den Petraschewzen vertretene
„utopische Sozialismus" Fouriers verstand sich im ganzen als
eine Erneuerung und Ergänzung der ursprünglichen humanitären
Lehre Christi, allerdings in scharfem Gegensatz gegen die
politisch-autoritäre Verderbung dieses ursprünglichen Christen-
tums durch die Kirche. Diese dem utopischen Sozialismus schon
von St. Simon her beigesellte Tendenz zu einer sozial-humani-
tären Neuauslegung des Christentums hatte sachlich nahe Ver-
wandtschaft mit den Grundgedanken des späten Tolstoj, ja
schon mit seinem Projekt einer „neuen Religion" im Tagebuch
von 1855. — Auch in der kurzen revolutionären Durchgangs-
periode, die mit seiner Verhaftung und Verurteilung endete,
war Dostojewskij niemals Atheist. — 25 Jahre später berichtet

98
er von heftigen Auseinandersetzungen mit Belinskij, der ihn
vergeblich vom Glauben an Christus abspenstig zu machen ver-
sucht habe 2 2 .
Eine tiefe innere Umwandlung seiner politischen sowohl wie
religiösen Überzeugungen haben offenkundig die vier harten
Jahre im Zuchthaus von Omsk mit sich gebracht. Eine Andeu-
tung darüber findet sich in einem der letzten Kapitel der „Auf-
zeichnungen aus einem toten Hause":
In meiner seelischen Vereinsamung unterzog ich mein ganzes bis-
heriges Leben einer genauen Durchsicht, prüfte alles bis in die ge-
ringsten Kleinigkeiten hinein, versenkte mich in meine Vergangenheit
und hielt über mich ein unbarmherziges und strenges Gericht. Zu-
weilen segnete ich sogar mein Schicksal dafür, daß es mir diese Ver-
einsamung schenkte, ohne die ich weder dieses strenge Gericht über
mich selbst abgehalten noch diese genaue Durchsicht meines früheren
Lebens vorgenommen hätte 23 .

Authentisch bezeugt ist Dostojewskijs Umgang mit dem Neuen


Testament, das die Dekabristenfrauen in Tobolsk ihm schenkten;
es war das einzige Buch, das den Sträflingen zu lesen erlaubt
war. Übrigens bat er schon während der Untersuchungshaft
1849 seinen Bruder um eine Bibel; unter den Büchern, die er
nach der Entlassung aus dem Zuchthaus für seine Straf-
soldatenzeit in Semipalatinsk dringlich erbat, befinden sich
neben philosophischen und historischen Werken auch die „Kir-
chenväter" 24.
Das wichtigste Selbstzeugnis für Dostojewskijs Umdenken in
Sachen der Religion ist aber der Brief an die Dekabristenfrau
N . D. Fonwisin, unmittelbar nach der Befreiung aus dem Zucht-
haus 2 5 :
Ich habe von vielen gehört, daß Sie sehr religiös sind. Doch nicht,
weil Sie religiös sind, sondern weil ich es selbst erfahren . . . habe,
will ich Ihnen sagen, daß man in solchen Augenblicken „wie trockenes
Gras" nach dem Glauben lechzt und ihn schließlich findet, eigentlich
nur, weil man im Unglück die Wahrheit klarer sieht.
Ich will Ihnen von mir sagen, daß ich ein Kind dieser Zeit, ein Kind
des Unglaubens und der Zweifelsucht bin und es wahrscheinlich (ich
weiß es bestimmt) bis an mein Lebensende bleiben werde. Wie ent-
setzlich quälte mich (und quält midi auch jetzt) diese Sehnsucht nach

99
dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr Gegenbeweise ich habe.
Und doch schenkt mir Gott zuweilen Augenblicke vollkommener
Ruhe; in solchen Augenblicken liebe ich und glaube auch geliebt zu
werden; in diesen Augenblicken habe ich mir mein Glaubensbekennt-
nis aufgestellt . . . Es ist höchst einfach, hier ist es:
Ich glaube, daß es nichts Schöneres, Tieferes, Sympathischeres, Ver-
nünftigeres, Männlicheres und Vollkommeneres gibt als Christus. Ich
sage mir mit eifersüchtiger Liebe, daß es dergleichen nicht nur nicht
gibt, sondern auch nicht geben kann. Ich will noch mehr sagen: Wenn
mir jemand bewiesen hätte, daß Christus außerhalb der Wahrheit
steht, und wenn die Wahrheit tatsächlich außerhalb Christi stünde,
so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit
zu bleiben.

Die hier als Grenzfall vorgestellte Antithese zwischen Christus


und der Wahrheit setzt die letztere gleich mit dem, was in den
Kreisen der westlerischen Intelligenz damals als wissenschaftlich
(speziell naturwissenschaftlich) erweisbare Wahrheit galt. Der
wahre Sinn dieses Christusbekenntnisses wird durch spätere
Aussagen, namentlich durch einen Brief zum ideologischen Plan
des „Idiot"-Romans 2 6 verdeutlicht: Dostojewskij erkennt in
Christus das unübertreffliche „Ideal", das Urbild des Mensch-
seins. Dahinter steht eine persönliche Herzensbeziehung zu
Christus, eine „glühende Liebe" 27 , also nicht nur, wie bei Tol-
stoj, eine Bejahung der „Lehre Christi".
K.Motschulskij** und andere nennen das Bekenntnis von 1854
einen „christlichen Humanismus", Motsehulskij in betonter
Unterscheidung gegenüber dem orthodoxen Bekenntnis zur
Gottheit Christi. Für 1854 mag das zutreffen. In späteren Doku-
menten legt Dostojewskij jedoch diese von ihm immer fest-
gehaltene „Ideal"-Christologie ausdrücklich als eine Aktuali-
sierung des orthodoxen Christusglaubens aus, für den alles an
der wirklichen Menschwerdung Gottes, des „ewigen Wortes", in
Jesus von Nazareth gelegen ist, und zwar in scharfer Kontra-
stierung gegenüber dem „liberalen", nur menschlichen Christus-
bilde der europäischen, in seinen Augen vorzugsweise der prote-
stantischen Wissenschaft29.
Daß diese seit der Zuchthauszeit fortgehend befestigte Hin-
wendung des Dichters zum christlichen Glauben, in steigendem

100
Maße auch an die russische Orthodoxie angelehnt, ziemlich ge-
nau mit der russisch-nationalen und monarchistischen Neuorien-
tierung seiner Überzeugungen parallel läuft, läßt sich schon in
den Briefen aus der sibirischen Soldatenzeit deutlich erkennen.
Man darf diese Parallelität nicht gering schätzen, darf sie aber
auch nicht so verstehen, als wäre die zunehmend bestimmt arti-
kulierte Christlichkeit nur eine Begleiterscheinung seines slawo-
philen Russentums. Die Problematik, die diese Konfiguration
seiner religiösen und politischen Gesinnungen in sich schließt,
kommt im folgenden Kapitel noch näher zur Sprache.

2. Humanismus ohne Illusionen

Der seit dem Raskolnikow-Roman sich vollziehenden Hinord-


nung des menschlichen Wesensbildes auf die Mitte des Glaubens,
kurz: der christlichen Integration von Dostojewskijs Dichtwerk
haben die Erfahrungen der sibirischen Sträflings- und Soldaten-
zeit mittelbar auch in anderem Sinne vorgearbeitet. Wie immer
man auch Gewicht und Tiefgang von Dostojewskijs eigenen
religiösen Erfahrungen einschätzen mag, jedenfalls hat diese
hohe Schule der Menschenkenntnis entscheidend beigetragen zur
Desillusionierung seines Menschenbildes.
Das zeigen die Werke der 1860er Jahre, spätestens seit der
meisterhaften Satire „Eine dumme Geschichte" (1862), den
„Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke"
(1863) und den „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" (1864),
im Vergleich zu dem schwärmerischen und idealisierenden
Grundzug, der der Mehrzahl der frühen Werke, voran dem
Erstling „Arme Leute", aber auch den Erzählungen „Weiße
Nächte", „Ein schwaches Herz", „Die Hausfrau", nicht zuletzt
dem großangelegten Romanfragment „Netotschka Neswanowa"
anhaftet 30 . Die Menschen, die hier die Szene beherrschen, sind
zumeist ichbesessene Träumer ohne tieferen Bezug zur Wirklich-
keit; auch ihnen widerfährt durchweg ein ähnliches „Mißlingen
der Liebe", wie K.Hamburger es als die eigentliche Tragik von
Tolstojs Geschichte aufzeigt. Wenn Dostojewskij die Sträflinge
im „toten Hause" mehrfach als „große Träumer" schildert, so
hat er ihnen wohl auch gewisse Züge seiner eigenen Anlage bei-

101
gelegt. Bestärkt worden zu sein scheint der junge Dostojewskij
in dieser träumerischen und idealischen Haltung, die sich in den
Figuren des Frühwerkes spiegelt, auch durch seine tiefe, bis in
die Kindheit zurückreichende Liebe zu Schiller, vor allem dem
jungen Schiller, dem Dichter der „Räuber" und des „Don Car-
los". Die von Schiller überkommene enge Verknüpfung des
Ethischen und des Ästhetischen mitsamt dem daraus erwachsen-
den idealischen Maßbild des Menschseins ist in Dostojewskijs
Dichtwerk und Lebensgefühl bis ans Ende bewahrt. Ein schlüs-
siger Beweis für diese beständige Fortwirkung des Schillerschen
Ethos ist die Gestalt Dmitrij Karamasows (BrK 111,3).
Aber seit dem Neuanfang von 1861 empfängt diese idealisie-
rende Humanität ein tiefgreifendes Korrektiv. Von vornherein
hat freilich Dostojewskij ein waches Bewußtsein von der spezi-
fischen Schwierigkeit des Menschseins 31 . Jetzt hat es sich zu
einer radikal-kritischen und skeptischen Attitüde der Menschen-
betrachtung verschärft. — Ein ergiebiges Dokument für den
Übergang zu dieser kritisch-skeptischen Destruktion des ideali-
schen Menschenbildes ist doch schon der Roman „Die Ernied-
rigten und Beleidigten", gerade darum, weil der Ich-Erzähler
und die ihm nahestehenden Menschen, die Freundin Natascha
nebst ihren Eltern, auch das Waisenkind Nelly, das Profil der
„Schiller-Menschen" zeigen. Die Romanhandlung, die vom
Sentimentalen und Melodramatischen ins Tragische aufsteigt, ist
im Kerne nichts anderes als die Real-Destruktion des „guten
Menschen", die bis zum bitteren Ende vorangetriebene Enttäu-
schung der Vertreter dieses „Schiller"-Typus durch den zynischen
Egoismus der Gewalt und der Lüge, den Fürst Walkowskij in
massivster Weise verkörpert. Das große Wirtshausgespräch
zwischen Walkowskij und dem Ich-Erzähler, dem jungen
Schriftsteller Iwan Petrowitsch 32 , von dem schon im I.Kapitel
die Rede war, ist die schamlose Selbstentblößung des „starken
Mannes"; sie gipfelt in der These, daß alle „edlen", selbstlosen
Regungen und Taten eines Menschen nur Sublimierungen und
Umwege des unveränderlich ichbezogenen Macht- und Genuß-
willens seien. Alle Moral, so belehrt Walkowskij den fassungslos
entsetzten jugendlichen Gesprächspartner, ist nur ein Inbegriff
von „Schutzvorrichtungen" (111,10) des Ich, dazu bestimmt, das

102
Leben möglichst vergnüglich — und die Überlistung der anderen
möglichst glaubwürdig zu machen. Der Fürst gießt, ganz wie
sein Pendant Swidrigailow in „Schuld und Sühne", alle Schalen
überlegenen Spottes über die Sdiillerianer aus, die an einen
Selbstwert der Tugend, des Guten, der Menschenliebe glauben —
und sich dabei selbst betrügen, überdies zwangsläufig den Kürze-
ren ziehen und schließlich ihr Unterliegen kümmerlich durch
das Bewußtsein ihrer sittlichen Überlegenheit kompensieren;
etwas Besseres bleibt ihnen ja nicht übrig.
Diese zynische Moraldoktrin ist selbstverständlich nicht Dosto-
jewskijs eigene Ansicht; aber Walkowskijs exhibitionistische
Enthüllungen durchleuchten auch im Sinne des Autors die ge-
heimen Handelnsmotive des durchschnittlichen Menschen. —
K. Motschulskij (S. 164—181) in seiner ausgezeichneten Analyse
der „Erniedrigten und Beleidigten" sieht hier die „Ohnmacht
des humanitären Moralismus" und die „Lüge" der Idee von
einer natürlichen Güte des Menschen durch den Dichter ins Licht
gestellt. Hier zum ersten Male, sagt er, begegnet bei Dosto-
jewskij „die religiöse Wahrheit der Erbsünde", und damit be-
ginnt das Thema der „religiösen Tragödie", das die großen
Romane fortan beherrschen wird. Das dürfte eine Nuance zu
direkt christlich-theologisch gesehen sein. Aber daß in den „Er-
niedrigten" die Desillusionierung des Menschenbildes erstmals
thematisch wird, darin hat Motschulskij den Dichter recht ver-
standen.
Während in den „Erniedrigten" jedoch Restbestände eines senti-
mentalen Idealismus noch in unausgeglichenem Widerstreit mit
der erbarmungslosen Entlarvung der essentiellen Ichbesessenheit
und Verlogenheit des Menschen liegen, treiben die drei Jahre
später veröffentlichten „Kellerloch"-Aufzeichnungen diese Ent-
larvung in Gestalt einer (scheinbar) hemmungslosen Selbstent-
hüllung des Helden, nach Dostojewskijs eigenem Ausdruck des
„Anti-Helden" provokativ auf die Spitze. Hier setzt sich die
lustvolle Selbstentblößung des Fürsten Walkowskij in gerader
Linie fort, nur, wie Meier-Graefe sagte (s.o.S.93), bis an die
äußerste Grenze des Erträglichen hochgespielt. Nicht umsonst
bekennt der fingierte Autor im Schlußstück des IL Teiles: „Ich
habe mich während des Schreibens dieser Novelle die ganze Zeit

103
geschämt; also ist es nicht mehr Literatur, sondern eine Korrek-
tionsstrafe." Ton und Abzielung dieser „Korrektionsstrafe" ist
indessen von der genießerischen Selbstentblößung Walkowskijs
zweifach unterschieden. Der Fürst bekennt sich mit triumphie-
rendem Stolze zu seinem grundsätzlidien Amoralismus; der
Autor im Kellerloch ist sich der Häßlichkeit und auch der
„Lächerlichkeit" seines autistischen Weltverhaltens bewußt; er
fühlt sich im Kellerloch als ein Gefangener, er weiß, er gehört
zu den verächtlichen „Hühnerherzen", denen bei völliger Un-
fähigkeit zu vertrauender Kommunikation mit dem Neben-
menschen nur der Scheintriumph der intellektuellen Überlegen-
heit über die stumpfsinnigen Tat- und Erfolgsmenschen übrig-
bleibt. Und weiter, diese Beichte des Kellerloch-Menschen ist in
ihrer gewollten Abscheulichkeit eine Mystifikation; in dem ver-
fremdeten Schaubild einer heillos verbogenen und verlorenen
Existenz aus „jüngster Vergangenheit" ist die positive Wahrheit
versteckt, daß die personale Freiheit zu dem unaufgebbaren
Wesensbilde des Menschen gehört. Diese Wahrheit ist so kunst-
voll, beinahe hinterlistig verschlüsselt, daß auch höchst seriöse
Dostojewskij-Interpreten wie L. Schestow und R. Guardini ent-
weder durch die Verschlüsselung irregeführt wurden oder an
diesem für das Verständnis Dostojewskijs kardinalen Texte
überhaupt vorbeigegangen sind33. Welches freilich jene eigentlich
menschlichen Bedarfe sind, um deretwillen die persönliche Frei-
heit keiner noch so perfekt geordneten Gesellschaft aufgeopfert
werden darf, darüber finden sich an der entscheidenden Stelle
(1,10) nur auffallend knappe Andeutungen. Wir erfahren nur,
daß der Wille zum Leiden ein ebenso wesentliches humanes
Erfordernis sei wie der Wille zum Glück.
Warum wir hier nicht mehr erfahren, darüber scheint ein Brief
des Autors an den Bruder Michail überraschenden Aufschluß zu
geben. Die Zensur, heißt es hier, hat durchgehen lassen, was er
schrieb, um sich über alles lustig zu machen, auch die „zum
Schein" getriebenen Blasphemien; aber „wo ich aus dem Gesag-
ten die Notwendigkeit des Glaubens und Christi folgerte, das
haben sie unterdrückt"34. Dostojewskij hat aber das offenbar
verkürzte Kap. 1,10 auch in den späteren Werkausgaben nicht
um die ursprünglich zugehörigen christlichen Ausblicke erweitert,

104
so daß, wie Motschulskij sagt, „die Philosophie der Tragödie
ihrer mystischen Krönung beraubt ist".
Wie immer sich dies verhalten mag, das grausam entzauberte
Bild des wirklichen Menschen, wie es in den peinlichen Ge-
ständnissen der „Kellerloch"-Aufzeichnungen zu stehen kommt,
ist in jedem Falle das unmittelbare Vorspiel des Raskolnikow-
Romans, in dem der christliche Maßstab der Humanität zum
ersten Male ausdrücklich aufgerichtet — und in Person und Tat
Sonjas auch aktuell bewahrheitet wird. Ein sorgsames Studium
von „Schuld und Sühne" einschließlich der erhaltenen Vor-
arbeiten verdeutlicht die Dichte des Zusammenhanges zwischen
jenen Aufzeichnungen von 1864 und dem Raskolnikow-Roman
bis in viele Einzelheiten. In der reflektierten Selbststilisierung
der Hauptperson, des Studenten Rodion Raskolnikow, zu einem
Macht- und Übermenschen nach Napoleons und Chingis-Chans
Muster setzt sich der hemmungslose Amoralismus Walkowskijs
und erst recht die rationale Dialektik des solipsistisch „ver-
rückten" Denkers aus dem Kellerloch folgerichtig fort. — Greif-
bare Zusammenhänge bestehen ebenso zwischen der unglück-
lichen Lisa, der Partnerin und dem Opfer des Kellerloch-Philo-
sophen, und Sonja Marmeladow: beide sind Dirnen wider
Willen, und hier wie dort trifft das entehrte Mädchen auf einen
Partner, der sich darauf kapriziert hat, „jenseits von Gut und
Böse" zu stehen. Dafür ist der Ausgang des Begegnens hier und
dort ganz verschieden. Lisa entschwindet den Blicken als das
zertretene Opfer des experimentierenden Übermenschen. Sonja
dagegen erweist eine geheimnisvolle seelische Übermacht, die
gegenüber Rodion, dem Mörder und Herrenmenschen, wider
alles Erwarten, den Sieg behält. Wie die Lesung der Lazarus-
geschichte, der Mittelpunkt der inneren Geheimgeschichte (IV, 4)
erkennen läßt, ist diese Macht der armseligen, verschüchterten
Sonja nur das Transparent für die Übermacht des Evangeliums
und des Glaubens an den Gott des Evangeliums, der auch die
Toten auf erwecken kann. Wieso diese Macht verwandelnd in die
wirkliche Geschichte Rodions eingreift, das wird, charakteristisch
für Dostojewskijs indirekte Weise christlicher Glaubensrede,
allerdings erst als Horizont am Ende des Epilogs sichtbar.

105
3. Der vollkommen schöne Mensch
(„Der Idiot")

Vollzogen ist die christliche Integration von Dostojewskijs


Menschen- und Geschichtsbild in den Großromanen von „Schuld
und Sühne" bis zu den „Brüdern Karamasow". Es hat mit ihrer
Realisierung aber eine besondere Bewandtnis. Unter der ver-
wirrenden Vielzahl der Personen, die in diesen Romanen auf-
treten, einer Gesellschaft von absonderlichen, großenteils extre-
men und abartigen Figuren, sind die persönlichen Zeugen Christi
und Repräsentanten christlicher Existenz auffallend spärlich
vertreten. Und in der kleinen Schar dieser Repräsentanten fin-
det sich wiederum kaum ein einziger, der das russisch-orthodoxe
Kirchentum in seiner institutionellen Form verkörpert. — Ein
„geborener Christ", anima naturaliter christiana, ist der jüngste
der Brüder Karamasow, Aljoscha. Seine eigentliche Geschichte
wollte Dostojewskij, wie das Vorwort ankündigt, erst in einer
Fortsetzung des vorliegenden Romans schreiben 35 . Dieser (ein-
zige, den wir haben) „ist bloß ein Ausschnitt aus der ersten
Jugendzeit meines Helden". Aljoscha ist hier wesentlich der
Schüler und Vermächtnishüter des Starez Sosima, dessen Ge-
schichte und mündliche Lehre im VI. Buch, vorbereitet durch die
sechs ersten Kapitel des IL Buches, das positive christliche Wort
des Dichters am ausdrücklichsten ausspricht. Aber auch Starez
Sosima ist innerhalb der russischen Kirche eine Grenzgestalt.
Das Starzentum überhaupt (vgl. I, 5) und im besonderen Sosi-
mas weitherziges, weltoffenes Christentum ist in der Kirche, ja
auch unter dem Mönchtum umstritten, beinahe verdächtig. Das
zeigt sich zunächst an der grotesken, aber für viele Mönche ver-
ehrungswürdigen Figur seines Gegenspielers, des Pater Ferapont
(IV, 1), und noch drastischer, bis zum Anstößigen, an der
Schadenfreude von Sosimas heimlichen Widersachern nach sei-
nem Sterben: daß dies keine „Verklärung" war, wie seine Schü-
ler und Freunde im stillen hofften, sondern ein ganz gewöhn-
liches Sterben mit allen Peinlichkeiten der Verwesung. — Ein
sonderbarer Heiliger scheint, nach den Gerüchten zu urteilen,
die im Kloster über ihn umgehen, auch der krankheitshalber zur
Ruhe gesetzte Bischof Tichon (in den auf Weisung des besorgten

106
Verlegers ausgeschalteten Kapiteln der „Dämonen"). Die cha-
rismatische Seelsorge, die er — ähnlich wie die Starzen — übt,
versagt im Falle Stawrogins an dessen innerer Verhärtung, viel-
leicht aber auch an Tichons allzu demütiger Scheu vor hartem
beichtväterlichen Zugriff. — Der Pilger Makar Iwanowitsch im
„Jüngling" ist eine Erscheinung von liebenswerter menschlicher
und religiöser Ursprünglichkeit, zugleich aber auch ein Sonder-
ling, mit einem kleinen Stich ins Komische porträtiert.
Erinnern wir uns nochmals der Frau, die die kleine Reihe der
Christuszeugen in der Folge der Großromane eröffnet, Sonja
Marmeladow — sie ist eine Dirne, wennschon wider Willen,
und vielleicht eine Heilige im tiefen Inkognito. An ihr wird das
Jesuswort an die Pharisäer Matth. 21,31 „Wahrlich, ich sage
euch, die Zöllner und die Dirnen werden euch im Himmelreich
zuvorkommen" zum Erstaunen gültig bekräftigt. — Wenn diese
Dirne indes noch eine verfremdete Heilige ist, ganz und gar
unheilig, ja nach den elementarsten Maßstäben humaner Moral
und Dezenz ein unmögliches Subjekt ist der meistens betrun-
kene, nichtsdestoweniger gerissene Intrigant und Doppelspieler
Lebedew im „Idioten", der nebenher die Apokalypse des Jo-
hannes auslegt; ausgerechnet diesem schmutzigen Zwischenträger
hat Dostojewskij einige seiner persönlichsten Gedanken in den
Mund gelegt. — Zwar ein ungewöhnlich anständiger Mensch
innerhalb der zweifelhaften Gesellschaft seiner Gouvernements-
stadt, aber zugleich ein Extrem von glaubensfremder Denkart ist
Ingenieur Kirillow in den „Dämonen", der Mann, der seinen
Atheismus durch den Selbstmord offenbaren und beweisen will
— und dabei vielleicht der glühendste Verehrer, ja Liebhaber
Christi im ganzen Dichtwerk Dostojewskijs ist. Ihm ideologisch
verwandt, ist der schwindsüchtige, verbitterte Junge Ippolit
Terentjew im „Idiot" und schließlich Iwan Karamasow eben
darum Atheist geworden, weil er es dem Schicksal, dem völlig
unbegreiflichen Gott oder (was vielleicht dasselbe ist) dem blind
und sinnlos waltenden Naturgesetz nicht verzeihen kann, daß
sogar Jesus von Nazareth, der einzig reine und vollkommene
Mensch, den schmählichen Tod am Kreuze starb. — Von diesen
Christuszeugen fände nicht einer Platz in einer orthodoxen
Heiligen-Vita. Das Christentum, das sie vertreten oder auch als

107
unglückliche Liebe in ihrem zwiespältigen Herzen tragen, hat
mit russisch-orthodoxer Kirchlichkeit — abgesehen etwa von
Tichon und Sosima — herzlich wenig zu schaffen. Es ist ein
Christentum, das bei den meisten von ihnen mit dem Unglauben,
der Verzweiflung, mindestens mit einer tiefen Skepsis in niemals
ausgekämpftem Widerstreit liegt.
Aber einmal — und nicht wieder — hat Dostojewskij versucht,
etwas wie ein menschliches Abbild der Person Jesu Christi zu
schaffen, nach den Maßen und Gesetzen der Dichtung. Auch
dieses Nachbild ist nicht im Stil der Hagiographie gehalten; es ist
im Gegenteil betont weltlich, bewußt zeitgenössisch-profan ge-
formt, überdies mit dem Makel und der Bürde einer Krankheit
behaftet, die diesen Christusträger in den Augen seiner groß-
und mittelbürgerlichen Umwelt peinlich diskreditiert; er ist,
wie Dostojewskij selbst, Epileptiker. Dieser unkenntliche Chri-
stus, Mensch unter Menschen, ist der Held des Romans „Der
Idiot", Fürst Lew Myschkin. Selbst der Fürstentitel wirkt an
diesem unbeholfenen jungen Mann, der zuerst als schäbig ge-
kleideter Drittklass-Reisender im Schnellzug Warschau-Peters-
burg auftaucht, wie eine persongewordene Ironie.
Von diesem zwielichtigen Fürsten, einem Geistesverwandten des
„Ritters von der traurigen Gestalt", heißt es in einem der letzten
Vorentwürfe des Romans: Der Fürst ist Christus. Was Dosto-
jewskij mit dieser paradoxen Identität im Sinn hat, darüber
gibt ein Brief an seine Moskauer Nichte Sofja Iwanow bündig
Auskunft 36 :

Die Grundidee ist die Darstellung eines wahrhaft vollkommenen und


schönen Menschen .. . Alle Dichter . . . die die Darstellung des Positiv-
Schönen versucht haben, waren der Aufgabe nicht gewachsen, denn
sie ist unendlich schwer. Das Schöne ist das Ideal . . . Es gibt in der
Welt nur eine einzige positiv-schöne Gestalt: Christus. Diese unend-
lich schöne Gestalt ist selbstverständlich ein unendliches Wunder (das
ganze Evangelium Johannis ist von diesem Gedanken erfüllt; Johan-
nes sieht das Wunder in der Fleischwerdung . . . des Schönen) . . . Ich
will nur noch erwähnen, daß von allen schönen Gestalten in den
christlichen Literaturen mir die des Don Quichote am vollkommensten
erscheint. Don Quichote ist aber nur darum schön, weil er zugleich
lächerlich ist.

108
Zu diesem Projekt sowie zu der Ausführung im Roman selbst
mögen vier knappe Erläuterungen fürs erste genügen 37 .

(1) Der mitgeteilte Grundentwurf bezieht sich auf den johanne-


ischen Kerntext Ev. Joh. 1,14: „Das Wort wurde Fleisch und
nahm Wohnung unter uns." Aber anstelle des „Wortes", das
Gott selbst in seinem innergöttlichen Gegenüber, dem logos,
dem einigen Sohn, bezeichnet, ist es hier das Schöne, das sich
menschlich inkarniert. Die überraschende Ineinssetzung Gottes
bzw. des ewigen Wortes mit dem Schönen wiederholt sich in
einem mehrfach leitmotivisch wiederholten Satz des Romans:
Die Schönheit wird die Welt erlösen. Das scheint eine sonder-
bare Theologie. Was dem Dichter dabei vorschwebt, darüber
empfangen wir einen gewissen Aufschluß in der Beschreibung
des mystischen Erlebnisses, das dem Epileptiker in der Sekunde
vor dem Anfall zuteil wird. Die schwebende Formel, in die das
Erlebnis gefaßt wird, lautet Schönheit und Gebet; ihr zur Seite
tritt die Rede von der „höchsten Synthese des Lebens" (Idiot
11,5). Die intendierte Erfahrung versteht sich selbst eindeutig
als die Erfahrung Gottes. Der Autor reflektiert sogleich auf den
naheliegenden Einwand, der offenkundig psychopathologisdie
Ursprung dieser Erfahrung mache ihren Wirklichkeitsgehalt zu-
mindest zweifelhaft; er versucht dem Einwurf zu begegnen
durch die Unterscheidung dieses Erlebnisses von ekstatischen
Zuständen, die durch künstliche Mittel wie Rauschgifte will-
kürlich herbeigeführt werden 38 . Die Auslegung von Joh. 1,14
in dem angeführten Brief gewinnt durch den Rekurs auf die
ekstatische Erlebnisdisposition des Epileptikers nicht eben an
Überzeugungskraft. Doch er macht wenigstens verständlich, daß
der dem Autor vorschwebende Begriff der Schönheit nicht inner-
halb einer Phänomenologie des ästhetisch Schönen zu orten ist.
— Dieselbe religiöse Bedeutungsqualität wie hier wird der
Schönheit auch in der „Beichte" Dimitrij Karamasows (BrKar
111,3) zugeschrieben, dort aber mit dem Zusatz, das Schöne
stehe in Ambivalenz zwischen dem Göttlichen und dem Teuf-
lischen: „Hier kämpfen Gott und der Teufel, und das Schlacht-
feld ist das Menschenherz" 39. — Orthodoxe oder auch gemein-
christliche theologische Lehrüberlieferung würde man in dieser

109
Spekulation über die göttliche (möglicherweise aber auch gegen-
göttliche) Sinnqualität der Schönheit schwerlich aufspüren kön-
nen.

(2) Etwas anders steht es, entgegen der ersten Verblüffung, um


die Konfiguration des Schönen mit dem Lächerlichen: Don Qui-
chote ist nur darum schön, weil er lächerlich ist. Deutlicher wird
diese änigmatische These, wenn man darauf achtet, daß es Dosto-
jewskij hier um die „innere" Schönheit eines menschlichen Cha-
rakters geht, daß dieses Schöne, genau besehen, mit dem Guten
ineinsfällt.
Noch faßlicher entschleiert sich der Sinn dieser rätselhaften Zu-
sammenordnung von schön und lächerlich in der dichterischen
Verwirklichung der im Neujahrbrief 1868 umschriebenen Kon-
zeption. — Über diesen halbkranken und lebensuntüchtigen
jungen Mann, dem keiner den Fürsten ansehen würde, lachen
zunädist alle. Aber sobald einer mit ihm in nähere Berührung
kommt, kehrt sich das Lachen anfangs in ein Erstaunen, dann
meistens in Sympathie und Respekt um. Von der arglosen, ver-
trauenden und vertrauenerweckenden Lauterkeit dieses Menschen
werden alle, die auch nur ein wenig Menschlichkeit haben, fast
unwiderstehlich angezogen. Einige wollten ihn verletzen und
beleidigen. Doch dieser Mann steht außer aller Gefahr, unter
die Erniedrigten und Beleidigten versetzt zu werden; so hoch
ist er, mitten in seiner entwaffnenden Arglosigkeit, allem H ä ß -
lichen und Gemeinen überlegen. Dafür hat er die Gabe, mit
einem untrüglichen Tiefblick, jenem „höheren Verstände", den
Aglaja hinter seiner Naivität in den Dingen des praktischen
Lebens an ihm entdeckte (III, 8), die Geheimnisse der Herzen
zu durchschauen.
Im Hintergrunde dieses zugleich „vollkommen schönen" und
lächerlichen Personbildes steht — unausgesprochen, aber kaum
verkennbar — der Eindruck, den Paulus l.Kor. 1,23 aussprach:
der gekreuzigte Christus sei für die einen ein Skandalon, ein
Stein des Anstoßes, für die anderen eine Narrheit. Was das
letztere angeht, so spielt in die Erscheinung des „Idioten" von
ferne auch die volkstümlich-russische Figur des Gottes- bzw.

110
des Christus-Narren (jurodivij) hinein 40 , freilich in einer Subli-
mierung, die mit dem populären Typus des Gottesnarren (vgl.
Däm II, 5; 2.Absdin.) beinahe nichts mehr zu tun hat.

(3; Das eigentlich Christushafte an Fürst Myschkin, der wegen


seines angeborenen, am Ende der tragischen Handlung wieder-
kehrenden Leidens „der Idiot" heißt, ist die rätselhafte Macht
der Herzensverwandlung, die auch die fragwürdigsten und ver-
bogensten Charaktere in der Begegnung mit ihm erfahren. Wer
ihm nahe kommt, in dem blüht durch die Berührung mit Lew
Myschkin das verborgene Gute auf. Mit der „sanften Gewalt"
der vertrauenden Zuwendung gewinnt und überwindet er ab-
sichtslos beinahe alle Herzen. Allerdings, an den meisten wirkt
diese Strahlungskraft nur zeichenhaft und vorübergehend. Bei
kaum einem einzigen unter seinen Partnern kommt es zu einer
durchgreifenden Erneuerung. Dicht neben der Anziehungskraft
übt die innere Schönheit des Fürsten auf manche eine abstoßende
Wirkung aus. Diese Reinheit kann auch H a ß und Widerwillen
erwecken. In dem polaren Beieinander von Anziehung und
Abstoßung, das das Auftreten dieses wie aus einer fremden Welt
unter die Gesellschaft der Petersburger Bourgeoisie verirrten
Menschen auslöst, bereitet sich die tragische Endkatastrophe vor.
Zwei Frauen, nach Herkunft, Temperament und Vorgeschichte
einander entgegengesetzt, lieben den Fürsten, und beide gehen
an ihrer Liebe zugrunde. Zugrunde geht auch sein Gegenspieler
(und „Kreuzbruder") Rogoschin, der Mörder der Nastasja Filip-
powna, und auch er selbst, der „vollkommen schöne Mensch",
wird in der Katastrophe mitverschlungen.

(4) Ist er, der am Ende nichts als Unheil anrichtet und sich
selbst als schuldigen Urheber dieses Unheils erkennt (IV, 9),
nicht ein höchst zweifelhafter Repräsentant des christushaften
Menschen? Sicherlich. Wir sagten schon, daß Dostojewskij diesen
Versuch einer dichterischen Vergegenständlichung des Christus-
menschen niemals wiederholte. Und doch macht eben dieser
tragische Ausgang der Geschichte, die Zerstörung von vier
Menschenleben einschließlich des „schönen Menschen" selbst,
diese „Romantragödie" 4 1 transparent für die auf das Kreuz

111
hingeordnete Geschichte Jesu. Das gibt der heimlichen Christus-
bezogenheit des „Idiot"-Romans trotz allen Fragezeichen das
Siegel der Echtheit: unsichtbar im Hintergrunde der katastro-
phisch angelegten Handlung steht der gekreuzigte Christus.
Hier unterscheidet sich dieser gewagte Versuch einer ins Profane
transponierten Christusdichtung nicht nur von psychologisch-
romanhaften Christuslegenden, wie sie z.B. Gerhart Haupt-
mann (Der Narr in Christo Emanuel Quint) unternahm, son-
dern auch von dem denkbaren Entwurf einer menschlichen
Glaubens- oder Bekehrungsgeschichte.
Freilich ist das Kreuz Christi nicht in das Licht der Auferste-
hung gerückt. Sinnbild dieses Gekreuzigtwerdens ohne das
Hoffnungslicht der Auferstehung ist das Baseler Gemälde des
jüngeren Holbein „Der Leichnam Christi". Das Original sah
Myschkin, ebenso wie Dostojewskij 42 , im Baseler Museum. Die
Kopie im Hause Rogoschins wirkt auf ihn selbst (II, 4) und
dann auch auf den todkranken Ippolit Terentjew (III, 6) wie
eine Realwiderlegung des Glaubens an Gott; „vor diesem Bilde
kann ja manch einem der Glaube an Gott vergehen", ruft der
Fürst unter seinem Eindruck „ganz erschrocken" aus. Noch
krasser spricht es Ippolit Terentjew aus: die erbarmungslose
Vernichtung dieses Wesens, „das allein so viel wert war wie die
ganze N a t u r samt allen ihren Gesetzen", macht jeden Glauben
an Gott unmöglich. Dieser seltsame Beweis des Atheismus aus
der Enttäuschung an dem gekreuzigten Christus (dessen Auf-
erstehung ganz außer Betracht bleibt) wiederholt sich in den
letzten Worten Kirillows (Däm 111,6; 2.Abschn.). Der Chri-
stus, der am Kreuz die Worte des 22. Psalms nachgebetet hat
(Matth. 27,46; Mark. 15,34) 4 3 , ist selbst der „angefochtene
Christus". Und die Anfechtung Christi hat ihr genaues Nach-
bild in dem fassungslosen Erschrecken des Fürsten vor der Hin-
richtung eines Menschen. Er hat selbst in Lyon eine Hinrichtung
mit angesehen, und in dem Bericht, den er davon gibt (I, 2. 5),
ist Dostojewskijs persönliche Erfahrung auf dem Schafott am
22. Dezember 1849 exakt nachgebildet. Die Unmöglichkeit, ja
die dezidierte Unchristlidikeit der Todesstrafe steht im Mittel-
punkt der ersten Gespräche Mysdikins im Salon der Generalin

112
Jepantschin. In der künstlerisch meisterlichen Ineinanderfügung
des Holbein-Gemäldes vom toten Christus mit selbsterlittener
Todesangst ist der „Idiot" unter den fünf Großromanen das
reinste Beispiel dichterisch umgeformter Autobiographie.

III. Kapitel

Die zwei Gesichter von Dostojewskijs C h r i s t e n t u m

Alle fünf Großromane seit „Schuld und Sühne", sagten wir,


kreisen im wesentlichen um das Thema des Glaubens, genauer
um den Widerstreit von Glauben und Unglauben.
Dieser Satz bedarf einer Absicherung gegen Mißverständnisse,
die sich in der Dostojewskij-Interpretation dem umschriebenen
Befund häufig angehängt haben. Es wäre eine Überdeutung des
Befundes, wollte man Dostojewskijs Werk während dieser
letzten fünfzehn Jahre generell als „christliche Dichtung" an-
sprechen. Außerhalb eines engsten Bereiches, dessen Zentrum das
gottesdienstliche Gemeindelied ist und dessen Peripherie etwa
die religiöse oder auch geistliche Lyrik bezeichnen mag, ist die
Rede von christlicher Dichtung, auch in der personalen Ab-
wandlung zum „„christlichen Dichter", überhaupt proble-
matisch, ja wahrscheinlich untauglich. — Dichtung ist Dichtung.
Kein spezieller Inhalt, auch keine persönliche Gesinnung des
Dichters begründet als solche einen definierten Sonderbezirk
von Dichtung. Unabhängig von allen Unterschieden des Gegen-
standes und des persönlichen Ethos, das den einzelnen Dichter
erfüllen mag, wird Dichtung an den Kriterien des „sprachlichen
Kunstwerkes" gemessen; die „Wahrheit der Dichter" ist in
jedem Falle dichterische Wahrheit 4 4 .
An anderen Maßstäben hat auch Dostojewskij niemals gemessen
werden wollen, wenngleich sein Verständnis von Kunst und
Dichtung die Fesselung an eine selbstzwecklich-ästhetische Dok-
trin vom künstlerischen Schaffen entschieden von sich weist. Die
Versuchsformel der christlichen Integration seines Werkes seit
dem Raskolnikow-Roman verträgt auch keine eng stoffliche
Fassung. Die perspektivische Hinordnung aller Großromane seit

113
„Schuld und Sühne" auf das Gegenüber von Christentum und
Unglauben bzw. Glaubensindifferenz will nicht verwechselt
werden mit einer grundsätzlichen Reduktion ihrer überaus
mannigfaltigen Inhalte auf dieses Gegenüber. Ein Blick auf
diese Mannigfaltigkeit genügt, um die „christliche" Fixierung
der Thematik in den fünf Großwerken zu widerlegen. Für die
Konzeption der „Dämonen" beispielsweise hat ein politisches
Zeitthema den Ausschlag gegeben. Der Gegenstand des Romans
vom „Jüngling" sind das Phänomen der „zufälligen Familie"
und, damit verknüpft, die psychologischen und existentiellen
Probleme des jugendlichen Menschen einschließlich ihrer kind-
heitlichen Vorgeschichte, die Dostojewskij immerfort intensiv
beschäftigten. Dasselbe passionierte Interesse an Kindheit und
Jugendalter dominiert auch in der langen Werdegeschichte des
Planes, dessen letzte Teilausführung die „Brüder Karamasow"
waren. Es ist kein Zufall, auch keine Verlegenheitslösung, daß
der Roman mit einer Versammlung von Knaben endet, vor der
Aljoscha die Gedächtnisrede für den verstorbenen kleinen Ilju-
scha hält. — Ein anderer Aspekt, der den Raskolnikow-Roman
und die „Brüder Karamasow", das erste und das letzte Glied
in der Fünferreihe der Großwerke zusammenbindet, ist das
zugleich juridische wie moralische Problem Verbrechen und
Strafe*5 und, in ihm beschlossen, die Frage nach dem „richtigen
Recht", ein Fragenkomplex, in dessen Hintergrund das vom
Dichter in Person durchlittene Radikalproblem der Todesstrafe
steht. — Ein weiteres Thema, das in sämtlichen Großromanen
mitklingt, ist der Selbstmord, dessen anthropologischen Tiefen-
horizonten auch einige wichtige Beiträge im „Tagebuch eines
Schriftstellers" gewidmet sind.
In einem Gesamtüberblick über das CEuvre der letzten fünfzehn
Jahre dürfen auch die zwei kürzeren Romane „Der Spieler"
und „Der ewige Gatte" sowie die zwei „phantastische Erzäh-
lungen" benannten Geschichten „Die Sanfte" und „Der Traum
eines lächerlichen Menschen", schließlich auch „Bobok" (Auf-
zeichnungen eines Unbekannten) 40 nicht beiseitegestellt werden;
keine von diesen fünf Dichtungen hat unmittelbaren Bezug zu
dem Problem von Glauben und Unglauben. Vollends wider-
streben würde einer Unterordnung unter das Schema „christliche

114
Dichtung" die bunte Vielzahl der Inhalte und Motive, die
Dostojewskij in den vier Jahrgängen Tagebuch eines Schrift-
stellers locker und zwanglos aneinandergereiht hat.
Der nicht geringzuschätzende Gesamtertrag dieses „Tagebuches"
gehört nun freilich nicht mehr in den Bereich der Dichtung, son-
dern in die publizistische Tätigkeit. Dostojewskij, ein „Prole-
tarier der Feder", wie er sich selbst im Brief an einen Freund
nennt, hat neben seiner dichterischen Produktion die journa-
listische Arbeit durchaus nicht verschmäht, hat sie vielmehr zeit-
weise als eine erwünschte und förderliche Ergänzung seines
Dichtwerkes betrachtet, auch abgesehen von den harten ökono-
mischen Zwängen, die den ersten Anstoß dazu gaben.
Nun lenkt aber gerade dieses „Tagebuch" den aufmerksamen
Leser nodimals auf den Befund zurück, der mit dem Kennwort
„christliche Integration" anvisiert wurde. Das „Tagebuch", in
Wahrheit eine von Dostojewskij allein verfaßte und heraus-
gegebene Monatsschrift, behandelt in journalistischer Freiheit
die aktuellen Tages- und Lebensfragen, Probleme der Sozial-
fürsorge, mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Erfordernisse
der Jugenderziehung und der Frauenbildung einschließlich der
damals noch heftig umstrittenen, von Dostojewskij befürwor-
teten Zulassung der Frau zum Universitätsstudium. Ein wei-
terer Gegenstand der Berichterstattung sind Kriminalprozesse,
die in den 1870er Jahren die öffentliche Meinung beschäftigten,
vor allem Prozesse wegen Kindesmißhandlung, an denen der
Autor die Schäden und Wirrungen im Gefüge der Familie,
weiter die Gewissensprobleme im Anwaltsberuf wie in der
Praxis der Geschworenengerichte, schließlich die Bedrohungen
der gesellschaftlichen Lebenssubstanz durch gewohnheitsmäßige
Herzensträgheit gerade in den gehobenen Schichten der bürger-
lichen Gesellschaft mit wachem bürgerlichen und humanen Ge-
meinsinn beleuchtet. Breiten Raum nehmen die außen- und
weltpolitischen Fragen ein, die durch die Aufstände der christ-
lichen Balkanvölker 1876 und dann durch den russisch-türki-
schen Krieg 1877 akut wurden. Überall aber in diesem bunten
Vielerlei ist das Kardinalthema von Glauben und Unglauben
mitgegenwärtig. Im publizistischen Werk, dem auch die (nur

115
zum geringsten Teil in deutscher Übersetzung zugänglichen)
Aufsätze und Abhandlungen der Zeitschriften „Wremja" und
„Epocha" (1861—1864) hinzuzuzählen wären, präsentiert sich,
schärfer als im Dichtwerk, eine ideologische Welt- und Ge-
schichtsauffassung, deren beide Pole der russische Nationalis-
mus und, von ihm untrennbar, die russische Orthodoxie sind. —
Diese russisch-orthodoxe Ideologie, die über die Publizistik hin-
aus stellenweise auch in das Dichtwerk übergreift, sie ist das
eine Gesicht von Dostojewskijs Christentum.
Sein Christentum hat aber auch ein anderes Gesicht. Innerhalb
der poetischen Werke kommt es zu reinstem Ausdruck in den
„Brüdern Karamasow", es dokumentiert sich aber ebenso kräf-
tig schon in „Schuld und Sühne" sowie im „Idioten"; im „Jüng-
ling" kommt es an dem Pilger Makar Iwanowitsch sowie in
dem großen Religionsgespräch zwischen Wersilow und seinem
„natürlichen" Sohne Arkadij zum Vorschein; in den „Dämonen"
schiebt es sich, entgegen dem ersten, rein politisch-polemischen
Romankonzept, mit der rätselumwobenen Hauptfigur Stawro-
gins und seinen beiden gegensätzlichen Schülern Kirillow und
Schatow gleichsam eigenmächtig in den Vordergrund. — Dieses
andere Gesicht von Dostojewskijs Christentum ist geprägt durch
das Ringen zwischen Glauben und Unglauben, Angesicht in
Angesicht mit dem Atheismus und Nihilismus. Hier sucht der
Dichter nach einer neuen Selbstaussage des christlichen Glaubens,
in die die Zweifel und Verneinungen mitaufgenommen sind.
Hier gibt es keine christliche Polemik gegen einen „Feind", der
außerhalb stünde. Im eigenen Herzen kämpft Dostojewskij den
Widerstreit von Glauben und Unglauben durch, und der Kampf
wird nicht abgeschlossen mit einer ein für allemal gültigen
Formel christlicher Wahrheit.
Wie diese beiden Gesichter des Christentums in Dostojewskijs
Werk sich zueinander verhalten, ob zwischen ihnen überhaupt
eine Zuordnung möglich ist, das ist eine prekäre Frage, am Ende
die in der Dostojewskij-Interprctation bisher ungelöste, viel-
leicht überhaupt unlösbare Aporie. Notwendig ist jedenfalls,
ohne voreilige Harmonisierung die zwei Gesichter in ihrer
Unterschiedenheit aufzuzeigen.

116
1. Der kulturpolitische Publizist

a) Z e i t k r i t i k u n d p o l i t i s c h e P o l e m i k
Belletristik und kritische Publizistik waren im Rußland des
19. Jahrhunderts nicht so weit und grundsätzlich getrennte Be-
reiche, wie es uns, speziell in der deutschen Literaturtradition,
zu sehen geläufig ist. Namentlich unter dem harten Polizei-
regime Nikolaus' I. war die „schöne" Literatur zugleich eine
politische Waffe, die einzige, die — in gewissen Grenzen — den
kritischen Geistern zur Verfügung stand.
Auch Dostojewskijs Anfänge standen im Zeichen der progres-
siven sozialkritischen Literatur. Ihr führender Theoretiker war
der früh verstorbene Wissarion Belinskij (1811—1848), der das
Erstlingswerk des jungen Schriftstellers, die „Armen Leute",
zunächst mit Enthusiasmus als eine Fortführung der, von ihm
freilich einseitig sozialkritisch gedeuteten, Gogolschen Linie 47
aufnahm und der, trotz baldiger Distanzierung von dem nach-
folgenden „Doppelgänger", auf Dostojewskij einen nachhal-
tigen Einfluß übte. Dostojewskij hat für sein politisches Engage-
ment an den Bestrebungen der damaligen Progressisten einen
hohen Preis gezahlt. Nach seiner Rückkehr aus der zehnjährigen
sibirischen Verbannung nahm er eine geistige und politische
Haltung ein, die sich von dem westlerisch-sozialreformerisdien
Denken seiner frühen Jahre grundlegend unterschied. In der
Zeitschrift „Wremja", die er zusammen mit seinem Bruder
Michail gründete, suchte er eine vermittelnde Linie zwischen
den beiden inzwischen formierten gegensätzlichen Parteien, den
Westlern (Zapadniki), die Rußlands Zukunft und Heil von
einer weitgehenden Angleichung an die westeuropäischen Ideen,
die konstitutionelle Staatsform, den ökonomischen Liberalis-
mus, teilweise auch den Sozialismus Fouriers erwarteten, und
den sogenannten Slawophilen, die Rußlands tiefe Unterschie-
denheit von West- und Mitteleuropa bewahren wollten und
dabei das Erbe der nationalen Vergangenheit romantisch ver-
klärten. Als die „Wremja" wegen eines als staatsfeindlich ver-
standenen Aufsatzes über die Polenfrage 1863 verboten wurde,
gelang es den Brüdern Dostojewskij unter großen Mühen, die
Genehmigung für eine neue Zeitschrift, die „Epocha", zu er-

117
halten; mangels einer genügenden Anzahl von Abonnenten
mußte sie jedoch schon 1865, ein Jahr nach dem frühen Tode
Michails, ihr Erscheinen einstellen.
In diesen drei Jahren zwischen 1861 und 1864 näherte sich
Dostojewskij schrittweise der slawophilen Richtung an; ohne die
romantische Verherrlichung der Vergangenheit seitens der Mos-
kauer slawophilen Professoren zu teilen, suchte er Rußlands
Rettung jetzt auch in einer inneren Rückwendung zum „boden-
ständigen" russischen Volkstum und wandte sich mit zuneh-
mender Schärfe gegen die „westlerischen" Ideen der Peters-
burger Intelligenz, deren liberal-humanitäre Haltung inzwi-
schen bei ihren bedeutendsten Vertretern, N. Tschernyschewskij
und N.Dobroljubow, einer politischen Radikalisierung Platz
gemacht hatte.
Dostojewskijs innere Abwendung von den „Westlern" wurde
aufs stärkste befördert durch seine eigene Begegnung mit
Europa während seiner drei ersten Auslandsreisen zwischen
1862 und 1865. Noch in der „Wremja" veröffentlichte er An-
fang 1863 die Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche
Eindrücke, einen kritischen Bericht über seine erste Europa-
fahrt in gehobenem Feuilletonstil 48 . Der führende Slawophile
Chomjakow hatte Europa noch „das Land der heiligen Wun-
der" genannt. Dostojewskij war von der ersten Berührung mit
Europa tief enttäuscht. Schon seine kurzen Besuche in Berlin
und Dresden, noch mehr seine (ebenfalls kurzen) Aufenthalte
in Paris und London ließen ihm dieses vermeinte Wunderland
als eine überalterte und in innerer Zersetzung befindliche Welt
erscheinen. Er fand sie beherrscht von einem zügellosen Indivi-
dualismus, einer falschen Freiheit, die in Wahrheit nur eine
Freiheit für die Besitzenden zwecks rücksichtsloser Ausbeutung
der besitzlosen Massen sei. Von menschlicher und gesellschaft-
licher Solidarität findet er hier keine geringste Spur. In Frank-
reich regiert unter Napoleon III. die Bourgeoisie; ihre Selbst-
zufriedenheit ist unerschütterlich, ihre Moral ist Heuchelei; alle
menschlichen Bindungen, bei der Ehe angefangen, sind kapita-
listisch ausgehöhlt 49 . Noch tiefer erschrickt er über die Weltstadt
London. Das gigantische Ausmaß der Maschinenzivilisation geht
Hand in Hand mit einer totalen Entmenschlichung. In einer

118
apokalyptischen Vision erscheint ihm London als die Stadt
Baals, als der Triumph des „Tieres" der Apokalypse über die
Humanität. Dieser Vision fügt sich auch sein Eindruck von der
anglikanischen Kirche ein; sie ist „eine völlig unmaskierte Reli-
gion für die Reichen", ihre Geistlichen, diese „Professoren der
Religion", predigen eine „selbstgerechte Moral" und „verfetten
in vollkommener Gewissensruhe". Während sie mit allen Be-
sitzenden zugleich das goldene Kalb anbeten, betreiben sie zur
Beschwichtigung ihres schlechten Gewissens nebenher den Sport
der Heidenmission und lassen kühlen Herzens die Proletarier in
den Slums leiblich wie seelisch verkommen.
Das Europabild dieser „Winteraufzeichnungen" ist höchst ein-
seitig, seine partielle Oberflächlichkeit und Naivität ist auf-
fallend verwandt mit Tolstojs emotionaler Voreingenommen-
heit gegen die westeuropäische Luxus-Zivilisation. Dostojewskijs
individualpsychologischer Scharfblick versagt vor der Aufgabe,
fremde Volksart zu begreifen und innerhalb der National-
charaktere zwischen Echtem und Unechtem zu unterscheiden.
Im übrigen überlagern diese russisch-provinziellen Vorurteile
wesentlich tiefere Einsichten in die innere Problematik und die
heraufziehenden Krisen der kapitalistischen Welt. Hinter den
naiven Verallgemeinerungen, auch den schlechtweg törichten
Schimpfereien verbirgt sich ein waches Vorgefühl für die heran-
reifenden Gefährdungen der bürgerlichen Gesellschaft, ja ein
untrüglicher Instinkt für die „Selbstentfremdung" des Men-
schen unter den Zwängen der ökonomischen Profitbesessenheit,
die manche Berührungspunkte mit der radikalen Gesellschafts-
kritik von K.Marx und Fr.Engels aufweist. In Dostojewskijs
Europakritik, mitsamt ihren Übersteigerungen, kündigt sich
schon die eigentümlich „sozialistische" Tönung seines russischen
Nationalgefühls an, die sich im letzten Heft des „Tagebuches"
(Januar 1881) zu der Parole eines „russischen Sozialismus" ver-
dichten wird 5 0 .
Dostojewskijs Denken, auch darin dem geistigen Temperament
Tolstojs ähnlich, hat einen angeborenen Hang zum Protestieren
gegen das, was „jedermann" denkt. Der Gegner, den dieser
rebellische Selbstdenker im Auge hat, zuweilen auch sich selber
schafft, ist der Typus des Lakaien. Lakaien sind in seiner publi-

119
zistischen Optik vor allem die Anhänger (und, wie er meint,
Nachbeter) der westlichen Ideen, des zivilisatorischen Fort-
schritts, des ökonomischen Liberalismus, dem in seiner Perspek-
tive auch die Anwälte eines mehr oder weniger sozialistischen
gesellschaftlichen Nutzenprinzips zum Verwechseln ähnlich sind.
Ihr Idol ist die Wissenschaft, in Wahrheit eine Halb- und
Pseudo-Wissenschaft, die (echt russisch) europäische Hypothesen
und Gedankenexperimente sogleich zu unfehlbaren „Wahr-
heiten" erhebt. In einer schwebenden Mittellage zwischen
kulturkritischem Journalismus und Belletristik artikulieren die-
sen Protest die „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch". Dieser
nicht individualistische, aber personalistisdie Protest richtet
seine schärfste Spitze gegen die russische Rezeption der west-
lerisdi-sozialutilitären Ideen, vor allem gegen N. Tscherny-
schewskijs 1862 erschienenen Roman „Was tun?", der J. St. Mills
liberale Gesellschaftsethik in der Richtung auf den utopischen
Sozialismus umbog. Audi in „Schuld und Sühne" hat dieser
Protest gegen eine rational und kollektivistisch geordnete Zu-
kunftswelt, den „Ameisenhaufen" oder den „Kristallpalast",
seinen Sprecher in dem gutmütig, aber auch ingrimmig poltern-
den Rasumidiin.
In den vier Jahren des „Exils" (1867—1871), zu dem ihn und
seine junge Gattin die unerquicklichen Familien- und Geld-
bedrängnisse nötigten, verstärkt sich sein russisches National-
gefühl, der Wille zu tätiger Teilnahme an der Selbstfindung
und -bejahung des wirklichen Rußland, das nicht in den liberal
verbildeten Kreisen der müßigen Gutsbesitzer und Adligen zu
suchen ist, sondern im „Volk", im schlichten Bauerntum mit
seiner tiefen Frömmigkeit und Menschlichkeit51. In der Ferne
verklärt sich ihm das Bild der Heimat zu einem Inbegriff aller
Sehnsucht. Zugleich steigert sich aber auch seine Sorge, dieses
geliebte Land könnte durch die nihilistischen Revolutionäre,
deren Pläne eben (1870) durch den Prozeß gegen Netschajew
wieder ans Licht traten, in die Katastrophe gestürzt werden.
Aus dieser Sorge entstand der Roman Die Dämonen, dem die
Verschwörung Netschajews und der Fememord an dem Studen-
ten Iwanow zugrunde liegt. Nach dem ursprünglichen Plan
sollte der Roman als politisches „Pamphlet" wirken, unter

120
Außerachtlassung der künstlerischen Qualität 5 2 . Obwohl dieser
Plan sich während der Ausführung wesentlich verschob, hat sich
die Absicht, einen reinen Tendenzroman zu schreiben, auch in
der Ausführung ungut ausgewirkt. Die Verteufelung der revolu-
tionären Sozialisten, die schon im Titel des Romans mitsamt
dem biblischen Motto aus Luk. 8,27—35 zum Ausdruck kommt,
ein Gegenstück zur Verteufelung der Frau beim alten Tolstoj,
war nur möglich bei zeitweiliger Abbiendung der Aufmerksam-
keit auf die himmelschreienden Ungerechtigkeiten in der be-
stehenden russischen Gesellschaftsordnung. Dostojewskij, sonst
ein scharfer Ankläger der „müßigen" Grundbesitzer und ein
Anwalt des arbeitenden Volkes, hat hier, zwecks massiver War-
nung vor den Gefahren der revolutionären Bewegung, das Bild
der Wirklichkeit noch ärger vereinseitigt als in der Schilderung
der Bourgeoisie in Frankreich und England. Der Führer des
revolutionären Aktionskomitees, Pjotr Stepanowitsdi Wercho-
wenskij, ist als ein skrupelloser Egoist dargestellt, der kaltblütig
alle Mitverschworenen seiner eigenen Sicherheit aufopfert. Das
ist kein gerechtes Bild der repräsentativen Träger des revolu-
tionären Sozialismus. — Nicht erfunden ist allerdings das
Material, das der satirischen Beschreibung einer Geheimver-
sammlung der Verschwörer um Werchowenskij zugrunde liegt
(Bei den Unsrigen, II, 7). Überaus hellsichtig ist hier auch die
innere Hinneigung des revolutionären Sozialismus zur totali-
tären Despotie vorausgeschaut. Der Doktrinär unter den „Uns-
rigen", der langohrige Sdiigaliow, rekapituliert den Inhalt
seines umfänglichen Manuskripts über den Zukunftsstaat mit
dem vielsagenden Satz: „Indem ich von der Idee vollkommener
Freiheit ausgehe, gelange ich am Ende zu einem vollkommenen
Despotismus."
Es war die Rettung dieses Romans, daß anstelle des „Hans-
narren" Pjotr Stepanowitsdi Werchowenskij, der der Held der
Tragödie sein sollte, die mysteriöse, unheimliche, aber groß-
angelegte und echt tragische Gestalt Nikolaj Stawrogins trat,
mit seinen beiden konträren Gefolgsleuten Sdiatow und Kiril-
low. Freilich ist durch diese Verschiebung der Gewichte ein
Konstruktionsbruch entstanden, so daß diesem Roman die
innere Einheit fehlt.

121
b) Die m e s s i a n i s c h e U t o p i e

Hinter der gewalttätigen Polemik des Publizisten gegen die


volks- und glaubensfremde westlerische Intelligenz steht das
Leitbild eines zukünftigen wahren Rußland, das sich auf seine
Ursprungskräfte zurückbesinnen wird und dem die Aufgabe
einer welterneuernden Mission bevorsteht. Alles, was Rußland
dem verrotteten Westen voraus hat und künftig den Völkern
mitteilen wird, ist für Dostojewskij beschlossen in der russi-
schen Rechtgläubigkeit. Denn in Rußland allein ist die Mitte
des Christentums, der Glaube an den Gottmenschen Christus,
rein bewahrt worden. Die Völker im Westen „haben Christus
verloren, und aus diesem Grunde geht der Westen zugrunde" 5 2 \
Zunächst haben sie den wirklichen Christus vertauscht gegen
die teuflisch inspirierte Verfälschung des Christentums in der
römisch-katholischen Universalkirche, die im Grunde nur die
Fortsetzung des römischen Imperiums ist. In Reaktion gegen
diese tyrannische Kirche des Antichrist ist dann die prote-
stantische Häresie aufgekommen, die mit der römischen Hier-
archie zugleich fallen wird, und schließlich ist als säkulare
Nebenform der römischen Weltkirche der Sozialismus erstan-
den; er läuft am Ende auf die gleiche Seelenknechtung hinaus,
die der römische Großinquisitor in Iwan Karamasows Legende
als die barmherzigste Leitung und Zähmung der zur Selbstän-
digkeit unfähigen Massen rühmt. Es ist anzunehmen, so meint
der ideologische Politiker Dostojewskij, daß in naher Zukunft
die sonst verlorene Papstkirche sich mit dem Sozialismus ver-
ständigen und mit ihm gemeinsam die Gewissensherrschaft über
die Völker ausüben wird 5 3 .

Rußland ist jetzt „das einzige Gotträgervolk", wie Dosto-


jewskij in seinem Namen den slawophilen Ekstatiker Schatow
(Däm II, 1, 7.Abschn.) verkünden läßt. Hier allein ist der
Glaube nicht an die politische Macht verraten, hier allein ist
noch Raum für die praktische Bewährung der Liebesreligion
und der Personfreiheit, zu deren Erhaltung Christus am Kreuz
auf alle Wunderzeichen und Maditerweisungen verzichtet hat.
Dieser Einzigkeit von Rußlands religiösem Besitz entspricht
die Universalität seiner Weltmission. — Genau in diesem Sinne

122
läßt der Dichter den „Idioten" in seiner verzückten Rede vor
der versammelten Gesellschaft der Würdenträger den russischen
Christus predigen, übrigens in dem hochgradigen Erregungs-
zustand unmittelbar vor dem epileptischen Anfall, und läßt er
Schatow, den durch Stawrogin „bekehrten" früheren Revolu-
tionär, in ebenso überhitzter seelischer Temperatur diesen rus-
sischen Christus gewissermaßen religionsphilosophisch dozie-
ren 5 4 . Doch diese ekstatischen Konfessionen, denen der Leser
mißtrauen könnte, werden durch die Geschichtsphilosophie der
politischen Aufsätze im „Tagebuch" bestätigt. Und verdeut-
licht werden sie auch durch die eschatologisch-apokalyptischen
Hintergründe seines Geschichtsbildes in den Großromanen.
Die Ideologie des russischen Gotträgervolkes und seiner messia-
nischen Sendung hat zur Folie das Vorgefühl einer apokalyp-
tischen Bedrohung nicht nur Rußlands, sondern der ganzen
Erde. Die vollkommenste dichterische Gestaltung dieses Vor-
gefühls gibt der Angsttraum Raskolnikows (Seh. u. S., Epilog 2).
Die ganze Menschheit wird von einer Seuche überfallen werden,
die das Denken und Fühlen vergiftet. Jeder einzelne wird
glauben, allein im Besitz der Wahrheit zu sein, und in diesem
dämonisch inspirierten Wahrheitsbewußtsein werden die Völ-
ker, dann innerhalb ihrer auch die einzelnen sich bekriegen, bis
zur vollkommenen Ausrottung, der nur ein paar Auserwählte,
die Anfänger einer neuen Menschheit, entgehen werden. Ähn-
liches sagt auch der Starez Sosima (BrK VI, 3 f.):
Wenn nicht die Verheißung Christi wäre, so würden sie sich gegen-
seitig ausrotten bis auf die letzten zwei Menschen auf Erden. Aber
auch diese zwei letzten würden in ihrem Stolz sich nicht zu bändigen
verstehen, so daß der letzte den vorletzten vernichten würde und
danach auch sich selbst.
Nicht von ungefähr spielt in den Romanen fast überall die
Offenbarung Johannis eine wichtige Rolle. Dostojewskij neigt
dazu, in einer drastischen Form zeitgeschichtlicher Auslegung die
Unheilsprophetien der Apokalypse direkt auf den drohenden
Umsturz aller Ordnungen in Rußland zu deuten. Sonderbare
Leser und Liebhaber der Johannesoffenbarung sind der Schwind-
ler Lebedew (im „Idiot") und der Raubmörder Fedja (in den
„Dämonen").

123
Dicht neben diesen apokalyptischen Besorgnissen steht bei
Dostojewskij aber die Hoffnung auf eine, vielleicht sehr nahe,
heilvolle Wendung der Menschheitsgeschichte. Wer wird der
Vollstrecker dieser erhofften Wende sein? Natürlich niemand
sonst als das rechtgläubige russische Volk. Nicht durch Gewalt
und Seelenbetrug wird Rußland die Völker gewinnen und
einigen, sondern durch die sieghafte Macht der brüderlichen
Liebe. Sein weltgeschichtlicher Auftrag ist das genaue Gegenteil
des römischen, in der Papstkirche bis heute fortlebenden Impe-
rialismus. — Aber, das ist das Bestürzende an Dostojewskijs
Geschiditsprophetie, dieses kommende christliche Liebesreich
wird sich zunächst verwirklichen in Rußlands militärischem
Sieg über die Türken (im Balkankrieg 1877) und nötigenfalls
auch über die europäischen Mächte, wenn sie den Türken wieder,
wie schon im Krimkrieg 1854, zu Hilfe kommen sollten. Die
Utopie des geistigen Triumphes der rechtgläubigen Christenheit
schlägt um, ehe wir's uns versehen, in einen militanten Pansla-
wismus, der in Wahrheit eirf Panrussismus ist 55 . Wieso die
russische Militärmacht zum Mittler einer gewaltlosen Liebesver-
einigung der Völker werden kann, darüber macht sich der sonst
so kritische Geist Dostojewskijs offenbar wenig Gedanken, der
Rausch der Begeisterung über diesen heiligen Krieg und schon
über sein Vorspiel in den Balkanaufständen von 1876 scheint
sein kritisches Denken mindestens zeitweilig ausgelöscht zu
haben. Während dieser Jahre betrachtet der Autor des „Tage-
buchs" auch die innere Entwicklung Rußlands, vor allem der
russischen Jugend und der russischen Frau, mit einem fast
euphorischen Optimismus.
Das ist Dostojewskijs messianische Utopie mit ihrem Herzstück,
der Verkündigung des russischen Christus. Diese Utopie ist nur
eine besonders vehemente, in ihrer Vermischung mit genuin
christlich-humanen Motiven doppelt verführerische Erschei-
nungsform des geistigen Grundirrtums, dem das 19. Jahrhun-
dert erlag, des ideologisierten Nationalismus, dessen späte,
fürchterlichste Exzesse im 20. Jahrhundert Deutschland bis zum
geplanten Völkermord und zur inneren Selbstzerstörung prakti-
ziert hat. Es ist schwer zu begreifen, wie gründlich Dostojewskij
die (anderweit von ihm doch klar erkannten) inneren Schäden

124
und Verlogenheiten der russischen Staats- und Gesellsdiafts-
(verfassung aus dem Bewußtsein verdrängen konnte — und wie
er die russische Rechtgläubigkeit dem römischen Katholizismus,
[erst recht der protestantischen Häresie als Maßbild der wahren
christlichen Sozialordnung vorzuhalten imstande war. Man
kann es nicht deutlich genug sagen: Politisch verfälscht wurde
das Christentum in der russischen Orthodoxie, speziell in ihrem
caesaropapistischen Kirchenregiment, wahrlich nicht weniger als
in der römischen Papstkirche. In Sachen des Glaubenszwanges
z.B. gegenüber der nichtrussischen Bevölkerung der Ostseepro-
vinzen oder den griechisch-unierten Gemeinden der Ukraine,
hat die russische Staatskirche jedenfalls im 19. Jahrhundert,
nicht zuletzt unter Dostojewskijs Freund Pobedonoszew 56 , seit
1880 Oberprokuror des Heiligen Synod, die katholische Kirche
weit übertroffen. An dem Evangelium gemessen, kommt der
„russische Christus" nicht eine Spur besser zu stehen als jener
„deutsche Christus", den die Vorläufer und kirchlichen Helfers-
helfer des Nationalsozialismus sich ausdachten. Von dieser Seite
her gesehen ist Dostojewskij ahnungslos Opfer, aber auch
Propagandist einer in jedem Sinne unheilvollen Ideologie ge-
worden, die in zwei Weltkriegen ganz Europa an den Rand der
Katastrophe drängte und in ihren Rückwirkungen die Unglaub-
würdigkeit der orthodoxen Kirche für die Nachfahren kräftig
mitbefördert hat.

2. Der Dichter zwischen Glauben und Unglauben


a) D i e nie g e l ö s t e F r a g e n a c h G o t t
Mit der Ideologie des russischen Christus und der messianischen
Weltsendung des russischen Volkes wäre Dostojewskij nicht der
große Dichter der Tiefen und Abgründe des Menschenherzens
geworden, der er doch ist. Er ist es darum, weil er in seinem
dichterischen Werk sich über diese politisch-religiöse Ideologie
hoch erhoben hat. Die russische Orthodoxie, an die seine kultur-
politische Publizistik und auch sein bewußter Wille sich anzu-
klammern scheint, ist für ihn selbst nicht der feste dogmatische
Standort, sie ist es noch weniger, als er meinte. In den wenigen
Repräsentanten, mit denen die orthodoxe Kirche innerhalb

125
seiner Dichtungen auftritt, ist sie stark idealisiert. Doch selbst
in dieser Idealisierung bleibt sie der Welt, in der seine Roman-
tragödien sich ereignen, weit entrückt, ein äußerster Horizont,
zu dem hin diese Welt offen ist, nicht mehr. Dostojewskij selbst
hat seinen Platz nicht in diesem sakralen Jenseits der Welt; er
ist genau an der Grenze zwischen Welt und Kirche. — In dem
Brief an Frau Fonwisin 1854 nannte er sich „ein Kind dieser
Zeit, des Zweifels und Unglaubens" und fügte hinzu: „Wahr-
scheinlich (ich weiß es bestimmt) werde ich das bis an mein
Lebensende bleiben." Die Werke der 25 Jahre seither bis 1880
widerlegen diese Voraussicht nicht. Im innersten ist er wohl an
dieser Grenze geblieben, mit einem aufrichtigen Verlangen nach
Glauben und Gewißheit, aber zwischen Glauben und Un-
glauben, rationaler Skepsis und religiöser Inbrunst zeitlebens
hin und her bewegt.
Der Atheist Kirillow, der durch seinen freiwilligen Selbstmord
die Menschheit von dem uralten Angsttraum der Existenz
Gottes befreien will, schließt das Gespräch mit dem Chronisten
der „Dämonen", wie es heißt, „plötzlich mit erstaunlicher Mit-
teilsamkeit: Mich hat Gott mein Leben lang gequält" (1,3,
8.Abschn.). Das Geständnis erinnert unüberhörbar an einen
Satz aus Dostojewskijs Brief, in dem er dem Freunde Majkow
seinen neuen Romanplan, „Geschichte eines großen Sünders",
erläutert:

Mit der Grundidee habe ich mich mein ganzes Leben lang gequält,
bewußt und unbewußt; es ist die Frage vom Dasein Gottes 57 .
Von dem Helden dieses geplanten Romans heißt es in dem
gleichen Brief: er „ist bald Atheist, bald Gläubiger, bald Fana-
tiker und Sektierer, und dann wieder Atheist" 58 . Diese Athe-
isten sind in den Großromanen von „Schuld und Sühne" bis
zu den „Karamasows" immer mitsprechend und -handelnd
gegenwärtig. Ja ihnen ist ein erheblich breiterer Raum zugeteilt
als den wenigen Gläubigen. Im „Idioten" ist es Ippolit Terent-
jew, in den „Dämonen" Ingenieur Kirillow, in den „Karama-
sows" Iwan, eine aufsteigende Reihe von Personen, die mit einer
von Werk zu Werk vertieften denkerischen Energie den Atheis-
mus bzw., kaum von ihm zu unterscheiden, den Nihilismus

126
vertreten. Zwar ist klar, daß ihre entschlossene Verneinung
Gottes sowie des Sinnes ihrer Existenz den eigenen Intentionen
des Dichters, wenn man will, seiner Botschaft entgegengesetzt
ist. Doch ebenso klar ist, daß Dostojewskij ihre Verneinung
durchaus ernst nimmt, daß er diesen Atheisten und ihren
Nächstverwandten, den prinzipiellen Zweiflern, deren reifster
Sprecher Wersilow im „Jüngling" ist, gerade ihnen Gedanken
und Erfahrungen in den Mund legt, mit denen er selbst ringt
und „sich quält".
Es gibt einen gemeinsamen Grundton in den Selbstbekenntnis-
sen der tiefen Atheisten 59 . Faßt man zusammen, was die ge-
nannten Hauptzeugen davon verlauten lassen, so ist es die
beleidigende Erfahrung von der Sinnlosigkeit ihres Lebens, von
der „Verhöhnung" der menschlichen Personwürde durch das
Walten eines blinden Naturgesetzes, durch übermächtige Fremd-
gewalten, die Dasein und Sinnerwartung der Person gleichmütig
ignorieren. In ihrer aller Namen spricht der Gatte der aus dem
Leben geschiedenen Frau in der Erzählung „Die Sanfte" das
Schlußwort:
O blindes Walten! O Natur! Die Menschen sind allein auf Erden —
das ist das Unglück. — „Ist im Felde ein lebender Mensch?", ruft
in der russischen Volkssage ein Held. Ich, der ich kein Held bin, rufe
die Frage hinaus. Niemand antwortet. Es heißt, die Sonne belebe
das Weltall. Wenn die Sonne aufgeht — schaut sie an! Ist sie nicht
eine Leiche? Alles ist tot. Überall liegen Tote .. . ringsum Schwei-
gen . . . Das ist die Erde. — ,Ihr Menschen, liebt einander!' Wer hat
das gesagt? wessen Gebot ist das60?
Mit dem Phänomen des Atheismus bzw. des Nihilismus in
nahem Zusammenhang steht für Dostojewskij das Thema des
Selbstmordes. Keine von den fünf großen Romantragödien ver-
läuft ohne einen vollendeten Selbstmord, und einige von den
Hauptpersonen kommen an der Versuchung, ihrem Leben selbst
ein Ende zu setzen, gerade noch knapp vorbei. Zu Ippolit
Terentjew, dessen Selbstmordversuch mißlingt, und zu dem
Ekstatiker des erlösenden Freitodes, dem Ingenieur Kirillow 6 0 a ,
gesellen sich zwei Primärgestalten des Großwerkes, die im Voll-
zug des Selbstmordes über das traurige Kleinmaß ihres ver-
geudeten Lebens moralisch sozusagen hinauswachsen: imRaskol-

127
nikow-Roman der endgültig enttäuschte Rou£ Swidrigailow, in
den „Dämonen" Stawrogin, nach Thomas Mann „die unheim-
lich anziehendste Figur der Weltliteratur". Thematisch zentral
wird der Selbstmord in der Erzählung „Die Sanfte", deren Stoff
der Dichter aus einer Zeitungsnachricht entnahm 0 1 , in der
künstlerischen Formung aber mit der Tragödie der Ehe zwischen
einem „erniedrigten", eben darum machtbedürftigen Manne und
einer auf andere Weise gedemütigten scheuen Frauenseele ver-
band.
Grundsätzlich durchdacht und durchlitten ist die innere Dialek-
tik des Selbstmordes im „Tagebuch" von 1877 62 . Hier liest man
den fingierten Brief eines Selbstmörders. „Was, wenn man den
Menschen nur zu einer frechen Probe in die Welt gesetzt hat,
nur um zu sehen, ob ein solches Geschöpf es auf Erden wird
aushalten können oder nicht?" Der Brief ist so faszinierend
geschrieben, daß der Autor darauf eine Reihe empörter Zu-
schriften erhielt: ob er wirklich, was man von ihm nie erwartet
habe, den Selbstmord förmlich empfehlen wolle? Zwei Monate
später antwortet er, betroffen und auch ein wenig belustigt,
daß die Leute auf die Mystifikation so plump hereingefallen
seien; für so naiv habe er die Zeitgenossen bisher nicht gehalten.
Natürlich hat er mit dem fingierten Brief nur den Nihilismus
ad absurdum führen wollen. Er wollte sagen: ohne eine „höchste
Idee", in einem resignierten Indifferentismus gegenüber den
Fragen des Glaubens „kann der Mensch nicht existieren", der
Selbstmord ist die logische Konsequenz aus der Preisgabe dieser
höchsten Idee. Was ist aber diese höchste Idee? Es ist das Leben
selbst, das „lebendige Leben", und zwar als das ewige, mit
anderen Worten der Glaube an die „Unsterblichkeit der mensch-
lichen Seele" °3.
Der Selbstmord ist unvermeidliche Notwendigkeit für jeden Men-
schen, der den Glauben an die Unsterblichkeit verloren hat . . . Die
Unsterblichkeit, die das ewige Leben verheißt, fesselt den Menschen
dagegen um so fester an die Erde.
In der vorgetragenen Bestimmtheit ist das eine gewagte, empi-
risch selbstverständlich nicht haltbare Behauptung. Den christ-
lichen Theologen beschäftigt auch die Frage, ob die Rede von
der Unsterblichkeit der Seele eine legitime christliche Glaubens-

128
rede ist. Das mag hier dahingestellt bleiben. Wichtiger ist, daß
Dostojewskij die Idee der Unsterblichkeit, nicht nur hier, mit
der Idee Gottes, mit dem Glauben an Gottes Dasein identisch
setzt, so daß Gott und Unsterblichkeit gleichsinnige und ver-
tauschbare Worte sind. Ist das eine prinzipielle Anthropologi-
sierung des Gottesgedankens, etwa mittelbar von Feuerbach
angeregt? Dagegen spricht, daß gerade Feuerbach den Gedanken
an ein todüberdauerndes Personleben entschlossen abweist;
Gottfried Keller ist eben in diesem Stück ein getreuer Schüler
Feuerbachs geblieben 64 . Dostojewskijs Gleichsetzung von Gott
und Unsterblichkeit besagt aber, daß der Gottesglaube für ihn
mit dem personalen Selbstverständnis des Menschen unlöslich
verbunden ist. Dieser humane Personalismus ist nicht ideali-
stisch, auch nicht spiritualistisdi. Gegenüber diesen Fehlauslegun-
gen hat Dostojewskijs hier und vielfach sonst kräftig betontes
Bekenntnis zur Erde entscheidendes Gewicht. Er legt der Erde
eine eigentümlich religiöse Sinnqualität bei, dichterisch eindring-
lich vor allem in dem verzückten Gestammel der schwachsinnigen
Marja Timofejewna von der mystischen Einheit der Gottes-
mutter mit der „kühlen Mutter Erde" ( D ä m l , 4 , 5.Abschn.)
und in Aljosdias Schwur nach der Vision von der Hochzeit zu
Kana, „die Erde zu lieben bis in alle Ewigkeit" ( B r K V I I , 4 ,
Ende). Fast möchte man von einem Einschlag chthonischer
Motive in dem erahnbaren Gefüge von Dostojewskijs persön-
licher Frömmigkeit sprechen. Desto bemerkenswerter ist, daß
diese religiös getönte Treue zur Erde gerade in Aljosdias Vision,
und ebenso in der Antwort auf den fingierten Brief des Selbst-
mörders, mit dem Glauben an eine überirdische Gotteswelt und
Daseinsgründung aufs nächste zusammengebunden ist.
Auch diese Konfiguration von Gottes- und Unsterblichkeits-
glauben allerdings bleibt in den Widerstreit von Glauben und
Skepsis einbezogen. Es scheint, daß Dostojewskij selbst diesen
Widerstreit niemals „überwunden" hat. Eine Spur eigener
Skepsis zeigt sich in den Reflexionen Swidrigailows über die
möglicherweise schrecklich banale und triste Qualität der „Ewig-
keit" (Seh. u. S. IV, 1). Sie zeigt sich wieder in dem angeführten
Schluß der Erzählung „Die Sanfte". Sie bekundet sich noch
stärker in der hinreißenden Apologie des Unglaubens, mit der

129
Iwan Karamasow in dem Kapitel „Die Empörung" (V, 4)
seinen kindlich frommen Bruder Aljoscha in die Enge treibt.
Was der Dichter das „Tiefe" an Iwans Atheismus nennt, ist
dies: er hat seinen Grund in der Überwältigung durch das
sinnlos-unschuldige Leiden der wehrlosen Kreatur. Er exem-
plifiziert es am „Leiden der Kinder", die von unmenschlichen
Eltern mißhandelt und in den Tod getrieben werden. Die Lek-
türe des „Tagebuches" vermittelt hierzu eine erregende Ent-
deckung: Dostojewskij hat dem Atheisten Iwan die Argumente
geliehen aus seinen eigenen Wahrnehmungen bei den Kriminal-
prozessen wegen Kindesmißhandlung 85 ; es sind also die Argu-
mente seiner eigenen Anfechtung.

b,l D i e g e h e i m e N a c h b a r s c h a f t von G l a u b e n u n d
Atheismus
Für Dostojewskij besteht zwischen Glauben und Atheismus eine
unterirdische Nachbarschaft. Mit größter Deutlichkeit läßt er
Bischof Tichon ( D ä m I I , 9 , l.Abschn.) diesen Gedanken aus-
sprechen 66 :
Vollständiger Atheismus ist achtbarer als weltliche Gleichgültigkeit...
Ein vollständiger Atheist steht auf der letzten Stufe zum vollstän-
digsten Glauben (ob er nun auch die höchste betritt oder nicht, gleich-
viel); der Gleichgültige jedoch hat überhaupt keinen Glauben, außer
einer üblen Furcht.
Glaube und Unglaube stehen also in einer gemeinsamen Front
gegen die von Dostojewskij hier wie sonst am meisten verab-
scheute religiöse Indifferenz. In der Unterredung zwischen
Tichon und Stawrogin wird dies durch die Anführung aus
Offb. Joh. 2,15 f. (im Schreiben an die Gemeinde von Laodicea)
bekräftigt:
Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach daß
du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt
noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde67.
Die Nachbarschaft ist aber in Dostojewskijs Augen noch näher.
Das gewichtigste Zeugnis für diese dialektische Zuordnung von
Glauben und Unglauben ist Kirillows halb spöttische, nichts-
destoweniger ernstgemeinte Sentenz über Stawrogins Schwebe-
lage:

130
Wenn Stawrogin glaubt, so glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er
aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.
Der glanzvoll formulierte Befund ist zunächst symptomatisch
für die Tragik oder auch den Fluch, der auf Stawrogin liegt,
daß er sich niemals ganz an einen Gedanken, eine Wahrheit,
einen Menschen hingeben kann, wie er in seinem Absdiiedsbrief
an Darja Pawlowna selber bekennt (Däm III, 8), daß er also
in dem von Tichon wie vom Dichter selbst verworfenen „laodi-
ceischen" Indifferentismus steckenbleibt.
Doch geht diese Dialektik weit hinaus über den individual-
psychologischen, wahrscheinlich psychopathischen Einzelfall Sta-
wrogin. Die Schwebelage zwischen Glauben und Unglauben
ist nicht in jedem Falle verwerflich. Wieso das Schwanken, das
Hin- und Hergerissenwerden zwischen Glauben und Atheismus
gerade bei den „tiefen" Naturen sich einstellen kann, darüber
läßt Dostojewskij, in einer künstlerisch vollendeten Mystifi-
kation, den Teufel im Gespräch mit Iwan Karamasow (XI, 9)
philosophieren. Die für Dostojewskij charakteristische verhül-
lend-indirekte Form der Wahrheitsaussage beruht auf der fik-
tiven Einführung des Teufels, der auch hier, ebenso wie bei
Stawrogin (Däm 11,9), nur eine halluzinatorische Spiegelung,
eine Scheinobjektivierung der Gedanken oder Ahnungen des
kranken Menschen ist — und in diesem Falle überdies zugleich
als Sprachrohr des Dichters selbst fungiert. Scheinbar geht es
in diesem genialen Dialog, einem unübertroffenen Meisterstück
ironisch verkleideter Wahrheitsrede, um die Frage, ob Iwan
„an den Teufel glaubt". Dostojewskij stellt sich so an, als wäre
das eine ernsthafte Frage. In Wahrheit ist sie für ihn, minde-
stens hier, belanglos. Er läßt keinen Zweifel daran, daß dieser
unheimlich gescheite und witzige Teufel-zu-Besuch nur eine
imaginierte Vergegenständlichung des inneren Dialoges in Iwan
selbst ist 68 . Dieser Teufel spricht:
Das Schwanken, die Unruhe, das Ringen des Glaubens mit dem Un-
glauben, das ist doch für einen gewissenhaften Menschen, wie du zum
Beispiel, eine solche Qual, daß man sich lieber erhängen möchte . . .
Ich lenke dich jetzt zwischen Glauben und Unglauben abwechselnd
hin und her und verfolge dabei natürlich meinen besonderen Zweck.
Wie gesagt: eine neue Methode. Sobald du endgültig jeden Glauben

131
an mich verloren haben wirst, wirst du sofort anfangen, mir ins
Gesicht zu versichern, daß ich kein Traum sei, sondern wirklich exi-
stiere.

In Wahrheit geht es hier um den Glauben an Gott. Die Argu-


mente, mit denen der Teufel Iwan von seiner Realität über-
zeugen will, sind eine sublime Methode von Glaubenspädagogik.
Höchst paradox scheint dieser Teufel, wie Iwan bemerkt, „sich
um sein Seelenheil zu bemühen" — und er tut es nicht um-
sonst. Denn nach diesem Gespräch entschließt sich der bereits
schwerkranke Iwan, am nächsten Tage in dem Prozeß gegen
seinen des Vatermordes beschuldigten Bruder Dmitrij wahr-
heitsgemäß auszusagen; nicht Dmitrij hat den alten Fjodor
Pawlowitsch ermordet, sondern der Lakai Smerdjakow, und
Iwan fühlt sich als den intellektuellen Urheber des Mordes.
Zwar wird man seiner Aussage, in die schon die einsetzende
Geistesverwirrung sich einmischt, vor Gericht nicht Glauben
schenken. Doch er hat getan, was er schuldig war. Aljoscha gibt
dem Entschluß des Bruders in einem inneren Monolog die Deu-
tung:

Iwans Krankheit wurde ihm verständlich. „Die Qualen eines stolzen


Gewissens, ein tiefes Gewissen!" Gott, an den er nicht geglaubt hatte,
und Gottes Wahrheit hatten sein Herz, das sich nicht hatte unter-
ordnen wollen, überwältigt (XI, 10).

In der Geschichte Iwan Karamasows hat Dostojewskij eine


höchste Spielart des Atheismus dichterisch realisiert, die in ihrer
unbedingten Redlichkeit und vermöge ihres tief-menschlichen
Leidens an der unbegriffenen Grausamkeit des Weltgeschehens
über sich selber hinausweist, einen gleichsam transzendierenden
Atheismus. Auf diesen „tiefen Atheismus" deuten in den voran-
gegangenen Romanen schon die Figuren des Ippolit Terentjew
(„Idiot") und des Ingenieurs Kirillow („Dämonen") hin. Sie
beide sind, wie Iwan, ungläubig, um der objektiven Ungerech-
tigkeit, der Sinnleere des Daseins willen. Für Kirillow, und an-
deutungsweise schon für Ippoiit, verdichtet sich aber dieses
empörte Leiden, diese selbstzerstörerische Rebellion in dem Ge-
danken an die Katastrophe des gekreuzigten Christus. Allein
diese Katastrophe des einzigen wahren Menschen genügt für

132
y
sie, den Glauben an einen Sinn und eine Gerechtigkeit des Welt-
laufs ad absurdum zu führen. Von Ippolit und noch bestimmter
von Kirillow könnte man sagen, er sei ein Atheist um Christi
willen. Ippolit Terentjew, Alexej Nilytseh Kirillow, Iwan
Karamasow, diese drei Grenzgestalten sind die lebendigste Be-
kräftigung des paradoxen Satzes von Bischof Tichon, der voll-
kommene Atheist stehe auf der vorletzten Stufe zum Glauben.
Nicht in diesen Kreis des transzendierenden Atheismus einzu-
zeichnen ist Andrej Petrowitsch Wersilow, der Vater des
„Jünglings" (111,7, 3.Abschn.). Auch er steht auf der Grenz-
linie zwischen Glauben und Unglauben, angewidert von dem
„schusterhaften" Atheismus der kritiklosen Fortschrittsgläu-
bigen, aber für seine eigene Person ein „philosophischer Deist",
mit der Schwermut eines russischen Europäers vorausblickend in
eine Zukunft, in der die Menschen sich ohne Gott und Christus
behelfen werden, eine Zeitlang vielleicht sehr gut, und doch
überzeugt von der Wiederkehr Christi zur letzten Stunde der
Geschichte. Auf diese Zukunftsvision Wersilows kommen wir
im letzten Kapitel noch zurück.
E WasiolekM hat treffend geurteilt, Dostojewskij habe von
einem Großroman zum anderen das Gewicht der „gegneri-
schen", der nihilistischen Position verstärkt. H a t sich auch seine
eigene Skepsis verstärkt? Schwerlich. — Als das V. Buch der
„Karamasows" erschienen war, fragte Pobedonoszew, wo die
Widerlegung des „Empörers" Iwan bleibe 70 . — Der Dichter
hat sie bewußt unterlassen. Sein Aljoscha antwortet der Empö-
rung Iwans nur mit dem gestammelten Hinweis auf Christus,
der alles Leid und alle Schuld der Menschen in Gottes Voll-
macht getragen habe. Anstatt der Widerlegung erfolgt das
positive Gegenzeugnis gegen Iwans verzweifelte Skepsis in der
Selbstdarstellung des „russischen Mönches", des Starez Sosima
(VI. Buch). Dostojewskij hat damit die Künste und Anstren-
gungen einer Apologetik, die den Unglauben mit Argumenten
überwinden will, im voraus überholt. Aus der Reflexionsdialek-
tik von Glauben und Unglauben, mit der Dostojewskij seine
Leser und sich selbst quälte, erwächst hier ein Modell christlichen
Glaubens und christlicher Existenz, in das die Widersprüche
und „Gegenbeweise" positiv mitaufgenommen sind.

133
IV. K a p i t e l

Allmenschlidie Synthese u n d Goldenes Zeitalter

„Dostojewskij ist einer der größten Rebellen des Geistes, den


die Weltgeschichte erlebt hat", sagt Motschulskij71. Die Leiden-
schaft dieses geistigen Rebellentums hat die „Aufzeichnungen
aus einem Kellerloch" inspiriert. Darin Tolstoij nicht unähnlich,
befindet sich Dostojewskij in dauerndem Protest gegen die Ge-
dankenmode des Augenblicks und mißtraut den Parolen, die
von allen Leuten nachgesprochen werden. Der „Lakai" und der
„Schüler" ist ihm in der Seele verhaßt, und er spürt ihn auch in
den oberen Rängen der zeitgenössischen Gesellschaft und ihrer
Literatur geradezu argwöhnisch auf. Das Temperament des
protestierenden Denkers treibt ihn in eine publizistische Tätig-
keit, die sich mit Lust in Paradoxien und extremen Behauptun-
gen ergeht. Ehe er sidi's versieht, wird dieser Rebell des Geistes
zum engagierten politischen Parteimann, sein Wille zum „neuen
Wort" schlägt in einen Konservatismus um, der, obwohl selbst
im tieferen Sinn revolutionär, streckenweise von Reaktion und
Chauvinismus schwer zu unterscheiden ist. Auch persönlich kann
er gegen Zeitgenossen, ja gegen einstige Freunde ungerecht sein.
Bis zur Gehässigkeit hat sich seine Feindschaft gegen Turgenew
gesteigert. Auch seine politische Philosophie kristallisiert sich in
Antithesen und polemischen Affekten, die die Wirklichkeit,
beispielsweise den römischen Katholizismus, peinlich verfehlen
können.
Und doch ist dieser streitbare Publizist im innersten auf die
Überwindung der Gegensätze bedacht, zwischen denen sein
Leben und Wirken sich bewegt. Am Ende meint seine denkerische
wie künstlerische Leidenschaft die Synthese der Widersprüche,
die Vereinigung der streitenden Parteien. Niemals hat Dosto-
jewskijs Genius einen solchen Triumph erlebt wie bei seiner
Puschkin-Gedenkrede in Moskau, wenige Monate vor seinem
Tode. Denn hier konzentrierte sich die ganze Kraft seines Geistes
und Herzens auf den Appell zur Synthese, zur brüderlichen
Vereinigung der bisher getrennten Richtungen und Gruppen der
Nation, und in der Vereinigung aller Russen meinte und forderte

134
er zugleich die „allmenschliche brüderliche Vereinigung". Es
war, wie sich bald zeigte, eine Utopie, für die er seine Stimme
erhob. Aber in seinem Herzen war sie schon anbrechende Zu-
kunft. Gerade diese Stimme, die damals die illustre Versamm-
lung in Moskau über alle Gegensätze hinweg zu Stürmen der
Begeisterung, auch zu einem Überschwang bester Vorsätze mit-
riß, war Dostojewskijs eigenste Stimme. Der Glaube an die
Synthese, mit dem Hintergrunde jener „höchsten Synthese", von
der die Epistel über den Selbstmord sprach, gehört zu dem
festesten Kern seines Menschen- und Zukunftsbildes 72 . Seine
Idee der Synthese hat ihren Ursprung nicht in einer, etwa von
Hegel befruchteten, Geschichtsphilosophie, sie wurzelt in dem
personalen Humanismus, der nach seiner Rückkehr aus der
sibirischen Verbannung christlich integriert wird. Zugleich steht
sein Wille zur Synthese aber auch in Korrespondenz zu einem
dialektischen Denken, das seine virtuose Geschmeidigkeit am
stärksten im Prozeß des künstlerischen Schaffens an den Tag
legt.

1. Dialogik und Dialektik

Es ist nicht wohlgetan, von Dostojewskijs Philosophie zu spre-


chen, ebensowenig wie man ihm eine Theologie zuschreiben soll.
Denn sein denkerisches Vermögen ist beinahe vollständig ein-
gegangen und inkarniert in sein Dichtertum. Wenn Dostojewskij
gewiß zuletzt Botschafter einer Wahrheit, eines „neuen Wortes"
sein will — diese Botschaft erscheint stets eingekleidet, vorzugs-
weise verhüllt, zuweilen geflissentlich versteckt in den Ereig-
nissen zwischenmenschlichen Redens und Begegnens, in die seine
dichterische Intuition uns einbezieht.
Die Menschen in seinen Romanen existieren und denken dialo-
gtsch, im Akt des Dialoges. — Im wirklichen Dialog ist immer
zweierlei befaßt, zum ersten ein Widerstreit, zum zweiten die
lebens- und erkenntniszeugende Bewegung, durch die die Rollen-
träger des Widerstreits zu Partnern werden. Unter den Dichtern
der Weltliteratur ist Dostojewskij der unerreichte Regisseur
dieses wirklichen Dialoges. Kein Wort, das zwischen den Dialog-
partnern gewechselt wird, ist das letzte Wort. Dieses letzte,

135
eigentliche Wort steht hinter den Worten, die die Partner spre-
chen oder auch verschweigen.
W.Iwanow hat für Dostojewskijs Großromane den hier schon
öfters verwandten Begriff der Romantragödie eingeführt.
/ . Meier-Graefe hat diesen dramatisch-tragischen Grundcharakter
von Dostojewskijs Erzähldichtung speziell am Raskolnikow-
Roman aufgezeigt: „Die komplizierte Darstellung der psycho-
logischen Zusammenhänge wird fast ausschließlich vom Dialog
getragen. Erklärungen außerhalb des Dialogs nehmen nicht mehr
Platz ein als die Regiebemerkungen eines modernen Theater-
stücks. Wir haben ein Roman-Drama vor uns." 73 Diese drama-
tische Anlage, die an „Schuld und Sühne" nur besonders augen-
fällig wird, im Prinzip aber allen Romanen Dostojewskijs ge-
meinsam ist, bestätigt die dialogische Denkweise ihres Autors.
Dostojewskijs dramatischer Dialog hat eine gewisse Nähe zu
dem sokratisch-platonischen Grundmodell: zwei oder auch meh-
rere Gesprächspartner fragen gemeinsam nach der (noch nicht
oder noch undeutlich gewußten) Wahrheit; der eine weiß davon
etwas mehr, der andere etwas weniger, aber keiner weiß a priori
schon die Wahrheit. — In der Geschichte der philosophischen,
theologischen, moralisch-didaktischen Literatur gibt es, bereits
von der Antike her, auch einen anderen Typus des Dialogs, den
„uneigentlichen". Die Rollen sind im voraus unvertauschbar ver-
teilt; der eine ist im Besitz der Wahrheit, der andere fragt auf
Grund von falschen oder halbwahren Vorstellungen und wird
im Fortgang des Dialogs zunehmend zum belehrten, auf Ein-
sicht und Zustimmung verwiesenen Schüler. Hier ist der Dialog
nur ein rhetorisch-didaktisches Kunstmittel, die vom Haupt-
gesprächsführer repräsentierte Wahrheit auf dem Hintergrunde
der irrigen oder verworrenen Meinungen des Schülers desto
heller aufleuchten zu lassen. Eine in der Religionslehre verbrei-
tete, schließlich dominierende Abwandlung dieses uneigentlichen
Dialogs ist das katechetische Frage-Antwort-Schema.
Ganz anders bei Dostojewskij. Daß einer eine Rede hält und die
anderen sich wesentlich zuhörend verhalten, ist ein seltener Aus-
nahmefall 74. Allerdings macht der Dichter jeweils Personen zum
Sprachrohr, zu Dolmetschern seiner eigenen Ideen. Doch diese
Dolmetscherrolle wechselt. Ja die souveräne Regieführung

136
Dostojewskijs scheint es auf den Wechsel dieser Rolle bewußt,
mit einer fast verschlagenen Artistik anzulegen. Er bemüht sich,
den eigenen Standort möglichst unkenntlich zu machen 75 .
Ein besonderer Kunstgriff des Dialektikers Dostojewskij besteht
darin, daß er Gedanken und Erfahrungen, die ihm wichtig sind,
häufig ganz nebensächlichen Gestalten, scheinbar mit Vorliebe
menschlich fragwürdigen, ja von Grund auf unerfreulichen Per-
sonen in den Mund legt. Ein fast verwirrendes Beispiel dafür ist
die zynische, zuzeiten auch melancholische Lebensweisheit, mit
der Swidrigailow, der abgedankte Don Juan, seinen Gesprächs-
partner Raskolnikow, den Mörder mit der puritanischen Moral,
zur Entrüstung reizt. Ein anderes frappantes Beispiel ist die
tiefsinnige Menschenkenntnis, mit der der entlaufene Sträfling
Fedja den windigen Charakter des Revolutionärs Pjotr Stepa-
nowitsdi durchschaut (Däm 11,2, 4.Absdi.). Gründlichste Rollen-
umkehr findet statt in den „Dämonen" da, wo der epilep-
tische Atheist Kirillow anstelle Dostojewskijs spricht, und noch-
mals in der (schon berührten) Ausstattung des „Empörers" Iwan
Karamasow mit dem Vorrat der Argumente, die der Autor als
Berichterstatter bei Prozessen wegen Kindesmißhandlung ge-
sammelt hat. Das V. Buch der „Karamasows", dessen 4. Kapitel
„Empörung" die, ebenfalls von Iwan vorgetragene, Legende
vom Großinquisitor, den Inbegriff von Dostojewskijs Christen-
tumsverständnis, vorbereitet (5. Kap.), trägt die Überschrift „Pro
und contra". Diese für Dostojewskijs dialektische Denkart kenn-
zeichnende Formel wiederholt sich in höchster Sublimierung
nochmals in Iwans Gespräch mit dem Teufel XI, 9, hier mit
einer Verdoppelung des Rollenwechsels, der das diskursive Den-
ken, Iwans „euklidische Vernunft", kaum nachkommen kann.
In der dialektischen Denkbewegung ist immer, direkt oder indi-
rekt, die Synthese angesteuert. Diese synthetische Zielung zeigt
sich mit besonderer Deutlichkeit an der Struktur des letzten,
vollendetsten Großromans, der „Brüder Karamasow". N.S.
Trubetzkoj1* hat gezeigt, wie Dostojewskijs Kompositions-
technik zu dem Typus des „polyphonen Romans" hinstrebt. In
den „Brüdern Karamasow" ist dieser Typus, der der beschriebe-
nen dialektischen Denkform Dostojewskijs entspricht, am rein-
sten ausgebildet.

137
Im Vorwort der „Karamasows" wird, wie schon erwähnt, der
jüngste der drei Brüder, Aljoscha, als der „Held" des Romans
vorgestellt. Aber in den zwölf Büchern des allein vorliegenden
Ersten Teiles ist Aljoscha ebensowenig wie einer von den zwei
anderen Brüdern, Dmitrij und Iwan, die Hauptperson. Eben
dies gibt dem Roman seine „polyphone" Gestalt. Ohne allego-
rische Bedeutungsspielerei liegt es nahe, die Aufmerksamkeit auf
die Dreizahl der Brüder zu richten. Sie sind untereinander so
verschieden wie nur möglich, und doch ergibt das komplexe
Nebeneinander ihrer Personrollen und Aktionen einen Zu-
sammenklang. In dem mehrfach wiederholten Verweis auf die
„Karamasowsdie Natur" wird auf diesen Zusammenklang an-
gespielt, ohne daß es erlaubt wäre, seinen Sinn ideologisch zu
definieren.
Aljoscha, der Schüler des Starez Sosima, figuriert als der
„Mittelsmann" 77 nicht nur zwischen den zwei feindlichen Brü-
dern, sondern überhaupt zwischen der „himmlischen" Sphäre
und der weltlich-geschichtlichen Realität, in der die Roman-
handlung sich ereignet. Dmitrij nennt ihn den Cherub, auch
anderwärts heißt er ein Engel. Das bedeutet, ihm ist ein Boten-
amt zugewiesen, er vertritt inmitten dieser düsteren Welt der
Verstrickungen, der Lüge und Gewalttat die Stimme der Wahr-
heit 78. Aber der Engel ist auch ein wirklicher Mensch, ein Kara-
masow, dessen vitale Existenz von dem Widerstreit zwischen
Gut und Böse, Wahrheit und Lüge durchaus nicht unbetroffen
bleibt (VII, 2 „Solch ein Augenblick").
Iwan, der mittlere Bruder, der wissenschaftlich gebildete Denker
und Skeptiker, ist unter den Dreien am ehesten ein Stück Selbst-
darstellung des Dichters, darum in der Romanfiktion auch der
Erfinder und Erzähler der Legende vom Großinquisitor, die —
allerdings in einer dem Erzähler diametral entgegengesetzten
Intention — Dostojewskijs geistiges Testament sein will. Nicht
immer war Iwan der verzweifelte Nihilist, als der er sich in den
beiden zentralen Kapiteln des Romans (V, 4.5) dem jüngsten
Bruder zu erkennen gibt. Wie Raskolnikow, hat auch dieser
scharfsinnige junge Jurist eine Abhandlung verfaßt, eine Apolo-
gie der heftig umstrittenen kirchlichen Gerichtsbarkeit mit dem
Fernziel einer Inkorporierung des Staates in die Kirche (11,2),

138
(die bei dem gelehrten Bibliothekar des Klosters und auch bei
Starez Sosima auf überraschte Zustimmung stößt. Freilich, wie
der Starez hellsichtig erkennt (11,6), hat Iwan hier nur ein Ge-
dankenexperiment angestellt. „Sie glauben selbst nicht an Ihre
Dialektik und verlachen sie wunden Herzens." In Wirklichkeit
kann er weder an Gott noch an die Unsterblichkeit glauben. So
spielt er, einstweilen imaginär, mit dem Gedanken des Selbst-
mordes. Näher liegt ihm die andere Konsequenz des Nihilismus,
das alte Axiom Raskolnikows, daß dem Starken und Wissenden
„alles erlaubt ist", beispielsweise auch der Vatermord oder die
Anstiftung eines ihm hörigen Lakaien zu dieser Mordtat. Para-
doxerweise ist es der Teufel, der durch sein versuchliches Zureden
Iwan am Ende zu dem Entschluß bringt, seine Mitschuld an der
Ermordung des Vaters vor Gericht zu gestehen. Iwan ist kein
Unmensch. Seine Schuld, sagt Dostojewskij, ist unser aller
Schuld 79 .
Sollte in den „Karamasows" von einem Helden die Rede sein,
so wäre am ersten Dmitrij, der älteste Bruder, an der Reihe.
Sein Konflikt mit dem bösartigen und schmutzigen Vater, sein
schweres Ringen mit der Versuchung, diesen Vater totzuschla-
gen, sein fast wunderbares Bewahrtwerden vor dieser Versu-
chung, seine Belastung durch den unwiderleglich scheinenden
Verdacht der Täterschaft, nicht weniger seine Verstrickung in die
Alternative zwischen Katerina Iwanowna, seiner Braut, und
seiner Geliebten Gruschenka — dann, als er Grusdienkas Herz
gewonnen hat, seine nächtliche Verhaftung und Vernehmung,
schließlich die Schwurgerichtsverhandlung mit dem tragischen
Justizirrtum: das ist das eigentliche Corpus der dramatischen
Aktion. Dem entspricht die außerordentliche Dichte und Inten-
sität von Dmitrijs dramatischer Selbstdarstellung. Im ganzen
CEuvre Dostojewskijs ist er, genau zugesehen, der einzige voll-
menschliche und vollmännliche Held. Er repräsentiert auch am
vollkommensten Dostojewskijs christlich-dichterisches Bild von
der conditio humana; er ist der gefallene, aber nicht der ver-
lorene Mensch. Schließlich ist Dmitrij innerhalb der weltlich-
geschichtlichen Ebene der Handlung auch der wichtigste Dol-
metscher der Botschaft, die Dostojewskij dieser letzten Roman-

139
tragödie eingestiftet hat. „Mitten in der Schmach und Schande"
des gefallenen Menschen stimmt er den Hymnus für Gott, den
Schöpfer, und seine Gabe, die Freude, an. Mitten im Hymnus
wiederum überkommt ihn das Erschrecken über das rätselhafte
Doppelantlitz der Schönheit und über das gefährdete Menschen-
herz (III, 3). Noch stärkeres Gewicht hat, am Vorabend seines
Prozesses, der Hymnus de profundis, mit dem Dmitrij sein Herz
erleichtert von der Angst um die Austreibung Gottes aus dem
Machtbereich des autonom gewordenen „neuen Menschen"
(XI, 4). Dmitrij bewahrheitet diesen Hymnus auch durch seine
Bereitschaft, trotz seiner juridischen Unschuld die Bürde des Lei-
dens auf sich zu nehmen „für das Kindlein", das er hungernd
und frierend im Traum gesehen hat (IX, 8). „Für das Kindlein
will ich hingehen. Denn alle haben Schuld . . . für alle will ich
hingehen. Denn es ist nötig, daß jemand für alle hingeht."
Dem Hymnus für Gott, seinen Schöpfer und Erretter, den Dmi-
trij singt, ist Aljosdias mystisches Erlebnis in der Nacht nach
dem Tode des Starez zugeordnet. Im Anhören der Evangelien-
lesung, wie sie am Sarge eines Priestermönches Brauch ist, ver-
gegenwärtigt sich ihm visionär die Hochzeit von Kana, das
Schaubild der „neuen Freude", die Christus zu bringen kam und
wieder kommt, und unter dem Sternenhimmel vernimmt Al-
joscha dann den kosmischen Lobgesang. Sein Herz „erbebt in der
Berührung mit anderen Welten", und unter Freudentränen küßt
er die Erde mit dem Gelöbnis, sie „zu lieben in alle Ewigkeit"
(VII, 4). Von diesem Hymnus als dem Welt-Finale weiß sogar
Iwan, mitten in der Auflehnung (V, 4), wenn er einstweilen auch
entschlossen ist, Gott die Eintrittskarte zu diesem festlichen Fi-
nale respektvoll zurückzugeben. Wahrscheinlich hat der Dichter
in der Anekdote von dem russischen Atheisten, der nach äonen-
langer Himmelswanderung schließlich selbst in den Hymnus der
Engel einstimmen wird (XI, 9), Iwans eigene Zukunft voraus-
deuten wollen. Daß es der Teufel ist, der diese Anekdote erzählt,
das ist ein Äußerstes von eschatologisdi-dialektischem Humor.
Eben in diesem Humor, der nahe an die Blasphemie streift, zeigt
sich, als im „farbigen Abglanz", die Synthese dieser und jeder
Menschengeschichte, die über alle Vernunft ist.

140
2. Die allmenschliche Vereinigung
1
a) D i e P u s c h k i n r e d e von 1880

In den „Brüdern Karamasow" wird die allmenschliche Synthese


dichterisch vorausgeschaut. An ihrer gedanklichen und zugleich
öfrentlidi-proklamatorisdien Verwirklichung hat Dostojewskij
sich in der Moskauer Gedächtnisrede für Puschkin mit höchster
Anspannung aller Geistes- und Herzenskräfte versucht 80 .
Puschkin wird — in einer gewagten Interpretation — von
Dostojewskij aufgerufen als Kronzeuge des russischen Volks-
geistes mit seiner allmenschlichen Gabe und Sendung. — Die
weltgeschichtliche Synthese ist die dem russischen Volk aufge-
tragene „Idee". Dieses Volk ist ihr Träger, aber die Idee um-
greift alle Völker der Menschheit.
Zuerst ruft der Redner alle Gruppen und Parteien in Rußland
zur Einigung im Geiste des „Volksglaubens" auf. Der Appell
ergeht vordringlich an die gebildete Oberschicht, die sich vom
schlichten Volke hochmütig „abgesondert" hat:
Demütige dich, stolzer Mensch, und zerbrich vor allem deinen Stolz.
Demütige dich, müßiger Mensch, und arbeite vor allem auf dem
Acker des Volkes . . . Die Wahrheit ist nicht außerhalb deiner, nicht
irgendwo jenseits des Meeres, sondern vor allem in deiner eigenen
Mühe an dir selbst. Wenn du dich besiegst . . . , wirst du frei sein . . .
und du wirst ein großes Werk beginnen und die anderen frei
machen.
Das mitmenschliche Ethos, das die entscheidende Vorbedingung
für eine bessere Zukunft ist, hat Puschkin beispielhaft sichtbar
gemacht an Tatjana im „Eugen Onegin", der idealen russischen
Frau.
Stellen Sie sich vor, daß Sie selbst den Bau des menschlichen Schicksals
errichten, mit dem Ziel, die Menschen letzten Endes zu beglücken und
ihnen endlich Ruhe und Frieden zu geben . .. Stellen sie sich ferner
vor, daß man zu diesem Zwecke . . . unvermeidlich ein einziges
menschliches Wesen totquälen müsse — wollen Sie unter dieser Be-
dingung den Bau aufführen? — Nein, die russische Seele entscheidet
die Frage so: Mag ich allein das Glück verlieren . . . mag schließlich
kein Mensch von meinem Opfer erfahren . . . aber ich will nicht glück-
lich sein, nachdem ich einen anderen zugrunde gerichtet habe80*.

141
Puschkin hat in seiner letzten Periode vorwiegend Menschen
anderer Nationen dichterisch nachgebildet und dabei eine unbe-
grenzte Fähigkeit erwiesen, sich in den Geist anderer Völker zu
versetzen. Genau das ist die spezifisch russische Anlage und Ver-
antwortung:
Ein wirklicher Russe sein, heißt vielleicht nur, letzthin ein Bruder
aller Menschen sein, ein Allmensch ... Dem echten Russen ist Europa
ebenso teuer wie Rußland selbst . . . Der künftige russische Mensch
wird danach streben, die europäischen Widersprüche endgültig zu
versöhnen . . . und endlich vielleicht das Wort der großen allgemeinen
Harmonie auszusprechen, der brüderlichen endgültigen Einigung aller
Völker nach dem Gesetz Christi und des Evangeliums.
Hier wird wieder die Stimme der messianischen Ideologie laut,
deren nationalistische Untertöne uns bei der Besinnung über
Dostojewskijs „russischen Christus" und die mit seinen politi-
schen Aspirationen um 1877 unheimlich eng verquickte Welt-
mission Rußlands beschwerlich zu hören waren 8 1 . Aber in der
Puschkinrede geht es nicht um die politische Dimension dieses
Zukunftsauftrages. In ihr klingt auch ernste Kritik an dem
bequemen Autoritätsglauben des Bürgertums und noch mehr an
der Geistes- und Herzensarmut der Oberschicht an, die im
Begriff ist, um wirtschaftlicher Vorteile willen das beste Volks-
erbe preiszugeben. Man mag sich fragen, wie das hier verkündete
Allmenschentum sich mit jenem Allrussentum verträgt, das für
Dostojewskij sonst die Voraussetzung der prophetischen Welt-
synthese zu sein scheint. Wie sich das auch vertragen oder nicht
vertragen mag, was er hier will, ist jedenfalls die „nach dem
Gesetz Christi und des Evangeliums" verstandene allmenschliche
Bruderschaft.
i

b) S c h u l d g e m e i n s c h a f t und All V e r z e i h u n g

Die weltgeschichtliche Synthese, um die Dostojewskijs Denken


sich bemüht, ist und bleibt auch in der Gestalt des ethischen
Appells, die die Puschkinrede ihr gibt, eine Ideologie. Gehen
wir aber von den Äußerungen des Publizisten in der Rolle des
Volkspropheten auf das Wort des Dichters zurück, so entdecken
wir hinter der geschiditstheoretischen Ideologie einen Kern, der

142
von dem längst über sie gesprochenen Verdikt nicht mitbetroffen
wird.
Das Wortsymbol dieses Kernes ist Allverzeihung. Es begegnet
uns zuerst — mit seinem humanitären Beiklang — im Munde
des alten westlerischen Literaten Stepan Trofimowitsch Wercho-
wenskij, des Vaters von Pjotr Stepanowitsdi, dem terroristischen
Revolutionär („Dämonen"). Dieser alte Liberale und Freidenker
gelangt auf dem Wege der bitteren Enttäuschung über die In-
humanität seines Sohnes und der von ihm angeführten Nihi-
listengruppe, schließlich auf seiner „letzten Wanderung" (111,7)
durch die Begegnung mit der Bibelverkäuferin zu persönlicher
Wiederentdeckung des Evangeliums. Ein Vorspiel der neuen
Erkenntnis, die ihm dicht vor seinem Tode aufgeht, ist schon
seine Rede bei der (grotesk ausgehenden) literarischen Matinee
der Gouverneurin. Nach zornigem Protest gegen die rein utili-
tären, im Grunde widermenschlichen Zukunftsziele der Nihili-
sten ruft er aus: „Das letzte Wort in dieser Sache ist Allverzei-
hung" (III, 1,4. Abschn.). Tags darauf wiederholt er es im
Gespräch mit der unglücklichen Lisa Drosdowa: Pardonnons,
Lise, und lassen Sie uns frei für immer sein. Um sich mit der
Welt abzufinden und völlig frei zu werden, il faut pardonner,
pardonner et pardonner" (III, 3, 4. Abschn.).
Seinen Vollklang empfängt dieses Losungswort aber erst in den
Gesprächen des „Wanderers" mit der Bibelfrau (III, 7,2. Ab-
schnitt) :
O lassen Sie uns verzeihen, lassen Sie uns vergeben, allen und für
immer .. . Wollen wir hoffen, daß auch uns vergeben wird. Denn
jeder von uns und wir alle haben uns gegeneinander schuldig gemacht.
Alle sind mit einer Schuld beladen.
Und nochmals tiefere Resonanz gewinnt das Wort in den letzten
Fieberreden des inzwischen schwer erkrankten alten Mannes,
der vom Krankenlager nicht wieder aufstehen wird. Im Hören
auf das Wort des Neuen Testaments, aus dem die Bibelfrau ihm
vorlesen muß 8 2 , erschließt sich ihm eine Strenge der Selbster-
kenntnis, die alle Selbstprüfung angesichts der erlebten Ent-
täuschungen in jüngster Vergangenheit weit übersteigt:
Meine Freundin, ich habe mein ganzes Leben lang gelogen, selbst
dann, wenn ich die Wahrheit sprach . . . Das Allerschwerste im Leben

143
ist, zu leben und nicht zu lügen . . . und seinen eigenen Lügen nicht zu
glauben.
Erst jetzt geht dem alten Mann ganz auf, warum Allverzeihung
wirklich das letzte Wort ist. Darum, weil jeder Mensch mit-
schuldig ist an der Schuld der Gesellschaft und der ganzen
Menschheit. Darum, weil er selbst für die Lüge, in der er lebte,
und für den Selbstbetrug, der im Selbstbewußtsein immer schon
auf der Lauer liegt, der Verzeihung bedarf.
Dostojewskij will auch in dieser Geschichte von der inneren
Wandlung eines Indifferentisten wie Stepan Trofimowitsdi, der
nach Bischof Tidions Wort der Wahrheit noch ferner ist als
irgendein Atheist, nicht zum Erbauungsredner werden. Sein
hoher Kunstverstand wendet alle artistischen Mittel daran, den
wirklichen inneren Vorgang ein Geheimnis bleiben zu las-
sen 83 .
In der Sache dagegen bleibt hier keine Zweideutigkeit. Zu wahr-
hafter Selbsterkenntnis kommt ein Mensch in der Konfrontation
mit dem Wort Christi. Gültiger als der gute Stepan Trofimo-
witsdi repräsentiert Starez Sosima den Menschen, der dieses
Wort Christi in einer langen Lebensgeschichte in sich aufgenom-
men und erprobt hat. Schon in den ersten Anfängen seiner
„Wiedergeburt", als er noch Offizier war, hat sich ihm nach dem
Verzicht auf das Duell wegen eines nichtigen Ehrenhandels
diese Wahrheit erschlossen: Jeder Mensch ist allen gegenüber
und für alles schuldig, abgesehen von seinen eigenen Sünden
(BrK VI, 2d). Sein „geheimnisvoller Gast", der nach dem Be-
kanntwerden seines Duellverzichts zu ihm Vertrauen faßt und
ihn aufsucht, spricht sich in langen Unterredungen über die
entscheidende Bedeutung dieser Erkenntnis von der allmensch-
lichen Schuldgemeinschaft aus. Das ist der tiefste Schade unseres
Zeitalters, sagt er, daß den Menschen das Wissen von ihrer
Solidarität in der Schuld abhanden kam und daß sie deshalb
der Vereinzelung, dem Wahn eines selbstgenugsamen Individual-
daseins verfallen sind:
Alle in unserem Jahrhundert sind in lauter Einzelne zerfallen, jeder
entfernt sich vom andern, verbirgt sich, und es endet damit, daß er
sich selbst von den Menschen abstößt und die Menschen von sich
zurückstößt.

144
Ganz ebenso lauten die letzten brüderlichen Belehrungen des
Starez vor seinem Tode:
Es gibt nur eine Rettung: mache dich selbst für die Sünden der Men-
schen verantwortlich. Wenn du aber in deiner Trägheit und Ohnmacht
die Schuld auf die anderen abwälzen willst, wirst du schließlich sata-
nischem Hochmut verfallen und gegen Gott murren . . . Es ist schwer,
diesen satanischen Hochmut zu durchschauen . . . leicht können wir in
Irrtum verfallen, selbst wenn wir meinen, daß unser Tun groß und
schön sei (VI, 3 g).

Dieser Betrachtung „Über das Gebet und die Liebe" schließt


sich eine weitere an: „Kann man Richter sein über seinesglei-
chen?" Hier werden aus der Erkenntnis unserer allmenschlichen
Schuldgemeinschaft praktische Folgerungen für die Strafjustiz
gezogen.

Niemand kann auf Erden Richter eines Verbrechers sein, bevor er


nicht selbst anerkannt hat, daß er ein ebensolcher Verbrecher ist wie
der, der vor ihm steht, und daß er an dem Verbrechen des vor ihm
Stehenden vielleicht mehr als alle schuldig ist . . . Wenn ich selbst ein
Gerechter wäre, so stünde vielleicht kein Verbrecher vor mir.
Diese Erkenntnis mutet der Starez auch demjenigen zu, den „das
Gesetz zum Richter eingesetzt hat". Dostojewskij kommt nicht,
wie Tolstoj, zu einer generellen Ablehnung der Strafjustiz. Aber
der Starez, der hier sein Sprecher ist, mutet dem Strafrichter ein
Äußerstes an persönlicher Solidarisierung mit dem Angeklagten,
ja an „Entschuldigung" des Verbrechers in stellvertretender
Übernahme seiner Schuld zu. Der Verbrecher muß merken, daß
sein Richter im Gewissen auch ein Mitträger seiner Schuld ist.
N u r durch diese Erfahrung kann er zur Selbsterkenntnis und
zum Selbstgericht geführt werden, während unbarmherzige Ver-
urteilung ihn nur verhärtet 84 . — Nicht immer allerdings wird
Milde und freundlicher Zuspruch den anderen, der Unrecht tat,
gewinnen und überwinden. Audi dann gilt es ihn nicht aufzu-
geben. „Wenn du mit Verbitterten nicht reden kannst, so diene
ihnen schweigend und in Demut, ohne jemals die Hoffnung für
sie aufzugeben."
Das sind nicht mehr praktikable Regeln für die Rechtsprechung.
Die Grenze, bis zu der das christliche Ethos der Schuldsolidarität

145
die öffentliche Rechtsprechung durchwirken und für die Person-
erfahrung von Schuld und Vergebung transparent machen
kann, bleibt offen, nicht nur hier in der brüderlichen Anrede
an die Mönche, sondern auch in den Gesprächen bei der „un-
schicklichen Versammlung" (BrK II, 5) anläßlich der Abhand-
lung Iwans über künftige Möglichkeiten einer kirchlichen Ge-
richtsbarkeit. In den Schlußworten des Starez werden auch diese
offenen Fragen in das Licht der eschatologischen Hoffnung ge-
stellt. In welchem Sinne und für welche Zeit die jetzt noch
unfertige „christliche Gesellschaft . . . ihre vollständige Ver-
wandlung aus dieser fast noch heidnischen Gesellschaft in eine
einzige ökumenische Weltkirche" erwarten kann, das ist die
Frage, die zu dem letzten Aspekt von Dostojewskijs Hoffnung
auf die allmenschlidie Synthese hinüberführt.

3. Das Goldene Zeitalter

Dostojewskij hat den zivilisatorischen Fortschrittsglauben, die


Idee einer „machbaren" besseren Zukunft der Menschheit seit
1863 immerzu nicht nur erbittert bekämpft, sondern auch in-
grimmig verspottet. Sein Protest gegen eine machbare Zukunft
kann den Leser leicht darüber hinwegtäuschen, daß sein eigenes
Denken, nicht anders als das der von ihm gezüchtigten Progres-
sisten und Sozialisten, völlig beherrscht ist von dem Verlangen
nach der Zukunft, in der der Mensch zu seinem wahren Mensdi-
sein befreit sein wird. Das hat ihn von den Moskauer Slawo-
philen der 1860er Jahre getrennt: diese Slawophilen waren,
echte Romantiker, im Banne einer idealisch verklärten russischen
Vergangenheit, während er, ohne das Erbe der Geschichte zu
verachten, unverwandt nach vorwärts schaute. Man übertreibt
nicht, wenn man urteilt, daß er in der Inbrunst des Zukunfts-
glaubens die geschmähten Fortschrittler noch übertroffen hat.
Insofern sein Denken und Schaffen von 1865 an christlich inte-
griert ist, trägt seine Zukunftserwartung durchaus die Züge der
diristlichen Hoffnung. Die Motive der christlichen Hoffnungs-
Eschatologie haben in der Tat innerhalb seiner Dichtungen ihren
stattlichen Platz. Die „Hymne der letzten Auferstehung", die
auch bei dem skeptischen Zweifler Wersilow das letzte Wort

146
behält („Jüngling" I I I , 7, 3. Abschn.), das Weltfinale der ewigen
Harmonie, das sogar Iwan Karamasow bejaht, noch bestimmter
das Zeugnis von der Auferstehung der Toten, zu dem sich Dosto-
jewskijs Axiom von der Unsterblichkeit der Seele in Aljosdias
Schlußrede „am Stein" (Br K, Epilog 3) verdichtet, die Konzen-
tration der Hoffnung auf den kommenden Tag Christi in den
Gesprächen des Starez Sosima — dies alles ist genuin christ-
lich.
Aber diese christliche Zukunftshoffnung geht bei Dostojewskij
Verbindungen mit Zukunfts- und Hoffnungsbildern ein, die auf
einem anderen Boden gewachsen sind, mit Ideen, die die Zu-
kunft der Menschheit, auch das Reich Gottes, innerhalb der
Weltgeschichte, hier auf Erden — und aus einem höchsten Auf-
schwung menschlicher Selbsterneuerung erwarten. Wieweit solche
Verbindungen innerhalb des Variationsraumes christlicher Hoff-
nung liegen, wieweit sie diesen gewiß breiten Variationsraum
überschreiten, auf diese Frage erlaubt uns das Gesamtbild von
Dostojewskijs Zukunftsgedanken nur in bestimmten Grenzen
eine bündige Antwort. Wir berichten in Kürze über die ver-
schiedenen Aspekte dieses Gesamtbildes.

a) U r s t ä n d und I d e a l

Ein wesentlichstes Zeugnis von Dostojewskijs Geschichts- und


Zukunftsvorstellungen ist der Traum vom Goldenen Zeitalter in
seinen drei Fassungen. Die erste findet sich in dem unterdrückten
Kapitel der „Dämonen" (in der Neuausgabe als II, 9 mit der
Überschrift „Bei Tichon"): Stawrogins Traum vom irdischen
Paradies, „einer kleinen Bucht im griechischen Archipel", wo
„der Europäer sich seine Wiege dachte". Drei Jahre, nachdem
das Kapitel getilgt war, ging dieser Traum in den „Jüngling"
über, als ein Kernstück des Gesprächs zwischen Wersilow und
Arkadij, diesmal als Wersilows Traum (III, 7; 2. Abschn.). Diese
zweite Fassung stimmt in allen Hauptzügen mit der ersten über-
ein. Beide Male geht der Traum auf Claude Lorrains Gemälde
„Acis und Galathea" zurück, das Dostojewskij in Dresden sah
und dem er den Namen Das Goldene Zeitalter gab 85 . Die dritte,
stark erweiterte Fassung bildet das Mittelstück im Traum eines

147
lächerlichen Menschen (1877) 86 . Ohne ausdrückliche Rückbe-
ziehung auf Claude Lorrains Gemälde ist hier die Traumvision
einer Himmelsreise berichtet, die den Erzähler auf einer „ande-
ren Erde" das selige Leben des menschlichen Urstandes sehen
und selbst mitleben läßt, bis zu dem Tage, an dem er „sie alle
verdirbt", sie in das zwielichtige Leben unserer Menschheit nach
dem Sündenfall hineinzieht. Der jähen Peripetie dieser dritten
Traumgeschichte entspricht in der ersten Fassung das schmerz-
hafte Erwachen Stawrogins mit dem magisch gebannten Blick
auf eine „winzige rote Spinne", dieselbe, die er nach der Schand-
tat an dem halbwüchsigen Mädchen am Fenster auf einem
Geranienblatt sitzen sah. In Wersilows Traumbericht wandelt
sich das Bild des „ersten Tages der europäischen Menschheit"
beim Erwachen in ihren letzten Tag; „es war, als zöge durch die
Luft Europas Sterbeglockenklang".
Der Traum ist also eine Erinnerung an den verlorenen Urständ
der Menschheit. Im „Traum eines lächerlichen Menschen" heißt
es:
Das war eine durch keinen Sündenfall entweihte Erde, auf ihr lebten
Menschen, die nicht gesündigt hatten, lebten im gleichen Paradies
wie das, in dem nach den Überlieferungen der ganzen Menschheit
auch unsere in Sünde gefallenen Ureltern gelebt hatten, nur mit dem
Unterschied, daß hier die ganze Erde überall ein und dasselbe Para-
dies war.
Der Inhalt der Vision deckt sich genau mit dem glückhaften
Anfangszustand der bewohnten Erde, den der bei Hesiod und
nochmals bei Ovid91 dargestellte antike Mythos vom Goldenen
Zeitalter beschrieb. Die Interpretation in der dritten Fassung
lehnt sich eng an die christliche Lehrtradition vom ursprünglichen
Vollkommenheitsstande des Menschen vor dem Sündenfall an.
In den zwei ersten Fassungen, namentlich in der Nuancierung
Wersilows, scheint dieser selige Urständ beinahe identisch mit
der ins Mythische verschwebenden Frühzeit der europäischen
Geschichte. Mit der romantischen Schwermut des „russischen
Europäers" schaut Wersilow auf diese legendäre Urzeit zu-
rück.
Aber der Traum meint, wenn man die drei Fassungen genau
liest und vergleicht, keine geschichtlich fixierbare Wirklichkeit.

148
Der Zeitmodus der Vergangenheit („das war eine durch keinen
Sündenfall entweihte Erde, auf ihr lebten Menschen, die nicht
gesündigt hatten") ist die Chiffre für einen vorzeitlichen Ur-
sprungsstand, der nur in Träumen, in den mythischen „Über-
lieferungen der ganzen Menschheit" gedacht, geahnt, erinnert
wird.
Dieser zeit- und geschichtstranszendente Sinn der Vision vom
Goldenen Zeitalter kommt deutlich zur Sprache in der zweiten
Fassung, in Wersilows Traum, in den schon die Interpretation
eingeflochten ist. Wersilow sagt:
Welch ein wunderbarer Traum! Welch ein erhabener Irrtum der
Menschheit! Das goldene Zeitalter ist von allen Illusionen, die die
Menschheit jemals gehabt hat, die allerunwahrscheinlichste, und doch
haben die Menschen für sie ihr Leben und alle ihre Kräfte hingegeben,
für sie sind Propheten getötet worden und gestorben, und ohne sie
können die Menschen gar nicht leben, ja nicht einmal sterben88!
Dieser „erhabene Irrtum", an den die Menschen alle Kräfte ihrer
Sehnsucht gewandt haben, für den Propheten gestorben sind,
hat zum Inhalt, mit dem von Dostojewskij bevorzugten Wort
ausgedrückt, ein bzw. das Ideal der Menschheit. Und hier voll-
zieht sich, nicht erst bei Dostojewskij, eine eigentümliche Be-
deutungsumkehr 89 . Weil das Goldene Zeitalter den Sinn des
Ideals hat, wird es auch zum Inbegriff für die menschheitlichen
Zukunftsziele.
So ergibt sich eine mythische Korrespondenz zwischen Urzeit
und Vollendungszeit. Überall in den Sagen und Überlieferungen
der Religionsgeschichte nebst ihren Umsetzungen in Theologie,
Philosophie und Dichtung zeigt sich diese Korrespondenz von
Herkunft und Ziel der Menschheitsgeschichte als ein Grund-
motiv religiös-humaner Geschichts- und Selbstauslegung. Sie
schattet sich ab auch in Rousseaus Begriff der Natur, sie geht ein
in die Geschichtstheorie des dialektischen Materialismus, sie kann
in ihre offenen Umrisse die verschiedensten Sinngehalte und ideo-
logischen Implikationen aufnehmen. Immer kommt es darauf
hinaus, daß die erstrebte oder ersehnte Vollendung des Menschen
und der Menschheit schon präformiert ist in einem entweder
sakral überlieferten oder postulierten Ur-Anfang der Mensch-
heit. Innerhalb dieses mythischen Korrespondenz-Entwurfs aber

149
stellt sich die Frage, ob die erhoffte endliche Rückkehr zum Ur-
sprung sich in dem kontinuierlichen Gang der Menschheits-
geschichte vollzieht, und mit ihr zugleich die weitere Frage, ob
auch zwischen Ursprung und gegenwärtig erfahrener bzw. er-
fahrbarer Geschichte eine Kontinuität besteht.

b) S ü n d e n f a l l und V e r e i n z e l u n g
Nach beiden Seiten ist die Kontinuität verneint in der klassi-
schen Tradition der christlichen Dogmatik. Auf den, in der über-
lieferten Lehrform zeitlich verstandenen, Abbruch des Urstandes
(status originis), den das erste Menschenpaar verschuldete, folgt
der Verderbensstand (status corruptionis). Vom Menschen aus
ist der Abbruch nicht rückgängig zu machen. Nur Gott in seinem
wunderbaren, alle menschlichen Möglichkeiten übersteigenden
Eingreifen kann und wird den verlorenen Urständ, die ur-
sprüngliche Rechtbeschaffenheit (iustitia originalis) des Men-
schen zu seiner Zeit wiederherstellen. Diese Gottes-Zukunft ist
aber schon vorbereitet, ja sie hat schon begonnen in Jesus Chri-
stus, dem neuen (2. Kor. 5,17), dem „zweiten" und zugleidi
letzten (endgültigen) Menschen (1. Kor. 15,47.45). Sein Erschei-
nen in der Geschichte ist im strengen Sinn die Wende der Zeiten;
daß es dies alles entscheidende Gewicht hat, wird offenbar wer-
den in seinem erwarteten zweiten Erscheinen, das der in ihm
beschlossenen Menschheit die vollendende Herstellung ihres gott-
ursprünglidien Seinsstandes verbürgt.
Von der Aufhebung des seligen Urstandes durch den Sünden-
fall spricht auch Dostojewskij in der dritten, endgültigen Fas-
sung des Traumes vom Goldenen Zeitalter, dem „Traum eines
lächerlichen Menschen". Dieser Träumer erfährt nicht nur die
visionäre Vergegenwärtigung des Urstandes, er erlebt, ja ver-
ursacht selbst seine Aufhebung:
Es endete damit, daß ich sie alle verdarb! Wie das geschehen konnte,
weiß ich nicht . . . Wie eine abscheuliche Trichine, wie ein Pestatom,
das ganze Reiche verseucht, so verseuchte ich mit meiner Gegenwart
diese ganze glückliche, vor meinem Erscheinen sündenlose Erde. Sie
lernten lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schön-
heit der Lüge . . . Das begann vielleicht ganz unschuldig . . . mit einem
Liebesspiel, vielleicht in der Tat mit einem Atom, aber dieses Atom

150
Lüge drang in ihre Herzen ein und gefiel ihnen. Danach kam schnell
die Sinnenlust auf, und die Wollust erzeugte Eifersucht, und die Eifer-
sucht Grausamkeit . . . Sehr bald ward das erste Blut vergossen; sie
waren zuerst nur erstaunt, dann erschraken sie und begannen aus-
einanderzugehen und sich zu entzweien. Es entstanden Bündnisse,
doch es waren bereits Bündnisse gegeneinander.

Diese existentielle Vergegenwärtigung der Sage vom Sündenfall


hat eine bemerkenswerte Entsprechung im Epilog von „Schuld
und Sühne". Da träumt Raskolnikow den apokalyptischen
Angsttraum 90, der inhaltlich mit dem eben angeführten zweiten
Akt des „Traumes" von 1877 beinahe zusammenfällt. Auch in
Raskolnikows Traum ist es eine Seuche, die die Menschen von
innen her vergiftet. Es folgt die verhängnisvolle Vereinzelung
erst der Völker, schließlich auch der einzelnen, der Wahn eines
jeden, er allein wisse das Rechte und Wahre, und darum be-
kriegen und vernichten sie einander bis zur (fast) vollständigen
Ausrottung des Menschengeschlechts. — Nur, was im Traum des
„lächerlichen Menschen" schon geschehen ist, wie es scheint, un-
widerruflich, das steht in Raskolnikows Traum der Menschheit
erst bevor. Das Ideogramm des aller Geschichte vorausgegebenen
Falles ist hier vertauscht mit apokalyptischen Schrecken und
Plagen, die auf die Menschheit erst zukommen. Noch wichtiger
ist ein zweiter Unterschied. Raskolnikow schaut diese Schrecken
als kollektives Widerfahrnis, der „lächerliche Mensch" erkennt
sich selbst als den Urheber dieses Falles — und wünscht sich als
Sühnopfer für seine Schuld kreuzigen zu lassen.
Es ist kaum eine Uberdeutung des Befundes: in dem Jahrzehnt
zwischen „Schuld und Sühne" und dem „Traum" von 1877 hat
sich die christlich-humane Geschichtsanschauung des Dichters
vertieft. Der Dichter des „Traumes" ist schon erfüllt von der
gleichen Erkenntnis, die zwei Jahre später Starez Sosima in
seinem Namen lehren wird: alle sind vor allen für alles Böse
und alles Unheil schuldig, die Menschheit ist eine solidarische
Gemeinschaft der Schuld, und in mir kumuliert diese Gesamt-
schuld.
An der dogmatischen Tradition des schon geschehenen Sünden-
falls ist im Traum von 1877 eine Korrektur vorgenommen; der
Erzähler (in der Rolle des Träumers) legt sich das schlechthin

151
Schreckliche an diesem Fall selbst zur Last. Diese Korrektur ist
in Wahrheit eine aktualisierende Auslegung der dogmatischen
Tradition, und zwar eine völlig sachgemäße. Sie entlastet die
Sündenfall-Sage von dem Verdacht einer bloßen Mythologie
und macht sie so transparent für die sowohl streng personale
wie menschheitlich-solidarische Schulderkenntnis, wie sie der
Starez lehrte. Die so ausgelegte (und ergänzte) Überlieferung
vom Sündenfall wäre nicht auszuwechseln gegen Raskolnikows
apokalyptischen Katastrophentraum. Denn nur sie sichert die
utopischen Horizontmöglichkeiten der christlichen Hoffnung ab
gegen Ausweitungen, die den Menschen, wenigstens den Chri-
sten zum Vollstrecker der vollendenden Zukunft des Menschen
erheben wollten. Viel leichter kann der biblisch-apokalyptische
Weltbildrahmen, in den Raskolnikows Angsttraum eingezeich-
net ist, in einer christlichen Geschichtsdeutung, wie sie Dosto-
jewskij vorschwebt, preisgegeben werden; seine Unentbehrlich-
keit ließe sich nur im Zeichen eines falschen Verbal-Biblizismus
behaupten. Doch mag der in Raskolnikows Traumgesicht ver-
bildlichte katastrophische Zukunftshorizont der christlichen
Hoffnung auch einen gewissen Dienst tun: er warnt sie vor einer
bruchlos-direkten Zusammenschau aller Fortschritte, die der
Verantwortung des Menschen hier und jetzt zugewiesen sind,
mit der Hoffnung auf das Reich Gottes.

c) D a s P a r a d i e s auf E r d e n

Eben in diesem Punkt ist der „Traum eines lächerlichen Men-


schen", auch als Dichtung genommen, eine problematische christ-
liche Zukunftsvision. Als der Träumer von seinem Selbstmord-
plan und der anschließenden Himmelsreise erwacht, ruft er
enthusiastisch aus: Ich habe die Wahrheit gesehen. Welche Wahr-
heit? — Der Textzusammenhang gibt deutlich Antwort: daß es
eine reale Möglichkeit des Menschseins gibt, die nicht in Lüge,
Grausamkeit, feindselige Vereinzelung entartet, sondern in ih-
rem ursprünglichen Stande beharrt. Die entscheidende Probe
auf diese Wahrheit ist der Entschluß zur Wiedergutmachung
lieblosen Handelns. Der „lächerliche Mensch" weiß genau, was
sein Erprobungsfall ist. Gestern abend, mit seinem autistischen

152
Selbstmordplan beschäftigt und ausgefüllt, wies er ein Mädchen,
das ihn um Hilfe bat, schroff zurück. Das war sein Sündenfall,
den er im nächtlichen Traumgesicht nachher als die Ursache des
Menschheitsverderbens begreifen lernte. Jetzt wird er froh, daß
er lebt. Denn die Gabe des Lebens ist die Chance, den Fall von
gestern gutzumachen. „Ja, leben und v e r k ü n d e n . . . was? —
die Wahrheit, denn ich habe sie gesehen, mit eigenen Augen, in
ihrer ganzen Herrlichkeit... Ich will und kann nicht glauben,
daß das Böse der Normalzustand des Menschen sei."

Sie lachen alle über meinen Glauben. „Hat einen Traum gehabt",
sagen sie . . . Was ist ein Traum? Ist unser Leben denn kein Traum?
. . . Gut, nun gut . . . das Paradies wird sich nie verwirklichen, das
sehe ich doch selbst ein, aber ich werde dennoch verkünden. Und
dabei, wie einfach wäre es: in einem Tag, in einer einzigen Stunde
könnte sich alles verwirklichen! Die Hauptsache: Liebe die anderen
wie dich selbst — das ist das Wichtigste .. . weiter ist so gut wie
nichts mehr nötig: sofort wirst du wissen, wie du leben sollst . . .
Wenn nur alle wollten, würde sich alles auf Erden sofort anders
ordnen.
Jenes kleine Mädchen aber habe ich aufgesucht . . . Und jetzt gehe
ich! Jetzt gehe ich!

Bei einem Ratespiel, wer der Autor dieser Geschichte sei, Tolstoj
oder Dostojewskij, würden unter den Kennern wohl acht von
zehn auf Tolstoj setzen. Aber es ist Dostojewskij, der die Ge-
schichte schrieb.
Er hat sie auch nicht von ungefähr geschrieben. Wie sprach der
jungverstorbene Markell, der Bruder des späteren Starez So-
sima, früher ein Skeptiker ähnlich wie Iwan, in seinen letzten
Tagen?
Mütterchen, weine nicht. Das Leben ist ein Paradies, und alle sind
wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht wahrhaben; wenn wir es
aber wahrhaben wollten, so würden wir morgen im Paradiese sein.

Der Starez hat den Spruch seines toten Bruders nicht vergessen,
und er findet daran auch vor seinem Tode nichts zu korrigie-
ren.
Dem erleuchteten Skeptiker Markell gesellt sich der Atheist Ki-
rillow zu, wir hörten es, ein Atheist um Christi willen. Ein
Stück aus seinem Gespräch mit Stawrogin (Däm II, 1; S.Ab-
schnitt) :
„Ich sah vor kurzem ein gelbes Blatt . . . es kam mit dem Wind. Als
ich zehn Jahre war, schloß ich im Winter die Augen und stellte mir
ein Blatt vor, ein grünes . . . und die Sonne scheint. Ich schlug die
Augen auf und glaubte ihnen nicht, denn es war so schön." — Was
soll das? eine Allegorie?, fragt Stawrogin. — „Nein . . . keine Alle-
gorie. Einfach ein Blatt. Ein Blatt ist gut. Alles ist gut." — Alles? —
„Alles, der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, daß er glück-
lich ist. Nur deshalb . . . Alles ist gut." — Kirillow bleibt dabei, auf
alle Zwischenfragen Stawrogins.
„Die Menschen sind nicht gut, begann er plötzlich wieder, weil sie
nicht wissen, daß sie gut sind. Wenn sie es wissen werden, dann
werden sie auch nicht mehr ein kleines Mädchen vergewaltigen. Sie
müssen nur alle erkennen, daß sie gut sind, und alle werden sogleich
gut sein, ohne Ausnahme." — Sie selbst zum Beispiel, fragt der
andere, Sie haben es jetzt erkannt, also sind Sie jetzt gut? — „Ja,
ich bin gut."

Und nochmals der geheimnisvolle Gast des Leutnants Sosima:


Das Paradies ist in jedem von uns verborgen, auch in mir bricht es
jetzt auf, und wenn ich nur will, wird es morgen schon in Wirklich-
keit in mir erstehen und dann für mein ganzes weiteres Leben an-
dauern (BrKVI,2d).
Die Reihe der Zeugen, die diesem Träumer vom Paradies auf
Erden zur Seite stehen, ließe sich aus Dostojewskijs GSuvre noch
stattlich erweitern. Der Traum dieses Sonderlings ist nicht bloß
ein gelegentliches Nebenprodukt des Dichters. R.Lauth91 hat
für sein gelehrtes Buch über Dostojewskijs „Philosophie" den
Spitzensatz des Traumes zum Titel gewählt: „Ich habe die
Wahrheit gesehen." Und K. Motschulskij schreibt vom „Traum
eines lächerlichen Menschen": „Hier ist die Lösung von Dosto-
jewskijs komplexer Religionsphilosophie, hier ist die Synthese
und die Krönung seiner ganzen Weltauffassung . . . Er glaubte
nicht mehr an eine himmlische Seligkeit der Seelen ohne Leib,
sondern an die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden." 92
Man kann fragen: wirklich die Lösung? Motschulskij sagt ander-
wärts 9 3 : „Das ist der tragische Zwiespalt bei dem Mystiker
Dostojewskij, der bis zuletzt nicht verschwand: er lehrte mit

154
[Inbrunst, daß das ganze Christentum daran hängt, an die Gott-
heit Jesu Christi zu glauben, und gleichzeitig hielt er eine recht-
Imäßige Errichtung des Paradieses auf Erden auf dem Wege
einer rein menschlichen Selbstbeherrschung für möglich."
Beide Sätze des bewährten Dostojewskijforschers sind richtig.
Den Anschein, als böte der Traum von 1877 die Lösung aller
Probleme von Dostojewskijs christlichem Dichten und Denken,
hat Motschulskij durch das Wort vom „tragischen Zwiespalt" in
seinen religiösen Gedanken selbst schon zurechtgestellt. Es ist
ein aussichtsloses Beginnen, die Vielzahl der Bilder und Bild-
reden, die Dostojewskijs christliches Hoffnungsdenken entwarf
oder versuchte, in ein geschlossenes Ganzes zusammenzubiegen.
Für uns heutige Leser ist es ein Trost, daß von den Zukunfts-
und Hoffnungsentwürfen, die in diesem Schlußabschnitt nach-
gezeichnet wurden, jedenfalls keiner mit der religiös-politischen
Ideologie des russischen Christus etwas zu schaffen hat.
Wenn in dem weiten, längst noch nicht abgeschrittenen Felde
christlicher Glaubens- und Hoffnungsgedanken auch die Utopie
von Rechts wegen ihren Platz hat, wenn christliche Eschatologie
vom „Geist der Utopie" überhaupt nicht reinlich geschieden
werden kann, so wird der Blick auf utopische Züge und Hori-
zonte dieses großen Dichters, der ein Christ sein wollte, uns
nicht irren oder befremden. Vielleicht öffnet gerade die Ent-
deckung des Utopischen im Christentum Dostojewskijs heutigen
Lesern neue Zugänge zu seinem Werk.

155
S C H L U S S : DAS GEMEINSAME IN DEN
UNTERSCHIEDEN

Tolstoj und Dostojewskij. Die Kopula drückt zunächst nur ein


Beziehungsproblem aus. Wie die Beziehung zwischen den zwei
großen Namen näher zu bestimmen ist, darüber ist in der
Kopula nichts präjudiziert. Wir meinen aber, die beiden größten
Dichter des vorsowjetischen Rußland sind nicht nur Antipoden,
ihr Verhältnis ist nicht lediglich, wie G.Steiner (hinsichtlich
ihres künstlerischen Stiles sicher richtig) sagt, „durch den Kon-
trast definiert". Audi über ihr Künstlertum wird mit der Kon-
trastierung nicht das letzte Wort gesagt sein. Dem Verhältnis der
beiden großen Schriftsteller, sowohl ihrer fundamentalen Unter-
schiede wie ihrer latenten Gemeinsamkeit näher nachzugehen,
wäre die Aufgabe einer literaturwissenschaftlichen Analyse. Für
sie sind die Fachleute, in erster Linie die sprach- und stilkun-
digen Kenner der russischen Literatur, zuständig. Was der
Nicht-Fachmann aus seinem begrenzten Blickfelde dazu bei-
tragen könnte, vor allem aus den jedermann zugänglichen
schriftlichen und mündlichen Äußerungen Dostojewskijs über
Tolstoj und (wesentlich spärlicher) Tolstojs über Dostojewskij,
würde im ganzen nur das tragische Einander-Verfehlen be-
stätigen, in dem das lebhafte Interesse der beiden großen Män-
ner füreinander gefangen blieb.
Aber die Fragestellung unserer Studie ist durch den Untertitel
Zwei christliche Utopien enger eingegrenzt. Man kann ihr ent-
gegenhalten, mit ihr werde das im Obertitel markierte um-
fassende Beziehungsproblem bedenklich verengt. Völlig begrün-
det wäre dieser Einwand, wenn der Untertitel personal gefaßt
wäre: Zwei christliche Utopisten. Was heißt hier schon Uto-
pisten? Tolstoj wie Dostojewskij sind zuerst wie zuletzt Dichter.
Daran wird nichts Entscheidendes geändert durch die Tatsache,
daß Tolstoj während seiner letzten dreißig Jahre den Großteil

156
leiner schriftstellerischen Arbeit (zum Leidwesen Turgenews
und anderer) den Fragen der Religion und der sozialen Ethik
[widmete, und daß auch Dostojewskij zwanzig Jahre lang künst-
lerische und publizistische Produktion in bedachter Personal-
union verband.

1. Gemeinsame utopische Motive

Wenn Dostojewskij wie Tolstoj für die Befragung ihres Werkes


in allen seinen Dimensionen primär bei ihrem Dichterberuf zu
behaften sind, in welchem Sinn, mit welchem Recht wird für
diese Befragung dann der Begriff der Utopie eingeführt? —
Noch vor dreißig Jahren hätte das eine Disqualifizierung bedeu-
tet. Heute nicht mehr. Nach Ernst Blochs, Martin Bubers und
Paul Tillichs einschlägigen Werken 1 und Erkenntnissen steht
außer Frage, daß Utopie ein legitimer Antrieb im Ganzen
des menschheitlichen Geschichts- und Zukunftsdenkens ist.
„Dafür ist wichtig, sagt Paul Tillich, zwischen ,utopistischem
Denken' und .Geist der Utopie' zu unterscheiden. Während
Utopismus notwendig zu Irrtümern führt, gehört der .Geist der
Utopie* einer Dimension an, in der die Alternative ,richtig'
und ,unrichtig' unangemessen ist." 2 Die Utopie, führt Tillich
weiter aus, entsteht notwendig aus der Natur des Menschen als
„endliche Freiheit" (Die Bedeutung usw., S. 158). „Aus dem
Glauben an das Wesen des Menschen, an das, ,was immer schon
gewesen ist', geht die Norm hervor, die als Bild in die Zukunft
projiziert die Utopie abgibt" (ebd. S. 169). „In jeder Geschichts-
auffassung sind utopische Elemente vorhanden, weil es zum
Wesen des Menschen gehört, utopisch etwas über sich hinaus-
zusetzen . . . Unter allen Geschichtsauffassungen ist die prophe-
tische diejenige, die dem utopischen Denken am nächsten liegt"
(ebd. S. 185). Unter der prophetischen Geschichtsauffassung
versteht Tillich das zuerst bei den Propheten des Alten Testa-
ments zur Sprache gekommene Verständnis der Geschichte, in
dem die Zeit über den Raum dominiert und das sich dann, mit
bestimmten Modifikationen, im Neuen Testament wie in der
von ihm ausgehenden christlichen Geschichtsbetrachtung fort-
setzte.

157
So verstanden, ist es sinnvoll, Tolstojs wie Dostojewskijs Werk,
sowohl in seiner dichterischen Erstgestalt wie in seiner publi-
zistischen Zweitform, unter dem Blickpunkt der darin etwa
enthaltenen utopischen Motive zu befragen. Unter fünf Aspek-
ten bewährt sich eine solche Befragung sowohl für Tolstoj wie
für Dostojewskij als wohlbegründet. 1. Beide Schriftsteller haben
sich auch in ihrem Dichten für die Lebens- und Zukunftsfragen
ihres Volkes wie ihrer Gesellschaft — und in beidem für die
Menschheit — verantwortlich gewußt. 2. Beide sind überzeugt,
daß der vorgefundene Status der Gesellschaft und seine geistige
Selbstreflexion von dem rechten, dem normalen menschlichen
Wesensstande bis zur Grenze der völligen Verkehrung und Ent-
fremdung entfernt ist. Das öffnet ihr dichterisches Menschen-
und Geschichtsbild für utopische Horizonte, das macht sie beide,
jeden in seiner besonderen Weise, zu Stimmführern eines grund-
sätzlichen Protestes gegen die vorgefundene gesellschaftliche und
geistige Wirklichkeit. Wenn Dostojewskij, nach dem ange-
führten Votum K. Motschulskijs, einer der größten Rebellen in
der Geschichte des Geistes ist, so gibt Tolstoj in diesem Rebellen-
tum ihm nichts nach. Und beiderseits ist dieser protestierende
Grundantrieb des Denkens, ungeachtet der hier wie dort ein-
gemischten Leidenschaften eines eigensinnigen Widerspruchs-
geistes, letzthin in einem christlich-religiösen Wesensbilde des
Menschen verwurzelt. 3. Weder Dostojewskij noch Tolstoj sind
gesonnen, die schmerzhaft erfahrene Kluft zwischen dem wahren
Menschsein und der bis in den Kern verderbten Geistes- und
Sozialverfassung ihrer Zeit in resignierender Skepsis als unab-
änderlich hinzunehmen. Beide können sich auch nicht bei der
Flucht in eine ästhetische Idealwelt beruhigen, die den ver-
lorenen Wesensstand des Menschen imaginär, in der Zauberkraft
des „schönen Scheines" zurückruft. Keiner von beiden tröstet
sich über den erfahrenen Grundwiderspruch zwischen Wahrheit
und Wirklichkeit mit Hilfe einer rüdcwärtsgewandten Romantik
hinweg. In beiden ist der Wille zur Überwindung des Wider-
spruchs lebendig. 4. Dieser Überwindungs- und Verwandlungs-
wille ist getragen von einem tiefen, allen Enttäuschungen zum
Trotz unzerstörbaren Vertrauen in die Wiederherstellbarkeit
des wahren Menschseins. Diese vierte Gemeinsamkeit ist die

158
ihnen aus schweren Zweifeln und Kämpfen erwachsene religiöse
Gewißheit, daß das Menschsein des Menschen in einer ursprüng-
lichen, nicht für immer verlorenen Gottzugehörigkeit gründet.
Bei Tolstoj verfließt das christliche Verständnis dieser Gott-
gehörigkeit weitgehend in ein allgemein-religiöses Gottes-
bewußtsein, für das auch die nichtchristlichen Religionen und
Philosophien, vorzugsweise die indische Überlieferung, neben
der „Lehre Christi" vollgültige Zeugniskraft haben, während
Dostojewskij diese Gewißheit seit „Schuld und Sühne" an die
geglaubte gottmensdiliche Gegenwart Gottes bei der verirrten
Menschheit, an die Person Jesu Christi als Realbürgschaft für
die endliche Heimholung von Mensch und Menschheit bindet.
5. Das religiöse, zuletzt das christliche Vertrauen auf Gottes zu-
rechtbringende Allmacht findet nicht Genüge in einer rein tran-
szendenten und jenseitigen Hoffnungs-Eschatologie; es aktuali-
siert sich hier wie dort in einem religiös-ethischen Anruf an die
Menschheit und darüber hinaus, bei Dostojewskij bestimmter,
bei Tolstoj gedämpfter, in einem appellativen Schaubilde wahr-
haft menschlicher Zukunft. Über die nicht zu ignorierenden
tiefen Unterschiede hinweg finden beide Stimmen sich zusam-
men in dem Appell zu tatbereiter Rückbesinnung auf den
menschlichen Grundberuf des Lebens in Liebe und Wahrheit.

2. Moralischer Utopismus — christlich-utopische Wahrträume

Mit Untertönen des Zweifels mag nochmals die Frage sich mel-
den, wieso diese appellierende Radikalkritik an dem vorgefun-
denen gesellschaftlich-geistigen Status der Nation und der
Menschheit den Charakter der Utopie trage.
Auf den ersten Blick will es überdies scheinen, als bestünde
zwischen Tolstoj und Dostojewskij hier ein prinzipieller
Unterschied. Tolstoj, wie wir hörten, war stolz darauf, nach
einer anderthalbtausendjährigen Irrtums- und Betrugsgeschichte
„endlich als erster der Wahrheit habhaft geworden zu sein",
nämlich der wahren Lehre Christi, die „das Reich Gottes auf
Erden herstellt" und deren Befolgung „die einzig mögliche Er-
rettung von dem unvermeidlich bevorstehenden Untergang des
persönlichen Lebens zeigt" 3 . Eben darin findet P.Brang* den

159
„moralischen Utopismus" Tolstojs: „Von der Existenz eines
objektiven Gesetzes des Guten war Tolstoj ebenso fest über-
zeugt wie davon, daß ein unaufhaltsamer sittlicher Fortschritt
diesem Guten zum Siege verhelfen und so das Reich Gottes
herbeiführen werde." Als utopisch in dem bisher gängigen um-
gangssprachlichen Gebrauch, der Utopie mit Schwärmerei und
Illusion gleichsetzt, stellt sich den meisten Tolstoj-Interpreten
sein kategorisches Nein gegenüber der Notwendigkeit einer
Staatsordnung, sein christlich begründeter Anarchismus dar. —
Dostojewskijs Geschichts- und Gesellschaftsdenken ist selten in
diesem abwertenden Sinne als utopisch angesprochen worden
Mit seinem lauten Ja zur Selbstherrschaft des russischen Zaren,
mit seinem fast uneingeschränkten russischen Patriotismus scheint
er eher ein rückwärtsgewandtes, restauratives, ja reaktionäres
Staats- und Gesellschaftsbewußtsein zu verkörpern. Für diese
Einordnung scheint auch sein freundschaftliches Verhältnis zu
dem berüchtigten Erzreaktionär Pobedonoszew und seine betont
imperialistische außenpolitische Haltung in den Jahren 1876/
1877 zu sprechen.
Aber ohne den gefährlichen Einschlag von ideologischem Natio-
nalismus in Dostojewskijs politischer Publizistik zu beschönigen,
drängt sich dem sorgsamen Leser des „Tagebuches" eine kräftige
Korrektur der Vorstellungen vom „reaktionären" Dostojewskij
auf. Sein Verständnis des russischen Volkes einschließlich der
Überzeugung von der quasi-messianisdien Weltmission Ruß-
lands beruht auf einem Idealbilde dieses Volkes. Und obwohl
er sich von der romantischen Verklärung der russischen Ver-
gangenheit, im besonderen der vorpetrinischen Ära, seitens der
Moskauer Slawophilen zunächst deutlich abgrenzte, hat Dosto-
jewskijs Vision vom künftigen Rußland als Träger und Werk-
zeug der allmenschlichen brüderlichen Vereinigung im Namen
Christi ihren Rückhalt in einer idealischen Stilisierung des russi-
schen Menschen und in dem aus ihr hergeleiteten Postulatbegriff
der Volkswahrheit gesucht, dem immerzu gepriesenen demütigen
und tief mitmenschlidien Ethos des russischen Bauern. Zwar
scherzt er in der großen Besprechung der „Anna Karenina"
über Lewin, den „Gutsbesitzer, der sich seinen Glauben an Gott
vom Bauern verschafft" (T. IV, 63 ff.). Aber er scheint nicht zu

160
bemerken, wie eng seine Idealisierung des russischen Bauern in
den Symbolen des Wlas (T. 1,57 ff.) und des Marej (ebd. II,
80 ff.) verwandt ist mit Tolstojs Enthusiasmus für diesen Bauern,
der nicht zufällig sowohl an Pierre Besuchow wie an Lewin
gleichsam als Geburtshelfer der religiösen Selbstfindung fun-
giert 5 . In diesem, den beiden Dichtern gemeinsamen Idealbilde
des schlichten Bauern verbirgt sich ein Stück rückgewandter
Utopie (P. Tillich) °. Die beiden unterscheiden sich nur dadurch,
daß die rückgewandte Utopie bei Dostojewskij viel stärker
als bei Tolstoj Antrieb zu kühnen, ja (nach seinem eigenen
Wort) zu „phantastischen" Entwürfen einer Menschheitszukunft
in Freiheit und brüderlicher Liebe geworden ist. Die für
Dostojewskijs Wirklichkeitsbegriff grundlegende Konzeption
des „Phantastischen" drängt sein Zukunftsdenken mit innerer
Notwendigkeit auf die Wege der Utopie, die zwei schon be-
sprochenen Symbole des Goldenen Zeitalters und des Paradieses
auf Erden kennzeichnen die eigentliche Direktive seines utopi-
schen Denkens wesentlich sachechter als die ihnen zeitweilig
fatal beigemischte Ideologie von Rußlands erlöserischem Welt-
auftrag.
Dostojewskijs Menschen- und Geschichtsbild gipfelt tatsächlich
im Geiste der christlichen Utopie. Von Tolstoj könnte man das,
entgegen dem Ersteindruck von seinem „moralischen Utopis-
mus", schwerlich so bestimmt sagen. Will man den hier offen-
baren Unterschied zwischen ihm und Dostojewskij auf eine
einfachste Formel bringen: Tolstoj denkt immer an den Tod.
„Was gibt es schon für Wahrheiten, wenn es den Tod gibt?" 7
Dostojewskij dagegen denkt an die Zukunft. Das erweist sich
schon in der Sicht seiner eigenen Lebensgeschichte; auch, ja
gerade in kritischsten Stunden seines Geschicks wendet sich sein
Denken unablässig und unbeirrt nach vorwärts 8 . Die Zukunfts-
bestimmtheit seines Denkens und Dichtens spiegelt sich auch
in dem brennenden Interesse an den Lebensproblemen der
Jugend, das eines der beherrschenden Themen des „Tagebuches"
und die perspektivische Mitte seiner zwei letzten Romane ist.

Anders Tolstoj. Die „Idee des natürlichen Lebens", um die,


nach K. Hamburgers eindrücklicher Analyse, speziell ihrer Inter-

161
pretation von „Krieg und Frieden" (S. 28—39), sein Lebens-
gefühl wie sein Schaffen kreist, hat zur Zeitlichkeit und Ge-
schichtlichkeit nur insofern einen Bezug, als dieses „natürliche
Leben", vor allem das menschliche, unter dem drohenden
Schatten des Todes steht. Eben diese Bedrohung aber wird in
Tolstojs Spätwerk, am grundsätzlichsten in dem Buch „Über
das Leben" mittels einer metaphysischen Implikation des
Lebensbegriffs sozusagen entwirklicht. Das ist die, wahrschein-
lich entscheidende, Einwirkung von Schopenhauers Lebensmeta-
physik auf die reflektierte Endform von Tolstojs Idee des
natürlichen Lebens. Sie hat ihre praktisch-ethische Entsprechung
in der Maxime des „einfachen Lebens". Das wahre, das heißt
das naturgemäße Leben ist, mindestens für den späten Tolstoj,
das bäuerliche, durch die heilsame Nötigung der körperlichen
Arbeit und durch das ruhige Ebenmaß der Gezeiten des Natur-
jahres glückhaft geregelt. Das städtische Leben ist als solches
Entfremdung des Menschen von seinem vorgezeichneten natür-
lichen Gesetz. Mit lehrhafter Absichtlichkeit kommt die Un-
natur des Zivilisationsdaseins im Eingang der „Auferstehung"
zur Sprache:

Wie sehr die Menschen sich mühten, nachdem sich einige Hundert-
tausende auf einem kleinen Raum angesammelt hatten, die Erde zu
verunstalten . . . wie sehr sie mit Steinkohlen, mit Erdöl die Luft
verpesteten . . . alle Tiere und Vögel verjagten — der Frühling war
Frühling, sogar in der Stadt . . . Fröhlich waren die Pflanzen, die
Vögel, die Insekten, die Kinder. Nur die großen erwachsenen Men-
schen hörten nicht auf, sich selbst und einander zu betrügen und zu
quälen. [Sie] glaubten, daß nicht dieser Frühlingsmorgen heilig und
wichtig sei . . . die Schönheit, die zum Frieden, zur Eintracht, zur
Liebe geneigt macht — sondern heilig und wichtig war, was sie selbst
ausgedacht hatten, um übereinander zu herrschen.

Diese Auflehnung gegen die Unnatur der Zivilisationswelt ist


nicht erst aus der Lebens- und Todesphilosophie des alten Tol-
stoj entsprungen. Schon in Erzählungen der Frühzeit, sozial-
kritisch akzentuiert in „Luzern", naturalistisch, mit einer schar-
fen Spitze gegen das kirchliche Christentum gezielt in „Drei
Tode" 9 , ist diese Auflehnung in unreflektierter Gefühls-
ursprünglichkeit auf dem Plan.

162
Allerdings — der Sachverhalt ist höchst verwickelt — wird
dieses bäuerlich-naturalistische Lebensgefühl Tolstojs kompen-
siert durch seinen ebenso elementar protestierenden Personalis-
mus, durch seine Gewissens- und Wahrhaftigkeitsreligion, die
ihrerseits wieder mit der exzessiven Unmittelbarkeit seiner
Todeserfahrung verklammert ist. Es ist dieser gleichsam a priori
protestierende Personalismus, der im Bunde, manchmal audi im
Widerstreit mit dem „mitmenschlichen Erlebnis" 10, Tolstoj in
die verantwortliche Teilnahme an der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Welt — und in eine integrale Gesellschafts-, Staats- und
Kirchenkritik hineinzwingt. Die Kritik greift so tief an die
Wurzeln, daß daraus der Entwurf einer spiritualistisdien Total-
umkehrung des menschlichen Miteinander hervorgeht, die para-
doxe Idee einer Revolution ohne Revolution, die an Hodi-
gespanntheit des Anspruchs die politisch-revolutionären Utopien
weit übertrifft — und eben deshalb die Wirklichkeit verfehlt,
alles in allem eine christliche Utopie wider Willen.
Dostojewskij seinerseits hat einen Großteil seiner denkerischen
Kräfte seit 1863 in den erbitterten Kampf gegen die zeitgenös-
sischen Utopien investiert. Seit den „Winteraufzeichnungen"
von 1863 scheint sein publizistisches Wirken fast determiniert
durch diesen Kampf. Er züchtigt und verspottet den Glauben
an die Herstellbarkeit einer besseren, gerechteren Welt mittels
der wissenschaftlichen Regulierung des sozialen Lebens. Der
„utopische" Frühsozialismus (dem er selbst einst anhing), die
liberale Nationalökonomie, die positivistische Philosophie —
alles ist in den Augen des rabiaten Protestdenkers im „Keller-
loch" eine einzige massa perditionis. Der Zorn dieses streitbaren
Anwalts für die Freiheit des einzelnen, seinen Lebenssinn selber
unabhängig von allgemeinen Nutzens- und Diätgesetzen zu be-
stimmen, für diesen allein „wahren Vorteil des Menschen", sein
Glück möglicherweise nicht im Wohlstand, sondern im Leiden
zu suchen, sein fast monomanisches Eifern gegen die „wissen-
schaftliche Weltanschauung" trifft am härtesten die russischen
Nachredner der westeuropäischen Tagesparolen. Dieser „Lakai"
ist und bleibt Dostojewskijs geliebtester Feind.
Wir sind gewohnt, am Gängelbande zu gehen, Vorgekautes zu
essen . . . Wir sitzen noch in der alleruntersten Klasse des Gymna-

163
siums . . . Man verlangt völlige Unpersönlichkeit des einzelnen und
findet eben darin den Sinn des Lebens. Bloß nicht man selbst sein,
bloß möglichst wenig sich selber gleichen, das halten sie für den aller-
größten Fortschritt (Seh. u. S. II, 5).
Von diesen Tiraden des polternden Rasumidiin in „Schuld und
Sühne" bis zu dem blutigen Hohn, mit dem Dmitrij Kara-
masow die halbverdaute gehirnphysiologische Forterklärung der
„Seele" durch den entsprungenen Priesterseminaristen Rakitin
abfertigt, perenniert auch im Dichtwerk dieses passionierten
Streiters für Freiheit und Persönlichkeit der Krieg gegen die
Pseudo- und Halbwissenschaft, die das „lebendige Leben" mit
Gewalt unter das Joch ihrer sogenannten Gesetze beugen will.
Mit diesem enragierten Anti-Rationalismus geht alsbald der
fanatische Nationalismus seine dubiose Bundesgenossenschaft
ein. Es ist dieser sich selbst übersteigernde Eifer für das „leben-
dige Leben", der Dostojewskij eine Zeitlang 11 in ungute Nähe
zu den Mächten der Beharrung um jeden Preis drängt.
Indes hat es mit dieser Nähe eine im reinsten Sinn dialektische
Bewandtnis. Dostojewskijs russischer Nationalismus, so absurde
Produkte er zeitweise hervorbringt, ist jedenfalls nicht eine
Schutzideologie zugunsten der herrschenden und besitzenden
Mächte. Sein russisches Credo steht schon bei der ersten Gelegen-
heit des öffentlichen Bekenntnisses, in den „Winteraufzeichnun-
gen", in unversöhnlicher Feindschaft wider den Geist und Un-
geist der Bourgeoisie. Es ist der Scharfblick des Hasses gegen
den selbstzufriedenen Bourgeois, den Repräsentanten der „in
sich ruhenden Endlichkeit" (P. Tillich), der ihm auch den Maß-
stab für sein vernichtendes Urteil über den heraufkommenden
Kapitalismus diktiert. Das Rußland, das er im Herzen trägt
und für dessen Selbstfindung er das „neue Wort" zu verkünden
bemüht ist, hat nichts zu schaffen mit den „müßigen Guts-
besitzern", die in Paris oder an der Riviera ihre aus der Fron
der Leibeigenen erpreßten Reichtümer verjubeln und ihr Para-
sitentum unter unverbindlichen liberalen, wenn gewünscht, auch
sozialistischen Rodomontaden verdecken. Auch nicht die Be-
amtenschaft niederen oder höheren Ranges, die nach russischem
Brauche am Publikum „für ihre Nichtigkeit Rache" nimmt

164
(T. II, 374), schon gar nicht die vom „Volksboden" losgelöste,
der Absonderung verfallene Petersburger Intelligenz hat Platz
in seinem, aus dem „Geist der Utopie" verwegensten Sinnes
gezeugten Bilde des wahren Rußland. Dieses Rußland, Inbe-
griff seiner Liebe und Hoffnung, ist das schlichte Volk, das
seinen Gott und Christus im Herzen trägt und um seinetwillen
demütig duldet und wartet, auch wenn es den Katechismus nur
mangelhaft kennt und von seiner Geistlichkeit an der Seele
schlecht bedient wird. In diesem utopischen Wahrtraum des
russischen Volkes sieht er unerschöpfte seelische und geistige
Reserven für die Zukunft aufgespeichert. Nicht das Volk soll
von der Intelligenz gebildet und emporgehoben werden. Im
Gegenteil, wir Gebildete haben uns vor dem Volk zu „beugen"
und bei ihm in die Lehre zu gehen, was menschenwürdiges Leben
heißt.
In diesem „phantastischen" Zutrauen zu den noch unentfaltet
schlummernden Volkskräften, die mit der recht (nicht kultisch
und klerikal) verstandenen Orthodoxie eines sind, hat Dosto-
jewskijs Zukunftsglaube sein Fundament. An der inneren Ge-
sundheit dieses rechtgläubigen Volkes, glaubt er, wird der An-
griff der zerstörerischen Mächte zusdianden werden. Aber ihre
Niederlage wird nicht der Sieg der etablierten Gewalten sein.
Dieses Volk hat sein eigenes Wort noch nicht gesprochen. Doch
die Zeit ist reif, daß es laut wird, und es ist nur sehnlich zu
hoffen, daß diejenigen, die es angeht, das Wort der „Volks-
wahrheit" auch hören werden.
Ich bin, wie Puschkin, ein Diener des Zaren . . . Ich werde noch mehr
sein Diener sein, wenn er wirklich glauben lernt, daß das Volk sich
j als seine Kinder fühlt. Ich weiß nicht, weshalb er es immer noch nicht
glauben zu wollen scheint12.

Damit das Volk für sein eigenes Wort mündig wird, soll alles
für seine Bildung geschehen. Deshalb ist Dostojewskij ein über-
zeugter Fürsprecher der Frauenbildung ohne alle Vorbehalte.
Diese Gedanken hat er nicht mit Pobedonoszew besprochen. Es
ist mehr als fraglich, ob dieser Vertreter einer lediglich bewah-
renden Kultur- und Religionspolitik für sie ein williges Ohr

165
gehabt hätte. Der Staat ist für Dostojewskij nur eine vorläufige
Behelfsordnung.
Der Staat . . . hat die Tendenz, Kirche zu werden. In Europa ist es
umgekehrt . . . Virchow (im deutschen Reichstag) fürchtet, die Christen
könnten die Nichtchristen sogleich zu vernichten suchen. Im Gegenteil,
der Geist des wahren Christentums ist völlige Glaubensfreiheit.
Glaube freiwillig [von D. hervorgehoben], das ist unsere Formel.
Christus ist vom Kreuz nicht herabgestiegen, weil er nicht gewaltsam
[auch von D. hervorgehoben] durch ein äußeres Wunder bekehren,
sondern gerade die Glaubensfreiheit wollte".

Auch die Glaubensfreiheit steht nicht im Programm des Heiligen


Synod und seines Oberprokurors. — Von welcher Kirche ist
hier überhaupt die Rede? Nicht von der empirisch-institutionell
verfaßten, ebensowenig wie von dem heute vorgegebenen Staat.
Wie die ökumenisdie Zukunftskirche etwa beschaffen sein wird,
darüber spricht sich, in Dostojewskijs Namen, Starez Sosima aus
(BrK II, 5). Erfüllt sein wird ihre Wahrheit erst am Ende der
Zeiten.
Das Geheimnis der Zeiten liegt in der Weisheit Gottes . . . Was nach
menschlicher Berechnung noch sehr fern sein kann, das steht nach der
Vorherbestimmung Gottes vielleicht schon am Vorabend seiner Er-
scheinung, unmittelbar vor der Tür. Amen, möge es so geschehen.

Als Dostojewskij im letzten Heft des „Tagebuches", kaum zwei


Wochen vor seinem Tode, nochmals auf die Zukunft des russi-
schen Volkes zu sprechen kommt, setzt er die Kirche, auf die
diese erwartete Zukunft sich gründet, in bewußter Unterschei-
dung von ihrer kultisch-institutionellen Uberlieferungsgestalt,
mit unserem russischen Sozialismus gleich, „dessen Ziel und
Endzweck die auf Erden verwirklichte allweltliche . . . Kirche
ist, insofern sie die Erde zu fassen vermag" 14. Dostojewskijs
Zukunftsglaube kommt hier, ebenso wie in der angeführten
prophetischen Rede des Starez Sosima, sehr in die Nähe dessen,
was in der Geschichte der christlichen Hoffnung die urchristliche
„Naherwartung des Tages Christi" heißt. Die in der theolo-
gischen Lehre seither nicht zur Ruhe gekommene Frage, ob
diese endgültige Gestalt der Kirche, ob das Reich Gottes und

166
Christi seinen Ort innerhalb der Geschichte oder jenseits ihrer
habe, ist in der inneren Logik dieser Naherwartung kaum noch
eine ernstliche Frage.

3. Zwei „neue Christen"


Tolstoj hat die Kirche nicht, wie Dostojewskij, als eine Vorform
des Reiches Gottes verstanden, im Gegenteil als seine diabolische
Gegenmadit. Trotzdem sind Dostojewskijs Gedanken von der
„brüderlichen allmenschlichen Vereinigung nach dem Gesetz
Christi" und Tolstojs Erwartung des „inwendigen Gottesreiches"
sowie der Erfüllung des johanneischen Christuswortes von der
künftigen Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit
(Joh. 4,24) einander näher, als beide gewußt haben. Oder ist die
Nähe doch eine Täuschung? Unterscheidet sich Tolstojs Vorstel-
lung vom Reich Gottes von Dostojewskijs allmenschlicher Ver-
einigungs-Vision vielleicht doch grundsätzlich durch die Tolstoj
vorschwebende rein ethische Weise der Verwirklichung? Die
Zwischenfrage ist nicht abwegig. Aber ob Tolstoj und Dosto-
jewskij hier so prinzipiell differieren, das wird einem, wenn man
die ganze Breite von Dostojewskijs Zukunftsgedanken ins Auge
faßt, einigermaßen zweifelhaft.
Was riet Schatow seinem abtrünnig gewordenen einstigen
Glaubenslehrer Stawrogin?
Erringen Sie sich Gott durch Arbeit! — Gott durch Arbeit? durch was
für Arbeit? — Durch Bauernarbeit. Gehen Sie, werfen Sie Ihren
ganzen Reichtum hin! — Sie glauben, daß man Gott durch Arbeit,
und zwar gerade durch Bauernarbeit, erringen könnte? sprach Stawro-
gin gleichsam nach, als hätte er etwas Neues und Ernsthaftes ver-
nommen, worüber nachzudenken sich lohne (Däm II, 1, 7. Abschn.).
Noch näher bei Tolstojs ethischer Auslegung des Gottesreiches
steht das Gespräch des Starez Sosima mit der „kleingläubigen
Dame" (BrK II, 4). Die Dame klagt, daß Gott die Menschen
nicht durch klare Beweise seines Daseins überzeugt. Wie kann
man denn Gewißheit Gottes gewinnen? Sosima antwortet:
Durch die Praxis der werktätigen Liebe. Bemühen Sie sich, Ihre Näch-
sten tätig und unermüdlich zu lieben. In dem Maße, wie Sie in der
Liebe fortschreiten, werden Sie sich auch vom Dasein Gottes über-
zeugen.

167
Das ist der gleiche Weg, auf den der „lächerliche Mensch" im
Traum von 1877 15 durch die ihm sichtbar erschienene Wahrheit
gewiesen wurde:
In einem Tage, in einer einzigen Stunde könnte sich alles verwirk-
lichen. Die Hauptsache: Liebe die anderen wie dich selbst! — das
ist das Wichtigste . . . weiter ist so gut wie nichts mehr nötig . . .
Wenn nur alle wollten [von D. hervorgehoben], würde sich alles auf
Erden anders ordnen.

Das heißt, die Wahrheit wäre für den, der sie „tut", schon der
Anbruch des Paradieses auf Erden. Hier und jetzt geleistete
Liebe, das ist die Hereinholung des Paradieses in die erfüllte
Gegenwart. Ewigkeit, die Zeit geworden ist, und Zeit, die sich
in Ewigkeit aufhebt.
Hier haben wir Mühe, Dostojewskij und Tolstoj noch deutlich
zu unterscheiden. Muß man sie denn um jeden Preis unterschei-
den? Darauf läßt sich schlicht erwidern: sie sind unterschieden,
und ihr Gemeinsames ist sachgerecht nur dann faßbar, wenn die
Unterschiede nicht verwischt werden. Freilich: wo ist hier der
Unterschied? Vielleicht im unterschiedlichen Tonfall der Rede.
Es heißt nicht von ungefähr: es ist der Ton, der die Musik
macht. Tolstojs „moralischer Utopismus" wie sein christlich-
utopischer Anarchismus wird im immerzu gleichmäßigen Ton
der Lehrrede vorgetragen, beinahe in der Form der logischen
Beweisführung, so daß diese gleichsam selbsttätig an die Einsicht
des Zuhörenden appelliert. Solange die Stimme dieses Lehrers
zu hören ist, scheint dem Hörenden alles klar. Kein Mensch, der
zuhört, wird diesen Lehrer für einen Utopisten halten.
Viel eher zieht Dostojewskijs enthusiastische, zuweilen zur Ek-
stase gesteigerte Rede den Verdacht auf sich, hier spreche ein
unverbesserlicher Optimist, der bei der Fülle der Gesichte die
Wirklichkeit „in wesenlosem Scheine" hinter sich liegen lasse.
Allerdings, wer Dostojewskij gründlich gehört hat, kann ihn
schwerlich für einen bloßen Schwärmer halten. Warum aber ist
Dostojewskijs beschwörendes Wort dem „Geist der Utopie"
dennoch tiefer verwandt als Tolstojs großartig monotone Lehr-
rede von der unausbleiblichen Selbstaufhebung des Staates?
Doch nicht darum, weil Tolstojs herrischer Wille es mangeln

168
ließe an revolutionärer Dynamik. Daran fehlt es ihm wahrlich
nicht, ja verglichen mit dieser Unbedingtheit der Verneinung,
die Tolstojs Rebellengeist allen bekannten Regeln menschlich-
geschichtlichen Miteinanderseins ebenso trotzig wie gelassen ent-
gegensetzt, kann Dostojewskijs Vision von der kommenden
brüderlichen Vereinigung der Völker und Sozietäten im Zeichen
des „Gesetzes Christi" den kritischen Betrachter geradezu ge-
nügsam anmuten, und er mag mit den marxistischen Kritikern
Dostojewskijs fast übereinzustimmen geneigt sein, diese Art
Zukunftsvisionen seien für die herrschenden Mächte völlig un-
gefährlich; denn auf dieser Erde werde durch so sublime und
spirituelle Zukunftsbilder faktisch nichts verändert.
Aber solche Verharmlosung Dostojewskijs zu einem unschäd-
lichen Träumer, an dem allenfalls die irrationalistische Ideologie
für geistige Kleinbürger verführerisch wirken könne, ist ein
offenbarer Fehlgriff. Denn sie unterschätzt die Beunruhigungs-
kraft seines „phantastischen Realismus" für wache Geister, denen
es um „Adel und Schwierigkeit des Menschseins" geht, ebenso
gewaltig wie naiv. Was darüber zu sagen ist, auch unter Berück-
sichtigung der totalen Fehlprognosen Dostojewskijs für Ruß-
lands Geschichte zwischen 1881 und heute, das ist durch A.Ca-
mus in der eingangs zitierten Würdigung Dostojewskijs als des
„wahren Propheten" für unser Jahrhundert schlüssig ausge-
sprochen.
Zu der erfragten Unterscheidung zwischen Tolstojs „morali-
schem Utopismus" und Dostojewskijs utopischem Zukunfts-
glauben bleibt noch ein Letztes zu erinnern. „Wenn Christi Ver-
heißung nicht wäre, lehrt Starez Sosima, so würden die
Menschen sich gegenseitig ausrotten bis auf die letzten zwei"
(BrK VI, 3 f.). Hier — und nicht nur an dieser einen Stelle —
ist Dostojewskijs Zukunftshoffnung auf die Verheißung Christi
zurückbezogen. Am Ende wird dies die tiefste Differenz zwischen
den verschiedenen utopischen Schaubildern sein, die der Mensch-
heit auf ihrem Wege zur Seite gehen und manchmal auch voran-
leuchten: ob sie nur aus der inneren Transzendenz des Menschen-
geistes erzeugt sind — oder ob die in ihnen, hundertfältig wech-
selnd, verbildlichte Hoffnung der Menschheit Antwort auf ein
Wort der Verheißung ist, das allen inneren Monologen der

169
Humanität gegenüber das fremde, das andere Wort ist 16 . Genau
genommen, gibt es christliche Utopie nur unter dieser zweiten
Voraussetzung.
Aber christliche Theologie und Glaubensrede ist oft genug auf
eremitische oder zelotische Abwege geraten, wenn sie es mit
solchen Unterscheidungen allzu genau nahm. Ein Beispiel für
solche verirrte Genauigkeit gab Konstantin Leontjew, ein viel-
seitig gebildeter russisch-orthodoxer Religionsphilosoph 17 . Er
veröffentlichte 1880 eine Broschüre: Unsere neuen Christen —
Graf L. N . Tolstoj und F. M. Dostojewskij. Vor Leontjews streng
orthodox-kirchlichem Examen bestehen sie beide schlecht. Sie
predigen, urteilt er, ein Christentum, das nur um das Heil der
Welt besorgt ist und darüber die Kirche vergißt. Dostojewskij
speziell wirft Leontjew vor, er „trage eine allzu rosafarbene
Nuance in das Christentum hinein"; sein Glaube ignoriere
über dem Evangelium der Liebe das Grundgebot der Furcht
Gottes. „Zu viel ist gesagt von der universalen Harmonie. Das
Wesentlichste ist nicht erwähnt: die Kirche." Was in dieser Bro-
schüre Tolstoj, dem anderen „neuen Christen", vorgehalten
wird, ließ sich nicht ermitteln; die Versuche, den ganzen Original-
text der Broschüre zu erreichen, blieben vergeblich. Doch schon
das ist bedeutsam, daß dieser orthodoxe Denker, der kurz vor
seinem Tode in dem berühmten, auch von Dostojewskij wie von
Tolstoj besuchten Kloster Optina Pustyn die Mönchsweihe emp-
fing, beide Dichter und Denker gemeinsam als „neue Christen",
also als Repräsentanten eines Christentums außerhalb der
orthodoxen Wahrheit betrachtete und bekämpfte. Sowohl die
Anklage, die sie beide trifft, als auch die Annahme, daß das
gerügte „andere Evangelium" bei Dostojewskij wie bei Tolstoj
die gleiche Irrlehre darstelle, mag hinsichtlich ihrer Rechtmäßig-
keit jetzt dahingestellt bleiben. Vielleicht bekräftigt Leontjews
Einspruch aber ungewollt unser Bemühen, nach verborgenem
Gemeinsamen zwischen Dostojewskij und Tolstoj zu fragen,
und vielleicht unterstützt er darüber hinaus auch unsere Ver-
mutung, daß das Wort dieser zwei „neuen Christen" zu unserem
eigenen Fragen nach einer vernehmlichen Neuaussage des christ-
lichen Glaubens für den Menschen von heute und morgen einen
unveralteten Beitrag anbietet.

170
ANMERKUNGEN

Die Ziffern am linken Rand verweisen auf die zugehörigen


Textseiten

E i n f ü h r u n g : Tolstoj u n d Dostojewskij?

6 ' Vgl. vor allem: Dostojewskij — mit Maßen (Einleitung zu einem


amerikanischen Auswahlbande Dostojewskijscher Erzählungen), in:
I Neue Studien, Berlin/Frankfurt 1948, S. 87—110; auch: Goethe
; und Tolstoi, a.a.O. S. 201 ff.
7 • In der 1.Auflage, Jena 1901—1911, I.Serie, Bd. 1—12: 1.Meine
Beichte. 2. Mein Glaube. 3.4. Was sollen wir denn tun? 5. Das
Leben. 6.7. Das Reich Gottes usw. 8.9. Pädagogische Schriften.
10. Was ist Kunst? 11.12. Religiös-ethische Flugschriften (Seiten-
zählung in Bd. 11. 12 gesondert für die verschiedenen Teile).
11. Serie, Bd. 1. 2: Theologische Schriften (Kritik der dogmatischen
Theologie), dazu s. S. 70. — Die 2. Auflage, nicht erreichbar, ist
anders angeordnet.
8 ' R.Guardini, Religiöse Gestalten in D.s Werk, Leipzig 1939 2 .
I. Auflage 1933 unter dem Titel: Der Mensch und der Glaube. —
Th. Kampmann, Dostojewskij in Deutschland, Münster 1931; ders.,
Licht aus dem Osten? Breslau 1931; ders., Dostojewskij und die
menschliche Gemeinschaft, in: Dichtung als Zeugnis, Warendorf
1958, S.49—74. Th.Steinbüchel, F. M. Dostojewskij. Sein Bild
vom Menschen und vom Christen, Düsseldorf 1947.
|0 4 Tolstoi. Zur Jahrhundertfeier seiner Geburt (1928), in: Altes
und Neues, S. 154—160. Vgl. auch „Anna Karenina" (1939), in:
Adel des Geistes, a.a.O. S. 308—328.
5
Philosophische Weltanschauung, Bonn 1929, Abhandlung „Mensch
und Geschichte", S. 15.

Erster Teil: Tolstoj

/. Gedichtetes Leben
x
16 Tolstoj, Zur Jahrhundertfeier seiner Geburt (1928), wieder ab-
gedruckt in: Altes und Neues, S. 156.
2
S.o.S.5.
F7 ' Geschichte der russischen Literatur, deutsch München 1957, Bd.
II, S. 360 ff.
4
Erinnerungen an Tolstoi, neu übertragen von F. Frisch, Zürich
(1945), S. 76.

171
s
17 So nach K.Nötzel, Tolstojs Meisterjahre (Einführung in das
heutige Rußland, 2. Teil), München/Leipzig 1918.
0
Hamburger, a.a.O. S. 21.
7
Ebd. S.17f.
8
18 Hrsg. von L.Berndl, München 1919.
• A.a.O. S. 13.
1(l
19 A.a.O. S. 17.
11
A.a.O. S. 17 f.
1J
21 Die Mutter, deren Gestalt die „Kindheit" beherrscht, hat mit
des Dichters eigener Mutter, die er als Zweijähriger verlor, wenig
Ähnlichkeit. Ihr Wesensbild ist deutlicher nachgestaltet in der
Fürstin Mar ja Bolkonskij („Krieg und Frieden", abgekürzt: Kr
Fr). Ebenso verhält es sich mit dem Vater in „Kindheit" und
„Knabenjahre", der 1837 starb, als Lew T. neun Jahre alt war. —
Die häufig beliebte Direktidentifikation von Figuren eines Dicht-
werkes mit bestimmten Personen aus der Lebensgeschichte des
Autors ist, auch bei stark autobiographisch bezogenen Werken,
eine Verkennung des künstlerischen Formgesetzes. Sie wirkt sich
geradezu verfälschend aus, wo die vermutete Identität als Inter-
pretament des Werkes selbst verwendet wird.
22 « K.Hamburger, 2.Kap.: Die Idee des natürlichen Lebens, 1.Ab-
schnitt: Tolstois Künstlertum, S. 14—28.
14
24 In der sechsbändigen Dünndruckausgabe des Winkler-Verlages,
München, der neuesten, sonst ziemlich vollständigen deutschen
Ausgabe der Romane und Erzählungen Tolstojs, fehlen die „Auf-
zeichnungen eines Wahnsinnigen". Erste deutsche Veröffentlichung
in: L. Tolstoi, Nadigelassene Werke in drei Bänden, Berlin,
Ladyschnikow (1911), III, S. 325—345. — In der zweibändigen
Ausgabe: L.Tolstoi, Nachlaß, Jena 1912, ist das wichtige Frag-
ment auch nicht enthalten.
15
25 Über beide Erzählungen s.u. III.Kapitel, Der Kampf mit dem
Tode.

/ / . Der Realismus der Wahrheit


" Vgl. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch I, 11:
„Heine meint, zuverlässige Autobiographien seien etwas Unmög-
liches, der Mensch werde über sich selbst unbedingt lügen. Er meint,
Rousseau habe sich in seinen Bekenntnissen selbst verleumdet, und
sogar aus Eitelkeit. Ich bin überzeugt, daß Heine recht hat."
Zu T.s Selbstaussprache in den Tagebüchern vgl. auch K. Holl,
Tolstoj nach seinen Tagebüchern (1922), in: Ges. Aufsätze zur
Khxhengeschichte, Bd. I I : Der Osten, Tübingen 1928, S. 433—449:
„Es kann in Wirklichkeit niemand beichten, auch dann nicht, viel-
mehr gerade dann nicht, wenn er dies ernsthaft will. Tolstojs wahre
Beichte sind (die) Tagebücher." Das ist zur Warnung vor einer
unkritischen Aufnahme der „Beichte" von 1879 gesagt. — Holl

172
bespricht Verständnis- und respektvoll, wie nicht viele, das Jugend-
tagebuch 1847—52 und das Alterstagebuch von 1895—99. Der
zugehörige 2. Band (1900—03) war damals noch nicht veröffent-
licht.
17
A.a.O. S. 10.
6 ' 8 Ebd.S.8.
19
Sewastopol im Mai 1855, Kap. 16.
" Hamburger, S. 10.
11
L.Tolstoi, Briefwechsel mit der Gräfin Alexandra A.Tolstoi
1857—1903, hrsg. von L.Berndl, München 1913, Neudruck 1926,
S. 14 (abgekürzt: BAT). Im Original französisch: A force de vou-
loir etre vrai, vous ne faites que des caricatures de la verite. Das
[ ist eines der zahlreichen Zeugnisse vom Scharfblick der Gräfin
Alexandra für die Schwächen und Gefährdungen ihres herzlich
geliebten Cousins, der diesem Briefwechsel, mit den vorausge-
schickten „Erinnerungen", unter den vielen Tolstoj-Briefsammlun-
gen den Rang einer Primärquelle für Charakterbild und Ent-
wicklung des Menschen L. T. gibt.
17 22 Ebd.S.33. Original: Certainement je suis fier d'etre le seul qui
aie mis enfin la main sur la verite.
p 2» Gorkij, a.a.O. S. 105. Tolstoj sagte: „Helden sind eine Lüge,
eine Erfindung; es gibt einfach Menschen, Menschen — und sonst
nichts."
21 Dieser 2. Epilog ist in der Verdeutschung von J. Paulsen und
R.v.Walter, Gutenberg-Verlag, Hamburg o.J., Bd. IV, S.331—
379, mitenthalten, dazu als „Anhang": Einige Worte über Krieg
und Frieden, aus: Russisches Archiv 1868. — In der 3.Ausgabe
von KrFr strich Tolstoj die geschichtsphilosophischen und kriegs-
geschichtlichen Betrachtungen und verwies sie in einen besonderen
Anhang „Aufsätze über den Feldzug des Jahres 1812". Der Her-
ausgeber bemerkt dazu: „Die Kritik begrüßte diese neue Form des
Werkes als eine Verbesserung. Sie wurde auch 1880 in die Gesam-
melten Werke aufgenommen. Die erste von T.s Gattin besorgte
Ausgabe der Werke 1886 kehrt aber zu der ursprünglichen Fassung
zurück; ob mit Billigung des Verfassers, ist zweifelhaft." — Für
die Kenntnis des Denkers, der schon damals vom Dichter kaum
abzutrennen ist, bleibt der in der Ausgabe des Gutenberg-Verlages
ebenso wie in der von K. Hamburger benutzten Ausgabe (Bern
1942, II) — vgl. Hamburger, Anm. 8 zum 2. Kap. — dargebotene
vollständige Text des doppelten Epilogs ungeachtet aller künst-
lerischen Bedenken förderlich.
19 25 Zum Verständnis dieser Geschichtstheorie hat K. Hamburger,
II, 2 „Das geschichtliche Leben", S.28ff., Erleuchtendes gesagt:
Das geschichtliche Leben ist „nur ein Teil des natürlichen Lebens"
(32). „Der Sinn des Geschichtlichen dieses geschichtlichen Romans

173
ist der, daß die Geschichte dem Gesamtzusammenhang des natür-
lichen Lebens ein- und untergeordnet ist" (38).
Übrigens liegt die Vermutung nahe, daß die deterministische
Grundlinie in T.s Geschichtsverständnis starke Anregung von
Schopenhauer aufnahm, den T. Ende der 1860er Jahre, also in der
Zeit des Abschlusses von KrFr, mit dem Freunde A. Fet gemein-
sam gründlich studierte. Vgl. zu Schopenhauers Gedanken über
Geschichte und Geschichtswissenschaft besonders „Die Welt als
Wille und Vorstellung" I, 3. Buch, § 5 1 , dazu II, Kap. 38, auch
„Parerga und Paralipomena" II, Kap. 19, § 233: die Geschichte
„ist keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne" . . . „Man könnte die
Geschichte auch ansehen als eine Fortsetzung der Zoologie, insofern
bei den sämtlichen Tieren die Betrachtung der Species ausreicht,
beim Menschen jedoch . . . auch die Individuen, nebst den indivi-
duellen Begebenheiten, als Bedingung dazu, kennenzulernen sind."
— Schopenhauer und Tolstoj sind einander jedenfalls nahe in der
scharfen Ablehnung einer Geschichtsphilosophie, die, Hegelisch
oder anderweit, die Geschichte als ein planvoll auf bestimmte
Endzwecke gelenktes Ganzes ansieht.
Über den Zusammenhang von T.s Geschichtstheorie und seinem
Verständnis der Religion vgl. die vortreffliche Abhandlung von
A.Philonenko, Histoire et religion chez Tolstoi, in: Revue de
Theologie et de Philosophie (16.Jahrg.) 1968, II, p.65—87. Ich
verdanke den Hinweis Herrn cand.phil.Fr. Damrath, Göttingen.
31 2» I I I . Kap., 3. Abschnitt, S. 94—141.
32 27 „Anna Karenina" (abgekürzt: AK) IV, 17. Vgl. dazu die hohe
Rühmung dieses Kap. bei Dostojewskij, Tagebuch eines Schrift-
stellers, III, S. 243—246, und IV, S.58—62.
33 2? Zur kritischen Eingrenzung des Gewichts dieser Stelle s. Stender-
Petersen, a.a.O. II, S. 393 f.: „Dostojewskij hätte eine solche Stelle
niemals geschrieben. Denn obwohl T . . . . gegen ein geläufiges psy-
chologisches Vorurteil auftritt, hält er selbst doch an der Idee von
Zusammenhang und Identität der Persönlichkeit f e s t . . . Niemals
hielte es T. für denkbar, daß ein und derselbe Mensch im selben
Maße gut und b ö s e . . . sein könne . . . Für T. bestand die Wahrheit
des Lebens nicht im Absonderlichen, sondern im Allgemeinen und
Regelmäßigen." — Aus dieser von Stender-Petersen beschriebenen
Grundhaltung T.s erklärt sich auch seine elementare Abneigung
gegen die kranken, extremen und pathologischen Figuren Dosto-
jewskijs. „D. liebte die gesunden Menschen nicht. Er war über-
zeugt, die ganze Welt müßte krank sein, weil er selbst krank war"
(Gorkij, S. 30).
29
Titel von zwei Fragmenten 1909 und 1910. Der innere Zu-
sammenhang ist nicht recht deutlich. Beide Fragmente gedruckt in:
Nachgelassene Werke, Berlin 1911, Bd. 2, S. 274—317. In „Späte
Erzählungen", Winkler-Dünndruckausgabe, ist nur das 2. Fragment

174
gedruckt, S. 847—862. — Wie ein Axiomsatz steht es, als Fazit von
T.s Vorstudien zu dem geplanten Dekabristen-Roman, BAT, März
1878, S. 326: „Es ist notwendig, daß es keine Schuldigen gibt."
30
BAT S.282.
31
BAT S. 73 f. Fortsetzung: „Es ist, als ob es ihm peinlich wäre,
mit anderen Sterblichen auf ein und demselben Standpunkt zu
stehen."
52
A.a.O. S. 81 f., 91 ff. „Lew Nikolajewitsch verstand sehr wohl
den wahren Wert der /Tolstojaner' . . . Einmal erzählte jemand
beredt, wie wohl ihm s e i . . . und wie rein seine Seele geworden
sei, seit sie die Lehre T.s angenommen habe. Lew Nikol. neigte sich
zu mir und sagte ganz leise: ,Der Schelm lügt das alles zusammen,
nur um mir etwas Angenehmes zu sagen'."
33
A.a.O. S. 66.

/ / / . Der Kampf mit dem Tode


34
A.a.O. S. 66.
w Ebd. S. 68.
" Z.B. „Kindheit" Kap.27 (der Tod der Mutter); „Knabenjahre"
Kap. 36 (Großmutter).
37
Löwenfeld I, 1;S.23.
3a
Ein Nachklang dieser Erlebnisse ist der Bericht vom Sterben
Nikolaj Lewins, AK V, 17—20, vor allem 19.20. In 20 klingt auch
schon das Motiv der Lüge an, das in der „Phänomenologie des
Todes" (Hamburger, S.70) eine wichtige Rolle spielt.
• BAT S. 154 (17.10.60); S. 159 f. (6.12.60).
40
Briefe an seine Frau (deutsch), hrsg. von Dm. Umanskij, Wien
1925, S. 43 f. — Auch: L. Tolstoj, Ein Leben in Selbstbekenntnissen,
hrsg. v. A. Luther, Leipzig (1923), S. 115.
41
S.o.Anm. 14 zum I.Kap.
12
So Gorkij, S. 67.
43
Die Erzählung ist teils nach dem Text der „Erzählungen 1861—
1903" (Titel: Der Leinwandmesser), Berlin o. J. (Ladyschnikow),
S. 158—232, teils nach dem der Winkler-Dünndruckausgabe
(Volkserzählungen, Jugenderinnerungen, abgekürzt: VJ) S. 333—
402 angeführt; stellenweise ist der Text, in möglichst enger An-
lehnung an den Wortlaut, frei zusammengezogen. Die Ziffern sind
die der Abschnitte.
44
Brief an Lotte Hepner, 8.11.1915; Briefe, 2 Bde. (Auswahl),
Wiesbaden 1950, II, Nr. 247. Rilkes Meditation über „Iwan Il-
jitsch" und Tolstojs „Lebensgefühl, das vom feinverteiltesten Tode
so durchdrungen war, daß er überall mit enthalten schien, als ein
eigentümliches Gewürz in dem starken Geschmack des Lebens"
(S. 58), geht unmittelbar über in das Symbol des „puren Todes",

175
(der) „Flasche voll Tod . . . " . Auf derselben Bildfügung beruht das
Gedicht „Der Tod" (Sämtl. Werke, Insel-Verlag, II, S.103):
„Da steht der Tod, ein bläulicher Absud . . .". Das Gedicht ist
einen Tag nach dem Brief an L. Hepner entstanden (9.11.1915). —
Der Schluß der Tolstoj-Meditation („sein Verhältnis zum Tode
wird bis zuletzt eine großartig durchdrungene Angst gewesen sein,
eine Fuge von Angst gleichsam . . . ein Angst-Turm . . . " ) deutet
wörtlich zurück auf das Gedicht „Christi Höllenfahrt", (Sämtl.
Werke II, S. 57, April 1913).
42
" Sein und Zeit, I, Halle (1927) 1929 2 , S.254, A n m . l . — Der
ganze § 5 1 : Das Sein zum Tode und die Alltäglichkeit des Daseins
(S. 252/55), dem der Verweis auf Tolstojs Erzählung zugehört, ist
eine Analyse des in der Erzählung „dargestellten" Phänomens.
43 « A.a.O. S. 67—71.
*• Ebd. S. 70 f.
4
46 8 j ) a s besondere Gewicht dieser Erzählung in dem vielschichtigen
Ganzen von Tolstojs Todes-Philosophie ist schlüssig bei K. Ham-
burger, S. 110.113.117 bezeichnet: „Was im ,Tod des Iwan Iljitsch'
nur als Idee, als Bild und Symbol eines Vorgangs . . . in dem Ster-
benden . . . erscheint, wird in ,Herr und Knecht' zur existentiellen
Situation und ethischen Tat" (113).
4
47 « Löwenfeld I, 5, S.267f., der Schluß der Schrift. Dem letzten
Satz fügt T. den Verweis auf das oftmals von ihm angeführte
Jesuswort Ev. Matth. 11, 28—30 bei. Und er erläutert: „Das Leben
des Menschen ist das Streben nach dem Wohle. Wonach er strebt,
das ist ihm auch gegeben: das Leben, das kein Tod sein kann, und
das Wohl, das kein Übel sein kann." — Auch hier liegt der gleiche
Syllogismus zugrunde wie in dem „folglich", in das „Herr und
Knecht" ausklingt, und auch hier ist die Logik selbst metaphy-
sisch.
48 • Für diese, in gewissen Grenzen systematische, Lebens- und
Todesphilosophie wird, ähnlich wie für die Geschichtstheorie von
„Krieg und Frieden" (s. o. Anm. 25), vielleicht sogar noch direkter,
Schopenhauer Tolstojs Meister sein. Vgl. „Die Welt als Wille und
Vorstellung", II, Kap. 4 1 : Über den Tod und sein Verhältnis zur
Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich (Sämtl. Werke, 6 Bde.,
hrsg. v. Ed. Grisebach, Leipzig o. J. (Reclam), II, S. 542—598).
„Der Tod ist der eigentlich inspirierende Genius oder der Musaget
der Philosophie . . . Schwerlich sogar würde, auch ohne den Tod,
philosophiert werden" (542). „Der Tod ist die große Zurecht-
weisung, welche der Wille zum Leben, und näher der diesem
wesentliche Egoismus, durch den Lauf der N a t u r erhält (596). . . .
Über dies alles nun aber ist der Tod die große Gelegenheit, nicht
mehr Ich zu sein; wohl Dem, der sie benutzt" (597).

176
IV. Die Masken des Teufels
9 « Zit. nach Lawrin, rm 57 (s.o.S.15), S.26f.
P 5 i Grundsätzliches dazu in den (Alters-) Tagebüchern, deutsch von
L.Berndl, 2 Bde., Jena 1923 ( I : 1895—99, I I : 1900—03), abge-
kürzt AT. Zu Kant und Schopenhauer z . B . I , S. 39.45.50; II,
S. 139. Hier wird vor K. und Seh. Descartes genannt, dessen Stand-
punkt man einnehmen müsse, um seine (T.s) „Weltanschauung" zu
verstehen. — Kants Erkenntnistheorie wird weitgehend im Sinne
von Schopenhauers überbietender Verneinung des (egoistischen)
Willens zum Leben interpretiert. Deshalb werden beiden Philoso-
phen gern „die Inder" (I, 50), Buddha, „die Brahmanen", auch die
Weisen Chinas beigesellt. Die Spitze von T.s erkenntnistheo-
retischem Idealismus ist gleichermaßen gegen den Materialismus
wie gegen den spekulativen Idealismus, besonders gegen Hegel,
gerichtet; vgl. „Was ist Kunst?", Löwenfeld I, 10, S.37ff. — Ver-
hältnismäßig spät hat T. Kants „Kritik der praktischen Vernunft"
gelesen; vgl. die in Anm.40 genannte Ausgabe der „Selbstbekennt-
nisse" von A.Luther (abgekürzt: Luther), S.219 f., Brief an Stra-
chow, 16.10.1887.
Besonders verblüffend und lehrreich ist in A T I, S. 39 (1896) die
Zusammenstellung Kant-Christus: „hat nicht dasselbe (was Kants
Erkenntnistheorie lehrt) 2000 Jahre vorher schon Christus gesagt,
nur in einer den Menschen faßlichen Form?", nämlich: Verehrung
Gottes im Geist und in der Wahrheit, Ev. Joh. 4,24.
53
Eine allzu eilfertige schultheologische Kritik an T.s Gedanken
einer Vertauschbarkeit zwischen „Gott" und „Liebe" mag daran
erinnert werden, daß kein anderer als Martin Luther sie in ge-
wissen Grenzen auch vertreten hat; vgl.Z.B.Predigten über l.Joh.
4,16ff., WA 36, S.416—477. S.430: „Gott ist eitel lieb, und lieb
ist Gott selber. . . hoher kund mans nicht machen." Allerdings ist
bei L. die virtuelle Identifikation von Gott und Liebe mit einer
Lebendigkeit der Gottesanschauung erfüllt, die T.s rationalem
Ingenium fern liegt, z.B. a.a.O. S.424: „Gott im Abgrund seiner
göttlichen Natur ist nichts anders als ein Feuer und B r u n s t . . . ein
eytel Backofen voller Liebe" (425).
1 M Am meisten prinzipiell geschieht das in der Schrift „Über das
Leben" (Löwenfeld I, 5), T.s „philosophischer Hauptschrift" (Ham-
burger, S. 75; vgl. die kritische Analyse S.76—83). Ähnlich ange-
strengt um begriffliche Bestimmtheit bemüht ist T. auch in den AT.
Gerade in der Schrift vom „Leben" und in den Tagebuch-Reflexio-
nen zeigt sich freilich auch besonders offenkundig, daß T. kein
methodischer Denker ist. Auch sein betontes Einverständnis mit
Kants kritischem Idealismus und Schopenhauers resignierender
Willensmetaphysik ist nur eine Behelfsposition, die seinem ethisch
zentrierten Denken nicht genug tut (treffend dazu Hamburger,
S.76 f.).

177
51 • In volkstümlich-pädagogischer Form und Abzielung ist dies
in der späten Erzählung „Das Gebet" (VJ, Winkler-Dünndrudk-
ausg. S. 597—604) ausgedrückt.
53 56 Ähnlich „Auferstehung" I, 13 über die allmähliche Verkümme-
rung des „geistigen Menschen" in Nechljudows Jugendgeschichte.
(Früher) „hatte er sein geistiges Wesen für sein wirkliches Ich ge-
halten, jetzt hielt er sein gesundes, munteres, animalisches Ich für
sein wahres Ich. Und diese . . . furchtbare Veränderung . . . rührte
nur davon her, daß er aufgehört hatte, sich selbst zu glauben, und
angefangen hatte, anderen zu glauben". — Diese ethische Maxime,
„sich selbst" zu glauben, steht in einer (keineswegs widersprüch-
lichen) Spannung zu T.s sonst immer wachem Mißtrauen gegen
den Selbstbetrug.
54 S7 Zu erster Orientierung vgl.R. Stupperich, Russische Sekten, in:
Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage, Tübingen
1961, V, Sp. 1229—35; I.Neander, Rußland. I. Kirchengeschichte,
ebd. Sp. 1235—45. Dort weitere Literatur.
55 68 Deutsch zuerst in: Nachgelassene Werke, Berlin, Ladyschnikow
(1911), I, S. 51—122; Variante des Schlusses ebd. S. 379/382. In der
ersten Fassung tötet Jewgenij Irtenjew (s.o.S.21) sich selbst, in der
zweiten die Arbeiterfrau Stepanida, den „Teufel". Die zweite
Fassung ist dieselbe, die Posdnyschew in der „Kreutzersonate"
wählt, um sich von seiner Ehefrau, richtiger: von seiner eigenen
sexuellen Besessenheit zu befreien.
59
Deutsch ebenfalls in: Nachgelassene Werke, a.a.O.II, S.7—78.
— „Vater Sergej" sollte nach der ursprünglichen Absicht T.s zu-
sammen mit „Auferstehung" und „Der Teufel" zugunsten der
Duchoborzen in Druck gegeben werden, vgl. AT I, S.140 und
Anm.92 (S. 181). — In der Winkler-Dünndruckausgabe (Späte
Erzählungen, abgekürzt W Sp) „Der Teufel", S. 126—180, ohne
die Variante, „Vater Sergej" ebd. S. 276—330. — Zur Beurteilung
der beiden sachverwandten Erzählungen vgl. Hamburger, S. 119—
121.
56 m Vgl. schon AK IV, 3. „Teufel" war im Verkehr zwischen Anna
und Wronskij die Bezeichnung der Eifersucht. Anna: „Ich habe den
Teufel ausgetrieben."
58 M So nach der Übersetzung von L.Paulsen und R . v . W a l t e r in der
vierbändigen Ausgabe des Gutenberg-Verlages (s. Anm. 24), I,
S. 136 f. — In der Winkler-Ausgabe von KrFr (übersetzt von
Marianne Kegel) S. 139, ist die grimmige Schärfe des Tones etwas
abgedämpft,
59 "2 Gorkij, S. 3 1 : „Der Frau gegenüber ist er unversöhnlich und
straft sie gern, wenn sie keine Kitty oder Natascha Rostowa ist,
das heißt kein genügend beschränktes Wesen." S. auch S. 9 3 : „Mir
gefielen nie seine Urteile über Frauen . . . als hätte man ihn einmal
gekränkt, was er weder verzeihen noch vergessen konnte." Gorkijs

178
Eindruck wird in jeder Hinsicht bestätigt durch die seltsame Ani-
mosität, die auch in den intimen Reflexionen der A T bei Äußerun-
gen über Frauen und die Frau ausnahmslos mitklingt.
Über T.s Anschauung von Geschlechtsleben und Ehe vgl. die
ausführlichen Darlegungen bei K.Hamburger, S. 118—140. „Seine
Feindschaft gegen die Frau, seine Verdammung der Ehe war letzt-
lich von der Erfahrung der bürgerlichen, der bourgeoisen Ehe und
der bourgeoisen Frau gefärbt und bestimmt" (124). „Die immer
heftiger vertretene Forderung der Askese enthüllt auf ihrem
Grunde die Kluft, die nicht den Mann und die Frau an sich, son-
dern den Mann und die Frau der bürgerlichen Gesellschaft der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voneinander trennte" (133). —
Zuletzt stellt K.Hamburger allerdings fest: „Zum leid- und qual-
vollen Problem seines persönlichsten Lebens konnte die Idee der
allgemeinen, unpersönlichen und rationalen Nächstenliebe nur
darum werden, weil kein eigenes Erlebnis der Liebe ihm den
echten Sinn des „Du" erschlossen hat, der auch die Nächstenliebe
erst zur Liebe, den Nächsten erst wirklich zum Nächsten macht"
(140). Ob die im „Kreutzersonatenkomplex" enthüllten „soziolo-
gischen Hintergründe dieses Mangels" (ebd. 140) ganz ausreichen,
um die eigentümliche Distanz gegenüber Frau und Geschlechts-
liebe bei T. durchsichtig zu machen, bliebe noch zu fragen. Sowohl
diese Distanz wie die unterirdisch mit ihr verknüpfte Dämpfung
und Rationalisierung der „Nächstenliebe", die K.Hamburger ge-
nau zutreffend beschreibt, mag ihren letzten Grund doch in der
tragischen Selbstverschlossenheit haben, von der Gorkijs Erinne-
rungen bei seiner höchsten Verehrung für T. doppelt glaubwürdig
Kunde geben.
M
Deutsch nur in: VJ (Winkler), S. 540—561. Gegenüber den
Gattungen der Volkslegende wie der volkstümlichen Erzählungen
des letzten Jahrzehnts ist diese Erzählung mit ihrem grotesken
Humor eine selbständige Form; ich weiß sie nicht besser zu be-
nennen als mit dem Behelfswort „allegorisches Märchen".

V. Das Reich Gottes in uns


64
Tolstoj spricht allerdings kaum vom „Herzen". In der Sache
ist sein Begriff der Vernunft bzw. der Wahrheit trotzdem nahe
verwandt mit dem cceur bei Pascal (vgl. Pensees, id. Brunschwicg.
fr. 277.278.282). In den „Gedanken über Gott" (Löwenfeld I, 11,
II, S. 70 ff.) scheint er an einer Stelle (72) Pascal fr. 282 (nous con-
naissons la verite non seulement par la raison, mais encore par le
cceur) allerdings geradezu durch Schleiermacher korrigieren zu
wollen: „Gott kennt man nicht so sehr durch den Verstand, auch
nicht durch das Herz, sondern durch das Gefühl der völligen Ab-
hängigkeit von Ihm." Ein direkter Rekurs auf Schleiermachers

179
Religionsbegriff findet sich auch in „Was ist Religion?" (Löwenfeld
I, 11, I, S. 10); kurios, doch in seiner Sicht begreiflich, kombiniert
T. hier Schleiermacher bruchlos mit Feuerbach. — Im übrigen be-
kundet das ganze Spätwerk einen intensiven Umgang mit Pascals
Pensees. Vgl. BAT S.290, T. an Alexandra, März 1876; S.293
Alexandras Antwort. —
Das bekannte fr. 347 der Pensces vom „denkenden Schilfrohr" ist
das erste der drei M o n i der Schrift „Über das Leben" (Löwenfeld
I, 5, S.10). Vgl.Hamburger, S.76, dazu S.157, Anm.41.
62 65 In der revidierten Lutherbibel ist Luk. 17,21, nach der heute
ziemlich einhelligen Auslegung, verdeutscht: „das Reich Gottes ist
mitten unter euch" (ebenso Zürcher Bibel: „in eurer Mitte"), näm-
lich — so wird der Spruch zu verstehen sein — in der Person
dessen, der hier und jetzt aus Gottes Vollmacht redet und handelt,
in Jesus selbst.
64 »• Löwenfeld I, 11, I, S.l—101; II, S. 70—107; dazu IV, S.l—78
„Der Sinn des Lebens". — Die umständliche Zitationsform ist
nötig, da Löwenfeld, 1. Auflage, die Bände 11 und 12 nicht durch-
laufend paginiert.
65 8" „ . . . das, was die Christen den lebendigen Gott nennen, im
Gegensatz zu dem pantheistischen Gott", Löwenfeld I, 11, II, S.93;
ähnlich ebd. S. 84.
68
Ebd.S.93. — Scharf abgegrenzt wird diese Gottesanschauung
von dem Begriff des „alttestamentlichen Gott-Schöpfers" (82), dem
„Aberglauben, daß die Welt erschaffen sei" (78). Interessant ist in
diesem Zusammenhang eine Erinnerung Gorkijs (S. 107): T. zu G.:
„Die N a t u r — die Bogomilen halten sie für eine Schöpfung des
Teufels — peinigt den Menschen zu grausam . . . " Tolstojs offen-
bar sympathisierende Erwähnung dieser mit den Katharern ver-
wandten, auf manichäische Tradition zurückgehenden dualistischen
Sekte wirft auch ein Licht auf die im IV. Kap. erwähnte „dualisti-
sche" Komponente in T.s Denkart, s. o. S. 53 f.
09
Gorkij, S. 52.54.113. Vgl. auch S.22 das Gespräch über einen
Aphorismus aus T.s Tagebüchern: „Gott ist mein Verlangen."
Gorkij, der „selbst nicht an Gott glaubt" (114), ist hier ein zuver-
lässiger Zeuge.
70
So häufig Nechljudow in „Auferstehung", z. B. I, 44; Gebet und
Tagebuchführung gehen, ganz wie bei T , fließend ineinander über.
Auch I, 36 Ende: Tagebuchführung „war keine Kinderei, sondern
eine Unterhaltung mit mir selbst, mit jenem wahrhaften, göttlichen
Selbst, das in jedem Menschen wohnt".
71
Löwenfeld I, 11, II, S. 105/107.
66 '2 Mit einem Höchstmaß von Gerechtigkeit und Willen zu vor-
urteilsfreier Betrachtung sind diese positiv-religiösen Motive in
T.s Denken dargestellt in der Münsterer Dissertation von R. Quis-
kamp, Der Gottesbegriff bei Tolstoy, Emsdetten 1937. — Quiskamp

180
bemüht sich vor allem zu erweisen, daß T. kein „Monist" und
auch kein Pantheist gewesen sei. Insoweit wird seiner Unter-
suchung zuzustimmen sein. Nur gibt die beinahe völlige Ausklam-
merung der radikalen Negationen, mit denen das „gottesgläubige"
Denken T.s (so Quiskamp) sich unscheidbar verbindet, ein ein-
seitiges, am Ende irriges Gesamtbild.
& 73 „Mein Glaube", Löwenfeld I, 2, S.174.
74
Ebd. S. 174.
K8 75 Löwenfeld I, 2, S. 6 (Einführung); die Formulierung von
Löwenfeld, genau nach Kap. VI, S. 101—184, der Entwicklung des
Inhalts von Matth. 5,21—48. — Eine ausführliche Paraphrase der
„fünf Gebote" am Schluß von „Auferstehung" (111,27); als prak-
tische Erläuterung vorausgeschickt ist hier das Gleichnis vom
„Schalksknecht" Matth. 18,21—35, das auch als Motto über der
Volkserzählung „Laß den Funken nicht zur Flamme werden"
steht.
69 i« Leitwort von „Die beiden Alten" ist Ev. Joh. 4,19—23. „Wo
die Liebe ist, da ist auch Gott" klingt aus in Matth. 25,35—40. —
Die Legende „Wovon die Menschen leben" wird durch eine ganze
Spruchsammlung aus l . J o h . 3 und 4 eingeleitet. — Übrigens be-
ginnt der Brauch, ein Bibelwort als Motto zu wählen, schon mit
„Anna Karenina": aus Rom. 12,19 „Die Rache ist mein, ich will
vergelten".
70 77 Löwenfeld II, 2, S. 294—324.
,71 , 8 Der Text des Exkommunikationsschreibens (das übrigens keine
förmliche Ausstoßung ausspricht), 20722.2.1901, bei Löwenfeld
1,11, IV, S.97—101 als „Anhang" zu T.s „Antwort an den
Synod", ebd. S. 79—96. Die Antwort ist von T. zu keiner guten
Stunde geschrieben.
|73 7" Löwenfeld 1,8.9 „Pädagogische Schriften". Ausführlicher Be-
richt „Die Schule von Jasnaja Poljana im November und Dezem-
ber des Jahres 1862", Bd.9, S.l—180, dazu die später geschriebene»
Abhandlung „Einiges über die Volksbildung", ebd. S. 181—286. —
Zur Einzeichnung dieser pädagogischen Theorie und Praxis in die
„Idee des natürlichen Lebens" s. K. Hamburger, II, 3 „Erziehungs-
lehre", S.39—45.
80
Die fast unlösbaren Probleme einer gerechten Lösung der Pro-
bleme der Bodenverteilung unter den Voraussetzungen der zeit-
genössischen Rechtsordnung sind z. T. nach eigenen Erfahrungen
T.s, anschaulich dargestellt in AK III, 29. 30, noch ausführlicher
in „Auferstehung" II, 1—9.
74 8 ' Amerikanischer Wirtschaftstheoretiker (1831—1891). Seine
Bücher „Progress and poverty" (1880) und „Social problems"
(1884) standen bei T. in höchster Schätzung. Vgl. Löwenfeld I, 12,
V, „An die Arbeiter", S.50ff.; Anhang I I : H.Georges Projekt,
S.71—76.

181
74 s2 Löwenfeld I, 4 „Was sollen wir tun?", I I ; Kap. 38, S. 174
bis 215; die Regel der „vier Spannen Zeit", S. 204 ff.
75 M Löwenfeld 1,3 „Was sollen wir denn tun?" I, S.l—100; An-
hang: „Über die Volkszählung in Moskau", S. 304—323.
76 M Zur Beurteilung Tolstojs bei den zeitgenössischen Sozialisten
und in der sowjetischen Literaturkritik vgl. Hamburger, Schluß-
Kap. „T. und Sowjetrußland", S. 141—147, dazu Anm. 1—14 ebd.,
S. 169f. — Vgl. auch W.I.Lenin, Über Kunst und Kultur, Eine
Sammlung ausgewählter Aufsätze u. Reden, deutsch Berlin 1960,
Dietz, und G. W. Plechanow, Kunst und Literatur, deutsch Berlin
1955, Dietz. — Neben dem bei Hamburger S. 142 angeführten
Aufsatz Lenins sind in dem genannten Sammelband (1960) be-
sonders lesenswert Lenins fünf Nachrufe auf Tolstoj in verschie-
denen Zeitschriften, November 1910 bis Januar 1911, a.a.O.
S. 120—143. S. 124: „Tolstoj ist tot, und auch das alte vorrevo-
lutionäre Rußland ist dahingegangen, dessen Schwäche und Ohn-
macht der geniale Künstler in seiner Philosophie widergespiegelt
und in seinem Werke nachgezeichnet hat. Aber sein Erbe enthält
Elemente, die nicht dahingegangen sind, die der Zukunft gehören."
In der Kritik schärfer als Lenin setzt sich Plechanow mit T. und
seinen Verehrern unter der demokratischen Linken um 1910 aus-
einander, a.a.O. S.733—837. — Für die Kenntnis der genannten
Texte habe ich Fräulein cand. phil. Renate Döring, Göttingen, zu
danken.
8« Gorkij, S.61.63.
8
* Vgl. Tolstojs Korrespondenz mit Gandhi 1910, abgedruckt in:
L. N. Tolstoj, Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften, hrsg.
von Peter Urban, Sammlung insel 39, Frankfurt/M. 1968, S. 171—
177.
77 87 Hamburger, S. 99.
88
Ebd.
89
S.o.S.69f., dazu Hamburger, S.99.
79 >° Das ist einer der Züge, in denen Tolstoj sich, ohne es zu wissen,
mit Dostojewskijs freilich noch höher gespannten Zukunftserwar-
tungen über einige Umwege begegnet.
nl
Vgl. „Das Reich Gottes ist inwendig in euch", Schlußkapitel
X I I , Löwenfeld I, 7, S. 184—336. Die knappe Zusammenfassung
dieses Schlußkapitels, S.345—350, überschreibt Tolstoj: „Tut
Buße, denn das Reich Gottes ist nah vor der Tür." Der letzte
Absatz (350) beginnt: „Das Leben hat die äußerste Grenze der
N o t erreicht und kann durch keinerlei Einrichtungen gesichert
werden." Die Folgerung daraus ist zwar nicht eine Prognose, aber
ein ethischer Appell von höchster Eindringlichkeit, von dem T.
doch zu hoffen scheint, er wird nicht umsonst sein.
Noch mehr Zuversicht steht hinter dem Appell: Besinnt euch (Tut
Buße). Ein Wort zum Russisch-Japanischen Krieg (1904), Löwen-

182
feld 1,12, VI, S.l—100, S.97: „Christus . . . sagte: Ich bin ge-
kommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich
lieber, als es brennte schon? Luk. 12,49. Was Christus ersehnt hat,
vollzieht sich. Das Feuer brennt. Wir wollen ihm nicht entgegen-
wirken, wir wollen ihm dienen."
92
Diese von abstraktem Rigorismus weit entfernte ethische Weis-
heit bestätigt sich aus vielen Eintragungen in die A T und noch
klarer aus Briefen, die fragenden und leidenden Anhängern von
einem scheinradikalen Entweder — Oder abraten. Hier behält das
menschliche Verstehen über den (anderweit von T. zumindest
angeregten) abstrakten Rigorismus die Oberhand. Eine Vielzahl
von solchen Zeugnissen enthält die Sammlung von K. Nötzel,
Tolstoj. Religiöse Briefe, Sannerz (1923).
93
Daran ändert sich für ihn nichts durch die rechtliche Übertra-
gung seines Grundbesitzes an die Gattin und durch seine zähen
Bemühungen, die Familie zum Verzicht auf alle Eigentumsrechte
an seinem literarischen Nachlaß zu bewegen.

Zweiter Teil: Dostojewskij

/. „Ein Realist im höheren Sinne"


1
Gesammelte Briefe 1833—1881, übersetzt, herausgegeben und
kommentiert von Friedrich Hitzer, München, Piper (1967), S.24.
Diese Briefausgabe weiterhin zitiert: Hitzer. — Die ältere Brief-
ausgabe von AI. Eliasberg, München 1914, enthält S.223—300
Erinnerungen von einigen Bekannten und Zeitgenossen D.s. Be-
sonders ergiebig für die Zeit in Semipalatinsk sind die Erinne-
rungen des Barons Al.Wrangel, S.257—285. — Hitzers Neuaus-
gabe, gegenüber Eliasberg wesentlich erweitert, gibt zu den Briefen
auch Erläuterungen sowie biographische Angaben über den weiten
Kreis der Briefpartner und Zeitgenossen, die in den Briefen ge-
nannt sind.
2
In der alten Piper-Ausgabe, IL Abt., 12. Bd.: Literarische Schrif-
ten (1923), S.333. Überschrift der Eintragung „Ich". — Der Band
weiterhin zitiert: Lit. Sehr.
3
Vgl. J. Stender-Petersen (s. Anm. 3 zu Tolstoj), II, die Zusam-
menfassung der Genannten unter der Überschrift „Die realistische
Periode" (S. 191—401). In die Frühgeschichte des russischen Realis-
mus gehört allerdings, für D.s erste Werkperiode (1846/49) von
starker Vorbild- und Prägekraft, Nikolaj Gogol. — Zum Thema
des russischen Realismus vgl. auch Maximilian Braun, Der Kampf
um die Wirklichkeit in der russischen Literatur, Göttingen 1958,
Kl. Vandenhoeck-Reihe 53.

183
85 * Vgl. Brief an N . Strachow, 26.2.69 (Hitzer, S.302): „Ich habe
meine eigene Ansicht über die Wirklichkeit. Das, was die meisten
für beinahe phantastisch halten, erscheint mir manchmal als das
tiefste Wesen der Wirklichkeit." — Programmatisch wird der
Begriff des Phantastischen in den beiden Erzählungen „Die Sanfte"
(1876) und „Traum eines lächerlichen Menschen" (1877); beide
tragen den Untertitel „Eine phantastische Erzählung".
6
Tagebuch eines Schriftsteller, deutsch hrsg. von AI. Eliasberg,
4 Bde., München 1923/24 (künftig abgekürzt: T ) , II, S. 163.334,
III, S. 20.125 f.
86 • Dostojewski der Dichter, Berlin 1926, bis heute bei weitem das
beste Buch, das in Deutschland über D. geschrieben wurde. Es ist
zu bedauern, daß das unersetzliche Buch vom Rowohlt-Verlag
(in dem es erschien) niemals neugedruckt wurde.
7
Das tut, mit den nötigen Einschränkungen, z.B. Motschulskij
(s. o. S. 11), S. 164—181. Auch E. Simmons (s. o. S. 11), S. 87 f.,
findet, der Roman werde zumeist ungerecht niedrig bewertet.
8
Der „Doppelgänger" steht, ebenso wie zuvor „Arme Leute",
stark unter Gogols Einfluß; speziell seine beiden Grotesken „Auf-
zeichnungen eines Irrsinnigen" und „Die Nase" haben, neben
E.T.A. Hoff mann, die Konzeption angeregt, was ihrer Originali-
tät keinen Abbruch tut. — K.Onasch, Dostojewskij als Verführer,
Zürich 1961, widmet dem „Doppelgänger" zwei Kapitel (S.22
bis 36), die zum Wertvollsten dieses Buches zählen.
87 • „Was ist Kunst?" (Löwenfeld I, 10), S.242.
88 10 „Die Erniedrigten" II, 10. Fast wörtlich das gleiche ist in den
„Aufzeichnungen aus einem Kellerloch", I, 11, zu lesen. Wichtig
ist hier die dritte Stufe der Verschweigung: „nicht einmal vor
sich selbst".
89 " Brief an den Bruder Michail, 22.2.54, Hitzer, S. 93.
12
J. Meier-Graefe, S. 115, meint, die „Aufzeichnungen aus einem
toten Hause" seien „weder als Dichtung gemeint noch . . . als
Dichtung zu schätzen". Hier bedarf sein Urteil der Korrektur. Das
Buch ist schon in der mystifizierenden Einleitung, erst recht in der
planvollen Komposition, viel mehr als ein Bericht von Selbst-
erlebtem, es ist eine künstlerische Transformation der Erfahrungen
von D.s Sträflingszeit.
92 1S Die „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch", 1864, und der
Raskolnikow-Roman „Schuld und Sühne", 1865/66, setzen beide
dieses Thema des homo captivus fort, schon in der symbolischen
Bedeutung des Wohnraumes: Kellerloch; Raskolnikows Zimmer,
das ein Schrank, auch ein Sarg genannt wird.
93 14 Zum Titel dieser Schrift, der unmittelbaren Vorbereitung der
folgenden Großromane, siehe in der Neuausgabe des Piper-Ver-
lages (Der Spieler, S.431—576) die Erläuterung S.776: „Das rus-
sische Wort .Podpolje' bezeichnet einen Raum unter dem Fuß-

184
boden" mit dem Nebensinn des „geheimen Untergrundes". Exakt
nachgebildet ist der Sinn in der französischen Titelfassung Memoi-
res ecrits dans un Souterrain. „Aus dem Untergrund" (so Piper-
Neuausg.) ruft politische Assoziationen herauf, die außerhalb des
Blickfeldes liegen, so daß sich die eingebürgerte Fassung „aus
einem Kellerloch" auch weiterhin dem Gebrauch empfiehlt. Zu-
sammen mit den „Winterlichen Aufzeichnungen über sommerliche
Eindrücke" sind jene Aufzeichnungen unter dem geläufigen Titel
neu herausgegeben in: Rowohlts Klassiker N r . 111/112, mit einem
guten Nachwort von Swetlana Geier. — Für unsere Fragestel-
lungen ist der I.Teil (Das Kellerloch, Kap. 1—11) wichtiger als
der IL (Bei nassem Schnee, Kap. 1—10). — Zu der „existenz-
biographischen" Funktion des Werkes vgl. meine Schrift: Gott
und Mensch in D.s Werk, Göttingen 1962 2 (Kl. Vandenhoeck-
Reihe 50/50 a), S.18—20 (künftig GM).
15
Meier-Graefe, 9. Kap., S. 134/136.
1B
*94 In dieser ironischen Verfremdung seines Freiheits- und Rebellen-
pathos scheint sich der Kellerloch-Philosoph mit dem akut-nihili-
stischen Wunschbild des Übermenschen zu berühren, das Rodion
Raskolnikow in seinem Kellerloch sich ausdenkt, dem Phantom
des neuen Napoleon, dem „alles erlaubt ist".
95 17 Das ist auch der Sinn von Raskolnikows Angsttraum (Epilog 2);
die drohende Selbstvernichtung der Menschheit wird erfolgen in
der Überzeugung der kämpfenden Parteien bzw. Partner, daß
Wahrheit und Recht eindeutig auf ihrer Seite sei. Dasselbe Schick-
sal sieht Starez Sosima (Die Brüder Karamasow, VI, 3 e) der
Menschheit drohen, „wenn es nicht die Verheißung Christi gäbe".
18
Hier grenzt die von dem Kellerloch-Denker postulierte Men-
schenfreiheit an christliche Gedanken an. Über die von D . ur-
sprünglich, wie es scheint, vollzogene direkte Umwendung des
Plädoyers für die Freiheit in ein christliches Lebensverständnis
s.S. 104. — Die Schlüsselfunktion der „Aufzeichnungen aus einem
Kellerloch" für das Ganze von D.s Werk ist besonders scharf er-
faßt von Fr. Lieb, Die Selbsterfassung des russischen Menschen bei
Dostojewskij und Solowjow, Sonderdruck aus: Rußland unterwegs
(Bern 1945), Berlin 1947.

/ / . Wege zur christlichen Integration


19
\91 Die „Epocha", anstelle der 1863 verbotenen „Wremja" lizen-
ziert, ebenfalls von den Brüdern Michail und Fjodor heraus-
gegeben, mußte, nach Michails Tod (April 1864) von Fjodor allein
besorgt werden, ging aber wegen unlösbarer geldlicher Schwierig-
keiten schon 1865 ein. Auf D . lastete die Bürde der hohen unbe-
glichenen Schulden, auch die wirtschaftliche Versorgung der Familie
des Bruders.

185
20
98 In dem Ergänzungband zur alten Piper-Ausgabe: „Der unbe-
kannte Dostojewskij", München 1926, S. 213 f.
21
Vgl. Motschulskij, Kap. V I : Dostoievski „revolutionnaire", S.96
bis 109. — K.Onasch, Dostojewskij-Biographie (weiterhin zitiert:
Onasch I), Zürich 1960, S. 40—42.
99 22 Vgl. T . I , S.12—40, „Menschen von einst", besonders S. 14—17;
T. I, S.240—260, „Eine der neuesten Unterstellungen": „Der im
Entstehen begriffene Sozialismus wurde damals selbst von man-
chen seiner Führer mit dem Christentum verglichen und nur als
eine der Zeit und der Zivilisation entsprechende Korrektur . . . des
letzteren hingestellt" (250). Schärfer S. 14ff.: Belinskij wollte
damals D . „im Atheismus unterweisen", hatte aber keinen Erfolg.
23
11,9; Text nach der Ausgabe: Rowohlts Klassiker, N r . 122/124,
S. 298 f. — Obwohl auch hier gegenüber einer direkt autobiogra-
phischen Deutung Reserve geboten ist, wird der vermutbare Inhalt
dieser „Generalrevision" durch die Briefe der Jahre 1854/56 weit-
gehend bestätigt. Vgl. Briefe an Michail, 22.2.54, Hitzer, S. 95,
an Majkow, 18.1.56, Hitzer, S.llOf., an E.I.Totleben, 24.3.56,
Hitzer, S. 115 f.
24
22.2.54, Hitzer, S. 96.
25
Zwischen 20. und 28.2.54, Hitzer, S.86f. — Das Gewicht
dieses Bekenntnisses wird dadurch bekräftigt, daß sein letzter Satz
17 Jahre später in den „Dämonen", im Nachtgespräch zwischen
Stawrogin und Schatow, wörtlich wiederkehrt (Piper-Neuausg.,
S. 342). — A. Yarmolinsky (s. o. S. 11), Kap. 9: „Buried alive"
setzt den Inhalt des Fonwisin-Briefes direkt in eine Beschreibung
der inneren Erfahrungen D.s im Zuchthaus um (S. 116 ff.), unter
Bezugnahme auf Dmitrij Karamasows Bekenntnis (Die Brüder
Karamasow, weiterhin zitiert: BrK): It is impossible for a convict
to be without God. — Die im Schlußsatz des Briefes gestellte Anti-
these zwischen Christus und der Wahrheit wird von Yarmolinsky
wohl überdeutet. Zwar ist die Antithese a confession of simple
faith, a reiteration of Tertullians „Credo quia absurdum". From
the point of view of Christian orthodoxy, this credo has a serious
flaw . . . For the believer the conflict is unthinkable (117). — Zu
der Beurteilung des Bekenntnisses vgl. Onasch I, S. 49. 110, auch
„Dostojewskij als Verführer", a.a.O. (weiterhin: Onasch II), S.93
vgl. meine kritischen Überlegungen in: GM, Anm. 1 zu 11,1,
S.96.
100 26 S.S. 108.
27
Aus den Erinnerungen des Barons AI. Wrangel (s. o. 2. Teil,
Anm. 1), S. 270: „Er war im Grunde genommen religiös, ging aber
nur selten in die Kirche; die Popen, besonders die sibirischen,
konnte er gar nicht leiden. Von Christus sprach er mit fühlbarem
Entzücken."
28
A.a.O. S. 126.

186
29
Deutlichstes zu diesem orthodoxen Christusbekenntnis bieten
die Vorarbeiten zu den „Dämonen", siehe „Der unbekannte D.",
S. 206—240.
1. 3 0 Eine Ausnahmestellung innerhalb des Frühwerkes nimmt „Der
Doppelgänger" ein. Der Held dieses „Petersburger Poems", Gol-
jadkin, wird in einem Brief an Michail (8.10.45, Hitzer, S. 47),
halb ironisch wegen der unsagbaren Mühe, die er dem Autor be-
reitet, aber nicht nur darum, als ein „durch und durch gemeiner
Charakter" bezeichnet. Im Unterschied zu dem armen Makar
Dewusehkin („Arme Leute") ist Goljadkin Objekt einer, in Michaj-
lowskijs Sinn, „grausamen" psychopathologischen Analyse.
02 31 Thomas Mann in der Rede „Nietzsches Philosophie im Lichte
unserer Erfahrung" (1947), abgedruckt in: Neue Studien, a.a.O.,
spricht von der Notwendigkeit, „ein neues Gefühl für die
Schwierigkeit und für den Adel des Menschseins" zu erwecken
(S. 156). Er meint, das eine sei nicht ohne das andere zu denken.
Nach beiden Seiten hin hat D. dieses Komplementärverhältnis,
hellsichtig wie in seinem Jahrhundert kaum ein anderer, dichterisch
bewahrheitet. — Das besagt auch Th. Manns Studie „Dosto-
jewskij — mit Maßen" (ebd. S. 87—110): „Die gequälten Para-
doxe (D.s) . . ., so anti-human sie klingen, sind dennoch im Namen
der Menschheit und aus Liebe zu ihr gesprochen: zugunsten einer
neuen, vertieften . . . durch alle Höllen des Leidens und der Er-
kenntnis hindurchgegangenen Humanität" (110).
32
Iwan Petrowitsch ist, vielleicht am meisten unter allen Roman-
figuren seines Werkes, als ein Selbstporträt D.s anzusprechen.
I, 5. 6 spiegelt das Werden und den Erfolg von D.s Erstling „Arme
Leute" wider, der Epilog „Letzte Erinnerungen" ebenso deutlich
die nachfolgenden Enttäuschungen und Nöte des jungen Autors.
(04 38 L Schestow, Dostojewskij und Nietzsche. Philosophie der Tra-
gödie, deutsch Köln 1924; R.Guardini (s. Anm. 3 zur Einfüh-
rung). Zum ganzen vgl. GM, Anm. 14 zu I, 1, S. 88.
34
Motschulskij, S.219f. Auch GM, Anm. 1 zu I, 2, S.89. — Nach
erfolgter Befragung des russischen Textes ist der Satz über „diese
Schweine von Zensoren", entgegen Onasch I, S. 66, doch wohl per-
fektisch, also als Feststellung eines tatsächlich erfolgten Eingriffs
der Zensur in das Manuskript, zu verstehen.
106 83 „Der Hauptroman beschreibt das Wirken meines Helden schon
in unserer Zeit . . . Der erste Roman jedoch trug sich schon vor
dreizehn Jahren zu."
108 »« Neujahr 1868, Hitzer, S. 251 f. — Dem hier skizzierten Vor-
haben sind eine Reihe ganz anders gearteter Pläne und Charakter-
typen vorangegangen. Wichtigstes Material dazu in „Raskolni-
kows Tagebuch", München 1926. Ausführliche Mitteilungen, nach
den russischen Originalen, zu der komplexen Werdegeschichte des
„Idiot" bei Onasch I, S.75—81. Auch Motschulskij, Kap. XV,

187
S. 277 ff. Zu der inneren Problematik des in dem Neujahrbrief
1868 bezeichneten Vorhabens sagt M. einleuchtend: La peinture
de „l'homme positivement beau" est une lache sans mesure. L'art
peut s'approcher du but, mais non l'atteindre, car cet homme est
un saint. La saintete n'est pas un theme litteraire. La saintete est
un miracle; l'ecrivain ne saurait etre un thaumaturge. Seul le
Christ est saint, mais un roman sur le Christ n'est pas possible.
109 37 Näheres in GM, S.45—49; 52—54, sowie in den zugehörigen
Anmerkungen.
38
Die Beschreibung dieser Erlebnisse (höchste Synthese, Aufhebung
der Zeit) berührt sich nahe mit den ekstatischen Bekenntnissen
Kirillows (Dämonen, abgekürzt: Däm, III, 5, 5. Abschn.), der auch
Epileptiker ist. Für die beiderseits erfahrene Aufhebung der Zeit
berufen sich Myschkin wie Kirillow auf die Koranstelle von
Mohammeds Krug und dicht daneben auf Offb. Joh. 10,6 („daß
hinfort keine Zeit mehr sein wird"). — Daß in bestimmten Krank-
heitszuständen Wirklichkeit erfahren werde, die sonst nicht er-
fahrbar sei, doch darum nicht weniger Wirklichkeitsqualität habe,
sagt auch Swidrigailow, Seh. u. S. IV, 1.
39
Hier öffnen sich unheimliche Horizonte. Vgl. Däm. II, 9,
2. Abschn., auch III, 8: Stawrogin bekennt seine unheilbare „laodi-
zeische" Indifferenz gegenüber Gut und Böse, Erhabenem und
Gemeinem.
111 40 Dazu vgl. Onasch I, S.84f., Onasch II, S.88—92, und GM,
Anm. 6 zu II, 1, S.97.
41
Den Begriff der „Romantragödie" für die besondere Struktur
von D.s Großromanen hat W.Iwanow geprägt: Dostojewskij
und die Romantragödie, deutsch Leipzig/Wien 1922; ders.: Dosto-
jewskij. Tragödie — Mythos — Mystik, deutsch Tübingen 1932.
Aufgenommen und selbständig entwickelt ist der Begriff bei
J. Meier-Graefe, besonders für Seh. u. S., a.a.O. 10. Kap., S. 176.
190.
112 42 Über den außerordentlichen Eindruck des Gemäldes auf D . (am
24.8.1867) vgl. das „Tagebuch der Gattin D.s", München 1925,
S. 506 ff., auch „Erinnerungen der Anna Grigorjewna Dosto-
jewskij", München 1925 (Neudruck 1948), S. 166. — Über die
innere Umformung des Eindrucks von Holbeins „Leichnam Christi"
vgl. auch G. Gesemann, Das Goldene Zeitalter. Ein Kapitel über
D., in: Die Dioskuren II, München 1923, S.291 f.
43
Vgl. „Der Idiot" (abgekürzt: Id), 1,2 (Piper-Neuausg. S.37):
„Vielleicht gibt es irgendwo einen Menschen, dem das Todesurteil
verlesen worden ist, der diese Qualen bis zum letzten Augenblick
durchmacht, und dem man dann gesagt hat: Geh hin, dir ist die
Strafe erlassen. Ja, solch einer könnte dann vielleicht erzählen.
Von dieser Qual und diesem Entsetzen hat auch Christus ge-
sprochen. Nein, so etwas darf man einem Menschen nicht antun."

188
/ / / . Die zwei Gesichter von Dostojewskijs Christentum
44
I W.Kayser, Die Wahrheit der Dichter, Hamburg 1959, rde 87;
ders., Das sprachliche Kunstwerk, 12. Aufl., München 1967.
45
I In dem russischen Originaltitel Prestuplenie i nakazanie sind
beide möglichen Verdeutschungen enthalten, die im ganzen bevor-
zugte „Schuld und Sühne", die die ethische Seite betont, und
„Verbrechen und Strafe", die den rechtlichen Aspekt hervorhebt.
Die Piper-Ausgabe hat von vornherein für den Sachtitel den
Namen der Hauptperson eingesetzt: Rodion Raskolnikow. Hier
i abgekürzt Seh. u. S.
I 46 Die drei letztgenannten Erzählungen sämtlich in T.: „Bobok" I
[ (1873), „Die Sanfte" III (1876), „Der Traum eines lächerlichen
I Menschen" III (1877).
J7 47 Das Milieu von Gogols Erzählung „Der Mantel", ebenso der
[ „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", die Welt des kleinen Be-
amten, herrscht auch in D.s Frühwerk (Arme Leute, Doppelgänger,
Herr Prochartschin, Ein schwaches Herz) vor. Gegen eine Über-
schätzung von Gogols Einfluß wäre an die Kritik des „Mantels"
in „Arme Leute" (Dewuschkins Brief vom 8. Juli) zu erinnern.
Natürlich ist Dewuschkins naive Entrüstung gegen solche Autoren,
die „ihre Nasen in deine Hütte stecken und alles durchschnüffeln",
nicht die des Autors selbst (vgl. GM, Anm. 8 zu 1,1, S. 87).
18 4S Zusammen mit den „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch"
und Auszügen aus T. auch in Rowohlts Klassikern Nr. 111/112,
S.5—67.
I 40 Das Schlußkapitel „Bribri und Mabiche" ist eine scharfzüngige
Satire gegen die französische bzw. die Pariser Ehemoral, die auf
der Interessengemeinschaft der beiderseitigen Vermögen beruht
und, bei strenger Wahrung der äußeren Dezenz, die tatsächliche
Ungebundcnheit beider Ehepartner legitimiert.
L9 50 T. IV, 443 (das letzte, erst nach D.s Tod erschienene Heft
[ des „Tagebuchs", Januar 1881): „Ich spreche jetzt nicht von
Kirdienbautcn und nicht vom Klerus, sondern von unserem russi-
schen Sozialismus' (ich wähle dieses dem Begriff der Kirche ent-
gegengesetzte Wort, wie seltsam es auch erscheinen mag, um
meinen Gedanken besser zu erläutern)." — Zu dem ganzen Ge-
dankenkreis, der in dieser Formel kulminiert, vgl. das umfassende
Buch von / . Bohatec, Der Imperialismusgedanke und die Lebens-
philosophie Dostojewskijs, Graz/Köln 1951. B. spricht von einem
„christlichen Sozialismus" D.s, S.61ff.
20 51 Der tiefen Menschlichkeit des russischen Bauern setzte D . ein
schönes Denkmal in der Erzählung vom Bauern Marej, einem
Leibeigenen des elterlichen Gutes, der ihm als Neunjährigen bei
dem panischen Schrecken vor dem angeblich nahenden Wolf liebe-
voll zu Hilfe kam, T. II, S. 80—87.
kl 52 Brief an N . Strachow, 24.3.70, Hitzer, S. 340 f.

189
122 'S" Brief an Strachow, 18. 5. 71, Hitzer, S.401.
63
Diese wunderliche Prophezeiung vom künftigen Bündnis zwi-
schen der römischen Kirche und dem Sozialismus, in den politi-
schen Aufsätzen des „Tagebuchs" immer wiederholt (besonders
ausgiebig in den Leitartikeln des „Grashdanin", T. I, 261—396),
legt D. auch dem Revolutionär Pjotr Stepanowitsdi (Däm II, 8)
in den Mund: „Die Internationale muß sich zunächst mit dem
Papst verständigen, und das wird auch geschehen."
123 M Zu dieser psychischen Übersteigerung, in der sowohl Myschkin
wie Schatow den „russischen Christus" verkündigen, bemerkt sehr
bedenkenswert Yarmolinsky, S. 293: It was as if D. had a need
for deliberately casting a shadow of doubt upon his avowed
convictions. Thus he impeached his own fanaticism. His private
letters and his publicist essays show him cherishing a faith that
his imaginative writings indirectly call in question. — Hierher
gehört auch Schatows Geständnis: „Da es mir unmöglich ist, ein
Russe zu sein, bin ich Slawophile geworden, versetzte er . . . mit
dem schiefen Lächeln eines Menschen, der zur unrechten Zeit und
nur mit Mühe einen Witz gemacht hat" (Däm III, 5, 1. Abschn.).
124 M G. Stökl, Russische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegen-
wart, Stuttgart (1962), Kröners Taschenausgabe 244: „Panslawismus
ist für die Russen niemals etwas anderes gewesen als ein das gesamte
Slawentum einbeziehender großrussischer Nationalismus" (S. 509).
125 5« K.Pobedonoszew (1827—1907), einflußreicher Jurist, in den
1860er Jahren maßgeblich an den Justizreformen beteiligt, später
Erzieher des Thronfolgers, des künftigen Zaren Alexander III.,
seit 1880 Oberprokuror des Heiligen Synod, Ratgeber seines ein-
stigen Zöglings im Sinne einer reaktionären Innenpolitik. Mit D .
seit 1871 näher bekannt, häufig mit ihm in vertrautem Gespräch,
Förderer des „Tagebuchs". Über beider Beziehungen vgl R.Byr-
nes, Dostoevsky and Pobedonostsev, in: Jahrbücher für Geschichte
Osteuropas, N F , Bd. 9 (1961), S.57—71. D. hat von P. viele An-
regungen, auch Informationen über ausländische Literatur emp-
fangen. Byrnes grenzt aber den Einfluß von P. auf D. deutlich
ein: D . ist nicht „a consistent and instinctive conservative" wie
P., hat auch nicht, wie behauptet wurde, über den Plan der BrKar
mit P. beraten, allerdings von ihm Material für das VI. Buch
(Ein russischer Mönch) erhalten. S. u. Anm. 70.
126 " Brief vom 25.3.1870, Hitzer, S. 349.
58
Anders verläuft der Weg desselben Mannes in einer früheren
Gestalt des Romanplanes (damals „Der Atheismus" benannt),
ebenfalls in einem Brief an Majkow, 11.12.68, Hitzer, S.286:
nach verschiedenen religiösen Stadien und Experimenten „findet
er schließlich den Heiland und die russische Erde, den russischen
Christus und den russischen Gott". Der Unterschied der Endstadien
in den beiden Plänen wird nicht allzu hoch zu veranschlagen sein.

190
ft7 5 ' So die Eintragung im Taschenbuch von 1880 (Lit.Schr. S. 327):
„Iwan ist tief, nicht einer der zeitgenössischen Atheisten, die mit
ihrem Unglauben nur die Beschränktheit ihrer Weltanschauung . . .
beweisen." Vgl. GM, S.60f.: Iwans „tiefer" Atheismus wird dort
unterschieden von drei Typen eines flachen Atheismus, dem der
Schüler, der Lakaien, der rachsüchtigen Herzen. Von diesem flachen
Atheismus redet D. immer nur spöttisch-überlegen, während die
Gespräche mit dem „tiefen" Atheisten Iwan, vor allem BrK V, 4,
beinahe Selbstgespräche des Dichters zu sein scheinen.
60
Dieser Schluß der „Sanften" hat große Ähnlichkeit mit Jean
Pauls Traum (Siebenkäs, l.Teil, Erstes Blumenstück), in der End-
fassung überschrieben: „Rede des toten Christus vom Weltgebäude
herab, daß kein Gott ist." Über die innere Beziehung dieses be-
rühmten Textes zu D.s dichterischer Behandlung des Atheismus
(nicht speziell zu dem angeführten Schluß der „Sanften") vgl.
W.Rehm, Experimentum medietatis, München 1947, S. 7—97,
selbständig erschienen: Jean Paul — Dostojewskij. Zur dichteri-
schen Gestaltung des Unglaubens, Göttingen 1962, Kl. Vanden-
hoeck-Reihe 149/150. — Rehm läßt offen, ob D . die „Rede des
toten Christus" gekannt hat.
600
Ihm hat A.Camus in „Der Mythos von Sisyphos, Ein Versuch
über das Absurde", deutsdi rde 90 (1956), S. 87—93, eine ein-
dringende Studie gewidmet, auch unter Bezugnahme auf die in
T. III, S.24—28 (s. Anm. 63) veröffentlichte Epistel des „logischen"
Selbstmörders. Camus findet sein eigenes positives Verständnis des
Absurden, vgl. „Das Absurde und der Selbstmord" (a.a.O. S. 9—13,
auch S.29—31) durch Kirillows Idee des „pädagogischen Selbst-
mords" (S. 90), ebenso durch Stawrogins und Iwan Karamasows
Lebensmaximen bestätigt. Er sagt aber auch deutlich, daß seine
Interpretation Kirillows von Dostojewskijs ablehnendem Urteil
über Kirillows absurde Freiheits-Ideologie abweicht.
|88 61 T. III, S. 23 f.: ein armes junges Mädchen stürzte sich aus einem
Fenster im vierten Stodc, „ein Heiligenbild in der H a n d haltend".
Er schreibt: „Es ist ein selten demütiger und sanfter Selbstmord . . .
Die sanfte Seele, die sich vernichtet hat, peinigt unwillkürlich
unser Denken."
62
T. III, S.24—28 (Okt. 1877), Fortsetzung III, S. 128—148,
Dez. 1877.
63
A.a.O. III, 133—139.
B9 64 £ ) e r Grüne Heinrich, 4. Bd., Kap. 11 und 12, ebenso das Gedicht
(1849), dessen 1. Strophe lautet: „Ich hab in kalten Wintertagen /
in dunkler, hoffnungsarmer Zeit / ganz aus dem Sinne dich ge-
schlagen / o Trugbild der Unsterblichkeit."
| 0 M Wichtigstes Material: die Berichte über den Prozeß Kroneberg,
T . I I , 88—130 (Febr. 1876), und den Prozeß Dschunkowskij, T . I V ,
23—45 (Juü/August 1877).

191
M
130 In dem getilgten Kapitel der „Dämonen", das in der Piper-
Neuausgabe als II, 9 dem Text eingefügt ist. Früher gesonderte
Ausgabe „Die Beichte Stawrogins", hrsg. von AI. Eliasberg, Mün-
chen 1922.
67
Das Wort ist für D. so wichtig, daß er es, nachdem das ganze
Tichon-Kapitel auf dringende Forderung des Verlegers gestrichen
wurde, in das Kap. „Stepan Trofimowitschs letzte Wanderung"
(Däm III, 7) einfügt als reuiges Selbstbekenntnis dieses „bekehr-
ten" Skeptikers.
131 «8 Dieser Teufel, der in Wirklichkeit der „Doppelgänger" Iwans
ist, soll im Sinne D.s unterschieden gehalten werden von dem
Teufel, auf dessen Weisheit der Großinquisitor der Legende sich
beruft: „Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbst-
vernichtung und des Nichtseins, der große Geist" (BrK V, 5; Piper-
Neuausgabe S.410). Vgl. Brief an N . A. Lubimow, 10.8.1880
(in: Die Urgestalt der Brüder Karamasow, erläutert von W. Koma-
rowitsch, München 1928, S.602): „Verzeihen Sie mir nur meinen
Teufel; das ist nur . . . ein nichtiges Teufelchen, kein Satan ,mit
feurigen Flügeln'." — Ganz ähnlich spricht Stawrogin von seinem
„kleinen, häßlichen, skrofulösen Teufelchen, das sich erkältet . . .
hat" (Däm II, 3, 4. Abschn.) — und das auch eine Halluzination
ist (vgl. schon II, 1, 4. Abschn.).
133 • Dostoevsky, The major fiction, Cambridge, Mass., 1964.
70
Motschulskij, S. 495 f.: Korrespondenz zwischen D. und Pobe-
donoszew während Ds. Emser Kuraufenthalt August 1879. P. hatte
die Widerlegung Iwans vermißt. D. antwortete (24.8.1879): die
Widerlegung soll das VI. Buch vom „russischen Mönch" bringen,
freilich, sie ist „nur indirekt" gegeben, nicht durch Worte und Argu-
mente, sondern „sozusagen als ein Gemälde". Dazu Motschulskij:
La reponse n'est pas donnee sur le plan de la question. Dostoevski
craint que sa reponse ne paraisse insuffisante; il ne se rend pas
compte lui-meme de l'originalite de sa dialectique religieuse.

IV. Allmenschliche Synthese und Goldenes Zeitalter


71
134 A.a.O. S. 180. — Ähnlich F.Stepun, Dostojewskij und Tolstoj
(s. o. S.6), S.37: „Auch als Sohn der Kirche und Anwalt der
Monarchie blieb D. ein Revolutionär."
135 72 y o n charakterologischen Überlegungen aus versteht G. Gese-
mann, Das Goldene Zeitalter (s.o. Anm.42), S.301 f., in der Inter-
pretation von Wersilows Zukunftsträumen, diese für Menschen wie
D . immer offene Möglichkeit, „nicht in alternativen Wendungen
von dem einen Extrem ins andere zu fallen", sondern eine „Ver-
söhnung der Ideen" anzustreben. D. sei darin nächstverwandt mit
Nietzsche. M. E. ist dieser Wille zur Versöhnung der Ideen sogar
die geheime Mitte von D.s kämpferischem Rebellentum.
136 ?3 A.a.O. S. 190.

192
54
Das Hauptbeispiel ist die enthusiastische Rede des „Idioten"
in der Gesellschaft bei Jepantsdüns (IV, 7). Zwar trägt er das
eigene „neue Wort" des Autors vor. Aber die ungewöhnliche Er-
regtheit des sonst so zurückhaltenden, lieber zuhörenden als selbst
redenden Lew Myschkin und der epileptische Anfall, der den
rednerischen Exzeß abschließt, auch das zerschlagene Porzellan
rückt die Predigt in ein eigentümliches Zwielicht. S.o. Anm.54,
Yarmolinsky.
75
Ein lehrreicher Beleg für die Bewußtheit, mit der D . den eigent-
lichen Dialog sucht und ausbildet, findet sich in T. I, S. 10 f. „Es
gefällt mir besonders, sagt D . zu Herzen, daß auch Ihr Opponent
sehr klug ist. Sie werden zugeben, daß er Sie manchmal in Ver-
legenheit bringt." Das Gegenteil, die ungleiche Rollenteilung,
kritisiert D. an einem Artikel Belinskijs „Gespräch zwischen Herrn
A. und Herrn B . " : „Man sieht, daß Du sehr klug bist; aber ich
verstehe nicht, daß Du mit einem solchen Dummkopf Deine Zeit
verlieren magst."
76
Dostoevskij als Künstler, The Hague (London/Paris) 1964, vor
allem S. 168 ff. — Ähnlich / . van der Eng, Dostoevskij romancier,
Rapports entre sa vision du monde et ses proc£d£s litt£raires, 's
Gravenhage 1957, vor allem S.60f.: D . unterscheidet sich von
Turgenew und Tolstoj, den Repräsentanten des „homophonen"
Romans, durch die Ausbildung des „polyphonen Romans"; der
Autor zieht sich hinter die Kulissen zurück, läßt die Personen
sprechen und handeln und vermeidet möglichst Darlegungen und
Stellungnahmen. Van der Eng verweist auf die Abhandlung des
sowjetischen Forschers M.Bachtin, Problemy tvorcestva Dosto-
evskogo, Moskau 1929.
38 77 Meier-Graefe, SAU.
78
Das ist der richtige Kern in der Interpretation Aljosdias bei
R.Guardini, s. Anm.3 zu „Einführung", 4 . K a p . „Der Cherub",
S. 121—147. Doch wird die Figur Aljosdias von G. spekulativ
überdeutet. — Übrigens heißt in den ersten Vorarbeiten zu den
BrK Aljoscha „der Idiot". Mit seinem Vorgänger, Lew Myschkin,
verbindet ihn die Zugehörigkeit und pädagogische Zuwendung zu
den Kindern, die nach dem ersten Vorentwurf der BrK noch
stärker betont sein sollte. Die Anrede „mein Cherub", die Dmitrij
und Grusdienka ihm geben, deutet, ebenso wie das Christushafte
im Entwurf des „Idioten", tatsächlich auf Züge einer Heiligen-
oder Idealgestalt hin. Es ist aber charakteristisch, daß D . in der
Personbeschreibung Aljosdias, BrK I, 4 und Anfang von I, 5, ge-
radezu geflissentlich die volle Menschlichkeit und den „Realismus"
des jungen Mannes betont.
79
39 Vgl. Taschenbucheintragung Lit. Sehr. S. 329, überschrieben „Der
Nihilismus": „Der Nihilismus ist bei uns aufgetreten, weil wir
alle Nihilisten sind [Hervorhebung von D . selbst]. Uns hat nur

193
die neue, originelle Form seiner Erscheinung erschreckt. (Alle sind
ohne Ausnahme Fjodor Pawlowitsch Karamasow)." — Dieser
Vater Karamasow ist allerdings ein Unmensch. Sind „wir alle"
mit diesem Scheusal solidarisch, so erst recht mit Iwan, auch mit
seiner Gedankensünde des Vatermordes. Im Prozeß gegen Dmitrij
ruft der schon schwer verstörte Iwan aus: „Wer wünscht denn
nicht den Tod seines Vaters?" (XII, 5). Der Begriff „Nihilismus"
in der Taschenbuchnotiz verschiebt sich dem Schreiber unmerklich
aus dem Ideologischen ins Praktische.
141 » Abdruck der Puschkinrede, mit Einführung, T.IV, S.332—368,
jetzt auch Rowohlts Klassiker 111/112, S. 169—191.
80
* A.Camus' Würdigung von Dostojewskijs humaner Prophetie
(s.o.S.9), namentlich der Satz „D. wußte, daß (das) Heil nicht
allen zuteil werden konnte, wenn man darüber die Leiden auch nur
eines einzigen vergaß", hat offenbar diesen Passus aus der Pusch-
kin-Rede im Auge. Der gleiche Gedanke ist übrigens auch der ent-
scheidende Grund für Iwan Karamasows Absage an die Idee einer
universalen Menschheitsbeglückung am Ende der Tage (BrK V, 4
Ende; Piper Neuausg. S.400).
81
142 Eine nützliche erste Leseprobe dieser Missionsideologie ist das
Kapitel „Utopistische Geschichtsauffassung", T. II, S. 321—330,
auch RK 111/112, S. 258—264. — Noch gründlicher ist sie ent-
wickelt in dem Aufsatz „Drei Ideen", T . I I I , S. 166—174.
9!
143 Bibellesung, ebenfalls auf Wunsch des Ungläubigen, mehrmals
an entscheidenden Wendepunkten der Romanhandlung, in: Däm
11,9, 1. Abschn. Tichon-Stawrogin aus Offb. Joh. 3,15 f.; Sdi.
u. S. IV, 4, Raskolnikow-Sonja, Ev. Joh. 11, die Auferweckung des
Lazarus; BrK VI, 2 d (der geheimnisvolle Gast, der ein bisher
unentdeckter Mörder ist, wird durch den Verweis auf Ev. Joh.
12,24 — das zugleich das Motto des ganzen Werkes ist — und
auf Hebr. 10,31 zu dem Entschluß des Geständnisses gebracht).
Vorangegangen ist der Abschnitt 2 b „Von der Heiligen Schrift im
Leben des Starez Sosima", eines der eindrucksvollsten Zeugnisse
für die Bedeutung der Bibel in Dostojewskijs eigener Frömmig-
keit. Piper-Neuausg. S.476: „Mein Gott, was ist das für ein Buch
und was sind das für Lehren! . . . Es ist wie ein Herausmeißeln des
Urbildes der Welt und des Menschen und der menschlichen Charak-
tere, und alles ist da mit Namen genannt und gedeutet für alle
Zeiten."
83
144 „Ob er nun wirklich gläubig geworden war oder ob die erha-
bene sakramentale Handlung (die Sterbesakramente) die künst-
lerische Empfänglichkeit seiner Natur angeregt hatte, vermag ich
nicht zu sagen. Aber er sprach mit fester Stimme und, wie man
mir sagte, mit echtem Gefühl einige Gedanken aus, die zu manchen
seiner früheren Überzeugungen in direktem Widerspruch standen"
(Däm III, 7, 3. Abschn.).

194
84
Diese gewissenspädagogische Wirkung einer möglichst milden
Handhabung des Strafgesetzes hebt D. in den Prozeßberichten des
„Tagebuchs" immer wieder hervor. Ein besonders schönes Beispiel
für die mögliche Zuordnung von Strafrechtspraxis und Gewissens-
erziehung ist die fiktive Rede, die D . dem Vorsitzenden im Prozeß
Dschunkowskij, nach dem (von ihm gebilligten) Freispruch, in den
Mund legt, T. IV, 36—45. — Daß ein unerwarteter Freispruch auf
einen Straftäter auch die umgekehrte Wirkung haben kann ( „ . . . e r
konnte es selbst nicht fassen. Er fing an, sich zu grämen . . . sprach
mit keinem Menschen, und am fünften Tag ging er hin und er-
hängte sich"), berichtet Makar Iwanowitsch im „Jüngling", III,
3,2. Abschn. — Vgl. dazu auch den Aufsatz „Das Milieu", T. I,
S. 21—40. — Zum ganzen Thema Recht und Ethik vgl. Heinz
Wagner, Das Verbrechen bei Dostojewskij, Göttinger Jurist. Diss.,
Druck 1966.
85
Vgl. Erinnerungen der Anna Grigorjewna Dostojewskij, a.a.O.
S. 153. — Dazu die Anm. 42 genannte ausgezeichnete Abhandlung
von G.Gesemann, Das Goldene Zeitalter, S.275—303. — Auch
Fr.Höntzsch, Claude Lorrains „goldenes Zeitalter", in: Hochland
36, 2 (1939), S. 374—378.
83
Piper-Neuausgabe, Der Spieler (717—746), S. 733—743. Dieses
Mittelstück ist in zwei Akte gegliedert: 1. Das Leben im Ur-
sprungsstand, 2. Die unheilvolle Umkehrung.
87
Metamorph. 1,89—113, nach Hesiod. Der Anfang:
Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo
Sponte sua, sine lege, fidem rectumque colebat.
88
Beinahe wörtlich ebenso in Stawrogins Bericht, mit der Ver-
deutlichung, daß Propheten für diesen herrlichen Irrtum „sich
kreuzigen ließen". Ebenso unentbehrlich wie dieser Traum vom
Goldenen Zeitalter ist, nach Kirillow (Däm III, 6, 2. Abschn.), Je-
sus Christus für die Sinngebung der Menschheitsgeschichte, —
Christus, der auch gekreuzigt wurde.
89
Die Bedeutungsumkehr, genauer die Idee einer nahe bevor-
stehenden Rückkehr des Goldenen Zeitalters liegt schon Vergib
berühmter IV.Ekloge zugrunde, v.5ff.:
Magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
lam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,
iam novo, progenies caelo demittitur alto.
Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum
desinet ac toto surget gens aurea mundo etc.
Dem gegenwärtigen (letzten) saeculum folgt unmittelbar die
Wiederkehr des ersten, goldenen.
Eben vor Abschluß des Manuskripts erscheint in dem Buch Das
Problem des Fortschritts — heute, hrsg. von Rudolf M. Meyer
(RingVorlesung der Universität Zürich, Winter 1967/68), Darm-
stadt 1969, Wissenschaftl. Buchgesellschaft, der für das Thema

195
„Goldenes Zeitalter" ergiebige Vortrag von Peter Brang, Fort-
schrittsglauben in Rußland einst und jetzt, S. 29—53. Speziell zu
„Dostoevskijs Traum vom goldenen Zeitalter" S. 36 f. sowie „Tol-
stojs moralischer Utopismus" S. 37 f.
90
Zu Raskolnikows Angsttraum s. o. III, S. 123.
91
R.Lauth, „Ich habe die Wahrheit gesehen". Die Philosophie
Dostojewskijs, in systematischer Darstellung, München 1950.
92
Motschulskij, S. 467.
93
Ebd. S. 345. Zu une Institution ,legale' du paradis sur terre au
moyen d'une ,maitrise de soi' purement humaine vgl. die auf S. 141
angeführte Stelle der Puschkinrede. — Motschulskij nimmt hier
vor allem Bezug auf die Gedanken des Altgläubigen Golubow in
den Vorentwürfen zu den „Dämonen". Einiges daraus ist auf
Sdiatows Ratschlag für Stawrogin (s. S. 167) übergegangen. Zu
der von Golubow vertretenen Disziplin der Selbstbemeisterung
„nach dem Gesetz Christi" bemerkt Motschulskij: On pourrait
croire que ces reflexions sont dues ä Tolstoi, et non ä Dostoievski,
tant sont frappants le rationalisme et le moralisme de ces appels
ä la maitrise de soi, tant est penetree de naturalisme cette doctrine
du paradis sur terre.

Schluß: Das Gemeinsame in den Unterschieden

157 > Ernst Bloch, Geist der Utopie, Berlin 1918 (1923 2 ). Die Konzep-
tion dieses Frühwerkes ist systematisch umfassend entfaltet in:
Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Frankfurt/M. 1959, jetzt auch
Wissensdiaftl. Sonderausgabe (Suhrkamp) 1968; für das Utopie-
problem namentlich II. Teil (Grundlegung): Das antizipierende
Bewußtsein, S. 49—391.
Martin Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg 1950 (wichtig zur
Würdigung des sog. utopischen Sozialismus, mit dem Dostojewskij
1847/49 sympathisierte und den er seit 1863 scharf befehdete).
Paul Tillich, Kairos und Utopie (zuerst englisch: Between Utopia-
nism and Escape from History, 1959), deutsch in: Zeitschr. f. ev.
Ethik, 1959, S. 325—331, jetzt in: Ges. Werke VI (Der Wider-
streit von Raum u. Zeit), Stuttgart 1963, S. 149—156. — Ders.,
Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker (nach
Vorträgen an der Deutschen Hochschule für Politik Berlin 1951),
in: Ges. Werke VI, S. 157—210. — Ders., Die sozialistische Ent-
scheidung, Potsdam 1933, jetzt in: Ges. Werke II (Christentum u.
soziale Gestaltung), S.219—364. Für das im „Schluß" voraus-
gesetzte Verständnis des Begriffes der Utopie bin ich vor allem den
genannten Werken von P. Tillich verpflichtet.
2
Kairos und Utopie, a.a.O. S. 149.
159 s Mein Glaube, Löwenfeld I.2.S.285.

196
4
Fortschrittsglauben in Rußland einst und jetzt (s. o. Zweiter Teil,
Anm. 89).
61 5 S.o.Tolstoj I, S.24.
6
Tillich, Bedeutung, a.a.O. S. 165.
7
So laut Gorkij, s. o. Tolstoj III, S. 36.
8
Briefe an Michail D. v. 22.12.1849 (Hitzer, S. 78) und vom 22.2.
1854 (Hitzer, S. 58 ff.). Die unverwüstliche Lebenszuversicht D.s ist
auf dem Hintergrunde der Klagen und Sorgen um Geld und Ge-
sundheit, die sonst in den Briefen breitesten Raum einnehmen,
doppelt staunenswert. Vgl. auch Brief an Lubimow, 8.11.1880
(Hitzer, S.506), zweieinhalb Monate vor seinem Tode: „ . . . ich
habe vor, noch zwanzig Jahre zu leben und zu schreiben. Bereiten
Sie mir also noch nicht den Leichenschmaus."
162 > Vgl. die Selbstauslegung v o n „Die drei T o d e " , Brief an A l e x a n -
dra, 1.5.58, B A T S. 114 f. D e r Brief ist eines d e r deutlichsten
D o k u m e n t e für das elementar N a t u r h a f t e , das „Heidnische" in T.s
Lebensgefühl, d a s auch nach d e r W e n d u n g z u r „Lehre C h r i s t i " sich
immer wieder meldet, vgl. Gorkijs Erinnerungen.
163 19 K.Hamburger, Tolstoi, S.50—62.
164 " Seit 1874 pflegt D . auch wieder freundschaftliche Beziehungen
zu seinem politischen Gegner Nekrasow, dem Mitherausgeber der
„Vaterländischen Annalen", in dem „Der Jüngling" erschien. Für
die Weitherzigkeit von D.s Position über die verschiedenen Grup-
pen und Parteien hinweg sind besonders lesenswert das ehrende
Gedenkwort für George Sand, T. II, 292—306, sowie der über-
aus warme und schöne Nachruf auf Nekrasow, T.IV, 299—331.
p 12 L i t . Sehr. (Piper, alte Ausgabe, II, 12) S. 323.
166 13 Lit. Sehr. S. 322 f. Virchow ist hier nach einem Bericht in „Nowo-
je Wremja" vom 6. 1. 1881 zitiert; die Taschenbucheintragung
stammt also, ebenso wie die vorher angeführte, aus D.s letztem
Lebensmonat.
14
T.IV.S.443 (Januar 1881), s.o.Zweiter Teil, Anm.50.
K8 » S. o. Dostojewskij IV, 3, S.152.
(70 n p ü r dje Korrelation von Hoffnung und Verheißung beziehe ich
mich dankbar auf Gerhard Sauter, Zukunft und Verheißung, Zü-
rich/Stuttgart 1965, besonders S.l49ff.; vgl. auch Sauters Verweis
(S. 158, Anm. 24) auf Luther, Römerbriefvorlesung (zu Rom.
8,18 ff.), WA 56, S. 371 f.
17
K. Leontjew, 1831—1891. Die Broschüre „Unsere neuen Chri-
sten" ist, mit einer grimmigen Notiz D.s („Das Geschimpfe meiner
Feinde"), genannt in Lit. Sehr. S. 327 Anm. — Der D. betreffende
Teil der Broschüre, „Von der universalen Liebe", D.s Rede bei der
Puschkin-Feier 1880, ist deutsch gedruckt in: Russische Religions-
philosophen. Dokumente, hrsg. und übersetzt von N.v.Bubnow,
Heidelberg 1956, S.77—110; vgl. auch den Textnachweis S.489f.
Zu Leontjews Kritik s. auch Onasch I, S. 127 f.

(
1Q7....

fI Staatsbibliothek
Bayerische
München ,J1
I
MARTIN DOERNE
Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk
Kleine Vandenhoeck-Reihe 50/50a
2., erweiterte Auflage 1962. 111 Seiten, engl, broseb. 3,80 DM
,,Von den mannigfachen Dostojewskij-Darstellungcn sind nur wenige so eindringlich
geführt wie das schmale Bändchen von Martin Doerne." Welt und Wort
eine Abhandlung, die dem Wertvollsten zuzuzählen ist, das je über den russischen
Dichter geäußert wurde." Rbein-Neckar-Zeitung
,,Doernes Dostojewskij-Buch bleibt eine beunruhigende Lektüre. Es bedeutet in ge-
wisser VC-eise das Ende der herkömmlichen Dostojewskij-Interpretation, weil es zu-
gleich Ausblicke auf eine neue erschließt. Der Leser sieht sich in einem merkwürdigen
Niemandsland. Er wird weiterarbeiten müssen, wenn er das Buch Doernes zu Ende
gelesen haben wird. Solche Bücher aber pflegen oft die wertvollsten zu sein.'*
Konrad Onascb j Theologische Literatur-Leitung

Die Finsternis vergeht


Predigten
1963. 189 Seiten, Leinen 15,80 DM
„Vorbildlich die klare Durchgliederung, die kurzen und verständlichen Sätze. Es ist
alles ohne geläufige Formeln in eigener Sprache gesagt, im Dialog mit der Gemeinde,
Schrift durch Schrift auslegend, menschlich und seelsorgerlich . . ." Kirche in der Zeit

( Die alten Episteln


Homiletische Auslegung
1967. 266 Seiten, Leinen 19,80 DM
t ,Hier sind eine solche Fülle von Erkenntnissen und Revisionsvorschlagen vorgetragen,
daß keine Neuordnung von Episteltexten mehr ohne die Stimme des Verfassers erfolgen
darf. . ." Friedrich Winterj Theologische Literaturzeitung

Er kommt auch noch heute


Homiletische Auslegung der alten Evangelien
5., durchges. Auflage 1961. 164 Seilen, Leinen 10,80 DM
Es ist das Verdienst Martin Doernes, mit der notwendigen Neuherausgabe seines
! uches gegenüber dem so zeitgemäßen liturgischen Boom das m. E. entscheidendere Be-
mühen um die Predigt in den Vordergrund gestellt zu haben."
F. Merkelf Handreichung für den Pfarrer der badischen Landeskirche

Protestantische Humanität
Göttinger Universitätsreden 54
1969. 27 Seiten, kort. 2,20 DM

V A N D E N H O E C K & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N UND Z Ü R I C H

Das könnte Ihnen auch gefallen