Berg Aufwachen
Berg Aufwachen
Berg Aufwachen
Aufwachen. Bitte nicht. Noch nicht. Augen auf, Körper hinterher. Auf dem
Bettrand. Der Körper. Die Augen. Der Blick aus dem Fenster. Das ist zu klein,
da ist der Himmel nicht zu sehen. Nur ein Haus gegenüber, es ist dasselbe wie
5 gestern. Die Wohnung ordentlich, der Körper auch. Alles wie immer. Sie
schließt die Augen noch einmal.
Seit kurzem ist es, dass sie sich schon beim Aufwachen so langweilt, dass sie
unbedingt die Augen wieder schließen muss vor Müdigkeit. Hinter dem
geschlossenen Auge läuft der Film des Tages ab. Frühstück. Das Waschen. Das
10 Bewegen, Kaffee, ein Ei. Ein kleines Kostüm, den kamelhaarfarbenen Mantel.
Den Schlüssel nicht vergessen, die Schuhe nicht, den Kopf.
Raus aus der Wohnung. Die Straße runter, rechts herum, die Häuser haben sich
nicht verändert über Nacht, kein noch so kleines Erdbeben, keine Feuerwand, sie
stehen, grau, zementieren die Schritte auf den Boden, kein Weg geht nach rechts
15 oder links. Die Frau folgt dem Weg wie auf dem Gefängnishof und biegt an der
Kreuzung links ein. Ein Café. Da ist ein Café, es hat Tische draußen und Stühle.
Rote Stühle. Einmal nicht weitergehen müssen, ins Café gehen, den ganzen Tag
dort sitzen, Leute anschauen, die an ihrer Stelle in ihr Leben gehen.
Nichts da, weiter in ein Haus, in den Lift, ins Büro. Da ist die Kollegin, die
20 immer Probleme mit den Fingernägeln hat , die brechen ab, ansonsten keine
Probleme. Das Neonlicht an, den Computer an, den Tag an. Die Uhr, nach
Stunden draufgeschaut, es sind zehn Minuten vergangen. Dinge in den
Computer tippen, was für Dinge ist egal. Posten, dahinter sind Zahlen, die
zeigen, dass der Chef reich wird. Schön für ihn. Nach Ewigkeiten, die Augen
25 tränen, vor dem Fenster kein Himmel, Mittagspause.
Ein kleines Lokal am Fluss, die Augen auf den Fluss, die Gedanken hinterher.
Ein Schiff müsste kommen, da läge sie drin, ein Mann würde rudern, den Fluss
entlang, in den See, ins Meer, die Möwen, der Himmel, und nichts wäre mehr
als Wasser und Himmel. Dann tönt innerlich eine Sirene, die Pause ist um, die
30 Augen feucht , das Herz ganz schwer, ist auf dem Boot, die Frau geht ohne es
zurück ins Büro, auch im Sommer kalt von Neonlicht. Wenn es dunkel ist, geht
sie, kauft tiefgefrorene Suppe, trägt sie in die ordentliche Wohnung, kocht, isst,
badet, geht zu Bett um acht, um fern zu sehen.
Das wird der Tag. Sie sitzt auf dem Bettrand und möchte weiterschlafen, wenn
35 da nicht die Angst wäre, würde sie den Körper wieder in die Laken geben. Doch
die Angst hält sie gerade, macht sie aufstehen, in die Küche gehen.
Weiterschlafen, wohin?
Das kleine Kostüm an, das Ei, der Schlüssel kommt in die Tasche, die Angst
nicht vergessen. Die Angst, zu sterben, im Bett, vor lauter Langeweile, und
40 keine Hoffnung mehr, auf ein Wunder, ein Boot auf dem Fluss. Sie geht die
Straße runter, rechts herum, die Häuser wie immer, kommt zu dem Café, die
Sonne ist aufgegangen, die roten Stühle winken, sie lächeln, warum wohl?
Die Frau hält an, schaut zu Boden, da sind ihre Füße ohne Schuhe, die hat sie
vergessen, zusammen mit der Angst und der Tasche zu Hause. So geht sie ins
45 Café, auf einen roten Stuhl, der ist wie ein Thron, sie dreht das Gesicht der
Sonne zu. Es wird ganz warm, so warm wie noch nie ein Gesicht gewesen ist
und ein Lächeln kommt über die Wärme und wenn ich weiß, wie es wird, wie
jede Minute meines Lebens aussieht, denkt sie, dann muss ich doch nicht dabei
sein.
* Sibylle Berg wirft jede Woche einen Blick auf die Widrigkeiten und den Unsinn unseres Daseins. Das neue
Buch der Schriftstellerin Die Fahrt ist Mitte August im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Mehr Infos
dazu auf der Website der Autorin .