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Inhaltsverzeichnis

1.3 Magnetische Momente, Spin des Elektrons . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2


1.3.1 Spielereien mit dem Stern Gerlach Magneten . . . . . . . . . . . . . 8
1.4 Feinstruktur, Spin-Bahn Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.4.1 Kopplung von Drehimpulsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.4.2 Feinstruktur und Hyperfeinstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.5 Ununterscheidbare Teilchen, das Heliumatom . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.5.1 Struktur des Helium Atoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
1.6 Periodensystem der Atome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.10 Molekülphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2 Kern- und Teilchenphysik 57


2.1 Streuexperimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.2 Massenzahl und Bindungsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2.2.1 Das Tröpfchenmodell der Kernphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
2.2.2 Das Schalenmodell der Atomkerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.3 Beta Zerfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
2.4 Radioaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
2.4.1 Zerfallsketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
2.4.2 Einheiten zur Quantifizierung von radioaktiver Strahlung . . . . . . 97
2.4.3 Natürliche Radioaktivität, Datierungsmethoden . . . . . . . . . . . 98
2.7 Kernspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
2.8 Kernfusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2.9 Nukleare Astrophysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
2.9.1 Entartetes Fermi Gas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
2.9.2 Weisse Zwerge und Neutronensterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2.10 Elementarteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
2.10.1 Fundamentale Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
2.10.2 Der Zoo der Elementarteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

1
2 INHALTSVERZEICHNIS

2.10.3 Heutiges Bild der Elementarteilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

3 Festkörperphysik 145
3.3 Fermi Dirac Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
3.6 Bloch Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
1.3. MAGNETISCHE MOMENTE, SPIN DES ELEKTRONS 3

1.3 Magnetische Momente, Spin des Elektrons


Ein Atom ist ein ideales Beispiel für ein System, bei dem Ladungen, der Atomkern und
die Elektronen, und damit auch bewegte Ladungen, also Ströme, auf einem kleinen Raum
beschränkt sind. Wenn wir also die magnetischen Eigenschaften von Atomen beschreiben
wollen, liegt es nahe, dass wir die bewegten Ladungen der Elektronen oder auch des Atom-
kerns als eine lokalisierte Stromverteilung auffassen und zunächst einmal das magnetische
Dipolmoment dieser Stromverteilung (siehe z.B. Vorlesung Physik 2) bestimmen.
Aus der Elektrodynamik wissen wir, dass sich das magnetische Dipolmoment einer Strom-
verteilung ~j(~r ′ ) berechnet durch das Integral
1Z ′ ~ ′ 3 ′
~µ = ~r × j(~r ) d r . (1.1)
2
Für eine elektrische Ladung q, die sich an der Stelle ~r mit der Geschwindigkeit ~v bewegt,
ergibt sich eine Stromdichte
~j(~r ′ ) = q~v δ(~r − ~r ′ ) .
Die δ-Funktion bewirkt also, dass die Stromdichte nur am Ort der Ladung ~r von Null
verschieden ist und durch das Produkt aus Ladung und Geschwindigkeit charakterisiert
ist. Setzt man nun diesen Ausdruch für die Stromdichte in die Definition (1.1) ein, ergibt
sich für das magnetische Dipolmoment dieser bewegten Ladung
qZ ′
~µ = ~r × ~v δ(~r − ~r ′ ) d3 r′
2
q
= ~r × ~v
2
q ~
= l. (1.2)
2M
Dabei bezeichnet M die Masse des geladenen Teilchens und bei dem Übergang zur letzten
Zeile dieser Gleichung wurde benutzt, dass der Drehimpuls über
~l = M~r × ~v

sich aus dem Vektorprodukt des Ortsvektors ~r mit dem Impulsvektor M~v des Teilchens
ergibt.
~ so ergibt sich
Befindet sich ein solches magnetisches Dipolmoment in einem Magnetfeld B,
je nach der Einstellrichtung des magnetischen Momentes zur Richtung des Magnetfeldes
eine potenzielle Energie der Form
~.
∆V = −~µB (1.3)

Es ist energetisch günstiger, die potenzielle Energie ist negativ, wenn sich das magneti-
sche Moment parallel zum Magnetfeld B ~ orientiert. Benutzen wir ein Koordinatensystem,
dessen z-Achse parallel zum Magnetfeld liegt und übernehmen wir aus der Quantenme-
chanik, dass die z-Komponente eines Bahndrehimpulses lz Eigenwerte (und damit also
auch Messwerte) besitzt, die ein ganzzahliges Vielfaches des Wirkungsquantums h̄ sind

lz = h̄m , mit m = −l, −l + 1, . . . , l


4 INHALTSVERZEICHNIS

so ergibt sich für die potenzielle Energie einer bewegten Ladung in einem Magnetfeld
q
∆V = − lz B
2M
qh̄
= − mB . (1.4)
2M
Bringt man ein Atom, wie etwa das Wasserstoffatom, in ein Magnetfeld, so wird die po-
tenzielle Energie des Elektrons, das sich in einem quantenmechanischen Zustand befindet,
der durch die Quantenzahlen n, die sogenannte radiale Quantenzahl, l die Quantenzahl für
den Betrag des Drehimpulses, und eben m für die z-Komponente des Drehimpulses gemäß
(1.4) verändert. Die Veränderung ∆V hängt natürlich von der Stärke des Magnetfeldes
B ab, von der Quantenzahl m, die deshalb auch häufig als magnetische Quantenzahl
bezeichnet wird, und von dem Betrag der Zahl
eh̄
µB = , (1.5)
2M
die man für den Fall, dass e den Betrag der Elementarladung des Elektrons und M seine
Masse bezeichnet, als Bohrsches Magneton definiert. Man sieht aus dieser Abschätzung,
dass die magnetischen Effekte eines Atoms durch das Elektron dominiert werden. Hätten
wir nämlich das magnetische Moment berechnet, dass sich aus der Bewegung des Protons
im Atomkern ergeben würde, so müssten wir in (1.5) Ladung und Masse des Protons
einsetzen. Die Ladung ist bis auf das Vorzeichen identisch, die Masse des Protons ist aber
fast 2000 mal größer als die des Elektrons und deshalb ist der entsprechende Betrag für
den Kern µK , das sogenannte Kernmagneton um einen Faktor von etwa 1/2000 kleiner
als das Bohrsche Magneton. Deshalb wollen wir uns auch zunächst auf die magnetischen
Eigenschaften beschränken, die mit dem Elektron zusammenhängen.
Setzt man die experimentellen Daten für das Verhältnis e/M des Elektrons ein (siehe
vorhergehenden Abschnitt) so ergibt sich für das Bohrsche Magneton der Wert
Joule eV
µB = 9.27 ∗ 10−24 = 0.579 ∗ 10−4 . (1.6)
Tesla Tesla
Würde man also ein Wasserstoffatom in ein Magnetfeld von einem Tesla bringen, das
ist schon ein ganz ordentliches Magnetfeld wenn man bedenkt, dass das Erdmagnetfeld
lediglich eine Stärke von etwa 3 * 10−5 Tesla besitzt, so würde sich die potenzielle Energie
des Elektrons lediglich um Werte von der Größenordnung 0.6 * 10−4 eV verändern. Dies
ist natürlich sehr wenig verglichen mit der Energie von 13.6 eV, mit der ein Elektron im
Wasserstoffatom gebunden ist.
Wir halten aber fest, dass das magnetische Moment eines Elektrons ~µ mit einem Drehim-
puls ~l über die Beziehung
~l
~µ = −µB g (1.7)

miteinander verknüpft sind. Dabei sollte der Fakt g, das gyromagnetische Verhältnis,
den wir in diese Beziehung eingeführt haben, nach unseren Überlegungen gerade gleich
eins sein.
Eine erste Überprüfung dieser Beziehung erfolgt im Einstein-de Haas Experiment, das
in der Abb. 1.1 schematisch dargestellt ist. Dabei wird ein Eisenstab, der in einer Spule
1.3. MAGNETISCHE MOMENTE, SPIN DES ELEKTRONS 5
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Abbildung 1.1: Schematische Darstellung des Einstein-de Haas Experimentes

aufgehängt ist, plötzlich ummagnetisiert. Diese Ummagnetisierung kann gemessen werden


und ist gegeben durch
∆l
∆M = n∆µ = −nµB g . (1.8)

Dabei steht n für die Zahl der atomaren Magnete, also der Elektronen, die ja wegen
der Größe des Bohrschen Magnetons die magnetischen Eigenschaften dominieren. Die
Ummagnetisierung ist also mit eine Änderung des Drehimpulses des gesamten Eisenstabes
verknüpft von der Größe
∆L = n∆l . (1.9)
Die Änderung des Dehimpulses bewirkt ein Drehmoment, das durch eine Torsion des
Aufhängefadens kompensiert wird. Durch die Messung des Drehwinkels bei dieser Torsion
des Aufhängefadens (ermöglicht z.B. durch die Messung des Auslenkwinkels eines Licht-
strahls am in der Abb. 1.1 dargestellten Spiegel) wird dieses Drehmoment und damit ∆L
bestimmt. Aus dem Verhältnis ∆M zu ∆L lässt sich das gyromagnetische Verhältnis g
bestimmen, ohne dass man die Zahl der Atome n kennen muss.
Dieses Experiment bestätigt zunächst einmal die Tatsache, dass die atomaren Element-
armagneten mit einem Drehimpuls verknüpft sind. Die Auswertung zeigt aber auch, dass
das gyromagnetische Verhältnis g nicht unbedingt gleich eins sein muss. Ein quantitati-
ves Verständnis dieses gyromagnetischen Verhältnisses setzt ein tieferes Verständnis der
Festkörperphysik voraus. Wir wollen hier nur festhalten, dass für bestimmte Materialien
(deren Magnetismus durch den Spin und nicht durch den Bahndrehimpuls der Elektronen
dominiert wird) das gyromagnetische Verhältnis den Wert g = 2 annimmt.
Aus der Wechselwirkung zwischen dem magnetischen Moment und einem externen Ma-
gnetfeld ergigt sich eine potentielle Energie nach Gl.(1.3). Für den mit dem magnetischen
Moment verbundenen Drehimpuls wäre es also energetisch am günstigsten, wenn sich der
Drehimpuls antiparallel zur B ~ einstellen würde. Das ist ganz analog zu einem schweren
Kreisel: Auch hier versucht die Erdanziehung, den Kreisel nach unten zu ziehen. Daraus
ergibt sich ein Drehmomen, welches zu einer Präzession des Kreisels führt.
Was passiert mit dem magnetischem Moment µ
~ , das so ausgerichtet ist, dass mit der
6 INHALTSVERZEICHNIS

∆l

α
l

Abbildung 1.2: Vektordiagramm zur Berechnung der Larmor Präzession

Richtung eines Magnetfelds ein Winkel α gebildet wird (siehe auch Abb. 1.2)? Aus der
Elektrodynamik wissen wir, dass dies ein Drehmoment zur Folge hat der Form
~
~ = dl
D
dt
~
= ~µ × B
~l × B ~
= −µB g

g
= −ê⊥ µB l B sin α .

Das Drehmoment wirkt also in Richtung des Einheitsvektors ê⊥ , der senkrecht zu der von
B~ und ~l aufgespannten Fläche steht. Dies führt, ganz analog zum schweren Kreisel, eben-
falls zu einer Präzession des Drehimpulses um die Achse der Richtung des Magnetfeldes
B~ mit einer Winkelgeschwindigkeit, der sogenannte Larmor Frequenz von
gµB
ω= B, (1.10)

die unabhängig von dem Winkel α ist.
Klassisch würde eine solche präzedierende Ladungsverteilung eine elektromagnetische
Welle abstrahlen, mit einer Frequenz, die genau dieser Larmor Frequenz entspricht. Dabei
würde der präzedierende Kreisel langsam so gekippt, dass das magnetische Moment par-
allel zum externen Magnetfeld orientiert ist und der Zustand niedrigster Energie erreicht
ist.
Quantenmechanisch erfolgt diese Orientierung in diskreten Schritten, wobei die sogenann-
te Magnetquantenzahl m in Gl.(1.4) in Schritten von ∆m = 1 so oft reduziert wird, bis
der minimale Wert l = −m erreicht ist. Bei jedem Übergang wird einer Photon mit einer
Energie
∆E = h̄ω = gµB B
abgestrahlt. Die Frequenz dieser Strahlung entspricht also genau der Larmor Frequenz
von (1.10).
1.3. MAGNETISCHE MOMENTE, SPIN DES ELEKTRONS 7

Bis zu diesem Punkt haben wir die Eigenschaften der atomaren magnetischen Momente
in einem konstanten Magnetfeld betrachtet. Ist die Stärke des Magnetfeldes, das nach
wie vor in Richtung êz orientiert sein soll, aber vom Ort ~r abhängig, so ergibt sich auch
für die Änderung der Potenziellen Energie der magnetischen Dipolmomente in diesem
Magnetfeld eine Ortsabhängigkeit (vergl. (1.4))

∆V (~r) = µB g m Bz (~r) mit m = −l, . . . l .

Ein solches ortsabhängiges Potenzial ∆V (~r) führt zu einer Kraft auf die Elektronen der
Form
d dBz
Fz = − ∆V (~r) = −m µB g
dz dz
deren Betrag und Größe von der Quantenzahl m, also der Projektionsquantenzahl des
Drehimpulses ~l des Elektrons auf die z-Achse abhängt. Wird ein Elektron, beziehungs-
weise das Quasielektron in Form des Silberatoms, im Stern-Gerlach Experiment durch
ein inhomogenes Magnetfeld geführt, so erwarten wir eine Aufspaltung des Teilstrahls in
(2l + 1) Komponenten entsprechend der Anzahl der möglichen Werte für m.
Das überraschende Ergebnis des Stern Gerlach Experimentes war die Tatsache, dass sich
2 Teilstrahlen ausbildeten, also ein Drehimpuls von l = 1/2 vorzuliegen scheint. Im letzten
Semester haben wir uns aber überlegt, dass wegen der Eindeutigkeit der Wellenfunktion
für einen Bahndrehimpuls nur ganzzahlige Quantenzahlen l und m zulässig sind. Das
Stern Gerlach Experiment wurde 1921 durchgeführt. Zusammen mit dem Ergebnis des
Einstein-de Haas Experimentes, das bereits 1915 durchgeführt worden war, lagen also zu
diesem Zeitpunkt 2 rätselhafte Ergebnisse zum atomaren Magnetismus vor, die dadurch
gelöst werden konnten, dass man einem Elektron neben seiner Masse und seiner Ladung
noch eine intrinsische Eigenschaft, eben den Spin zuordnet.
Dieser Spin verhält sich in mancher Hinsicht wie ein Drehimpuls. So ist auch z.B. mit
diesem Spinvektor ~s ein magnetisches Moment verknüpft allerdings entsprechend (1.7)
mit einem gyromagnetischem Verhältnis von g = 2. Ausserdem ist der Betrag des Spins
durch die Quantenzahl s = 1/2 definiert, so dass sich für seine z-Komponente nur 2
Einstellmöglichkeiten ms = 1/2 und ms = −1/2 ergeben.
Häufig versucht man den Spin auch als eine Eigendrehimpuls, also eine Rotation des
Elektrons um eine körperfeste Achse darzustellen. Diese Interpretation ist aber falsch.
Einerseits wäre auch in diesem Fall ganzzahlige Werte für die Drehimpulsquantenzahlen
zu fordern. Andererseits würde bei der Annahme dass der Radius des Elektrons durch
den Klassischen Elektronenradius gegeben ist (was ja nach unserer Diskussion im An-
schnitt 1.2 eine Überschätzung ist), dies zu Geschwindigkeiten führen, die oberhalb der
Lichtgeschwindigkeit liegen, was natürlich nicht mit der Relativitätstheorie verträglich ist.
Eine konsistente Beschreibung des Spins von Elektronen und anderen Elementarteilchen
gelang erst 1928, als es dem Theoretiker Paul A.M. Dirac bei seinen Versuchen, die
Schrödinger Gleichung mit den Gesetzen der Speziellen Relativitätstheorie zu verknüpfen,
gelang eine Gleichung, die Dirac Gleichung, zu formulieren, aus der sich sowohl die
Eigenschaften des Spins ergeben als auch insbesondere die Erklärung für ein anomales
gyromagnetische Verhältnis von g = 2.
Kehren wir aber zurück zu einer einfachen mathematischen Beschreibung des Spins. Dieser
Spin des Elektrons ist charakterisiert durch die Quantenzahlen s = 1/2 und ms = ±1/2.
8 INHALTSVERZEICHNIS

Wir haben also zwei Eigenzustände mit den Eigenschaften


 
2 1 3
2
ŝ |s, ms i = h̄ s s + |s, ms i = h̄2 |s, ms i und sz |s, ms i = h̄ms |s, ms i . (1.11)
2 4
Es liegt nahe, diese beiden Basiszustände des Hilbertaumes der Spinzustände mit
! !
1 1 1 0
|s, + i ⇔ und|s, − i ⇔ , (1.12)
2 0 2 1

darzustellen. In dieser Darstellung der Ket Vektoren durch Spaltenvektoren ergibt sich
für den Operator ŝz die Matrixdarstellung
!
h̄ 1 0
ŝz = σz mit σz = . (1.13)
2 0 −1

Man kann sich leicht von der Gültigkeit dieser Darstellung dadurch überzeugen, dass man
mit der gewählten Darstellung die Eigenwertgleichungen für ŝz in (1.11) verifiziert.
Wir wollen uns nun davon überzeugen, dass die Spinoperatoren ŝx und ŝy in dieser Dar-
stellung durch
!
h̄ 0 1
ŝx = 2 x
σ mit σx =
1 0
!
h̄ 0 −i
ŝy = 2 y
σ mit σy = , (1.14)
i 0

gegeben sind. Die 2×2 Matrizen σx , σy und σz tragen den Namen Pauli’sche Spinmatrizen
und sind nach dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900 - 1958) benannt.
Man kann sich leicht davon überzeugen, dass die in (1.14) definierten Spin-Operatoren
hermitesch sind. So gilt ja z.B.
!t∗ !∗
0 −i 0 i
σy† = = = σy .
i 0 −i 0

In der Matrixdarstellung ergibt sich ja die Matrix des adjungierten OPerators σy† durch
Transponieren (t) und komplex konjugieren (∗).
Ausserdem erfüllen die Spinoperatoren die Kommutatorrelationen, wie sie auch durch die
entsprechenden Drehimpulsoperatoren gefordert sind, wie z.B.:

h̄2
[σx , σy ] = {σx σy − σy σx }
4 ( ! ! ! !)
h̄2 0 1 0 −i 0 −i 0 1
= −
4 1 0 i 0 i 0 1 0
!
h̄2 i 0
= 2
4 0 −i
!
h̄ 1 0
= ih̄
2 0 −1
= ih̄ŝz .
1.3. MAGNETISCHE MOMENTE, SPIN DES ELEKTRONS 9

dB
B,
dz
000000000
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000000000
111111111

out = Filter in
Abbildung 1.3: Stern Gerlach Magnet als Filter für Elektronen mit Spinpro-
jektion +1/2

Ausserdem betrachten wir den Operator


ŝ2 = ŝ2x + ŝ2y + ŝ2z
 !2 !2 !2 
h̄ 
2
0 1 0 −i 1 0 
= + +
4  1 0 i 0 0 −1 
!
h̄2 1 0
= 3
4 0 1

Die Spinzustände sind also Eigenzustände zu diesem Operator ŝ2 mit dem richtigen Ei-
genwert von (1.11).

1.3.1 Spielereien mit dem Stern Gerlach Magneten


In diesem Teilabschnitt sollen einige Gedankenexperimente mit dem Stern-Gerlach Ma-
gneten diskutiert werden und mit der gerade eingeführten Nomenklatur für die Spin-
Zustände beschrieben werden. Dazu betrachten wir erst einmal einen Experimentaufbau
mit einem Stern-Gerlach Magneten, wie er in Abb. 1.3 dargestellt ist.
Der von rechts einlaufende Strahl von Elektronen1 ist nicht polarisiert und enthält Elek-
tronen mit eine Spinprojektion parallel (ms = 1/2) und antiparallel (ms = −1/2) zur
Richtung des Magnetfelldes, die die z-Achse definiert. Durch das inhomogene Magnetfeld
wird der Elektronenstrahl in zwei Teilstrahlen aufgespalten und wir führen den Teilstrahl
der Elektronen mit ms = −1/2 in einen Faraday Becher, so dass nur noch Elektronen mit
der Spinprojektion ms = 1/2 weitergeführt werden.
Mit dieser Anordnung ist der Stern Gerlach Magnet also ein Spin-Filter oder ein Polari-
sator für den Elektronenspin in z-Richtung. Wir können diese Funktion des Polarisators
1
Wir wissen natürlich, dass das Stern Gerlach Experiment mit neutralen Atomen wie etwa einem
Silberatom durchgeführt wird. Trotzdem wollen wir an dieser Stelle von Elektronen sprechen, da ja der
Spin des Elektrons die entscheidende Rolle spielt.
10 INHALTSVERZEICHNIS

in der theoretischen Darstellung durch einen Projektionsoperator Pz beschreiben in der


Form
Pz = |ms = 1/2ihms = 1/2| . (1.15)
Wendet man nämlich diesen Operator auf einen eingehenden Zustand |ini an, so gilt

|outi = Pz |ini = |ms = 1/2ihms = 1/2|ini .

Der Ergebniszustand |outi ist ein Vektor des Hilbertraumes in Richtung des Basisvektors
|ms = 1/2i mit einer Amplitude, die durch das Skalarprodukt von |ms = 1/2i mit dem
eingehenden Zustand gegeben ist. Stellen wir diesen Operator in der Basis von (1.12)
dar, so ist der Ket Vektor |ms = 1/2i durch den Spaltenvektor mit Komponenten 1 und 0
gegeben und der zughörige Bra Vektor hms = 1/2| durch den entsprechenden Zeilenvektor
(mit komplex konjugierten Elementen, was natürlich in diesem Fall redundant ist), so
ergibt sich der Projektionsoperator zu
! !
1  ∗ 1 0
Pz = 1 0 = . (1.16)
0 0 0

Wenn man also einen einkommenden Elektronenstrahl hat, bei dem die Elektronen mit
der Wahrscheinlichkeitsamplitude α eine positive Spinprojektion besitzt und mit der Am-
plitude β eine negative (damit der Zustand normiert ist sollte gelten: α2 + β 2 = 1) so ist
dieser eingehende Strom von Elektronen durch den Vektor
!
α
|ini ⇔ ,
β

beschrieben, und die Anwendung des Stern Gerlach Filters wird durch die Operation

|outi = Pz |ini
! !
1 0 α
=
0 0 β
!
α
= , (1.17)
0

mathematisch beschrieben: Der auslaufende Elektronenstrahl besitzt die Wahrscheinlich-


keitsamplitude 0 für Elektronen mit Spin ms = −1/2, ist also zu 100 Prozent polarisiert.
Wir sehen an diesem Beispiel sehr deutlich, wie die Durchführung eines Experimentes
durch die Anwendung eines Operators auf einen Zustand dargestellt wird.
Natürlich ist es nutzlos, den aus dem Stern-Gerlach Filter auslaufenden Teilchenstrahl
noch einmal durch einen identischen Filter laufen zu lassen. Mathematisch äußert sich
diese Tatsache, dass ein wiederholtes Anwenden des Filters das gleiche Ergebnis erzielt
wie ein einmaliges Anwenden darin, dass gilt
! !
1 0 1 0
Pz2 =
0 0 0 0
!
1 0
=
0 0
= Pz , (1.18)
1.3. MAGNETISCHE MOMENTE, SPIN DES ELEKTRONS 11

eine Beziehung, die Projektionsoperatoren definiert.


Natürlich kann aber auch daran denken einen Stern-Gerlach Filter um 90 Grad zu drehen
um so einen Filter bezüglich der y-Komponente zu erhalten. Wie sieht die mathematische
Darstellung eines solchen Filters in y-Richtung aus?
Zur Konstruktion des entsprechenden Operators Py vergewissern wir uns, dass der Zu-
stand !
1 1
|mys = 1/2i = √ , (1.19)
2 i
ein normierter Eigenzustand zum Operator ŝy mit dem Eigenwert h̄/2 ist. Wir benutzen
dazu einfach die Darstellung dieses Operators aus (1.14) und berechnen
! !
h̄ 0 −i 1 1
ŝy |mys = 1/2i = √
2 i 0 2 i
!
h̄ 1 1
= √
2 2 i
h̄ y
= |m = 1/2i .
2 s
Analog zu (1.15) ergibt sich also für

Py = |mys = 1/2ihmys = 1/2|


!
1 1  
= 1 −i
2 i
!
1 1 −i
= . (1.20)
2 i 1

Was erhalten wir also, wenn wir hinter den ersten Stern-Gerlach Filter in z-Richtung einen
zweiten in y-Richtung aufstellen? Mathematisch erhalten wir das Resultat dadurch, dass
wir den Operator Py auf das Ergebnis von (1.17) anwenden also

|out2 i = Py |outi
! !
1 1 −i α
=
2 i 1 0
!
α
= 2 . (1.21)

2

Man erhält einen auslaufenden Strahl, dessen Elektronen mit gleicher Wahrscheinlichkeit
ihren Spin parallel und antiparallel zur z-Achse orientiert haben.
Dieses Ergebnis ist auf dem ersten Blick überraschend. Naiv würde man sagen, dass
der erste Filter nur Elektronen mit positivem sz durchlässt und der zweite nur solche mit
positivem sy . Der auslaufende Strahl enthielte also nur Elektronen für die sz und sy positiv
sind. Bei dieser Argumentation ignoriert man aber die Tatsache, dass der Kommutator
von ŝy mit ŝz ungleich Null ist. Die beiden Observablen sz und sy können also nicht
gleichzeitig bestimmt sein. In der Tat zerstört der zweite Filter, bei dem die Orientierung
des Spins bezüglich der y-Achse ausgewertet wird, das Ergebnis der ersten Polarisation.
Ein entsprechendes Experiment würde das Ergebnis von (1.21) bestätigen.
12 INHALTSVERZEICHNIS

1.4 Feinstruktur, Spin-Bahn Kopplung


Zu Beginn dieses Abschnitts wollen wir uns noch einmal einige zentrale Ergebnisse aus der
Diskussion der stationären Lösungen für die Schrödinger Gleichung des Wasserstoffatoms
in Erinnerung rufen, wenn dabei lediglich die Coulomb Wechselwirkung zwischen dem
Proton des Atomkerns und dem Elektron berücksichtigt wird. Wir haben dazu in der
Vorlesung Physik III gesehen, dass die stationäre Schrödinger Gleichung in der Form
dargestellt werden kann
( )
p̂2 Ze2 −13.6 eV 2
− |n, l, ml , s, ms i = En |n, l, ml , s, ms i mitEn = Z , (1.22)
2M 4πε0 r n2
wobei Z die Kernladungszahl ist, was uns erlaubt auch die Bewegung eines Elektrons
um einen Atomkern mit Z Protonen zu beschreiben. Die Energien hängen also allein
von der Hauptquantenzahl n = 1, 2, . . . ab. Für eine gegebene Hauptquantenzahl gibt
es Zustände mit der Bahndrehimpulsquantenzahl l = 0, 1, . . . (n − 1) und für jedes l
wiederum Zustände mit ml = −l . . . l. Ausserdem können wir die Eigenzustände noch mit
den Spinquantenzahlen s = 1/2 und ms = ±1/2 für das Elektron charakterisiern.
Nach der klassischen Vorstellung für einen q
Zustand mit solchen Quantenzahlen kreist das
Elektron mit einem Bahndrehimpuls von h̄ l(l + 1) um den Atomkern. Aus der Sicht des
Elektrons stellt sich dieses Bewegung so dar, als ob das Proton des Atomkerns um das
Elektron kreisen würde. Dies ganz in Analogie zur Planetenbewegung im Sonnensystem:
Aus unserer Sicht scheint ja die Erde um die Sonne zu kreisen, obwohl natürlich die
Bewegung der Erde auf einer Kreisbahn um die Sonne ein etwas realistischeres Bild ist.
Das Elektron “sieht” sich also von dem Kreisstrom einer Kernladung Ze an der Stelle
~reZ , das ist der Ortsvektor der Kernladung ausgehend vom Koordinatenursprung am
Ort des Elektrons, mit eine Geschwindigkeit ~v umgeben. Ein solcher Strom bewirkt am
Koordinatenursprung, also am Ort des Elektrons, nach dem Biot-Savartschen Gesetz ein
Magnetfeld der Form

~ = Zeµ0
B 3
[~v × ~reZ ]
4πreZ
Zeµ0
= [~v × (−~r)]
4πr3
Zeµ0 1 ~
= l. (1.23)
4πr3 M
Bei dem Übergang zur zweiten Zeile haben wir ausgenutzt, dass der Ortsvektor des Kerns
aus der Sicht des Elektrons, reZ bis auf das Vorzeichen dem Ortsvektor ~r des Elektrons im
kernfesten Koordinatensystem entspricht. Das Biot-Savartsche Gesetz liefert nach (1.23)
ein Magnetfeld am Ort des Elektrons, das proportional zu seinem Drehimpuls ~l ist. Bei der
Rücktransformation auf das Ruhesystem des Atoms ergibt sich noch ein weiterer Faktor
1/2, der sogenannte Thomas Faktor, der nur in einer umfangreichen relativistischen
Betrachtung begründet werden kann. Die Wechselwirkung des mit dem Elektronenspin
verknüpften magnetischen Momentes (siehe (1.7)) mit diesem Magnetfeld liefert einen
magnetischen Beitrag zur potenziellen Energie der Form
~
∆Vls = −~µs B
1.4. FEINSTRUKTUR, SPIN-BAHN KOPPLUNG 13
 
µB Zeµ0 1 ~
= − − g l · ~s . (1.24)
h̄ 8πr3 M
Die atomaren Ströme sind sehr klein, das gleiche gilt aber auch für die Abstände (r), so
dass die auftretenden Magnetfelder doch von der Größenordnung von etwa einem Tesla
sind. Berücksichtigt man, dass das Bohrsche Magneton µB einen Wert von etwa 0.5 10−4
eV/Tesla aufweist, so ergibt sich für den Betrag des magnetischen Korrekturterms in
(1.24) die Abschätzung
|∆Vls | ∼ 10−4 eV .
Verglichen mit den Energien durch das Coulombfeld in (1.22) ist diese Energiekorrektur
sehr klein und es liegt nahe, die entsprechende Korrektur im Hamiltonoperator als kleine
Störung aufzufassen.
Die Behandlung von solchen Störungen, die sogenannte Störungstheorie ist ein sehr
umfangreiches Kapitel der Quantenmechanik. An dieser Stelle wollen wir lediglich die
“Rechenregeln” für die einfachste Behandlung betrachten: der Störungstheorie 1. Ord-
nung. Diese Regeln können angewandt werden, wenn ein Hamiltonoperator der Form
H = H0 + ∆V , (1.25)
vorliegt. Dabei sollen die Lösungen für den ungestörten Operator H0 bekannt sein
H0 |n, ii = εn |n, ii ,
wobei sich die Quantenzahl i auf unterschiedliche stationäre Lösungen bezieht bezüglich
derer die Energieeigenwerte εn entartet sind. Die Störungstheorie ist dann eine gute Nähe-
rung, wenn die Matrixelemente der Störung ∆V klein sind im Vergleich zu den Energie-
differenzen des ungestörten Hamiltonoperators, also
|hn, i′ |∆V |n, ii| ≪ |εn − εn′ | . (1.26)
In diesem Fall kann man die Einfluss des Störterms ∆V auf die Energieeigenwerte von
H = H0 + ∆V dadurch abschätzen, dass man die Matrix der Störung
hn, i′ |∆V |n, ii ,
im Unterraum der zu einer Energie εn entarteten Zustände diagonalisiert. Die Eigenwerte
liefern die Energiekorrekturen und die Eigenvektoren sind die angepassten stationären
Zustände.
Im Fall des Wasserstoffatoms sind die zu einem Energiewert εn entarteten Zustände durch
die Quantenzahlen l, ml und ms (siehe (1.22)) beschrieben und die Abschätzung (1.26)
ist sehr gut erfüllt. Die Aufgabe der Störungstheorie erster Ordnung besteht also darin,
den Korrekturterm zu diagonalisieren in der Basis
hn, l, ml , ms |∆Vls |n, l′ , m′ , m′ i = hn, l, ml , ms |χ~l · ~s|n, l′ , m′ , m′ i .
l s l s (1.27)
Dabei haben wir die Darstellung von ∆Vls komprimiert um die Abhängigkeit von den
Drehimpulsen ~l und ~s herauszustellen.
Bevor wir nun diese Diagonalisation etwas genauer betrachten, wollen wir das Vorzeichen
des Korrekturterms abschätzen. Da der Faktor χ ein positives Vorzeichen besitzt, erwarten
wir also, dass
(
~ > 0 wenn ~l und ~s parallel zueinander
hχl · ~si (1.28)
< 0 wenn ~l und ~s antiparallel zueinander stehen
14 INHALTSVERZEICHNIS

1.4.1 Kopplung von Drehimpulsen


Für eine genauere Bestimmung definieren wir einen neuen Vektoroperator, den Gesamt-
drehimpuls eines Elektrons durch
~j = ~l + ~s . (1.29)
Diese Definition ist so zu verstehen, dass wir einen Operator

ĵx = ˆlx + ŝx ,

definieren und entsprechende Definitionen für die y und z-Komponente einführen. Diese
Operatoren ĵx ,ĵy und ĵz bezeichnet man mit Recht als Drehimpulsoperatoren, denn sie
sind hermitesch und besitzen die Kommutatorrelationen von Drehimpulsoperatoren. Als
Beispiel sei ausgeführt
h i h i
ĵx , ĵy = (ˆlx + ŝx ) , (ˆly + ŝy )
h i h i h i
= ˆlx , ˆly + ˆlx , ŝy + ŝx , ˆly + [ŝx , ŝy ]
| {z } | {z }
=0 =0

= ih̄ˆlz + ih̄ŝz
= ih̄ĵz .

Der Kommutator zwischen einem Bahndrehimpulsoperator und einem Spinoperator, also


z.B. [ˆlx , ŝy ] in der zweiten Zeile dieser Gleichung ist identisch null, da die Operatoren
ˆlx und ŝy auf unabhängige Faktoren des qunatenmechanischen Zustandes eines Elek-
trons wirken. Der Bahndrehimpulsoperator wirkt in der Ortsdarstellung des Zustandes
|n, l, ml , ms i auf die Wellenfunktion Φnlml , während der Spinoperator auf die Spinfunkti-
on |s, ms i wirkt, die wir ja nach den Ausführungen im vorausgehenden Abschnitt durch
einen Spaltenvektor der Dimension 2 darstellen können. Wenn Bahndrehimpuls- und Spin-
operatoren aber auf unterschiedliche Faktoren des Gesamtzustandes wirken, dann ist es
auch gleich, in welcher Reihenfolge sie angewendet werden, was ja bedeutet, deass der
Kommutator identisch null ist. Wir betrachten das Quadrat dieses Gesamtdrehimpulses
~j 2 = ĵx2 + ĵy2 + ĵz2

und können uns davon überzeugen, dass die folgenden Kommutatoren identisch Null sind
h i h i h i
~j 2 , ĵz = ~j 2 , ~l2 = ~j 2 , ~s2 = 0 , (1.30)

während z.B. h i h i
~j 2 , ˆlz =
6 0 und ĵz , ~l2 6= 0 . (1.31)
Aus diesen Gleichungen wird deutlich, dass es ein gemeinsames Eigenfunktionssystem
gibt zu den Operatoren ~l2 , ~s2 , ~j 2 und ĵz . Wir bezeichnen dieses Eigenfunktionen durch
die jeweiligen Quantenzahlen:
~l2 |l, s, j, mj i = h̄2 l(l + 1)|l, s, j, mj i
~s2 |l, s, j, mj i = h̄2 s(s + 1)|l, s, j, mj i
~j 2 |l, s, j, mj i = h̄2 j(j + 1)|l, s, j, mj i
ĵz |l, s, j, mj i = h̄mj |l, s, j, mj i . (1.32)
1.4. FEINSTRUKTUR, SPIN-BAHN KOPPLUNG 15

ml ms mj = ml + ms mögliche j

-1 -1/2 -3/2 3/2


-1 +1/2 -1/2 3/2 oder 1/2
0 -1/2 -1/2 3/2 oder 1/2
0 1/2 1/2 3/2 oder 1/2
1 -1/2 1/2 3/2 oder 1/2
1 1/2 3/2 3/2

Tabelle 1.1: Basiszustände für ein Elektron mit l = 1 und Spin s = 1/2.

Dies ist also eine alternative Basis, die wir als Basis der zu j gekoppelten Zustände be-
zeichnen, zur Basis der Eigenzustände der Operatoren ~l2 , ~s2 , ˆlz und ŝz :

|l, ml , s, ms i , (1.33)

die wir hier als ungekoppelte Basis bezeichnen wollen. Natürlich gibt es eine Transforma-
tion von der einen in die andere Basis etwa in der Form
X
|l, s, j, mj i = |l, ml , s, ms i hl, ml , s, ms |l, s, j, mj i , (1.34)
ml ,ms | {z }
Clebsch-Gordan Koeff.
oder auch in umgekehrter Weise
X
|l, ml , s, ms i = |l, s, j, mj i hl, s, j, mj |l, ml , s, ms i . (1.35)
j,mj
| {z }
Clebsch-Gordan Koeff.
Die Transformationskoeffizienten bezeichnet man als Clebsch-Gordan Koeffizienten.
Wir wollen hier nicht auf die Details dieser Clebsch-Gordan Transformation eingehen,
sondern die Transformation und ihre generellen Regeln an einem Beispiel verdeutlichen.
Dazu betrachten wir den Fall der Zustände mit l = 1 und s = 1/2.
In der Tabelle 1.1 sind die 6 Kombinationen von Quantenzahlen für ml und ms aufgeführt.
Da der Operator ĵz = ˆls + ŝz ist, muss für die Quantenzahl zum Operator ĵz gelten

mj = ml + ms . (1.36)

Wir sehen also, dass der minimale Wert für mj in unserem Beispiel der Wert mj = −3/2
ist. Dies bedeutet aber, dass wir gekoppelte Zustände mit j = 3/2 erwarten können,
denn mj muss ja Werte von −j bis j einnehmen können. Damit können wir also schon
einen Unterraum der Dimension 2 ∗ j + 1 = 4 den Zuständen mit j = 3/2 zuordnen. Im
Beispiel der Zustände, die in Tabelle 1.1 aufgelistet sind, verbleiben also noch 2 Zustände
mit mj = ±1/2 die wir dann als Zustände mit einem Gesamtdrehimpuls von j = 1/2
identifizieren können.
Insbesondere können wir z.B. identifizieren (hier und im folgenden werden wir darauf
verzichten, die Quantenzahlen l = 1 und s = 1/2 aufzuführen):

|j : 3/2, mj : −3/2i = |ml : −1, ms : −1/2i ,


16 INHALTSVERZEICHNIS

die Transformation (1.34) ist also in diesem Fall trivial und beschränkt sich auf einen
Summanden. Ein wenig komplizierter ist der Fall für

|j : 3/2, mj : −1/2i = α|ml : −1, ms : +1/2i + β|ml : 0, ms : −1/2i ,

mit zwei Summanden in der Transformation. Die Koeffizienten α und β sind Clebsch-
Gordan Koeffizienten und haben den Wert
1
α = hml : −1, ms : 1/2|j : 3/2, mj : −1/2i = √
3
s
2
β = hml : 0, ms : −1/2|j : 3/2, mj : −1/2i = .
3

Wir wollen an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, wie man die Clebsch-Gordan
Koeffizienten berechnet, sondern lediglich vermerken, dass sich bei der Kopplung von
2 Drehimpulsen, wie etwa ~l und ~s zu ~j, Auswahlregeln zu beachten sind in der Form
(Vergleiche (1.36))

mj = ml + ms
|l − s| ≤ j ≤ l + s . (1.37)

1.4.2 Feinstruktur und Hyperfeinstruktur


Nach diesem Ausflug in die Technik der Kopplung von zwei Drehimpulsen, werden wir
sehen, dass die Basis der gekoppelten Zustände, die geeignete Basis für die Berechnung
des Spin-Bahn Terms (1.24) darstellt. Dazu berechnen wir den Operator ~j 2
 2
~j 2 = ~l + ~s = ~l2 + ~s2 + 2~l · ~s ,

und lösen diese Gleichung auf nach dem Operatorprodukt

~ 2 ~2 2
~l · ~s = j − l + ~s . (1.38)
2

Ein Eigenzustand zu den Operatoren ~j 2 , ~l2 und ~s2 , und das gilt ja für den gekoppelten
Zustand, ist also auch Eigenzustand zum Operator ~l · ~s mit dem Eigenwert
 2 
~l · ~s|l, s, j, mj i = h̄ j(j + 1) − l(l + 1) − 1 3 |l, s, j, mj i . (1.39)
2 22

Wenn wir also den Erwartungswert des Spin-Bahnterms χ~l·~s für die gekoppelten Zustände
eines p Niveaus (also l = 1) ausrechnen, so ergeben sich für die Zustände, charakterisiert
durch die Bezeichnung pj , die folgenden Korrekturen

1
p3/2 : hl : 1, j : 3/2, mj |χ~l · ~s|l : 1, j : 3/2, mj i = h̄2 χ
2
p1/2 : ~ 2
hl : 1, j : 1/2, mj |χl · ~s|l : 1, j : 1/2, mj i = −h̄ χ . (1.40)
1.4. FEINSTRUKTUR, SPIN-BAHN KOPPLUNG 17

Durch die Spin-Bahn Wechselwirkung wird also der p1/2 Zustand abgesenkt und der p3/2
Zustand angehoben in der Energie, und zwar so, dass der Schwerpunkt, also die Energie-
korrektur gewichtet mit der Entartung der Zustände (2j + 1) erhalten bleibt. Das Vorzei-
chen dieser Energiekorrektur stimmt natürlich mit der Abschätzung aus (1.28) überein.
Wir haben bereits diskutiert, dass die Energieverschiebungen durch diesen Spin-Bahn
Term sehr klein sind (von der Größenordnung 10−4 eV). Es zeigt sich, dass die Effekte der
relativistischen Kinematik von der gleichen Größenordnung sind. Eine Quelle dieser rela-
tivistischen Effekte liegt in dem Ausdruck für die kinetische Energie eines freien Elektrons
der Masse M und mit dem Impuls p:
s
q p2
M 2 c4 + c2 p2 = M c2 1 +

M 2 c2 
!2
2 2
1 p 1 p
= M c2 1 + 2 2
− + . . .
2M c 8 M 2 c2
p2 p4
= M c2 + − + ... (1.41)
2M 8M 3 c4
Für kleine Impulse ist der Quotient p2 /M 2 c2 klein gegenüber 1 und man kann die Entwick-
lung der Wurzel beim Übergang von der ersten Zeile zur zweiten Zeile nach den führenden
Gliedern abbrechen. Dies zeigt, dass in dem Grenzfall kleiner Impulse die relativistische
kinetische Energie übergeht in eine Konstante, die Ruhenergie des Elektrons M c2 , plus
die nicht-relativistische kinetische Energie plus Korrekturen der Ordnung p4 und höher.
Diese relativistischen Korrekturen sind im Fall des Wasserstofatoms von gleicher Größen-
ordnung wie die Spin-Bahn Wechselwirkung.
Eine konsistente Zusammenfassung dieser relativistischen Effekte, des Spins und der Spin-
Bahn Wechselwirkung erfolgt in der relativistischen Verallgemeinerung der Schrödinger
Gleichung für Teilchen mit Spin 1/2: der Dirac Gleichung. Eine Lösung der Dirac
Gleichung für das Wasserstoffatom führt zu stationären Lösungen mit Energieeigenwerten
der Form: ( !)
E0 α2 1 3
Enlj = 2 1 + − . (1.42)
n n j + 21 4n
Dabei bezeichnet E0 = -13.6 eV das nichtrelativistische Ergebnis für das Wasserstoffatom
im Grundzustand und
e2 1
α= ≈
4πε0 h̄c 137
ist die Feinstrukturkonstante. Die Energieeigenwerte aus der Dirac Gleichung zeigen also
für das Wasserstoffatom eine j Entartung, d.h.: Zustände mit verschiedenem Bahndre-
himpuls l aber gleichem j haben die selbe Energie.
Ergänzen wollen wir diesen Abschnitt durch eine erste Bemerkung über die Hyperfein-
wechselwirkung. Auch der Atomkern besitzt in der Regel einen Spin und damit ver-
knüpft ein magnetisches Moment. Im Fall des Wasserstoffatoms ist der Atomkern ein
Proton mit dem Spin I~ vom Betrag I = 1/2. Das zugehörige magnetische Moment ergibt
sich in Analogie zu (1.7) zu
I~
~µProton = gp µK . (1.43)

18 INHALTSVERZEICHNIS

Im Vergleich zu (1.7) fehlt ein − Zeichen, da die Ladung des Protons im Gegensatz
zu der des Elektrons positiv ist, und das Bohrsche Magneton µB ist ersetzt durch das
Kernmagneton
eh̄ M 1
µK = = µB ≈ µB (1.44)
2Mp Mp 1836
das um etwa den Faktor 2000 kleiner ist, da die Masse des Protons Mp entsprechend größer
ist als die Masse des Elektrons M . Der g-Faktor des Protons ist anormal und besitzt den
Wert
gP ≈ 5.58
ist also noch anormaler als der Wert für den Elektronenspin (g = 2). Dies ist bereits ein
Hinweis darauf, dass das Proton kein echtes Elementarteilchen ist wie das Elektron. Wir
werden darauf im Kapitel der Vorlesung zur Teilchenphysik zurückkommen.
Das magnetische Moment des Protons “spürt” das Magnetfeld des umlaufenden Elek-
trons. Dieses Magnetfeld weist in Richtung des Gesamtdrehimpulses j des Elektrons, so
dass sich für die Wechselwirkung des Kernspins mit dem Magnetfeld des Elektrons eine
Wechselwirkung gibt von der Form

∆VHF = −~µProton · B ~j
µK ~ ~
= gp I · Bj

= χHF I~ · ~j . (1.45)

Wegen des kleinen Wertes von µK ist diese Wechselwirkung um einen Faktor 1000 kleiner
als die Spin-Bahn Wechselwirkung in der Feinstruktur, also etwa von der Größenordnung
10−6 eV, und trägt deshalb den Namen Hyperfeinwechselwirkung. Das Vorzeichen der
Wechselwirkung und die Operatorstruktur wird durch das Skalarprodukt I~ · ~j definert.
Dies legt nahe einen neuen Spinvektor

F~ = I~ + ~j , (1.46)

einzuführen. Ein Eigenzustand zu den Operatoren I~2 , ~j 2 und F~ 2 ist dann auch Eigenzu-
stand zum Operator
1 h ~ 2 ~2 ~ 2 i
I~ · ~j = F −I −j , (1.47)
2
(vergleiche die Überlegungen zu (1.38)). In der Basis der Zustände, in denen der Kernspin
und der Drehimpuls des Elektrons zum F -Spin gekoppelt sind ist also auch der Opera-
tor der Hyperfeinwechselwirkung diagonal und wir erhalten für den Fall des atomaren
Wasserstoffs (I = j = 1/2) eine Energiekorrektur der Form
(
h̄2 χHF h̄2 χHF0.5 für F = 1
h∆VHF i = [F (F + 1) − I(I + 1) − (j(j + 1)] =
2 2 −1.5 für F = 0
(1.48)
Das Wasserstoffatom besitzt also in seinem Grundzustand einen F -Spin von F = 0 (der
Spin des Protons und des Elektrons sind antiparallel). Der entsprechende Zustand mit
F = 1 liegt 5.9 10−6 eV über dem Grundzustand. Bei einem Übergang von F = 1 zu
1.4. FEINSTRUKTUR, SPIN-BAHN KOPPLUNG 19

F = 0 wird also elektromagnetische Strahlung2 der Energie

∆E = hν = 5.9 10−6 eV (1.49)

emittiert. Dies entspricht einer Frequenz ν von 1420 MHz und einer Wellenlänge von
c
λ= = 21 cm . (1.50)
ν
Die Beobachtung von Radiowellen mit dieser Wellenlänge wird vor allen Dingen in der
Astronomie benutzt, um die Dichte von atomarem Wasserstoff im Weltall zu bestimmen.

2
Bei dieser Strahlung handelt es sich nicht um elektrische Dipolstrahlung, da ja bei einem solchen
Übergang die Parität des Anfangs und Endzustandes unterschiedlich sein müssen. Bei diesem Übergang
wird aber an dem Ortsanteil der Wellenfunktion nichts geändert und lediglich die Spinorientierung zwi-
schen dem Spin des Protons und des Elektrons gedreht. Es handelt sich dabei um eine magnetische
Wechselwirkung und man spricht von einem magnetischen Dipolübergang. Ein solcher Übergang ist un-
terdrückt, da die magnetischen Wechselwirkungen im Allgemeinen schwächer sind; er tritt nur auf, wenn
ein elektrischer Übergang wegen der Auswahlregeln für die Quantenzahlen verboten ist.
20
Dichte INHALTSVERZEICHNIS

Ort Ort
Abbildung 1.4: Wahrscheinlichkeitsdichte eines von zwei ununterscheidbbaren
Teilchen zu detektieren, siehe Diskussion im Text

1.5 Ununterscheidbare Teilchen, das Heliumatom


Elementare Teilchen, wie etwa die Elektronen, kann man nicht markieren, d.h.: sie sind
ununterscheidbar. Zusammen mit den Grundeigenschaften der Quantenmechanik führt
diese Ununterscheidbarkeit zu sehr interessanten Konsequenzen. Um uns diese Konse-
quenzen vor Augen zu führen, machen wir ein Gedankenexperiment. Wir betrachten dazu
zwei Elementarteilchen, also zum Beispiel zwei Elektronen. Zur Vereinfachung wollen wir
annehmen, dass es keine Wechselwirkung zwischen diesen beiden Teilchen gibt, der Hamil-
tonoperator ist also die Summe von Operatoren, die jeweils nur auf die Koordinaten eines
Teilchens wirken, H = H(~r1 ) + H(~r2 ). In diesem Fall wissen wir, dass es Lösungen der
stationären Schrödinger Gleichung gibt, die ein Produkt von Einteilchenwellenfunktionen
sind
Φαβ (~r1 , ~r2 ) = φα (~r1 )φβ (~r2 ) (1.51)
wobei dir Funktionen φα und φβ Lösungen des jeweiligen Einteilchenproblems sind.
Das eine der Teilchen sei am Punkt ~rα lokalisiert und werde etwa durch eine gaußförmige
Wellenfunktion beschrieben φα (~r), die eine maximale Amplitude am Ort ~rα besitzt. Ganz
entsprechend sei das andere Elektron mit Wellenfunktion φβ (~r) am Ort ~rβ lokalisiert. Die
Wahrscheinlichkeitsdichte ein Elektron an einer Stelle ~r zu finden wird dann durch

ρ(~r) = φ∗α (~r)φα (~r) + φ∗β (~r)φβ (~r) ,

definiert. Sind die Orte weit genug auseinander, so wie es z.B. im linken Teilbild der
Abb. 1.4 dargestellt ist, so könnte man versucht sein zu sagen, dass, wenn immer wir
ein Elektron in der Nähe von ~rα detektieren, dann ist das Elektron 1, und wenn wir ein
Elektron in der Nähe von ~rβ finden, dann muss es wohl das andere, das Elektron 2 sein.
Was ist aber, wenn die Ortsvektoren ~rα und ~rβ so eng beieinander liegen, wie es im
rechten Teilbild der Abb. 1.4 dargestellt ist? In diesem Fall können wir nicht wissen,
welches Elektron detektiert wurde, da ja die Elektronen ununterscheidbar sind. Streng
genommen gilt das natürlich auch für den Fall, wenn ~rα und ~rβ zwei Orte bezeichnen,
die weit auseinanderliegen. In diesem Fall ist die Dichte φ∗α φα am Ort ~rβ zwar klein aber
nicht identisch null, so dass auch hier eine Unterscheidbarkeit nicht gegeben ist.
1.5. UNUNTERSCHEIDBARE TEILCHEN, DAS HELIUMATOM 21

Wir wollen diese Eigenschaft der Ununterscheidbarkeit etwas genauer definieren und
führen dazu einen Austauschoperator P̂12 ein. Der Operator wirkt auf Vielteilchenwel-
lenfunktionen und tauscht die Koordinaten von ~r1 und ~r2 aus. Am Beispiel der Produkt-
wellenfunktion (1.51) aufgezeigt, bedeutet das
P̂12 Φαβ (~r1 , ~r2 ) = P̂12 φα (~r1 )φβ (~r2 ) = φα (~r2 )φβ (~r1 ) = Φβα (~r1 , ~r2 ) , (1.52)
oder ausgedrückt in der Bracket Darstellung
P̂12 |Φαβ i = |Φβα i . (1.53)
Die Ununterscheidbarkeit von den zwei beschriebenen Teilchen bedeutet dann: Egal wel-
ches Experiment ich mache, es führt zu identischen Ergebnissen, ganz gleich ob die beiden
Teilchen vertauscht werden oder nicht.
Die Durchführung einer Messung ist mit einem hermiteschen Operator Ô verknüpft. Un-
unterscheidbarkeit bedeutet dann, dass ich für Ô das gleiche Eigenwertspektrum und die
gleichen Wahrscheinlichkeiten, einen dieser Eigenwerte oγ zu erzielen, bekomme, ganz egal
ob ich Ô auf Φαβ oder Φβα anwende:
Ô|Φαβ i = oγ |Φαβ i ⇔ Ô|Φβα i = oγ |Φβα i
= = (1.54)
ÔP̂12 |Φαβ i = oγ P̂12 |Φαβ i = P̂12 Ô|Φαβ i
Damit haben wir also gezeigt, dass
ÔP̂12 |Φαβ i = P̂12 Ô|Φαβ i .
Da diese Beziehung für alle Produktzustände |Φαβ i gilt und diese Zustände eine Basis des
Hilbertraumes der Zweiteilchenzustände bilden, gilt also für die Operatoren
h i
ÔP̂12 = P̂12 Ô beziehungsweise Ô , P̂12 = 0 . (1.55)

Da Ô ein Operator ist, der einer beliebigen physikalischen Messgröße zugeordnet ist, gilt
die Kommutatorrelation also insbesondere auch für den Hamiltonoperator und allen Ope-
ratoren, die gleichzeitig mit dem Hamiltonoperator vertauschen. Wir erwarten also, dass
die stationären Lösungen der Schrödingergleichung, also die Eigenzustände zum Hamil-
tonoperator, auch Eigenzustände zum Permutationsoperator P̂12 sind.
Wie sehen aber die Eigenwerte und Eigenzustände des Permutationsoperators P̂12 aus?
Zur Beantwortung dieser Frage vergegenwärtigen wir uns, dass ein zweimaliges Anwenden
des Permutationsoperators wieder zum Ausgangszustand zurückführt
 
P̂12 P̂12 |Φαβ i = P̂12 |Φβα i = |Φαβ i .
2
Der Operator P̂12 ist also der 1-Operator. Das bedeutet aber, dass die möglichen Eigen-
werte P̂12 die Zahlen +1 oder −1 sind.
Wir betrachten jetzt Eigenzustände zu P̂12 mit dem Eigenwert +1. Diese Zustände ändern
sich also nicht, wenn die Koordinaten der Teilchen 1 und 2 vertauscht werden. Wir be-
trachten einen solchen symmetrischen Zustand von Produktfunktionen in der Ortsdar-
stellung
1
ΦSαβ (~r1 , ~r2 ) = √ {φα (~r1 )φβ (~r2 ) + φα (~r2 )φβ (~r1 )} . (1.56)
2
22 INHALTSVERZEICHNIS

Für zwei identische Teilchen, die nicht miteinander wechselwirken, ist die Produktfunktion
des ersten Summanden eine Lösung der stationären Schrödinger genau so wie die des
zweiten und zwar mit dem gleichen Energieeigenwert. Damit ist aber auch die in (1.56)
dargestellte Linearkombination eine Lösung dieses Problems. Ausserdem kann man sich
leicht davon überzeugen, dass
P̂12 ΦSαβ (~r1 , ~r2 ) = ΦSαβ (~r2 , ~r1 ) = ΦSαβ (~r1 , ~r2 ) , (1.57)

ΦSαβ also ein Eigenzustand zum Permutationsoperator P̂12 ist mit dem Eigenwert +1.

Der Vorfaktor 1/ 2 in (1.56) wurde so gewählt, dass (bei normierten Einteilchenwellen-
funktionen φα und φβ ) auch der Zustand ΦSαβ normiert ist. Zum Beweis dieser Aussage
berechnen wir
S S 1Z 3 n o
hΦαβ |Φαβ i = d r1 d3 r2 φ∗α (~r1 )φ∗β (~r2 ) + φ∗α (~r2 )φ∗β (~r1 ) {φα (~r1 )φβ (~r2 ) + φα (~r2 )φβ (~r1 )}
2 Z Z
1
= 3 ∗
d r1 φα (~r1 )φα (~r1 ) d3 r2 φ∗β (~r2 )φβ (~r2 ) +
2 | {z }| {z }
=1 =1
Z Z
d3 r1 φ∗α (~r1 )φβ (~r1 ) d3 r2 φ∗β (~r2 )φα (~r2 ) +
| {z }| {z }
=0 =0
Z Z
+ d3 r1 φ∗β (~r1 )φα (~r1 ) d3 r2 φ∗α (~r2 )φβ (~r2 ) +
| {z }| {z }
=0 =0
Z Z 
3
d r1 φ∗β (~r1 )φβ (~r1 ) d 3
r2 φ∗α (~r2 )φα (~r2 )
| {z }| {z }
=1 =1
= 1

Analog zur symmetrischen Wellenfunktion von (1.56) kann man auch eine antisymmetri-
sche Wellenfunktion definieren
1
ΦA r1 , ~r2 ) = √ {φα (~r1 )φβ (~r2 ) − φα (~r2 )φβ (~r1 )} .
αβ (~ (1.58)
2
Auch diese Wellenfunktion ist eine Eigenfunktion zum Hamiltonoperator für nicht wech-
√ und zum Vertauschungsoperator allerdings mit dem Eigenwert −1.
selwirkende Teilchen
Der Vorfaktor 1/ 2 wird wiederum benötigt, damit der Zweiteilchenzusatnd normiert ist.
Wir haben also jetzt Eigenzustände zum Vertauschungsoperator mit den möglichen Ei-
genwerten +1 und −1 konstruiert. Welche dieser Möglichkeiten wählt die Natur? Die
Antwort darauf lautet, dass das von der “Teilchensorte” abhängt:

• Teilchen mit einem halbzahligen Spin, also z.B. ein Elektron oder ein Proton mit
einem Spin s = 1/2, aber auch z.B. Atomkerne mit einer ungeraden Anzahl von
Nukleonen, die ,wie wir noch sehen werden ebenfalls ein halbzahligen Spin (1/2
oder aber auch 3/2, 5/2 ...) besitzen, haben Vielteilchenwellenfunktionen, die an-
tisymmetrisch sind. Dies bedeutet, dass die Wellenfunktion gleich ist, bis auf ein
wechselndes Vorzeichen, wenn die Koordinaten von zwei der Teilchen des Systems
getauscht werden. Man bezeichnet diese Teilchen mit ungeradem Spin als Fermio-
nen.
1.5. UNUNTERSCHEIDBARE TEILCHEN, DAS HELIUMATOM 23

• Teilchen mit einem ganzzahligen Spin, wie z.B. Mesonen aber auch die Quanten des
elektromagnetischen Feldes, die Photonen, oder auch Atomkerne mit einer geraden
Zahl von Nukleonen haben symmetrische Vielteilchenwellenfunktionen, die sich bei
der Vertauschung der Koordinaten von zwei Teilchen nicht ändern. Man bezeichnet
diese Teilchen als Bosonen.

Diese Eigenschaften der Bosonen und Fermionen sind durch viele experimentelle Tatsa-
chen belegt. Man kann diese Eigenschaft aber auch im Rahmen der Quanenfeldtheorie
explizit beweisen. Dieser Beweis geht aber über den Rahmen dieser Vorlesung hinaus.
Eine Konsequenz der Antisymmetrie von Wellenfunktionen ist das sogenannte Pauli
Prinzip3 : Nach dem Pauli Prinzip dürfen zwei Fermionen nicht den gleichen Einteil-
chenzustand besetzen. Zwei Einteilchenzustände, die von 2 identischen Fermionen besetzt
sind müssen sich also in wenigstens einer Quantenzahl unterscheiden. Dieses Pauli Prin-
zip ist eine direkte Konsequenz der Antisymmetrisierung von Vielteilchenwellenfunktio-
nen für Fermionen. Schreibt man nämlich z.B. die antisymmetrisierte Wellenfunktion aus
(1.58) auf für den Fall identischer Einteilchenzustände α = β, so ergibt sich die Funktion
ΦAαα = 0, die Wahrscheinlichlkeitsamplitude dieses Zustandes ist also identisch null.

Dieses Pauliprinzip ist eine Konsequenz der Antisymmetrisierung, die weitreichende Fol-
gen hat. Wir werden sehen, dass darauf z.B. das Periodensystem der chemischen Elemente
basiert und auch die Stabilisierung von Festkörpern bis hin zu massiven Sternen auf diesem
Prinzip beruht. Die Forderung nach antisymmetrischen Wellenfunktionen für Fermionen
geht aber noch über diese Formulierung des Pauli Prinzipes hinaus. Dazu betrachten wir
die Zweiteilchendichte, die sich aus der antisymmetrischen Wellenfunktion (1.58) ergibt

ρA r1 , ~r2 ) = ΦA∗
αβ (~ r1 , ~r2 )ΦA
αβ (~ αβ (~
r1 , ~r2 ) . (1.59)

Diese Zweiteilchendichte gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass man bei dem Zweiteilchen-
system, das durch die Wellenfunktion Φαβ beschrieben wird, ein Fermion an der Stelle ~r1
und das zweite an der Stelle ~r2 vorfindet. Für ~r1 = ~r2 = ~r gibt diese Zweiteilchendichte die
Wahrscheinlichkeit an, die beiden Fermionen an der gleichen Stelle ~r anzutreffen. Diese
Wahrscheinlichkeit ergibt sich zu

1
ρA
αβ (~
r, ~r) = |φα (~r)φβ (~r) − φα (~r)φβ (~r)|2
2
= 0 (1.60)

Also auch an einer Stelle ~r, an der die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen vorzufinden

ρ(~r) = |φα (~r)|2 + |φβ (~r)|2 ,

groß ist, ist die Wahrscheinlichkeit beide Teilchen vorzufinden identisch null. Also auch
ohne jede Wechselwirkung zwischen den Teilchen gibt es eine kinematische Korrelation, die
es verhindert, dass zwei ununterscheidbare Fermionen sich an der gleichen Stelle aufhalten
können. Diese Korrelation wirkt also nahezu wie eine Abstossung zwischen den Fermionen.
3
Das Pauli Prinzip ist so benannt nach dem Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958), der dieses Postulat
1925 aufstellte
24 INHALTSVERZEICHNIS

Eine entsprechende Diskussion können wir auch für die symmetrische Wellenfunktion von
zwei Bosonen durchführen und die entsprechende Zweiteilchendichte berechnen. In diesem
Fall ergibt sich mit der symmetrisierten Wellenfunktion aus (1.56)
1
ρSαβ (~r, ~r) = |φα (~r)φβ (~r) + φα (~r)φβ (~r)|2
2
= 2 |φα (~r)|2 |φβ (~r)|2 . (1.61)
Die Wahrscheinlichkeit 2 Bosonen am selben Ort zu finden ist also doppelt so groß wie
das Produkt der Wahrscheinlichkeiten für ein Boson im Zustand α und das zweite im
Zustand β. Die Symmetrisierung wirkt also wie eine anziehende Wechselwirkung zwischen
den Bosonen. Dieser Effekt führt zum sogenannten Bose-Einstein Kondensat in kalten
Atomgasen.

1.5.1 Struktur des Helium Atoms


Welche Auswirkungen haben diese Überlegungen auf die Struktur von Atomen mit meh-
reren Elektronen? Als einfachsten Fall betrachten wir den Fall des Helium Atoms mit
einem doppelt geladenen Atomkern (2 Protonen: Z=2) und zwei Elektronen. In einem
ersten Schritt wollen wir die Wechselwirkung zwischen den Elektronen vernachlässigen.
Die Einteilchenzustände sind also charakterisiert durch die Quantenzahlen
|n, l, ml , ms i ⇔ ψnlml (ri )χms (i) , (1.62)
mit einer Einteilchenwellenfunktion ψ und einer Spinfunktion (besser Spinvektor) χ der
Teilchen mit i = 1 oder i = 2. Zur Konkretisierung unserer Überlegungen wollen wir uns
außerdem auf die Konfigurationen beschränken, bei denen die Elektronen die atomaren
Zustände mit den Hauptquantenzahlen n = 1 und n = 2 (in diesem Fall also l = 0 oder
l = 1) besetzen, wobei maximal 1 Elektron in der n = 2 Schale sein soll, so dass die
Energien der Zustände als Summe der Einteilchenenergien also die Werte
 
1 5
E = E0 ∗ 2 oder E = E0 ∗ 1 + = E0 ∗ (1.63)
22 4
annehmen können, je nachdem ob zwei Elektronen in der n = 1 Schale oder ein Elektron
in der n = 1 Schale und das zweite in der n = 2 Schale konfiguriert sind. Dabei ist
E0 um einen Faktor 4 größer als die Grundzustandsenergie des Wasserstoffatoms, da die
atomaren Energien mit dem Faktor Z 2 skalieren
E0 = Z 2 ∗ E0H = −4 ∗ 13.6 eV .

Da Elektronen Fermionen sind müssen wir bei dieser Konstruktion der möglichen Zwei-
teilchenzustande, man spricht auch von Konfigurationen, das Pauli Prinzip beachten. Wir
unterscheiden dabei die folgenden Fälle:

MS =0: Die beiden Elektronen haben eine unterschiedliche Spinprojektion. Das eine den
Eigenwert für ŝz , den Spinoperator in z-Richtung, von +1/2h̄ (ms = +1/2), das
andere ms = −1/2. In diesem Fall ist also die Summe der Spinprojektion
MS = ms,1 + ms,2 = 0 .
1.5. UNUNTERSCHEIDBARE TEILCHEN, DAS HELIUMATOM 25

Da die Spinprojektionsquantenzahlen unterschiedlich sind unterscheiden sich die


Einteilchenzustände also schon einmal in dieser Projektionsquantenzahl und wir
brauchen bei dem Aufbau der Konfigurationen auf das Pauli Prinzip keine Rücksicht
mehr nehmen. Es gibt also eine Konfiguration mit E = 2E0 und 8 Konfigurationen
mit E = 5/4E0 (Elektron 1(ms = 1/2) in n = 1 und Elektron 2 (ms = −1/2)
in jeweils einem der 4 Zustände mit n = 2; darüber hinaus gibt es aber natürlich
auch noch die Möglichkeit, dass Elektron 2 (ms = −1/2) in n = 1 und Elektron
1 (ms = 1/2) Zustände in in der n = 2 Schale besetzt). Insgesamt gibt es also 9
Konfigurationen mit MS = 0.

MS =1: Haben beide Elektronen eine Spinprojektion von ms = +1/2 so ist die Konfigura-
tion, bei der beide Elektronen in der n = 1 Schale sitzen, wegen des Pauliprinzipes
verboten. Wir haben also nur 4 mögliche Konfigurationen mit MS = 1/2 + 1/2 = 1
und alle haben die Energie E = 5/4E0 .

MS =-1: Das gleich gilt für den Fall, dass beide Elektronen eine Spinprojektion von ms =
−1/2 aufweisen.

Die Produktwellenfunktionen von den zwei Einteilchenwellenfunktionen des Typs (1.62)


können natürlich auch aufgefasst werden als eine Zweiteilchenfunktion vom Typ

Ψ(1, 2) = ψOrt (r1 , r2 )χSpin (1, 2) . (1.64)

Sie sind also faktorisiert in einen Ortsanteil und einen Spinanteil. In dieser Darstellung
kann man natürlich auch den Austauschoperator P̂12 aufteilen in einen Operator, der nur
auf den Ortsanteil, und eine zweiten, der nur auf den Spinanteil des Zustandes wirkt

P̂12 Ψ(1, 2) = P̂12,r ψOrt (r1 , r2 )P̂12,s χSpin (1, 2)


= −Ψ(1, 2)
= −ψOrt (r1 , r2 )χSpin (1, 2) . (1.65)

Die antisymmetrischen Zustände Ψ(1, 2) (Eigenzustände zu P̂12 mit dem Eigenwert -1)
sind also entweder ein Produkt aus einer symmetrischen Ortsfunktion ψOrt (Eigenfunk-
tion zu P̂12,r mit Eigenwert +1) und einer antisymmetrischen Spinfunktion χSpin (1, 2)
(Eigenfunktion zu P̂12,s mit Eigenwert -1) oder ein Produkt aus einer antisymmetrischen
Ortsfunktion und einer symmetrischen Spinfunktion.
Die Spinfunktionen mit definierter Symetrie sind gerade die Spinfunktionen, bei denen
die Spins der einzelnen Elektronen si zum Gesamts S = s1 + s2 gekoppelt sind. Wir
unterscheiden also zwischen den symmetrischen Spinfunktionen, bei denen die Spins par-
allel zueinander stehen und zum Gesamtspin S = 1 addiert oder gekoppelt sind und der
antisymmetrischen Spinfunktion, bei denen die Spins der beiden Elektronen antiparallel
zueinander stehen und einen Gesamtspin von S = 0 aufweisen. Im einzelnen gibt es also
3 symmetrische S = 1 Zustände mit MS = -1, 0, und +1 nämlich


 χ−1/2
  (1)χ−1/2 (2)  MS = −1
χS=1,MS (1, 2) = √1 χ
1/2 (1)χ
−1/2 (2) + χ−1/2 (1)χ1/2 (2) MS = 0 (1.66)

 2
 χ (1)χ (2) MS = 1
1/2 1/2
26 INHALTSVERZEICHNIS

Die antsisymmetrische Spinfunktion ist gegeben durch


1  
χS=1,MS =0 (1, 2) = √ χ1/2 (1)χ−1/2 (2) − χ−1/2 (1)χ1/2 (2) . (1.67)
2
Die Zustände des Helium Atoms bezeichnet man mit den folgenden Quantenzahlen:

N = n1 + n2 − 1
~
S = ~s1 + ~s1
~
L = ~l1 + ~l2
J~ = ~ +S
L ~. (1.68)

Dabei bezeichnen ni , s1 und li Hauptquantenzahl, Spin und Bahndrehimpuls der Einteil-


chenniveaus die von den zwei Elektronen (i = 1, 2) besetzt sind. S und L sind der gesamte
Spin und Drehimpuls, die wiederum zu einem Gesamtdrehimpuls J gekoppelt sind. Die
Bezeichnung dieser Zustände erfolgt nach dem Schema

N 2S+1 X(L)J mit X(L) = S, P , D, . . . für L = 0, 1, 2, . . . . (1.69)

Der obere Index (2S + 1) bezieht sich auf die Spin Entartung und wir unterscheiden im
Fall des Helium Atoms die Singulett oder S = 0 Zustände des Para-Heliums von den
Triplett oder S = 1 Zuständen des Ortho-Heliums. Nach unseren Überlegungen zu
(1.65) besitzen die Triplett Zustände eine anti-symmetrische Ortsfunktion. Dies bedeutet,
dass die Konfiguration mit beiden Elektronen in der ni = 1 Schale wegen des Pauli
Prinzipes verboten ist. Es verbleiben also als Zustände mit N ≤ 2 nur die Konfigurationen
mit

1. N = 2, l1 = l2 = 0 also L = 0, was uns nach der Nomenklatur (1.69) zum Zustand

2 3 S1

führt.

2. N = 2, l1 = 0, l2 = 1 also L = 1, was uns nach der Nomenklatur (1.69) die Zustände

23 P0 , 23 P1 , und 23 P2

liefert

Berücksichtigt man den Entartungsgrad (2 ∗ J + 1) der Zustände, so gibt es also insgesamt


12 Zustände des Ortho-Heliums mit N ≤ 2 (siehe auch die schematische Abb. 1.5).
Für das Para-Helium ergeben sich symmetrische Ortswellenfunktionen, da ja die Spin-
funktion antisymmetrisch ist. Dies erlaubt auch einen Zustand mit N = 1, nämlich die

1 1 S0

Konfiguration. Diese Konfiguration sollte die niedrigste Energie haben, was dem Grund-
zustand des Heliums entspricht (da die bisher vernachlässigte Wechselwirkung zwischen
1.5. UNUNTERSCHEIDBARE TEILCHEN, DAS HELIUMATOM 27

1 3
1
1
3 P1 3 D2 3 3 D1,2,3
3 S0 3 3 P0,1,2
3 S1

1
2 P1 3
1 2 P 0,1,2
2 S0
2 3 S1
Energie

(2S+1)
1
N LJ
1 S0

Para − Helium Ortho − Helium


Abbildung 1.5: Schematisches Termschema des Helium Atoms

den Elektronen zu keiner völligen Umordnung der Energiezustände führt). Für N = 2


ergeben sich die folgenden Konfigurationen

2 1 S0 und 21 P1 .

Damit ergeben sich also für das Para-Helium 1 Zustand mit N = 1 und 4 Konfigurationen
mit N = 2. Insgesamt erhalten wir also 1 Zustand mit N = 1 und 4+12=16 Zustände des
Helium mit N = 2.
Im Vergleich zu der Auflistung der Konfigurationen in der Basis der reinen Produktfunk-
tionen ohne Kopplung zu S, L und J ist natürlich die Zahl der Zustände gleich geblieben
und es ist gleichgültig in welcher Basis wir über die verschiedenen Konfigurationen der
Energie entarteten Zustände Buch führen. Die gekoppelte Basis ist lediglich eine spezielle
Alternative die Zustände mit gleichem N zu bezeichnen und zu klassifizieren.
Der Vorteil der gekoppelten Basis wird erst deutlich, wenn man die Effekte der Elektron-
Elektron Wechselwirkung berücksichtigt. Welche Korrekturen ergeben sich also durch die-
se Wechselwirkung?
In einem ersten Schritt wollen wir berücksichtigen, dass ein Elektron im Helium Atom
nicht nur die Attraktion durch die Kernladung mit Z = 2 spürt sondern auch eine gewisse
Repulsion durch das zweite Elektron. Dieses Elektron schirmt einen Teil der Kernladung
ab. Nehmen wir an, dass die Ladungsverteilung des Atomkerns plus die des abschirmenden
Elektrons, ρ(r), kugelsymmetrisch um den Koordinatenursprung ist, so ergibt sich für ein
Elektron im Anstand R von diesem Koordinatenursprung das Potenzial einer effektiven
Ladung Z(R), die gerade der Gesamtladung in der Kugel mit dem Radius R entspricht.
Für diese Ladung erhalten wir also

Z R
Z(R) = ρ(r) r2 dr , (1.70)
0
28 INHALTSVERZEICHNIS

r/a0
0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5

Coulomb-Potenzial

Z=2
Z=1
Z=Z(r) mit Abschirmung

Abbildung 1.6: Vergleich des Coulomb Potenzials für Kernladungszah Z = 1,


Z = 2 und für die effektive Kernladungzahl Z(r) bei der die Abschirmung
durch ein Elektron berücksichtigt wird

und damit ein Potenzial der Form


−Z(R)e2
V (R) = .
4πε0 R
Dieses Potenzial ist in Abb. 1.6 dargestellt. Es wurde berechnet unter der Annahme, dass
sich ρ(r) aus der Kernladung von 2 Protonen und der Ladung eines Elektrons im 1s Niveau
des Wasserstoffatoms ergibt. Man sieht also, dass sich für große Abstände (r > a0 mit a0
dem Bohrschen Radius) das Potenzial an das Potenzial für Z = 1 annähert, während für
kleine Abstände das Potenzial der Kernladung Z = 2 entspricht.
Das resultierende Potenzial ist also kein einfaches 1/r Potenzial. Dies bedeutet, dass die
Entartung der Zustände mit gleicher Hauptquantenzahl aber unterschiedlichem Wert für
den Bahndrehimpuls, die ja so charakteristisch für das Spektrum des Wasserstoffatoms
ist, aufgehoben wird. Ein Elektron in einem Zustand mit niedrigem Bahndrehimpuls l hat
eine größere Aufenthaltswahrscheinlichkeit in der Nähe des Atomkerns als ein solches mit
gleicher Hauptquantenzahl aber einegm größerem Wert für l. Dies ist eine Konsequenz
des Zentrifugalterms in der radialen Schrödinger Gleichung für l 6= 0. In Folge wird ein
Zustand mit niedrigerem l stärker gebunden sein als ein solcher mit hohem l. Qualitativ
ist dies im Termschema von Abb. 1.5 berücksichtigt.
Ein zweiter Effekt beruht auf der Symmetrie der Wellenfunktion der 2 Elektronen. Wir
haben bereits diskutiert, dass im Fall des Ortho-Heliums die Spinfunktion der beiden
Elektronen symmetrisch ist, so dass die Ortswellenfunktion antisymmetrisch sein muss.
Dies bedeutet aber nach (1.60) dass die Wahrscheinlichkeit beide Elektronen am gleichen
Ort zu finden identisch null ist. Die Elektronen halten sich also mit (im Vergleich zum
Para-Helium) geringerer Wahscheinlichkeit in Positionen mit kleinem Relativabstand auf
und spüren deshalb die repulsive Elektron-Elektron Wechselwirkung weniger stark als im
vergleichbaren Zustand des Para-Heliums. Auch dieser Effekt ist in Abb. 1.5 skizziert.
1.5. UNUNTERSCHEIDBARE TEILCHEN, DAS HELIUMATOM 29

Trotzdem ist natürlich der energetisch tiefste Zustand des Heliumatoms der 11 S0 Zustand
des Para-Heliums, da der entsprechende Zustand des Ortho-Heliums durch das Pauli
Prinzip verboten ist.
Der tiefste Zustand des Para-Heliums, 23 S1 ist metastabil, da er nicht durch Emission von
elektromagnetischer Dipolstrahlung in den Grundzustand übergeführt werden kann.
30 INHALTSVERZEICHNIS

3d
4s
3p Z=18
3s
2p Z=10
2s

1s Z=2

Abbildung 1.7: Schematisches Termschema zur Diskussion im Text. Die


aufgeführten Werte für Z geben an, wie viele Elektronenzustände bis zum
Auffüllen der jeweiligen Schale zur Verfügung stehen.

1.6 Periodensystem der Atome


Auf der Basis der Diskussion im vorhergehenden Abschnitt 1.5 zu den Effekten des Pauli
Prinzips und zur partiellen Abschirmung der Ladung des Atomkerns durch die Elektronen
können wir jetzt die Struktur der verschiedenen Atome sukzessiv entwickeln. Wir stellen
uns also vor, dass wir Schritt für Schritt Atome mit zunehmender Kernladungszahl Z
betrachten und mit jedem zusätzlichen Proton auch jeweils ein Elektron einfügen.
Als eine erste Näherung für die Darstellung der Konfigurationen der Elektronen betrachten
wir das schematische Termschema der Abb. 1.7. Wie wir bereits am Beispiel des Helium
Atoms diskutiert haben, wird durch die Abschirmung der Kernladung durch die Elektro-
nen die 1/r Abhängigkeit des Coulomb Potenzials modifiziert und damit die Entartung
der Niveaus einer Hauptschale aufgehoben: Zustände einer Hauptschale mit niedrigem
Bahndrehimpuls l sind dadurch stärker gebunden als solche mit hohem l. Dies ist in der
schematischen Dartsellung von Abb. 1.7 berücksichtigt.
Für den Grundzustand des Helium Atoms werden die zwei Elektronen die Niveaus der
N = 1 Hauptschale füllen. Um dabei dem Pauli Prinzip zu genügen, müssen die Spins der
Elektronen antiparallel orientiert sein und wir erhalten für den Grundzustand nur eine
Konfiguration mit einer Spinprojektion von MS = ms1 + ms2 = 0. Der Gesamtspin S ist
damit gleich Null (Para-Helium), wie wir ja auch bei bereits im vorhergehenden Abschnitt
festgestellt haben. Da die Bahndrehimpulse der N = 1 Konfiguration ebenfalls gleich Null
sind, tragen die beiden Elektronen in der 1s Schale also nichts zum gesamten Drehimpuls,
Spin und Gesamtdrehimpuls der Elektronen bei.
Wenn wir die Kernladungszahl auf Z = 3 erhöhen, das bringt uns zum Element Lithium
(Abkürzung Li), muss das weitere Elektron in der zweiten Hauptschale untergebracht
werden, also nach Abb. 1.7 in der 2s Schale. Dieses Elektron ist offensichtlich weniger
stark gebunden als die beiden Elektronen in der 1s Schale und es wird deshalb weniger
Energie kosten ein Lithium Atom zu ionisiern, als ein Helium Atom, bei dem ja dazu ein
Elektron aus der 1s Schale entfernt werden muss. Dieser Rückgang der Ionisierungsenergie
wird auch experimentell beobachtet, wie aus dem linken Teilbild von 1.8 ersichlich ist.
1.6. PERIODENSYSTEM DER ATOME 31

He K
Ne
60
20

m]
Ionisierungsenergie [eV]

3
Ar

-30
Li Na

Atomvolumen [10
40

10

20

Li Na K

0 0
0 5 10 15 20 0 5 10 15 20
Z Z

Abbildung 1.8: Ionisierungsenergie (linkes Teilbild) und Atomvolumen von


Atomen mit Z ≤ 20. Die Elemente mit extremen Werten sind durch ihre
Symbole dargestellt.

Wegen dieser relativ schwachen Bindung wird das Elektron sich auch relativ weit vom
Atomkern aufhalten, was zu einem großen Atomvolumen führt. Auch dies wird durch die
experimentellen Daten, die im rechten Teilbild von 1.8 dargestellt sind, bestätigt.
Erhöht man die Kernladungszahl auf Z = 4, das ist das Element Beryllium, kann das
vierte Elektron ebenfalls in der 2s Schale untergebracht werden. Durch die zusätzliche
Kernladung ist die Energie der 2s Schale im Vergleich zum Lithium abgesenkt. Dies führt
zu einem Anwachsen der Ionisierungsenergie und einer Reduktion des Atomvolumens (sie-
he Abb. 1.8). Dadurch dass alle Niveaus der 2s Schale im Beryllium aufgefüllt sind tragen
auch diese weiteren 2 Elektronen nichts zum gesamten Drehimpuls, Spin und Gesamtdre-
himpuls der Elektronen bei.
Weitere Elektronen müssen in der 2p Schale untergebracht werden. Beim Auffüllen des
zweiten Elektrons in die 2p Schale, das ist insgesamt das 6. Elektron und ist also für
Kohlenstoff (C) erforderlich, stellt sich die Frage: Ist es energetisch günstiger die Spins
der beiden Elektronen in der 2p Schale parallel zu orientieren, oder sollten die Spins der
Elektronen antiparallel ausgerichtet sein?
Zur Beantwortung dieser Frage überlegen wir uns, dass bei zwei parallelen Elektronenspins
die Spinwellenfunktionen dieser Elektronen symmetrisch ist. Wegen der Antisymmetrisie-
rung der Gesamtwellenfunktion muss damit die Ortswellenfunktion antisymmetrisch sein
(vergleiche auch Diskussion zu (1.65)). In diesem Fall ist aber die Wahrscheinlichkeit, dass
die 2 Elektronen nahe beieinander sind und die repulsive Elektron-Elektron Wechselwir-
kung besonders intensiv spüren, unterdrückt. Der Zustand mit parallelen Spins ist also
energetisch günstiger (vergleiche auch die Energien von entsprechenden Zuständen des
Ortho- und Para-Heliums). Dies führt zur Hundschen Regel: Im Grundzustand kop-
peln die Elektronenspins der Elektronen in einer Schale nl so, dass der größtmögliche Wert
des Spins entsteht ohne dass das Pauli Prinzip verletzt wird; die Elektronen versuchen
die Spins parallel zu orientieren.4
4
Dieser Effekt führt in der Festkörperphysik zum Ferromagnetismus
32 INHALTSVERZEICHNIS

Die Niveaus der 2p Schale sind aufgefüllt bei der Kernladungszahl Z = 10. Dies entspricht
dem Edelgas Neon. Edelgase sind also dadurch charakterisiert, dass die Elektronen im
Grundzustand die Niveaus einer Schale vollständig auffüllen. Zu den Edelgasen gehören
Helium (He), Neon (N e), Argon (Ar, Z = 18), Krypton (Kr, Z = 36) und Xenon (Xe,
Z = 54). Die aufgefüllte Schale impliziert eine große Ionisierungsenergie, was mit einer
Trägheit in Bezug auf chemische Reaktionen verbunden ist.
Ist die Kernladungszahl um eine Einheit größer als im Fall der Edelgase, so ist das zusätz-
liche Elektron in der nächsten Schale untergebracht und deshalb nur sehr schwach ge-
bunden. Daraus resultiert eine niedrige Ionisierungsenergie und ein großes Atomvolumen.
Beispiele für diese Alkaliatome sind Lithium (Li, Z = 3), Natrium (N a, Z = 11) und
Kalium (K, Z = 19).
Die Alkaliatome haben eine besonders einfache Elektronenstruktur. Sie besteht aus ab-
geschlossenen Schalen und einem zusätzlichen Elektron, dem Leuchtelektron oder Va-
lenzelektron. So sind z.B. im Fall des Alkaliatoms Natrium die 1s, 2s und 2p Schalen
mit 10 Elektronen gefüllt mit einem Gesamtdrehimpuls von L = S = J = 0. Im Grund-
zustand besetzt das elfte Elektron, das Valenzelektron, ein Niveau der 3s1/2 Schale. Viele
angeregte Zustände des Natrium sind dadurch charakterisiert, dass der Rumpf der 10
Elektronen seine Struktur nicht ändert und lediglich das Valenzelektron von der 3s1/2
Schale in ein anderes Niveau übergeführt wird. Ein bekanntes Beispiel dafür sind die An-
regungen des Valenzelektrons in die 3p1/2 Schale oder 3p3/2 Schale. Ist ein Natrium Atom
in einem solchen angregten Zustand, so wird es unter Emission eines Photons der Wel-
lenlänge λ1 von 589.6 nm vom 3p1/2 Zustand (bzw. durch ein Photon der Wellenlänge λ3
von 589.0 nm vom 3p3/2 Zustand) in den 3s1/2 zurückversetzt. Das entsprechende Licht
ist das charakteristische gelbe Licht einer Natrium Dampf Lampe. Untersucht man dieses
gelbe Natrium Licht mit einem Spektrometer guter Auflösung so erkennt man das Dublett
von zwei Linien, die durch die Feinstruktur Aufspaltung der 3p1/2 und 3p3/2 verursacht
wird.
Das Natrium im Grundzustand ist also ein Atom, dessen Drehimpuls nur durch den Spin
des Valenzelektrons im 3s1/2 Zustand bewirkt wird. Das Natrium würde sich also im
Stern-Gerlach Magnet wie ein neutrales Teilchen mit dem magnetischen Moment eines
Elektrons mit Spin 1/2 verhalten. Wegen seiner hohen Reaktionsfreudigkeit ist Natrium
allerdings kein besonders geeignetes Material für das Experiment. Stern und Gerlach
haben deshalb das Experiment lieber mit Silberatomen durchgeführt. Auch Silber besitzt
eine Elektronenstruktur mit einem Valenzelektron in einer s1/2 Schale.
Zum Abschluss dieses Abschnittes noch einige Bemerkungen zu theoretischen Berechnun-
gen der elektronischen Zustände in der Atomphysik. Genau genommen muss man zur
Berechnung der Zustände eines Atoms mit Z Elektronen die stationäre Schrödinger Glei-
chung für ein Problem mit Z + 1 Teilchen (Z Elektronen plus der Atomkern) lösen. Dies
ist auch mit der heute zur Verfügung stehenden Leistung von Computern nur für sehr
kleine Werte von Z möglich. Besonders erschwert wird die Lösung eines solchen Viel-
teilchenproblems durch die erforderliche Berücksichtigung der Antisymmetrisierung der
Wellenfunktion der Elektronen.
Zum Glück gibt es aber für das atomare Vielteilchenproblem eine Näherungsmethode, die
Mean Field oder Hartree Näherung, die Ergebnisse liefert, die für viele Untersuchungen
vollkommen ausreichend sind. Deshalb werden in der theoretischen Chemie solche Mean
1.6. PERIODENSYSTEM DER ATOME 33

Field Rechnungen häufig als mikroskopische “ab-initio” Rechnungen der atomaren Struk-
tur bezeichnet, obwohl solche Rechnungen natürlich nur eine relativ einfache Näherung
zur Lösung der Schrödinger Gleichung darstellen.
Wir wollen das Prinzip dieser Hartree Näherung hier kurz erläutern. Man kann solche
Rechnungen damit beginnen, dass man einen Ansatz für das das Coulomb Potenzial für
die Elektronen macht etwa in der Form
 
−e2 Z
U0 (r) = − a exp(−br) .
4πε0 r
Die Parameter a und b werden dabei so gewählt, dass U0 eine erste Näherung für das
Coulomb Potenzial des Atomkerns plus der Abschirmung durch die anderen Elektronen
darstellt. Für dieses Potenzial löst man dann die stationäre Schrödinger Gleichung für
jeweils ein Elektron der Masse me
( )
h̄2
− ∆ + U0 (r) ϕα (~r) = εα ϕα (~r) . (1.71)
2me

Die Z Elektronen werden dann in die Zustände α plaziert, die die niedrigsten Energien
haben, so dass das Pauli Prinzip erfüllt wird. Das Elektron im Zustand α bewirkt eine
Ladungsverteilung der Form
eρα (~r) = eϕα (~r)ϕ∗α (~r) .
Damit spürt also ein Elektron in einem Zustand α ein mittleres Coulomb Feld, das durch
die Z Ladungen im Atomkern und durch die Ladungsverteilungen der Z − 1 Elektronen
in den besetzten Zuständen β 6= α hervorgerufen wird, in der Form
 
−e2  Z X Z ρβ (~
r ′) 3 ′
Uα (~r) = − dr . (1.72)
4πε0 r β6=α |~r − ~r ′ |

Dieses Uα ist offensichtlich eine bessere Näherung für das mittlere Coulomb Potenzial als
unser Ansatz U0 . Man löst deshalb im nächsten Schritt die Schrödinger Gleichung (1.71)
für diese verbesserte Version und erhält damit neue Einteilchenenergien εα und Wellen-
funktionen ϕα . Mit diesen verbesserten Wellenfunktionen berechnet man das Potenzial
Uα in (1.72) neu, löst mit diesem neuen Potenzial wieder die Schrödinger Gleichung und
führt diese Iteration fort, bis sich die Ergebnisse der Iteration stabilisieren und man eine
selbstkonsistente Lösung der Gleichungen (1.71) und (1.72) erhält.
Dieses Verfahren, das man als “Mean Field” oder Hartree Näherung bezeichnet, berück-
sichtigt das Pauli Prinzip in dem Sinne, dass es dieses Prinzip bei der Besetzung der
Zustände beachtet. Vernachlässigt wir aber noch die Antisymmetrisierung zwischen dem
Nukleon im Zustand α, für das Uα berechnet wird, und dem Elektron im Zustand β mit
dem die Wechselwirkung stattfindet. Diese Effekte werden in einer Verbesserung der Har-
tree Näherung, der sogenannten Hartree-Fock Näherung berücksichtigt. Diese Hartree-
Fock Näherung führt zu nichtlokalen Potenzialen, was die Lösung der Schrödinger Glei-
chung erschwert (aus einer Differenzialgleichung wird eine Integro-Differenzialgleichung).
Aber auch diese Hartree-Fock Näherung ist nur eine grobe Näherung, bei der Korrelatio-
nen zwischen den wechselwirkenden Elektronen vernachlässigt bleiben.
50 INHALTSVERZEICHNIS

1.10 Molekülphysik
Ein einfaches Beispiel zum Verständnis der Mechanismen, die einzelne Atome zu Mo-
lekülen zusammenführen ist das Molekül des Kochsalzes, N a Cl, mit jeweils einem Na-
trium (N a) und einem Chlor (Cl) Atom. Das Natrium ist ein Alkali Atom mit einer
niedrigen Ionisierungsenergie für das Valenzelektron (siehe Absch.1.6). Es kostet also nur
relativ wenig Energie, aus einem neutralen N a Atom ein einfach positiv geladenes Natrium
Ion, N a+ , zu machen. Das Chlor Atom auf der anderen Seite besitzt ein Elektron weniger
als das Edelgas Argon. Es hat also noch für genau ein weiteres Elektron Platz in der 3p
Schale. Man spricht auch davon, dass das Chlor ein Loch in der 3p Schale aufweist. Die
Energie für die Bindung eines weiteren Elektrons am Chlor Atom und damit zur Bildung
eines Cl− Ions ist also relativ niedrig. Es liegt daher nahe, dass Energie gewonnen wird,
wenn ein Natrium Atom ein Elektron an ein Chlor Atom abgibt und sich diese beiden
Ionen dann zu einem elektrisch neutralen Molekül zusammenbinden.
Dieser ionische Bindungsmechanismus wird deutlich, wenn man Kochsalz Moleküle
in Wasser bringt: Die Wasser Moleküle besitzen ein elektrisches Dipolmoment, so dass
Wasser ein gutes dielektrisches Medium darstellt. Dies bedeutet, dass die Ladungen der
Ionen durch das Medium abgeschirmt werden, wodurch die Coulomb Anziehung zwischen
den Ionen reduziert wird. Dadurch wird der Molekülverbund im Wasser gelöst und man
findet die unabhängigen Ionen.
Die chemische Wertigkeit eines Elementes für die ionische Bindung ist also durch die
Besetzung der Valenzschale, das ist die äusserte Schale in der Elektronen untergebracht
sind, zu erklären. Sind im Vergleich zum Entartungsgrad der Valenzschale nur wenige
Zustände der Valenzschale besetzt, so ist es energetisch relativ einfach diese Elektronen
abzuführen, das Atom hat also die Tendenz ein positiv geladenes Ion zu bilden. Sind nur
wenige Löcher in der Valenzschale, so nimmt das Atom gerne weitere Elektronen auf.
Diese ionische Bindung liefert eine einfache Erklärung für die Bindung von unterschiedli-
chen Atomen zu einem Molekül. Was aber bewegt zum Beispiel zwei Wasserstoff Atome
ein H2 Molekül zu bilden? In diesem Fall liefert ja die Ionenbildung keine energetischen
Vorteile.
Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir zunächst einmal ein System aus zwei Atom-
kernen des Wasserstoff, also zwei Protonen, und einem Elektron. Diese 3 Teilchen könnten
sich also zu einem positiv geladenen H2+ Ion verbinden. Zur Beschreibung dieses Systems
müssen wir eigentlich die Schrödinger Gleichung für drei Teilchen lösen. Bevor wir uns
aber blind in diese Aufgabe stürzen, überlegen wir uns, dass die sehr viel schwerern Pro-
tonen sich in der Regel sehr viel langsamer bewegen werden als das leichte Elektron.
Wegen der großen Masse Mp der Protonen ist die kinetische Energie eines Protons bei
etwa gleichem Impuls p sehr viel kleiner als die des Elektrons
p2 p2
≪ .
2Mp 2Me
Es ist also doch venünftig in einem ersten Schritt die kinetischen Energien der Protonen
zu vernachlässigen, die Protonen also auf feste Positionen mit einem Abstand R zu fi-
xieren, und die Schrödinger Gleichung für die Bewegung des Elektrons im Coulombfeld
dieser beiden Protonen zu lösen. Dieser Ansatz, zunächst einmal das Problem der Elek-
tronen in einem Feld festgehaltener Kernladungen zu lösen und dann im zweiten Schritt
1.10. MOLEKÜLPHYSIK 51

die Bewegung der Atomkerne zu optimieren ist als Born - Oppenheimer Näherung
bekannt.
Natürlich kennen wir die Lösung der Schrödinger Gleichung für ein Elektron im Feld eines
einzelnen Protons an der Stelle ~ra . In diesem Fall hat der Hamiltonoperator die Form
p2 e2
H0a = − , (1.102)
2Me 4πε0 |~r − ~ra |
und die stationäre Schrödinger Gleichung liefert
H0a |Φa i = ε0 |Φa i , (1.103)
mit der Energie des Grundzustandes für das Wasserstoffatom ε0 von -13.6 eV und der
Wellenfunktion dieses Zustandes, der Lösung bezogen auf das Zentrum des Atoms an der
Stelle ~ra :
Φa (~r) = h~r|Φa i = γe−|~r−~ra |/(2a0 ) , (1.104)
mit a0 dem Bohrschen Radius und γ einer Konstante zur Normierung der Wellenfunktion
(Vergleiche z.B. Abschnitt 10.3 der Physik III). Eine entsprechende Lösung Φb gibt es
natürlich auch für den Hamiltonoperator H0b mit dem Zentrum des Atomkerns bei ~rb , der
Position des zweiten Protons.
Der Hamiltonoperator für Elektron im Coulombfeld der beiden Protonen hat dann die
Form
p2 e2 e2
H = − −
2Me 4πε0 |~r − ~ra | 4πε0 |~r − ~rb |
e2
= H0a −
4πε0 |~r − ~rb |
e2
= H0b − . (1.105)
4πε0 |~r − ~ra |
Die Coulomb Potenziale der einzelnen Protonen Va und Vb , so wie das gesamte Coulomb
Potenzial sind in Abb. 1.9 dargestellt.
Für die Lösung dieses Problems betrachten wir den Ansatz einer Linearkombination der
beiden Lösungen
|ψi = ca |Φa i + cb |Φb i , (1.106)
bei dem die Koeffizienten ca und cb noch zu bestimmen sind. Dieser Ansatz ist in der
Literatur unter der Abkürzung LCAO (für Linear Combination of Atomic Orbits) bekannt.
Er enhält natürlich die beiden Grenzfälle (ca = 1, cb = 0) und (ca = 0, cb = 1), bei
denen sich die Elektronen ausschliesslich am Atomkern a beziehungsweis b aufhalten.
Die Koeffizienten werden nun durch Lösen der Schrödinger Gleichung mit diesem Ansatz
bestimmt. Danach gilt:
! !
e2 e2
H|ψi = ca ε0 − |Φa i + cb ε0 − |Φb i
4πε0 |~r − ~rb | 4πε0 |~r − ~ra |
= E (ca |Φa i + cb |Φb i) . (1.107)
Bei der Anwendung von H auf |Φa i wurde die Darstellung der zweiten Zeile von (1.105)
während für die Anwendung von H auf |Φb i die dritte Zeile benutzt wurde. Für die weitere
52 INHALTSVERZEICHNIS

V
rb ra

Va
Vb
Va+Vb

Abbildung 1.9: Coulomb Potenzial für zwei Protonen an den Stellen ~ra und ~rb .

Berechnung multiplizieren wir die Gleichung (1.107) von links mit dem Bra Zustand hΦa |
und erhalten:
e2
ca ε0 hΦa |Φa i +ca hΦa | − |Φa i +
| {z } 4πε0 |~r − ~rb |
=1
e2
+ cb ε0 hΦa |Φb i + cb hΦa | − |Φb i
4πε0 |~r − ~ra |
= Eca hΦa |Φa i +Ecb hΦa |Φb i . (1.108)
| {z }
=1

Wir betrachten nun die verschiedenen Matrixelemente, die in dieser Gleichung auftauchen.
Der Überlapp zwischen Φa und Φb berechnet sich zu (vergleiche (1.104))
Z
2
X = hΦa |Φb i = γ d3 re−|~r−~ra |/(2a0 ) e−|~r−~rb |/(2a0 ) . (1.109)

Diese Zahl X ist positiv und kleiner als 1. Der genaue Wert hängt natürlich vom Abstand
R = |~ra − ~rb | der beiden Atomkerne ab. Genau so hängt auch der Überlapp dieser Funk-
tionen gewichtet mit dem Coulomb Potenzial einer der beiden Atomkerne von diesem
Abstand ab. Wir definieren dieses Integral
e2
U = hΦa | − |Φb i , (1.110)
4πε0 |~r − ~ra |
und können uns leicht davon überzeugen, dass der Wert von U negativ ist. Das gleiche
gilt auch für
e2
D = hΦa | − |Φa i , (1.111)
4πε0 |~r − ~rb |
Mit diesen Abkürzungen können wir die Gleichung von (1.108) zusammenfassen zu

(ε0 + D)ca + cb (ε0 X + U ) = E (ca + cb X) . (1.112)

Eine zweite Gleichung erhalten wir dadurch, dass wir die Gleichung (1.107) von links mit
dem Bra Zustand hΦb | multiplizieren. Mit Benutzung der Abkürzungen von (1.109) bis
1.10. MOLEKÜLPHYSIK 53

(1.111) ergbibt sich diese zweite Gleichung zu

(ε0 + D)cb + ca (ε0 X + U ) = E (cb + ca X) . (1.113)

Die beiden Gleichungen (1.112) und (1.113) lassen sich in Matrixform darstellen durch
! ! ! !
(ε0 + D) (ε0 X + U ) ca 1 X ca
=E . (1.114)
(ε0 X + U ) (ε0 + D) cb X 1 cb

Dies ist ein allgemeines Eigenwertproblem der Dimension 2. Es hat zwei Eigenwerte mit
entsprechenden Eigenvektoren: Eine symmetrische Lösung mit

f =ε + D+U
ca = cb und Energie E s 0 (1.115)
1+X
und eine antisymmetrische Lösung mit

f =ε + D−U
ca = −cb und Energie E a 0 (1.116)
1−X

Man kann sich davon überzeugen, dass der symmetrische Zustand eine Energie E f besitzt
s
die attraktiver ist als ε0 , während der antisymmetrische Zustand eine Energie aufweist, die
größer ist als ε0 . Für das Elektron ist es also energetisch günstiger, wenn es einen Zustand
einnimmt, der eine symmetrische Linearkombination des Atomorbits am Atomkern a und
des Orbits am Atomkern b darstellt, als sich nur einem der Atomkerne zuzuordnen (siehe
auch Abb. 1.10). Der genaue Wert von E f hängt natürlich noch vom Abstand R der
a
beiden Atomkerne ab, da ja alle Größen X, D und U von diesem Abstand abhängen.
Addiert man zu diesen Energien die Coulomb Repulsion zwischen den Atomkernen also

f + e2
Es = E s , (1.117)
4πε0 R
und entsprechend für Ea , so ergeben sich Werte für diese Energien als Funktion des Ab-
standes R, wie sie schematisch in Abb. 1.10 dargestellt sind. Man erhält ein Minimum der
Energie für die symmetrische Lösung bei einem Abstand von etwa 2.5 mal dem Bohrschen
Radius a0 des Wasserstoffatoms mit einer Bindungsenergie von etwa 1.76 eV. Bei kurzen
Abständen überwiegt die Coulomb Repulsion der Atomkerne, so dass sowohl Es als auch
Ea positive Werte annehmen.
Es ist also für das H2+ Ion energetisch günstiger, wenn sich die beiden Atomkerne das eine
Elektron teilen und einen Abstand von etwa 2.5 a0 einnehmen, als wenn das Elektron bei
einem Atomkern angesiedelt wird.
Zur Bildung des H2 Moleküls wird man auch das zweite Elektron in das Orbit der symme-
trischen Lösung (1.115) unterbringen. Damit dem Pauli Prinzip Rechnung getragen wird,
muss der Spin dieses zweiten Elektron antiparallel zum ersten Elektron orientiert werden.
Schliesslich muss auch noch die Repulsion zwischen den beiden Elektronen berücksichtigt
werden. Genauere Rechnungen als die hier vorgestellte LCAO Näherung reproduzieren
den experimentellen Wert von einer Bindungsenergie von 4.476 eV recht gut.5
5
siehe z.B. die ausführlichere Diskussion in Demtröder: Experimentalphysik 3, Abschnitt 9.2
54 INHALTSVERZEICHNIS

antisym.

2.5a
R
1.76 eV

symm.

symmetrisch
R antisymmetrisch
Elektronendichte

ra rb

Abbildung 1.10: Energien (oberes Bild) und Elektronendichten (unteres Bild)


für die symmetrische und asymmetrische Lösung der LCAO Gleichungen als
Funktion des Abstandes der Atomkerne siehe (1.115) und(1.117).
1.10. MOLEKÜLPHYSIK 55

Ein solches H2 Molekül mit 2 Atomen der Masse M in einem Abstand R voneinander, ist
die einfachste Realisierung eines starren Körpers. So erwartet man natürlich auch, dass
ein solcher Körper Rotationsbewegungen ausführen kann mit einer Drehachse, die senk-
recht zur Verbindungslinie steht. Das klassische Trägheitsmoment für diese Drehbewegung
ergibt sich zu
 2
R
Θ = 2M , (1.118)
2
und die Energie dieser Rotationsbewegung ist

J~ 2
EJ = ,

wobei J~ den Drehimpuls bezeichnet. Beim Übergang zur Quantenmechanik müssen wir
beachten, dass der Drehimpuls quantisiert ist und es ergibt sich die Energiebeziehung

h̄2 J(J + 1)
EJ = , (1.119)

wobei die Drehimpulsquantenzahl J ganze Werte annimmt. Hat man ein Atom zu solchen
Rotationen angeregt, so wird es seine Drehbewegung schrittweise verlangsamen und bei
jedem Übergang J + 1 → J die Energie in Form eines Photons abgeben mit der Energie

h̄2 [(J + 2)(J + 1) − J(J + 1)]


∆J+1→J = EJ+1 − EJ =

2
h̄ (J + 1)
= .
Θ
Trägt man dieses Spektrum von Photonen als Funktion der Frequenzen auf, so erhält man
ein Spektrum äquidistanter Linien, was typisch ist für ein Rotationsspektrum. Aus der
Analyse solcher Rotationsspektren lassen sich Informationen über die Trägheitsmomente
und damit über die Form von Molekülen gewinnen.
Im Rahmen der klassischen Physik kann man sich auch vorstellen, dass das Molekül eine
Rotationsbewegung um die Verbindungslinie zwischen den beiden Atomen ausführt. Im
Rahmen der Quantenmechanik sind aber solche Rotationen um eine Symmetrieachse nicht
möglich. Man kann auch sagen, dass das Trägheitsmoment gegen Null geht und damit die
Anregungsenergien unendlich groß werden.
Weitere Anregungsmoden des Moleküls werden aus der Abb. 1.10 ersichtlich. Die Energie
des Systems hat ein Minimum, wenn die beiden Atome den otimalen Abstand zueinander
annehmen. Das System kann aber kleine Schwingungen um diesen optimalen Abstand
ausführen. Wie wir in der klassischen Mechanik gesehen haben können diese Schwingungen
für kleine Amplituden sehr gut durch die Schwingungen eines Harmonischen Oszillators
beschrieben werden. Bei einer quantenmechanischen Behandlungen erwarten wir also für
diese Vibrationszustände auch das Spektrum des Harmonischen Oszillators in der Form
 
1
EVib = h̄ω ν + mit ν = 0, 1, 2 . . . (1.120)
2
Die Frequenz dieser harmonischen Oszillatorschwingung liefert eine Aussage über die zwei-
te Ableitung des Potenzials und die Massen der beteiligten Atome. In einem komplexeren
56 INHALTSVERZEICHNIS

Atome entsprechen die Schwingungen den Normalschwingungen der Klassischen Mecha-


nik.
Die hier beschriebenen Rotationen und Vibrationen sind idealisierte Modelle für reali-
stische kollektive Anregungsmoden von Molekülen. Natürlich ist ein Molekül kein starrer
Rotator. Es ist zu erwarten, dass der optimale Abstand der beiden Atome des H2 Moleküls
mit zunehmendem Drehimpuls größer wird, was zu einer Vergrößerung des Trägheitsmo-
mentes führt. Allgemein wird man Kopplungen zwischen den Rotations- und Vibrations-
anregungen der Moleküle beobachten. Darüber hinaus existieren natürlich auch noch die
internen Anregungsmoden der beteiligten Atome.
Kapitel 2

Kern- und Teilchenphysik

2.1 Streuexperimente
Zu Beginn dieses Kapitels Kern- und Teilchenphysik wollen wir uns zunächst einmal die
Größenverhältnisse in einem Atom vor Augen führen. Wir wissen aus der Atomphysik,
dass der typische Radius eines Atoms von der Größenordnung eines Angstrom ist, also
10−10 m. Der Radius eines Atomkerns liegt in der Größenordnung von etwa 3 fm, also 3
10−15 m. Um eine bessere Vorstellung von diesem Größenverhältnis zu bekommen, multi-
plizieren wir diese Radien mit einem Faktor von 1014 . Bei dieser Vergrößerung entspricht
der Radius des Atomkerns mit 30 cm, etwa dem eines großen Spielballs, der Radius des
Atoms nimmt dann den Wert von 10 km man. Wenn wir uns also diese atomare Welt
so vergrößert vorstellen, dann ist praktisch die gesamte Masse in einer kompakten Kugel
mit einem Radius von 30 cm enthalten. Um diese Kugel fliegen im Abstand von einigen
Kilometern eine Handvoll Elektronen, die selbst aber so klein sind, dass man sie gar nicht
wahrnehmen kann. Bei dichtester Packung der Atome würde dann der nächste Nachbar-
kern, wiederum eine Kugel mit Radius 30 cm, in 20 Kilometer Entfernung auftauchen. Wir
sehen daran, dass die atomare Welt unter den Bedingungen wie wir sie hier auf der Erde
existiert doch sehr “dünn besiedelt” ist. Lediglich in sehr kompakten stellaren Objekten,
wie einem Neutronenstern, wird die Materie so komprimiert, dass das Vakuum zwischen
den Atomkernen aufgefüllt wird.
Woher wissen wir von dieser Verteilung der Materie? Welche Experimente haben die
Physiker davon überzeugt, dass das gerade skizzierte Atommodell richtig ist und nicht
etwa das Atommodell von Thomson, der annahm, dass Materie ein positiv geladenes
Kontinuum ist, in dem die negativen Ladungen, die Elektronen, wie Rosinen in einem
Kuchen verteilt sind?
Die Antwort auf diese Fragen wurde durch ein Experiment gegeben, das Rutherford 1910
in Zusammenarbeit mit Hans Geiger und Ernest Marsden in Manchester durchführte
und deutete. In diesem Rutherfordschen Streuexperiment wurden α-Teilchen, das
sind die Atomkerne von Helium und deshalb zweifach positiv geladen, auf eine Goldfolie
geschossen. Die α-Teilchen kamen aus einer Radium Quelle (siehe Abschnitt Radioakti-
vität über α Zerfall) und hatten eine maximale kinetische Energie von 7.7 MeV. Dabei
beobachteten Rutherford und seine Mitarbeiter, dass die meisten der α-Teilchen die Gold-
folie ohne Auslenkung durchdrangen. Einige wurden aber abgelenkt und von diesen aus

57
58 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

der ursprünglichen Bewegungsrichtung abgelenkten Teilchen wurden einige sogar in die


Rückwärtsrichtung gestreut.
Zur Deutung dieser experimentellen Ergebnisse wollen wir zunächst eine ganz klassische
Abschätzung vornehmen und dazu annehmen, dass die α-Teilchen mit ihrer Masse mα
und einer Anfangsgeschwindigkeit v0 an unbekannte, in der Goldfolie ruhende Teilchen
mit einer Masse mT (der Index T steht für Target) gestreut werden. Die Impulserhaltung
liefert uns die Beziehung:
mα~v0 = mα~vα + mT ~vT , (2.1)
wobei ~vα und ~vT für die Geschwindigkeiten des α-Teilchens und des Targets nach dem
Stoß stehen. Diese Gleichung können wir umformen zu
mT
~v0 = ~vα + ~vT . (2.2)

Die Energieerhaltung, die Teilchen besitzen nur kinetische Energie, liefert die Beziehung
1 1 1
mα v02 = mα vα2 + mT vT2 , (2.3)
2 2 2
was uns nach einfacher Umformung die folgende Beziehung liefert:
mT 2
v02 = vα2 + v
mα T
 2
2 mT mT
= vα + vT + 2 ~vT · ~vα . (2.4)
mα mα
Die zweite dieser Gleichungen ergibt sich durch Quadrierung der Beziehung (2.2). Diese
beiden Gleichungen liefern schliesslich
 
mT
vT2 1 − = 2~vT · ~vα . (2.5)

Betrachten wir diese Beziehung zunächst einmal unter der Annahme, dass es sich bei
den Targetteilchen um Elektronen handelt. In diesem Fall verhalten sich die Masse des
Targets mT zur Masse des α-Teilchens, welches aus 4 Nukleonen besteht, wie 1 zu 8000.
Die linke Seite der Beziehung (2.5) ist also eindeutig positiv. Damit müssen aber die
Geschwindigkeiten des α-Teilchens ~vα und die des Targets ~vT nach dem Stoß eher paral-
lel zueinander stehen. Sonst wäre ja das Skalarprodukt dieser Geschwindigkeiten auf der
rechten Seite von (2.5) negativ. Wegen der Imulserhaltung muss dann aber das α-Teilchen
auch nach dem Stoß in Vorwärtsrichtung weiterfliegen. Diese Überlegungen bestätigen nur
unsere intuitive Vorstellung, dass Teilchen wie das α-Teilchen durch Streuung an erheb-
lich leichteren und ruhenden Targetteilchen nicht wesentlich aus ihrer Bewegungsrichtung
abgelenkt werden.
Die Tatsache, dass bei der Rutherfordstreuung einige α-Teilchen die Goldfolie in Rückwärts-
richtung verlassen, deutet also darauf hin, dass die Teilchen, an denen die Streuung statt-
findet schwerer sein müssen. In der Tat ist ja auch die Masse eines Atomkerns des Golds
etwa 50 mal so groß wie die des α-Teilchens. Bei diesem Verhältnis von mT zu mα ist
die linke Seite von (2.5) negativ und damit sind die Geschwindigkeiten des Targets und
des α-Teilchens nach dem Stoß antiparallel. Die bedeuetet aber, dass das α-Teilchen mit
großer Wahrscheinlichkeit in Rückwärtsrichtung gestreut wird.
2.1. STREUEXPERIMENTE 59

.
.
.

.
.
Abbildung 2.1: Streuung von α-Teilchen an den Atomkernen einer Goldfolie

Das Experiment zeigt jedoch, dass nur wenige Teilchen das Target unter Rückwärtswin-
keln verlassen. Dies weist darauf hin, dass nur wenige von den α-Teilchen überhaupt an
den Targetteilchen gestreut werden. Die meisten verlassen die Goldfolie, ohne einen Stoß,
in Vorwärtsrichtung. Mit diesen einfachen kinematischen Überlegungen können wir also
bereits schliessen, das die Targetteilchen klein aber massiv sein müssen, wie das in Abb.
2.1 dargestellt ist.
Diese kinematischen Überlegungen sind aber eine grobe Vereinfachung, die uns nur erste
Hinweise über das Massenverhältnis der Stoßpartner liefern können. Für eine quantitative
Analyse müssen wir die Kräfte, die zwischen den Stoßpartnern wirken, genauer berücksich-
tigen. Im Fall der α-Streuung an den Atomkernen ist dies vor allen Dingen die Repulsion
der Coulombwechselwirkung zwischen der positiven Ladung des α-Teilchens, Zα e, und der
des Atomkerns, Ze. Diese Wechselwirkung wird durch das Coulomb Potenzial
Z Zα e 2
V (r) = , (2.6)
4πε0 r
beschrieben, mit r dem Abstand zwischen den Stoßpartnern. Die Streuung an einem
solchen 1/r Potenzial haben wir bereits in der Klassischen Mechanik behandelt. Dabei
haben wir gesehen, dass die Trajektorien der gestreuten Teilchen durch Hyperbel Funk-
tionen beschrieben werden. Es ergab sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem
Stoßparameter b (das ist der Abstand in dem das Projektil am Streuzentrum vorbeifliegen
würde, wenn keine Wechselwirkung vorhanden wäre) und dem Streuwinkel θ (siehe auch
Abb. 2.2) !
Z Zα e 2 1 θ
b= cot . (2.7)
4πε0 2E 2
Dabei ist E die Energie des gestreuten α-Teilchens.
Dies bedeutet, dass alle Projektile, die mit einem Streuparameter aus dem Intervall
[b, b + db] einlaufen, unter einem Streuwinkel aus dem Intervall [θ, θ + dθ] gestreut werden.
Also alle Projektile die in der Ringfläche der Größe 2πb db eintreten werden in eine Ring-
fläche mit dem Streuwinkel θ gestreut. Natürlich können wir diese Ringflächen auch noch
bezüglich des Azimuthwinkels ϕ segmentieren und erhalten die Regel, dass alle Projektile,
die durch die Fläche
dσ = b db dϕ , (2.8)
60 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Streuwinkel Θ
1
0 111
000
0
1 000
111
0
1 000
111
000
111
000
111
Streupar. b
Abbildung 2.2: Trajektorie eines gestreuten Teilchens

eintreten, in das Winkelsegment


dΩ = sin θ dθ dϕ , (2.9)
gestreut werden. Stellt man also im Abstand R einen Detektor für die gestreuten Teilchen
auf, der den Winkelbereich [θ0 , θ1 ] beziehungsweise [ϕ0 , ϕ1 ] abdeckt, so hat dieser die
Fläche Z Z ϕ1 Z θ1
2 2
∆F = R dΩ = R dϕ sin θ dθ . (2.10)
ϕ0 θ0

Nimmt man an, dass die Targetfläche gleichmäßig mit Projektilen bestrahlt wird, so ist
die Wahrscheinlichkeit, Projektile nach der Streuung in einem Winkelbereich dΩ zu finden
gleich der Fläche dσ durch die die Projektile einlaufen müssen um in diesen Winkelbereich
gestreut zu werden:

dσ = dΩ .
dΩ
Das Verhältnis dσ zu dΩ nennt man den differenziellen Wirkungsquerschnitt für die
Streuung in den entsprechenden Winkelbereich. Dieser differenzielle Wirkungsquerschnitt
ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit einer Streuung in den bezeichneten Winkelbereich.
Er hat die Dimension einer Fläche und entspricht ja auch gerade der Größe der Eintritts-
fläche. Zur Berechnung bilden wir das Verhältnis aus den entsprechenden Größen in (2.8)
und (2.9)
dσ b db dϕ b db
= = . (2.11)
dΩ sin θ dθ dϕ sin θ dθ
Für den speziellen Fall der Streuung an einem Coulomb Potenzial können wir aus der
Beziehung (2.7) die entsprechende Ableitung berechnen
!
db Z Zα e 2 1 1 1
= − 2 . (2.12)
dθ 4πε0 2E sin θ/2 2
Ausserdem berechnen wir aus (2.7) den Faktor
b Z Zα e2 1 cot(θ/2)
= (2.13)
sin θ 4πε0 2E sin θ
Ersetzen wir in diesem Ausdruck
cot(θ/2) cos(θ/2) cos(θ/2) 1
= = = 2 ,
sin θ sin(θ/2) sin θ sin(θ/2)2 sin(θ/2) cos(θ/2) 2 sin (θ/2)
2.1. STREUEXPERIMENTE 61

und setzen (2.12) und (2.13) in (2.11) ein, so ergibt sich der differenzielle Wirkungsquer-
schnitt für die Rutherford Streuung im Rahmen der Klassischen Mechanik zu
!2
dσ Z Zα e 2 1 1 1

= 4 . (2.14)
dΩ 4πε0 2E 4 sin (θ/2)

Dabei haben wir den Betrag des Ausdruckes betrachtet, da ja der differenzielle Wirkungs-
querschnitt eine Wahrscheinlichkeit darstellt und deshalb positiv definit sein muss.
Wie bestimmt man den differenziellen Wirkungsquerschnitt nun aber im Experiment?
Man misst dazu die Zahl der Projektile, die in einem bestimmten Zeitintervall in den
betrachteten Raumwinkel gestreut werden, dn, und die Zahl der Projektile, die insgesamt
in dieser Zeiteinheit auf das Target geschossen werden, N0 . Das Verhältnis dieser beiden
Zahlen ist gleich dem Verhältnis der Fläche, die getroffen werden muss, damit das Projektil
in den Raumwinkel dΩ gestreut wird, zur gesamten bestrahlten Fläche F
dn NT b db dϕ
= , (2.15)
N0 F
dabei haben wir berücksichtigt, dass in dem Target nicht nur ein Streuzentrum vorliegt
sondern NT . Im Zähler dieses Ausdruckes steht also gerade das Produkt aus NT und dσ
(siehe (2.8)). Damit können wir dieses Verhältnis auch umschreiben in

dn NT dσ

= dΩ .
dΩ
(2.16)
N0 F

Die Gesamtzahl der Streuzentren im bestrahlten Volumen, NT ist gleich der Atomdichte
multipliziert mit dem Volumen. Dabei ist das Volumen als Produkt aus der Targetfläche,
F , multipliziert mit der Targetdicke t eingesetzt.
A0
NT = F t ρ , (2.17)
A
wobei ρ die Massendichte des Targetmaterials, A das Atomgewicht des Targets nd A0 die
Avogadrozahl bezeichnen. Setzt man diesen Ausdruck für NT in (2.15) ein, so ergibt sich
für den differenziellen Wirkungsquerschnitt

dσ A0 1 dn

= tρ (2.18)
dΩ A N0 dΩ

Das Verhältnis dn/dΩ bezeichnet dabei die Zahl der Projektile, die in dem vorgegebenem
Zeitintervall im Detektor, der den Raumwinkel dΩ abdeckt (siehe auch (2.10)), registriert
werden. Damit stehen also auf der rechten Seite nur Größen, die im Experiment bestimmt
werden können, so dass mit (2.18) eine Messvorschrift zur Bestimmung des differenziellen
Wirkungsquerschnittes gegeben ist.
Mit dieser Messvorschrift einerseits und dem Ausdruck für den berechneten Wirkungs-
querschnitt (2.14) andererseits haben wir also die Möglichkeit die theoretische Vorhersage
für den differenziellen Wirkungsquerschnitt mit experimentellen Werten zu vergleichen.
Der differenzielle Wirkungsquerschnitt ist sozusagen die Schnittstelle zum Vergleich von
Theorie und Experiment bei Streuversuchen.
62 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

pf

111111
000000
pi 000000
111111
000000
111111
000000
111111
θ
000000
111111
000000
111111
000000
111111
000000
111111
000000
111111
000000
111111
000000
111111
Abbildung 2.3: Impulse vor und nach einer elastischen Streuung

Bei unseren Überlegungen zur Berechnung des differenziellen Wirkungsquerschnittes ha-


ben wir unbewegliche Streuzentren angenommen. Zur Berücksichtigung von Rückstoßef-
fekten, dass also etwa durch die Streuung der α-Teilchen auch die Atomkerne des Targets
in Bewegung versetzt werden, transformiert man die Darstellung des Streuprozesses am
geschicktesten in die Koordinaten des Schwerpunktes aus Projektil und Target und den
Relativkoordinaten. Wir vezichten an dieser Stelle auf die Darstellung dieser rein kinema-
tischen Transformation.
Außerdem haben wir bisher die Effekte der Quantenmechanik vernachlässigt, was hier
nun korrigiert werden soll. Auch bei der quantenmechanischen Behandlung wollen wir
Rückstoßeffekte venachlässigen und uns auf die Behandlung der elastische Streuung, bei
der keine Energie auf das Streuzentrum übertragen wird, beschränken.
Damit ist der Betrag des Projektilimpulses vor der Streuung, p~i , gleich dem Betrag des
Impulses nach der Streuung, p~f ,
|~pi | = |~pf | = p , (2.19)
und die beiden Impulse unterscheiden sich nur durch die Richtung (siehe Abb. 2.3). Die
Differenz dieser Impulse entspricht dem Impuls, der auf das Target übertragen wird und
trägt daher auch den Namen Impulstransfer

~q = p~i − p~f . (2.20)

Der Betrag dieses Impulstransfers berechnet sich aus

q 2 = (~pi − p~f )2
= p2i + p2f − 2pi pf cos θ
= 2p2 (1 − cos θ)
 
= 2p2 2 sin2 (θ/2) . (2.21)

Dabei haben wir (2.19) ausgenutzt und die Tatsache, dass das Skalarprodukt von p~i und
p~f durch das Produkt der Beträge und dem Cosinus des Streuwinkels θ gegeben ist (siehe
Abb. 2.3). Bei vorgegebener Energie der Projektile und damit vorgegebenem Betrag des
Impulses p nimmt also der Impulstransfer q Werte an zwischen

0 ≤ q ≤ 2p für 0 ≤ θ ≤ π, (2.22)
2.1. STREUEXPERIMENTE 63

der maximale Impulstransfer, q = 2p, ergibt sich also für Rückwärtsstreuung bei θ = π.
Für die Berechnung des Wirkungsquerschnittes betrachten wir zunächst einmal die Re-
aktionsrate für den Übergang p~i → p~f . Nach Fermis Goldener Regel ist diese Über-
gangsrate gegeben durch

Wi→f = |Mf i |2 ρf (E) . (2.23)

Wir können an dieser Stelle diese Goldene Regel nicht beweisen und verweisen dazu auf
die Vorlesung Quantenmechanik. Aber wir wollen diese Regel plausibel machen.
Die Übergangsrate oder Reaktionsrate Wi→f ist zunächst einmal verknüpft mit der Wahr-
scheinlichkeitsamplitude
Mf i = hf |H̃|ii , (2.24)
das Matrixelement des Überganges vom Anfangszustand |ii unter Einfluss der Wechsel-
wirkung H̃ zum Endzustand |f i. Dieses Matrixelement ist die Projektion des Zustandes
H̃|ii auf den Endzustand. Die Übergangswahrscheinlichkeit ist dann aber proportional
zum Betragsquadrat dieser Amplitude, wie das auch in (2.23) erfolgt.
Außerdem die Übergangswahrscheinlichkeit aber auch proportional zum Entartungsgrad
des Endzustandes, oder allgemeiner gesagt zur Dichte der Endzustände bei der entspre-
chenden Energie, ρf (E).
Wie sieht diese Endzustandsdichte im konkreten Fall aus? Sie ist gegeben durch den
Quotienten aus der Anzahl der Phasenraumzustände dn(E) bei der Energie E und dem
Energieintervall dE
dn(E) V 4πp2 dp
ρf (E) = = . (2.25)
dE (2πh̄)3 mp dp
Bei der zweiten Gleichung haben wir ausgenutzt, dass n(E) sich als das Produkt des
betrachteten Volumens im Ortsraum V und der Zahl der Zustände mit der Energie E =
p2 /2m im Impulsraum dividiert durch das Planksche Wirkungsquantum h = 2πh̄ zur
dritten Potenz ergibt. Außerdem berechnen wir aus der Energie - Impulsrelation
p2 p
E= → dE = dp .
2m m
Der differenzielle Wirkungsquerschnitt hängt mit der Reaktionsrate W zusammen über

dσ Wi→f

= , (2.26)
dΩ 4π j
mit der Stromdichte j im Eingangskanal
p 1
j= .
mV
All dies zusammengefasst ergibt

dσ V 2 m2

= |Mf i |2 . (2.27)
dΩ (2π)2 h̄4

Wenden wir uns nun der Berechnung der Übergangsamplitude zu

Mf i = hf |H̃|ii . (2.28)
64 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Die Wechselwirkung H̃ ist in unserem Beispiel der Streuung von α Teilchen am Coulomb
Potenzial des Atomkerns gegeben durch

H̃ = Zα e Φ(~r) , (2.29)

mit Φ(~r) dem Coulomb Potenzial der Ladungsverteilung des Atomkerns an der Position
~r des Projektils α-Teilchen. Die Berechnung des Matrixelementes in (2.28) führen wir in
der Bornschen Näherung, das ist die Störungstheorie in der ersten Ordnung, durch.
Dies bedeutet, dass wir für den Anfangs- und den Endzustand die Wellenfunktion des
entsprechenden freien α-Teilchens (also ohne eine Störung durch das Coulomb Potenzial)
annehmen. Konkret bedeutet dies für den Anfangszustand mit dem Impuls p~i = h̄~ki die
Wellenfunktion
1 ~
ψi (~r) = h~r|ii = √ eiki~r ,
V
und ~
√ entsprechend für den Endzustand mit dem Impuls p~f = h̄kf . Der Normierungsfaktor
1/ V ist dabei so gewählt, dass die Wellenfunktionen in dem Volumen V auf eins normiert
sind. Damit ergibt sich die Berechnung des Matrixelementes (2.28) in der Ortsdarstellung
zu
1 Z 3 −i~kf ~r ~
Mf i = d re Zα e Φ(~r)eiki~r
V Z
1 ~
= d3 r eik~r Zα e Φ(~r) . (2.30)
V

Dabei haben wir den Wellenzahlvektor ~k = ~ki − ~kf eingeführt, der mit dem Impulstransfer
aus (2.20) über ~q = h̄~k verknüpft ist.
Zur Berechnung dieses Integrals verwenden wir die Greensche Identität
Z Z
d3 r Φ∆Ψ = d3 r Ψ∆Φ , (2.31)

die gilt, wenn das Oberflächenintegal über den Rand des R3 für die beteiligten Felder Φ
und Ψ Z
~ (Φ∇Ψ
df ~ − Ψ∇Φ)~ = 0.

Wir betrachten diese Identität für den Fall, dass wir Φ mit dem Coulomb Potenzial des
Targetkerns identifizieren, so dass mit der Poisson Gleichung gilt
ρ
∆Φ = − , (2.32)
ε0

wobei ρ(~r) die die Quelle des elektrischen Feldes also die Ladungsverteilung des Target-
kerns ist. Für Ψ nehmen wir die Funktion

h̄2 i~k~r
Ψ(~r) = − e , (2.33)
q2

an. Damit gilt nämlich


~
∆Ψ = eik~r .
2.1. STREUEXPERIMENTE 65

Mit dieser Nomenklatur können wir (2.30) umschreiben in


Zα e Z 3
Mf i = d r Φ∆Ψ
V
Zα e Z 3
= d r Ψ∆Φ
V ! !
Zα e h̄2 Z 3 i~k~r ρ(~r)
= − 2 d re −
V q ε0
Zα Z e2 h̄2 Z 3 i~k~r
= d r e f (~r) . (2.34)
V ε0 q 2
Dabei haben wir die Funktion f (~r) eingeführt über die Beziehung

ρ(~r) = Z e f (~r) ;

diese Funktion f (~r) entspricht also der Ladungsverteilung mit der Normierung, dass das
Integral über f (~r) auf 1 normiert ist. Außerdem führen wir den Formfaktor der La-
dungsverteilung, F (~q) ein über die Definition
Z
~
F (~q) = d3 r eik~r f (~r) , mit ~q = h̄~k . (2.35)

Der Formfaktor ist also bis auf die Normierung die Fouriertransformierte der Ladungsver-
teilung. Speziell für eine Punktladung ist die Funktion f (~r) die Diracsche Deltafunktion
und es gilt
f (~r) = δ(~r) → F (~q) = 1 , (2.36)
dass der zugehörige Formfaktor unabhängig vom Impulstransfer gerade gleich eins ist. Mit
dieser Definition des Formfaktors ergibt sich für das Matrixelement

Zα Z e2 h̄2
Mf i = F (~q) , (2.37)
V ε0 q 2
und mit (2.27) für den differenziellen Wirkungsquerschnitt unter Benutzung von (2.21)
!2
dσ V 2 m2 Zα Z e2 h̄2

= F 2 (~q)
dΩ (2π)2 h̄4 V ε0 q 2
!2
Zα Z e2 m 1 1
= 2 4
4πε0 p 4 sin (θ/2)



= F 2 (~q) , (2.38)
dΩ Rutherford

vergleiche auch (2.14) mit p2 /m = E.


Für eine Punktladung (F (~q) = 1, siehe (2.36)) ist also der differenzielle Wirkungsquer-
schnitt der Quantenmechanik, berechnet in der Bornschen Näherung, identisch mit dem
klassischen Ergebnis für die Rutherford Streuung (2.14). Für eine Ladungsverteilung, die
von der Punktladung abweicht, ist die Abweichung des Wirkungsquerschnittes von diesem
Rutherfordschen Wirkungsquerschnittes für eine Punktladung gegeben durch das Quadrat
des Formfaktors.
66 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Zur Ergänzung sei an dieser Stelle angeführt, dass dieses Ergebnis noch verallgemeinert
werden kann. Die Rutherford Streuung gilt für die Streuung von spinlosen Teilchen an
einem Coulomb Potenzial (α-Teilchen haben ja auch den Spin 0). Zur Beschreibung der
Streuung von Elektronen an einer Ladungsverteilung muss man neben der Coulomb Wech-
selwirkung auch die magnetische Wechselwirkung berücksichtigen. Dies gilt insbesondere
bei hohen Geschwindigkeiten. Die Streuung von Elektronen an einer Punktladung wird
durch den Wirkungsquerschnitt der Mott-Streuung beschrieben:

dσ dσ  



= 1 − β 2 sin2 (θ/2) , (2.39)
dΩ dΩ
Mott Rutherford
mit β = v/c und dem Streuwinkel θ. Auch in diesem Fall gilt für die Streuung an einer
ausgedehnten Ladungsverteilung

dσ dσ

=
dΩ

dΩ
F 2 (~q) . (2.40)
Mott

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich die Form einer Ladungsverteilung auf den
Wirkungsquerschnitt auswirkt, soll an dieser Stelle der Formfaktor für eine Ladungsver-
teilung berechnet werden, die sich homogen auf das Volumen einer Kugel mit dem Radius
R verteilt. In diesem Fall ist die Funktion f (r) also definiert durch
(
3
4πR3
für r ≤ R
f (r) =
0 für r > R

Damit berechnet sich der Formfaktor F (q) nach (2.35) in Kugelkoordinaten (dabei steht
ξ für cos ϑ und wir legen das Koordinatensystem so, dass der Impulstransfervektor ~k in
Richtung der z-Achse zeigt)

3 Z 2π Z R
2
Z 1
F (q = h̄k) = dϕ r dr dx eiqrξ
4πR3 0 0 −1
6π Z R 2 1  iqr −iqr

= r dr e − e
4πR3 0 ikr
6π Z R 2 2 sin(kr)
= r dr
4πR3 0 kr
sin(kR) − kR cos(kR)
= 3 . (2.41)
(kR)3

Für kleine Wellenzahlen k, bzw Impulstansfers q, ist F (q) = 1. Signifikante Abweichungen


des Formfaktors von dem einer Punktladung ergeben sich erst für große Impulstransfers.
So nimmt der Formfaktor den Wert null an für
qR
≈ 4.5 . (2.42)

Je kleiner der Radius R einer solchen Ladungsverteilung ist, umso größer muss der Im-
pulstransfer q sein, damit man eine signifikante Abweichung von der Streuung an einer
Punktladung im differenziellen Wirkungsquerschnitt beobachten kann. Ist der Impuls p
des Projektils und damit der maximal mögliche Impulstransfer q (siehe (2.21)) nicht groß
2.1. STREUEXPERIMENTE 67

1e-29

E=420 MeV

1e-30
Exp.

diff. Wirkungsq.
1e-31

1e-32

1e-33
40 60 80
Streuwinkel (Grad)

Abbildung 2.4: Differenzieller Wirkungsquerschnitt für elastische Elektronen-


streuung an 12 C. Die Energie der Elektronen ist 420 MeV, die durchgezogene
Linie entspricht dem berechneten Wirkungsquerschnitt unter der Annahme,
dass eine die Kernladung der einer homogen geladenen Kugel entspricht.

genug so kann man die Abweichung von der Punktladung nicht auflösen. Deshalb benötigt
man zur Untersuchung von besonders kleinen Strukturen besonders große Beschleuniger
um die Projektile auf die nötigen Impulse zu beschleunigen.
Als Beispiel für die elastische Streuung sind in Abb. 2.4 Daten für die elastische Streuung
von Elektrone am 12 C skizziert. Die Einschussenergie der Elektronen ist 420 MeV also
wesentlich höher als die Ruheenergie der Elektronen. Dies bedeutet dass wir den Impuls
der Elektronen in diesem extrem relativistischen Grenzfall unter Vernachlässigung der
Ruheenergie der Elektronen direkt aus der Energie berechnen können
q
E= (me c2 )2 + p2 c2 ≈ pc

zu p = 420 MeV/c. Die Winkelverteilung des differenziellen Wirkungsquerschnittes zeigt


ein Minimum oder auch eine Nullstelle bei einem Streuwinkel von θ gleich 50 Grad. Mit
(2.21) entspricht dies einem Impulstransfer von
q
q= 2p2 (1 − cos θ) ,

von 355 MeV/c. Mit (2.42) ergibt sich also eine Abschätzung für den Radius des Atom-
kerns von
4.5 4.5 4.5
R= h̄ = h̄c = 197.3 MeV fm = 2.497 fm .
q 355 MeV 355 MeV
Diese Abschätzung stimmt sehr gut mit den Ergebnissen von realistischeren Rechnungen
überein.
Natürlich gibt es inzwischen eine große Menge sehr präziser Daten und auch theoretische
Untersuchungen, die diese Daten mit großer Genauigkeit beschreiben. Aus solchen Ana-
lysen extrahiert man Details über die Form der Ladungsverteilung von Atomkernen. Die
Ergebnisse lassen sich kurz so zusammenfassen:
68 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

• Die Ladungsverteilung von mittleren und schweren Atomkernen mit einer Protonen-
zahl Z von 10 bis fast 100 zeigen eine Ladungsverteilung, die im Zentrum des Kerns
einen konstanten Wert annimmt, der fast unabhängig vom betrachteten Atomkern
ist.

• Am Rand fällt der Wert für die Ladungsdichte mit wachsendem vom Zentrum sehr
rasch auf den Wert null ab. Das Modell der homogen geladenen Kugel ist also eine
sehr gute Näherung.

Aus der Tatsache, dass die Dichte ρ im Zentrum der Atomkerne ziemlich unabhängig von
der Zahl der Nukleonen ist, ergibt sich also, dass das Volumen V der Kerne linear mit
der Nukleonenzahl A anwächst (ρ = A/V ). Da das Volumen proportional zu R3 ist ergibt
sich also zwischen dem Radius R der Atomkerne und der Nukleonenzahl die Beziehung

R = κ A1/3 .

Die Analysen der Elektronenstreudaten an den verschiedenen Atomkernen liefern eine


entsprechende Faustformel für die Radien mit

R = 1.21 A1/3 fm (2.43)


2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 69

2.2 Massenzahl und Bindungsenergie


Ein Atomkern besteht aus Nukleonen, den positiv geladenen Protonen und den elektrisch
neutralen Neutronen. Er ist also eindeutig gekennzeichnet durch die Angabe der

• Zahl der Protonen, die auch häufig Kernladungszahl genannt wird. Wir werden diese
Kernladungszahl in der Regel mit Z bezeichnen.

• Zahl der Neutronen, die wir in der Regel mit N bezeichnen werden.

• Alternativ kann man natürlich die Gesamtzahl der Nukleonen

A=Z +N, (2.44)

einführen und den Atomkern durch die Angabe von A und Z bzw. durch die Angabe
von A und N charakterisieren.

Damit das Atom insgesamt elektrisch neutral ist, muss es bei einem Atomkern mit Z
Protonen auch Z Elektronen besitzen. Die chemischen Eigenschaften eines Atoms sind
durch die Elektronenhülle definiert. Deshalb unterscheidet man auch die verschiedenen
Elemente nach der Zahl Z der Protonen beziehungsweise Elektronen.
So besitzt z.B. das Element Sauerstoff (chemische Bezeichnung O) jeweils 8 Elektronen
und hat damit auch die Kernladungszahl Z = 8. Zum Element Sauerstoff gibt es aber
Atomkerne mit ganz unterschiedlicher Anzahl von Neutronen. Man unterscheidet dieses-
unterschiedlichen Atomkerne des gleichen Elementes häufig dadurch, dass man die Nu-
kleonenzahl A als einen oberen Index zur Elementbezeichnung hinzufügt. So bezeichnen
etwa
16
O , 17 O und 18 O (2.45)
die Atomkerne des Sauerstoffs mit einer Nukleonenzahl A von 16, 17 und 18, beziehungs-
weise einer Neutronenzahl von 8, 9 und 10.
Atomkerne des gleichen chemischen Elementes, also mit gleichem Z aber unterschiedlicher
Neutronenzahl bezeichnet man als Isotope. Die Beispiele von (2.45) bezeichnen also
unterschiedliche Isotope des Elementes Sauerstoff mit Z = 8.
Analog bezeichnet man verschiedene Atomkerne mit gleicher Zahl von Neutronen als
Isotone. So sind z.B. die Atomkerne von
16 17 18
O, F und Ne (2.46)

Isotone mit der gemeinsamen Neutronenzahl N = 8, die sich durch die jeweiligen Kernla-
dungszahlen unterscheiden: Z = 8 für Sauertstoff (O), Z = 9 für Fluor (F ) und Z = 10
für Neon (N e).
Schließlich gibt es auch den Begriff der Isobare. Damit bezeichnet man verschiedene
Atomkerne mit identischer Gesamtnukleonenzahl. So sind also in unseren Beispielen 17 O
und 17 F Isobare zu A = 17 und 18 O und 18 N e Isobare zu A = 18.
Wir haben bereits verschiedene Methoden für die experimentelle Bestimmung der Masse
eines Atoms kennengelernt. Nach der Relativitätstheorie ist diese Masse eines Atoms
70 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

M (A, Z) verknüpft mit der Ruheenergie dieses Atoms über die Beziehung

ERuhe (A, Z) = M (A, Z)c2


= [Z(Mp + me ) + (A − Z)Mn ] c2 + ∆E(A, Z) . (2.47)

In der zweiten Zeile dieser Gleichung haben wir die Gesamtenergie aufgteilt in die Beiträge
durch die Ruheenergien der Konstituenten, also der Protonen, Elektronen und Neutronen
und einer Restenergie ∆E(A, Z).
Die Massen der Protonen Mp , der Neutronen Mn und der Elektronen me sind experimen-
tell sehr genau bekannt und gegeben durch

Mp = 938.272 MeV/c2 = 1.67262 · 10−27 kg ,


Mn = 939.565 MeV/c2 = 1.67492 · 10−27 kg ,
me = 0.511 MeV/c2 = 0.911 · 10−30 kg . (2.48)

Die Masse eines Atoms ist geringer als die Masse der Konstituenten, die Natur gewinnt
Energie dadurch, dass sich die Nukleonen zu einem Atomkern verbinden. Dieser Energie-
gewinn wird in (2.47) durch die negative Energie ∆E(A, Z) dargestellt.1 Den Betrag dieses
Energiegewinns bezeichnet man als Bindungsenergie des Atomkerns mit A Nukleonen
und Z Protonen.
Alternativ zur Darstellung in (2.47) gibt man die Ruheenergie eines Atoms auch häufig
mit Bezug auf die atomare Masseneinheit u an in der Form

ERuhe (A, Z) = A u c2 + δE(A, Z) , (2.49)

an. Die atomare Masseneinheit ist ein zwölftel der Atommasse des Kohlenstoffisotops 12 C
1
u= E (A = 12, Z = 6) = 931.481 MeV/c2 = 1.66043 · 10−27 kg . (2.50)
12 Ruhe
Die Größe δE(A, Z) in (2.49) bezeichnet man als Massenüberschuss oder “Mass Excess”.

2.2.1 Das Tröpfchenmodell der Kernphysik


Aus diesen Überlegungen sehen wir, dass man durch die Messung der atomaren Mas-
sen die Bindungsenergien oder Massenüberschüsse der Atomkerne bestimmen kann. Diese
Bindungsenergien sind daher wohl bekannt. Es gibt verschiedene Versuche, diese vielen
experimentellen Werte für die Bindungsenergie der Atomkerne durch eine einfache Para-
metrisierung darzustellen.
Eine sehr erfolgreiche Parametrisierung dieser Bindungsenergien ist durch die sogenannte
Bethe-Weizsäckersche Massenformel, benannt nach den Physikern Carl Friedrich von
Weizsäcker und Hanns Bethe, gegeben. Diese Formel wurde zunächst von Weizsäcker 1935
vorgeschlagen (siehe C.F.v.Weizsäcker, Zeitschrift für Physik 96 (1935) 431) und dann ein
1
Genau genommen enthält dieses ∆E(A, Z) auch den Energiegewinn durch die Bindung der Elektro-
nen an den Atomkern. Wir werden aber sehen, dass dieser Beitrag aus der Atomphysik, der ja in der
Größenordnung von einigen eV liegt, im Vergleich zu den Energiegewinnen aus der Bindungsenergie des
Kerns von mehrern MeV vernachlässigbar ist.
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 71

Jahr später von Bethe aufgegriffen (H.A.Bethe und R.F.Bacher, Rev. Mod. Phys. 8 (1936)
82) und leicht modifiziert in die Form
Z2 (A − 2Z)2 1
∆E(A, Z) = −aV A + aO A2/3 + aC 1/3
+ a S + δP 1/2 . (2.51)
A 4A A
Diese Parametrisierung enthält 5 Parameter (aV , aO , aC , aS , δP ), die an die experimen-
tellen Daten angepasst wurden. Diese Parameter haben sich mit der zunehmenden Zahl
experimenteller Daten immer wieder ein wenig verändert. Wir geben weiter unten Werte
an, die aus dem Buch P.Ring und P.Schuck The Nuclear Many-Body Problem Springer
Verlag (1980) entnommen wurden.
Der Ansatz für diese Parametrisierung ist natürlich nicht willkürlich gewählt sondern
basiert auf einer Modellvorstellung, dem Tröpfchenmodell der Kernphysik. Wir werden
im folgenden dieses Tröpfchenmodell und die Parameter der Bethe-Weizsäcker Formel
diskutieren.

• Der Volumenterm: Im Tröpfchenmodell geht man davon aus, dass die Wechsel-
wirkung zwischen den Nukleonen eine kurze Reichweite besitzen, ganz analog zur
attraktiven van der Waals Wechselwirkung, die die Moleküle einer Flüssigkeit zu ei-
nem Tropfen zusammenbindet. Hätte die Wechselwirkung eine Reichweite, die groß
ist im Vergleich zur Größe des Atomkerns, so würde die Bindungsenergie propor-
tional zu der Anzahl der wechselwirkenden Nukleonenpaare anwachsen, wäre also
proportional zu A2 . Wegen der kurzen Reichweite ist aber der dominante Beitrag
zur Bindungsenergie, der einzige in dieser Entwicklung mit einem negativen Vorzei-
chen, nur proportional zur Nukleonenzahl A. Man geht also davon aus, dass jedes
der Nukleonen nur mit seinen nächsten Nachbarn wechselwirken kann. Der Fit an
die experimentellen Daten liefert einen Wert von
aV = 15.67 MeV . (2.52)

• Der Oberflächenterm: Die volle Bindung durch die Wechselwirkung mit den
Nachbarn erfahren aber nur die Nukleonen, die in der Mitte des Atomkerns ringsher-
um von Nachbarnukleonen umgeben sind. Die Nukleonen an der Oberfläche haben
eine reduzierte Zahl von Nachbarn und deshalb muss die Attraktion des Volumen-
terms reduziert werden um eine Größe die proportional zur Oberfläche und damit
proportional zu R2 ist. Wegen (2.43) ist aber R proportional zu A1/3 womit dieser
Oberflächenterm die Form
aO A2/3 mit aO = 17.23 MeV , (2.53)
annimmt. Der Wert für aO ergibt sich natürlich wieder rein empirisch durch den Fit
an die experimentellen Daten.
• Der Coulombterm: berücksichtigt die abstossende Coulombwechselwirkung zwi-
schen den Protonen. Im Rahmen des Tröpfchenmodells sollte diese Abstossung der
Energie einer homogen geladenen Kugel mit der Ladung Ze und dem Radius R
entsprechen. Wiederum gilt wegen (2.43), dass R ∼ A1/3 womit der Coulombterm
die Form
Z2
aC 1/3 mit aC = 0.714 MeV , (2.54)
A
erfährt.
72 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.5: Beitrag des Coulomb- und des Symmetrieterms in der Bethe-
Weizsäcketr Formel (2.51) zur Energie der Isobare mit A = 100.

• Der Symmetrieterm: Wie wir noch im Laufe dieses Abschnittes sehen werden,
ist es energetisch günstiger, wenn die Zahl der Protonen gleich der Zahl der Neu-
tronen ist. Daraus ergibt sich der Symmetrieterm, der repulsiv ist für Z 6= N und
propotional zu (N − Z)2 , beziehungsweise wegen (2.44) propotional zu (2A − Z)2 .
Daraus ergibt sich der Symmetrieterm zu

(2A − Z)2
aS mit aS = 93.15 MeV . (2.55)
4A

• Der Paarenergieterm: Auch auf die Ursachen dieses Paaarenergieterms werden


wir zu einem späteren Zeitpunkt eingehen. Er liefert eine kleine Korrektur zur Bin-
dungsenergie, die zum Ausdruck bringt, dass es energetisch günstiger ist, wenn alle
Protonen zu Paaren gekoppelt werden und wenn ebenso alle Neutronen zu Paaren
gekoppelt werden. In diesem Sinne ergibt sich also eine optimale Energie, wenn Z
und N gerade Zahlen sind, man spricht dann von einem gg Kern. In einem ug Kern
oder gu Kern gibt es jeweils ein ungepaartes Nukleon, was zu einer Reduktion der
Bindungsenergie führt. In einem uu Kern sind je ein Proton und ein Neutron unge-
paart, was zu einer weiteren Reduktion der Bindungsenergie, also dem Betrag von
∆E(A, Z) führt. Dies wird zum Ausdruck gebraucht durch

 −11.2 MeV
 für gg Kerne
δP =  0 für ug oder gu Kerne (2.56)

11.2 MeV für uu Kerne.

Für ein vorgegebenes A ist die Energie der Bethe-Weizsäcker Formel als Funktion von Z
durch das Wechselspiel zwischen Coulombterm und Symmetrieterm definiert. Der Cou-
lombterm bringt zum Ausdruck, dass es wegen der Coulombrepulsion energetisch ungünstig
ist eine große Protonenzahl Z zu haben. Andererseits sorgt der Symmetrieterm dafür, dass
das Verhältnis zwischen Protonen und Neutronen nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht
gebracht wird.
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 73

Abbildung 2.6: Darstellung der Kernladungszahl Z bei der die Bethe-


Weizsäcker Formel (2.51) für gegebenes A maximale Bindungsenergie ergibt.

In Abb. 2.5 sind die Beiträge des Coulomb- und des Symmetrieterms zur Bethe-Weizsäcker
Formel für verschiedene Isobare mit A = 100 dargestellt. Für diese Nukleonenzahl ergibt
sich also ein Minimum in der Energie bei Z = 43 (das wäre das Technetium Isotop
100
Tc ). Die Protonenzahl ist also wegen des Coulombterms deutlich kleiner als die Neutro-
nenzahl. Wiederholt man diese Untersuchung für die verschiedenen Nukleonenzahlen, so
ergibt sich eine jeweils optimale Bindungsenergie aus der Bethe-Weizsäcker Formel (unter
Vernachlässigung des Paarterms) für ein Z. Dieser Wert ist in Abb. 2.6 dargestellt.
Im einem weiteren Schritt berechnen wir die Bindungsenergie pro Nukleon nach (2.51),
also den Betrag von ∆E dividiert durch die Nukleonenzahl A als Funktion von A. Dabei
wird zu jeder Nukleonenzahl A die Kernladungszahl Z gewählt, für die die Energie mi-
nimal also die Bindungsenergie maximal wird. Die Ergebnisse dieser Rechnung und die
Beiträge der einzelnen Terme des Tröpfchenmodells sind in Abb. 2.7 dargestellt.
Der Volumenterm würde in dieser Abbildung eine Konstante bei aV = 15.67 MeV liefern,
die aber nicht aufgetragen ist. Durch den Oberflächenterm wird die Bindungsenergie vor
allen Dingen bei kleinen Werten von A abgesenkt. Der Coulombterm und, da die Coulomb
Repulsion dafür sorgt, dass N größer als Z wird, auch der Symmetrieterm liefern eine
weitere Reduktion der Bindungsenergie, die insbesondere für große Massenzahlen wichtig
wird. Als Folge davon erhält man ein Maximum der Bindungsenergie pro Nukleon zwischen
A = 50 und A = 60. In diesem Bereich ergibt sich eine Bindungsenergie von etwa 8.7 MeV
pro Nukleon, also ein Wert der deutlich größer ist als die typischen Bindungsenergien der
Elektronen in der Hülle.
Wir sehen an diesem Ergebnis aber auch, dass man offensichtlich Energie dadurch gewin-
nen kann, dass man leichte Atomkerne zu den mittelschweren Kernen im Bereich A = 60
fusioniert. Andererseits ergibt sich auch ein Energiegewinn dadurch, dass man schwere
Atomkerne in leichte Fragmente spaltet. Wir werden auf diese Aspekte der Kernfusion
und Kernspaltung zurückkommen.
Atomkerne mit Massenzahlen von A oberhalb von 240 werden in der Natur nicht beob-
74 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.7: Bindungsenergie pro Nukleon aus der Bethe-Weizsäcker Formel


(2.51) als Funktion der Nukleonenzahl A

achtet; sie sind offensichtlich instabil gegenüber einem Zerfall in leichtere Fragmente.
Die in der Natur existierenden Atomkerne und solche, die man inzwischen künstlich er-
zeugt hat, sind in der Übersicht einer Nuklidkarte in Abb. 2.8 dargestellt. In dieser Nuklid-
karte sind Atomkerne aufgetragen mit anwachsender Neutronenzahl N in horizontaler und
anwachsender Protonenzahl Z in vertikaler Richtung. Jedes Isotop ist durch ein Kästchen
dargestellt, wobei die Farbe des Kästchens ein Maß für die Stabilität beziehungsweise die
mittlere Lebensdauer des Isotops darstellt. Dabei bezeichnen schwarze Kästchen Isotope
mit einer Lebensdauer, die größer ist als etwa 30 Millionen Jahre, das sind also stabile
Isotope. Über die Farben dunkelblau, hellblau zu dunkelgrün verringert sich diese Lebens-
dauer auf etwa 1 Sekunde. Isotope, die in hellgrün, gelb oder rosa Farben dargestellt sind
haben eine kürzere Lebensdauer bis hinunter auf 10−15 Sekunden2 .
Man sieht an dieser Darstellung, dass die stabilen Isotope ein Verhältnis von Z zu N
besitzen, das dem der Isotope mit maximaler Bindungsenergie bei vorgegebener Nukleo-
nenzahl entspricht, wie wir es aus der Analyse der Bethe-Weizsäcker Formel in Abb. 2.6
extrahiert haben. Man spricht vom Tal der stabilen Isotope.
Die Nuklidkarte enthält für jedes Isotop neben der Information über die Lebensdauer
auch die Angabe des “Mass Excess” (siehe δE(A, Z) in (2.49)) und die Häufigkeit mit
der ein stabiles Isotop aufgefunden wird (“Abundance”). Diese Häufigkeit bezeichnet
den prozentualen Anteil des spezifischen Isotops an dem gesamten Vorkommen von den
verschiedenen Isotopen eines chemischen Elementes. Auf weitere Angaben, die sich in
dieser Nuklidkarte finden, werden wir später eingehen.
Zur Klärung der Begriffe wollen wir an dieser Stelle einige Bemerkungen zum radioak-
tiven Zerfallsgesetz und zu Lebensdauern, Halbwertszeiten etc. machen. Wenn man eine
Zahl von Atomkernen vorliegen hat, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ihre Ei-
2
Diese Nuklidkarte und ihre Farbkodierung findet sich im Internet unter der Addresse
www.nndc.bnl.gov/nudat2/index.jsp. Sie kann interaktiv vergrößert werden und liefert auch Zahlenwerte
zu den Eigenschaften der Isotope. Dies ist ein Service des “National Nuclear Data Centers” des For-
schungszentrums in Brookhaven, Long Island, New York, USA
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 75

Abbildung 2.8: Nuklidkarte in der Übersicht. Die Isotope sind in einem Farbco-
de dargestellt, der sich and der Lebensdauer der Isotope orientiert (siehe Text)

genschaften ändern, so spricht man vom radioaktiven Zerfall dieser Isotope. Wir werden
die verschiedenen Formen des radiaktiven Zerfalls noch besprechen. Es werden dabei mit
der Zeit immer weniger Atomkerne von diesem Typ übrigbleiben. Bezeichnen wir die Zahl
der Atomkerne, die zur Zeit t vorliegen, mit N (t), so ergibt sich für die Änderung dieser
Zahl mit der Zeit t der folgende Ausdruck
dN
= −λN (t) ; (2.57)
dt
die Zahl der Atomkerne, die in einem Zeitintervall zerfallen ist proportional zu der Zahl der
vorhandene Atomkerne multipliziert mit einer Konstanten λ, die charakteristisch ist für
diesen spezifischen Zerfall. Man nennt diese Konstante deshalb auch Zerfallskonstante.
Die Lösung der Differenzialgleichung (2.57) ist sehr einfach und liefert

N (t) = N0 e−λt mit N0 = N (t = 0) . (2.58)

Die Inverse dieser Zerfallskonstante bezeichnet man als Lebensdauer des Isotopes bezüglich
des entsprechenden Zerfallprozesses
1
τ= . (2.59)
λ
Betrachtet man also zur Zeit t = 0 eine Anfangszahl von Atomkernen eines bestimmten
Isotopes und wartet dann die Lebensdauer dieses Isotopes so sind zu diesem Zeitpunkt
im statistischen Mittel nur noch
N0
N (τ ) = N0 e−λτ = N0 e−1 = ,
2.71828...
dieser Kerne intakt. Als Halbwertszeit dieses Zerfalls bezeichnet man die Zeit T1/2 , nach
der nur noch die Hälfte der ursprünglichen Atomkerne intakt sind es gilt also
N (T1/2 ) 1
= e−λT1/2 = , (2.60)
N0 2
76 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

was wiederum bedeutet, dass


1 ln 2
ln = − ln 2 = −λT1/2 → T1/2 = = 0.693... × τ . (2.61)
2 λ
Durch eine wiederholte Messung der Anzahl der vorhandenen Isotope oder durch eine
Bestimmung der Aktivität der Probe, also der Zahl der Zerfälle pro Zeiteinheit
dN
A=− = −λN (t) , (2.62)
dt
kann man die Zerfallskonstante λ und daraus dann die Lebensdauer τ und die Halbwerts-
zeit T1/2 experimentell bestimmen.

2.2.2 Das Schalenmodell der Atomkerne


Die Massenformel von Bethe und Weizsäcker reproduziert die experimentellen Daten für
die Bindungsenergien der Atomkerne recht gut und liefert einen ersten Überblick über die
Abhängigkeit dieser Bindungsenergien von der Zahl der Protonen und der Neutronen. Eine
genauere Analyse zeigt aber doch im Detail signifikante Unterschiede. So gibt es bestimmte
Werte für die Protonen- und Neutronenzahlen, bei denen die Bindungsenergien signifikant
über dem Ergebnis der Bethe-Weizsäcker Formel liegen. Diese Magischen Zahlen sind
2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 . (2.63)
Sie sind in der Nuklidkarte der Abb. 2.8 besonders gekennzeichnet. Als Folge dieser be-
sonders starken Bindungsenergie etwa bei Z = 50 findet man relativ viele stabile Isotope
des Elementes der Kernladungszahl 50, dem Zinn, und zwar von 112 Sn bis 124 Sn. Beson-
ders stark gebunden sind natürlich die doppelt magischen Kerne, bei denen sowohl die
Kernladungszahl als auch die Neutronenzahl magisch sind, wie z.B.
4
He mit Z = 2 und N = 2
16
O mit Z = 8 und N = 8
40
Ca mit Z = 20 und N = 20
48
Ca mit Z = 20 und N = 28
208
P b mit Z = 82 und N = 126 . (2.64)
Diese ausgeprägte Bindung bei speziellen Zahlen erinnert natürlich an die Schalenstruk-
tur der Atomphysik, die ja zu besonders starker Bindung bei den Edelgasen führt. Die
Kerne mit magischer Nukleonenzahl sollten danach den Edelgasen in der Atomphysik
entsprechen.
In der Atomphysik entsteht die Schalenstruktur durch die quantenmechanische Beschrei-
bung der Bewegung der Elektronen im Zentralfeld des Atomkerns. In der Kernphysik
ist ein solches Zentralfeld nicht vorgegeben. Es muss vielmehr durch die Wechselwirkung
eines einzelnen Nukleons mit allen anderen erzeugt werden. In Anlehnung an die Überle-
gungen zum Hartree-Fock Feld in der Atomphysik im Abschnitt 1.6 können wir uns auch
hier vorstellen, dass ein Nukleon an der Stelle ~r ein Potenzial spürt der Form
X
U (~r) = h~rΦj |VN N |~rΦj i , (2.65)
j
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 77

wobei h~rΦj |VN N |~rΦj i das Matrixelement der Nukleon-Nukleon Wechselwirkung eines Nu-
kleons am Ort ~r mit dem Nukleon, das durch die Einteilchenwellenfunktion Φj beschrieben
wird, bezeichnet. Summiert wird über alle Nukleonen j. Natürlich haben wir auch hier
wieder das übliche Selbstkonsistenzproblem zu lösen: Um die Wellenfunktionen Φj zu be-
stimmen, muss man die Schrödinger Gleichung für die Nukleonen im Potenzial U lösen,
benötigt dazu natürlich dieses Potenzial U (~r). Andererseits benötigt man aber die Φj um
mit (2.65) das Potenzial zu bestimmen.
Im Vergleich zur Atomphysik kommt noch erschwerend hinzu, dass die Struktur der
Nukleon-Nukleon Wechselwirkung VN N sehr viel komplexer ist als die Coulomb Wechsel-
wirkung zwischen zwei Elektronen. Außerdem ist die Wechselwirkung bei kurzen Reich-
weiten so stark, dass man Korrelationen berücksichtigen muss, die über die Hartree-Fock
Näherung hinausgehen. So ist auch heute noch die Beschreibung der Struktur der Atom-
kerne auf der Basis einer realistischen Nukleon-Nukleon Wechselwirkung ein sehr aktives
Forschungsgebiet.
Da die Nukleon-Nukleon Wechselwirkung eine kurze Reichweite hat und nicht dieses 1/r
Verhalten des Coulomb Potenzials, hat das resultierende Potenzial U (~r) auch eine an-
dere Form als in der Atomphysik. Als einen ersten Ansatz nehmen wir die Form eines
sphärischen harmonischen Oszillators in 3 Raumdimensionen an
M ω2 2
UHO (~r) = r
2
M ω2  2 
= x + y2 + z2 , (2.66)
2
wobei x, y, z die kartesischen Koordinaten des Nukleons an der Stelle ~r bezeichnen und
die Oszillatorfrequenz ω ein Parameter ist, der anzupassen wäre. Mit diesem Potenzial
ergibt sich der Hamiltonoperator für ein Nukleon mit der Masse M
p~2
H = + UHO (~r)
2M
p2x M ω2 2 p2 M ω2 2 p2 M ω2 2
= + x + y + y + z + z . (2.67)
|2M {z 2 } |2M {z 2 } |2M {z 2 }
=Hx =Hy =Hz

Der Hamiltonoperator ist also eine Summe aus 3 Termen Hx , Hy und Hz wobei jeder
dieser Operatoren nur auf die entsprechende kartesische Koordinate wirkt. In diesem Fall
wissen wir, dass die Lösungen der stationären Schrödinger Gleichung Wellenfunktionen
liefern, die das Produkt der Wellenfunktionen für den Harmonischen Oszillator in den
kartesischen Richtungen ist

Φnx ny nz (x, y, z) = ϕnx (x)ϕny (y)ϕnz (z) ,

mit einem Energieeigenwert, der sich als Summe der Energien aus den 3 kartesischen
Raumrichtungen darstellt
     
1 1 1
Eν = h̄ω nx + + h̄ω ny + + h̄ω nz +
2 2 2
 
3
= h̄ω ν + mit ν = nx + ny + nz , (2.68)
2
78 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

ν nx ny nz Entartung
1 1 0 0 3
0 1 0
0 0 1
2 2 0 0 6
0 2 0
0 0 2
1 1 0
1 0 1
0 1 1
3 3 0 0 10
0 3 0
0 0 3
2 1 0
1 2 0
2 0 1
1 0 2
0 2 1
0 1 2
1 1 1

Tabelle 2.1: Kombinationen für die Energiequantenzahlen des dreidimensiona-


len Harmonischen Oszillators

wobei nx , ny und nz die Werte 0, 1, 2, . . . annehmen können. Die niedrigste Energie ergibt
sich für
ν = 0 ⇔ nx = ny = nz = 0 ,
dieser Zustand ist also nur einfach entartet. Berücksichtigt man die Tatsache, dass die
Nukleonen Fermionen mit einem Spin von 1/2 sind, so besitzen sie 2 Möglichkeiten für
die Spinprojektion m = ±1/2, so dass insgesamt 2 Nukleonen in die Schale mit ν = 0
untergebracht werden können, ohne dass das Pauli Prinzip verletzt wird.
Die möglichen Kombinationen für ν = 1, ν = 2 und ν = 3 sind in der Tabelle 2.1
aufgelistet, ebenfalls die entsprechende Entartung dieser Energieschalen. Berücksichtigt
man wieder die Entartung durch den Spin, so ergeben sich maximale Besetzungszahlen
von 6, 12 und 20 für diese Schalen. Addiert man diese Besetzungszahlen auf, so liefert
das Modell des Harmonischen Oszillators Schalenabschlüsse bei Z oder N von 2, 8, 20,
40, etc. Die Zahlen 2, 8 und 20 stimmen mit den magischen Zahlen von (2.63) überein.
Für diese leichten Atomkerne funktioniert als das Oszillatormodell. Bei den schwereren
Atomkernen versagt dieses einfache Modell jedoch.
Man kann nach anderen Potenzialformen schauen. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte
Woods Saxon Potenzial in der Form
−U0
UW S (r) = 
r−R
, (2.69)
1 + exp a

mit den Parametern U0 , R und a, die die Tiefe des Potenzialtopfes, seinen Radius und
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 79

Neutronen Protonen
r [fm]
-6 -4 -2 0 2 4 6
0

l=2

-10

l=1
U[MeV]

-20

-30
l=0

-40

Abbildung 2.9: Woods Saxon Potenzial für Neutronen (linke Hälfte) und Proto-
nen (rechte Hälfte). Bei den Protonen ist das Coulomb Potenzial hinzuaddiert.
Aufgetragen sind die Einteilchenenergien für Schalen mit verschiedenen l und
eine Besetzung dieser Niveaus für den Kern 16 O. Die Darstellung ist nur qua-
litativer Art.

die Breite der Oberfläche kontrollieren. Die Werte für diese Parameter hängen natürlich
von dem betrachteten Atomkern ab. Ein Beispiel für ein solches Woods Saxon Potenzial
ist in der Abb. 2.9 dargestellt. Im rechten Teil der Abbildung ist dabei noch der Beitrag
des Coulomb Potenzials für die Protonen hinzuaddiert. Diese Potenzialform erscheint viel
realistischer als das einfache Modell des Harmonischen Oszillators. Insbesondere wird es
auch für r → ∞ nicht unendlich groß, sondern nimmt den Wert null an.
Die Energieeigenwerte des Woods Saxon Potenzials liefern eine ähnliche Schalenstruktur
wie die des Harmonischen Oszillators. Die Entartung der Zustände ist zum Teil aufgeho-
ben. Auch das Woods Saxon Potenzial liefert die richtigen magischen Zahlen bis 20 und
versagt bei den höheren Werten.
Die Lösung des Problems, die Schalenstruktur und damit auch die magischen Zahlen für
die schweren Atomkerne zu erklären, stammt aus dem Jahr 1949 und wurde von Maria
Goeppert-Mayer und H. Jensen entwickelt. In Analogie zur Atomphysik nahmen sie an,
dass es neben dem zentralen Anteil des Potenzials auch in der Kernphysik einen Spin-Bahn
Term gibt, so dass das Einteilchenpotenzial der Nukleonen insgesamt die Form
~l · ~s
Û = Uzent (~r) + Uls (r) 2 , (2.70)

annimmt. Dabei kann der Zentralanteil die Form des Woods Saxon Potenzials annehmen.
~l und ~s sind die Operatoren für den Bahndrehimpuls und den Spins des Nukleons. Auch
wenn der Spin-Bahn Term formal die gleiche Struktur hat wie in der Atomphysik, so
basiert er doch nicht auf der elektromagnetischen Wechselwirkungen; diese Effekte wären
auch viel zu klein. Die Ursache dieser Spin-Bahn Wechselwirkung liegt in der Struktur
der Nukleon-Nukleon Wechselwirkung. Sie ergibt sich, wenn man Effekte der Relativitäts-
theorie bei der Lösung des Vielteilchenproblems berücksichtigt3 .
3
Details und den Stand der Forschung finden Sie z.B. in dem Übersichtsartikel: H. Müther and A.
80 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

2p1/2
1f 5/2
2p3/2
28
1f 7/2
20 1d3/2
2s 1/2
1d 5/2

8
1p 1/2

1p
3/2

2
1s 1/2

Abbildung 2.10: Einteilchenenergien ohne (linker Teil) und mit Berücksichti-


gung der Spin-Bahn Wechselwirkung (siehe Diskussion im Text)

Zur Berücksichtigung eines Spin-Bahn Terms im Potenzials geht man wie in der Atom-
physik über in die Basis, in der Spin und Bahndrehimpuls zu einem Gesamtdrehimpuls j
gekoppelt sind. In dieser Basis kann der Operator durch die Eigenwerte zu l2 , s2 und j 2
beschrieben werden
~l · ~s 13
2 2 = j(j + 1) − l(l + 1) − .
h̄ 22
Die Aufspaltung der Schalen verläuft analog zur Atomphysik, nur dass in der Kernphysik
die Zustände mit j = l + 1/2 eine niedrigere Energie zeigen als die mit j = l − 1/2. Die
Wirkung dieser Spin-Bahn Aufspaltung ist qualitativ in der Abb. 2.10 dargestellt. Die
Einteilchenzustände auf der rechten Seite (mit Berücksichtigung des Spin-Bahn Terms)
sind durch die zugehörigen Quantenzahlen n, l und j in der Form gekennzeichnet, dass
der Bahndrehimpuls l wie üblich durch die Buchstaben s, p, d, etc. bezeichnet wird,
der Gesamtdrehimpuls j als unterer Index angezeigt wird und die Zahl n, die angibt
der wievielte Zustand von diesem Typ angezeigt wird, als Zahl vor dem Bahndrehimpuls
erscheint. der 2p3/2 Zustand ist also von unten gezählt der zweite Zustand mit l = 1 und
j = 3/2.
Wir sehen aus der Darstellung von Abb. 2.10 auch, dass die Energien der Einteilchen-
zustände mit der Spin-Bahn Aufspaltung so getrimmt werden können, dass auch eine
signifikante Energielücke zwischen der 1f7/2 und der 2p3/2 Schale entsteht, so dass die
magische Zahl 28 erklärt wird. Der Spin-Bahn Term erklärt darüber hinaus aber auch die
höheren magischen Zahlen.
Der Spin-Bahn Term kann aber nicht nur die magischen Zahlen erklären. Wenn man etwa

Polls: “Two-Body Correlations in Nuclear Systems”, Prog. Part. and Nucl. Phys. 45 (2000) 243; Er ist
auch einsehbar unter http://de.arxiv.org/abs/nucl-th/0001007
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 81

den Atomkern 17 O heranzieht mit 8 Protonen und 9 Neutronen, so besagt das Schalen-
modell mit diesem Spin-Bahn Term, dass 8 Protonen und 8 Neutronen jeweils die 1s
und 1p Schalen vollständig besetzen, was zu einem Gesamtdrehimpuls dieser Nukleonen
in den abgeschlossenen Schalen von J = 0 führt. Das zusätzliche Neutron von 17 O im
Vergleich zu 16 O wir dann in die 1d5/2 Schale gesetzt. Der Spin des gesamten Atomkerns
entspricht dem Einteilchendrehimpuls dieses zusätzlichen Neutrons, man spricht wie in der
Atomphysik von einem Valenznukleon. Der Atomkern 17 O sollte also den Spin J = 5/2
besitzen, wenn er sich im Grundzustand befindet, also nicht angeregt ist. Dies wird durch
das Experiment bestätigt.
Außerdem legt uns das Schalenmodell nahe, dass der Atomkern 17 O Anregungszustände
mit niedriger Anregungsenergie besitzen sollte, bei denen das Valenznukleon nicht in der
1d5/2 Schale sondern in der 2s1/2 oder 1d3/2 Schale untergebracht wird. In der Tat findet
man solche Zustände mit J = 1/2 bei einer Anregungsenergie von 0.87 MeV und einen
mit J = 3/2 bei 5.08 MeV. Natürlich gilt Ähnliches auch für andere Atomkerne mit
abgeschlossenen Schalen plus einem Valenznukleon.
Für solche Atomkerne mit einem Valenznukleon kann man auch einfache Abschätzungen
für das magnetische Moment des Atomkerns machen. Dieses magnetische Moment ist eine
wichtige Kenngröße für die Hyperfein Aufspaltung des atomaren Spektrums. Das heisst,
man kann es auch experimentell aus der Analyse von den Hyperfeinspektren extrahieren
und so die experimentellen Daten mit diesen Modellvorhersagen vergleichen.
Das magnetische Moment des Atomkerns ist ein Vektor der Form
A  
µK X
~µop = gl~li + gs~si . (2.71)
h̄ i=1
Dabei steht µK für das Kernmagneton
eh̄
µK = , (2.72)
2M
mit M der Masse eines Nukleons. Es ist also um fast eine Faktor 2000 kleiner als das
Bohrsche Magneton aus (1.5). ~li und ~si bezeichen den Bahndrehimpuls und den Spin des
Nukleons i und es wird über alle Nukleonen des Kerns summiert. Die g-Faktoren für den
Bahndrehimpuls gl sind 1 für das Proton und gl = 0 im Falle eines Neutrons. Das Neutron
ist ja elektrisch neutral und deshalb erzeugt eine Kreisbewegung des Neutrons keinen
elektrischen Kreisstrom mit entsprechendem magnetischen Moment. Die g-Faktoren für
den Spin lauten (
5.58 für ein Proton
gs = . (2.73)
−3.82 für ein Neutron
In einem Atomkern mit einem Valenznukleon kompensieren sich die Beiträge der ande-
ren Nukleonen in den abgeschlossenen Schalen und die Summe in (2.71) kann auf das
Valenznukleon beschränkt werden.
Bei der Messung des magnetischen Momentes bestimmt man nicht den Vektor ~µop sondern
die Projektion dieses Vektors in Richtung auf den Gesamtdrehimpuls des Kerns ~j. Dieses
magnetische Moment hat also die Form
~µop · ~j ~j
µ
~ =
~ ~
j j
82 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK
 
µK gl~l · ~j + gs~s · ~j
= 2 . (2.74)
h̄ ~
j

Diesen Ausdruck kann man leicht auswerten wenn man die Operatoren durch die zu-
gehörigen Eigenwerte ersetzt mit
2
~
j = h̄2 j(j + 1)
 
~l · ~j = 1
 h̄2
~l2 + ~j 2 − ~s2
 3
2
= l(l + 1) + j(j + 1) −
2 4
  2  
~ 1 2 ~ 2 ~ 2 h̄ 3
~s · j = 2 ~s + j − l = + j(j + 1) − l(l + 1)
2 4
(2.75)

Entsprechende Abschätzungen erhält man auch für Atomkerne mit einem fehlenden Nu-
kleon in ansonsten abgeschlossenen Schalen. Die experimentellen Werte entsprechen diesen
sogenannten Schmidt Werten recht gut. Sie sind in der Regel ein wenig kleiner, was man
durch eine Polarisation des Restkerns erklären kann.
Ein Zustand, also insbesondere der Grundzustand eines Atomkerns, wird neben dem Spin
auch noch durch die Parität charakterisiert. Der Paritätsoperator angewandt auf eine
Vielteilchenfunktion, ergibt diese Funktion an der Stelle, an der alle Argumente, also
Ortsvektoren der Teilchen, durch das gespiegelte Argument ersetzt werden

P̂ Ψ(~r1 , ~r2 . . . ~rA ) = Ψ(−~r1 , −~r2 . . . − ~rA ) . (2.76)

Da der Hamilton Operator des Atomkerns mit dem Paritätsoperator kommutiert, sind die
Eigenfunktionen des Hamilton Operators, also die Lösungen der stationären Schrödinger
Gleichung, auch Eigenfunktionen zum Paritätsoperator. Da das Quadrat des Paritäts
Operators gleich dem Einsoperator ist, P̂ 2 = 1, sind die Eigenwerte des Paritätsoperators
plus 1 oder minus 1

Ψ(−~r1 , −~r2 . . . − ~rA ) = Ψ(~r1 , ~r2 . . . ~rA ) positive Parität


Ψ(−~r1 , −~r2 . . . − ~rA ) = −Ψ(~r1 , ~r2 . . . ~rA ) negative Parität
(2.77)

Experimentell ist es nicht einfach die Parität eines Zustandes zu bestimmen. Bei einem
Erwartungswert eines Operators tritt die Wellenfunktion quadratisch auf und man kann
deshalb die Parität aus solchen Erwartungswerten nicht extrahieren. Anders ist es bei
Operatoren, die Übergänge beschreiben, wie z.B. die Emission von elektromagnetischer
Strahlung. Die Wahrscheinlichkeitsamplitude für solche Übergänge ist proportional zum
Matrixelement
hΨf |O|Ψi i .
Besitzt der Operator O positive Parität, so muss die Parität des Anfangszustandes Ψi
gleich der Parität des Endzustandes sein. Wäre das nicht der Fall, so würde bei dem
Integral zur Berechnung des Matrixelementes der Integrand das Vorzeichen wechseln bei
~r → −~r, das Integral wäre also identisch null; der Übergang hätte die Wahrscheinlichkeit
Null und ist wegen der Paritätsauswahlregel verboten. Durch die Beobachtung solcher
Übergänge kann man die Parität von Zuständen relativ zueinander bestimmen.
2.2. MASSENZAHL UND BINDUNGSENERGIE 83

Das Schalenmodell liefert eine einfache Möglichkeit zur Berechnung der Parität. Im Scha-
lenmodell ist ja die Gesamtwellenfunktion das Produkt der Einteilchenwellenfunktion für
die Zustände, die besetzt sind. Die Parität des Gesamtzustandes ist damit das Produkt
der Paritäten der einzelnen Zustände, die wiederum gegeben ist durch (-1) zur Potenz
l, dem Bahndrehimpuls dieses Einteilchenzustandes (siehe Vorlesung Physik 3). Damit
ergibt sich für die Gesamtparität der Wert
A
Y
(−1)li .
i=1

Die Entartung einer Schale ist stets eine gerade Zahl. Deshalb haben Atomkerne mit voll
besetzten Schalen für Protonen und Neutronen einen Grundzustand mit positiver Parität.
Bei Atomkernen mit abgeschlossenen Schalen plus einem Valenznukleon, ist die Parität
durch den Bahndrehimpuls dieser Valenzschale festgelegt.
Zum Abschluss dieses Abschnittes wollen wir noch einige Aspekte des Tröpfchenmodells
(2.51) aus der Sicht des Schalenmodels erklären.
In der Bethe-Weizsäcker Formel begegnete uns der Symmetrieterm, der besagt, dass die
Bindungsenergie eines Atomkerns kleiner wird, wenn sich die Zahl für Protonen und Neu-
tronen unterscheiden (2.55). Dieser Term leuchtet aus der Sicht des Schalenmodells sofort
ein. In einem Atomkern, der sehr viel mehr Neutronen als Protonen besitzt, müssen die
Neutronen wegen des Pauli Prinzips Schalen mit sehr viel höherer Energie besetzen als
die Protonen. Man könnte also Energie dadurch gewinnen, dass man ein Neutron durch
ein Proton ersetzt, da man dieses in eine energetisch günstigere Schale unterbringen kann.
Dieser Trend wir natürlich teilweise dadurch kompensiert, dass die Einteilchenenergien
für die Zustände der Protonen wegen der Coulombrepulsion etwas weniger gebunden sind
als die vergleichbaren Zustände für die Neutronen (siehe Abb. 2.9). Dieses Zusammen-
spiel zwischen Coulomb Energie und dem Symmetrieterm haben wir im Abschnitt zum
Tröpfchenmodell ausführlich diskutiert.
Außerdem wollen wir an dieser Stelle auch noch auf den Paarenergieterm (2.56) einge-
hen. Bei der Besetzung der Schalen für die Elektronen in der Atomphysik haben wir die
Hund’sche Regel kennen gelernt. Danach wird ein zweites Elektron in einer Schale be-
vorzugt mit dem Spin parallel zum ersten Elektron (so weit das wegen der Entartung
der Schale möglich ist) plaziert. Der Grund hierfür basiert auf der repulsiven Wechselwir-
kung zwischen den Elektronen. Sind ihre Spins parallel so wird wegen die Wahrscheinlich-
keit, dass die Elektronen nahe zusammen kommen wegen der Antisymmetrisierung der
Ortswellenfunktion unterdrückt. Dies ist günstiger als wenn die beiden Elektronen eine
antisymmetrische Spinfunktion haben.
Die Wechselwirkung zwischen zwei Protonen oder zwei Neutronen ist attraktiv. Deshalb
ist es energetisch günstiger, wenn etwa zwei Neutronen in der Valenzschale ihre Spins
antiparallel orientieren. Dies hat eine symmetrische Ortswellenfunktion zur Folge: Die
beiden Neutronen sind mit vergrößerter Wahrscheinlichkeit nahe zusammen und spüren
die attraktive kurzreichweitige Wechselwirkung. Als Folge bilden jeweils zwei Neutronen
oder auch zwei Protonen in einer Valenzschale ein Paar mit einem Gesamtdrehimpuls
J = 0. Damit ergibt sich für die gg-Kerne, also die Isotope mit gerader Anzahl von
Protonen und Neutronen, dass sie im Grundzustand einen Gesamtdrehimpuls von J = 0
besitzen. Diese Regel wird durch die experimentellen Daten ausnahmslos bestätigt.
84 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Außerdem sehen wir natürlich auch, dass es energetisch ungünstiger ist wenn ein Proton
oder auch ein Neutron keinen Partner hat, mit dem es zu einem J = 0 Paar verkoppelt
werden kann. Dies wird im Paarenergieterm von (2.56) zum Ausdruck gebracht.
2.3. BETA ZERFALL 85

2.3 Beta Zerfall


Schon bei der ersten Diskussion der Massen von Protonen, Neutronen und Elektronen im
vorhergehenden Abschnitt haben wir festgestellt, dass die Masse eines Neutrons und damit
seine Ruhenergie größer ist als die Summen der Massen eines Protons und eines Elektrons.
Daraus ersieht man, dass eine einzelnes Neutron zerfallen kann in ein Proton und ein
Elektron unter Erhaltung der Gesamtenergie und der Ladung. In der Tat beobachtet man,
dass freie Neutronen, also solche, die nicht in einen Atomkern eingebunden sind, nur eine
mittlere Lebensdauer von etwa 15 Minuten haben. Diese Lebensadauer τ entspricht nach
(2.61) einer Halbwertszeit T1/2 von 10.4 Minuten. Mit dieser Halbwertszeit beobachtet
man einen Zerfall des Neutrons, wobei ein Proton und ein Elektron emittiert werden.
Man bezeichnet diese Reaktion als den β-Zerfall des freien Neutrons.
Der Q-Wert dieser Reaktion, das ist die Differenz der Ruheenergien der Teilchen vor und
nach der Umwandlung beträgt

[Mn − (Mp + me )] c2 = 0.78M eV .

Diese Energie kann in Form von kinetischer Energie für das Proton und Elektron um-
gesetzt werden. Betrachtet man den Zerfall eines ruhenden Neutrons etwas genauer, so
müsste aus Gründen der Impulserhaltung, die Summe aus dem Impuls des erzeugten Pro-
tons und des Elektrons gleich dem Impuls des Neutrons vor dem Zerfall, also identisch
Null sein. Dies bedeutet aber, dass die Impulse von Proton und Elektron vom Betrag her
gleich sind, |~pp | = |~pe | = p, aber in entgegengesetzte Richtungen weisen. Die Energieerhal-
tung andererseits bestimmt diesen Betrag p durch die Gleichung für die relativistischen
Energien der Teilchen vor und nach dem β-Zerfall
q q
Mn c 2 = Mp2 c4 + p2 c2 + m2e c4 + p2 c2 .

Aus diesen Überlegungen ergibt sich also, dass die Elektronen, die bei dem Zerfall von
ruhenden Neutronen entstehen, alle die gleiche Energie haben müssten. Die Experimente
liefern aber Elektronen mit verschiedenen Energien, so dass zunächst vermutet wurde,
dass beim β-Zerfall der Satz von der Erhaltung der Energie verletzt sein könnte.
Darüber hinaus ergaben sich auch noch Probleme mit der Erhaltung des Gesamtdrehim-
pulses: Das Neutron ist ein Fermion mit einem Spin von 1/2. Wenn wir davon ausgehen,
dass es ruht, so ist sein Bahndrehimpuls gleich Null und der gesamte Drehimpuls ist
gleich dem Spin, hat also den Betrag 1/2. Nach den Zerfall erhalten wir ein Elektron
und ein Proton mit jeweils einem Spin von 1/2 plus einem möglichen Bahndrehimpuls
für die Relativbewegung. Dieser Bahndrehimpuls ist ganzzahlig, zusammen mit den halb-
zahligen Spins des Elektrons und des Protons ergibt sich ein ganzahliger Drehimpuls für
den Endzustand des Gesamtsystems, also in jedem Fall ein anderer Drehimpuls als im
Anfangszustand.
In einem Brief an eine Fachtagung in Tübingen im Jahre 1930 zeigte Wolfgang Pauli einen
Ausweg aus diesem Dilemma auf. Er postulierte, dass beim Zerfall des Neutrons, neben
dem Proton und dem Elektron noch ein weiteres Teilchen emittiert wird: ein Neutrino.
Bei diesem Zerfall des Neutrons in drei Teilchen kann ein Teil der Energie vom Neutrino
übernommen werden, was das kontinuierliche Elektronenspektrum erklären würde. Besitzt
86 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

das Neutrino außerdem noch einen halbzahligen Spin, was ja bedeutet, dass es sich um
ein Fermion handelt, so kann es auch die Erhaltung des Drehimpulses gewährleisten.
Aus der Tatsache, dass man das Neutrino nicht direkt beobachtet, kann man schliessen,
dass es keine elektromagnetische und keine starke Wechselwirkung mit seiner Umgebung
hat. Außerdem muss seine Masse sehr klein sein. Masselose, neutrale Teilchen, die nur
schwach wechselwirken, sind naturgemäß nur sehr schwer zu beobachten. Erst in jüngster
Zeit hat man gelernt Detektoren zu bauen, mit denen man Neutrinos nachweisen kann.
Wir werden später noch darauf zurückkommen. Trotzdem sind auch heute noch viele
Geheimnisse der Neutrinos nicht endgültig geklärt. So weiss man zwar, dass es 3 Typen
von Neutrinos gibt (siehe Abschnitt 2.10), aber selbt über die Masse der Neutrinos gibt
es keine endgültige Aussage.
Der Hypothese von W. Pauli folgend nimmt also der β-Zerfall des Neutrons die folgende
Gestalt an:
n =⇒ p + e + ν¯e . (2.78)
Die Bezeichnung ν¯e soll dabei andeuten, dass es sich bei diesem Teilchen um das zum
Elektron gehörende Anti-Neutrino handelt. Zur Erklärung dieser Bezeichnung machen
wir an dieser Stelle einige Bemerkungen zum Begriff des Antiteilchens.
Der Versuch, die Quantenmechanik so zu erweitern, dass auch die Kinematik der Speziellen
Relativitätstheorie berücksichtigt wird, führte P. Dirac auf die nach ihm benannte Dirac
Gleichung. Für ein freies Teilchen, das sei ein Teilchen der Masse m mit dem Impuls p,
das nur kinetische Energie besitzt, liefert die Dirac Gleichung stationäre Zustände mit
Energien q
E = ± p2 c2 + m2 c4 ,
also insbesondere auch Lösungen mit negativer Energie. Nach der Vorstellung von P. Dirac
sind im Falle des Vakuums alle Zustände mit negativer Energie besetzt. Man bezeichnet
diese besetzten Zustände mit Energie kleiner als −mc2 auch als den Dirac See (siehe
Abb. 2.11). Steht ein Energiequantum zur Verfügung mit einer Energie, die größer ist
als 2mc2 , so kann man sich vorstellen, dass diese Energie genutzt werden kann, um ein
Partikel aus einem Zustand negativer Energie anzuheben in einen Zustand mit der Energie
oberhalb mc2 . Man hat ein Teilchen und ein Loch im Dirac See erzeugt. Dieses Teilchen
und dieses Loch können sich voneinander fortbewegen. Das Loch im Diracsee entspricht
dabei einem Antiteilchen.
Solch eine Erzeugung von Teilchen-Antiteilchen Paaren aus Energie wird experimentell
in großer Vielfalt beobachtet. So können z.B. Paare von Elektronen und Anti-Elektronen
entstehen. Die Anti-Elektronen sind dabei Löcher im Dirac See der Elektronen. Relativ
zum Vakuum fehlt also dem Dirac See für jedes Anti-Elektron eine negative Ladung.
Das Anti-Elektron, das Positron, ist also positiv geladen. Ansonsten hat es die gleichen
Eigenschaften (Masse, Spin) wie das Elektron.
Beim β-Zerfall des Neutrons sorgt die schwache Wechselwirkung dafür, dass aus dem
Teilchen Neutron ein Proton wird. Beide Teilchen bezeichnet man als Baryonen: die Zahl
der Baryonen bleibt bei dem Prozess erhalten. Parallel zu dieser Umwandlung des Baryons
Neutron in das Baryon Proton erzeugen wir ein Teilchen, das Elektron, wir werden es
der Familie der Leptonen zuordnen, und ein Antiteilchen (ein Anti-Lepton), das Anti-
Neutrino. Die Leptonenzahl ist dabei vor dem Zerfall gleich Null aber auch nach dem
2.3. BETA ZERFALL 87

0
1
E1
0
0
1
0
1
0
1
0000000000000000000
1111111111111111111
0000000000000000000
1111111111111111111
1 1111111111111111111
0 0000000000000000000
0000000000000000000
1111111111111111111
0
1
0
1 0000000000000000000
1111111111111111111 "
Zustande
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0000000000000000000
1111111111111111111
0
1
0
1 0000000000000000000
1111111111111111111 positiver
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0000000000000000000
1111111111111111111 Energie
0
1
0
1 0000000000000000000
1111111111111111111
0 1111111111111111111
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000
21 0000000000000000000
mc 0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
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0
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0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
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1111111111111111111
0
1
0 1111111111111111111
0000000000000000000 "
1
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0000000000000000000
1111111111111111111
Zustande
0
1
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0
1 0000000000000000000
1111111111111111111 negativer
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
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0 1111111111111111111
1 0000000000000000000 Energie
0
1 0000000000000000000
1111111111111111111
0 1111111111111111111
1 0000000000000000000
0
1
Abbildung 2.11: Erzeugung von einem Teilchen- Anti-Teilchen Paar

Zerfall, da das Elektron die Leptonenzahl 1 besitzt und das Anti-Lepton als Loch im Dirac
See die Leptonenzahl -1. Durch die Identifikation nach (2.78) bleiben also Baryonenzahl
und Leptonenzahl bei dem Prozess erhalten.
Mit Hilfe von Fermis Goldener Regel (2.23) berechnet sich die Reaktionsrate für den Zerfall
des Neutrons in Proton, Elektron und Antineutrino mit einem Elektron der Energie Ee
nach
2π dρf (Ee )
dW = |hp, e, ν̄e |∆V |ni|2 dEe . (2.79)
h̄ dEe
Dabei bezeichnet ρf (Ee ) die Phasenraumdichte der Endzustände mit Elektronen der Ener-
gie Ee , auf die wir weiter unten noch eingehen werden. Für das Matrixelement der schwa-
chen Wechselwirkung ∆V macht man den Ansatz, dass dieses Matrixelement faktorisiert
in einen Anteil für die beteiligten Baryonen und einen für die Leptonen

hp, e, ν̄e |∆V |ni = hp|ÔB |nihe, ν̄e |ÔL |0i . (2.80)

Bei den Operatoren unterscheidet man die Fermi Übergänge, das sind solche die un-
abhängig von den Spins der beteiligten Fermionen sind, und die Gamow-Teller Übergänge,
bei denen sich z.B. die Spinorientierung von Baryonen und Leptonen ändern. Ist das zer-
fallende Neutron in einem Einteilchenzustand Φn und das erzeugte Proton im Zustand Φp
so ergibt das Matrixelement für die Baryonen aus

hp|ÔB |ni = gV hΦp |1|Φn i für den Fermi,


hp|ÔB |ni = gA hΦp |~σ |Φn i für den Gamow-Teller (2.81)

Übergang. Dabei steh σ für den Vektor aus den Pauli-Spin Matrizen, die auf die Spin-
funktion der Zustände wirkt. Außerdem macht man die Annahme einer Kontaktwechsel-
wirkung, d.h. die Erzeugung des Lepton-Antileptonpaares geschieht an der gleichen Stelle
wie die Umwandlung des Baryons.4
4
Weiter unten werden wir diese Schwache Wechselwirkung durch den Austausch von W und Z-Bosonen
88 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Dies führt bei der Berechnung der Matrixelemente für das freie Neutron zu dem folgenden
Ergebnis
g 2 + 3g 2
|hp, e, ν̄e |∆V |ni|2 = V 2 A , (2.82)
V
wobei gV und gA die Kopplungskonstanten für die Fermi Übergänge bzw. Gamow-Teller
Übergänge sind. Die Größe V bezieht sich auf das Volumen, in dem die Wellenfunktionen
der beteiligten Teilchen normiert sind.
Die Zahl der Phasenraumzustände für die Leptonen mit einer Gesamtenergie E0 und
Energie Ee für Elektronen so wie Eν für das Antineutrino ergibt sich aus dem Produkt
der Normierungsvolumina V und der Kugelschale im Impulsraum

V2
dρ(E0 , Ee ) = 4πp2e dpe 4πp2ν dpν δ(E0 − Ee − Eν ) . (2.83)
(2πh̄)6
Für die weitere Rechnung betrachten wir die Energie-Impulsbeziehung für das Elektron

Ee2
p2e = − m2e c2 . (2.84)
c2
Aus dieser Beziehung erhalten wir die folgende Beziehung zwischen den Differenzialformen
1
2pe dpe = 2Ee dEe . (2.85)
c2
Damit können wir umformen
1
p2e dpe = pe Ee dEe
c2
1q 2
= 3 Ee − m2e c4 Ee dEe . (2.86)
c
Die entsprechende Beziehung ergibt sich auch für das Neutrino. Mit der Annahme, dass
die Neutrionmasse gleich Null ist, erhalten wir also
1 2
p2ν dpν = E dEν . (2.87)
c3 ν
Die Beziehungen (2.86) und (2.87) setzen wir in (2.83) ein und integrieren, da ja das
Neutrino nicht beobachtet wird über alle Energien des Neutrinos Eν . Dies liefert für die
Zahl der Phasenraumzustände
q Z
V2 2 1 2 − m2 c4 E dE
1 2
dρ(E0 , Ee ) = (4π) E e e e e E δ(E0 − Ee − Eν ) dEν
(2πh̄) 6 c 3 c3 ν
V 2 (4π)2 q 2
= 6
Ee − m2e c4 Ee (E0 − Ee )2 dEe . (2.88)
(2πh̄c)

Die Reaktionsrate dW aus (2.79) gibt die Wahrscheinlichkeit der β-Zerfall Prozesse des
Neutrons an, bei denen das Elektron den Anteil Ee der Energie E0 davonträgt, die für die
beschreiben, was auch der modernen Vorstellung (seit etwa 1980) entspricht. Da die Masse dieser Boso-
nen sehr groß ist, ist die Reichweite der schwachen Wechselwirkung sehr klein, so dass das Modell der
Kontaktwechselwirkung eine sehr gute Näherung darstellt.
2.3. BETA ZERFALL 89

Leptonen zur Verfügung steht. Die Zerfallskonstante λ für den β-Zerfall insgesamt ergibt
sich also aus der Reaktionsrate dW integriert über alle möglichen Energien des Elektrons
Ee
2π Z E0 dρ(E0 , Ee )
λ= |hp, e, ν̄e |∆V |ni|2 dEe . (2.89)
h̄ me c 2 dEe
Setzt man die Ergebnisse von (2.82) und (2.88) in diesen Ausdruck ein, so erhält man
gV2 + 3gA2 Z E0 q
λ= 3 7 6 dE e Ee2 − m2e c4 Ee (E0 − Ee )2 . (2.90)
2π h̄ c me c 2

Aus dem β-Zerfall des freien Neutrons erhält man nur die Information über die Summe
der Kopplungskonstanten (gV2 + 3gA2 ) für den Fermi- und den Gamow Teller Übergang.
Genauere Informationen über die Einzelanteile ergeben sich aus der Analyse der entspre-
chenden Matrixelemente für den β-Zerfall des Neutrons in einem Atomkern (siehe (2.81).
In diesem Fall hängen die Matrixelemente der schwachen Wechselwirkung von den Spi-
norientierungen des Neutrons im Ausgangskern und des Protons im Endkern ab und es
gibt für die verschiedenen Atomkerne unterschiedliche Matrixelemente. Daraus ergeben
sich die Werte
gV = 0.88 10−4 MeV fm3 ,
gA /gV = −1.253 ± 0.007 . (2.91)
Die Zerfallkonstante λ für den β-Zerfall des Neutrons in einem Atomkern wird also einmal
durch die Matrixelemente des Operators der schwachen Wechselwirkung bestimmt (siehe
(2.81). Die Gleichung (2.90) zeigt aber auch, dass diese Zerfallskonstante entscheidend
durch die bei diesem Zerfall freigesetzte Energie E0 bestimmt wird. Der Ausdruck in
(2.90) wächst ja etwa proportional zur fünften Potenz von E0 an. Beim Zerfall des freien
Neutrons ist die Energiedifferenz zwischen der Energie des ruhenden Neutrons und der
Summe der Ruheenergien von Proton und Neutron gleich 0.782 MeV. Beim β-Zerfall
des Neutrons in einem Atomkern ist die freigesetzte Energie gleich der Massendifferenz
des Atoms mit Z Protonen und N Neutronen zu dem mit Z + 1 Protonen und N − 1
Neutronen, also
E0 = M (A, Z)c2 − M (A, Z + 1)c2
= δE(A, Z) − δE(A, Z + 1) , (2.92)
und kann also direkt aus den Massenüberschßsen δE(A, Z) des Mutter- und des Tochter-
kerns bei diesem Übergang (vergleiche (2.49) berechnet werden.
Diese Massenüberschüsse sind für das Beispiel der Isobare mit A = 101 in Abb. 2.12 als
Funktion von der Kernladungszahl Z aufgetragen. Das Isotop 101 M o hat gegenüber dem
101
T c einen Massenüberschuss von fast 3 MeV. Es ist daher instabil gegenüber dem β-
Zerfall und zerfällt mit einer Halbwertszeit etwa 14 Minuten. Dabei wird ein Elektron mit
hoher Energie freigesetzt. Die Ladung dieses emittierten Teilchens gibt diesem β-Zerfall,
bei dem ein Neutron in ein Proton umgewandelt wird den Namen β − Zerfall.
Auch das 101 T c Isotop hat gegenüber dem Nachbarisotop einen Massenüberschuss und
zerfällt ebenfalls durch β − Zerfall in das stabile Isotop 101 Ru.
Für Z > 44 wachsen die Massen der Isobare mit A = 101 wieder an. Deshalb ist 101 Ru
auch stabil gegenüber β − Zerfall. Andererseits ist aber die Masse des 101 Rh größer als die
90 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

-80

A=101 Ag
EC
-82 11.1 m

Mass Excess [MeV]


Mo
β−
-84
14 m

Pd
EC
-86 8.5 h
Tc
β−
14 m
Rh
EC
-88 3.3 a
Ru

41 42 43 44 45 46 47 48
Z

Abbildung 2.12: β-Zerfall und Elektronen Einfang (EC) für Atomkerne mit der
Massenzahl A = 101. Aufgetragen ist der Massenüberschuss (Mass Excess) der
verschiedenen Atomkerne, die chemischen Symbole und die Halbwertszeiten.

Masse des 101 Ru. Man könnte sich also vorstellen, dass in diesem Fall unter Gewinn von
Energie ein Proton in ein Neutron umgewandelt wird, etwa durch die Reaktion

p =⇒ n + e+ + νe . (2.93)

Dabei steht e+ für das Positron, also das Antiteilchen des Elektrons und νe für das zughöri-
ge Neutrino. Dadurch stehen auf der rechten Seite des Reaktionspfeils wieder ein Lepton
und ein Anti-Lepton, so dass die Leptonenzahl erhalten bleibt. Diese Reaktion ist für das
freie Proton nicht möglich, da die Energiebilanz, der Q-Wert, negativ ist. Für ein Pro-
ton in einem Atomkern ist dieser sogenannte β + Zerfall aber durchaus denkbar. Er ist
allerding in dieser Form häufig unterdrückt, da ja dabei ein Antiteilchen erzeugt werden
muss, also die Energie 2me c2 aufgebracht werden muss. In der Tat ist diese Reaktion aus
Energiegründen nur möglich wenn

M (A, Z) > M (A, Z − 1) + 2me c2 .

In Konkurenz zu diesem β + Zerfall steht der Elektroneneinfang (EC; Electron Capture):

p + e− =⇒ n + νe , (2.94)

bei dem ein Elektron aus der Atomhülle eingefangen wird. Die Energiebilanz ist also um
2me c2 günstiger als für den β + -Zerfall, was natürlich wegen der starken Abhängigkeit der
Zerfallskonstante von der freiwerdenden Energie diesen Prozess deulich bevorzugt.
So sind die Isobare der A = 101 Kette mit Z > 44 auch alle instabil gegenüber Elektro-
neneinfang. Die Halbwertszeiten werden kürzer je größer der Energiegewinn E0 bei diesen
Übergängen (siehe Abb. 2.12).
Die Massen der Isobare mit einer ungeraden Massenzahl A zeigen ein recht einfaches
Verhalten. Es handelt sich ja dabei entweder um ug oder um gu Kerne, so dass der Beitrag
2.3. BETA ZERFALL 91

A=106
-76
Mo
gg Kerne Sn
-78 uu Kerne
β−
Tc EC
-80
In

Mass Excess [MeV] -82

-84

-86 Rh
Ru Ag
Cd
-88

-90
42 44 46 Pd 48 50
Z

Abbildung 2.13: β-Zerfall und Elektronen Einfang (EC) für Atomkerne mit
der Massenzahl A = 106.

der Paarungsenergie in der Bethe-Weizsäcker Massenformel in diesem Fall für all diese
Atomkerne identisch Null ist. Daher werden die Energien beziehungsweise die Massen diese
Isobare als Funktion von der Kernladungszahl Z in der Bethe-Weizsäcker Formel durch
eine einfache quadratische Funktion beschrieben, was auch durch die experimentellen
Daten sehr gut bestätigt wird. So hat diese Funktion M (Z) auch nur ein Minimum und
es gibt deshalb in der Regel auch nur ein stabiles Nuklid für jedes ungerade A.
Etwas komplizierter ist die Situation bei den Isobaren mit einer geraden Massenzahl A.
In diesem Fall müssen wir unterscheiden zwischen gg-Kernen und uu-Kernen. Wegen
des Paarenergieterms in der Bethe-Weizsäcker Formel sollten die Massen der Isobare als
Funktion von Z in diesem Fall durch 2 Parabeln dargestellt werde: Eine für die gg-Kerne
und eine zweite um die doppelte Paarungsenergie nach oben verschobene für die uu-Kerne.
Auch diese Vorhersage der Massenformel wird durch die Daten sehr gut bestätigt, wie man
an dem Beispiel der Isobaren Kette für A = 106 in 2.13 sehen kann.
In diesem Fall gibt es zwei verschiedene stabile Nuklide, die nicht durch β − oder Elektro-
neneinfang zerfallen können: 106 P d und 106 Cd. Dafür bieten sich dem 106 Ag zwei alterna-
tive Zerfallsprozesse an: Es kann durch β − Zerfall in 106 Cd oder durch Elektroneneinfang
in 106 P d zerfallen. Insbesondere wegen des größeren Energiegewinns ist der Elektronen-
einfang bevorzugt. Etwa 99.5 Prozent der 106 Ag Atome zerfallen mit einer Halbwertszeit
von etwa 24 Minuten über Elektroneneinfang in 106 P d. Der Rest zerfällt durch β − Zerfall
in 106 Cd.
Von besonderem Interesse sind Fälle, bei denen man stabile Isotope vorliegen hat, die
durch einen doppelten β Zerfall gleichzeitig 2 Neutronen in Protonen umwandeln. Ent-
sprechende Untersuchungen werden mit großem Aufwand durchgeführt. Insbesondere in-
teressiert man sich für Prozesse, bei denen dieser doppelte β-Zerfall ohne die Emission
von Anti-Neutrinos stattfindet, der neutrinolose doppelte Beta Zerfall, da solche Ereig-
nisse fundamentale Aussagen über die Natur der Neutrinos liefern würde.
92 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

2.4 Radioaktivität

Unter dem Begriff Radioaktivität oder radioaktive Strahlung sammelt man verschie-
dene Prozesse, bei denen Energie in hochenergetischen Paketen oder Energiequanten ab-
gegeben wird. Wegen der hohen Energie haben die Prozesse, die diese Energiequanten
erzeugen, ihren Ursprung in der Regel im Bereich der nuklearen Physik und entstehen bei
Umwandlungen von Atomkernen. Als typische Beipiele haben wir den β-Zerfall im vor-
hergehenden Abschnitt kennengelernt. Die Atomkerne, die instabil gegenüber β-Zerfall
sind, sind die sogenannten β-Strahler. Die freiwerdende Energie wird vor allen Dingen
in Form von kinetischer Energie der freigesetzten Elektronen und Anti-Neutrinos freige-
setzt. Dabei muss uns die Energie der Neutrinos wenig kümmern. Wegen ihrer schwachen
Wechselwirkung werden die Neutrinos in der Regel unser Umfeld ohne eine weitere Wech-
selwirkung verlassen. Die hochenergetischen Elektronen hingegen können zu Ionisationen
von Molekülen führen, insbesondere auch von wichtigen Bio-Molekülen in unseren Zellen
und sind daher potenziell schädlich.
Neben dem bereits besprochenen β-Zerfall kann man sich vorstellen, dass instabile Atom-
kerne dadurch zerfallen, dass sie einzelne Protonen oder auch Neutronen abgeben. Nuklide,
die instabil gegenüber Proton- oder Neutron- Emission sind, haben sehr kurze Lebens-
dauern, bzw. Halbwertszeiten.
Ein besonderer Fall der Instabilität gegenüber Teilchen-Emission ist der sogenannte α-
Zerfall, bei dem der Mutterkern mit Z Protonen und N Neutronen ein α-Teilchen, das ist
der Atomkern des 4 He Isotops, abgibt und so in den Tochterkern mit Z − 2 Protonen und
N − 2 Neutronen umgewandelt wird. Kandidaten für den α Zerfall sind alle Atomkerne,
bei denen die Masse des Mutterkerns größer ist als die Masse des Tochterkerns plus die
Masse des α-Teilchens.
Wie können wir uns aber erstens vorstellen, dass der Mutterkern überhaupt eine ge-
wisse Zeit existiert, und wie können wir zweitens verstehen, dass der Mutterkern dann
schliesslich doch noch zerfällt? Die Antwort wollen wir mit Hilfe der Skizze von Abb. 2.14
diskutieren. In dieser Skizze ist das Potenzial eines α-Teilchens im Feld des Tochterkerns
dargestellt. Sind das α-Teilchen und der Tochterkern weit auseinander, so spüren sie
nur die gegenseitige Coulomb Abstoßung der positiven Kernladungen. Für große Werte
des Abstandes R entspricht das Potenzial also dem Coulomb Potenzial. Die attrakiven
Nukleon-Nukleon Kräfte werden erst bei kleinen Abständen R wirksam und führen dort
zu einem attraktiven Potenzial. Dieser Potenzialverlauf ermöglicht es nun, das α-Teilchen
mit einer positiven Energie Eα an den Tochterkern anzubinden, ohne dass dieser Ge-
samtkern zerfallen kann. Die Quantenmechanik bietet dann aber die Möglichkeit, dass
das α-Teilchen durch den “Coulomb Berg” hindurchtunnelt, auch wenn die Spitze die-
ses Coulomb Berges höher ist als Eα . Ist ein solcher Tunnel Prozess einmal abgelaufen,
so wird das α-Teilchen durch die Coulomb Abstoßung vom Tochterkernen getrennt und
nimmt diese Energie Eα in Form von kinetischer Energie auf.
Die Wahrscheinlichkeit für diesen α-Zerfall hängt sowohl von der Wahrscheinlichkeit ab,
dass im Mutterkern ein solches α-Teilchen vorformiert ist, als auch von der sogenann-
ten Tunnelwahrscheinlichkeit. Die Tunnelwahrscheinlichkeit hängt von der Höhe und der
Breite des Coulomb Berges ab, der durchtunnelt werden muss. So gibt es Kerne, die in-
stabil gegenüber α-Zerfall sind, mit ganz unterschiedlichen Zerfallkonstanten oder Halb-
2.4. RADIOAKTIVITÄT 93

α-Teilchen

R
α - Potenzial

Abbildung 2.14: Skizze zur Diskussion des α-Zerfalls im Text

wertszeiten. Kerne, die instabil sind gegenüber α-Zerfall findet man insbesondere bei den
Elementen oberhalb von Blei, also Z größer als 92, aber auch bei den Isotopen mit relativ
wenig Neutronen im Bereich 60 < Z < 92. Die Halbwertszeiten für diesen Zerfall variieren
zwischen Bruchteilen von Sekunden und 1010 Jahren.
Natürlich kann man sich auch vorstellen, dass ein Mutterkern andere Bruchstücke als ein
α-Teilchen emittiert. Das α-Teilchen zeichnet sich aber dadurch aus, dass es ein doppelt
magischer Kern ist mit einer sehr hohen Bindungsenergie. Dadurch ergeben sich große
Q-Werte für den α-Zerfall, was den α-Zerfall im Vergleich zur Emission von anderen
Bruchstücken eine höhere Zerfallskonstante liefert.
Die Emission von größeren Bruchstücken wird außerdem dadurch behindert, dass die
Wahrscheinlichkeit der Vorformation solcher Bruchstücke gering ist. Eine Ausnahme ist
die Kernspaltung, auf die wir in einem gesonderten Kapitel zurückkommen werden.
In der Abb. 2.15 ist noch einmal die Nuklid Karte (vergleiche auch Abb. 2.8) wieder-
gegeben. In diesem Fall sind die Isotope aber mit Farben bezüglich des vorherschenden
Zerfallsmodus dargestellt. Die schwarz dargestellten Isotope sind stabil, die blauen und
pinkfarbenen instabil bezüglich Elektroneneinfang bzw. β − Zerfalls. α-Strahler sind gelb
dargestellt und solche, die spontaner Spaltung unterliegen mit grüner Farbe. Die leicht rot
gefärbten emittieren Protonen und die dunkel-violett gefärbten sind instabil gegenüber
Neutronen Emission. Insgesamt sind etwa 3000 Isotope dargestellt, von denen aber nur
etwa 10 Prozent stabil sind.
Ein ganz anderer Typ des radioaktiven Zerfalls ist der sogenannte γ-Zerfall. In diesem
Fall ändern sich die Konstituenten des Atomkerns nicht. Es findet lediglich ein Übergang
statt von einem Zustand des Atomkerns, dem Anfangszustand Ψi mit der Energie Ei , in
einen anderen Zustand Ψf mit der Energie Ef . Die dabei frei werdende Energie

Eγ = h̄ω = Ei − Ef

wird in Form von elektromagnetischer Energie als Photon, bzw als γ-Quant abgegeben.
94 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.15: Nuklidkarte des National Nuclear Data Center Brookhaven,


kodiert nach dem Zerfallsmodus (siehe Text).

Die Energien dieser γ-Quanten liegen in der Regel deutlich höher als die der Photonen
aus der Atomphysik. Dadurch werden auch Übergänge ermöglicht, die eine etwas andere
Struktur besitzen als die elektrischen Dipol Übergänge, die wir in der Atomphysik be-
trachtet haben. Die Reaktionsrate für elektromagnetische Übergänge mit der Energie Eγ
berechnet sich mit Fermi’s Goldener Regel zu
2π 2

dW = hΨi (Ji , πi )|Ôl|Ψf (Jf , πf )i dρl (Eγ ) . (2.95)

Dabe bezeichnen Ji (Jf ) und πi (πf ) den Spin und die Parität des Anfangs (End) Zustan-
des des Übergangs und dρl (Eγ ) ist die Phasenraumdichte der γ Quanten der Energie Eγ
mit der Multipolarität l. Das Matrixelement für den elektromagnetischen Übergang der
Multipolarität l
hΨi (Ji , πi )|Ôl|Ψf (Jf , πf )i
ist nur dann von Null verschieden, wenn der Gesamtspin des Endzustandes, das ist die
Summe aus dem Kernspin Jf und der Multipolarität der Strahlung l gleich dem Spin des
Anfangszustandes Ji ist. Es müssen also die Regeln der Drehimpulskopplung erfüllt sein,
so dass die Auswahlregeln gelten

|Jf − Ji | ≤ l ≤ Jf + Ji . (2.96)

Außerdem muss die Parität des Integranden im Matrixelement positiv sein, was bedeu-
tet, dass das Produkt aus der Parität des Anfangszustandes, des Endzustandes und des
Operators Ôl gleich 1 sein muss. Man unterscheidet dabei zwischen elektrischer Multipol-
strahlung, Ôl = Êl und magnetischer Multipolstrahlung Ôl = M̂ l. Die Parität des Ope-
2.4. RADIOAKTIVITÄT 95

rators ist (−)l für den elektrischen Multipol- und (−)l+1 für den magnetischen Multipol-
Operator. Dies führt uns zu den folgenden Auswahlregeln für die Parität

πf = (−1)l πi für Êl Übergänge


πf = (−1)l+1 πi für M̂ l Übergänge . (2.97)

Diese Auswahlregeln (2.96) und (2.97) erlauben im Allgemeinen die Konkurenz von ganz
unterschiedlichen Übergängen. So ist z.B. für einen Übergang

(Ji = 1, πi = −1) : 1− −→ (Jf = 2, πi = 1) : 2+ ,

sowohl die Abstrahlung von E1 und E3 als auch die von M 2 Strahlung mit den Auswahl-
regeln verträglich. Die Berechnung der Matrixelemente liefert aber typischerweise einen
Faktor von
 
2πR l
für Êl Übergänge
λ
 
2πR l+1
für M̂ l Übergänge . (2.98)
λ

Dabei ist R der Radius des abstrahlenden Objektes, also hier das Atomkerns, mit einem
Wert von etwa 5 fm und λ die Wellenlänge des γ-Quants also etwa λ/2π ungefähr gleich
400 fm für Eγ von 0.5 MeV. Durch diesen Faktor, der ja quadratisch in den Ausdruck für
die Reaktionsrate (2.95) eingeht, dominiert E1 gegenüber E2 und M 1 Strahlung, diese
wiederum gegenüber E3 und M 2 und so weiter. Es wird also die Multipolstrahlung mit
der niedrigsten Multipolarität, die mit den Auswahlregeln kompatibel ist, dominieren. Im
Fall der Atomphysik entspricht der Wert für den Radius R in (2.98) dem Radius eines
Atoms also etwa R ≈ 1Åund λ/2π ≈ 800 Å. Dies bedeutet, dass in der Atomphysik alle
Strahlungsmoden im Vergleich zur elektrischen Dipolstrahlung, E1, praktisch verboten
sind. Für den Phasenraumfaktor in (2.95) gilt

dρl (Eγ ) ∼ Eγ2l+1 ,

was ebenfalls die Bedeutung der höheren Multipolübergänge in der Kernphysik eine re-
lativ größere Bedeutung zuordnet, als bei den niedrigen Energien der Photonen in der
Atomphysik.
Charakteristisch für die Elektrische Dipol Strahlung ist die Winkelverteilung der Emis-
sion der Strahlung, die wir als Abstrahlung des Hertzschen Dipols im zweiten Semester
kennengelernt haben. Bei der Emission z.B. von elektrischer Quadrupolstrahlung ist das
Schwingungsmuster der Quelle nicht das eines zeitabhängigen Dipolmomentes, wie das bei
dem Hertzschen Dipol der Fall ist, sondern das eines zeitabhängigen Quadrupolmomentes.
Eine solche Schwingung hat auch eine andere Winkelverteilung in der Abstrahlcharakte-
ristik zur Folge. Prinzipiell kann man also die Art der Strahlung experimentell durch
die Form der Winkelverteilung bei der Emission bestimmen. Dazu müsste aber die Ori-
entierung des Koordinatensystems festgelegt sein, was natürlich in der Regel nicht der
Fall ist. Ein Ausweg liefert hier die Messung von Winkelkorrelationen bei korrelierten
Zerfallsprozessen.
96 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

2.4.1 Zerfallsketten
Im Abschnitt 2.2 haben wir den einfachen Zerfall diskutiert, bei denen eine fest vorge-
geben Anzahl von Mutterkernen N (0) mit einer gegebenen Zefallskonstante λ in einen
Tochterkern zerfällt. Die Zahl der Mutterkerne nimmt dabei als Funktion der Zeit ständig
ab nach (2.58)
N (t) = N (0)e−λt .
Häufig findet man Zerfallsketten der Form
λ
1 λ
2
N1 −→ N2 −→ N3 , (2.99)

bei denen also z.B. die Zahl der Nuklide des Typs 2, N2 dadurch sinkt, dass sie zerfallen
mit der Zerfallskonstante λ2 in Nuklide des Typs 3, andererseits aber auch ständig neue
Nuklide dieses Typs durch den Zerfall des Typs 1 erzeugt werden. Um die Zeitabhängigkeit
der Zahl der Isotope in einer solchen Kette zu berechnen, machen wir den Ansatz
X
Ni (t) = Cij e−λj t , (2.100)
j≤i

so dass die Zahl der Isotope Ni nur von den Zerfallskonstanten der Isotope j abhängt,
die in der Kette vor dem Isotop i positioniert sind. Die Koeffizienten dieses Ansatzes,
Cij , müssen noch bestimmt werden. Als erstes können wir dazu die Startbedingungen für
t = 0 heranziehen X
Ni (0) = Cij . (2.101)
j≤i

Die Anzahl der Mutterkerne für die gesamte Kette N1 ändert sich nur durch den Zerfall in
den Tochterkern vom Typ 2; für die zeitliche Änderung dieser Anzahl gilt also wie bereits
im Abschnitt 2.2 diskutiert
dN1
= −λ1 N1 ,
dt
was zu dem üblichen Zerfallgesetz

N1 (t) = N1 (0)e−λ1 t , (2.102)

führt. Die Zahl der Isotope vom Typ 2 veringert sich pro Zeiteinheit um λ2 N2 und ver-
größert sich durch den Zerfall der Mutterisotope 1 um λ1 N1 . Wir können also schreiben

dN2
= −λ2 N2 + λ1 N1
dt  
= −λ2 C21 e−λ1 t + C22 e−λ2 t + λ1 C11 e−λ1 t . (2.103)

Die zweite Zeile dieser Gleichung haben wir dadurch erhalten, dass wir den Ansatz (2.100)
für N1 und N2 in der ersten Zeile eingesetzt haben. Andererseits können wir aber auch
schreiben
dN2 d  
= C21 e−λ1 t + C22 e−λ2 t
dt dt
= −λ1 C21 e−λ1 t − λ2 C22 e−λ2 t . (2.104)
2.4. RADIOAKTIVITÄT 97

Vergleicht man die zweiten Zeilen von (2.103) und (2.104) so müssen, da ja diese beiden
Ausdrücke das gleiche beschreiben, die Faktoren vor der Exponentialfunktion exp(−λ1 t)
in beiden identisch sein, also:

−λ2 C21 + λ1 C11 = −λ1 C21 ,

es gilt also (beachte dabei, dass wegen (2.101) C11 = N∞ (0))


λ1 λ1
C21 = C11 = N1 (0) . (2.105)
λ2 − λ1 λ2 − λ1
Wegen (2.101) gilt außerdem, dass

C22 = N2 (0) − C21 , (2.106)

auch die Koeffizienten für N2 (t) im Ansatz (2.100) eindeutig bestimmt haben. Die ent-
sprechenden Zahlen für die folgenden Glieder der Kette können analog bestimmt werden.

2.4.2 Einheiten zur Quantifizierung von radioaktiver Strahlung


Zur Quantifizierung von radioaktiven Prozessen unterscheidet man 3 unterschiedliche Kri-
terien, nach denen diese Aktivität einer Probe bemessen wird:

• Zum ersten definiert man die Aktivität einer Probe nach der Zahl der radioakti-
ven Zerfälle, die in dieser Probe im statistischen Mittel pro Zeiteinheit stattfinden.
Diese Aktivität ergibt sich aus dem Produkt der Zerfallskonstante λ des Materials
und der Zahl der Isotope N (t) in der Probe:

A = λN .

Die Aktivität einer Probe wird angegeben in Becquerel. Dabei hat eine Probe eine
Aktivität von 1 Becquerel, wenn 1 Zerfall pro Sekunde stattfindet.
Zerfall
Becquerel: 1 Bq = 1 . (2.107)
Sekunde
Ein historisches Maß für die Aktivität ist 1 Curie, was der Aktivität von einem
Gramm Radium entspricht. Es gilt die folgende Umrechnung

1 Curie = 1 Ci ≈ 3.7 1010 Bq .

• Ein zweites Kriterium, nach dem man radioaktive Belastung charakterisiert, ist ihre
physikalische Wirkung. Am einfachsten kann man bestimmen, wie viel Ionisationsla-
dung in einem vorgegebenen Volumen durch raioaktive Strahlung verursacht werden.
Darauf beruht die Ionendosis, die in Röntgen angegeben wird. Das ist die Menge
an radioaktiver Strahlung, die in einem Milliliter Luft unter Normalbedingungen
eine elektrostatische Einheit an Ionenladung erzeugt. Umgerechnet gilt
C
Röntgen: 1 R = 2.58 10−4 . (2.108)
kg Luft
98 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Alternativ zur Ionendosis gibt man häufig auch die Energiedosis an in Einhei-
ten von Gray. Dabei ist ein Gray die Menge radioaktiver Strahlung, die in einem
Kilogramm 1 Joule an Energie deponiert
J
Gray: 1 Gy = 1 . (2.109)
kg
• Ein drittes Kriterium ist die biologische Wirkung einer Dosis elektromagnetischer
Strahlung, die in Sievert angegeben wird. Dieses Maß für die biologische Wir-
kung versucht zu berücksichtigen, dass z.B. eine Energiedosis von 1 Gray, die durch
die Abbremsung von α Teilchen deponiert wird, für biologische Zellen in der Re-
gel schädlicher ist als die gleiche Energiedosis, durch Röntgenstrahlung oder Elek-
tronen des β Zerfalls. Diese biologische Wirksamkeit wir durch einen sogenannten
Qualitätsfaktor QF angegeben und es gilt:
Sievert: 1 Sv = 1 Gy QF . (2.110)
Röntgenstrahlung und β-Strahlung haben eine Qualitätsfaktor von etwa 1, für α
Strahler gilt QF ≈ 10 und für Neutronen wächst QF von 5 für langsame auf 10 für
schnelle Neutronen.

2.4.3 Natürliche Radioaktivität, Datierungsmethoden


Im Sonnensystem und natürlich speziell auf der Erde findet man unter natürlichen Be-
dingungen etwa 60 Isotope, die radioaktiv sind. Alle anderen instabilen Isotope, die in
der Nuklidkarte der Abb. 2.15 aufgeführt sind, mußten erst von Menschen in radioaktiven
Prozessen erzeugt werden, bevor man sie untersuchen konnte.
So stellt man z.B. fest, dass das Isotop des Thoriums (Z=90) mit A=232, also 232 T h, mit
einer Halbwertszeit von 1.39 1010 Jahren, genau so wie das Isotop des Urans, 238 U (Z =92,
Halbwertszeit 4.5 109 Jahre), als natürliches Isotop vorkommt. Andererseits gibt es das
Isotop des Neptunium 237 N p (Z =93, Halbwertszeit 2.2 106 Jahre) nicht in natürlicher
Form. Dies deutet darauf hin, dass die Halbwertszeiten von 232 T h und 238 U so lang sind,
dass von den ursprünglich in stellaren Prozessen erzeugten Atomkernen, immer noch
welche verfügbar sind, während die ursprünglich erzeugten 237 N p Isotope inzwischen alle,
im Wesentlichen durch α Zerfall, verschwunden sind. Aus einer genaueren Analyse der
natürlichen Isotope und ihrer Zusammensetzung kann man schliessen, dass das Material
des Sonnensystems vor etwa 10 Milliarden Jahren (1010 Jahren) erzeugt worden ist (siehe
Anmerkungen zur Elementsynthese im Abschnitt 2.10).
Die Vermessung der Isotopenzusammensetzung ist aber nicht nur für die Abschätzung
des Alters des Sonnensystems von Bedeutung. Als ein Beispiel für die Anwendung der
Kernphysik bei Datierungen von archäologischen Funden, soll kurz auf die sogenannte
14
C Methode eingegangen werden.
Das Isotop des Kohlenstoffs, 14 C, ist instabil gegenüber β − Zerfall mit einer Halbwertszeit
von 5730 Jahren. Dennoch kommt es in der Atmosphäre mit einer kleinen Wahrschein-
lichkeit vor. Dabei gilt für das Verhältnis von Zahl der 14 C zu Anzahl der dominanten
12
C
N (14 C)
≈ 1.5 10−12 . (2.111)
N (12 C)
2.4. RADIOAKTIVITÄT 99

Obwohl dieses Verhältnis sehr klein ist, ist der Anteil der 14 C Atome natürlich nicht
als Rest der ursprünglich synthetisierten Materie zu erklären (dazu ist die Halbwertszeit
zu kurz). 14 C wird vielmehr ständig in der Atmosphäre aus Stickstoff produziert durch
Neutronen aus der Höhenstrahlung über die Reaktion

n +14 N → p +14 C . (2.112)

Dies führt dazu, dass das Verhältnis (2.111) über viele Jahrtausende konstant geblieben
ist. Der Kohlenstoff der Luft wird durch biologische Prozesse z.B. im Holz fixiert. Ist
der Kohlenstoff aber einmal fixiert, so reduziert sich das Verhältnis 14 C zu 12 C ständig
mit der Zeit: Die 14 C Isotope zerfallen durch β-Zerfall, es werden aber im Holz keine
nachproduziert, da die Reaktion, die 14 C Erzeugung nur in der Atmosphäre abläuft. So
kann man also durch Ausmessung des Verhältnisses von 14 C zu 12 C, beziehungsweise
durch die Vermessung der β-Aktivität der Probe, nachweisen vor welcher Zeit das Holz
gewachsen ist. Die Halbwertszeit des 14 C ist ideal für Altersbestimmungen von einigen
tausend Jahren.
Bei dieser Analyse wird angenommen, dass das Verhältnis von (2.111) konstant ist. Im
letzten Jahrhundert wurde dieses Verhältnis aber merklich durch Menschenhand beein-
flusst. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der 14 C Anteil am Inventar der Atmosphäre
kleiner. Durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen wurde eine zusätzliche Menge
von 12 C freigesetzt. Demgegenüber beobachtete man seit 1954 einen Anstieg des 14 C An-
teils. Die Ursache hierfür liegt wohl in den Versuchen mit Atombomben. Dabei wurden in
großer Menge Neutronen freigesetzt, die über (2.112) messbare Mengen von 14 C erzeugten.
100 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Bindungsenergie/A [MeV]

0 50 100 150 200 250


Massenzahl A

Abbildung 2.16: Experimentelle Werte für die Bindungsenergie pro Nukleon


für die Atomkerne mit verschiedenen Massenzahlen A. Für jede Massenzahl
ist der jeweils höchste Wert dargestellt.

2.7 Kernspaltung

In der Abb 2.16 sind die experimentellen Werte für die Bindungsenergie pro Nukleon
aufgetragen als Funktion der Massenzahl A. Dabei wurde für jede Massenzahl A der
Atomkern mit der höchsten Bindungsenergie bei dieser Massenzahl berücksichtigt. Wir
sehen an dieser Darstellung der experimentellen Werte, dass sich ein Maximum für die
Bindungsenergie pro Nukleon bei der Nukleonenzahl A von etwa 60 ergibt. Offensichtlich
kann man also Energie dadurch gewinnen, dass man Atomkerne mit einer großen Massen-
zahl von etwa 200 spaltet in 2 Fragmente von mittlerer Massenzahl, oder aber zwei sehr
leichte Atomkerne zu einem Atomkern mit mittlerer Massenzahl fusioniert.
Diese globale Eigenschaft der Bindungsenergie wird bereits durch das einfache Tröpfchen-
modell, das der Bethe-Weizsäcker Massenformel (2.51) zugrundeliegt, reproduziert. Bei
den sehr leichten Atomkernen (A < 50) dominiert die Oberfläche das System. Die mei-
sten Nukleonen liegen an der Oberfläche und nur wenige im Zentrum des Kerns sind von
anderen Nukleonen vollständig umgeben, so dass sie die volle Attraktion durch andere
Nukleonen in der Nachbarschaft erfahren. Durch eine Vergrößerung der Nukleonenzahl
wird der Anteil der Nukleonen im Zentrum vergrößert, was zu mehr Bindungsenergie pro
Nukleon führt.
Bei sehr großen Atomkernen wird die Coulomb Abstoßung der Protonen immer wichti-
ger, da dieses Coulomb Potenzial eine sehr viel größere Reichweite hat, als die attraktive
Nukleon-Nukleon Wechselwirkung. Die Atomkerne versuchen diesen Coulomb Effekt da-
durch abzuschwächen, dass der Anteil der Neutronen relativ zum Anteil der Protonen
erhöht wird. Dies führt aber zu einem Anwachsen der Symmetrie Energie in der Bethe-
Weizsäcker Massenformel. Letztlich ist es also die langreichweitige Coulomb Abstoßung,
die für den Abfall der Bindungsenergie pro Nukleon bei schweren Atomkernen verant-
2.7. KERNSPALTUNG 101

Coulomb−Berg

Energie

Energie−
gewinn

11
00 111
000 11
00 11
00
00
11 000
111 11
00
00
11 00
11
00
11 00
11
00
11
00
11 000
111 00
11
00
11 00
11 00
11

Deformation
Abbildung 2.17: Skizze für die Energie eines Atomkerns als Funktion seiner
Deformation. Auf der horizontalen Achse sind verschiedene Kerndeformation
vom sphärischen Kern bis hin zu zwei isolierten Kernen dargestellt.

wortlich ist, und dafür sorgt, dass Atomkerne mit A > 240 instabil sind.
Dies wird auch in der Abb. 2.17 zum Ausdruck gebracht, in der die Energie eines Atom-
kerns als Funktion seiner Oberfläche, bzw. der Deformation dieser Oberfläche skizziert
ist. Diese Energiefunktion zeigt ein lokales Minimum bei kleiner Deformation. In der Tat
führen Effekte des Schalenmodells dazu, dass die meisten Atomkerne einen leicht defor-
mierten Grundzustand aufweisen. Eine solche Deformation wird auch durch die Coulomb
Wechselwirkung gefördert, da ja die Protonen in einem deformierten Atomkern im Mittel
ein wenig weiter auseinander liegen werden, als im Fall des sphärischen Atomkerns.
Das globale Minimum der Energie ergibt sich aber erst bei sehr großer Deformation, dort
wo der Atomkern in zwei Teilkerne aufgespalten ist. Bringt man diese beiden Teilstücke
zusammen, so spüren die Nukleonen des einen Fragmentes die des anderen zunächst nur
über die Coulomb Abstoßung: die starke Wechselwirkung hat eine zu kurze Reichweite, um
bei großen Abständen der Fragmente wirksam zu werden. So wächst also die Energie mit
abnehmendem Abstand der Fragmente entsprechend dem 1/r Verhalten des Coulomb
Potenzials an. Erst bei kurzen Abständen der Fragmente, wo die beiden Kerntropfen
verschmelzen, dominiert die Attraktion, was zur Ausbildung des lokalen Minimums bei
kleinen Deformationen führt.
Diese Skizze verdeulticht, dass ein schwerer Atomkern durchaus stabil sein kann, auch
wenn es energetisch natürlich günstiger wäre, ihn in 2 Teilkerne zu spalten. Der sogenannte
Coulomb - Berg verhindert eine solche Spaltung.
Wie wir aber bereits beim α-Zerfall gesehen haben, erlaubt der Tunneleffekt der Quanten-
mechanik, dass das System diesen Coulomb - Berg mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
durchtunnelt, so dass er mit einer Spontanen Kernspaltung zerfällt. Diese spontane
Kernspaltung kann man bei verschiedenen schwereren Atomkernen beobachten. Meistens
zeigen aber andere Prozesse wie α- oder β-Zerfall ein größere Zerfallskonstante, so dass
102 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

diese Prozesse dominieren.


Dennoch könnte man sich naiv vorstellen, dass man eine gewisse Menge aus spaltenden
Atomkernen sammelt und die Energie, die bei diesen Spaltprozessen in Form der kineti-
schen Energie der Spaltprodukte freigesetzt wird, in irgendeiner Form nutzt.
Dieses Energiekonzept ist auf dem ersten Blick recht attraktiv, denn durch eine Kern-
spaltung wird etwa 200 MeV an Energie freigesetzt, während durch chemische Prozesse,
wie etwa die Verbrennung von Kohle oder Erdöl, nur wenige Elektronenvolt pro Molekül
gewonnen werden.
Geht man davon aus, dass in Europa pro Jahr und pro Einwohner Primärenergie von
etwa 7 Tonnen Steinkohle Einheiten (7 t SKE/Jahr) verbraucht werden, so kann man
diese Energie, wie schon der Name sagt, durch Verbrennen von 7 Tonnen Steinkohle pro
Bewohner und pro Jahr erbringen. Alternativ kann man diese Energie aber auch durch
Verbrennen von 5 Tonnen Erdöl oder durch den Verbrauch von 200 Gramm Uranoxid
in einem Kernreaktor, der die Kernspaltung nutzt, erbringen. Bei der Ausnutzung der
Kernfusion würden etwa 3 Gramm Brennstoff ausreichen, um den Energiebedarf eine
Europäers im Jahr zu decken. Dieser Vergleich soll die unterschiedliche Energiedichte der
chemischen und nuklearen Prozesse verdeutlichen.
Das oben dargestellte Konzept des Kernreaktors, bei dem man einfach auf die spontane
Kernspaltung wartet, ist natürlich für die Energiegewinnung nicht nutzbar. Entweder hat
der Spaltstoff eine zu hohe Zerfallskonstante für Kernspaltung oder eine zu niedrige. Ist die
Zerfallskonstante groß, hat der Kern eine kurze Halbwertszeit und man wird keine Isotope
von diesem Typ vorfinden. Ist die Zerfallskonstante niedrig, so wird man wohl hinreichend
viel Material vorfinden, allerdings wird dann aber die Spaltaktivität entsprechend niedrig
sein, so dass man keine Energie im gewünschten Umfang erzeugen kann.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma zeigten die Versuche von Otto Hahn und Fritz Straß-
mann mit der korrekten Interpretation von Lise Meitner auf. Dabei wurde Uran mit ther-
mischen Neutronen, also Neutronen mit einer Energie von etwa kB T mit T der Raumtem-
peratur, das sind etwa 0.025 eV, bestrahlt. Der Kernchemiker Otto Hahn entdeckte, daß
beim Beschuss von Uran mit thermischen Neutronen mittelschwere Elemente wie Ba und
La entstanden. Wie von Lise Meitner vermutet wurde, wird die Spaltung von Urankernen
durch thermische Neutronen induziert. Man muss also nicht warten bis irgendwann mal
ein Urankern spontan spaltet, sondern kann diesen Prozess durch die Bestrahlung mit
Neutronen steuern.
Zur genaueren Darstellung dieses Prozesses der neutroneninduzierten Spaltung von Atom-
kernen des Uran, betrachten wir zunächst einmal die Nuklidkarte im Bereich der Ura-
nisotope in Abb. 2.18. Wir ersehen daraus, dass natürliches Uran im wesentlichen aus
zwei stabilen Isotopen zusammengestzt ist: Es besteht zu etwa 0.7 % aus 235 U mit einer
Halbwertszeit von 7 · 108 Jahren und zu 99.3 % aus 238 U mit einer Halbwertszeit von
7 · 109 Jahren. Mit diesen Halbwertszeiten sind diese Uran Isotope relativ stabil. Mit einer
großen Halbwertszeit sind sie instabil vor allen Dingen gegenüber α-Zerfall und sponta-
ner Spaltung. Die höhere Halbwertszeit des 238 U im Vergleich zum 235 U ist natürlich ein
entscheidender Grund für die größere Häufigkeit dieses Isotops.
Durch den Einfang des thermischen Neutrons wird das 235 U in einen angeregten Zustand
des 236 U Isotopes mutiert, welches dann sehr schnell spaltet, bevorzugt in zwei Bruchstücke
2.7. KERNSPALTUNG 103

Abbildung 2.18: Nuklidkarte im Bereich 91 ≤ Z ≤ 95.

mit ungleicher Nukleonenzahl. Eine typische Reaktion hat also die Form
n o
ntherm +235 U −→ 235
U −→ 142
Ba +92 Kr + 2 nfast . (2.113)
ang
Da der Neutronenanteil der Nuklide mit wachsender Massenzahl steigt, haben die dabei
entstehenden Isotope des Bariums und Kryptons, bezogen auf ihre Kernladungszahlen
einen großen Neutronenanteil. Deshalb sind sie auch instabil gegenüber dem β − -Zerfall
und zerfallen mit Halbwertszeiten im Bereich von wenigen Sekunden bis zu einigen Stun-
den in
142 142
Ba −→ La −→142 Ce
92 92
Kr −→ Rb −→92 Sr −→92 Y −→92 Zr . (2.114)
Alternativ zu dieser Reaktionskette von (2.113) und (2.114) gibt es auch andere Produkt-
ketten bei der Spaltung. Die statistische Verteilung der Spaltprodukte, insbesondere die
Bevorzugung der Spaltung in asymmetrische Fragmente wird mit theoretischen Modellen
recht gut beschrieben.
Festzuhalten bleibt aber für diese Spaltreaktionen:
235
• nur das relativ seltene Uran Isotop U erfährt eine neutroneninduzierte Spaltung,
• bei jeder erfolgreichen Spaltung eines 235 U Kerns werden im statistischen Mittel 2.4
Neutronen freigesetzt (siehe z.B. (2.113)).

Man kann sich also sehr gut vorstellen, dass diese vermehrte Freisetzung von Neutronen
eine Kettenreaktion auslöst. In der ersten Generation spaltet ein Kern, dies führt zu mehr
als zwei Neutronen, die zwei weitere Spaltungen induzieren, daraus ergeben sich zwei mal
2.4 Neutronen, die mehr als 4 Spaltungen auslösen könnten, usw. In der Atombombe will
man gerade diese Kettenreaktion auslösen, so dass in sehr kurzer Zeit sehr viel Spaltenergie
freigesetzt wird.
104 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Diese Kettenreaktion kommt aber nur dann zustande, wenn erstens die bei einer Spaltung
entstehenden Neutronen von der hohen Energie von typischerweise etwa 1 MeV auf die
thermische Energie von etwa 0.025 MeV abgebremst werden. Nur diese abgebremsten
Neutronen werden vom 235 U Uran eingefangen zur Bildung der ersten Reaktionsstufe in
(2.113). Der Wirkungsquerschnitt des Neutroneneinfangs mit nachfolgender Spaltung ist
für schnelle Neutronen sehr viel geringer. Zweitens sollten alle abgebremsten Neutronen
wieder eine Spaltreaktion auslösen und nicht von anderen Atomkernen absorbiert werden.
Was kann man also machen, um möglichst viele der bei der Spaltung erzeugten Neutronen
wieder für die nächste Reaktion zu nutzen? Folgende Punkte geben eine kleine Übersicht
über mögliche Maßnahmen:

• Anreicherung des Uran: Die Isotope des Uran mit der Massenzahl 238 stören den
Spaltprozess. Sie absorbieren ebenfalls Neutronen mit einer Reaktionskette (siehe
Abb. 2.18)
β− β−
n +238 U −→ 239
U −→ 239
N p −→ 239
Pu. (2.115)
Das 239 P u hat eine Halbwertszeit von etwa 20000 Jahren. Diese Zeit ist nicht lang ge-
nug, dass es natürlich vorkommen könnte. Wegen der Reaktion (2.115) ist 239 P u aber
ein langlebiges Abfallprodukt aller Kernreaktoren, die mit Uran arbeiten. Darüber
hinaus ergibt sich aus diesem Abfallprodukt ein Sicherheitsrisiko: Plutonium kann
auf chemischer Basis relativ leicht angereichert werden und kann dann selbst als
Brennstof für atomare Waffen eingesetzt werden.
Ziel der Uran Anreicherung ist es den Anteil des spaltenden 235 U Isotops gegenüber
dem Anteil des 238 U Isotops zu vergrößern. In den üblichen Reaktoren der Kern-
kraftwerke wird typischerweise ein Uran - Gemisch benutzt, bei dem 235 U auf etwa 3
bis 4 Prozent angereichert ist (im Vergleich zu 0.7 % im Natururan). In Kernwaffen
benutzt man Uran, das über 90 Prozent des Isotops 235 U enthält.

• Überkritische Masse: Damit die Anzahl der Neutronen, die den Kernreaktor “un-
genutzt” verlassen, gering gehalten wird, kann man natürlich auch die Gesamtmasse
des Spaltmaterials erhöhen, um so das Verhältnis Oberfläche zu Volumen gering zu
halten. Daraus ergibt sich eine kritische Masse. Wenn man Uran mit einer bestimm-
ten Anreicherung in einer Menge zusammenpackt, die größer ist als die kritische
Masse, so kommt eine Kettenreaktion zustande: die Zahl der Neutronen, die von ei-
ner Kernspaltung freigesetzt wird und eine weitere Kernspaltung initiiert ist größer
als 1.
Man kann aber auch versuchen Neutronenverluste dadurch zu verringern, dass man
die Oberfläche des Reaktors mit einem Material belegt, das Neutronen reflektiert.

• Geeignete Moderatoren: Ein wichtiger Bestandteil eines Reaktors ist ein geeig-
neter Moderator, durch den die schnellen Neutronen, die bei der Spaltung entstehen
auf thermische Energien abgebremst werden, so dass der Wirkungsquerschnitt für
die induzierte Kernspaltung erhöht wird. Ein üblicher Moderator ist gewöhnliches
Wasse (H2 O). Besonders die Streuung von den Neutronen an den gleichschweren
Atomkernen des Wasserstoffs (H) führt zu einem effektiven Energieübertrag von
den Neutronen auf den Moderator. So ist die mittlere Weglänge, die ein Neutron in
2.7. KERNSPALTUNG 105

Abbildung 2.19: Bild des Versuchsaufbaus in Haigerloch

Wasser zurücklegt, bis es von einer Energie von etwa 1 MeV auf die thermische Ener-
gie abgebremst ist, etwa 5 cm. Ein Nachteil des Moderators normales oder leichtes
Wasser ist der nicht unerhebliche Anteil der Neutronen, die durch Absorption am
Proton (n+p → d mit d dem Deuteron) für die Aufrechterhaltung der Spaltreaktion
verloren gehen.
Deshalb empfiehlt sich die Nutzung von schwerem Wasser (D2 O, das ist Wasser
bei dem die H Atome durch solche des Deuterons ersetzt sind) als Moderator. In
schwerem Wasser ist zwar die mittlere Weglänge für die Abbremsung der Neutronen
auf thermische Energien etwas größer, dafür ist aber die Absorptionsrate deutlich
niedriger.
Alternativ zum Moderator Wasser wird auch Graphit als Moderator in Spaltreak-
toren benutzt.

An dieser Stelle sollen kurz einige Reaktortypen vorgestellt werden. Als erstes wollen wir
dabei auf einen Versuch der Reaktorentwicklung eingehen, der eine gewisse historische
Bedeutung und auch einen lokalen Bezug zu Tübingen besitzt: der Versuch im Haiger-
locher Atomkeller (siehe Abb. 2.19).
Nach der Entdeckung der neutroneninduzierten Kernspaltung im Jahre 1938, wurden
während des 2. Weltkrieges mit mehr oder weniger großer Intensität Forschungsprojekte
in Gang gesetzt, diese Energiequelle eventuell auch für militärische Zwecke zu nutzen. In
Amerika wurde mit großem Aufwand im sogenannten Manhattan Projekt die Atom-
bombe entwickelt. Parallel dazu gab es auch auf deutscher Seite eine Gruppe von Wissen-
schaftlern, die sich mit der Nutzung von Kernenergie beschäftigte. Diese Gruppe war am
Kaiser Wilhelm Institut in Berlin angesiedelt, suchte aber, als die Luftangriffe auf Berlin
eine effiziente Arbeit dort erschwerten, ein neues Domizil. Auf Vorschlag von W. Gerlach,
der diesen Ort aus seiner Zeit in Tübingen kannte, wurden die Experimente in einem
Felsenkeller des Gasthauses “Zum Schwan” in Haigerloch fortgeführt. Dieser Felskeller
beherbergt heute ein kleines Museum.
106 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.20: Schematische Darstellung eines Siedewasser Reaktors

Im Zentrum dieses Museums steht eine Rekonstruktion des Versuchsaufbaus der Gruppe
um W. Heisenberg. Ziel war die Erstellung eines Kernreaktors, der mit Natururan, also
nicht angereichertem Uran arbeitete. Als Moderator wurde aus den oben dargestellten
Gründen schweres Wasser eingesetzt. Die Abb. 2.19 zeigt den Aufbau des Reaktorkern:
die Klötze enthielten das Spaltmaterial, der Abstand der Klötze entspricht etwa der mitt-
leren Weglänge für die Abbremsung der schnellen Neutronen im schweren Wasser. Man
beobachtete eine signifikante Erhöhung der Neutronenzahl, wenn der Reaktor mit schwe-
rem Wasser gefüllt wurde. Die Menge des zur Verfügung stehenden schweren Wassers
reichte aber nicht aus, um den Reaktor kritisch werden zu lassen.
Im Einsatz als Kernkraftwerke benutzt man heute vor allen Dingen die sogenannten
Leichtwasserreaktoren. Als nuklearer Brennstoff wird schwach angereichertes Uran be-
nutzt. Wegen dieser Anreicherung kann man auf die Vorteile des schweren Wassers als
Moderator verzichten und gewöhnliches Wasser nutzen. Als Beispiel ist ein Abb. 2.20 der
Aufbau eines Siedewasserreaktors dargestellt. Das Spaltmaterial in Form von Uranoxid ist
in den Brennstäben enthalten. Diese Brennstäbe werden vom Wasser umspült, das sowohl
als Moderator dient als auch als Kühlmittel über das die bei der Kernspaltung freiwge-
wordene Energie einer Dampfturbine zugeführt wird. Der Reaktor wird durch sogenannte
Steuerstäbe geregelt. Das sind Stäbe aus einem Materiale z.B. Cadmium, welches Neu-
tronen mit hohem Wirkungsgrad absorbiert. Durch das Einfahren der Steuerstäbe wird
die Kettenreaktion unterbrochen.
Eine Modifikation des Siedewasserreaktors ist der sogenannte Druckwasserreaktor. Er be-
sitzt zwei getrennte Kreisläufe. Das Wasser, welches die Brennstäbe als Moderator und
Kühlmittel umspült, wird unter Druck (etwa 150 bar bei einer Temperatur bis zu 320 Grad
Celsius) gehalten. Die Energie wird über einem Wärmetauscher einem zweiten Wasser-
kreislauf unter Normaldruck zugeführt.
Ein typisches Leichtwasserkraftwerk produziert eine Energieleistung von etwa 1 GW elek-
trischer Energie. Weltweit werden etwa 18 Prozent der elektrischen Energie durch Kern-
2.7. KERNSPALTUNG 107

,
Abbildung 2.21: Schematische Darstellung Hochtemperatur Reaktors (links),
Aufbau der Brennelemente (rechts)

kraftwerke bereit gestellt. In Deutschland sind es etwa 30 Prozent, in Frankreich 75 Pro-


zent.
Eine anderer Reaktortyp, der in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahr-
hunderts vor allen Dingen am Forschungszentrum in Jülich entwickelt wurde, ist der
sogenannte Hochtemperaturreaktor. Ein Ziel dieser Reaktorlinie ist eine höhere Tem-
peratur der Nutzwärme von etwa 800 bis 1100 Grad Celsius. Dadurch ergibt sich ein
höherer Wirkungsgrad (siehe Carnot Prozess) für die Umwandlung von Wärmeenergie in
mechanische Arbeit. Bei diesen hohen Temperaturen benutzt man nicht mehr Wasser als
Kühlmittel sondern Helium Gas, das eine hohe Wärmekapazität hat und außerdem nicht
zu Korosionen führt. Als Moderator wird Graphit benutzt, das auch bei den hohen Tem-
peraturen stabil ist. Die Brennelemente sind Graphitkugeln mit eingelagerten Kügelchen
des Spaltmaterials (siehe rechter Teil der Abb. 2.21). Diese Brennelemente können konti-
nuierlich nachgefüllt und auch wieder abgeführt werden (siehe linker Teil der Abb. 2.21).
Dadurch kann man den Inventar des spaltbaren Materials im Reaktorkern relativ klein
halten. Dieses Reaktordesign besitzt eine inhärente Sicherheit, da die Brennelemente auch
bei der maximal erreichbaren Temperatur nicht schmelzen. Außerdem kann dieser Reak-
tortyp auch in kleinen Einheiten (etwa 100 MW elektrische Leistung) gebaut werden.
Nach dem Bau eines Prototyps in Hamm Uentrop wurde die Entwicklung dieser Reak-
torlinie in Deutschland nicht mehr weiter gefördert. Die Gründe dafür liegen sowohl in
der allgemeinen Skepsis gegenüber der Kernkraft aber auch in der Tatsache, dass für
diesen Reaktortyp ein alternatives System für den Brennstoffkreislauf hätte aufgebaut
werden müssen. In den letzten Jahren wurde dieses Reaktorkonzept in Japan, China und
Südafrika aufgegriffen.
Parallel zur Entwicklung des Hochtemperaturreaktors wurde in Deutschland auch ein so-
genannter Brutreaktor entwickelt. Über die Reaktion (2.115) wird dabei aus dem direkt
nicht nutzbarem Uran Isotop 238 U das spaltbare 239 P u erbrütet. Die dabei entstehen-
108 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

den Neutronen sollten nicht auf thermische Energien gekühlt werden, sondern “schnell”
bleiben; deshalb trug dieser Reaktortyp auch den Namen Schneller Brüter. Damit die
Abbremsung nicht erfolgt, muss man ein anderes Kühlmittel als Wasser nehmen. Vorge-
sehen war dazu flüssiges Natrium bei einer Temperatur von etwa 400 Grad Celsius. Dieses
Kühlmaterial absorbiert keine Neutronen ist aber chemisch sehr aggressiv.
Vorteile dieses Reaktortyps sind die mögliche Ausnutzung des Isotops 238 U und damit
verbundene eine um den Faktor 100 verbesserte Nutzung des Natururans. Nachteile sind
die bereits skizzierten Probleme mit der Handhabung des Kühlmittels Natrium und die
notwendige Aufarbeitung des Brennmaterials. Wichtig ist auch eine sorgfältige Kontrolle
des erzeugten Plutoniums, da es sich für den Einsatz in Kernwaffen eignet. In Deutschland
wurde ein Brutreaktor in Kalkar gebaut, aber nicht in Betrieb genommen.
Zum Abschluss dieses Abschnittes soll kurz auf den Bau von Atombomben eingegangen
werden, die auf der Kernspaltung basieren. Der Flaschenhals für den Bau solcher Bomben
liegt in der Verfügbarkeit von spaltbarem Material in entsprechender Reinheit und Menge.
Die kritische Menge für eine Plutoniumbombe beträgt etwa 10 kg Plutonium als Metall. Im
Fall des Urans braucht man z.B. 52 kg Uran, das auf 93 % Anteil des 235 U angereichert ist,
um die für die Kettenreaktion kritische Masse zu erreichen. Hat man genügend Material
zusammen, so zerlegt man diese Masse in Teile, die unterkritisch sind, Zur Zündung der
Bombe reicht es, dass man diese Teile sehr schnell zur kritischen Masse zusammenfügt.
Dies kann z.B. durch Auslösen einer konventionellen Sprengung geschehen.
2.8. KERNFUSION 109

2.8 Kernfusion
Aus der Diskussion der Bindungsenergien pro Nukleon im vorhergehenden Abschnitt wis-
sen wir, dass man im Bereich der leichten Atomkerne Energie dadurch gewinnen kann,
dass man zwei Atomkerne fusioniert. Dies gilt in besonderem Maße für Fusionsexperimen-
te, die zum α-Teilchen führen. Das α-Teilchen also der Atomkern des 4 He besteht aus zwei
Protonen und zwei Neutronen, ist also ein doppelt magischer Kern zur magischen Zahl
Z = N = 2. Dies erklärt die besonders hohe Bindungsenergie des α-Teilchens von 7.07
MeV pro Nukleon, während etwa des Deuteron, bestehend aus einem Proton und einem
Neutron nur eine Bindungsenergie von 1.1 MeV pro Nukleon besitzt (siehe Abb 2.16). Bei
der Fusion von 2 Deuteronen zu einem α-Teilchen würde also insgesamt eine Energie von
etwa 24 MeV freigesetzt.
Diese Energiequelle der Kernfusion möchte man gerne im Fusionsreaktor nutzen. Die
gleiche Energiequelle wird in der sogenannten Wasserstoffbombe genutzt, eine Waffe die
vor etwa 50 Jahren entwickelt, aber zum Glück noch nie eingesetzt wurde. Schliesslich
schöpft auch die Sonne ihre Energie aus solchen Fusionsreaktionen, eine Tatsache auf die
wir im nächsten Abschnitt zur nuklearen Astrophysik noch zu sprechen kommen werden.
Mit welchen Problemen ist man konfrontiert, wenn man einen Fusionsreaktor realisiern
möchte. Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir in einem ersten Schritt die Energie
von 2 Deuteronen als Funktion ihres Abstandes R in der Skizze2.22.
Energie des Systems

Abstand der Deuteronen: R


24 MeV

Abbildung 2.22: Energie von 2 Deuteronen als Funktion des Abstandes

Beim Abstand R = 0 sind die Deuteronen fusioniert, und das System gewinnt daher die
Fusionsenergie von 24 MeV im Vergleich zu den 2 völlig voneinander getrennten Deuteron
Kernen. Wenn sich die Deuteronen aber aus großem Abstand annähern, so spüren sie
zunächst einmal das abstossende Potenzial der Coulomb Wechselwirkung. Erst bei kurzem
Abstand dominiert die attraktive Kernkraft, die zum Energiegewinn der Fusion führt.
Dieses Verhalten macht sich auch im Wirkungsquerschnitt für die Fusionsreaktion be-
merkbar. Bei niedrigen Relativenergien der Deuteronen reicht die Energie nicht dazu aus,
dass die Deuteronen den Berg der Coulomb Abstoßung überwinden. Die Fusion erfolgt nur
über den Tunneleffekt. So steigt auch der Wirkungsquerschnitt dieser Fusionsreaktion na-
hezu exponentiell mit der Relativenergie an bis dieser Wirkungsquerschnitt ein Maximum
bei einer Energie von etwa 100 keV erreicht. Bei höheren Energie sinkt der Wirkungsquer-
110 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

schnitt wieder. Bei diesen Energien laufen die Deuteronen aneinander vorbei und kommen
so mit geringerer Wahrscheinlichkeit zur Fusion.
Der Wirkungsquerschnitt ist (im Vergleich zu d−d) deutlich höher für die Fusionsreaktion
von einem Deuteron d und einem Tritium Kern, t, das ist das Isotop des Wasserstoffs mit
zwei Neutronen, also 3 H,

d+t −→ α + n + 17.58 MeV . (2.116)

Der Energiegewinn ist mit 17.58 MeV nicht ganz so groß wie im Fall der Fusion von
zwei Deuteronen, aber wegen des höheren Wirkungsquerschnittes dieser Reaktion, kon-
zentriert man die Bemühungen um einen Fusionsreaktor auf diese Reaktion. Die freiwer-
dende Energie wird so aufgeteilt, dass das α-Teilchen 3.52 MeV in Form von kinetischer
Energie mitbekommt und das Neutron den Großteil mit 14.06 MeV wegträgt. Der Verlauf
des Energie des d − t Systems als Funktion des Abstandes entspricht dem von zwei Deute-
ronen und damit ist auch die Energieabhängigkeit des Wirkungsquerschnittes so wie wir
bereits diskutiert haben.
Damit der Wirkungsquerschnitt für die Fusion optimal ist, sollte man das Gas des Fusi-
onsbrennstoffs auf eine Temperatur T aufheizen, so dass die mittlere thermische Energie
eines Atoms der für die Fusionsreaktion optimalen Energie entspricht
3
kB T ≈ 100 keV → T ≈ 109 K . (2.117)
2
Bei diesen hohen Temperaturen verliert die Materie die für uns gewohnte Gestalt: die
Atomkerne und die Elektronen sind nicht mehr zu neutralen Atomen gebunden. Atom-
kerne und Elektronen bewegen sich bei diesen hohen Temperaturen praktisch unabhängig
voneinander, man spricht von einem Plasma aus Ionen und Elektronen. Man muss also
ein Plasma aus d und t mit entsprechender Temperatur erzeugen, bevor man mit energie-
erzeugenden Fusionsreaktion rechnen kann.
Damit ein Reaktor wirtschaftlich genutzt werden kann, sollte die Energie, die z.B. zum
Aufheizen des Plasmas investiert werden muss, kleiner sein als die Energie, die man aus
dem Reaktor herausholt. Dies führt uns zum sogenannten Lawson Kriterium, wonach die
Energiedichte die dem System entzogen werden kann, εo , größer sein soll, als die zugeführte
Energiedichte εi
εo > εi . (2.118)
Die zuzuführende Energie wird vor allen Dingen benötigt, um das Plasma aufzuheizen.
Betrachten wir ein Plasma mit der Ionendichte ñ bestehend aus positiv geladenen d und
t Kernen, so ist der Energiedichte des Plasmas aus Ionen plus Elektronen gegeben durch
3
εi = 2 ñkB T . (2.119)
2
Der Faktor 2 berücksichtigt, dass das Gas der Ionen und der Elektronen auf die gleiche
Temperatur T aufgeheizt werden muss. Die gewinnbare Energiedichte besteht natürlich
einmal aus der gewonnenen Fusionsenergiedichte

ñ2
εFusion = hσ(T )viT EF τ . (2.120)
4
2.8. KERNFUSION 111

Dabei kann man davon ausgehen, dass bei jeder erfolgreichen Fusion die Energie EF von
17.58 MeV (siehe (2.116)) frei wird. Die Zahl der Fusionsreaktionen ist gegeben durch
die Dichte der d − t Paare also gleich dem Quadrat von ñ/2 (wenn man annimt, dass die
Dichte der beiden Isotope gleich ist) multipliziert mit dem gemittelten Produkt aus dem
Wirkungsquerschnitt σ(T ) für die Fusion und den Relativgeschwindigkeiten der Reakti-
onspartner v bei der gegebenen Temperatur T . Der Energiegewinn ist dann aber auch
proportional zur Einschlußzeit τ , das ist die Zeitspanne für die es uns gelingt, das Plas-
ma bei der Temperatur T und der Dichte ñ einzuschliessen, so dass die Fusionsreaktion
vonstatten gehen kann.
Außerdem kann man natürlich am Ende des Fusionszyklus auch wieder versuchen die
eingesetzte Energiedichte εi wieder zurückzugewinnen. Allerdings wird die theoretisch zur
Verfügung stehende Energiedichte εFusion + εi nur mit einem gewissen Wirkungsgrad η
nutzbar sein, so dass h i
εo = η εFusion + εi . (2.121)
Setzt man diese Ausdrücke für εi und εo in das Lawson Kriterium ein, so ergibt sich
!
ñ2 1
hσ(T )viT EF τ > 3ñkB T −1 , (2.122)
4 η

beziehungsweise !
12 1
ñτ > kB T −1 . (2.123)
hσ(T )viT EF η
Das Produkt aus Ionendichte ñ und Einschlusszeit τ bezeichnet man als Einschlusspara-
meter. Nach dem Lawson Kriterium muss dieser Einschlussparameter also größer sein als
die rechte Seite von (2.123), die eine Funktion der Temperatur T ist. Setzt man auf dieser
rechten Seite für EF die gesamte Energie, die pro Fusion frei wird, ein, also EF = 17.58
MeV, so bezeichnet die Erfüllung des Lawson Kriteriums den sogenannten “Break Even”
Punkt, an dem der Energiegewinn gerade gleich null ist. Setzt man für EF den Teil der
Fusionsenergie ein, der bei jeder Fusionsrekation zum Nachheizen des Plasmas genutzt
werden kann, das ist gerade die Energie EF von 3.52 MeV, die auf das α-Teilchen übert-
ragen wird, so bezeichnet (2.123) die Zündbedingung für das Plasma. Dabei geht man
davon aus, dass bei Erreichen dieser Bedingung die Energie des geladenen α-Teilchens im
Plasma verbleibt und dieses nachheizt also mit Erfüllung der Bedingung (2.123) trägt sich
die Energie des Plasmas selbst, wie bei einem einmal gezündeten Feuer. Die Energie des
Neutrons ist in der Regel für die Plasmaheizung verloren, da das ungeladene Neutron das
Plasma verlässt. Die Energie des Neutrons wird außerhalb des Plasmas abgefangen und
in Nutzenergie umgewandelt.
In der Abb. 2.23 sind Werte für Temperatur und Einschlussparameter aufgezeigt, die
in verschiedenen Experimenten erzielt worden sind. Zum Vergleich ist auch der Bereich
angegeben, den man für einen energieproduzierenden Fusionsreaktor erreichen möchte.
Die erreichten Punkte unterscheiden sich in der Farbe, je nach dem Jahr, in dem die Er-
gebnisse erzielt wurden. Außerdem unterscheiden sich die Symbole in der Form: Kreise
bezeichnen Experimente bei denen das Plasma durch ein Magnetfeld gehalten wird, Drei-
ecke (“inertial confinement”) solche bei denen die Dichten durch Implosion von kleinen
Kugeln mit Fusionsmaterial erzielt wurden. Im folgenden werden wir diese Möglichkeiten
etwas genauer betrachten.
112 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.23: Darstellung des Lawson Kriteriums und bisher erreichte Werte
für den Einschlussparameter in (2.123), weitere Erläuterungen im Text

Es ist sicher jedem klar, dass man ein Plasma mit einer Temperatur von 100 Millionen
K nicht einfach in eine Plastiktüte oder auch einem Gefäss aus irgend einem anderen
Material zusammenhalten kann. Eine Möglichkeit, ein solches Plasma aus geladenen Teil-
chen zu kontrollieren, bietet die Wechselwirkungen dieser Ladungen mit einem Magnetfeld
über die Lorentzkraft. Bei der Diskussion der Lorentzkraft haben wir gesehen, dass sich
geladene Teilchen in einem homogenen Magnetfeld frei in Richtung der Magnetfeldlinien
bewegen. Bei Bewegungsrichtungen senkrecht zu den Magnetfeldlinien werden sie durch
die Lorentzkraft auf eine Kreisbahn um die Feldlinien abgelenkt. Ist das Magnetfeld sehr
stark, so ist der Radius dieser Kreisbahn sehr klein, man hat also praktisch eine Bewegung
ausschliesslich in Richtung parallel zu den Magnetfeldlinien.
Wenn man sich nun in einem nächsten Schritt vorstellt, dass man einen Zylinder mit
einem solchen homogenen Magnetfeld zu einem Kreis, bzw. Torus, zusammenfügt, so
erhält man eine Magnetfeldkonfiguration, bei der sich die Ionen in erster Näherung auf
diesen Kreisbahnen parallel zu den Magnetfeldlinien bewegen. Ein solches Magnetfeld
erzielt man dadurch, dass man kreisförmige Spulen um den Zylinder aufbaut und diese
Spulen dann wiederum in einem Kreis aufbaut (siehe Hauptfeldspulen in der Abb. 2.24).
Ein solches toroidales Magnetfeld hat allerdings den kleinen Schönheitsfehler, dass das
Magntfeld nicht ganz homogen ist. An der äußeren Wand des Torus ist es schwächer als
der Innenkante. Dies hat zur Folge, dass die Ionen die Tendenz haben nach außen zu
driften, und so dem Einschluss durch das Magnetfeld entkommen.
Diese Driftbewegung kann man dadurch kompensieren, dass man dem toroidalen Ma-
gnetfeld eine kreisörmige Komponente überlagert mit dem Zentrum dieses Kreises in der
Mitte des torusförmigen Schlauches (siehe Abb. 2.24). Die Überlagerung von toroidalem
und kreisförmigem Magnetfeld führt zu schraubenförmigen (helikalen) Feldlinien. Ein Ion,
das sich am äußeren Rand des Torus bewegt wird also durch diese Feldinien wieder auf
den inneren Rand des Torus gelenkt und verbleibt so im Torus.
Die kreisförmige Magnetfeldkomponente erreicht man durch einen Strom der Plasmaionen
entlang des Torus. Dieser Strom kann von außen induziert werden durch eine Konstruktion
wie bei einem Transformator. Dazu baut man einen Eisenjoch wickelt um einen Teil eine
Spule, die Primärspule des Transformators, durch die ein ansteigender Magnetfluß in den
Eisenkern induziert wird. Der Torus bildet dann die Sekundärspule des Transformators, in
die dann der Ionenstrom induziert wird (siehe Abb. 2.24). Der in das Plasma induzierte
2.8. KERNFUSION 113

Abbildung 2.24: Skizze zum Magnetfeld eines Tokamaks

Strom übernimmt dabei eine doppelte Funktion: Einmal wird dadurch die gewünschte
helikale Magnetfeldstruktur erzeugt. Zum zweiten dient dieser induzierte Strom aber auch
zur Heizung des Plasmas.
In der Praxis hat man nicht nur einen Eisenjoch sondern mehrere, wie das in der Abb. 2.25
zum Ausdruck kommt. Man spricht dabei von der Realisierung des magnetischen Plas-
maeinschlusses nach dem Tokamak Prinzip. Die Abbildung entspricht einer Konstruk-
tionszeichnung des JET (Joint European Torus) Projekts, das von vielen europäischen
Staaten finanziert wird und seit Beginn der 1990 Jahre in Culham (Großbritannien) be-
trieben wird. Einen Einblick in das Innere dieses JET Torus bietet die Abb. 2.26.
Als Alternative zum Tokamak Prinzip werden auch andere Magnetfeld Konfigurationen
entwickelt, die das Fusionsplasma stabil erfassen. Das sogenannte Stellarator Prinzip
bezeichnet ein kompliziert verdrilltes toroidales Magnetfeld. Entsprechende Entwicklun-
gen gibt es z.B. am Max-Planck Institut für Plasmaphysik in Garching mit dem soge-
nannten Wendelstein Projekt. Eine Weiterentwicklung, das Projekt W7-X in Greifswald
befindet sich noch im Bau. In diesem Fall erfolgt die Aufheizung des Plasmas vor allen
Dingen durch den Einschuss neutraler Teilchen.
Man versucht aber auch die Fusionsbedingungen durch einen Trägheitseinschluss, das
sogenannte “inertial confinement”, des Plasmas zu erreichen. In diesem Fall wird eine
kleine Kapsel, die im Inneren d und t Atome enthält, von möglichst vielen Seiten mit
hochenergetischen Laser- oder Teilchenstrahlen bombardiert. Bei geschickter Wahl der
Kapselhülle wir dieses durch die Strahlung so aufgeheizt, dass unter Absprengung der
äußeren Schale das Innere der Kapsel zu so hohen Dichten und Temperaturen implodiert,
dass die Fusionsreaktion gezündet wird. Das Plasma wird dabei nur durch seine Trägheit
komprimiert. In der Experimentierphase werden zur Zündung des Plamas häufig Laser-
strahlen benutzt, wie z.B. bei der “National Ignition Facility”, die zur Zeit in den USA
gebaut wird, bei der 192 Laserstrahlen auf eine Kapsel fokussiert werden und dabei 1.8 MJ
an Energie abgeben sollen. Für einen Reaktor sind Laser jedoch ungeeignet, da sie sehr
ineffizient in der Energieumwandlung sind. Hier wäre der Einsatz von Teilchenstrahlen
günstiger.
114 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.25: Konstruktionszeichnung des JET Projektes

Abbildung 2.26: Blick in das Innere des JET (Joint European Torus) in Cul-
ham, England
2.8. KERNFUSION 115

d
d−Speicher t−Speicher

Plasma: Trennung
d+ t α+ n α

Blanket: Trennung
Li+n α+t+ n

Li−Speicher
Li
"
Kuhlmittel

Abbildung 2.27: Schematischer Aufbau einer Fusionsreaktoranlage

Auch die Wasserstoffbombe funktioniert im Prinzip nach dem Prinzip des Trägheits-
einschlusses. In diesem Fall sind aber die Mengen an Fusionsmaterial größer und die
Zündung erfolgt durch eine “gewöhnliche Atombombe”, die auf der Kernspaltung basiert.
Mit der Zündung der Fusionsreaktion allein hat man aber noch keinen funktionierenden
Fusionsreaktor. Insbesondere fehlt uns noch der Brennstoff. Zwar gibt es Deuteronen
,d, im Überfluss z.B. in der Form von schwerem Wasser. Das Wasserstoffisotop mit der
Massenzahl 3, das Tritium (t) aber ist instabil gegnüber β Zerfall mit einer Halbwertszeit
von 12,3 Jahren. Es existiert deshalb in natürlicher Form nicht und man wird es ständig
erzeugen müssen.
Dieser Vorgang ist im schematischen Aufbau einer Fusionsreaktoranlage in der Abb. 2.27
dargestellt. Herzstück dieser Anlage ist natürlich einerseits das Plasma, also entweder
ein Torus mit Magnetfeldeinschluss oder Kapseln mit dem Trägheitseinschluss. Diesem
Plasma werden Deuterium und Tritium aus den entsprechenden Speichern zugeführt. Dort
findet die Fusionreaktion nach (2.116) statt. Die Abfallprodukte, α-Teilchen und noch
nicht verbrauchtes Deuterium und Tritium werden hin und wieder aus dem Plasmabereich
entfernt und in einer Trennungsanlage in die Komponenten α, d und t separiert. Deuterium
und Tritium werden wieder den Speichern zugeführt, das α, bzw. die daraus entstandenen
Helium Atome können problemlos entsorgt werden.
Die bei der Fusionsreaktion entstandenen Neutronen tragen den Großteil der erzeugten
Energie und werden, da sie elektrisch neutral sind, nicht durch das Magnetfeld beim ma-
gnetischen Einschluss festgehalten, sie entweichen in die Hülle des Torus, dem sogenannten
Blanket. Dieses Blanket ist das zweite Herzstück der Fusionsanlage. In ihm sollen nämlich
die Reaktionen stattfinden, die den Brennstoff Tritium erzeugen. Dafür benutzt man die
Kernreaktionen
6
Li + n −→ α + t
116 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

7
Li + n −→ α + t + n . (2.124)

Bei der zweiten dieser Reaktionen kann das entstandene Neutron eine weitere Reaktion
dieses Typus einleiten. So ist gewährleistet, dass für jedes in der Fusionsreaktion erzeugte
Neutron theoretisch auch mehr als ein Tritium über die Brutreaktionen (2.124) erzeugen
kann. In der Praxis wird natürlich ein Teil der in der Fusion erzeugten Neutronen auch
durch andere Materialien als die Lithium Isotope absorbiert werden. Durch die zweite
der Brutreaktionen in (2.124) kann man erreichen, dass im Blanket genau so viel Tritium
erzeugt wird, wie man für die Aufrechterhaltung des Betriebs benötigt.
Der Mantel des Plasmas, also das Blanket, muss natürlich auch noch zur Abfuhr der
Energie dienen. Als Kühlmittel denkt man an Helium Gas, das z.B. mit einer Temperatur
von 260 Grad Celsius im Kühlkreislauf dem Blanket zugeführt werden kann um dann im
Blanket auf etwa 700 Grad Celsius aufgeheizt zu werden.
In der Abb. 2.27 ist der gesamte Aufbau der Fusionsanlage durch eine gestrichelte Linie
zusammengefasst. Man sieht also, dass man neben dem Kühlkreislauf von außen ledig-
lich Deuterium und Lithium als Brennstoff zuführen muss. Abfallprodukt ist in diesem
idealiserten Schema lediglich das produzierte Helium.
Reaktorstudien für den Fusionsreaktor ergeben, dass die Nutzung der Kernfusion als Quel-
le für die Energieerzeugung ökonomisch durchaus sinnvoll sein könnte. Solche Abschätzun-
gen muss man natürlich mit großer Vorsicht betrachten, da ja noch nicht einmal geklärt
ist, welcher Aufwand erforderlich ist, um die einzelnen Komponenten des Systems zu er-
stellen. Neben den Problemen zur Erzeugung eines Plasmas, in dem die Fusionsreaktion
zündet, stellt sich insbesondere die Frage, ob man den Reaktormantel so gestalten kann,
dass in ausreichender Menge Tritium erbrütet wird. Außerdem stellt sich z.B. auch die
Frage, ob es Materialien für den Aufbau des Reaktormantels gibt, die auch bei den hohen
Neutronenflüssen, die ja zwangsläufig auftreten, über lange Zeit mechanisch stabil sind.
Zum Abschluss noch einige Anmerkungen zum Thema Reaktorsicherheit und zu Proble-
men des radioaktiven Abfalls beim Fusionsreaktor:

• Im Vergleich zu einem konventionellen Spaltreaktor, bei dem es etwa bedingt durch


einen vollständigen Ausfall des Kühlsystems zu einer Kernschmelze kommen kann
verbunden mit einer unkrontrollierbaren Freisetzung von Energie, kann man enst-
sprechende Leistungsexkursionen beim Fusionsreaktor ausschliessen.

• Bei der Kernspaltung entstehen Fragmente, die in der Regel radioaktiv sind, zum
Teil mit sehr langen Halbwertszeiten. Dies führt zu den bekannten Entsorgungspro-
blemen für den radiaktiven Abfall. Das direkte Abfallprodukt der Kernfusion, das
4
He Isotop ist dagegen unbedenklich.

• Die radioaktive Gefährdung im laufenden Betrieb ergibt sich vor allen Dingen durch
das Tritium, das ja mit einer Halbwertszeit 12.3 Jahren durch β Zerfall radioaktiv
ist. Diese Gefährdung wir dadurch verschärft, dass Wasserstoff sehr leicht flüchtig ist.
Deshalb wird man auch versuchen, die Brutreaktion für Tritium, die Verarbeitung
und schliesslich die Fusionsreaktion möglichst an einem Ort ablaufen zu lassen.
Reaktorstudien gehen von einem Tritium Inventar von etwa 3 kg für eine solche
Gesamtanlage aus. Davon werden täglich etwa 500 g durch die Kernfusion verbrannt
2.8. KERNFUSION 117

und müssen wieder erbrütet werden. Im Normalbetrieb rechnet man mit etwa 2 g
Tritium, die pro Jahr aus einer Anlage durch Leckage und Diffusion entweichen.

• Die beim radioaktiven Zerfall von Tritium freigesetzten Elektronen haben eine ma-
ximale Energie von 18 keV. In organischer Materie ist deren Reichweite wenige
Mikrometer. Als umgebendes Gas stellt es daher für den Menschen keine Bedro-
hung dar, da die hornartigen, äusseren Hautschichten um ein Vielfaches dicker sind.
Doch kann Tritium beispielsweise als Wasser in den Körper aufgenommen werden
und hat dort eine effektive Verweilzeit von etwa 11 Tagen. Am Betriebszaun ei-
nes Fusionsreaktors beträgt dann die Strahlendosis der Bevölkerung etwa 1 % des
zivilisatorischen Durchschnittswertes von etwa 2 mSv/Jahr im Normalbetrieb.

• Wegen der relativ kurzen Halbwertszeit besitzt Tritium natürlich eine hohe Akti-
vität. Andererseits hat diese Halbwertszeit natürlich auch zur Folge, dass diese Ak-
tivität relativ rasch abklingt. Die langfristigen Probleme des radioaktiven Abfalls
entstehen deshalb auch nicht durch das Tritium sondern durch die Aktivierung der
Baumaterialien. Durch den ständigen Neutronenfluß durch den Mantel des Reaktors
werden diese Materialien belastet. Ziel ist es die Baumaterialien so zu optimieren,
dass sie einerseits wenig aktiviert werden, andererseits aber auch nicht zu schnell
durch Versprödung brüchig werden.
118 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.28: Kräfte auf ein Volumenelement in der Schale [r, r + dr] eines
Sterns

2.9 Nukleare Astrophysik


Im vorhergehenden Abschnitt wurden die verschiedenen Möglichkeiten vorgestellt, wie
man unter irdischen Bedingungen ein Plasma einschliessen kann, so dass in Fusionsreaktio-
nen Energie erzeugt wird. In den Sternen hält sich das Plasma praktisch selbst zusammen,
es ist die Gravitation, die die hohen Plamadichten ermöglicht. Zur näheren Erläuterung
wollen wir uns in diesem Abschnitt zunächst das Kräftegleichgewicht in einem Stern oder
auch in einem anderen kugelsymmetrischen Objekt, das durch die Graviatation zusam-
mengehalten wird, vor Augen führen.
Dazu betrachten wir die schematische Darstellung der Abb. 2.28, und die Kräfte, die auf
einen Volumenelment der stellaren Materie in der Kugelschale mit dem Abstand r vom
Zentrum des Sterns. Das Volumenelement habe die Größe dV = df dr und enthält damit
eine Masse
dm = ρ(r) dV = ρ(r) df dr , (2.125)

mit ρ(r) für die Massendichte im Abstand r vom Zentrum. Auf dieses Massenelement
wirkt zum einen die Gravitationskraft

~ G M (r) dm
K Grav = − r2
êr , (2.126)

in Richtung auf das stellare Zentrum also in Richtung −êr . Die Kraft gleicht der Kraft,
die auf die von einer Masse M (r) im Zentrum auf die Masse dm im Abstand r ausgeübt
wird (siehe Physik I), wobei M (r) der Anteil der stellaren Masse ist, der sich ausgehend
vom Zentrum bis zur Kugelschale mit Radius r angesammelt hat und G für die Gravita-
tionskonstante steht.
Andererseits wirkt auf das Massenelement dm aber auch der Druck durch die umgeben-
de Materie. Der Druck der inneligende Materie, P (r) versucht das Volumenelement nach
außen zu drücken, während der Druck der außenliegenden Materie, P (r + dr), eine Ge-
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 119

genkraft (K = P df ) nach innen aufbaut. Insgesamt liefern die Druckkräfte also

~
K Grav = (P (r) − P (r + dr)) df êr .
| {z }
(2.127)
=dP

Im stationären Gleichgewicht komepnsieren sich die Beiträge der verschiedenen Kräfte


und es gilt
G M (r)ρ(r)
dP df = − dr df ,
r2
was sich umformen lässt in
dP dP dρ
=
dr dρ dr
G M (r)ρ(r)
= − . (2.128)
r2
Dabei haben wir angenommen, dass der Druck nur von der Dichte abhängt, so dass die
Anwendung der Kettenregel in der ersten Zeile gerechtfertigt ist. Die Information über die
Eigenschaften der Materie sind in der sogenannten Zustandsgleichung der Materie P (ρ)
enthalten geht über die Ableitung in (2.128) ein.
Wenn wir die Zustandsgleichung als bekannt voraussetzen können, ist es sinnvoll, (2.128)
umzuschreiben auf die Form
dρ G M (r)ρ(r) 1
=− dP . (2.129)
dr r2 dρ

Außerdem führen wir uns vor Augen, dass die Masse M (r) sich vergrößert, wenn das
Argument r um das infinitesimale Stück dr anwächst und zwar gerade um die Masse dM ,
die in der Kugelschale beim Radius r enthalten ist:

dM = M (r + dr) − M (r) = ρ(r) 4π r2 dr ,

was uns auf die Differenzialgleichung


dM
= ρ(r) 4π r2 , (2.130)
dr
führt. Die beiden Differenzialgleichungen (2.129) und (2.130) sind zwei gekoppelte Dif-
ferenzialgleichungen erster Ordnung zur Bestimmung der unbekannten Funktionen M (r)
und ρ(r). Gibt man als Randbedingung dieser Differenzialgleichungen etwa die Werte
dieser Funktionen bei r = 0 vor, so kann man diese Gleichungen z.B. mit numerischen
Methoden integrieren und erhält die gesuchten Funktionen für beliebige Werte von r. Der
Startwert M (r = 0) ist dabei eindeutig vorgegeben, da ja die Masse im Kugelvolumen
mit dem Radius r = 0 identisch null sein muss. Wir können also nur einen Startwert für
die Dichte ρ(0) frei vorgeben und können dann die Differenzialgleichungen integrieren.
Das Ergebnis einer solchen Rechnung sind in der Abb. 2.29 dargestellt. Details der Rech-
nung, wie die Art der benutzten Zustandsgleichung, werden wir zu einem späteren Zeit-
punkt diskutieren. Man erkennt an dieser Darstellung, dass die Dichte mit zunehmendem
r abnimmt, bis sie schliesslich den Wert 0 erreicht. Dieser Wert bezeichnet den Radius
120 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

1.5
Dichte ρ (r)
ρ(0) Masse M(r)

M(asymp.)
1

M/MSonne
0.5

0
0 2000 4000 6000 8000 10000
Radius r[km]

Abbildung 2.29: Ergebnisse der Integration der Gleichungen (2.129) und


(2.130). Der Startwert für ρ(0) und die Zustandsgleichung wurden so gewählt,
dass die Ergebnisse einen Weissen Zwerg simulieren mit einer Masse von etwa
1.1 mal der Sonnemasse und einem Radius von cirka 8000 km.

des Sterns. In der gleichen Figur sind auch die Ergebnisse die Masse M (r) aufgetragen.
Diese Massenfunktion wächst an bis zum Radius R und erreicht dort die Gesamtmasse
des Sterns. Für r > R bleibt M (r) konstant, da in diesem Bereich die Massendichte ρ
identisch null ist.
Der zur Lösung für diese Differenzialgleichung notwendige physikalische Input steckt in
der Zustandsgleichung P (ρ). Als einfaches Beispiel für eine Zustandsgleichung sei an dieser
Stelle an die Zustandsgleichung eines idealen Gases, also von N Atomen in einem Volumen
V und bei einer Temperatur T bei denen die Wechselwirkung der Atome vernachlässigt
werden kann:

PV = N kB T
N ρ
P = kB T = kB T , (2.131)
V m
wobei m für die Masse eines einzelnen Atoms steht. Wäre also die Temperatur in ei-
nem Stern konstant und außerdem die Näherung des idealen Gases akzeptabel, so hätten
wir mit (2.131) eine einfache Form der Zustandsgleichung P (ρ), mit der man die Diffe-
renzialgleichungen (2.129) und (2.130) integrieren kann. Die Temperatur ist aber keine
Konstante im Volumen des Sterns, sie ist groß im Sterninneren, wo Energie durch die
Kernfusion erzeugt wird und sie nimmt zur Oberfläche hin ab. Bei der Simulation von
aktiven Sternen müssen also die Differenzialgleichungen für M (r) und ρ(r) webigstens
erweitert werden um eine für T (r), in die die Art der Energierzeugung und der Transport
der Energie eingehen.
An dieser Stelle wollen wir deshalb zunächt die Prozesse diskutieren, die in unserer Sonne
und in anderen sogenannten Sternen der Hauptreihe zur Energieerzeugung ablaufen.
Dies sind Ketten von Reaktionen, die je nach den Rahmenbedingungen eine mehr oder
weniger große Rolle spielen. Die im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Fusionspro-
zesse d + d oder d + t spielen dabei keine Rolle, da die Tritium und Deuterondichte so
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 121

Abbildung 2.30: Stabilität und Halbwertszeiten der Isotope des CNO Zyklus

gering ist, dass Fusionsprozesse dieser Partner vernachlässigbar sind.


Als erstes diskutieren wir den sogenannten pp Prozess, zu dem ausschliesslich Protonen
also Kerne des einfachen Wasserstofisotops 1 H herangezogen werden. In einem ersten
Schritt fusionieren zwei Protonen und bilden über den β + Zerfall ein Deuteron
1
H + 1 H −→ 2 H + e+ + νe + 1.44 MeV . (2.132)

Von der dabei freigesetzten Energie von 1.44 MeV trägt das Neutrino, νe typischerweise
0.25 MeV. Das so gebildete Deuteron, 2 H, kann mit einem weiteren Proton zum Helium
Isotop 3 He fusionieren
1
H + 2 H −→ 3 He + γ + 5.49 MeV . (2.133)

Die so gebildeteten Helium Isotope sind stabil und fusionieren schliesslich in der Kette
3
He + 3 He −→ 6 Be −→ 4 He + 2 1 H + 12.86 MeV . (2.134)

Multipliziert man die Reaktionen (2.132) und (2.133) mit einem Faktor 2 und addiert alle
Reaktionen dieser Kette auf, so ergibt sich die Bilanz

4 1 H −→ 4 He + 2e+ + 2γ + 2νe + 26.73 MeV . (2.135)

Ein anderer Zyklus, der sogenannte CNO oder Bethe-Weizsäcker Zyklus, wir ermöglicht,
wenn im Stern Spuren des Isotops 12 C vorhanden sind. Diese Atomkerne des 12 C spielen
dabei quasi die Rolle eines Katalysators, der bei dem Prozess nicht verbraucht wird. Die
einzelnen Schritte dieses CNO Zyklus werden gebildet durch (beachte auch die Halbwerts-
zeit der entsthenden Nuklide in Abb. 2.30)
12 1
C+ H −→ 13 N + γ −→ 13 C + γ + e+ + νe + 3.14 MeV ,
13 1 14
C+ H −→ N + γ + 7.55 MeV ,
14 1
N+ H −→ O + γ −→ 15 N + γ + e+ + νe + 9.03 MeV ,
15

15 1 12
N+ H −→ C + 4 He + 4.96 MeV . (2.136)
122 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Bilanziert man diese Glieder der Kette, so ergibt sich insgesamt

4 1 H −→ 4 He + 2 e+ 3γ + 2νe + 24.68 MeV . (2.137)

Daneben gibt es noch andere Kernreaktionen, die mehr oder weniger wichtige Rollen bei
den Fusionsprozessen in der Sonne und anderen Sternen spielen.
Neben der Energie entstehen sowohl im pp als auch im CNO Zyklus Neutrinos mit ganz
charakteristischen Energieverteilungen. Die Wechselwirkung dieser Neutrinos mit der Ma-
terie ist so schwach, dass der überwiegende Anteil die Sonne ohne eine weitere Wechselwir-
kung verlassen wird. Daher sind die Neutrinos eine ideale Sonde, um direkt Information
über die Fusionsreaktionen zu erhalten. Der Nachteil dieser Sonde ist allerdings genau die-
se schwache Wechselwirkung. Ein Neutrino, dass die Sonne ohne Wechselwirkung durch-
quert, wird in der Regel auch die Erde ohne jede Wechselwirkung durchlaufen. Wie soll
man ein solches Teilchen in einem Detektor einfangen?
Obwohl diese Aufgabe naturgemäß sehr schwierig ist, hat man inzwischen gelernt Detek-
toren für Neutrinos zu bauen. Einer der ersten Neutrino Detektoren ist mit der Elektro-
neneinfang Reaktion des 37 Ar verknüpft
37
Ar + e− −→ 37
Cl + νe + 0.8 MeV .

die für die Halbwertszeit des 37 Ar Isotops von etwa 35 Tagen verantwortlich ist. Hat man
ausreichend Neutrinos mit einer Mindestenergie von 0.8 MeV zur Verfügung, so verläuft
diese Reaktion auch in Gegenrichtung uns aus dem stabilen Chlor Isotop 37 Cl wir durch
Absorption eines Neutrinos ein Atomkern des 37 Ar. Der Detektor besteht also aus einem
großen Tank mit Chlor (in der Form C2 Cl4 ), der den von der Sonne kommenden Neutri-
nos ausgesetzt ist. Nach einigen Tagen extrahiert man aus diesem Tank mit chemischen
Methoden die erzeugten Argon Atome und bestimmt daraus die Anzahl der Neutrinos, die
den Tank durchlaufen haben. Die Experimente lieferten einen Fluß von solaren Neutrinos,
der nur etwa halb so groß ist, wie man theoretisch erwartete.
Leider ist der auf Chlor basierte Neutrino Detektor nur sensitiv auf Neutrions mit ei-
ner Energie von mehr als 0.8 MeV. Die im pp Zyklus erzeugte Neutrinos (siehe (2.132)
haben aber eine niedrigere Energie von etwa 0.25 MeV. Deshalb wurde von der Heidel-
berg Moskau Kollaboration eine Experiment zur Bestimmung des solaren Neutrinoflusses
aufgebaut, das auf der Reaktion
71 71
Ga + νe + 0.2 MeV ←→ Ge + e− ,

basiert. Ein Problem ist die Beschaffung einer ausreichenden Menge Galliums. Im hier
angesprochenen Experiment wurden etwa 30 Tonnen Gallium einegesetzt, was zu einer
Rate von etwa einem Ereignis pro Tag führte. Aber auch dieses Experiment liefert einenen
Neutrinofluss, der signifikant unter den theoretischen Vorhersagen liegt.
Es stellt sich also die Frage: Ist das Modell der Sonne und der darin statfindenden Fusi-
onsprozesse falsch? Vielleicht sind die Fusionsprozesse im Sonnenineren bereits gedrosselt
und wir merken nur deshalb noch nichts davon, weil die Energie etwa 1 Millionen Jahre
braucht um von der Erzeugung im Zentrum an die Oberfläche transportiert zu werden.
Oder aber die Neutrinos, die in der Sonne als Elektron Neutrinos νe erzeugt worden sind,
haben auf dem Weg ihren Charakter geändert und können deshalb nicht mehr als solche
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 123

auf der Erde registriert werden. In der Tat deuten auch andere Experimente auf diese
letzte Erklärung hin, man spricht dabei von Neutrino Oszillationen.
Nach dem Standardmodell für die Vorgänge in unserer Sonne kann man davon ausgehen,
dass im Kern der Sonne bei einer Temperatur von etwa 107 K die aufgezeigten Reaktions-
ketten für die Energie sorgen. Diese Energie wird dann durch Strahlung und Diffusion an
die Oberfläche transportiert. Dabei reduziert sich die Temperatur und erreicht schliesslich
an der Oberfläche einen Wert von etwa 5800 K. Dieser Wert für die Oberflächentempe-
ratur kann aus der Analyse des Spektrums der Sonne abgelesen werden. Die spektrale
Verteilung der von der Oberfläche emittierten Strahlung entspricht in guter Näherung
dem Spektrum eines Schwarzen Körpers und man kann aus der Wellenlänge, bei der die
Intensitätsverteilung ihr Maximum erreicht die Temperatur extrahieren.
Die Leistung der Sonne an abgestrahlter Energie ist sehr konstant. Das liegt daran, dass
die Energieproduktion im Kern sich in einem stabilen Gleichgewicht vollzieht. Würde
zum Beispiel durch irgendeine Fluktuation die Plamadicht im Kern der Sonne erhöht,
so würde dadurch die Rate der Fusionsreaktionen anwachsen (siehe z.B. (2.120)), dies
führt zu einer Erhöhung der Temperatur verbunden mit einem Anwachsen des zentralen
Drucks, was aber wiederum eine Reduktion der zentralen Dichte zur Folge hätte. Mögliche
Fluktuationen werden also durch diesen Mechanismus kompensiert.
Betrachten wir nun einen Stern mit einer Gesamtmasse, die größer ist als die Masse der
Sonne. Diese größere Gesamtmasse ist mit einer größeren zentralen Dichte verknüpft.
Daraus resultiert eine größere Fusionsrate und damit eine höhere Temperatur sowohl im
Kern als auch an der Oberfläche. Massive Sterne leuchten also heller und zeigen eine
Intensitätsverteilung, die zu höheren Frequenzen hin verschoben ist: Ihre Farbspektrum
enthält stärkere Beiträge aus dem blauen Bereich des sichtbaren Lichtes und natürlich
auch stärkere UV Komponenten. Die höhere Energierzeugungsrate bei den massiveren
Sternen führt sogar dazu, dass diese ihren gesamten Fusionsbrennstoff deutlich schneller
abbrennen als die leichteren Sterne, obwohl sie doch mehr davon zur Verfügung haben.
Für unsere Sonne erwartet man eine gesamte Lebensdauer von etwa 10 Millarden Jahren,
von denen sie noch etwa die Hälfte vor sich hat.
Was passiert aber, wenn einem Stern der Fusionsbrennstoff ausgeht und woher kann man
dies wissen? Natürlich ist die Theorie mit ihren Modellrechnungen eine zentrale Quelle
unseres Wissens. Andererseits möchte man aber natürlich diese theoretischen Modelle
auch experimentell überprüfen. Die einzige Chance, die die beobachtende Astronomie hier
bietet, ist es die vielen Sterne am Himmel zu beobachten, um daraus die verschiedenen
Phasen im Leben der Sterne zu extrahieren.
Eine Klassifizierung der verschiedenen Sterne nach den Beobachtungsdaten, die sich in
der Astronomie bewährt hat, ist die Darstellung der stellaren Objekte im Hertzsprung
Russel Diagramm. Dabei versucht man für jedes beobachtete Objekt seine Leuchtstärke
L zu ermitteln und die Temperatur seiner Oberfläche, Tef f , die man ja aus der spektralen
Verteilung des emittierten Lichts extrahieren kann. Jeder Stern wird dann diese beiden Ko-
ordinaten L und Tef f charakterisiert und als ein Punkt im Hertzsprung Russel Diagramm
eingetragen (siehe Abb. 2.31). Dabei trägt man gewöhnlich auf der vertikalen Achse das
Verhältnis L/L⊙ (L⊙ steht hier für die Leuchtstärke der Sonne) mit einer logarithmischen
Skala auf. Die horizontale Achse bezieht sich auf den Logarithmus der Temperatur (in
Kelvin), wobei aber höhere Temperaturen nach links aufgetragen sind. Die Sonne ist also
124 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.31: Phasen der Sternentwicklung im Hertzsprung Russel Dia-


gramm

durch einen Punkt in diesem Diagramm bei

log (L/L⊙ ) = 0 und log (Tef f ) = log(5780) = 3.76 ,

dargestellt. Damit befindet sich die Sonne wie ein Großteil der beobachteten Stern auf
der Hauptreihe des Hertzsprung Russel Diagramms. All diese Sterne auf der Hauptreihe
befinden sich in einer Phase ihres Lebens, die der der Sonne vergleichbar ist: sie gewinnen
Energie durch das Wasserstoffbrennen also dadurch, dass sie in ihrem Zentrum Protonen
zu Helium fusionieren.
Ist im Kern eines solchen Hauptreihensterns diese Fusion abgeschlossen, so dass dort kein
Brennstoff mehr zur Verfügung steht, so entfällt diese Quelle des thermischen Drucks, der
Stern kontrahiert sich und gewinnt dadurch potenzielle Energie aus der Gravitation. Die
mit diesem Energiegewinn verbundene Temperaturerhöhung zündet das Wasserstoffbren-
nen in einer Schale um den Kern. Dabei expandieren die äußeren Schichten des Sterns und
es entsteht ein Roter Riese. Dies ist ein Stern mit einer höheren Leuchtkraft und einer
niedrigeren Oberflächentemperatur als vergleichbare Sterne der Hauptreihe. Diese Roten
Riesen befinden sich also in der rechten oberen Ecke des Hertzsprung Russel Diagramms.
Gleichzeitig wird durch die erhöhte Temperatur im Kern die Fusion eines solchen Ro-
ten Riesen die Fusion von He zu Kohlenstoff, C, oder Sauerstoff, O, ermöglicht. Diese
Fusionsreaktion benötigt ein Plasma höherer Temperatur, da der zu überwindende Cou-
lomb Berg der He Kerne höher ist als der des Wasserstoffs im Wasserstoffbrennen. Die-
se Phase eines Roten Riesen ist im Leben eines Sterns deutlich kürzer als die Zeit des
Wasserstoffbrennens. Deshalb beobachtet man auch wesentlich weniger Rote Riesen als
Hauptreihensterne.
Sterne, die deutlich schwerer sind als die Sonne können noch mehrere solcher Brennphasen
durchlaufen. So kann in einem nächsten Schritt im Zentrum solcher Sterne auch die C und
O Kerne in Fusionsprozessen zu schweren Elementen verbrannt werden, während in einer
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 125

mittleren und einer weiter außen liegenden Schale noch Heliumbrennen und Wasserstoff-
brennen fortgesetzt wird. Man spricht dabei vom Schalenbrennen bis hin zu den Kernen
im Bereich des F e und N i, die eine maximale Bindungsenergie pro Nukleon aufweisen,
so dass die Fusionsprozesse hier stoppen.
Bei leichteren Sternen etwa mit einer Masse kleiner als die vierfache Sonnenmasse, werden
die Fusionen in der Heliumbrennphase gestoppt. Die Temperaturen reichen nicht aus, um
die späteren Brennphasen zu zünden. Die Stabilisierung erfolgt dann nicht mehr durch den
thermischen Druck sondern durch den Druck des entarteten Fermigases. Um diesen
Mechanismus zu verstehen, wenden wir uns im folgenden Teilabschnitt dem Modell des
Fermi Gases zu.

2.9.1 Entartetes Fermi Gas


Der Druck eines Fermigases basiert auf dem Pauli Prinzip. Um diesen Mechanismus zu
verdeutlichen, betrachten wir zunächst einmal ein unendlich ausgedehntes System von
nicht wechselwirkenden Fermionen, eben ein Fermigas in einer Raumdimension. Um dieses
System berechenbar zu machen, schneidet man einen Teilabschnitt der Länge a aus und
betracht nur solche Wellenfunktionen, die sich periodisch fortsetzen lassen, die also an der
Stelle x = 0 den gleichen Wert haben wie an der Stelle x = a5 . Da es sich hier um freie
Teilchen handeln soll, sind die Wellenfunktionen ebene Wellen der Form
ψk (x) = eikx mit eik0 = eika . (2.138)
Dies bedeutet, dass die Wellenzahlen k beschränkt sind auf die diskreten Werte
2πν
kν = mitν = 0, ±1, ±2 . . . (2.139)
a
Will man also N Fermionen mit minimaler Energie in diesem Intervall unterbringen so
wird man sukzessiv die Zustände mit dem Impuls pν = h̄kν erst für ν = 0 dann für
ν = ±1, ν = ±2 und so weiter besetzen bis alle N Fermionen untergebracht sind. Damit
hat man dann das Pauli Prinzip beachtet und genau die Zustände mit der geringsten
Energie besetzt: denn je höher |ν| um so höher ist die kinetische Energie
p2ν
tν = .
2m
Der maximale Impuls der dabei besetzt wird trägt den Namen Fermi Impuls, pF . Wegen
(2.139) ist er in diesem eindimensionalen Beispiel verknüpft mit dem maximalen besetzten
Index νF über
N = 2νF
a
= 2 kνF

a
= 2 pF
2πh̄Z
a pF
= dp . (2.140)
2πh̄ −pF
5
Wir werden diese Forderung in der Festkörperphysik wieder aufgreifen unter dem Namen Born von
Karmann Randbedingung.
126 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Wenn man diese Zählung auf ein Gas von Fermionen in 3 Dimensionen ausweitet, be-
trachtet man als Basiszelle einen Kubus mit dem Volumen V = a3 mit periodischen
Randbedingungen in allen 3 Raumkoordinaten und erhält für die Teilchenzahl den zu
(2.140) entsprechenden Ausdruck
V Z pF 3
N= d p. (2.141)
(2πh̄)3 0
Die Teilchenzahldichte ist dann gegeben durch
N
n =
V Z pF
1
= d 4π p2 dp
(2πh̄)3 0
1 4π 3
= d p
(2πh̄)3 3 F
1 4π 3
= d k
(2π)3 3 F
d 3
= k , (2.142)
6π 2 F
wobei kF , die zum Fermiimpuls zugehörige Wellenzahl ist, pF = h̄kF und d den Entar-
tungsgrad darstellt, mit dem ein Niveau besetzt werden kann. Betrachten wir also z.B.
eine Fermigas von Elektronen, die ja eine Spin von 1/2 besitzen, so kann jedes Einteilchen-
niveau also mit einem Elektron mit der Spinprojektion ms = 1/2 und einem Elektron mit
ms = −1/2 besetzt werden, was durch den Entartungsgrad d = 2 zum Ausdruck gebracht
wird.
Aus (2.142) sieht man, dass die Teilchenzahldichte unabhängig vom gewählten Basisvo-
lumen V ist und nur vom Fermiimpuls pF abhängt. Versucht man die Teilchenzahldichte
zu erhöhen, so ist das mit einem höheren Fermiimpuls verknüpft. Dies bedeutet, dass
Zustände mit höherer Energie besetzt werden müssen, was letztlich für den Druck verant-
wortlich ist, den ein solches Fermigas einem Versuch die Dichte der Fermionen zu erhöhen
entgegensetzt.
Um diesen Druck des Fermigases genauer zu bestimmen, berechnen wir die kinetische
Energiedichte des Fermigases P
Tkin ti
τ= = i≤F . (2.143)
V V
Dabei steht ti für die kinetische Energie eines Teilchens im Quantenzustand i und wir
summieren über alle Zustände, die im Fermigas besetzt sind, was wir durch die Restriktion
i ≤ F , also Zustände bis zum Fermiimpuls, zum Ausdruck bringen. Aus (2.142) wissen
wir, dass P Z kF
N i≤F 1
n= = =d 4π k 2 dk . (2.144)
V V (2π)3 0

Damit ergibt sich für die Energiedichte aus (2.143)


4π Z kF (h̄k)2 2
τ = d k dk
(2π)3 0 2m
d h̄2 kF5
= . (2.145)
2π 2 10m
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 127

Die Energiedichte ist also proportional zu kF5 und wegen(2.142) gilt damit

5 1
τ ∼ n3 bzw. Tkin ∼ . (2.146)
V 2/3
Damit gilt für den Druck

dTkin
P = −
dV
2 Tkin
=
3 V
2
= τ
3
2d h̄2 kF5
= . (2.147)
6π 2 10m
Man sieht also, dass der Druck proportional zu kF5 und damit wegen (2.142) mit der
Teilchendichte n proportional zu n5/3 anwächst. Außerdem sieht man, dass der Druck
proportional zu 1/m ist, also besonders stark für Fermionen mit kleiner Masse. Für den
Fermidruck sind also in normaler Materie vor allen Dingen die Elektronen verantwortlich.

2.9.2 Weisse Zwerge und Neutronensterne


Benutzt man die Zustandsgleichung (2.147) für das Elektronengas in den Differenzialglei-
chungen (2.129) und (2.130) für die Berechnung von Massen und Radien von Kernen, so
erhält man Ergebnisse, die charakteristisch sind für die sogenannten Weissen Zwerge6 .
Weisse Zwerge werden also nicht durch thermischen Druck sondern durch den Fermidruck
der Elektronen stabilisiert. Dies entspricht dem Szenarium z.B. in der Sonne, wenn sie
einmal ausgebrannt sein wird.
Die Berechnung der Eigenschaften eines Weissen Zwerges ist relativ einfach: Man nimmt
eine Wert für die Dichte im Zentrum des Systems ρ(0) an und löst die gekoppelten Dif-
ferenzialgleichungen (2.129) und (2.130) für die Zustandsgleichung (2.147). Man findet
dann die Lösungsfunktionen für |rho(r) und M (r), wie sie z.B. in Abb. 2.29 dargestellt
sind. Startet man die Rechnung mit einer höheren zentralen Dichte, so erhält man typi-
scherweise einen Stern mit einer größeren Masse und einem kleineren Radius. Die Weissen
Zwerge sind relativ kompakte Objekte. Ein Weisser Zwerg, der etwa die Masse der Sonne
hat, besitzt einen Radius von etwa 8000 km, was in etwa dem Radius der Erde entspricht.
Die maximale Masse eines Weissen Zwerges ist die sogenannte Chandrasekhar Masse,
etwa das 1.4 fache der Sonnenmasse. Bei noch größeren Dichten ergeben sich Fermi Energie
für die Elektronen, die so groß sind, dass es energetisch günstiger wird, ein Proton und
ein Elektron im Sinne einer Elektroneneinfang Reaktion in ein Neutron umzuwandeln

p + e− −→ n + νe . (2.148)
6
Bei Benutzung der Zustandsgleichung (2.147) muss man berücksichtigen, dass die hier hergeleitete
Zustandsgleichung nur für nichtrelativistische Elektronen gültig ist. Bei Dichten, bei denen die Geschwin-
digkeit eines Elektrons mit dem Fermiimpuls von der Größenordnung der Lichtgeschwindigkeit wird, muss
man die relativistische Energie Impuls Beziehung benutzen.
128 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Dadurch verschwinden also die Elektronen, die für den Druck verantwortlich sind, der
einen Weissen Zwerg stabilisiert und man erhält einen Stern, der im wesentlichen aus
Neutronen besteht und deshalb auch den Namen Neutronenstern hat. Ein solcher Neu-
tronenstern hat eine Dichte, die etwa der Dichte in einem Atomkern entspricht, er ist also
praktisch ein riesiger Atomkern mit einem Radius von einigen Kilometern, der allerdings
fast nur aus Neutronen besteht. Typischerweise hat man etwa die Masse einer Sonne zu-
sammengepackt in einem Neutronenstern mit dem Radius von 10 km, was einer Dichte
von 1015 g cm−3 entspricht.
Die Berechnung der Zustandsgleichung für einen Neutronenstern ist ein sehr interessantes
Thema der aktuellen Forschung7 . Neben dem Beitrag des Fermidrucks spielt hier die
Wechselwirkung zwischen den Neutronen eine wichtige Rolle, aber auch die Möglichkeiten
eines Übergangs der nuklearen Materie zu einem Quark Gluon Plasma bei sehr hohen
Dichten.
Ein solcher Neutronenstern entsteht aus einem ausgebrannten Riesenstern. Wir haben
bereits gesehen, dass ein Stern mit z.B. einer Masse von zwanzig mal der Sonnenmasse
sein Wasserstoffbrennen im Kern sehr vielschneller beendet als die kleineren Sterne. Er
durchläuft auch die verschiedenen Phasen des Schalenbrennens bis hin zur Fusion von
Eisen. Ist auch diese Brennphase im Kern abgeschlossen kollabiert ein solcher Stern dann
in der Zeit von wenigen Sekunden. In diesem Kollaps wird Gravitationsenergie frei, die
sehr viel gr’Oßer ist als der gesamte Energievorrat der Sonne. Ist die Masse des Sterns groß
genug, so überwindet der Kollaps auch den stabilisierenden Druck des Weissen Zwerges,
der inverse Beta Prozess von (2.148) läuft ab und der Kollaps wird erst gestoppt wenn
die nuklearen Dichten eines Neutronensterns erreicht sind.
Wenn der Kollaps an der Oberfläche des Neutronensternes abrupt gestoppt ist, entsteht
ein elastischer Rückstoß. Dies erzeugt eine nach außen gerichtete Stoßwelle, durch die die
äußeren Schalen des Sterns explosionsartig abgestoßen werden. Dies ist das Phänomen
der Supernova vom Typ II. Dabei wird in kurzer Zeit so viel Energie freigesetzt, dass ein
einzelner Stern bei dieser spektakulären Art seines Todes über einen kurzen Zeitraum eine
grösere Energiemenge freisetzt, als alle anderen Millarden Sterne einer Galaxie.
Deshalb wurden solche spektakulären Phänomene am Sternenhimmel auch schon von
Astronomen vergangener Jahrhunderte beobachtet. Ein Beispiel ist die Supernova im
Krebs Nebel, die von chinesischen Astronomen 1054 beobachtet wurde. Heute kann man
den Überrest jener Explosion als einen kleinen hellen Nebel beobachten (siehe Abb. 2.32).
Dieser Nebel ist etwa 3400 Lichtjahre entfernt, die Gasmassen, die von der Supernova
ausgestoßen wurden, breiten sich auch heute noch mit einer Geschwindigkeit von 1500
km/s aus.
Im Zentrum des Krebs Nebels beobachtet man einen Pulsar, der mit einer konstanten Fre-
quenz von 30 Hz rotiert und mit dieser Frequenz elektromagnetische Strahlung in Rich-
tung der Erde schickt. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um einen kompakten
Neutronenstern handelt. Wegen der Erhaltung des Drehimpulses hat sich die Winkelge-
schwindigkeit des Sterns bei der Implosion der Materie so drastisch erhöht.
Supernovae sind relativ seltene Ereignisse am Sternenhimmel. Man entdeckt nur etwa eine

7
siehe z.B. im Internet: www.physik.unibas.ch/eurograd/Vorlesung/Muether/index.htm : Kompakt-
vorlesung Equation of State for the dense Matter of Neutron Stars von H. Müther
2.9. NUKLEARE ASTROPHYSIK 129

Abbildung 2.32: Blick auf den Krebs Nebel, in dem 1054 eine Supernova beob-
achtet wurde.

pro hundert Jahre in einer Galaxie. Am 23.2.1987 wurde eine solche Supernova vom Typ
II8 in der großen Magellanschen Wolke beobachtet, eine Nachbargalaxie unserer Milch-
straße, die “nur” 160000 Lichtjahre entfernt ist. Sie trägt den Namen Supernova 1987 A
oder kurz SN 1987 A. Dies ist praktisch die erste Supernova in unserer Nähe, die mit
unterschiedlichen Instrumenten beobachtet werden konnte.
Besonders spektakulär war dabei die Tatsache, dass man nahezu zeitgleich mit dem er-
sten Lichtsignal der SN 1987 A auch eine signifikante Erhöhung von Neutrinoereignissen
verzeichnete. Drei damals bestehende Neutrino Detektoren (der Kamiokande Detektor in
Japan, der IMB Detektor in Cleveland/USA und ein Detektor in Baksan/Russland beob-
achteten jeweils 8 bis 12 Neutrinos in einem kurzen Zeitintervall, eine Rate, die signifikant
über der üblichen Neutrinorate liegt. Diese Neutrinos sollten in der ersten Millisekunde
der Implosion zu einem Neutronenstern durch den inversen Beta Zerfall (2.148) entstan-
den sein. Die Neutrinos erreichten die Erde etwa 2 Stunden vor dem sichtbaren Licht. Dies
liegt natürlich nicht daran, dass die Neutrinos sich mit einer Geschwindigkeit größer als
Lichtgeschwindigkeit bewegt hätten. Vielmehr wurden die Photonen zunächst noch durch
die äußere Hülle der Supernova ein wenig aufgehalten, bevor sie sich auf den Weg machen
konnten.
Die Abb. 2.33 zeigt ein Blick auf die Überreste der SN 1987 A, das vor kurzem mit dem
Hubble Space Teleskop aufgenommen wurde. Man erkennt Ringe ausgestoßener Materie.
Allerdings gibt es bis heute noch keine eindeutigen Hinweise auf einen dabei entstandenen
Neutronenstern.
Massive Sterne, die bei einer Implosion nicht durch den Druck der Neutronenmaterie
stabilisiert werden, enden als ein Schwarzes Loch.

8
Supernovae vom Typ II entstehen am Ende eines massiven Sternes. Supernovae vom Typ I hingegen
können in einem Doppelsternsystem entstehen. Dabei ist ein Stern ein weisser Zwerg, der Masse von
seinem Begleiter anzieht und bei Erreichen der Chandrasekhar Masse explodiert.
130 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Abbildung 2.33: Bild des Hubble Space Teleskops auf Überreste der Supernova
1987 A.

Wir haben gesehen, dass durch das Schalenbrennen in den fortgeschrittenen Stadien von
massiven Sternen die Elemente bis hin zum stabilsten Element in der Eisengegend fusio-
niert werden können. Wie können aber Elemente entstehen mit einer Ladungszahl, die
noch größer ist als die des Eisens?
Man geht davon aus, dass solche Elemente vor allem durch sukzessives Anlagern von
Neutronen erzeugt werden, da die Anlagerung von Protonen durch die Coulomb Barriere
unterdrückt wird. Solche Neutronen stehen in ausreichender Anzahl in den brennenden
Schalen alter Sterne zur Verfügung. Durch den β-Zerfall werden die angelagerten Neu-
tronen in Protonen umgewandelt, so dass auch Kerne mit höherer Kernladungszahl also
schwerere Elemente entstehen können. Dabei unterscheidet man zwischen s-Prozesse, s
steht hier für slow, bei denen die Neutronen so langsam angelagert werden, dass vor der
Anlagerung des nächsten Neutrons das β Gleichgewicht erreicht wurde, und r-Prozessen
(r steht für rapid) bei denen auch mehrer Neutronen angelagert werden bevor sich das
β-Gleichgewicht einstellt.
Wir sehen hieraus, dass ein großer Teil der Materie, aus der wir bestehen, vorher in einem
massiven Stern erzeugt worden ist und dann bei dessen Tod ins Universum emittiert
wurde.
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 131

2.10 Elementarteilchen
Bis etwa in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts kannte man als elementare Bau-
steine der Materie und damit als Elementarteilchen lediglich die Protonen (p), die Neu-
tronen (n), die Elektronen (e− ) und aus dem β-Zerfall die Neutrinos νe . Hinzu kamen die
jeweiligen Antiteilchen. Diese Elementarteilchen unterscheiden sich dadurch, welchen fun-
damentalen Wechselwirkungen sie ausgesetzt sind. Deshalb wollen wir uns zunächst in die-
sem Abschnitt um die Charakterisierung der fundamentalen Wechselwirkungen bemühen.

2.10.1 Fundamentale Wechselwirkungen


Am vertrautesten ist uns die Gravitationswechselwirkung. Zwei Massen der Größe m zie-
hen sich gegenseitig an. Dies wir beschrieben durch das attraktive Gravitationspotenzial,
das sich als Funktion des Abstandes der beiden Massen, r, darstellen lässt in der Form
m2
Vg (r) = −G , (2.149)
r
wobei G die Gravitationskonstante ist. Ganz ähnlich ist die Wechselwirkung zweier ru-
hender Ladungen. In diesem Fall kann die Kraft aber je nach Vorzeichen der Ladungen
attraktiv oder repulsiv sein. Für zwei Ladungen e mit gleichem Vorzeichen, ist die Wech-
selwirkung repulsiv und wird beschrieben durch das Coulomb Potenzial
1 e2
Vem (r) = . (2.150)
4πε0 r
Die Massen m im Gravitationspotenzial (2.149) haben also eine Rolle ganz analog zu den
Ladungen e im Coulomb Potenzial, allerdings mit dem Unterschied, das Ladungen mit
2 unterschiedlichen Vorzeichen existieren und dadurch repulsive oder attraktive Wechsel-
wirkungen erfahren, während eine Masse auf alle anderen Massen stets attraktiv wirkt.
Die Gravitationskonstante in (2.149) wird ersetzt durch die Konstante 1/(4πε0 ). Bewegen
sich die Ladungen, so wird die elektrische Wechselwirkung ergänzt durch die magnetische
Wechselwirkung. Die magnetische Wechselwirkung ist aber keine unabhängige Fundamen-
talkraft. Elektrische und magnetische Wechselwirkungen werden ineinander transformiert,
je nach dem Bezugssystem, in dem die Wechselwirkung dargestellt wird. Wir sprechen ja
deshalb von der elektromagnetischen Wechselwirkung, die in (2.150) durch das Coulomb
Potenzial repräsentiert wird.
Hinzu kommt als weitere fundamentale Wechselwirkung die sogenannte starke Wechsel-
wirkung, die wir bisher nur als die Wechselwirkung kennengelernt haben, die zwischen
Protonen und Neutronen wirkt und den Zusammenhalt der Atomkerne bewirkt. Dabei ha-
ben wir gesehen, dass diese Wechselwirkung bei kurzen Abständen dominiert, bei größeren
Abständen aber die Coulomb Wechselwirkung zwischen den Protonen stärker ist als die
Anziehung zwischen den Nukleonen. Die starke Wechselwirkung besitzt also offensichtlich
eine kürzere Reichweite als die Coulomb Wechselwirkung. Deshalb macht es auch Sinn
das Potenzial dieser Wechselwirkung in Analogie zu (2.149) und (2.150) als ein 1/r Poten-
zial anzusetzen, dessen Stärke aber durch einen Exponenzialfaktor bei großen Abständen
reduziert wird, etwa in der Form
gs2 −αr
Vs (r) = − e . (2.151)
r
132 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

All diese Wechselwirkungen haben wir bisher nur in der Form kennengelernt, dass sie die
Art der wechselwirkenden Teilchen nicht verändern. Auf den ersten Blick ganz anders ist
die vierte fundamentale Wechselwirkung, die sogenannte schwache Wechselwirkung.
Wir haben diese schwache Wechselwirkung kennengelernt beim β-Zerfall des Neutrons
oder z.B. bei den Elektronen Einfang Reaktionen in einem Atomkern, wo ja im wesentli-
chen die Reaktion
p + e− −→ n + νe , (2.152)
abläuft. Bei dieser Wechselwirkung werden die wechselwirkenden Partner Proton und
Elektron in Neutron plus Neutrino umgewandelt. Die Art der Teilchen wird verändert,
es gelten aber Erhaltungssätze für die Zahl der Nukleonen ( 1 Proton geht über in ein
Neutron), die Zahl der Leptonen (1 Elektron geht über in ein Neutrino) und für die
Ladung: die Gesamtladung vor und nach der Wechselwirkung ist identisch null. Auch
diese Prozessen könne durch ein Potenzial beschrieben werden der Form (der Index w
steht für “weak” gleich schwach)
gw2 −βr
Vw (r) =
e . (2.153)
r
Wir haben gesehen, dass die Prozesse der schwachen Wechselwirkung recht gut durch eine
Kontaktwechselwirkung dargestellt werden können (siehe (2.81)), also einem Potenzial mit
sehr kurzer Reichweite. Dies bedeutet, dass der Faktor β in (2.153) groß sein muss.
Alle Wechselwirkungspotenziale haben also die gleiche Form wie etwa das Potenzial der
starken Wechselwirkung (2.151). Für die elektromagnetische und die Gravitationswech-
selwirkung gilt lediglich, dass der Parameter α in der Exponenzialfunktion den Wert null
annimmt, so dass die Exponenzialfunktion also insgesamt durch den Faktor 1 ersetzt
werden kann.
In einem nächsten Schritt wollen wir die Transformation dieser Potenziale von der Orts-
darstellung in die Impulsdarstellung betrachten. Wir begeben uns dazu in das Koordi-
natensystem, das sich mit dem Schwerpunkt der wechselwirkenden Teilchen mitbewegt.
Besitzt also vor der Wechselwirkung das eine Teilchen in diesem Koordinatensystem den
Impuls p~i , so muss das andere den Impuls −~pi besitzen so dass der Gesamtimpuls der
beiden Teilchen identisch Null ist. Da dieser Gesamtimpuls erhalten bleiben muss, muss
auch im Endzustand, also nach der Wecselwirkung gelten, dass das eine Teilchen einen
Impuls p~f besitzt und das andere dann den Impuls −~pf (siehe auch Abb. 2.34).
Damit ergibt sich also für den Anfangszustand die Zweiteilchenwellenfunktion
Ψ(~r1 , ~r2 ) = h~r1 , ~r2 | − p~i , p~i i = ei(−~pi~r1 +~pi~r2 )/h̄ = ei~pi~r/h̄ (2.154)
wobei ~r für den Relativvektor zwischen den beiden wechselwirkenden Teilchen steht
~r = ~r2 − ~r1 .
Entsprechendes gilt für den Endzustand. Damit erhalten wir für für die Impulsdarstellung
eines Potenzials V (r), das nur vom Abstand der wechselwirkenden Teilchen r abhängt
Z
h~pf |V |~pi i = d3 r h~pf |~rih~r|V |~rih~rp~i i
Z
= d3 r e−i~pf ~r/h̄ V (r)ei~pi~r/h̄
Z
= d3 r V (r)ei~q~r/h̄ , (2.155)
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 133

+pf −p
f

+pi −pi

Abbildung 2.34: Impulse vor und nach einer Wechselwirkung zwischen zwei
Teilchen. Die Zeit wächst in dieser Darstellung von unten nach oben.

wobei wir den Impulstransfer ~q definiert haben als

~q = p~i − p~f . (2.156)

Der Impulstransfer ist also gerade der Impuls, der von einem der wechselwirkenden Part-
ner abgegeben wird und vom anderen Partner aufgenommen wird. Wenn man sich also
vorstellt, dass die Wechselwirkung durch den Austausch eines “Botschafter - Teilchens”
(eines Mesons) zwischen den Teilchen vermittelt wird, so entspricht der Impulstransfer
gerade diesem Impuls des ausgetauschten Mesons. Lokale Wechselwirkungen, die nur vom
Relativvektor ~r der wechselwirkenden Teilchen abhängen, hängen in der Impulsdarstellung
also nur vom Impulstransfer ~q ab.
Für die weitere Rechnung führen wir die Integration über die Koorinaten des Vektors ~r
in dem Koordinatensystem aus, dessen z-Achse parallel zur Richtung von ~q orientiert ist
und benutzen die Nomenklatur

~q~r = qr cos ϑ = qrξ = h̄krξ .

Damit ergibt sich in Fortsetzung von (2.155)


Z ∞ Z 1
h~pf |V |~pi i = 2π r2 dr V (r) dξ eikrξ
0 −1
Z ∞
2 1 h ikr i
= 2π r dr V (r) e − e−ikr
0 ikr
4π Z ∞
= r dr V (r) sin(kr) . (2.157)
k 0
Dieses Ergebnis gilt noch für alle Potenziale, die nur vom Betrag des Abstandes r abhängen.
Im nächsten Schritt wollen wir nun speziell ein Potenzial vom Typ der starken Wechsel-
wirkung (2.151) behandeln.

4πgs2 Z ∞
h~pf |Vs |~pi i = − dr e−αr sin(kr) . (2.158)
k 0
Zu berechnen bleibt also
Z ∞
X = dr e−αr sin(kr)
0
134 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

1 ∞ αZ ∞
= − cos kr e−αr − dr e−αr cos(kr)
k 0 k 0
1 αZ ∞
= − dr e−αr cos(kr)
k k 0 ∞ 
1 α 1
−αr −α Z ∞ −αr
= − sin kr e − dr e sin(kr)
k k k 0 k 0
1 α2
= − 2X . (2.159)
k k
Bei dem Übergang zur zweiten und zur vierten Zeile dieser Gleichungsfolge wurde jeweils
partiell integriert. Die erste und letzte Zeile von (2.159) führt uns auf die Lösung
1 1
X = . (2.160)
k 1 + αk22

Setzt man dieses Ergebnis für X in (2.158) ein, so ergibt sich


4πgs2
h~pf |Vs |~pi i = −
k 2 + α2
4πg 2 h̄2 c2
= − 2 2 s 2 2 2. (2.161)
c q + α h̄ c
Identifizieren wir nun den Parameter α mit
mπ c2
α= , (2.162)
h̄c
so entspricht der Nenner im Ausdruck (2.161) gerade dem Quadrat der relativistischen
Energie eines Teilchens der Masse mπ mit dem Impuls q
Eq2 = c2 q 2 + α2 h̄2 c2 = c2 q 2 + m2π c4 . (2.163)
Damit entspricht dieser Nenner, wie wir in der Vorlesung Quantenmechanik noch sehen
werden, dem sogenannten Propagator eines entsprechenden Bosons. Ein solcher Propa-
gator beschreibt die Wahrscheinlichkeitsamplitude für den Übergang von einem Anfangs-
zustand in einen Endzustand. In diesem Fall also die Wahrscheinlichkeitsamplitude, dass
das Boson der Masse mπ mit dem Impuls q vom Ort des einen Nukleons zum Ort des
anderen Nukleons gelangt (siehe Abb. 2.34).
Stände diese Energie Eq wirklich zur Verfügung, so könnte das Boson wirklich erzeugt
werden und von einem Ort zu einem beliebigen anderen Ort gelangen. Im Fall der elasti-
schen Wechselwirkung von 2 Teilchen wird aber gar keine Energie freigesetzt. Die Energie
Eq kann also nach den Gesetzen der Quantenmechanik nur im Rahmen eine Schwan-
kung ∆E um den erhaltenen Erwartungswert der Energie aufgebracht werden. Nach der
Heisenbergschen Unschärferelation gibt es für die Größe dieser Schwankung und dem Zei-
tintervall während dem eine solche Schwankung zur Verfügung gestellt werden kann die
Beziehung
Eq ∆t = ∆E ∆t ≈ h̄ .
Dies bedeutet, dass das Boson also maximal einen Weg der Strecke
ch̄
∆r = c∆t ≈
Eq
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 135

zurücklegen kann. Je größer die Masse des Bosons, um so kleiner diese Reichweite. Damit
haben wir eine anschauliche Erklärung für die Ortsdarstellung der starken Wechselwir-
kung. Mit der Identifikation von α nach (2.162) schreibt sich ja (2.151)
gs2 −mπ cr/h̄
Vs (r) = − e . (2.164)
r
Je größer die Masse des Austauschteilchens mπ um so kleiner die Reichweite der Wech-
selwirkung und um so stärker wird das Potenzial für größere Abstände r gedämpft.
Der japanische Physiker H. Yukawa, nach dem auch Potenziale der Form (2.164) als
Yukawa Potenziale bezeichnet werden, analysierte die starke Wechselwirkung und kam
zu dem Schluß, dass bei einer Reichweite der starken Wechselwirkung von etwa 1 fm,
also 10−15 m, der Austausch von Mesonen mit einer Masse von etwa 100 MeV/c2 dafür
verantwortlich sein sollte. Diese von Yukawa bereits im Jahre 1935 postulierten Mesonen
wurden im Jahre 1947 als Pionen experimentell gefunden. Wir werden darauf noch zu
sprechen kommen.
Die Form der schwachen Wechselwirkung in (2.153) entspricht der der starken Wechsel-
wirkung. Wie bereits erwähnt hat die schwache Wechselwirkung eine sehr viel kürzere
Reichweite, als die starke Wechselwirkung. Dies bedeutet, dass die Massen der verant-
wortlichen Austauschteilchen, mW , die ja entsprechend (2.162) mit dem Parameter β in
(2.153) über
mW c2
β= , (2.165)
h̄c
verknüpft sein sollten sehr viel größer sein muss. Der experimentelle Nachweis dieser W -
Bosonen mit einer Masse von mW = 80 GeV/c2 gelang erst 1983 am Proton - Antiproton
Speicherring des CERN.
Die Impulsdarstellung der schwachen Wechselwirkung besitzt also die Form
4πgw2 h̄2 c2
h~pf |Vw |~pi i = . (2.166)
c2 q 2 + m2W c4
Für mittlere Impulstransfers mit q 2 ≪ m2W c2 kann man den Beitrag des Impulstransfers
gegenüber der Masse des W Bosons im Nenner vernachlässigen und (2.166) wird in der
Impulsdarstellung reduziert zu einer Konstanten
4πgw2 h̄2
h~pf |Vw |~pi i = . (2.167)
m2W c2
Bei Transformation in die Ortsdarstellung ergibt sich als Funktion des Abstandes die
Diracsche Deltafunktion und wir landen wieder bei der Darstellung der schwachen Wech-
selwirkung als Kontaktwechselwirkung, wie bereits in (2.81) diskutiert wurde.
Die Gravitation und die elektromagnetische Wechselwirkung werden durch Potenziale der
Form 1/r beschrieben, die Masse der Austauschteilchen, die ja in die Exponentialfunktion
einer Austauschwechselwirkung vom Typ (2.164) eingeht, ist also in diesen beiden Fällen
identisch Null. Damit haben wir alle 4 Formen der fundamentalen Wechselwirkung durch
den Austausch von Teilchen dargestellt. Die Masse der Photonen im Fall der elektroma-
gnetischen Wechselwirkung und die Masse der Gravitonen im Falle der Gravitations sind
aber identisch Null und die Energie ist gegeben durch
Eq = cq .
136 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Die Reichweite wird hier nicht durch eine Exponentialfunktion eingeschränkt, man sagt
diese beiden Wechselwirkungen haben eine unendliche Reichweite. Die Impulsdarstellung
dieser Wechselwirkungen ist gegeben durch

m2 h̄2
h~pf |Vg |~pi i = −G 4π
q2
1 e2 h̄2
h~pf |Vem |~pi i = . (2.168)
ε0 q 2
Dies erlaubt einen direkten Vergleich der Stärke der Gravitation und der elektromagne-
tischen Wechselwirkung. Wenn man für die Ladung e und die Masse m die Werte für ein
Proton einsetzt, ergibt sich

V e2
em
= ≈ 1036 . (2.169)
Vg 4πGε0 m2

Für den Vergleich der anderen Wechselwirkungen müssen wir einen Wert für den Impul-
stransfer annehmen. Für den Fall
q 2 = m2p c2 ,
mit mp der Masse des Protons ergibt sich

Vs gs2 4πε0 q2


= ≈ 2 × 103
Vem e2 q 2 +m2π c2

Vem e2 q 2 +m2W c2



= 2 4πε
gw q2
≈ 1 × 104 . (2.170)
Vw 0

Insgesamt ergibt sich also ein Vergleich von

|Vs | > |Vem | > |Vw | ≫ |Vg | . (2.171)

2.10.2 Der Zoo der Elementarteilchen


Die Elemetarteilchen unterscheidet man nun zunächst einmal danach, ob sie der star-
ken Wechselwirkung unterliegen oder nicht. Die Teilchen, die die starke Wechselwirkung
spüren, bezeichnet man als Hadronen. Im Bereich der Hadronen unterscheidet man zwi-
schen Hadronen mit halbzahligem Spin, das sind also fermionische Hadronen, die den
Namen Baryonen tragen, und bosonische Hadronen, die man als Mesonen bezeichnet.
Bisher haben wir aus dem Bereich der Baryonen die Protonen und Neutronen kennen-
gelernt. Aus dem Bereich der Mesonen wurden die Pionen genannt, die in einer positiv
geladen Form, π + , in einer negativ geladenen Form π − und einer elektrisch neutralen
Form π 0 , vorkommen.
Wie kann man diese Elementarteilchen und eventuell auch noch weitere Elementarteil-
chen experimentell nachweisen. Ein klassisches Instrument zur Identifikation von gelade-
nen Elementarteilchen sind Blasenkammern, in denen die Teilchen durch die Spuren, die
sie in Form von kleinen Bläschen in einer Flüssigkeit, oder auch durch die Ausbildung
von Tröpfchen in einer überkritischen Gasphase, hinterlassen. Die Tröpfchen oder Blasen
bilden sich dadurch, dass die zu untersuchenden Teilchen Atome des Mediums, das sie
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 137

π−

µ+

π+
Abbildung 2.35: Skizze eines charakteristischen Blasenkammerbildes der Re-
aktion p + p → p + p + π + + π − .

durchlaufen, ionisieren und diese ionisierten Teilchen Kondensationskeime für Tröpfchen


oder Bläschen bilden. Eine Fotografie dieser Spuren, nach Möglichkeit aus verschiedenen
Richtungen, erlaubt die Identifikation dieser Spuren.
Diese Blasenkammern wurden vor allen Dingen in den sechziger Jahren des 20. Jahrhun-
derts sehr intensiv genutzt. Heute werden sie im Allgemeinen ersetzt durch Detektorsyste-
me mit guter Orts- und Zeitauflösung, so dass die Spuren der Teilchen durch eine Analyse
rekonstruiert werden können. Bringt man diese Detektoren in einem Magnetfeld unter,
so kann man aus der Krümmung der Bahnen Informationen über die Ladung und die
Impulse der Teilchen extrahieren.
Ein charakteristische Beispiel für eine Blasenkammeraufnahme ist in Abb. 2.35 skizziert.
Ein Proton mit einem Impuls von 12 GeV/c kommt von links und trifft ein ruhendes
Proton in einer Wasserstoffblasenkammer. Das ruhende Proton wird beschleunigt und
verlässt die Blasenkammer zusammen mit dem ursprünglichen Projektil. An der Wechsel-
wirkungsstelle werden aber auch ein π + und ein π − erzeugt. Wegen der anderen Ladung
hat die Bahn des π − im Magnetfeld eine andere Krümmung als die der anderen Teilchen.
Das π + zerfällt noch in der Blasenkammer gemäß
π+ −→ µ+ ν µ .
Dies sieht am Knick der Bahn des π + (die farbliche Unterscheidung der Bahnen ist nur
in der Skizze möglich), das myonische Neutrino, νµ , ist elektrisch neutral und hinterlässt
keine Spuren in der Blasenkammer.
Die geladenen Pionen haben eine mittlere Lebensdauer τ von 2.6 10−8 Sekunden. In
dieser Zeit können sie also, wenn sie sich mit annähernd Lichtgeschwindigkeit bewegen,
eine Strecke von etwa 8 Metern zurücklegen. Spuren solcher Teilchen sind also gut in einer
Blasenkammer oder einem modernen Detektorsystem zu beobachten. Wie kann man aber
Teilchen entdecken, die eine erheblich kürzere Lebensdauer besitzen, so dass man Spuren
nicht mehr auflösen kann?
In diesem Fall identifiziert man die Teilchen, die in einer Zwischenstufe existent waren,
dadurch, dass man untersucht, bei welchen Energie- und Impulsverteilungen von mögli-
chen Folgeprodukten der intermediären Teilchen signifikante Maxima zu sehen sind. Als
ein einfaches Beispiel hierzu betrachten wir die Reaktion
e+ + e− −→ π+ + π− ,
138 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

bei der hochenergetische Positronen und Elektronen (mit entgegesetztem Impuls, so dass
der Gesamtimuls gleich Null ist) sich gegenseitig vernichten und aus der zur Verfügung
stehenden Energie ein Paar von Pionen (π + und π − , so dass die Gesamtladung erhalten
bleibt) entstehen. Diese Reaktion zeigt ein ausgeprägtes Maximum bei einer Gesamt-
energie von Positron und Elektron von 770 MeV. Man kann dies interpretieren als eine
Zweistufenreaktion, bei der in einem Zwischenschritt ein ungeladenes Teilchen ρ0 ein Rho
Mesonentstanden ist
e+ + e− −→ ρ0 −→ π + + π − .
Wenn also die Energie der Positronen und Elektronen gerade der Ruheenergie des Rho
Mesons, mρ c2 , entspricht ist der Wirkungsquerschnitt für diese Reaktion besonders groß.
Die Abhängigkeit des Wirkungsquerschnittes von der zur Verfügung stehenden Energie E
wird durch die Breit-Wigner Formel beschrieben
Γee Γ2π
σ(E) = C (2.172)
(E − mρ c2 )2 + Γ2 /4

Hierbei bedeuten Γee und Γ2π die Wahrscheinlichkeiten (partiellen Breiten) für den Über-
gang ρ ↔ e+ e− bzw ρ ↔ π + π − und Γ bezeichnet die Breite der Resonanz im Wirkungs-
querschnitt. Diese Breite der Resonanz, beziehungsweise Unschärfe in der Energiebestim-
mung des Rho Mesons, ist über die Unschärferelation mit seiner mittleren Lebensdauer
verknüpft
Γτ = h̄ . (2.173)
Im Fall des Rho Mesons gilt

mρ c2 = 770M eV und Γ = 153M eV ,

was also einer Lebensdauer von


h̄c
τ =

1 197.3 MeV fm
=
c 153 MeV
1
= 1.3 fm
c
= 4.5 × 10−23 s . (2.174)

Die Lebensdauer ist also so extrem kurz, dass das ρ mit Lichtgeschwindigkeit gerade mal
eine Strecke von 1.3 fm zurücklegen könnte. Entsprechende Spuren sind natürlich nicht
in einer Blasenkammer aufzulösen. Das Rho Meson ist also nur über sein Folgeprodukt,
ein π + π − Paar bei der entsprechenden Energie identifizierbar.
Ein Beispiel für eine schärfere Resonanz im Wirkungsquerschnitt der e+ e− → Hadronen
Reaktion, ist das ω Meson, das sich bei der Reaktion

e+ + e− −→ π+ + π0 + π− ,

bemerkbar macht. Die experimentellen Daten, gemessen am Speichering ACO in Orsay9 ,


werden sehr gut durch eine Breit Wigner Verteilung mit einer Masse und Breite für das
ω Meson von
mω c2 = 783M eV und Γ = 8.5M eV ,
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 139

1.5

σ [ µb ]
1

0.5

0
780 800
Energie [MeV]

Abbildung 2.36: Wirkungsquerschnitt e+ + e− → π + + π 0 + π − .

wiedergegeben (siehe Abb. 2.36).


Nicht alle kurzlebigen Teilchen können ihre Existenz in so einfacher Form nachweisen. Als
weiteres Beispiel betrachten wir die Reaktion

π+ + p −→ π+ + p + π+ + π0 + π− ,

und fragen uns ob nicht ein Teil dieses Wirkungsquerschnittes über die Reaktionskette

π+ + p −→ π+ + p + ω −→ π+ + p + π+ + π0 + π− ,

verläuft. Beim Zerfall des ω Mesons gelten Energie und Impulssatz. Dies bedeutet, dass wir
bei der Analyse der Experimente jeweils ein Tripel von π + + π 0 + π − herausgreifen, deren
Gesamtenergie E123 und Gesamtimpuls p~123 bestimmen und daraus über die relativistische
Energie Impulsbeziehung
2
E123 = p~2123 c2 + m2ef f c4
eine effektive Masse zu bestimmen. Gibt es ein Maximum der so bestimmten Massen bei
mef f = mω so kann man daraus schliessen, dass ein entsprechender Anteil der Reaktionen
über die Bildung eines intermediären ω Mesons verlaufen ist.
Mit der Analyse von diesen und ähnlichen Reaktionen wurden im Laufe der Jahre immer
mehr Resonanzen entdeckt, die man veschiedenen Mesonen zuordnen konnte.
Ähnliches gilt aber auch für die Beobachtung von resonanzartigen Strukturen, die man
kurzlebigen Baryonen zuordnet. Analysiert man z.B. den Wirkungsquerschnitt von π + + p
Reaktionen als Funktion der Energie und des Impulses des Gesamtsystems, so ergibt sich
ein ausgeprägtes Maximum bei einer effektiven Masse von 1232 MeV/c2 . Diese Resonanz
trägt einen halbzahligen Gesamtspin (Spin des Protons, 1/2, plus Spin des Pions, 0, plus
möglicher Bahndrehimpuls der Relativbewegung, l=0,1,... ergibt insgesamt einen halb-
zahligen Drehimpuls) ist also ein fermionisches Hadron und damit ein Baryon. Genauere
Analysen ordnen dieser Resonanz den Spin 3/2 zu. Die Ladung ist doppelt positiv. Man
bezeichnet dieses Elementarteilchen als ∆++ Resonanz.
9
siehe D.Benaksas et al. Phys. Lett. 42B (1972) 507.
140 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Ladung [e] Masse [MeV/c2 ]


Elektron e− -1 0.511
Neutrino νe 0 < 3 10−6
Myon µ− -1 105.7
µ Neutrino νµ 0 < 0.19
Tau Lepton τ− -1 1777
τ Neutrino τ− 0 < 18.2

Tabelle 2.2: Leptonen und ihre Eigenschaften

Auch im Fall der Baryonen lieferten die verschiedenen Experimente eine große Zahl von
kurzlebigen Elementarteilchen. Man sprach deshalb von dem Elementarteilchenzoo der
Hadronen und versuchte, wie in einem richtigen Zoo, eine Ordnung in diese Vielzahl der
Hadronen zu bringen.
Dabei war das Quarkmodell besonders erfolgreich. Die Quarks sind Fermionen mit dem
Spin 1/2 und besitzen Ladungen von 2/3 oder -1/3 der Elementarladung. Drei Quarks
werden zusammengesetzt zu einem Baryon, während die Mesonen aus einem Quark und
einem Antiquark aufgebaut sind. Wir werden weitere Einzelheiten des Quark Modell im
nächsten Unterabschnitt besprechen.
Die Quarks wurden also zunächst nur eingeführt um eine Ordnungsstruktur in den Ele-
mentarteilchenzoo zu bringen und es bestand lange in Zweifel, ob die Quarks existent
sind oder nur rein hypothetische Teilchen. Eine deutliche Antwort auf diese Frage brach-
ten Streuexperimente von hochenergetischen Elektronen an Protonen. Die Energie der
Elektronen muss so hoch sein, dass man Impulstransfers erzeugt, mit denen man die
mögliche Substruktur der Protonen auflösen kann (siehe Diskussion der Streuexperimente
im Abschnitt 2.1). Dabei zeigte sich, dass man diese Streuexperimente in der Tat sehr
gut dadurch beschreiben kann, dass man sich das Proton vorstellt als ein System aus
punktförmigen Teilchen, die gerade die Ladungen der Quarks tragen.
Dadurch wurde also das Quarkmodell eindrucksvoll bestätigt. Allerdings ist es bis heute
noch nicht gelungen einzelne Quarks mit ihrer drittelzahligen Ladung zu isolieren. Es hält
sich deshalb die Frage, welcher Mechanismus ist dafür verantwortlich, dass die Quarks im-
mer nur im Dreierpack oder als Quark - Antiquark auftreten. Diese Frage nach der Ursache
des Quark Confinement ist eine der zentralen Fragen der modernen Elementarteilchen-
physik.

2.10.3 Heutiges Bild der Elementarteilchen


In diesem Abschnitt wollen wir den aktuellen Stand des Standardmodells der Elementar-
teilchenphysik vorstellen. Wir haben bereits angedeutet, dass die Hadronen also die Ba-
ryonen und Mesonen, die die starke Wechselwirkung spüren aus Quarks zusammengesetzt
sind. Wir werden uns diesem Quarkmodell der Hadronen weiter unten zuwenden. Zunächst
betrachten wir die Fermionen, die die starke Wechselwirkung nicht spüren, die Leptonen.
Das uns bekannteste Lepton ist das Elektron. Es wechselwirkt mit seiner Umgebung über
die elektromagnetische Wechselwirkung, die Gravitation mit einer Ruhemasse von 0.511
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 141

MeV/c2 und die schwache Wechselwirkung z.B. durch die Reaktion des Elektroneneinfangs

p + e− −→ n + νe .

Bei dieser Reaktion, so wie bei den anderen Reaktionen, die durch die schwache Wech-
selwirkung beschrieben werden, haben wir gesehen, dass wir dem Elektron ein Neutrino
zuordnen müssen, das Elektron Neutrino νe . Dieses Neutrino reagiert also mit der Umwelt
über die schwache Wechselwirkung. Es ist elektrisch neutral und deshalb unempfindlich
in Bezug auf die elektromagnetische Wechselwirkung. Eine endgültige Aussage über die
Masse können wir noch nicht machen, deshalb enthält die Tabelle 2.2 an dieser Stelle auch
nur eine obere Schranke.
Das Myon ist so etwas wie eine schwerere Kopie des Elektrons. Es hat die gleichen Ei-
genschaften wie das Elektron und unterscheidet sich von diesem nur durch die Masse, die
etwa 200 mal so groß ist. Wegen dieser größeren Ruhemasse zerfällt das Myon mit einer
Lebenszeit von τ = 2.2 10−6 s nach dem Schema

µ− −→ e− + ν¯e + νµ . (2.175)

Bei diesem wie allen anderen uns bekannten Prozessen bleibt die Leptonenzahl erhalten:
Auf der linken Seite von (2.175) ist die Leptonenzahl natürlich gleich 1 für die Leptonen,
die zur myonischen Leptonenfamilie gehören. Auch auf der rechten Seite der Reaktion
treffen wir genau ein Mitglied dieser Familie, das νµ . Die Anzahl der Leptonen, die zur
elektronischen Leptonenfamilie gehören ist auf beiden Seiten identisch Null. Für die
linke Seite von (2.175) ist dies trivial, für die rechte Seite ergibt sich diese Null aus der
Summe von +1 für das Elektron, e− , und -1 für das Antineutrino ν¯e . Die Reaktion (2.175)
ist also ein typisches Beispiel für das Gesetz von der Erhaltung der Leptonenzahl.
Zur dritten Familie der Leptonen gehören das τ − als schwerste Kopie des Elektrons mit
einer Masse von 1.777 GeV/c2 und das zugehörige Neutrino ντ . Die Lebenszeit des τ −
beträgt 290 ×10−15 s. Rein leptonisch zerfällt es mit etwa gleich großer Wahrscheinlichkeit
über die Reaktionen

τ− −→ e− + ν¯e + ντ und
τ− −
−→ µ + ν¯µ + ντ . (2.176)

Wegen der großen Masse des τ Leptons, stehen aber auch Zerfallskanäle offen, bei denen
Hadronen in der Form von Mesonen entstehen.
Neben den in der Tabelle aufgelisteten Leptonen existieren natürlich auch noch die zu-
gehörigen Antiteilchen: das Positron (e+ ) die ebenfalls postiv geladenen µ+ und τ + so wie
die jeweils zugehörigen Antineutrinos.
Natürlich stellt sich die Frage, ob es noch weitere Leptonenfamilien gibt. Aus experimen-
tellen Daten kann man heute mit großer Sicherheit ausschließen, dass es weitere “leichte
Neutrinos” gibt und ebenso sollte es keine weiteren Leptonen mit einer Masse kleiner
als etwa 100 GeV/c2 geben. Das gegenwärtige Standardmodell sieht die in Tabelle 2.2
dargestellten 3 Leptonenfamilien vor.
Die stark wechselwirkenden Teilchen, die Hadronen, sind aus Quarks und Antiquarks zu-
sammengesetzt, die mit ihren Eigenschaften in Tabelle 2.3 aufgelistet sind. Dabei besteht
142 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK

Ladung [e] Masse [MeV/c2 ]


Up u 2/3 ≈1
Down d -1/3 ≈3
Charm c 2/3 1200
Strange s -1/3 100
Top t 2/3 174000
Bottom b -1/3 4000

Tabelle 2.3: Quarks und ihre Eigenschaften

alle Baryonen und Mesonen, die wir bisher diskutiert haben aus den Quarks mit dem
Flavor Up und Down und deren Antiteilchen. So besteht das Proton in einfachster Dar-
stellung aus zwei Up und einem Down Quark mit der Gesamtladung: 2*2/3 - 1/3 = 1,
und das Neutron aus zwei Down und einem Up Quark (Ladung = 2/3 - 2* 1/3=0):

p ∼ uud
n ∼ udd . (2.177)

Beim β-Zerfall des Neutrons wird also ein Down in ein Up Quark umgewandelt und ein
W − Boson mit negativer Ladung emittiert. Dieses W − Boson sorgt auf der leptonischen
Seite für die Erzeugung eines Elektrons und eines Antineutrinos.
Als ein weiteres Beispiel betrachten wir die oben erwähnte ∆++ Resonanz. Sie ist dop-
pelt positiv geladen und daher aus 3 Up Quarks aufgebaut. Außerdem ist der Spin die-
ser ∆ Resonanz gleich 3/2, d.h. die Spins der 3 Quarks stehen alle parallel zueinander.
Dies bringt uns in Konflikt mit dem Pauliprinzip, das ja den Aufenthalt von identischen
Fermionen, den u Quarks, mit gleicher Spinprojektion untersagt. Daraus ergibt sich die
Notwendigkeit, eine neue Eigenschaft der Quarks, die Farbladung einzuführen, die drei
Werte annehmen kann. Man kann diese Farben z.B. mit rot, gelb und blau bezeichnen.
Die 3 Up Quarks, die das ∆++ Teilchen bilden unterscheiden sich also durch ihre Werte
für die Farbladung.
Diese Farbladung ist das Spezifikum der stark wechselwirkenden Hadronen. Die starke
Wechselwirkung ist also direkt mit dieser Farbladung verknüpft. Die Theorie dieser Wech-
selwirkung ist die Quantenchromodynamik, QCD. Mit relativ einfachen Mitteln kann
man aus der QCD Vorhersagen für die Quarks bei Prozessen mit hohen Impulstransfers
herleiten und im Vergleich mit Experimenten verifizieren. Sehr viel schwieriger sind Be-
rechnungen im Rahmen der QCD bei niedrigen Energien und Impulsen. Die Physiker sind
aber davon überzeugt, dass die QCD auch die Zusammensetzung der Hadronen aus den
Quarks richtig beschreibt.
Allerdings hat man in diesem Bereich noch keine wirklich zuverlässigen Lösungen. So ist
die Frage, warum Quarks immer nur in farblosen Kombinationen auftreten, die Frage nach
dem Farb-Konfinement noch nicht restlos geklärt.
Baryonen sind nach diesem Konzept ein System aus 3 Quarks mit den 3 unterschiedlichen
Farben, die sich insgesamt zur Farbe weiß addieren oder kompensieren. Mesonen bestehen
aus einem Quark mit einer Farbe und dem Antiquark mit der entsprechenden Antifarbe,
so dass insgesamt auch wieder ein farbloses Objekt entsteht.
2.10. ELEMENTARTEILCHEN 143

111
000
000
111

11
00
00
11
00
11

Abbildung 2.37: Mesonenaustausch zwischen 2 Baryonen im Quarkmodell

Die Wechselwirkung zwischen den Quarks wird durch den Austausch von Gluonen ver-
mittelt. Diese Gluonen tragen selbst Farbladung, sie können also miteinander wechselwir-
ken. Dies ist die wesentliche Komplikation der QCD im Vergleich zur Quantenelektrody-
namik, bei der ja die Photonen elektrisch neutral sind.
Der Austausch von Mesonen, wie wir ihn im vorhergehenden Unterabschnitt diskutiert
haben, stellt sich im Quarkmodell dar, wie das im linken Teil der Abb. 2.37 skizziert ist:
Ausgetauscht werden ein Quark und ein entgegenkommendes Quark, ein Antiquark, die
schraffierten Flächen bezeichnen den Austausch von Gluonen.
Neben den Hadronen aus den “gewöhnlichen” Up und Down Quarks gibt es Hadronen
mit schweren Quarks, die dann auch eine entsprechend größere Masse besitzen.
144 KAPITEL 2. KERN- UND TEILCHENPHYSIK
Kapitel 3

Festkörperphysik

145
146 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

ni ni
1 1

0 0
εF εi εF εi

a) b)
Abbildung 3.1: Besetzungszahlen eines Fermigases im Grundzustand (a)) und
für eine angeregte Konfiguration (b)).

3.3 Fermi Dirac Statistik


In diesem Abschnitt wollen wir die thermodynamischen Eigenschaften eines Gases aus Fer-
mionen bei einer Temperatur T betrachten. Nach der Definition eines Gases besteht auch
ein Fermigas aus Teilchen, eben den Fermionen, deren Wechselwirkung untereinander ver-
nachlässigbar ist. Die Energie eines solchen Fermigases berechnet sich also dadurch, dass
man die Einteilchenenergien der einzelnen Fermionen aufaddiert. Anders ausgedrückt:
Man bestimmt die möglichen Einteilchenenergien des Systems εi und die Besetzungszahl
des entsprechenden Einteilchenniveaus ni .
Ist das System aus N Fermionen in seinem Grundzustand, so werden gerade die N Niveaus
mit den niedrigsten Einteilchenenergien einfach besetzt sein. Eine Doppelbesetzung ist ja
durch das Pauli Prinzip verboten. Ordnet man die Einteilchenniveaus entsprechend ihrer
Energie an, so sind im Grundzustand gerade alle Niveaus bis zur Fermienergie εF besetzt.
Die Energie dieses Grundzustandes berechnet sich gemäß
X
E0 = ni ε i
i
F
X
= εi . (3.1)
i=1

Für die Besetzungszahlen der Niveaus gilt also


(
1 für i ≤ F
ni = (3.2)
0 für i > F

Diese Verteilung der Besetzungszahlen ist in Abb. 3.1 a) dargestellt. Auch die Energien
der angeregten Zustände des Fermigases Eα können in der Form der ersten Zeile von (3.1)
berechnet werden. Lediglich die Verteilung der Besetzungszahlen ni ist bei einer solchen
angeregten Konfiguration anders, etwa so wie sie im Beispiel der Abb. 3.1 b) dargestellt
ist.
Bringt man das Fermigas in Kontakt mit einem Wärmebad der Temperatur T , so dass
Energie ausgetauscht werden kann zwischen dem Wärmebad und dem Fermigas, so ist die
3.3. FERMI DIRAC STATISTIK 147

Energie des Fermigases nicht mehr fest definiert. Vielmehr wird ein Zustand des Fermi-
gases der Energie Eα realisiert sein mit einer Wahrscheinlichkeit P(Eα ), die entsprechend
der Boltzmann Verteilung gegeben ist durch
P(Eα ) = Ce−Eα /kB T
= Ce−βEα . (3.3)
Dabei steht kB für die Boltzmann Konstante und wir haben die übliche Abkürzung für
die inverse Temperatur eingeführt mit
1
β= . (3.4)
kB T
Die Normierungskonstante C in (3.3) ergibt sich aus der Forderung, dass die Summe der
Wahrscheinlichkeiten P(Eα ), summiert über alle Zustände des Systems α den Wert 1
annehmen muss X X
1= P(Eα ) = C e−βEα . (3.5)
α α
Definieren wir also die Zustandssumme durch
X
Z= e−βEα , (3.6)
α

so gilt
1
C= ,
Z
und
1 −βEα
P(Eα ) = e . (3.7)
Z
In der Regel ist es praktisch unmöglich die Zustandssumme Z aus (3.6) für ein makro-
skopisches System zu berechnen, die Zahl der Summanden ist schlicht zu groß. Dies wird
uns durch die folgende Abschätzung verdeutlicht.
Nehmen wir einmal an, dass es k unterschiedliche Einteilchenniveaus gibt mit Einteilchen-
energien εi . Wir wollen nun abschätzen wie viele Konfigurationen es für N Fermionen gibt,
d.h. wie viele Möglichkeiten diese N Fermionen auf die k Zustände zu verteilen.
Für N = 1 ergeben sich k Möglichkeiten: das Fermion kann jedes dieser Niveaus beset-
zen, was jeweils einer anderen Konfiguration entspricht. Für N = 2 können wir das erste
Fermion in jedes der k Niveaus plazieren, so dass für das zweite Fermion jeweils (k − 1)
Möglichkeiten offenstehen. Auf den ersten Blick scheint es also k(k − 1) Konfigurationen
für N = 2 zu geben. Dabei müssen wir aber berücksichtigen, dass die Fermionen ununter-
scheidbar sind. Dies bedeutet, dass die Konfiguration bei der Teilchen 1 im Niveau i = 15
und Teilchen 2 im Niveau i = 23 untergebracht ist, identisch ist mit der Konfiguration
bei der sich Teilchen 2 im Niveau i = 15 und Teilchen 1 im Niveau i = 23 befindet. Die
Gesamtzahl der Konfigurationen beträgt also für N = 2:
k(k − 1)
.
2
Mit Hilfe der vollständigen Induktion über N kann man zeigen, dass die Zahl der Konfi-
gurationen für N Teilchen in k Zustände den Wert
!
k k(k − 1) . . . (k − N + 1)
= , (3.8)
N N!
148 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

annimmt, eine Zahl die durch den sogenannten Binomial Koeffizienten k über N gege-
ben ist. Diese Zahl wächst also proportional zu k N an. Damit wird die Zahl der Summan-
den in der Zustandssumme bei Teilchenzahlen N von der Größe der Loschmidtschen Zahl
so groß, dass selbst das Alter des Universums nicht ausreichen würde, dass ein moderner
Computer eine solche Summe ausführen könnte.
Es ist aber sehr attraktiv diese Zustandssumme auszurechnen. Mit ihr kann man nämlich
auch verschiedene Mittelwerte des Systems direkt berechnen. Uns interessiert z.B. mit
welcher statistischen Wahrscheinlichkeit eines der Niveaus s mit der Einteilchenenergie
εs besetzt ist, wenn sich das Fermigas in Kontakt mit einem Wärmebad der Temperatur
T befindet. Dieser Mittelwert der Besetzungswahrscheinlichkeit < ns >, berechnet sich
natürlich dadurch, dass wir über alle Konfigurationen des Systems summieren, bei jeder
Konfiguration die Besetzungszahl dieses Niveaus ns bestimmen und diese Besetzungszahl
mit der Wahrscheinlichkeit, dass diese Konfiguration eingenommen wird multiplizieren.
Es gilt also:
X
< ns > = ns P(Eα )
α
X 1
= ns e−βEα
α Z
P
[ni ,N ] ns e−β(n1 ε1 +n2 ε2 +...)
= P −β(n1 ε1 +n2 ε2 +...)
. (3.9)
[ni ,N ] e

Bei dem Übergang zur dritten Zeile haben wir die Summe über alle Konfigurationen α
dargestellt durch eine Summe, bei der die Besetzungszahlen aller Niveaus i die Werte
ni = 0 oder ni = 1 annehmen kann. Dabei sind aber nur solche Kombinationen zu
berücksichtigen, bei der die gesamte Fermionenzahl gleich N ist also gilt:
X
ni = N . (3.10)
i

Dies soll durch das Symbol [ni , N ] unter dem Summenzeichen in (3.9) angedeutet wer-
den. Die aktuelle Besetzungszahl ns bei einer gegebenen Konfiguration kann man formal
berechnen durch die Ableitung
!
1 d −β(n1 ε1 +n2 ε2 +...)
ns = − e .
β dεs
Setzt man diesen Ausdruck in (3.9) ein, so ergibt sich
!
1 X 1 d −β(n1 ε1 +n2 ε2 +...)
< ns > = − e
Z [ni ,N ] β dεs
!
1 1 d
= − Z
β Z dεs
1 d ln Z
= − . (3.11)
β dεs
Aus der Ableitung des Logarithmus der Zustandssumme ergibt sich also direkt ein Aus-
druck für die mittlere Besetzungszahl < ns >. Kennt mann diese mittleren Besetzungs-
zahlen, so können auch andere statistische Mittelwerte berechnet werden, wie z.B. der
3.3. FERMI DIRAC STATISTIK 149

-αN’
e
Z(N’)
-αN’
Z(N’) e

Z(N’)

Teilchenzahl N’

Abbildung 3.2: Zustandssumme als Funktion der Teilchenzahl, siehe Diskussion


im Text

Mittelwert für die Energie des Systems


X
< E >= < ni > ε i .
i

Das Problem ist aber nach wie vor die Berechnung der Zustandssumme für eine große Zahl
von Fermionen N . Dieses Problem kann man durch einen Trick lösen, in dem man sich
einem Problem zuwendet, das auf dem ersten Blick noch schwieriger ist: Wir betrachten
nämlich ein System von Fermionen, bei denen die Teilchenzahl N nicht fest ist sondern
flexibel. Dies bedeutet natürlich, dass die Zahl der Summanden in der Zustandssumme
noch größer wird. Wir müssen ja nicht nur die Konfigurationen für eine Teilchenzahl N
aufsummieren sondern die Konfigurationen für alle möglichen Teilchenzahlen N ′ . Wie wir
oben in (3.8) gesehen haben, wächst die Zahl der Summanden und, da alle Summanden

positiv sind, damit auch der Wert für die Zustandssumme proportional zu k N mit der
Teilchenzahl N ′ an. Dies ist in der Abb. 3.2 skizziert.
Multipliziert man die jeweiligen Zustandssummen Z(N ′ ) mit einem Exponentialfaktor

Z(N ′ ) e−αN ,
so sorgt dieser Exponentialfaktor dafür, dass das Produkt für große Werte von N ′ wie-
der kleiner wird. Der Parameter α kann dabei so gewählt werden, dass das Maximum
dieser Produktfunktion genau bei einer anvisierten Teilchenzahl N ′ = N auftritt. Damit
definieren wir die Zustandssumme einer Großkanonischen Gesamtheit durch
X ′
Z= Z(N ′ ) e−αN . (3.12)
N′

Für große Teilchenzahlen N ′ ist der Bereich von Teilchenzahlen, in dem das Produkt

Z(N ′ )e−αN signifikant von Null verschieden ist sehr klein verglichen zur Gesamtteilchen-
zahl1 . Deshalb kann man also annähern
Z ≈ Z(N ) e−αN ∆N . (3.13)
1
Diese Eigenschaft der Großkanonischen Zustandssumme wird im Detail noch in der Statistischen
Mechanik diskutiert werden.
150 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

Der konstante Faktor ∆N spielt bei Berechnungen nach (3.11) keine Rolle und wir können
schreiben
ln Z ∼ ln Z(N ) − αN ,
beziehungsweise
ln Z(N ) ∼ ln Z + αN , (3.14)
wobei der Parameter α so gewählt werden muss, dass die mittlere Teilchenzahl in der
Großkanonischen Zustandssumme Z gleich der gewünschten Teilchenzahl N ist. Die Be-
rechnung der Großkanonischen Zustandssumme wird sich nun als relativ einfach erweisen.
Nach (3.12) gilt ja X
Z= e−β(n1 ε1 +n2 ε2 +...) e−α(n1 +n2 +...) . (3.15)
ni

Da keine feste Teilchenzahl vorgegeben ist, haben wir hier eine Summe über alle Kombi-
nationen von ni ohne die Einschränkung (3.10). Definieren wir außerdem
−µ
α= = −βµ , (3.16)
kB T

so kann man (3.15) umschreiben in


X
Z = eβ(n1 (µ−ε1 )+n2 (µ−ε2 )+...)
ni
! !
X X
βn1 (µ−ε1 ) βn2 (µ−ε2 )
= e e ...
n1 n2
  
= 1 + eβ(µ−ε1 ) 1 + eβ(µ−ε2 ) . . . . (3.17)

Damit ergibt sich für den Logarithmus der Großkanonischen Zustandssumme


!
Y 
β(µ−εi )
ln Z = ln 1+e
i
X  
= ln 1 + eβ(µ−εi ) . (3.18)
i

Mit (3.14) ergibt sich also


X  
ln Z(N ) = −βµN + ln 1 + eβ(µ−εi ) , (3.19)
i

und die mittlere Besetzungszahl < ns > berechnet sich nach (3.11)
!
1 d X  
< ns > = − ln 1 + eβ(µ−εi )
β dεs i
1 d  
= − ln 1 + eβ(µ−εs )
β dεs
1 (−β)eβ(µ−εs )
= −
β 1 + eβ(µ−εs )
1
= −β(µ−ε s) + 1
. (3.20)
e
3.3. FERMI DIRAC STATISTIK 151

Fermi Dirac Verteilung


µ=4

kBT = 0.2
kBT = 1
1 kBT = 2

<ni>

0.5

0
0 2 4 6 8 10
µ εi

Abbildung 3.3: Fermi Dirac Verteilung bei verschiedenen Temperaturen

Ergebnisse für dies Fermi Dirac Verteilung der Besetzungszahlen als Funktion der Einteil-
chenenergie εs sind in Abb. 3.3 dargestellt. Dabei wurde für den Parameter µ ein Wert
von µ = 4 festgehalten, während für die Temperaturen verschiedene Werte betrachtet
werden.
Im Fall ε = µ liefert die Fermi Dirac Verteilung
1 1
< ns >= = ,
e0 +1 2
also gerade den Wert 1/2 unabhängig von der Temperatur. Im Grenzfall sehr kleiner
Werte für ε, so dass µ − ε sehr groß ist gegenüber kB T , kann man den Beitrag der
Exponentialfunktion im Nenner von (3.20) gegenüber der 1 vernachlässigen und erhält
die Besetzungzahl < ns >= 1. Andererseits ergibt sich für sehr große Werte von ε eine
Besetzungszahl, die gegen Null geht. In welchem Energieintervall die Besetzung von <
ns >= 1 über den Wert 1/2 bei ε = µ auf < ns >= 0 abfällt wird durch die Temperatur
kontrolliert. Im Grenzfall T = 0 beziehungsweise β = ∞ geht die Verteilung über in die
Stufenfunktion, in diesem Fall entspricht der Parameter µ genau der Fermienergie.
Für Temperaturen T > 0 muss der Parameter µ, das Chemische Potenzial so bestimmt
werden, dass der Mittelwert für die Teilchenzahl gerade den gewünschten Wert liefert.
Für eine Teilchenzahldichte, das ist die Anzahl der Zustände pro Energieintervall g(ε)
berechnet sich diese Teilchenzahl
Z ∞
< N >= g(ε) ns (ε) dε . (3.21)
0

Für den Fall, dass die Teilchenzahldichte eine Konstante ist, ergibt sich daraus mit (3.20)
Z ∞ 1
<N > = g dε
0 e−β(µ−ε) +1
Z
−g ∞ d  
= ln 1 + eβ(µ−ε) dε
β 0 dε
−g   ∞

= ln 1 + eβ(µ−ε)
β 0
152 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

−g h i
= ln(1) − ln(1 + eβµ ) . (3.22)
β

Bei der Herleitung des Ausdrucks für die mittlere Besetzungszahl < ns > in (3.20) haben
wir die Großkanonische Zustandssumme betrachtet. Der Ausdruck für die Fermivertei-
lung kann aber auch noch auf eine andere Art hergeleitet werden. Dazu betrachten wir
die Kanonische Zustandssumme Z(N ) für eine feste Teilchenzahl N und zerlegen Sie in
die Teilsumme über Konfigurationen, bei denen der Zustand s nicht besetzt ist und die
Teilsumme, bei denen s besetzt ist. Damit schreiben wir

Z(N ) = Zs (N ) + e−βεs Zs (N − 1) . (3.23)

Dabei bezeichnet Zs (N ) die Zustandssumme für ein System mit N Fermionen, bei denen
der Zustand s mit der Einteilchenenergie εs ausgespart bleibt. Entsprechend steht Zs (N −
1) f’Ur die Zustandssumme eines Systems aus n − 1 Fermionen, bei denen ebenfalls der
Zustand s ausgespart ist. Damit ergibt sich für die mittlere Besetzungszahl < ns >

0 Zs (N ) + 1 e−βεs Zs (N − 1)
< ns > = Z(N ) (3.24)
/
e−βεs Zs (N − 1)
= (3.25)
Zs (N ) + e−βεs Zs (N − 1)
1
= Zs (N ) . (3.26)
e βεs + 1
Zs (N −1)

Ersetzen wir in dieser letzten Zeile


Zs (N ) Zs (N )
= = e−µβ ,
Zs (N − 1) Zs (N − 1)

wobei wir bei der ersten Gleichung annehmen, dass das Verhältnis der Zustandssummen
unabhängig davon sein wird, ob ein weiterer Zustand s zu berücksichtigen ist oder nicht,
und bei der zweiten Gleichung dieses Verhältnis über einen Parameter µ parametrisieren,
so ergibt sich
1
< ns >= −β(µ−εs ) ,
e +1
also das identische Ergebnis wie in (3.20) Der Parameter µ muss angepasst werden, so
dass die Teilchenzahl nach (3.21) reproduziert wird.
3.6. BLOCH WELLEN 153

3.6 Bloch Wellen


Das Thema dieses Abschnittes sind die stationären Lösungen der Schrödinger Gleichung
für Teilchen, also im Fall der Festkörper Elektronen, die sich in einem periodischen Po-
tenzial bewegen. Ein solches periodisches Potenzial ist dadurch gekennzeichnet, dass gilt

~ = V (~r) ,
V (~r + R) (3.27)

wobei R~ ein Vektor des Bravais Gitters ist. Es gilt also für ganze Zahlen ni und den
Basisvektoren des Bravais Gitters ~ai :

~ = n1~a1 + n2~a2 + n3~a3 .


R (3.28)

Das Bloch Theorem besagt nun, dass sich die stationären Lösungen der Schrödinger
Gleichung für die Bewegung eines Teilchens in einem solchen periodischen Potenzial dar-
stellen lassen in der Form in der Form einer Wellenfunktion vom Typ
~
~ = uk (~r) .
Ψ(~r) = eik~r uk (~r) mit uk (~r + R) (3.29)

Diese Wellenfunktion besteht also aus einem Faktor, der die gleiche Periodizität besitzt
wie das Potenzial, multipliziert mit der komplexen Phase einer ebenen Welle vom Betrag
1.
Den Beweis dieses Bloch Theorems wollen wir auf 2 Arten erbringen. Der erste Beweis
ist ein mehr formaler Beweis. Bei der zweiten Beweisführung beschränken wir uns aus
Gründen der Übersichtlichkeit auf ein periodische Potenzial in einer Raumrichtung. Dieser
zweite Beweis ist aber dafür konstruktiv in dem Sinne, dass er einen Weg für eine konkrete
Lösung aufweist und auch die Struktur des Spektrums der Eigenwerte vermittelt.
Für den ersten Beweis führen wir den Operator für eine Translation um den Vektor R, ~
TR~ ein, der angewandt auf eine Funktion f(~r) den Funktionswert an der Stelle f(~r + R) ~
ergibt:
~ .
TR~ f (~r) = f (~r + R) (3.30)

Wendet man diesen Operator z.B. auf die stationäre Schrödinger Gleichung unseres Pro-
blems in der Ortsdarstellung an, so ergibt sich

~ Ψ(~r + R)
TR~ H(~r) Ψ(~r) = H(~r + R) ~
~
= H(~r) Ψ(~r + R)
= H(~r) TR~ Ψ(~r) . (3.31)

Der Übergang zur zweiten Zeile dieser Gleichungsfolge ist korrekt, da wegen der Periodi-
~ des Bravai Gitters Gilter H(~r + R)
zität des Potenzials für alle Vektoren R ~ = H(~r). Die
Gleichungen (3.31) gelten für beliebige Funktionen Ψ(~r) und deshalb folgt also, dass
h i
TR~ H(~r) = H(~r) TR~ bzw. TR~ , Ĥ = 0 . (3.32)

Ist aber der Kommutator zwischen dem Hamiltonoperator und dem Translationsoperator
TR~ = 0, so besitzen diese Operatoren ein gemeinsames Eigenfunktionssystem. Sei also Ψ(~r)
154 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

eine solche Eigenfunktion zu Ĥ und TR~ , so stellt sich die Frage nach den Eigenwerten für
den Translationsoperator.
Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir die Anwendung von 2 Translationsopera-
toren, TR~ und TR~ ′ , die, wie man leicht sieht, auch untereinander kommutieren, mit den
Eigenwerten χR~ und χR~ ′

TR~ TR~ ′ |Ψ > = χR~ χR~ ′ |Ψ >


= TR+
~ R ~ ′ |Ψ >
= χR+
~ R~ ′ |Ψ > . (3.33)

Die Eigenwerte besitzen also die Eigenschaft

χR+
~ R~ ′ = χR
~ χR
~′ , (3.34)

für beliebige Vektoren des Bravais Gitters R~ und R ~ ′ . Jeder Vektor des Bravais Gitters
lässt sich durch die Primitivvektoren des Gitters ~ai darstellen
~ = n1~a1 + n2~a2 + n3~a3 ,
R (3.35)

was natürlich wegen (3.34) bedeutet, dass

χR~ = χ~an11 χ~an22 χ~an33 . (3.36)

Wir machen nun den Ansatz, dass

χ~aj = e2πi xj , für j=1,2,3 . (3.37)

Dies ist immer möglich solange wir zulassen, dass xj eine komplexe Zahl ist. Damit können
wir aber mit
~k = x1~b1 + x2~b2 + x3~b3 , und
~bi~aj = 2π δij , (3.38)

auch schreiben
~~
χR~ = eikR
~ ~ ~
= ei(x1 b1 +x2 b2 +x3 b3 )(n1~a1 +n2~a2 +n3~a3 )
= e2πi n1 x1 e2πi n2 x2 e2πi n3 x3
= χ~an11 χ~an22 χ~an33 . (3.39)

Jetzt berücksichtigen wir noch die Born - von Karmann Randbedingung, nach der

Ψ(~r + Nj~aj ) = e2πi xj Nj Ψ(~r) = Ψ(~r) , (3.40)

sein muss. Dies bedeutet aber, dass

xj N j = m j mit mj eine ganze Zahl

oder anders ausgedrückt


mj
xj = ,
Nj
3.6. BLOCH WELLEN 155

reelle Zahlen sind. Da wegen der Orthogonalitätsrelation in (3.38) die Vektoren ~bj gerade
die Basisvektoren des reeziproken Gitters sind, ist damit der in der ersten Zeile von (3.38)
definierte Vektor ~k ein Vektor des Impulsraumes und wir haben wegen (3.39) für die
gemeinsamen Eigenzustände des Hamiltonoperators und der Translationsoperatoren die
Eigenschaft
~ = ei~kR~ Ψ(~r) .
Ψ(~r + R) (3.41)
Diese Eigenschaft wird aber genau durch die Bloch Wellenfunktionen in (3.29) realisiert.
Damit wäre also ein formaler Beweis des Bloch Theorems erbracht.
In einem zweiten Beweis des Bloch Theorems, der dann aber auch mehr Information
über das Eigenwertspektrum liefert, wollen wir uns auf periodische Potenziale in einer
Raumrichtung beschränken, also Potenziale vom Typ

V (x + a) = V (x) . (3.42)

Bereits im ersten Semester haben wir gesehen, dass eine solche periodische Funktion durch
eine Fourier Reihe dargestellt werden kann in der Form

X ∞
X 2πn
V (x) = an cos(kn x) + bn sin(kn x) , mit kn = und
n=0 n=1 a
1Z a
an = dx V (x) cos(kn x) ,
a 0
Z a
1
bn = dx V (x) sin(kn x) . (3.43)
a 0
Mit der Euler Darstellung der Kosinus und Sinusfunktionen können wir diese Entwicklung
aber auch umschreiben in

X 1  ikn x  X∞
1  ikn x 
V (x) = an e + e−ikn x + bn e − e−ikn x
n=0 2 n=1 2i

! !
X an bn −ikn x an bn ikn x
= − e + + e
n=0 2 2i 2 2i
X∞
= Vn e−ikn x , (3.44)
n=−∞

wobei sich die Koeffizienten Vn als Kombination aus den an und bn ergeben. Als einfache
Beispiele für diese Fourierreihe, auf die wir noch zurückgreifen werden, führen wir an:

• Auch ein konstantes Potenzial ist natürlich ein Beispiel für ein periodisches Potenzial
zu einer beliebigen Länge a der Periode. Die Fourierreihe des Potenzials V (x) = V
nach (3.44) ist durch die Koeffizienten
(
V für n = 0,
Vn = (3.45)
0 sonst.

• Als zweites Beispiel nehmen wir das Potenzial, das durch die Kosinusfunktion defi-
niert ist  
x
V (x) = V cos 2π . (3.46)
a
156 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

Dieses Potenzial ist periodisch mit der Periodizitätslänge a und ein semirealistisches
Beispiel für ein Potenzial von Atomrümpfen, die an den Positionen π/a, 3π/a etc.
sitzen, und dort ein attraktives Potenzial für Elektronen hervorrufen. Die Koeffizien-
ten der Fourierreihe ergeben sich hier einfach dadurch, dass wir (3.46) umschreiben
auf die Form
V  x x

V (x) = ei2π a + e−i2π a
2
V  
= e−ik−1 x + e−ik1 x . (3.47)
2
In diesem Fall sind die Entwicklungskoeffizienten der Darstellung (3.44) also gegeben
durch (
V
2
für n = −1 und n = 1,
Vn = (3.48)
0 sonst.

Die Lösung der stationärenn Schrödingergleichung soll nun in der Impulsdarstellung erfol-
gen und deshalb wollen wir zur Erinnerung und zur Etablierung der Nomenklatur einige
Grundzüge der Darstellung von Zuständen wiederholen.
Ein quantenmechanischer Zustand wird abstrakt in der Dirac Notation durch einen Ket
Vektor |Ψi dargestellt. Für eine konkrete Darstellung dieses Zustandes geht man z.B. in die
Ortsdarstellung und gibt den Überlapp dieses Ket Zustandes mit den Ortseigenzuständen
|xi an
hx|Ψi = Ψ(x) . (3.49)
Das Ergebnis ist die Wellenfunktion Ψ(x), die die Wahrscheinlichkeitsamplitude angibt
mit der ein Teilchen im Zustand |Ψi am Ort x aufzufinden ist. Eine Alternative zur
Ortsdarstellung ist die Impulsdarstellung, also die Entwicklung des Zustandes nach den
Impulseigenfunktion mit Impulsen p = h̄k

hk|Ψi = C(k) , (3.50)

wobei die Funktion C(k) die Wahrscheinlichkeitsamplitude angibt, mit der das Teilchen
mit einem Impuls h̄k detektiert werden kann. Die Transformation von der Orts- in die
Impulsdarstellung erhält man dadurch, dass man in geeigneter Weise eine 1 in Form einer
Vollständigkeitsrelation einfügt

Ψ(x) = hx|Ψi
Z ∞
= dk hx|kihk|Ψi
−∞
Z ∞
1
= dk √ eikx C(k) , (3.51)
−∞ 2π
beziehungsweise in der anderen Richtung

C(k) = hk|Ψi
Z ∞
= dx hk|xihx|Ψi
−∞
Z ∞
1
= dk √ e−ikx Ψ(x) . (3.52)
−∞ 2π
3.6. BLOCH WELLEN 157

In diesen Transformationen haben wir benutzt, dass die Ortsdarstellung der Impulseigen-
funktionen durch die ebenen Wellen gegeben ist
1
hx|ki = √ eikx = hk|xi∗ .

(3.51) und (3.52) belegen, dass Orts- und Impulsdarstellung eines Zustandes durch die
Fourier Transformation miteinander verknüpft sind.
Wenden wir uns nun der stationären Schrödinger Gleichung zu, die in der Dirac Schreib-
weise gegeben ist durch
(T + V ) |Ψα i = εα |Ψα i .
Die Impulsdarstellung erhalten wir dadurch, dass wir diese Gleichung von links mit einem
Bra Vektor hk ′ | multiplizieren
hk ′ | (T + V ) |Ψα i = εα hk ′ |Ψα i = εα Cα (k ′ ) . (3.53)
Betrachten wir zunächst den Operator der kinetischen Energie T
Z ∞
hk ′ |T |Ψα i = dk hk ′ |T |kihk|Ψα i
−∞
Z ∞ h̄2 k 2
= dk δ(k − k ′ )Cα (k)
−∞ 2m
2 ′2
h̄ k
= Cα (k ′ ) . (3.54)
2m
In einem zweiten Schritt betrachten wir den Operator des Potenzials in (3.53)
Z ∞
hk ′ |V |Ψα i = dk hk ′ |V |kihk|Ψα i
−∞
Z ∞
= dk hk ′ |V |ki Cα (k) . (3.55)
−∞

Die Matrixelemente des Potenzials in der Impulsdarstellung ergeben sich durch


Z ∞ Z ∞
hk ′ |V |ki = dx dx′ hk ′ |x′ ihx′ |V |xihx|k
−∞ −∞
1 Z∞ Z ∞
′ ′
= dx dx′ e−ik x V (x)δ(x − x′ )eikx
2π −∞ −∞
1 Z∞ ′
= dx V (x) ei(k−k )x . (3.56)
2π −∞
Bei dem Übergang zur zweiten Zeile haben wir uns auf die üblichen lokalen Potenziale
beschränkt, deren Matrixelemente in der Ortsdarstellung gegeben sind durch
hx′ |V |xi = V (x)δ(x − x′ ) .
Betrachten wir nun speziell die Matrixelemente von Potenzialen, die periodisch mit der
Periodizität a sind, also durch die Reihe (3.44) dargestellt werden, so ergibt sich

X Z ∞ ′
hk ′ |V |ki = Vn dx ei(k−k −2πn/a)x
n=−∞ −∞

X∞  
2πn ′
= Vn δ k − k − . (3.57)
n=−∞ a
158 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

1/2
tk 1
0
1
0

11
00
00
11
00
11

1
0
1
0
1
0
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
−3 −1
0
1
1 3 k[π /a]
1
0
0
1

1
0
0
1
0
1
1
0
0
1

1
0
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
0
1
−1 1 k[π /a]
Abbildung 3.4: Kinetische Energie tk als Funktion der Wellenzahl. Herausge-
hoben ist eine Gruppe von Wellenzahlen, die durch die Schrödinger Gleichung
(3.59) miteinander verknüpft sind. Im unteren Teilbild sind die Teile der Ener-
giefunktion so verschoben, dass diese Punkte vertikal übereinander positioniert
sind und so das Intervall der Wellenzahl auf die erste Brillouinzone reduziert
ist.

Setzt man dieses Ergebnis in Gleichung (3.55) ein, so ergibt sich


Z ∞
X  
∞ 2πn
hk ′ |V |Ψα i = dk Vn δ k − k ′ − Cα (k)
−∞ n=−∞ a

X
= Vn Cα (k ′ + 2πn/a) . (3.58)
n=−∞

Setzt man die Ergebnisse von (3.54) und (3.58) in die stationäre Schrödinger Gleichung
(3.53) ein, so ergibt sich

h̄2 k ′2 X∞
Cα (k ′ ) + Vn Cα (k ′ + 2πn/a) = εα Cα (k ′ ) . (3.59)
2m n=−∞

Greift man also z.B. einen Wert der Wellenzahl k ′ aus dem Intervall der ersten Brillouinzo-
ne [−π/a, π/a] heraus, so verknüpft diese Schrödinger Gleichung (3.59) den Wert der unbe-
kannten Amplitude Cα (k ′ ) nur mit denen dieser Amplitude an den Stellen Cα (k ′ +2πn/a).
Diese Werte
√ für die Wellenzahlen sind im oberen Teil der Abb. 3.4 durch Punkte auf der
Geraden tk als Funktion von k markiert.
Durch die angedeutete Umpositionierung der einzelnen Abschnitte dieser Energiekurve
erreicht man im unteren Teile der Abb. 3.4, dass all diese Wellenzahlen übereinander po-
sitioniert sind. Die Gleichung (3.53) und damit auch (3.59) gilt für beliebige Wellenzahlen
3.6. BLOCH WELLEN 159

k ′ und damit auch für kj = k ′ + 2jπ/a, wobei k ′ der erwähnte Impuls aus der ersten
Brillouinzone ist. Damit ergibt sich für (3.59)
h̄2 kj2 X∞
Cα (kj ) + Vn Cα (kj+n ) = εα Cα (kj ) . (3.60)
2m n=−∞

Diese Gleichungen bilden ein Eigenwertproblem unendlicher Dimension zur Bestimmung


der Eigenwerte εα und der Eigenvektoren in Form der Koeffizienten Cα (k ′ + 2jπ/a).
 
h̄2 k02    
 2m
+ V0 V1 V2 . . .  Cα (k0 ) Cα (k0 )
 h̄2 k12    
 V−1 + V0 V1 ...   Cα (k1 )   Cα (k1 ) 
 2m   = εα  . (3.61)
 h̄2 k22   Cα (k2 )   Cα (k2 ) 
 V−2 V−1 + V0 . . .     

.. ..
2m
...
 .. ..
. . . .

Beachte dabei, dass diese Matrix auch für negative Indices k−j ergänzt werden muss.
Die Eigenwerte werden also am besten gekennzeichnet durch zwei Zahlen: die Wellen-
zahl k ′ in der ersten Brillouinzone und eine natürliche Zahl n, die angibt, der wievielte
Eigenvektor, bezogen auf die Größe des Eigenwertes, betrachtet werden soll
εα mit α ↔ k ′ , n . (3.62)
Die Eigenzustände sind charakterisiert durch die Koeffizienten Cα (kj ), Entwicklungskoef-
fizienten in der Impulsdarstellung. Damit ergibt sich also für den Eigenzustand

X
|Ψα i = Cα (k ′ + 2πj/a)|k ′ + 2πj/ai . (3.63)
j=−∞

In der Ortsdarstellung ergibt sich also für diese Eigenzustände die Darstellung

X
hx|Ψα i = Cα (k ′ + 2πj/a)hx|k ′ + 2πj/ai
j=−∞
X∞
1 ′
= Cα (k ′ + 2πj/a) √ ei(k +2πj/a)x
j=−∞ 2π

′ X Cα (k ′ − 2πj/a)
= eik x √ e−i(2πj/a)x
j=−∞ 2π
ik′ x
= e uα (x) , (3.64)
mit ∞
X Cα (k ′ − 2πj/a)
uα (x) = √ e−i(2πj/a)x . (3.65)
j=−∞ 2π
Damit entspricht die Darstellung von uα einer Fourierreihe des Typs von (3.44). Dies
bedeutet, dass uα periodisch mit der Periodizität a ist (uα (x + a) = uα (x)) womit die
Darstellung des Eigenzustandes Ψα (x) in (3.64) das Bloch Theorem (3.29) verifiziert ist.
Allerdings ist der der Wellenvektor k ′ , den wir bei dieser Darstellung herausgehoben ha-
ben, nicht eindeutig. Mit gleichem Ergebnis hätte man auch eine ebene Welle mit der
Wellenzahl k ′ + 2πj/a herausfaktorisieren können.
Betrachten wir jetzt als einfache Anwendungen die periodischen Potenziale, die wir bereits
oben unter (3.45) und (3.48) betrachtet haben:
160 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

TKin
+V

Energie ε

0.6 0.8 1
k [π/a]

Abbildung 3.5: Kinetische Energien und Einfluss des Potenzials auf die Ein-
teilchenenergien in der Nähe von k ′ = π/a.

• Zunächst also das triviale Beispiel des konstanten Potenzials V = V0 . In diesem Fall
sind also alle Matrixelemente Vn der Matrix in (3.61), die nicht in der Diagonalen
stehen, identisch null. Die Eigenvektoren sind genau die ebenen Wellen und die
Eigenwerte, die entsprechenden kinetischen Energien plus die Konstante V0 , wie es
zu erwarten war.
Sind die Nebendiagonalelemente im Vergleich zur kinetischen Energie klein, so kann
man davon ausgehen, dass die Eigenvektoren dominiert werden durch jeweils einen
Entwicklungskoeffizienten Cα (kj ), während die anderen klein sind. Dieser Zustand
ist also kein exakter Eigenzustand zum Impulsoperator, wird aber dominiert durch
eine Impulskomponente h̄kj , die den Namen Quasiimpuls trägt. Die Voraussetzung,
dass die Matrixelemente Vn kleine sind im Vergleich zur kinetischen Energie trifft
natürlich insbesondere zu für Zustände mit hoher kinetischer Energie.

• Das zweite Beispiel eines periodischen Potenzials ist die Kosinusfunktion. Nach
(3.48) besitzt die Fourierreihe dieser Funktion nur die Koeffizienten V1 und V−1 .
Dies bedeutet, dass in der Matrix in (3.61) nur die erste Nebendiagonale von Null
verschieden ist.
Zur Analyse der Eigenwerte und Eigenvektoren, nehmen wir an, dass V1 = V−1 = v
relativ klein ist im Vergleich zu den typischen Differenzen zwischen den kinetischen
Energien. Zur Bestimmung der niedrigsten Eigenwerte etwa in der Nähe von k ′ =
π/a können wir dann die Matrix reduzieren auf eine 2×2 Matrix, die nur die Beiträge
von k0 und k−1 berücksichtigt (siehe auch Abb. 3.4) in der Form
!
t−1 v k ′2 h̄2 (k ′ − 2π/a)2 h̄2
mit t0 = t−1 = . (3.66)
v t0 2m 2m

Die Eigenwerte dieser Matrix sind gegeben durch


t0 + t−1 1 q
ε= ± (t0 − t−1 )2 + 4v 2 . (3.67)
2 2
3.6. BLOCH WELLEN 161

Abbildung 3.6: Oberfläche des Simulationsprogramms “bloch” aus dem Paket


Simulations for Solid State Physics, siehe www.ruph.cornell.edu/sss/sss.html

Ist also der Betrag der Differenz (t0 − t−1 ) groß gegenüber v, so kann man den Wert
von v in der Wurzel vernachlässigen und man erhält die kinetischen Energien t0 und
t−1 für die Einteilchenenergien. In diesem Fall sind die Wellenfunktionen dann auch
nahezu identisch mit den ebenen Wellen. Nähert man sich aber z.B. der Grenze der
Brillouin Zone k ′ = π/a, so werden die kinetischen Energien t0 und t−1 identisch.
In diesem Grenzfall sind die Eigenwerte dann
t0 + t−1
ε= ±v. (3.68)
2
Durch das Potenzial ergibt sich also eine Lücke im Energiespektrum (siehe Abb. 3.5,
in der diese Eigenwerte dargestellt sind). In diesem Grenzfall sind die Eigenzustände
gegeben durch
1
|Ψα i = √ (|k0 = π/ai ± |k−1 = −π/ai)
2
(
cos(πx/a) bzw.
∼ (3.69)
sin(πx/a) .

Wir haben es also in diesem Fall mit stehenden Wellen zu tun, deren Maxima des
Amplitudenquadrats für die attraktive Energie in den Minima des Potenzials (für
den weniger attraktiven Eigenwert in den Maxima des Potenzials) zu finden sind.

Diese Eigenschaften der Lösungen der Schrödinger Gleichung für ein periodisches Po-
tenzial ist keinesfalls eine Besonderheit des von uns gewählten Kosinus Potenzials. Das
Auftreten eines Gaps im Energiespektrum und die diskutierten Eigenschaften der Wellen-
funktionen sind vielmehr charakteristisch auch für andere periodische Potenziale.
Dies kann man sehr schön durch Spielereien mit dem Simulationsprogramm “bloch” aus
dem Projekt Simulations for Solid State Physics von R.H. Silsbee und J. Dräger sehen.
162 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

40 data0_1 data0_1
data1_1 data1_1
data2_1
data3_1

psi^2 and potential (arb. units)


30
data4_1
energy (eV) data5_1 1

20

10 0

-1

0 0.5 1 0 5 10
wave vector (pi/a) distance (A)

data0_1 data0_1
data1_1 data1_1
1

1
psi^2 and potential (arb. units)

psi^2 and potential (arb. units)

0
0

-1 -1

0 5 10 0 5 10

distance (A) distance (A)

Abbildung 3.7: Ergebniss des Simulationsprogramms “bloch” aus dem Paket


Simulations for Solid State Physics, Details siehe Text

Diese Programme sind frei zugänglich unter www.ruph.cornell.edu/sss/sss.html und auch


auf den Rechnern des Studentenpools der Fakultät installiert. Die Abbildung 3.6 zeigt
das Layout der Programm Oberfläche.
Als Anwendungsbeispiel dieses Paketes sind in der Abb. 3.7 einige Ergebnisse von einfa-
chen Bandstrukturrechnungen zusammengefasst. Als Beispiel haben wir die Bandstruktur
für ein periodisches Kastenpotenzial mit einer Tiefe von 5 eV herausgegriffen (siehe die
Darstellung in 3 Teilbildern von Abb. 3.7. Das erste Teilbild zeigt das Energiespektrum im
Vergleich zum Spektrum der kinetischen Energie (geshiftet um die Konstante V0 . Dieses
Spektrum ist nur für die reduzierte Brillouin Zone für k ′ aus [0, π/a] dargestellt, da die
Energien spiegelsymmetrisch um k ′ = 0 sind.
Man findet eine erste Bandlücke bei k ′ = π/a: Zwischen ε = -2.53 eV und -0.49 eV sind
keine Energieeigenwerte zu finden.
Der zweite Plot in der ersten Reihe von Abb. 3.7 zeigt die Form des Potenzials im unteren
Teil und im oberen Teil das Quaderat der Wellenfunktion für ε = -2.6 eV, also knapp
unterhalb der Bandlücke. Wir sehen, dass es hier zur Ausbildung einer stehenden Welle
kommt, wie bereits im Fall der Kosinusfunktion diskutiert, mit Maxima der Aufenthalts-
wahrscheinlichkeit an den Stellen der Potenzialminima
Der linke Plot in der zweiten Reihe von Abb. 3.7 stellt die Ergebnisse für ε = -.45 eV also
leicht oberhalb des Energiegaps dar. In diesem Fall ist die Aufenthaltswahrscheinlichkeit
3.6. BLOCH WELLEN 163

groß im Bereich der Potenzialmaxima.


Der vierte Plot zeigt Ergebnisse für ε = 1.6 eV, also weiter weg von den Energielücken. In
diesem Fall fluktuiert das Quadrat der Wellenfunktion nur relativ schwach um den Wert
1.
Nachdem wir also die Lösungen der Schrödinger Gleichung für die periodischen Potenziale
diskutiert haben, stellt sich die Frage nach der Besetzung dieser Zustände mit Elektronen
unter Berücksichtigung des Pauli Prinzips.
Wir betrachten dazu wieder das einfache Beispiel eines periodischen Potenzials in einer
Raumrichtung mit der Periodizität a. In Abständen von a befindet sich also jeweils ein
Atomrumpf. Außerdem betrachten wir zur Diskretisierung des Problems einen Ausschnitt
aus diesem eindimensionalen Gitter der Länge
L = Na . (3.70)
Nach der Länge L, also nach N Atomen, sollen die Wellenfunktionen periodisch fortgesetzt
werden: Auf diesem Abschnitt der Länge L sollen also die Born-von Karmann Randbe-
dingungen gelten. Dies bedeutet, dass wir diskrete Wellenzahlen zu berücksichtigen haben
der Form
2πγ
kγ = mit γ = 0, ±1 . . . . (3.71)
L
In der ersten Brillouin Zone [−π/a, π/a] finden wir von diesen diskreten Wellenzahlen
gerade die Werte
2π 4π Nπ
kγ = 0 , ± , ± . . . , + . (3.72)
L L L}
| {z

a

Dabei ist zu beachten, dass wir von den 2 Impulswerten, die genau auf der Grenze der
Brillouin Zone liegen, nur einen der ersten Brillouin Zone zuordnen (+N π/L). Der andere
(−N π/L) wird bereits der nächsten Zone zugeordnet. Damit finden wir in (3.72) also
genau N diskrete Impulswerte in der ersten Brillouin Zone.
Somit gibt es also für N Atome im Intervall der Länge L genau N diskrete Wellenzahlen
und damit N Energieniveaus in jedem Energieband. Berücksichtigen wir, dass wegen der
Spinentartung in jedem Energiezustand 2 Elektronen untergebracht werden können, so
haben in jedem Energieband 2N Elektronen Platz.
Im Fall der Alkali Atome mit ihren abgeschlossenen Schalen und einem Valenzelektron,
bringt also jedes Atom ein Valenzelektron ein und wir erwarten nach dieser einfachen
Abschaetzung, dass das Energieband der Valenzelektronen gerade zur Hälfte gefüllt ist.
Bei den Erdalkali Atomen mit 2 Valenzelektronen sollten also im Kristallverbund genau
die Zustände eines Bandes aufgefüllt werden.
Wegen der Spiegelsymmetrie der Zustände um k = 0 ist bei einer vollen Besetzung des
Bandes zu erwarten, dass der Gesamtimpuls aller Elektronen in diesem Band sich zu Null
addiert. Für jedes Elektron, das einen Zustand mit einem Quasiimpuls h̄k besetzt, gibt
es ein zweites Elektron, das den Zustand mit dem Quasiimpuls −h̄k besetzt. Legt man
eine Spannung zwischen die Enden eines solchen Kristalls an, so kann das elektrische Feld
keinen Strom erzeugen. Die Energielücke zum nächsten Band ist zu groß, als dass das
elektrische Feld Elektronen in das nächste Band befördern und so den Elektronen einen
von Null verschiedenen Gesamtimpuls aufprägen könnte.
164 KAPITEL 3. FESTKÖRPERPHYSIK

Da nach unseren obigen Überlegungen die Alkaliatome eine halb besetzte Valenzschale
zeigen während die Valenzschale der Erdalkali Atome voll besetzt ist, sollte man erwarten,
dass Alakli Atome zu den Metallen gehören, was auch stimmt, während Erdalkali Atome
Kristalle mit Isolatorstrukturen bildet. Dies ist aber nicht richtig. Wegen der dreidimen-
sionalen Struktur der realen Festkörper überlappen die Bandstrukturen bei verschiedenen
Erdalkaliatomen. Dies führt zu schwachen Leitfähigkeiten.
3.6. BLOCH WELLEN 165

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