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1 Brüder Grimm
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Kinder- und Hausmärchen
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Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
Die handschriftliche Urfassung von 1810
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Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
Die handschriftliche Urfassung von 1810
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Die handschriftliche Urfassung von 1810
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11 Herausgegeben und kommentiert
12 von Heinz Rölleke
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Die handschriftliche Urfassung von 1810
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18520
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2007 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,
26 Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
27 Druck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,
28 Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
29 Printed in Germany 2017
30 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
31 RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
32
ISBN 978-3-15-018520-9
33
34 www.reclam.de
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Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
Die handschriftliche Urfassung von 1810
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1 Inhalt
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4 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
5
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7 Märchen
8 〈1. Von einem König, Schneider, Riesen, Einhorn〉 13
9 2. Vom Kätzchen und Maüschen . . . . . . . . . . 13
10 3. Das Laüschen und Flöhchen . . . . . . . . . . . 14
11 4. Der getreue Gevatter Sperling . . . . . . . . . . 16
12 5. Von dem Strohhälmchen dem Köhlchen und
13 dem Böhnchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
14 6. Der Wolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
15 7. Allerlei Rauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
16 8. Armes Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
17 9. Blutwurst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
18 10. Zwölf Brüder und das Schwesterchen . . . . . . 21
19 11. Das Brüderchen vnd das Schwesterchen . . . . 24
20 12. Daümling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
21 13. Dümmling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
22 14. Vom Schneiderlein Daümerling . . . . . . . . . 28
23 15. Dummling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
24 16. Die weisse Taube . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
25 17. Die drei Königssöhne . . . . . . . . . . . . . . . 32
26 18. Dümmling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
27 19. Dornröschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
28 20. Der Drache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
29 21. König Droßelbart . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
30 22. Die goldne Ente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
31 23. Mährchen v. Fanfreluschens Haupte . . . . . . . 43
32 〈24. Vom Fischer und seiner unersättlichen Frau〉 . . 44
33 25. Die Königstochter vnd der verzauberte Prinz.
34 Froschkönig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
35 26. Ein Mährchen. Fündling . . . . . . . . . . . . . 47
36 27. Goldne Gans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
Die handschriftliche Urfassung von 1810
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6 Inhalt
1 Vorwort
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4 Seit Ende 1806 hatten die Brüder Jacob und Wilhelm
5 Grimm (1785–1863; 1786–1858) für den romantischen
6 Dichter Clemens Brentano (1778–1842) nicht nur Volks-
7 lieder für die von ihm und Arnim herausgegebene An-
8 thologie Des Knaben Wunderhorn (1805–1808), sondern
9 auch Märchen und Sagen zur Unterstützung von Brenta-
10 nos Fortsetzungsplänen zum Wunderhorn gesammelt. Als
11 sich diese Pläne zerschlugen, wollte Brentano ein eigen-
12 ständiges Märchenbuch erstellen und erbat sich daher von
13 den Brüdern Grimm all ihre bis dato zusammengebrach-
14 ten Materialien: »Ich habe jetzt angefangen Kindermär-
15 chen zu schreiben, und Ihr könnt mir eine große Liebe er-
16 weisen, wenn Ihr mir mittheilt, was Ihr derart besitzet
17 […] Sendet mir doch, was Ihr habt« (3. September 1810 an
18 die Brüder Grimm). Die Grimms hatten Brentano viel zu
19 verdanken, auch praktische Anleitungen zum Sammeln,
20 Bearbeiten und Veröffentlichen von Märchen sowie Hin-
21 weise auf alte Quellen und Gewährspersonen mündlicher
22 Traditionen. So ist es nur folgerichtig, daß Jacob Grimm
23 am 24. September 1810 an ihn schrieb: »Die Kindermär-
24 chen, die wir gesammelt, sollen Sie kürzlich erhalten.«
25 Den Grund für die leichte Verzögerung hatte er zuvor
26 brieflich am 12. September 1810 seinem zwecks Märchen-
27 sammelns in Marburg weilenden Bruder genannt: »Unsere
28 Kindermärchen verlangt er […] Das muss man gewiss
29 thun, doch halte ich für nöthig, von unserm Gesammelten
30 vorher Abschrift zu nehmen, denn sonst gehts verloren.«
31 Tatsächlich ließen die Brüder Grimm in den folgenden
32 vier Wochen Abschriften ihres gesamten Märchenmateri-
33 als erstellen, die hernach den Grundstock für ihre eigenen
34 Publikationen bildeten. Sodann stellte Jacob Grimm die
35 Sendung der Originalmaterialien an Brentano nach Berlin
36 zusammen. Einige Stücke hielt er indes zurück, weil diese
Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
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8 Vorwort
Vorwort 9
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Märchen 13
1 〈1.〉
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〈Von einem König, Schneider, Riesen, Einhorn〉
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5
6
7 2.
8 Vom Kätzchen und Maüschen
9
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11 Ein Kätzchen und ein Maüschen, die hatten Wirthschaft
12 zusammen, und hatten sich ein Töpfchen mit Fett gekauft
13 für den Winter, und hatten es unter den Altar in der Kir-
14 che gestellt. Bald darauf sagt das Kätzchen zum Maüs-
15 chen, erlaub’ mir doch auszugehn ich muß Gevatter stehn;
16 und das Maüschen erlaubte es. Aber das Kätzchen ging in
17 die Kirche und aß die Haut von dem Fetttöpfchen ab. Das
18 Maüschen fragte es, wie es wieder nach Haus kam, wie das
19 Kindlein geheißen. »Hautab« sagte das Kätzchen. Und
20 bald hernach sagte das Kätzchen, es müße wieder Gevatter
21 stehn, und ging hin und aß das Fetttöpfchen halb aus.
22 Und als das Maüschen fragte wie das Kindlein geheißen,
23 so sagte das Kätzchen: »Halbaus« Endlich ging es noch
24 einmal zu Gevatter, ob es gleich das Maüschen nicht ha-
25 ben wollte, und sehr nachdenklich war, und sagte: Haut-
26 ab, Halbaus, das sind ja kuriose Namen. Und das Kätz-
27 chen fraß das Fetttöpfchen ganz aus, und sagte: das Kind-
28 lein hat Ganzaus geheißen. Da schüttelte das Maüschen
29 gar sehr den Kopf, Ganz aus! ei das ist ein bedenklicher
30 Namen. Bald war es Winter, da gingen sie beide in die
31 Kirche zu dem Fetttöpf〈ch〉en unter dem Altar, aber sie
32 fanden es leer. Da sagte das Maüschen: das hast du gewiß
33 gethan, wie du zu Gevatter standest. Da sagt das Kätzchen
34 schweig still oder ich freß dich auf, und als eben das
35 Maüschen den Mund wieder aufthun wollte, sprang das
36 Kätzchen auf es hin, und fraß es auf.
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14 Märchen
1 3.
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3
Das Laüschen und Flöhchen
4
5 Ein Laüschen und ein Flöhchen die lebten zusammen in
6 einem Haushalt, und brauten sich Bier in einer Eierschaa-
7 le. Da fiel das Laüschen hinein und verbrennte sich. Da
8 fing das Flöhchen laut an zu schreien. Da sprach die klei-
9 ne Stuben Thüre:
10
11 »was schreist du Flöhchen?«
12 Weil sich Laüschen verbrennt hat.
13
14 Da fing das Thürgen an zu knarren. Da sprach ein Be-
15 sengen in dem Hausehrn:
16 »was knarrst du Thürgen?«
17
18 Soll ich nicht knarren?
19
Laüschen hat sich verbrennt,
20
Flöhchen das weint.
21
22 Da fing der kleine Besen an entsetzlich zu kehren. Da
23 kommt ein Wägelchen vorbei:
24
»was kehrst du Besenchen?«
25
26 Soll ich nicht kehren?
27
Laüschen hat sich verbrennt,
28
Flöhchen weint,
29
Thürgen knarrt.
30
31 Da sagt das Wägelchen, so will ich entsetzlich rennen, und
32 rennt entsetzlich. Da sagt das Mistchen an dem es vorbei-
33 rennt:
34
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»was rennst du Wägelchen?«
36 Soll ich nicht rennen?
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Märchen 15
16 Märchen
Märchen 17
1 begraben. Und der Fuhrmann fuhr mit ihm fort und der
2 Sperling flog mit und rief immer: Fuhrmann es kostet dein
3 Leben! Dann setzt er sich auf das Haupt des einen Pferds
4 und rief: Fuhrmann es kostet dir dein Leben, und der Fuhr-
5 mann ward bös und schlug mit einer Hacke dem Sperling
6 und schlug auf das Haupt des Pferds und schlug es todt,
7 der Sperling aber flog in die Höhe. Dann setzt er sich auf
8 das Haupt des andern Pferds und machte es eben so, dann
9 auf das Haupt des dritten, und der Fuhrmann erschlug all
10 seine Pferde und mußte den Wagen stehn laßen. Und er eil-
11 te nach Haus aber der Sperling flog mit, der sich aufs Fen-
12 ster setzte und rief, Fuhrmann es kostet dir dein Leben.
13 Und noch zorniger ergriff 〈er〉 die Hacke, und schlug das
14 Fenster ein, aber er traf den Sperling nicht. Der setzt sich
15 auf den Ofen und ruft von neuem: Fuhrmann es kostet dir
16 dein Leben, und wüthend schlägt dieser den Ofen ein, und
17 so fort sein ganzes Haus. Endlich erwischt er den Vogel,
18 und sagt ietzt hab ich dich und schluckt ihn hinunter. Aber
19 der Sperling fängt an im Leib zu flattern, und flattert wie-
20 der herauf dem Fuhrmann in den Mund und ruft: Fuhr-
21 mann es kostet dir doch dein Leben. Und der Fuhrmann
22 gibt seiner Frau die Hacke, sie soll den Sperling in seinem
23 Munde tödten, aber sie schlägt fehl und dem Mann auf den
24 Kopf und schlägt ihn todt, der Sperling aber fliegt fort
25
26
27
28 5.
29
30
Von dem Strohhälmchen dem Köhlchen
31 und dem Böhnchen.
32
33 Das Strohhälmchen das Kölchen und das Böhnchen die
34 lebten zusammen in Gesellschaft, und wollten einmal eine
35 Reise machen. Als sie nun schon weit gegangen waren ka-
36 men sie an einen Fluß und wußten nicht wie sie hinüber
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18 Märchen
Märchen 19
20 Märchen
Märchen 21
1 9.
2
3
Blutwurst.
4
5 Es waren einmal eine Blutwurst u. eine Leberwurst, u.
6 die Blutwurst bat die Leberwurst zu Gast. Und wie die
7 Leberwurst ins Haus der Blutwurst kam, so sah sie unten
8 an der Thüre u. auf jeder Treppe, deren viel zu steigen wa-
9 ren immer eine wunderbarliche Sache, als einen Besen u.
10 Schippe, die sich einander schlugen einen Affen mit einer
11 großen Wunde im Kopf p
12 Als sie nun endlich ganz erschrocken über diese Begeg-
13 niß in die Stube der Blutwurst getreten, u. derselben über
14 die Bewandnis dieser Dinge Fragen vorlegte, so erklärte
15 diese jede Sache gezwungen u. ausweichend. so sagte sie
16 von der Schippe u. dem Besen: ei es wird meine Magd ge-
17 wesen seyn, die mit jemand auf der Treppe geschwätzt
18 hat.
19 Zuletzt ging die Blutwurst fort, um Anstalten zu ma-
20 chen, da wurde die Leberwurst von 〈Textlücke〉 gewarnt,
21 denn sie würde sonst gleich vielen andern mit dem Leben
22 büßen. Eilig ergriff sie die Flucht, u. wie sie unten am
23 Haus sich umsah, so stand die Blutwurst oben im Boden-
24 loch mit einem langen Meßer, und rief ihr nach:
25 hätt ich dich so wollt ich dich!
26
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29 10.
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31
Zwölf Brüder und das Schwesterchen.
32
33 Es war einmal ein König u. eine Königin, die hatten
34 zwölf Kinder zusammen, die waren alle Jungen. Und der
35 König sprach, wenn das dreizehnte Kind ein Mädchen
36 wäre, so wollte er alle seine 12 Söhne umbringen, wenn es
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22 Märchen
Märchen 23
1 wir auch alle zwölf zusammen auf die Jagd gehen. Und da
2 ließen es die andern Brüder zu, u. nun gingen sie immer
3 alle zwölf aus auf die Jagd u. das Schwesterchen blieb al-
4 lein zu Haus, machte die Betten und kochte das Eßen.
5 Nun eines Tags, da die zwölf Brüder wieder aus waren,
6 ging das Schwesterchen in den Wald spazieren u. kam an
7 einen Platz, da standen zwölf weiße Lilien, die waren so
8 schön und es brach sie alle miteinander ab. Da war eine
9 alte Frau, die sprach: ach mein Töchterchen warum hast
10 du die zwölf studentenblumen nicht stehen gelaßen, das
11 sind deine zwölf Brüder und die müßen nun alle in zwölf
12 Raben verwandelt werden. Da fing das Schwesterchen an
13 zu weinen vor großer Traurigkeit, daß es das gethan hätte,
14 und sagte, ob denn gar kein Mittel wäre, die zwölf Brüder
15 zu erlösen. Die alte Frau sagte: es ist nur eines, das ist aber
16 sehr schwer. Und das Kind sprach: sie mögte es nur sagen.
17 Da sagte sie: du mußt zwölf ganze Jahr stumm seyn u.
18 kein einziges Wort reden und wenn nur noch eine Stunde
19 an den zwölf Jahren fehlte, u. du hättest ein einziges Wort
20 geredet, so ist alles verdorben u. deine Brüder werden
21 nimmermehr erlöst.
22 Das Mädchen geht in den Wald u. setzt sich in einen
23 holen Baum u. spinnt, einmal geht ein König auf die Jagd
24 u. sein Hund bellt vor dem Baum pp: ob es mit in sein
25 Königreich kommen u. ihn heirathen wollte. Es war aber
26 ganz still und antwortete keine Silbe. Da nahm er es mit
27 sich u. hielt Hochzeit mit ihm, die Schwiegermutter konn-
28 te es aber nicht leiden u. meinte es sey ein gemeines Mäd-
29 chen. Die böse Schwiegermutter fing nun an, es bei dem
30 König zu verleumden u. ihm die schändlichsten Dinge
31 nachzusagen, u. weil es sich mit keiner Silbe vertheidigte,
32 so glaubte es zuletzt der König u. verurtheilte es zum
33 Tode, u. befahl ein großes Feuer anzumachen u. es zu ver-
34 brennen. Und als es am Feuer stand, so war eben die letzte
35 Stunde verfloßen von den zwölf Jahren u. man hörte ein
36 Geraüsch in der Luft und zwölf Raben kamen geflogen,
Grimm · Kinder- und Hausmärchen.
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24 Märchen
1 als sie auf die Erde kamen, wurden sie zwölf Königssöhne
2 u. machten ihre Schwester los, und ihre Unschuld kam an
3 den Tag, die böse Schwiegermutter wurde aber in ein Faß
4 siedenden Öls gethan, worin giftige Schlangen waren.
5
6
7
8 11.
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10
Das Brüderchen vnd das Schwesterchen.
11
12 Es war einmal ein armer Holzhacker, der wohnte vor
13 einem großen Wald. Es ging ihm gar jämmerlich, daß er
14 kaum seine Frau, und seine zwei Kinder ernähren konnte.
15 Einsmals hatte er auch kein Brod mehr und war in großer
16 Angst, da sprach seine Frau Abends im Bett zu ihm: nimm
17 die beiden Kinder morgen früh und führ sie in den großen
18 Wald, gib ihnen das noch übrige Brod, und mach’ ihnen
19 ein groß Feuer an und darnach geh weg und laß sie allein.
20 Der Mann wollte lang nicht, aber die Frau ließ ihm keine
21 Ruh, bis er endlich einwilligte
22 Aber die Kinder hatten alles gehört, was die Mutter ge-
23 sagt hatte das Schwestereben fing an gar sehr zu weinen,
24 das Brüderchen sagte ihm es solle still seyn und tröstete
25 es. Dann stand er leis auf und ging hinaus vor die Thüre,
26 da wars Mondenschein und die weißen Kieselsteine glänz-
27 ten vor dem Haus. Der Knabe las sie sorgfältig auf und
28 füllte sein Rocktäschlein damit, soviel er nur hineinbrin-
29 gen konnte. Darauf ging er wieder zu seinem Schwester-
30 chen ins Bett, und schlief ein.
31 Des Morgens früh, ehe die Sonne aufgegangen war, kam
32 der Vater und die Mutter und weckten die Kinder auf, die
33 mit in den großen Wald sollten. Sie gaben jedem ein
34 Stücklein Brod, die nahm das Schwesterchen unter das
35 Schürzchen, denn das Brüderchen hatte die Tasche voll
36 von den Kieselsteinen. Darauf machten sie sich fort auf
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Märchen 25