尼采《查拉图斯特拉如是说》德文原版

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Also sprach Zarathustra

Friedrich Wilhelm Nietzsche


2

Friedrich Wilhelm Nietzsche


Friedrich Nietzsche wurde am 15.10.1844 in Röcken bei Lützen
geboren. Er stammt väterlicher- und mütterlicherseits von Pasto-
ren ab. Er studierte von 1864-1865 klassische Philologie in Bonn
und Leipzig. Mit 25 Jahren wurde er außerordentlicher Professor
der klassischen Philologie in Basel.
Nietzsche kam 1876 wegen eines Nerven- und Augenleidens vor-
übergehend und 1879 endgültig in den Ruhestand. 1889 brach
seine Geisteskrankheit vollends aus, er kam in die Irrenanstalt in
Basel. Er lebte seit 1897 in Weimar (in geistiger Umnachtung), wo
er am 25.08.1900 starb.

[email protected] 11.11.2007
Inhaltsverzeichnis

1 Erster Theil 7
1.1 Zarathustra's Vorrede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Die Reden Zarathustra's . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.2 Von den drei Verwandlungen . . . . . . . . . . . . . . 22
1.3 Von den Lehrstühlen der Tugend . . . . . . . . . . . . 24
1.4 Von den Hinterweltlern . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.5 Von den Verächtern des Leibes . . . . . . . . . . . . . 29
1.6 Von den Freuden- und Leidenschaften . . . . . . . . 31
1.7 Vom bleichen Verbrecher . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.8 Vom Lesen und Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . 35
1.9 Vom Baum am Berge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1.10 Von den Predigern des Todes . . . . . . . . . . . . . . 40
1.11 Vom Krieg und Kriegsvolke . . . . . . . . . . . . . . . 42
1.12 Vom neuen Götzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.13 Von den Fliegen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . 46
1.14 Von der Keuschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.15 Vom Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
1.16 Von tausend und Einem Ziele . . . . . . . . . . . . . . 52
1.17 Von der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
1.18 Vom Wege des Schaffenden . . . . . . . . . . . . . . 56
1.19 Von alten und jungen Weiblein . . . . . . . . . . . . . 59
1.20 Vom Biss der Natter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

3
4 INHALTSVERZEICHNIS

1.21 Von Kind und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


1.22 Vom freien Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
1.23 Von der schenkenden Tugend . . . . . . . . . . . . . 68

2 Zweiter Theil 73
2.1 Das Kind mit dem Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2.2 Auf den glückseligen Inseln . . . . . . . . . . . . . . . 76
2.3 Von den Mitleidigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
2.4 Von den Priestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.5 Von den Tugendhaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
2.6 Vom Gesindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.7 Von den Taranteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
2.8 Von den berühmten Weisen . . . . . . . . . . . . . . . 93
2.9 Das Nachtlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
2.10 Das Tanzlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
2.11 Das Grablied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
2.12 Von der Selbst-Ueberwindung . . . . . . . . . . . . . 103
2.13 Von den Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.14 Vom Lande der Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2.15 Von der unbefleckten Erkenntniss . . . . . . . . . . . 111
2.16 Von den Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
2.17 Von den Dichtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
2.18 Von grossen Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
2.19 Der Wahrsager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
2.20 Von der Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2.21 Von der Menschen-Klugheit . . . . . . . . . . . . . . . 131
2.22 Die stillste Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3 Dritter Theil 139


3.1 Der Wanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
INHALTSVERZEICHNIS 5

3.2 Vom Gesicht und Räthsel . . . . . . . . . . . . . . . . 142


3.3 Von der Seligkeit wider Willen . . . . . . . . . . . . . 147
3.4 Vor Sonnen-Aufgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
3.5 Von der verkleinernden Tugend . . . . . . . . . . . . 154
3.6 Auf dem Oelberge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
3.7 Vom Vorübergehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3.8 Von den Abtrünnigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
3.9 Die Heimkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
3.10 Von den drei Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
3.11 Vom Geist der Schwere . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
3.12 Von alten und neuen Tafeln . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.13 Der Genesende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
3.14 Von der grossen Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . 207
3.15 Das andere Tanzlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
3.16 Die sieben Siegel (Oder: das Ja- und Amen-Lied) . . 213

4 Vierter und letzter Theil 219


4.1 Das Honig-Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
4.2 Der Nothschrei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
4.3 Gespräch mit den Königen . . . . . . . . . . . . . . . 226
4.4 Der Blutegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
4.5 Der Zauberer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
4.6 Ausser Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
4.7 Der hässlichste Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
4.8 Der freiwillige Bettler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
4.9 Der Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
4.10 Mittags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
4.11 Die Begrüssung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
4.12 Das Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
4.13 Vom höheren Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
6 INHALTSVERZEICHNIS

4.14 Das Lied der Schwermuth . . . . . . . . . . . . . . . . 275


4.15 Von der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
4.16 Unter Töchtern der Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . 281
4.17 Die Erweckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
4.18 Das Eselsfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
4.19 Das Nachtwandler-Lied . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
4.20 Das Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Kapitel 1

Erster Theil

1.1 Zarathustra's Vorrede.

1.1.1

Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und
den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoss er
seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahr
nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, - und eines
Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin
und sprach zu ihr also:
»Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die
hättest, welchen du leuchtest!
Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest
deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich,
meinen Adler und meine Schlange.
Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen
Überfluss ab und segneten dich dafür.
Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des
Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich aus-
strecken.
Ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den
Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen einmal ih-
res Reichthums froh geworden sind.

7
8 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Dazu muss ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn
du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du
überreiches Gestirn!
Ich muss, gleich dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu
denen ich hinab will.
So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein
allzugrosses Glück sehen kann!
Segne den Becher, welche überfliessen will, dass das Wasser gol-
den aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne tra-
ge!
Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will
wieder Mensch werden.«
- Also begann Zarathustra's Untergang.

1.1.2

Zarathustra stieg allein das Gebirge abwärts und Niemand begeg-


nete ihm. Als er aber in die Wälder kam, stand auf einmal ein Greis
vor ihm, der seine heilige Hütte verlassen hatte, um Wurzeln im
Walde zu suchen. Und also sprach der Greis zu Zarathustra:
Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchen Jahre gieng
er her vorbei. Zarathustra hiess er; aber er hat sich verwandelt.
Damals trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer
in die Thäler tragen? Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?
Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge, und an seinem
Munde birgt sich kein Ekel. Geht er nicht daher wie ein Tänzer?
Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Er-
wachter ist Zarathustra: was willst du nun bei den Schlafenden?
Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug
dich. Wehe, du willst an's Land steigen? Wehe, du willst deinen
Leib wieder selber schleppen?
Zarathustra antwortete: »Ich liebe die Menschen.«
Warum, sagte der Heilige, gieng ich doch in den Wald und die
Einöde? War es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte?
Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 9

mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen würde


mich umbringen.
Zarathustra antwortete: »Was sprach ich von Liebe! Ich bringe
den Menschen ein Geschenk.«
Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm ihnen lieber Etwas ab
und trage es mit ihnen - das wird ihnen am wohlsten thun: wenn
er dir nur wohlthut!
Und willst du ihnen geben, so gieb nicht mehr, als ein Almosen,
und lass sie noch darum betteln!
»Nein, antwortete Zarathustra, ich gebe kein Almosen. Dazu bin
ich nicht arm genug.«
Der Heilige lachte über Zarathustra und sprach also: So sieh zu,
dass sie deine Schätze annehmen! Sie sind misstrauisch gegen
die Einsiedler und glauben nicht, dass wir kommen, um zu schen-
ken.
Unse Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie
wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange
bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der
Dieb?
Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber
noch zu den Thieren! Warum willst du nicht sein, wie ich, - ein Bär
unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?
»Und was macht der Heilige im Walde?« fragte Zarathustra.
Der Heilige antwortete: Ich mache Lieder und singe sie, und wenn
ich Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich
Gott.
Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe ich den Gott, der
mein Gott ist. Doch was bringst du uns zum Geschenke?
Als Zarathustra diese Worte gehört hatte, grüsste er den Heiligen
und sprach: »Was hätte ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell
davon, dass ich euch Nichts nehme!« - Und so trennten sie sich
von einander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie zwei
Knaben lachen.
Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen:
»Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem
Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott todt ist!« -
10 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

1.1.3

Als Zarathustra in die Nächste Stadt kam, die an den Wäldern


liegt, fand er daselbst viel Volk versammelt auf dem Markte: denn
es war verheissen worden, das man einen Seiltänzer sehen solle.
Und Zarathustra sprach also zum Volke:
Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das
überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwin-
den?
Was ist der Affe für en Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerz-
liche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen
sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles
ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der
Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt
und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch
zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Über-
mensch sei der Sinn der Erde!
Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt
Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!
Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.
Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete,
deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!
Einst war der Frevel an Gott der grösste Frevel, aber Gott starb,
und damit auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt
das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher
zu achten, als der Sinn der Erde!
Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war
diese Verachtung das Höchste: - sie wollte ihn mager, grässlich,
verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen.
Oh diese Seele war selbst noch mager, grässlich und verhungert:
und Grausamkeit war die Wollust dieser Seele!
Aber auch ihr noch, meine Brüder, sprecht mir: was kündet euer
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 11

Leib von eurer Seele? Ist eure Seele nicht Armuth und Schmutz
und ein erbärmliches Behagen?
Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon
ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu kön-
nen, ohne unrein zu werden.
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm
kann eure grosse Verachtung untergehn.
Was ist das Grösste, das ihr erleben könnt? Das ist die Stunde der
grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glück zum
Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend.
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Glücke! Es ist Ar-
muth und Schmutz, und ein erbärmliches Behagen. Aber mein
Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Vernunft! Begehrt
sie nach Wissen wie der Löwe nach seiner Nahrung? Sie ist Armuth
und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Tugend! Noch hat
sie mich nicht rasen gemacht. Wie müde bin ich meines Guten
und meines Bösen! Alles das ist Armuth und Schmutz und ein
erbärmliches Behagen!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich
sehe nicht, dass ich Gluth und Kohle wäre. Aber der Gerecht ist
Gluth und Kohle!«
Die Stunde, wo ihr sagt: »Was liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht
Mitleid das Kreuz, an das Der genagelt wird, der die Menschen
liebt? Aber mein Mitleiden ist keine Kreuzigung.«
Spracht ihr schon so? Schriet ihr schon so? Ach, dass ich euch
schon so schreien gehört hatte!
Nicht eure Sünde - eure Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer
Geiz selbst in eurer Sünde schreit gen Himmel!
Wo ist doch der Blitz, der euch mit seiner Zunge lecke? Wo ist der
Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müsstet?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der
ist dieser Wahnsinn! -
Als Zarathustra so gesprochen hatte, schrie Einer aus dem Volke:
»Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch
12 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

sehen!« Und alles Volk lachte über Zarathustra. Der Seiltänzer


aber, welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte sich an
sein Werk.

1.1.4

Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach
er also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch,
- ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein ge-
fährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehen-
bleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein
Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass
er ein Übergang und ein Untergang ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Unter-
gehende, denn es sind die Hinübergehenden.
Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Vereh-
renden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer.
Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund
suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der
Erde opfern, dass die Erde einst der Übermenschen werde.
Ich liebe Den, welcher lebt, damit er erkenne, und welcher erken-
nen will, damit einst der Übermensch lebe. Und so will er seinen
Untergang.
Ich liebe Den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Über-
menschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vor-
bereite: denn so will er seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher seine Tugend liebt: denn Tugend ist Wille
zum Untergang und ein Pfeil der Sehnsucht.
Ich liebe Den, welcher nicht einen Tropfen Geist für sich zurückbe-
hält, sondern ganz der Geist seiner Tugend sein will: so schreitet
er als Geist über die Brücke.
Ich liebe Den, welcher aus seiner Tugend seinen Hang und sein
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 13

Verhängniss macht: so will er um seiner Tugend willen noch leben


und nicht mehr leben.
Ich liebe Den, welcher nicht zu viele Tugenden haben will. Eine
Tugend ist mehr Tugend, als zwei, weil sie mehr Knoten ist, an
den sich das Verhängniss hängt.
Ich liebe Den, dessen Seele sich verschwendet, der nicht Dank
haben will und nicht zurückgiebt: denn er schenkt immer und will
sich nicht bewahren.
Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem
Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler?
- denn er will zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft
und immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen
Untergang.
Ich liebe Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Ver-
gangenen erlöst: denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde
gehen.
Ich liebe Den, welcher seinen Gott züchtigt, weil er seinen Gott
liebt: denn er muss am Zorne seines Gottes zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, dessen Seele tief ist auch in der Verwundung, und
der an einem kleinen Erlebnisse zu Grunde gehen kann: so geht
er gerne über die Brücke.
Ich liebe Den, dessen Seele übervoll ist, so dass er sich selber
vergisst, und alle Dinge in ihm sind: so werden alle Dinge sein
Untergang.
Ich liebe Den, der freien Geistes und freien Herzes ist: so ist sein
Kopf nur das Eingeweide seines Herzens, sein Herz aber treibt ihn
zum Untergang.
Ich liebe alle Die, welche schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus
der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündi-
gen, dass der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zu Grunde.
Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen
aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch. -
14 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

1.1.5

Als Zarathustra diese Worte gesprochen hatte, sahe er wieder das


Volk an und schwieg. »Da stehen sie«, sprach er zu seinem Her-
zen, »da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der
Mund für diese Ohren.
Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit
den Augen hören. Muss man rasseln gleich Pauken und Busspre-
digern? Oder glauben sie nur dem Stammelnden?
Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch,
was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor
den Ziegenhirten.
Drum hören sie ungern von sich das Wort »Verachtung«. So will
ich denn zu ihrem Stolze reden.
So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen: das aber ist der
letzte Mensch.«
Und also sprach Zarathustra zum Volke:
Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist
an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung
pflanze.
Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird
einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus
ihm wachsen können.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil
seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne
seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!
Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen
tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch
Chaos in euch.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebä-
ren wird. Wehe! Es kommt die Weit des verächtlichsten Menschen,
der sich selber nicht mehr verachten kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen.
»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist
Stern« - so fragt der letzte Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 15

Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar,


wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.
»Wir haben das Glück erfunden« - sagen die letzten Menschen
und blinzeln.
Sie haben den Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn
man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbar und reibt sich
an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht
achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen
stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel
Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man
sorgt dass die Unterhaltung nicht angreife.
Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich.
Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu be-
schwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich:
wer anders fühlt, geht freiwillig in's Irrenhaus.
»Ehemals war alle Welt irre« - sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein
Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich
bald - sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:
aber man ehrt die Gesundheit.
»Wir haben das Glück erfunden« - sagen die letzten Menschen
und blinzeln -
Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche man auch
»die Vorrede« heisst: denn an dieser Stelle unterbrach ihn das
Geschrei und die Lust der Menge. »Gieb uns diesen letzten Men-
schen, oh Zarathustra, - so riefen sie - mache uns zu diesen letz-
ten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!« Und al-
les Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge. Zarathustra aber
wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:
Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht den Mund für diese Ohren.
16 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Zu lange wohl lebte ich im Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche
und Bäume: nun rede ich ihnen gleich den Ziegenhirten.
Unbewegt ist meine Seele und hell wie das Gebirge am Vormit-
tag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein Spötter in furchtbaren
Spässen.
Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen,
hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen.

1.1.6

Da aber geschah Etwas, das jeden Mund stumm und jedes Auge
starr machte. Inzwischen nämlich hatte der Seiltänzer sein Werk
begonnen: er war aus einer kleiner Thür hinausgetreten und gieng
über das Seil, welches zwischen zwei Thürmen gespannt war, al-
so, dass es über dem Markte und dem Volke hieng. Als er eben
in der Mitte seines Weges war, öffnete sich die kleine Thür noch
einmal, und ein bunter Gesell, einem Possenreisser gleich, sprang
heraus und gieng mit schnellen Schritten dem Ersten nach. »Vor-
wärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme, vorwärts Faul-
thier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich dich nicht mit mei-
ner Ferse kitzle! Was treibst du hier zwischen Thürmen? In den
Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem Bessern, als
du bist, sperrst du die freie Bahn!« - Und mit jedem Worte kam
er ihm näher und näher: als er aber nur noch einen Schritt hinter
ihm war, da geschah das Erschreckliche, das jeden Mund stumm
und jedes Auge starr machte: - er stiess ein Geschrei aus wie ein
Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war. Dieser
aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den
Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller
als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe. Der
Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm hineinfährt:
Alles floh aus einander und übereinander, und am meisten dort,
wo der Körper niederschlagen musste.
Zarathustra aber blieb stehen, und gerade neben ihn fiel der Kör-
per hin, übel zugerichtet und zerbrochen, aber noch nicht todt.
Nach einer Weile kam dem Zerschmetterten das Bewusstsein zu-
rück, und er sah Zarathustra neben sich knieen. »Was machst du
da? sagte er endlich, ich wusste es lange, dass mir der Teufel ein
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 17

Bein stellen werde. Nun schleppt er mich zur Hölle: willst du's ihm
wehren?«
»Bei meiner Ehre, Freund, antwortete Zarathustra, das giebt es Al-
les nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Höl-
le. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte
nun Nichts mehr!«
Der Mann blickte misstrauisch auf. »Wenn du die Wahrheit sprichst,
sagte er dann, so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verliere.
Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat,
durch Schläge und schmale Bissen.«
»Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen
Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an
deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen
begraben.«
Als Zarathustra diess gesagt hatte, antwortete der Sterbende nicht
mehr; aber er bewegte die Hand, wie als ob er die Hand Zarathu-
stra's zum Danke suche. -

1.1.7

Inzwischen kam der Abend, und der Markt barg sich in Dunkel-
heit: da verlief sich das Volk, denn selbst Neugierde und Schrek-
ken werde müde. Zarathustra aber sass neben dem Todten auf
der Erde und war in Gedanken versunken: so vergass er die Zeit.
Endlich aber wurde es Nacht, und ein kalter Wind blies über den
Einsamen. Da erhob sich Zarathustra und sagte zu seinem Her-
zen:
Wahrlich, einen schönen Fischfang that heute Zarathustra! Keinen
Menschen fieng er, wohl aber einen Leichnam.
Unheimlich ist das menschliche Dasein und immer noch ohne
Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum Verhängniss werden.
Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der
Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.
Aber noch bin ich ihnen ferne, und mein Sinn redet nicht zu ihren
Sinnen. Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem
Narren und einem Leichnam.
18 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Dunkel ist die Nacht, dunkel sind die Wege Zarathustra's. Komm,
du kalter und steifer Gefährte! Ich trage dich dorthin, wo ich dich
mit meinen Händen begrabe.

1.1.8

Als Zarathustra diess zu seinem Herzen gesagt hatte, lud er den


Leichnam auf seinem Rücken und machte sich auf den Weg. Und
noch nicht war er hundert Schritte gegangen, da schlich ein Mensch
an ihn heran und flüsterte ihm in's Ohr - und siehe! Der, welcher
redete, war der Possenreisser vom Thurme. »Geh weg von die-
ser Stadt, oh Zarathustra, sprach er; es hassen dich hier zu Viele.
Es hassen dich die Guten und Gerechten und sie nennen dich ih-
ren Feind und Verächter; es hassen dich die Gläubigen des rech-
ten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr der Menge. Dein
Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich, du rede-
test gleich einem Possenreisser. Dein Glück war es, dass du dich
dem todten Hunde geselltest; als du dich so erniedrigtest, hast du
dich selber für heute errettet. Geh aber fort aus dieser Stadt - oder
morgen springe ich über dich hinweg, ein Lebendiger über einen
Todten.« Und als er diess gesagt hatte, verschwand der Mensch;
Zarathustra aber gieng weiter durch die dunklen Gassen.
Am Thore der Stadt begegneten ihm die Todtengräber: sie leuch-
teten ihm mit der Fackel in's Gesicht, erkannten Zarathustra und
spotteten sehr über ihn. »Zarathustra trägt den todten Hund da-
von: brav, dass Zarathustra zum Todtengräber wurde! Denn unse-
re Hände sind zu reinlich für diesen Braten. Will Zarathustra wohl
dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun wohlan! Und gut Glück zur
Mahlzeit! Wenn nur nicht der Teufel ein besserer Dieb ist, als Zara-
thustra! - er stiehlt die Beide, er frisst sie Beide!« Und sie lachten
mit einander und steckten die Köpfe zusammen.
Zarathustra sagte dazu kein Wort und gieng seines Weges. Als er
zwei Stunden gegangen war, an Wäldern und Sümpfen vorbei, da
hatte er zu viel das hungrige Geheul der Wölfe gehört, und ihm
selber kam der Hunger. So blieb er an einem einsamen Hause
stehn, in dem ein Licht brannte.
Der Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber. In
Wäldern und Sümpfen überfällt mich mein Hunger und in tiefer
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 19

Nacht.
Wunderliche Launen hat mein Hunger. Oft kommt er mir erst nach
der Mahlzeit, und heute kam er den ganzen Tag nicht: wo weilte
er doch?
Und damit schlug Zarathustra an das Thor des Hauses. Ein alter
Mann erschien; er trug das Licht und fragte: »Wer kommt zu mir
und zu meinem schlimmen Schlafe?«
»Ein Lebendiger und ein Todter, sagte Zarathustra. Gebt mir zu
essen und zu trinken, ich vergass es am Tage. Der, welcher den
Hungrigen speiset, erquickt seine eigene Seele: so spricht die
Weisheit.«
Der Alte gieng fort, kam aber gleich zurück und bot Zarathustra
Brod und Wein. »Eine böse Gegend ist's für Hungernde, sagte er;
darum wohne ich hier. Thier und Mensch kommen zu mir, dem
Einsiedler. Aber heisse auch deinen Gefährten essen und trinken,
er ist müder als du.« Zarathustra antwortete: »Todt ist mein Ge-
fährte, ich werde ihn schwerlich dazu überreden.« »Das geht mich
Nichts an, sagte der Alte mürrisch; wer an meinem Hause an-
klopft, muss auch nehmen, was ich ihm biete. Esst und gehabt
euch wohl!« -
Darauf gieng Zarathustra wieder zwei Stunden und vertraute dem
Wege und dem Lichte der Sterne: denn er war ein gewohnter
Nachtgänger und liebte es, allem Schlafenden in's Gesicht zu sehn.
Als aber der Morgen graute, fand sich Zarathustra in einem tie-
fen Walde, und kein Weg zeigte sich ihm mehr. Da legte er den
Todten in einen hohlen Baum sich zu Häupten - denn er wollte ihn
vor den Wölfen schützen - und sich selber auf den Boden und das
Moos. Und alsbald schlief er ein, müden Leibes, aber mit einer
unbewegten Seele.

1.1.9

Lange schlief Zarathustra, und nicht nur die Morgenröthe gieng


über sein Antlitz, sondern auch der Vormittag. Endlich aber that
sein Auge sich auf: verwundert sah Zarathustra in den Wald und
die Stille, verwundert sah er in sich hinein. Dann erhob er sich
schnell, wie ein Seefahrer, der mit Einem Male Land sieht, und
jauchzte: denn er sah eine neue Wahrheit. Und also redete er dann
20 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

zu seinem Herzen:
Ein Licht gieng mir auf: Gefährten brauche ich und lebendige, -
nicht todte Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin
ich will.
Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie
sich selber folgen wollen - und dorthin, wo ich will.
Ein Licht gieng mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern
zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund
werden!
Viele wegzulocken von der Heerde - dazu kam ich. Zürnen soll mir
Volk und Heerde: Räuber will Zarathustra den Hirten heissen.
Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten.
Hirten sage ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten
Glaubens.
Siehe die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten?
Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Ver-
brecher: - das aber ist der Schaffende.
Siehe die Gläubigen aller Glauben! Wen hassen sie am meisten?
Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Ver-
brecher: - das aber ist der Schaffende.
Gefährten sucht der Schaffende und nicht Leichname, und auch
nicht Heerden und Gläubige. Die Mitschaffenden sucht der Schaf-
fende, Die, welche neue Werthe auf neue Tafeln schreiben.
Gefährten sucht der Schaffende, und Miterntende: denn Alles steht
bei ihm reif zur Ernte. Aber ihm fehlen die hundert Sicheln: so rauft
er Ähren aus und ist ärgerlich.
Gefährten sucht der Schaffende, und solche, die ihre Sicheln zu
wetzen wissen. Vernichter wird man sie heissen und Verächter des
Guten und Bösen. Aber die Erntenden sind es und die Feiernden.
Mitschaffende sucht Zarathustra, Miterntende und Mitfeiernde sucht
Zarathustra: was hat er mit Heerden und Hirten und Leichnamen
zu schaffen!
Und du, mein erster Gefährte, gehab dich wohl! Gut begrub ich
dich in deinem hohlen Baume, gut barg ich dich vor den Wölfen.
Aber ich scheide von dir, die Zeit ist um. Zwischen Morgenröthe
und Morgenröthe kam mir eine neue Wahrheit.
1.1. ZARATHUSTRA'S VORREDE. 21

Nicht Hirt soll ich sein, nicht Todtengräber. Nicht reden einmal will
ich wieder mit dem Volke; zum letzten Male sprach ich zu einem
Todten.
Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich zu-
gesellen: den Regenbogen will ich ihnen zeigen und alle die Trep-
pen des Übermenschen.
Den Einsiedlern werde ich mein Lied singen und den Zweisiedlern;
und wer noch Ohren hat für Unerhörtes, dem will ich sein Herz
schwer machen mit meinem Glücke.
Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögern-
den und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein
Gang ihr Untergang!

1.1.10

Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die


Sonne im Mittag stand: da blickte er fragend in die Höhe - denn
er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein
Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine
Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn
sie hielt sich um seinen Hals geringelt.
»Es sind meine Thiere!« sagte Zarathustra und freute sich von
Herzen.
Das stolzeste Thier unter der Sonne und das klügste Thier unter
der Sonne - sie sind ausgezogen auf Kundschaft.
Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe. Wahrlich, lebe ich
noch?
Gefährlicher fand ich's unter Menschen als unter Thieren, gefähr-
licher Wege geht Zarathustra. Mögen mich meine Thiere führen!«
Als Zarathustra diess gesagt hatte, gedachte er der Worte des
Heiligen im Walde, seufzte und sprach also zu seinem Herzen:
Möchte ich klüger sein! Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich
meiner Schlange!
Aber Unmögliches bitte ich da: so bitte ich denn meinen Stolz,
dass er immer mit meiner Klugheit gehe!
22 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Und wenn mich einst meine Klugheit verlässt: - ach, sie liebt es,
davonzufliegen! - möge mein Stolz dann noch mit meiner Thorheit
fliegen!
- Also begann Zarathustra's Untergang.

Die Reden Zarathustra's

1.2 Von den drei Verwandlungen

Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist
zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde
zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Gei-
ste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwer-
sten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder,
dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.
Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist,
dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde.
Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmuth wehe zu
thun? Seine Thorheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spot-
ten?
Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn sie ihren Sieg
feiert? Auf hohe Berge steigen, um den Versucher zu versuchen?
Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss nähren
und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden?
Oder ist es das: krank sein und die Tröster heimschicken und mit
Tauben Freundschaft schliessen, die niemals hören, was du willst?
Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Was-
ser der Wahrheit ist, und kalte Frösche und heisse Kröten nicht von
sich weisen?
Oder ist es das: Die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste
die Hand reichen, wenn es uns fürchten machen will?
Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem
1.2. VON DEN DREI VERWANDLUNGEN 23

Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine
Wüste.
Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung:
zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und
Herr sein in seiner eignen Wüste.
Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihm werden
und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Dra-
chen ringen.
Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und
Gott heissen mag? »Du-sollst« heisst der grosse Drache. Aber der
Geist des Löwen sagt »Ich will«.
»Du-sollst« liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schuppenthier,
und auf jeder Schuppe glänzt golden »Du-sollst!«
Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht
der mächtigste aller Drachen »aller Werth der Dinge - der glänzt
an mir.«
»Aller Werth ward schon geschaffen, und aller geschaffene Werth
- das bin ich. Wahrlich, es soll kein »Ich will« mehr geben!« Also
spricht der Drache.
Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Geiste? Was genügt
nicht das lastbare Thier, das entsagt und ehrfürchtig ist?
Neue Werthe schaffen - das vermag auch der Löwe noch nicht:
aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen - das vermag die
Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht:
dazu, meine Brüder bedarf es des Löwen.
Recht sich nehmen zu neuen Werthen - das ist das furchtbarste
Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich,
ein Rauben ist es ihm und eines raubenden Thieres Sache.
Als sein Heiligstes liebte er einst das »Du-sollst«: nun muss er
Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, dass er sich
Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem
Raube.
Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch
der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch
noch zum Kinde werden?
24 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel,
ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-
sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heili-
gen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt
sich der Weltverlorene.
Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist
zum Kameele ward, und zum Löwen das Kameel, und der Löwe
zuletzt zum Kinde. --
Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in der Stadt, wel-
che genannt wird: die bunte Kuh.

1.3 Von den Lehrstühlen der Tugend

Man rühmte Zarathustra einen Weisen, der gut vom Schlafe und
von der Tugend zu reden wisse: sehr werde er geehrt und gelohnt
dafür, und alle Jünglinge sässen vor seinem Lehrstuhle. Zu ihm
gieng Zarathustra, und mit allen Jünglingen sass er vor seinem
Lehrstuhle. Und also sprach der Weise:
Ehre und Scham vor dem Schlafe! Das ist das Erste! Und Allen
aus dem Wege gehn, die schlecht schlafen und Nachts wachen!
Schamhaft ist noch der Dieb vor dem Schlafe: stets stiehlt er sich
leise durch die Nacht. Schamlos aber ist der Wächter der Nacht,
schamlos trägt er sein Horn.
Keine geringe Kunst ist schlafen: es thut schon Noth, den ganzen
Tag darauf hin zu wachen.
Zehn Mal musst du des Tages dich selber überwinden: das macht
eine gute Müdigkeit und ist Mohn der Seele.
Zehn Mal musst du dich wieder dir selber versöhnen; denn Über-
windung ist Bitterniss, und schlecht schläft der Unversöhnte.
Zehn Wahrheiten musst du des Tages finden: sonst suchst du noch
des Nachts nach Wahrheit, und deine Seele blieb hungrig.
Zehn Mal musst du lachen am Tage und heiter sein: sonst stört
dich der Magen in der Nacht, dieser Vater der Trübsal.
Wenige wissen das: aber man muss alle Tugenden haben, um gut
1.3. VON DEN LEHRSTÜHLEN DER TUGEND 25

zu schlafen. Werde ich falsch Zeugniss reden? Werde ich ehebre-


chen?
Werde ich mich gelüsten lassen meines Nächsten Magd? Das Alles
vertrüge sich schlecht mit gutem Schlafe.
Und selbst wenn man alle Tugenden hat, muss man sich noch
auf Eins verstehn: selber die Tugenden zur rechten Zeit schlafen
schicken.
Dass sie sich nicht mit einander zanken, die artigen Weiblein! Und
über dich, du Unglückseliger!
Friede mit Gott und dem Nachbar: so will es der gute Schlaf. Und
Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir
des Nachts um.
Ehre der Obrigkeit und Gehorsam, und auch der krummen Obrig-
keit! So will es der gute Schlaf. Was kann ich dafür, dass die Macht
gerne auf krummen Beinen Wandelt?
Der soll mir immer der beste Hirt heissen, der sein Schaf auf die
grünste Aue führt: so verträgt es sich mit dem gutem Schlafe.
Viel Ehren will ich nicht, noch grosse Schätze: das entzündet die
Milz. Aber schlecht schläft es sich ohne einen guten Namen und
einen kleinen Schatz.
Eine kleine Gesellschaft ist mir willkommener als eine böse: doch
muss sie gehn und kommen zur rechten Zeit. So verträgt es sich
mit gutem Schlafe.
Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf.
Selig sind die, sonderlich, wenn man ihnen immer Recht giebt.
Also läuft der Tag dem Tugendsamen. Kommt nun die Nacht, so
hüte ich mich wohl, den Schlaf zu rufen! Nicht will er gerufen sein,
der Schlaf, der der Herr der Tugenden ist!
Sondern ich denke, was ich des Tages gethan und gedacht. Wie-
derkäuend frage ich mich, geduldsam gleich einer Kuh: welches
waren doch deine zehn Überwindungen?
Und welches waren die zehn Versöhnungen und die zehn Wahr-
heiten und die zehn Gelächter, mit denen sich mein Herz gütlich
that?
Solcherlei erwägend und gewiegt von vierzig Gedanken, überfällt
mich auf einmal der Schlaf, der Ungerufne, der Herr der Tugenden.
26 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Der Schlaf klopft mir auf meine Auge: da wird es schwer. Der
Schlaf berührt mir den Mund: da bleibt er offen.
Wahrlich, auf weichen Sohlen kommt er mir, der liebste der Diebe,
und stiehlt mir meine Gedanken: dumm stehe ich da wie dieser
Lehrstuhl.
Aber nicht lange mehr stehe ich dann: da liege ich schon. -
Als Zarathustra den Weisen also sprechen hörte, lachte er bei sich
im Herzen: denn ihm war dabei ein Licht aufgegangen. Und also
sprach er zu seinem Herzen:
Ein Narr ist mir dieser Weise da mit seinen vierzig Gedanken: aber
ich glaube, dass er sich wohl auf das Schlafen versteht.
Glücklich schon, wer in der Nähe dieses Weisen wohnt! Solch ein
Schlaf steckt an, noch durch eine dicke Wand hindurch steckt er
an.
Ein Zauber wohnt selbst in seinem Lehrstuhle. Und nicht verge-
bens sassen die Jünglinge vor dem Prediger der Tugend.
Seine Weisheit heisst: wachen, um gut zu schlafen. Und wahrlich,
hätte das Leben keinen Sinn und müsste ich Unsinn wählen, so
wäre auch mir diess der wählenswürdigste Unsinn.
Jetzo verstehe ich klar, was einst man vor Allem suchte, wenn
man Lehrer der Tugend suchte. Guten Schlaf suchte man sich und
mohnblumige Tugenden dazu!
Allen diesen gelobten Weisen der Lehrstühle war Weisheit der
Schlaf ohne Träume: sie kannten keinen bessern Sinn des Lebens.
Auch noch heute wohl giebt es Einige, wie diesen Prediger der
Tugend, und nicht immer so Ehrliche: aber ihre Zeit ist um. Und
nicht mehr lange stehen sie noch: da liegen sie schon.
Selig sind diese Schläfrigen: denn sie sollen bald einnicken. -
Also sprach Zarathustra.

1.4 Von den Hinterweltlern

Einst warf auch Zarathustra seinen Wahn jenseits des Menschen,


gleich allen Hinterweltlern. Eines leidenden und zerquälten Gottes
1.4. VON DEN HINTERWELTLERN 27

Werk schien mir da die Welt.


Traum schien mir da die Welt und Dichtung eines Gottes; farbiger
Rauch vor den Augen eines göttlich Unzufriednen.
Gut und böse und Lust und Leid und Ich und Du - farbiger Rauch
dünkte mich's vor schöpferischen Augen. Wegsehn wollte der Schöp-
fer von sich, - da schuf er die Welt.
Trunkne Lust ist's dem Leidenden, wegzusehn von seinem Lei-
den und sich zu verlieren. Trunkne Lust Und Selbst-sich-Verlieren
dünkte mich einst die Welt.
Diese Welt, die ewig unvollkommene, eines ewigen Widerspru-
ches Abbild und unvollkommnes Abbild - eine trunkne Lust ihrem
unvollkommnen Schöpfer: - also dünkte mich einst die Welt.
Also warf auch ich einst meinen Wahn jenseits des Menschen,
gleich allen Hinterweltlern. Jenseits des Menschen in Wahrheit?
Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den ich schuf, war Menschen-Werk
und -Wahnsinn, gleich allen Göttern!
Mensch war er, und nur ein armes Stück Mensch und Ich: aus
der eigenen Asche und Gluth kam es mir, dieses Gespenst, und
wahrlich! Nicht kam es mir von Jenseits!
Was geschah, meine Brüder? Ich überwand mich, den Leidenden,
ich trug meine eigne Asche zu Berge, eine hellere Flamme erfand
ich mir. Und siehe! Da wich das Gespenst von mir!
Leiden wäre es mir jetzt und Qual dem Genesenen, solche Ge-
spenster zu glauben: Leiden wäre es mir jetzt und Erniedrigung.
Also rede ich zu den Hinterweltlern.
Leiden war's und Unvermögen - das schuf alle Hinterwelten; und
jener kurze Wahnsinn des Glücks, den nur der Leidendste erfährt.
Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem
Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal
mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war's, der am Leibe ver-
zweifelte, - der tastete mit den Fingern des bethörten Geistes an
die letzten Wände.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war's, der an der Erde ver-
zweifelte, - der hörte den Bauch des Seins zu sich reden.
28 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Und da wollte er mit dem Kopfe durch die letzten Wände, und
nicht nur mit dem Kopfe, - hinüber zu »jener Welt«.
Aber »jene Welt« ist gut verborgen vor dem Menschen, jene ent-
menschte unmenschliche Welt, die ein himmlisches Nichts ist;
und der Bauch des Seins redet gar nicht zum Menschen, es sei
denn als Mensch.
Wahrlich, schwer zu beweisen ist alles Sein und schwer zum Re-
den zu bringen. Sagt mir, ihr Brüder, ist nicht das Wunderlichste
aller Dinge noch am besten bewiesen?
Ja, diess Ich und des Ich's Widerspruch und Wirrsal redet noch am
redlichsten von seinem Sein, dieses schaffende, wollende, wert-
hende Ich, welches das Maass und der Werth der Dinge ist.
Und diess redlichste Sein, das Ich - das redet vom Leibe, und es
will noch den Leib, selbst wenn es dichtet und schwärmt und mit
zerbrochnen Flügeln flattert.
Immer redlicher lernt es reden, das Ich: und je mehr es lernt, um
so mehr findet es Worte und Ehren für Leib und Erde.
Einen neuen Stolz lehrte mich mein Ich, den lehre ich die Men-
schen: - nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge
zu stecken, sondern frei ihn zu tragen, einen Erden-Kopf, der der
Erde Sinn schafft!
Einen neuen Willen lehre ich die Menschen: diesen Weg wollen,
den blindlings der Mensch gegangen, und gut ihn heissen und
nicht mehr von ihm bei Seite schleichen, gleich den Kranken und
Absterbenden!
Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde
und erfanden das Himmlische und die erlösenden Blutstropfen:
aber auch noch diese süssen und düstern Gifte nahmen sie von
Leib und Erde!
Ihrem Elende wollten sie entlaufen, und die Sterne waren ihnen zu
weit. Da seufzten sie: »Oh dass es doch himmlische Wege gäbe,
sich in ein andres Sein und Glück zu schleichen!« - da erfanden
sie sich ihre Schliche und blutigen Tränklein!
Ihrem Leibe und dieser Erde nun entrückt wähnten sie sich, diese
Undankbaren. Doch wem dankten sie ihrer Entrückung Krampf
und Wonne? Ihrem Leibe und dieser Erde.
1.5. VON DEN VERÄCHTERN DES LEIBES 29

Milde ist Zarathustra den Kranken. Wahrlich, er zürnt nicht ihren


Arten des Trostes und Undanks. Mögen sie Genesende werden
und Überwindende und einen höheren Leib sich schaffen!
Nicht auch zürnt Zarathustra dem Genesenden, wenn er zärtlich
nach seinem Wahne blickt und Mitternachts um das Grab sei-
nes Gottes schleicht: aber Krankheit und kranker Leib bleiben mir
auch seine Thränen noch.
Vieles krankhafte Volk gab es immer unter Denen, welche dichten
und gottsüchtig sind; wüthend hassen sie den Erkennenden und
jene jüngste der Tugenden, welche heisst: Redlichkeit.
Rückwärts blicken sie immer nach dunklen Zeiten: da freilich war
Wahn und Glaube ein ander Ding; Raserei der Vernunft war Gott-
ähnlichkeit, und Zweifel Sünde.
Allzugut kenne ich diese Gottähnlichen: sie wollen, dass an sie
geglaubt werde, und Zweifel Sünde sei. Allzugut weiss ich auch,
woran sie selber am besten glauben.
Wahrlich nicht an Hinterwelten und erlösende Blutstropfen: son-
dern an den Leib glauben auch sie am besten, und ihr eigener
Leib ist ihnen ihr Ding an sich.
Aber ein krankhaftes Ding ist er ihnen: und gerne möchten sie
aus der Haut fahren. Darum horchen sie nach den Predigern des
Todes und predigen selber Hinterwelten.
Hört mir lieber, meine Brüder, auf die Stimme des gesunden Lei-
bes: eine redlichere und reinere Simme ist diess.
Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und
rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde.
Also sprach Zarathustra.

1.5 Von den Verächtern des Leibes

Den Verächtern des Leibes will ich mein Wort sagen. Nicht umler-
nen und umlehren sollen sie mir, sondern nur ihrem eignen Leibe
Lebewohl sagen - und also stumm werden.
»Leib bin ich und Seele« - so redet das Kind. Und warum sollte
man nicht wie die Kinder reden?
30 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar,
und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas
am Leibe.
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne,
ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt.
Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bru-
der, die du »Geist« nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner
grossen Vernunft.
»Ich« sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere
ist, woran du nicht glauben willst, - dein Leib und seine grosse
Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich
sein Ende. Aber Sinn und Geist möchten dich überreden, sie seien
aller Dinge Ende: so eitel sind sie.
Werk- und Spielzeuge sind Sinn und Geist: hinter ihnen liegt noch
das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es
horcht auch mit den Ohren des Geistes.
Immer horcht das Selbst und sucht: es vergleicht, bezwingt, er-
obert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ich's Beherrscher.
Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein
mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heisst Selbst.
In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weis-
heit. Und wer weiss denn, wozu dein Leib gerade deine beste
Weisheit nöthig hat?
Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge. »Was
sind mir diese Sprünge und Flüge des Gedankens? sagt es sich.
Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin das Gängelband des Ich's
und der Einbläser seiner Begriffe.«
Das Selbst sagt zum Ich: »hier fühle Schmerz!« Und da leidet es
und denkt nach, wie es nicht mehr leide - und dazu eben soll es
denken.
Das Selbst sagt zum Ich: »hier fühle Lust!« Da freut es sich und
denkt nach, wie es noch oft sich freue - und dazu eben soll es
denken.
Den Verächtern des Leibes will ich ein Wort sagen. Dass sie ver-
1.6. VON DEN FREUDEN- UND LEIDENSCHAFTEN 31

achten, das macht ihr Achten. Was ist es, das Achten und Verach-
ten und Werth und Willen schuf?
Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf
sich Lust und Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als
eine Hand seines Willens.
Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Verächter des Leibes,
dient ihr eurem Selbst. Ich sage euch: euer Selbst selber will ster-
ben und kehrt sich vom Leben ab.
Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten wilI: - über sich
hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze
Inbrunst.
Aber zu spät ward es ihm jetzt dafür: - so will euer Selbst unter-
gehn, ihr Verächter des Leibes.
Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verächtern
des Leibes! Denn nicht mehr vermögt ihr über euch hinaus zu
schaffen.
Und darum zürnt ihr nun dem Leben und der Erde. Ein ungewus-
ster Neid ist im scheelen Blick eurer Verachtung.
Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid mir
keine Brücken zum Übermenschen! -
Also sprach Zarathustra.

1.6 Von den Freuden- und Leidenschaf-


ten

Mein Bruder, wenn du eine Tugend hast, und es deine Tugend ist,
so hast du sie mit Niemandem gemeinsam.
Freilich, du willst sie bei Namen nennen und liebkosen; du willst
sie am Ohre zupfen und Kurzweil mit ihr treiben.
Und siehe! Nun hast du ihren Namen mit dem Volke gemeinsam
und bist Volk und Heerde geworden mit deiner Tugend!
Besser thätest du, zu sagen: »unaussprechbar ist und namenlos,
was meiner Seele Qual und Süsse macht und auch noch der Hun-
ger meiner Eingeweide ist.«
32 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Deine Tugend sei zu hoch für die Vertraulichkeit der Namen: und
musst du von ihr reden, so schäme dich nicht, von ihr zu stam-
meln.
So sprich und stammle: »Das ist mein Gutes, das liebe ich, so
gefällt es mir ganz, so allein will ich das Gute.
Nicht will ich es als eines Gottes Gesetz, nicht will ich es als eine
Menschen-Satzung und -Nothdurft: kein Wegweiser sei es mir für
Über-Erden und Paradiese.
Eine irdische Tugend ist es, die ich liebe: wenig Klugheit ist darin
und am wenigsten die Vernunft Aller.
Aber dieser Vogel baute bei mir sich das Nest: darum liebe und
herze ich ihn, - nun sitze er bei mir auf seinen goldnen Eiern.«
So sollst du stammeln und deine Tugend loben.
Einst hattest du Leidenschaften und nanntest sie böse. Aber jetzt
hast du nur noch deine Tugenden: die wuchsen aus deinen Lei-
denschaften.
Du legtest dein höchstes Ziel diesen Leidenschaften an's Herz: da
wurden sie deine Tugenden und Freudenschaften.
Und ob du aus dem Geschlechte der Jähzornigen wärest oder aus
dem der Wollüstigen oder der Glaubens-Wüthigen oder der Rach-
süchtigen:
Am Ende wurden alle deine Leidenschaften zu Tugenden und alle
deine Teufel zu Engeln.
Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller: aber am Ende ver-
wandelten sie sich zu Vögeln und lieblichen Sängerinnen.
Aus deinen Giften brautest du dir deinen Balsam; deine Kuh Trüb-
sal melktest du, - nun trinkst du die süsse Milch ihres Euters.
Und nichts Böses wächst mehr fürderhin aus dir, es sei denn das
Böse, das aus dem Kampfe deiner Tugenden wächst.
Mein Bruder, wenn du Glück hast, so hast du Eine Tugend und
nicht mehr: so gehst du leichter über die Brücke.
Auszeichnend ist es, viele Tugenden zu haben, aber ein schweres
Loos; und Mancher gieng in die Wüste und tödtete sich, weil er
müde war, Schlacht und Schlachtfeld von Tugenden zu sein.
Mein Bruder, ist Krieg und Schlacht böse? Aber nothwendig ist
1.7. VOM BLEICHEN VERBRECHER 33

diess Böse, nothwendig ist der Neid und das Misstrauen und die
Verleumdung unter deinen Tugenden.
Siehe, wie jede deiner Tugenden begehrlich ist nach dem Höch-
sten: sie will deinen ganzen Geist, dass er ihr Herold sei, sie will
deine ganze Kraft in Zorn, Hass und Liebe.
Eifersüchtig ist jede Tugend auf die andre, und ein furchtbares
Ding ist Eifersucht. Auch Tugenden können an der Eifersucht zu
Grunde gehn.
Wen die Flamme der Eifersucht umringt, der wendet zuletzt, gleich
dem Scorpione, gegen sich selber den vergifteten Stachel.
Ach, mein Bruder, sahst du noch nie eine Tugend sich selber ver-
leumden und erstechen?
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muss: und dar-
um sollst du deine Tugenden lieben, - denn du wirst an ihnen zu
Grunde gehn. -
Also sprach Zarathustra.

1.7 Vom bleichen Verbrecher

Ihr wollt nicht tödten, ihr Richter und Opferer, bevor das Thier
nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus
seinem Auge redet die grosse Verachtung.
»Mein Ich ist Etwas, das überwunden werden soll: mein Ich ist mir
die grosse Verachtung des Menschen«: so redet es aus diesem
Auge.
Dass er sich selber richtete, war sein höchster Augenblick: lasst
den Erhabenen nicht wieder zurück in sein Niederes!
Es giebt keine Erlösung für Den, der so an sich selber leidet, es
sei denn der schnelle Tod.
Euer Tödten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und keine Rache. Und
indem ihr tödtet, seht zu, dass ihr selber das Leben rechtfertiget!
Es ist nicht genug, dass ihr euch mit Dem versöhnt, den ihr tödtet.
Eure Traurigkeit sei Liebe zum Übermenschen: so rechtfertigt ihr
euer Noch-Leben!
34 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

»Feind« sollt ihr sagen, aber nicht »Bösewicht«; »Kranker« sollt


ihr sagen, aber nicht »Schuft«; »Thor« sollt ihr sagen, aber nicht
»Sünder«.
Und du, rother Richter, wenn du laut sagen wolltest, was du Alles
schon in Gedanken gethan hast: so würde Jedermann schreien:
»Weg mit diesem Unflath und Giftwurm!«
Aber ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes die That, ein An-
deres das Bild der That. Das Rad des Grundes rollt nicht wischen
ihnen.
Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich. Gleichwüchsig
war er seiner That, als er sie that: aber ihr Bild ertrug er nicht, als
sie gethan war.
Immer sah er sich nun als Einer That Thäter. Wahnsinn heisse ich
diess: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen.
Der Strich bannt die Henne; der Streich, den er führte, bannte sei-
ne arme Vernunft - den Wahnsinn nach der That heisse ich diess.
Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn giebt es noch: und der
ist vor der That. Ach, ihr krocht mir nicht tief genug in diese Seele!
So spricht der rothe Richter: »was mordete doch dieser Verbre-
cher? Er wollte rauben.« Aber ich sage euch: seine Seele wollte
Blut, nicht Raub: er dürstete nach dem Glück des Messers!
Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und über-
redete ihn. »Was liegt an Blut! sprach sie; willst du nicht zum min-
desten einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?«
Und er horchte auf seine arme Vernunft: wie Blei lag ihre Rede
auf ihm, - da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines
Wahnsinns schämen.
Und nun wieder liegt das Blei seiner Schuld auf ihm, und wieder
ist seine arme Vernunft so steif, so gelähmt, so schwer.
Wenn er nur den Kopf schütteln könnte, so würde seine Last her-
abrollen: aber wer schüttelt diesen Kopf?
Was ist dieser Mensch? Ein Haufen von Krankheiten, welche durch
den Geist in die Welt hinausgreifen: da wollen sie ihre Beute ma-
chen.
Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder Schlangen, welche sel-
ten bei einander Ruhe haben, - da gehn sie für sich fort und su-
1.8. VOM LESEN UND SCHREIBEN 35

chen Beute in der Welt.


Seht diesen armen Leib! Was er litt und begehrte, das deutete
sich diese arme Seele, - sie deutete es als mörderische Lust und
Gier nach dem Glück des Messers.
Wer jetzt krank wird, den überfällt das Böse, das jetzt böse ist:
wehe will er thun, mit dem, was ihm wehe thut. Aber es gab andre
Zeiten und ein andres Böses und Gutes.
Einst war der Zweifel böse und der Wille zum Selbst. Damals wur-
de der Kranke zum Ketzer und zur Hege: als Ketzer und Hexe litt
er und wollte leiden machen.
Aber diess will nicht in eure Ohren: euren Guten schade es, sagt
ihr mir. Aber was liegt mir an euren Guten!
Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Bö-
ses. Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu
Grunde giengen, gleich diesem bleichen Verbrecher!
Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hiesse Wahrheit oder Treue oder
Gerechtigkeit: aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben und
in einem erbärmlichen Behagen.
Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen
kann! Eure Krücke aber bin ich nicht. -
Also sprach Zarathustra.

1.8 Vom Lesen und Schreiben

Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem
Blute schreibt. Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut
Geist ist.
Es ist nicht leicht möglich, fremdes Blut zu verstehen: ich hasse
die lesenden Müssiggänger.
Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein
Jahrhundert Leser - und der Geist selber wird stinken.
Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht
allein das Schreiben, sondern auch das Denken.
Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen und jetzt
36 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

wird er gar noch Pöbel.


Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern
auswendig gelernt werden.
Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu
musst du lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die,
zu denen gesprochen wird, Grosse und Hochwüchsige.
Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer
fröhlichen Bosheit: so passt es gut zu einander.
Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin muthig. Muth, der
die Gespenster verscheucht, schafft sich selber Kobolde, - der
Muth will lachen.
Ich empfinde nicht mehr mit euch: diese Wolke, die ich unter mir
sehe, diese Schwärze und Schwere, über die ich lache, - gerade
das ist eure Gewitterwolke.
Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich
sehe hinab, weil ich erhoben bin.
Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein?
Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-
Spiele und Trauer-Ernste.
Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig - so will uns die
Weisheit: sie ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann.
Ihr sagt mir: »das Leben ist schwer zu tragen.« Aber wozu hättet
ihr Vormittags euren Stolz und Abends eure Ergebung?
Das Leben ist schwer zu tragen: aber so thut mir doch nicht so
zärtlich! Wir sind allesammt hübsche lastbare Esel und Eselinnen.
Was haben wir gemein mit der Rosenknospe, welche zittert, weil
ihr ein Tropfen Thau auf dem Leibe liegt?
Es ist wahr: wir lieben das Leben, nicht, weil wir an's Leben, son-
dern weil wir an's Lieben gewöhnt sind.
Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber immer auch
etwas Vernunft im Wahnsinn.
Und auch mir, der ich dem Leben gut bin, scheinen Schmetter-
linge und Seifenblasen und was ihrer Art unter Menschen ist, am
meisten vom Glücke zu wissen.
1.9. VOM BAUM AM BERGE 37

Diese leichten thörichten zierlichen beweglichen Seelchen flat-


tern zu sehen - das verführt Zarathustra zu Thränen und Liedern.
Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.
Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich,
tief, feierlich: es war der Geist der Schwere, - durch ihn fallen alle
Dinge.
Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man. Auf, lasst
uns den Geist der Schwere tödten!
Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen. Ich habe
fliegen gelernt: seitdem will ich nicht erst gestossen sein, um von
der Stelle zu kommen.
Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir,
jetzt tanzt ein Gott durch mich.
Also sprach Zarathustra.

1.9 Vom Baum am Berge

Zarathustra's Auge hatte gesehn, dass ein Jüngling ihm auswich.


Und als er eines Abends allein durch die Berge gieng, welche die
Stadt umschliessen, die genannt wird »die bunte Kuh«: siehe, da
fand er im Gehen diesen Jüngling, wie er an einen Baum gelehnt
sass und müden Blickes in das Thal schaute. Zarathustra fasste
den Baum an, bei welchem der Jüngling sass, und sprach also:
Wenn ich diesen Baum da mit meinen Händen schütteln wollte,
ich würde es nicht vermögen.
Aber der Wind, den wir nicht sehen, der quält und biegt ihn, wo-
hin er will. Wir werden am schlimmsten von unsichtbaren Händen
gebogen und gequält.
Da erhob sich der Jüngling bestürzt und sagte: »ich höre Zarathu-
stra und eben dachte ich an ihn.« Zarathustra entgegnete:
»Was erschrickst du desshalb? - Aber es ist mit dem Menschen
wie mit dem Baume.
Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, um so stärker streben
seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in's Dunkle, Tiefe, - in's Böse.«
38 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

»Ja in's Böse! rief der Jüngling. Wie ist es möglich, dass du meine
Seele entdecktest?«
Zarathustra lächelte und sprach: »Manche Seele wird man nie
entdecken, es sei denn, dass man sie zuerst erfindet.« »Ja in's
Böse! rief der Jüngling nochmals.
Du sagtest die Wahrheit, Zarathustra. Ich traue mir selber nicht
mehr, seitdem ich in die Höhe will, und Niemand traut mir mehr,
- wie geschieht diess doch?
Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Ge-
stern. Ich überspringe oft die Stufen, wenn ich steige, - das ver-
zeiht mir keine Stufe.
Bin ich oben, so finde ich mich immer allein. Niemand redet mit
mir, der Frost der Einsamkeit macht mich zittern. Was will ich doch
in der Höhe?
Meine Verachtung und meine Sehnsucht wachsen mit einander;
je höher ich steige, um so mehr verachte ich Den, der steigt. Was
will er doch in der Höhe?
Wie schäme ich mich meines Steigens und Stolperns! Wie spotte
ich meines heftigen Schnaubens! Wie hasse ich den Fliegenden!
Wie müde bin ich in der Höhe!«
Hier schwieg der Jüngling. Und Zarathustra betrachtete den Baum,
an dem sie standen, und sprach also:
Dieser Baum steht einsam hier am Gebirge; er wuchs hoch hinweg
über Mensch und Thier.
Und wenn er reden wollte, er würde Niemanden haben, der ihn
verstünde: so hoch wuchs er.
Nun wartet er und wartet, - worauf wartet er doch? Er wohnt dem
Sitze der Wolken zu nahe: er wartet wohl auf den ersten Blitz?
Als Zarathustra diess gesagt hatte, rief der Jüngling mit heftigen
Gebärden: »Ja, Zarathustra, du sprichst die Wahrheit. Nach mei-
nem Untergange verlangte ich, als ich in die Höhe wollte, und
du bist der Blitz, auf den ich wartete! Siehe, was bin ich noch,
seitdem du uns erschienen bist? Der Neid auf dich ist's, der mich
zerstört hat!« - So sprach der Jüngling und weinte bitterlich. Za-
rathustra aber legte seinen Arm um ihn und führte ihn mit sich
fort.
1.9. VOM BAUM AM BERGE 39

Und als sie eine Weile mit einander gegangen waren, hob Zara-
thustra also an zu sprechen:
Es zerreisst mir das Herz. Besser als deine Worte es sagen, sagt
mir dein Auge alle deine Gefahr.
Noch bist du nicht frei, du suchst noch nach Freiheit. Übernächtig
machte dich dein Suchen und überwach.
In die freie Höhe willst du, nach Sternen dürstet deine Seele. Aber
auch deine schlimmen Triebe dürsten nach Freiheit.
Deine wilden Hunde wollen in die Freiheit; sie bellen vor Lust in
ihrem Keller, wenn dein Geist alle Gefängnisse zu lösen trachtet.
Noch bist du mir ein Gefangner, der sich Freiheit ersinnt: ach,
klug wird solchen Gefangnen die Seele, aber auch arglistig und
schlecht.
Reinigen muss sich noch der Befreite des Geistes. Viel Gefäng-
niss und Moder ist noch in ihm zurück: rein muss noch sein Auge
werden.
Ja, ich kenne deine Gefahr. Aber bei meiner Liebe und Hoffnung
beschwöre ich dich: wirf deine Liebe und Hoffnung nicht weg!
Edel fühlst du dich noch, und edel fühlen dich auch die Andern
noch, die dir gram sind und böse Blicke senden. Wisse, dass Allen
ein Edler im Wege steht.
Auch den Guten steht ein Edler im Wege: und selbst wenn sie ihn
einen Guten nennen, so wollen sie ihn damit bei Seite bringen.
Neues will der Edle schaffen und eine neue Tugend. Altes will der
Gute, und dass Altes erhalten bleibe.
Aber nicht das ist die Gefahr des Edlen, dass er ein Guter werde,
sondern ein Frecher, ein Höhnender, ein Vernichter.
Ach, ich kannte Edle, die verloren ihre höchste Hoffnung. Und nun
verleumdeten sie alle hohen Hoffnungen.
Nun lebten sie frech in kurzen Lüsten, und über den Tag hin warfen
sie kaum noch Ziele.
»Geist ist auch Wollust« - so sagten sie. Da zerbrachen ihrem Gei-
ste die Flügel: nun kriecht er herum und beschmutzt im Nagen.
Einst dachten sie Helden zu werden: Lüstlinge sind es jetzt. Ein
Gram und ein Grauen ist ihnen der Held.
40 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf den
Helden in deiner Seele nicht weg! Halte heilig deine höchste Hoff-
nung! -
Also sprach Zarathustra.

1.10 Von den Predigern des Todes

Es giebt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von Solchen,
denen Abkehr gepredigt werden muss vom Leben.
Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben ist das Leben durch
die Viel-zu-Vielen. Möge man sich mit dem »ewigen Leben« aus
diesem Leben weglocken!
»Gelbe«: so nennt man die Prediger des Todes, oder »Schwarze«.
Aber ich will sie euch noch in andern Farben zeigen.
Da sind die Fürchterlichen, welche in sich das Raubthier herum-
tragen und keine Wahl haben, es sei denn Lüste oder Selbstzer-
fleischung. Und auch ihre Lüste sind noch Selbstzerfleischung.
Sie sind noch nicht einmal Menschen geworden, diese Fürchter-
lichen: mögen sie Abkehr predigen vom Leben und selber dahin-
fahren!
Da sind die Schwindsüchtigen der Seele: kaum sind sie geboren,
so fangen sie schon an zu sterben und sehnen sich nach Lehren
der Müdigkeit und Entsagung.
Sie wollen gerne todt sein, und wir sollten ihren Willen gut heis-
sen! Hüten wir uns, diese Todten zu erwecken und diese lebendi-
gen Särge zu versehren!
Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder ein Leichnam; und
gleich sagen sie »das Leben ist widerlegt!«
Aber nur sie sind widerlegt und ihr Auge, welches nur das Eine
Gesicht sieht am Dasein.
Eingehüllt in dicke Schwermuth und begierig auf die kleinen Zufäl-
le, welche den Tod bringen: so warten sie und beissen die Zähne
auf einander.
Oder aber: sie greifen nach Zuckerwerk und spotten ihrer Kinderei
dabei: sie hängen an ihrem Strohhalm Leben und spotten, dass
1.10. VON DEN PREDIGERN DES TODES 41

sie noch an einem Strohhalm hängen.


Ihre Weisheit lautet: »ein Thor, der leben bleibt, aber so sehr sind
wir Thoren! Und das eben ist das Thörichtste am Leben!« -
»Das Leben ist nur Leiden« - so sagen Andre und lügen nicht:
so sorgt doch, dass ihr aufhört! So sorgt doch, dass das Leben
aufhört, welches nur Leiden ist!
Und also laute die Lehre eurer Tugend »du sollst dich selber töd-
ten! Du sollst dich selber davonstehlen!« -
»Wollust ist Sünde, - so sagen die Einen, welche den Tod predigen
- lasst uns bei Seite gehn und keine Kinder zeugen!«
»Gebären ist mühsam, - sagen dich Andern - wozu noch gebären?
Man gebiert nur Unglückliche!« Und auch sie sind Prediger des
Todes.
»Mitleid thut noth - so sagen die Dritten. Nehmt hin, was ich habe!
Nehmt hin, was ich bin! Um so weniger bindet mich das Leben!«
Wären sie Mitleidige von Grund aus, so würden sie ihren Nächsten
das Leben verleiden. Böse sein - das wäre ihre rechte Güte.
Aber sie wollen loskommen vom Leben: was schiert es sie, dass
sie Andre mit ihren Ketten und Geschenken noch fester binden! -
Und auch ihr, denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid
ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die
Predigt des Todes?
Ihr Alle, denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue,
Fremde, - ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiss ist Flucht und Wille,
sich selber zu vergessen.
Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch
dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht In-
halt genug in euch - und selbst zur Faulheit nicht!
Überall ertönt die Stimme Derer, welche den Tod predigen: und
die Erde ist voll von Solchen, welchen der Tod gepredigt werden
muss.
Oder »das ewige Leben«: das gilt mir gleich, - wofern sie nur
schnell dahinfahren!
Also sprach Zarathustra.
42 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

1.11 Vom Krieg und Kriegsvolke

Von unsern besten Feinden wollen wir nicht geschont sein, und
auch von Denen nicht, welche wir von Grund aus lieben. So lasst
mich denn euch die Wahrheit sagen!
Meine Brüder im Kriege! Ich liebe euch von Grund aus, ich bin und
war Euresgleichen. Und ich bin auch euer bester Feind. So lasst
mich denn euch die Wahrheit sagen!
Ich weiss um den Hass und Neid eures Herzens. Ihr seid nicht
gross genug, um Hass und Neid nicht zu kennen. So seid denn
gross genug, euch ihrer nicht zu schämen!
Und wenn ihr nicht Heilige der Erkenntniss sein könnt, so seid
mir wenigstens deren Kriegsmänner. Das sind die Gefährten und
Vorläufer solcher Heiligkeit.
Ich sehe viel Soldaten: möchte ich viel Kriegsmänner sehn! »Ein-
form« nennt man's, was sie tragen: möge es nicht Ein-form sein,
was sie damit verstecken!
Ihr sollt mir Solche sein, deren Auge immer nach einem Feinde
sucht - nach eurem Feinde. Und bei Einigen von euch giebt es
einen Hass auf den ersten Blick.
Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für
eure Gedanken! Und wenn euer Gedanke unterliegt, so soll eure
Redlichkeit darüber noch Triumph rufen!
Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den
kurzen Frieden mehr, als den langen.
Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rat-
he ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege. Eure Arbeit sei ein
Kampf, euer Friede sei ein Sieg!
Man kann nur schweigen und stillsitzen, wenn man Pfeil und Bo-
gen hat: sonst schwätzt und zankt man. Euer Friede sei ein Sieg!
Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich
sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge gethan, als die
Nächstenliebe. Nicht euer Mitleiden, sondern eure Tapferkeit ret-
tete bisher die Verunglückten.
1.12. VOM NEUEN GÖTZEN 43

Was ist gut? fragt ihr. Tapfer sein ist gut. Lasst die kleinen Mäd-
chen reden: »gut sein ist, was hübsch zugleich und rührend ist.«
Man nennt euch herzlos: aber euer Herz ist ächt, und ich liebe die
Scham eurer Herzlichkeit. Ihr schämt euch eurer Fluth, und Andre
schämen sich ihrer Ebbe.
Ihr seid hässlich? Nun wohlan, meine Brüder! So nehmt das Er-
habne um euch, den Mantel des Hässlichen!
Und wenn eure Seele gross wird, so wird sie übermüthig, und in
eurer Erhabenheit ist Bosheit. Ich kenne euch.
In der Bosheit begegnet sich der Übermüthige mit dem Schwäch-
linge. Aber sie missverstehen einander. Ich kenne euch.
Ihr dürft nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde
zum Verachten. Ihr müsst stolz auf euern Feind sein: dann sind
die Erfolge eures Feindes auch eure Erfolge.
Auflehnung - das ist die Vornehmheit am Sclaven. Eure Vornehm-
heit sei Gehorsam! Euer Befehlen selber sei ein Gehorchen!
Einem guten Kriegsmanne klingt »du sollst« angenehmer, als »ich
will«. Und Alles, was euch lieb ist, sollt ihr euch erst noch befehlen
lassen.
Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer höchsten Hoffnung: und
eure höchste Hoffnung sei der höchste Gedanke des Lebens!
Euren höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen las-
sen - und er lautet: der Mensch ist Etwas, das überwunden werden
soll.
So lebt euer Leben des Gehorsams und des Krieges! Was liegt am
Lang-Leben! Welcher Krieger will geschont sein!
Ich schone euch nicht, ich liebe euch von Grund aus, meine Brüder
im Kriege! -
Also sprach Zarathustra.

1.12 Vom neuen Götzen

Irgendwo giebt es noch Völker und Heerden, doch nicht bei uns,
meine Brüder: da giebt es Staaten.
44 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt thut mir die Ohren auf, denn
jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker.
Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch;
und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das
Volk.«
Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und häng-
ten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie
dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für Viele und heissen sie
Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie
hin.
Wo es noch Volk giebt, da versteht es den Staat nicht und hasst
ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten.
Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des
Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache
erfand es sich in Sitten und Rechten.
Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und
was er auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat
er's.
Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beisst er, der Bis-
sige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.
Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich
euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deu-
tet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!
Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat
erfunden!
Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er
sie schlingt und kaut und wiederkäut!
»Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der ordnende Finger bin
ich Gottes« - also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte
und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee!
Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er seine düsteren Lü-
gen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwen-
den!
Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wur-
det ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen
1.12. VOM NEUEN GÖTZEN 45

Götzen!
Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue
Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen, -
das kalte Unthier!
Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze:
also kauft er sich den Glanz eurer Tugend und den Blick eurer
stolzen Augen.
Ködern will er mit euch die Viel-zu-Vielen! Ja, ein Höllenkunststück
ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher
Ehren!
Ja, ein Sterben für Viele ward da erfunden, das sich selber als Le-
ben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes!
Staat nenne ich's, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme:
Staat, wo Alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat,
wo der langsame Selbstmord Aller - »das Leben« heisst.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der
Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren
Diebstahl - und Alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!
Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie er-
brechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen ein-
ander und können sich nicht einmal verdauen.
Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichthümer erwerben sie und
werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen
der Macht, viel Geld, - diese Unvermögenden!
Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern über ein-
ander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe.
Hin zum Throne wollen sie Alle: ihr Wahnsinn ist es, - als ob das
Glück auf dem Throne sässe! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron
- und oft auch der Thron auf dem Schlamme.
Wahnsinnige sind sie mir Alle und kletternde Affen und Überheis-
se. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Unthier: übel riechen sie
mir alle zusammen, diese Götzendiener.
Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler
und Begierden! Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt in's
Freie!
Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von
46 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

der Götzendienerei der Überflüssigen!


Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von
dem Dampfe dieser Menschenopfer!
Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch
viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller
Meere weht.
Frei steht noch grossen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer
wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine
Armuth!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht
überflüssig ist: da beginnt das Lied des Nothwendigen, die ein-
malige und unersetzliche Weise.
Dort, wo der Staat aufhört, - so seht mir doch hin, meine Brüder!
Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brükken des Über-
menschen? -
Also sprach Zarathustra.

1.13 Von den Fliegen des Marktes

Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt


vom Lärme der grossen Männer und zerstochen von den Stacheln
der kleinen.
Würdig wissen Wald und Fels mit dir zu schweigen. Gleiche wie-
der dem Baume, den du liebst, dem breitästigen: still und aufhor-
chend hängt er über dem Meere.
Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der
Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der grossen Schauspie-
ler und das Geschwirr der giftigen Fliegen.
In der Welt taugen die besten Dinge noch Nichts, ohne Einen, der
sie erst aufführt: grosse Männer heisst das Volk diese Aufführer.
Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende. Aber
Sinne hat es für alle Aufführer und Schauspieler grosser Sachen.
Um die Erfinder von neuen Werthen dreht sich die Welt: - unsicht-
bar dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk
und der Ruhm: so ist es der Welt Lauf.
1.13. VON DEN FLIEGEN DES MARKTES 47

Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er


glaubt immer an Das, womit er am stärksten glauben macht, -
glauben an sich macht!
Morgen hat er einen neuen Glauben und übermorgen einen neue-
ren. Rasche Sinne hat er, gleich dem Volke, und veränderliche
Witterungen.
Umwerfen - das heisst ihm: beweisen. Toll machen - das heisst
ihm: überzeugen. Und Blut gilt ihm als aller Gründe bester.
Eine Wahrheit, die nur in feine Ohren schlüpft, nennt er Lüge und
Nichts. Wahrlich, er glaubt nur an Götter, die grossen Lärm in der
Welt machen!
Voll von feierlichen Possenreissern ist der Markt - und das Volk
rühmt sich seiner grossen Männer! das sind ihm die Herrn der
Stunde.
Aber die Stunde drängt sie: so drängen sie dich. Und auch von dir
wollen sie Ja oder Nein. Wehe, du willst zwischen Für und Wider
deinen Stuhl setzen?
Dieser Unbedingten und Drängenden halber sei ohne Eifersucht,
du Liebhaber der Wahrheit! Niemals noch hängte sich die Wahr-
heit an den Arm eines Unbedingten.
Dieser Plötzlichen halber gehe zurück in deine Sicherheit: nur auf
dem Markt wird man mit Ja? oder Nein? überfallen.
Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange müssen sie
warten, bis sie wissen, was in ihre Tiefe fiel.
Abseits vom Markte und Ruhme begiebt sich alles Grosse: abseits
vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Wert-
he.
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von gif-
tigen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft
weht!
Fliehe in deine Einsamkeit! Du lebtest den Kleinen und Erbärm-
lichen zu nahe. Fliehe vor ihrer unsichtbaren Rache! Gegen dich
sind sie Nichts als Rache.
Hebe nicht mehr den Arm gegen sie! Unzählbar sind sie, und es
ist nicht dein Loos, Fliegenwedel zu sein.
Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen; und manchem
48 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

stolzen Baue gereichten schon Regentropfen und Unkraut zum


Untergange.
Du bist kein Stein, aber schon wurdest du hohl von vielen Tropfen.
Zerbrechen und zerbersten wirst du mir noch von vielen Tropfen.
Ermüdet sehe ich dich durch giftige Fliegen, blutig geritzt sehe ich
dich an hundert Stellen; und dein Stolz will nicht einmal zürnen.
Blut möchten sie von dir in aller Unschuld, Blut begehren ihre blut-
losen Seelen - und sie stechen daher in aller Unschuld.
Aber, du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen Wunden; und
ehe du dich noch geheilt hast, kroch dir der gleiche Giftwurm über
die Hand.
Zu stolz bist du mir dafür, diese Naschhaften zu tödten. Hüte dich
aber, dass es nicht dein Verhängniss werde, all ihr giftiges Unrecht
zu tragen!
Sie summen um dich auch mit ihrem Lobe: Zudringlichkeit ist ihr
Loben. Sie wollen die Nähe deiner Haut und deines Blutes.
Sie schmeicheln dir wie einem Gotte oder Teufel; sie winseln vor
dir wie vor einem Gotte oder Teufel. Was macht es ! Schmeichler
sind es und Winsler und nicht mehr.
Auch geben sie sich dir oft als Liebenswürdige. Aber das war im-
mer die Klugheit der Feigen. Ja, die Feigen sind klug!
Sie denken viel über dich mit ihrer engen Seele, - bedenklich bist
du ihnen stets! Alles, was viel bedacht wird, wird bedenklich.
Sie bestrafen dich für alle deine Tugenden. Sie verzeihen dir von
Grund aus nur - deine Fehlgriffe.
Weil du milde bist und gerechten Sinnes, sagst du: »unschuldig
sind sie an ihrem kleinen Dasein.« Aber ihre enge Seele denkt:
»Schuld ist alles grosse Dasein.«
Auch wenn du ihnen milde bist, fühlen sie sich noch von dir ver-
achtet; und sie geben dir deine Wohlthat zurück mit versteckten
Wehthaten.
Dein wortloser Stolz geht immer wider ihren Geschmack; sie frohlocken,
wenn du einmal bescheiden genug bist, eitel zu sein.
Das, was wir an einem Menschen erkennen, das entzünden wir an
ihm auch. Also hüte dich vor den Kleinen !
1.14. VON DER KEUSCHHEIT 49

Vor dir fühlen sie sich klein, und ihre Niedrigkeit glimmt und glüht
gegen dich in unsichtbarer Rache.
Merktest du nicht, wie oft sie stumm wurden, wenn du zu ihnen
tratest, und wie ihre Kraft von ihnen gieng wie der Rauch von
einem erlöschenden Feuer?
Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen Nächsten:
denn sie sind deiner unwerth. Also hassen sie dich und möchten
gerne an deinem Blute saugen.
Deine Nächsten werden immer giftige Fliegen sein; Das, was gross
an dir ist, - das selber muss sie giftiger machen und immer flie-
genhafter.
Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine rau-
he, starke Luft weht. Nicht ist es dein Loos, Fliegenwedel zu sein.
-
Also sprach Zarathustra.

1.14 Von der Keuschheit

Ich liebe den Wald. In den Städten ist schlecht zu leben: da giebt
es zu Viele der Brünstigen.
Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als
in die Träume eines brünstigen Weibes?
Und seht mir doch diese Männer an: ihr Auge sagt es - sie wissen
nichts Besseres auf Erden, als bei einem Weibe zu liegen.
Schlamm ist auf dem Grunde ihrer Seele; und wehe, wenn ihr
Schlamm gar noch Geist hat!
Dass ihr doch wenigstens als Thiere vollkommen wäret! Aber zum
Thiere gehört die Unschuld.
Rathe ich euch, eure Sinne zu tödten? Ich rathe euch zur Unschuld
der Sinne.
Rathe ich euch zur Keuschheit? Die Keuschheit ist bei Einigen eine
Tugend, aber bei Vielen beinahe ein Laster.
Diese enthalten sich wohl: aber die Hündin Sinnlichkeit blickt mit
Neid aus Allem, was sie thun.
50 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Noch in die Höhen ihrer Tugend und bis in den kalten Geist hinein
folgt ihnen diess Gethier und sein Unfrieden.
Und wie artig weiss die Hündin Sinnlichkeit um ein Stück Geist zu
betteln, wenn ihr ein Stuck Fleisch versagt wird!
Ihr liebt Trauerspiele und Alles, was das Herz zerbricht? Aber ich
bin misstrauisch gegen eure Hündin.
Ihr habt mir zu grausame Augen und blickt lüstern nach Leiden-
den. Hat sich nicht nur eure Wollust verkleidet und heisst sich
Mitleiden?
Und auch diess Gleichniss gebe ich euch: nicht Wenige, die ihren
Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue.
Wem die Keuschheit schwer fällt, dem ist sie zu widerrathen: dass
sie nicht der Weg zur Hölle werde - das ist zu Schlamm und Brunst
der Seele.
Rede ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir nicht das Schlimm-
ste.
Nicht, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht
ist, steigt der Erkennende ungern in ihr Wasser.
Wahrlich, es giebt Keusche von Grund aus: sie sind milder von
Herzen, sie lachen lieber und reichlicher als ihr.
Sie lachen auch über die Keuschheit und fragen: »was ist Keusch-
heit!
»Ist Keuschheit nicht Thorheit? Aber diese Thorheit kam zu uns
und nicht wir zur ihr.
»Wir boten diesem Gaste Herberge und Herz: nun wohnt er bei
uns, - mag er bleiben, wie lange er will!«
Also sprach Zarathustra.

1.15 Vom Freunde

»Einer ist immer zu viel um mich« - also denkt der Einsiedler. »Im-
mer Einmal Eins - das giebt auf die Dauer Zwei!«
Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es aus-
zuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?
1.15. VOM FREUNDE 51

Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist
der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe
sinkt.
Ach, es giebt zu viele Tiefen für alle Einsiedler. Darum sehnen sie
sich so nach einem Freunde und nach seiner Höhe.
Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber
glauben möchten. Unsre Sehnsucht nach einem Freunde ist unser
Verräther.
Und oft will man mit der Liebe nur den Neid überspringen. Und
oft greift man an und macht sich einen Feind, um zu verbergen,
dass man angreifbar ist.
»Sei wenigstens mein Feind!« - so spricht die wahre Ehrfurcht, die
nicht um Freundschaft zu bitten wagt.
Will man einen Freund haben, so muss man auch für ihn Krieg füh-
ren wollen: und um Krieg zu führen, muss man Feind sein können.
Man soll in seinem Freunde noch den Feind ehren. Kannst du an
deinen Freund dicht herantreten, ohne zu ihm überzutreten?
In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben. Du sollst
ihm am nächsten mit dem Herzen sein, wenn du ihm widerstrebst.
Du willst vor deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines
Freundes Ehre sein, dass du dich ihm giebst, wie du bist? Aber
wünscht dich darum zum Teufel!
Wer aus sich kein Hehl macht, empört: so sehr habt ihr Grund,
die Nacktheit zu fürchten! Ja, wenn ihr Götter wäret, da dürftet
ihr euch eurer Kleider schämen!
Du kannst dich für deinen Freund nicht schön genug putzen: denn
du sollst ihm ein Pfeil und eine Sehnsucht nach dem Übermenschen
sein.
Sahst du deinen Freund schon schlafen, - damit du erfahrest, wie
er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes? Es
ist dein eignes Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen
Spiegel.
Sahst du deinen Freund schon schlafen? Erschrakst du nicht, dass
dein Freund so aussieht? Oh, mein Freund, der Mensch ist Etwas,
das überwunden werden muss.
Im Errathen und Stillschweigen soll der Freund Meister sein: nicht
52 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Alles musst du sehn wollen. Dein Traum soll dir verrathen, was
dein Freund im Wachen thut.
Ein Errathen sei dein Mitleiden: dass du erst wissest, ob dein Freund
Mitleiden wolle. Vielleicht liebt er an dir das ungebrochne Auge
und den Blick der Ewigkeit.
Das Mitleiden mit dem Freunde berge sich unter einer harten Scha-
le, an ihm sollst du dir einen Zahn ausbeissen. So wird es seine
Feinheit und Süsse haben.
Bist du reine Luft und Einsamkeit und Brod und Arznei deinem
Freunde? Mancher kann seine eignen Ketten nicht lösen und doch
ist er dem Freunde ein Erlöser.
Bist du ein Sclave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein
Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben.
Allzulange war im Weibe ein Sclave und ein Tyrann versteckt. Des-
shalb ist das Weib noch nicht der Freundschaft fähig: es kennt nur
die Liebe.
In der Liebe des Weibes ist Ungerechtigkeit und Blindheit gegen
Alles, was es nicht liebt. Und auch in der wissenden Liebe des
Weibes ist immer noch Überfall und Blitz und Nacht neben dem
Lichte.
Nodl ist das Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer
noch die Weiber, und Vögel. Oder, besten Falles, Kühe.
Noch ist das Weib nicht der Freundschaft fähig. Aber sagt mir, ihr
Männer, wer von euch ist denn fähig der Freundschaft?
Oh über eure Armuth, ihr Männer, und euren Geiz der Seele! Wie
viel ihr dem Freunde gebt, das will ich noch meinem Feinde geben,
und will auch nicht ärmer damit geworden sein.
Es giebt Kameradschaft: möge es Freundschaft geben!
Also sprach Zarathustra.

1.16 Von tausend und Einem Ziele

Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: so entdeckte er


vieler Völker Gutes und Böses. Keine grössere Macht fand Zara-
thustra auf Erden, als gut und böse.
1.16. VON TAUSEND UND EINEM ZIELE 53

Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber
erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt.
Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und
Schmach: also fand ich's. Vieles fand ich hier böse genannt und
dort mit purpurnen Ehren geputzt.
Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich sei-
ne Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit.
Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke. Siehe, es ist seiner
Überwindungen Tafel; siehe, es ist die Stimme seines Willens zur
Macht.
Löblich ist, was ihm schwer gilt; was unerlässlich und schwer,
heisst gut, und was aus der höchsten Noth noch befreit, das Sel-
tene, Schwerste, - das preist es heilig.
Was da macht, dass es herrscht und siegt und glänzt, seinem
Nachbarn zu Grauen und Neide: das gilt ihm das Hohe, das Er-
ste, das Messende, der Sinn aller Dinge.
Wahrlich, mein Bruder, erkanntest du erst eines Volkes Noth und
Land und Himmel und Nachbar: so erräthst du wohl das Gesetz
seiner Überwindungen und warum es auf dieser Leiter zu seiner
Hoffnung steigt.
»Immer sollst du der Erste sein und den Andern vorragen: Nie-
manden soll deine eifersüchtige Seele lieben, es sei denn den
Freund« - diess machte einem Griechen die Seele zittern: dabei
gieng er seinen Pfad der Grösse.
»Wahrheit reden und gut mit Bogen und Pfeil verkehren« - so
dünkte es jenem Volke zugleich lieb und schwer, aus dem mein
Name kommt - der Name, welcher mir zugleich lieb und schwer
ist.
»Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein
ihnen zu Willen sein«: diese Tafel der Überwindung hängte ein
andres Volk über sich auf und wurde mächtig und ewig damit.
»Treue üben und um der Treue Willen Ehre und Blut auch an böse
und fährliche Sachen setzen«: also sich lehrend bezwang sich ein
anderes Volk, und also sich bezwingend wurde es schwanger und
schwer von grossen Hoffnungen.
Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses.
54 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es


ihnen als Stimme vom Himmel.
Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, - er
schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! Darum nennt
er sich »Mensch«, das ist: der Schätzende.
Schätzen ist Schaffen: hört es, ihr Schaffenden! Schätzen selber
ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod.
Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne das Schätzen
wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden!
Wandel der Werthe, - das ist Wandel der Schaffenden. Immer ver-
nichtet, wer ein Schöpfer sein muss.
Schaffende waren erst Völker und spät erst Einzelne; wahrlich, der
Einzelne selber ist noch die jüngste Schöpfung.
Völker hängten sich einst eine Tafel des Guten über sich. Liebe,
die herrschen will, und Liebe, die gehorchen will, erschufen sich
zusammen solche Tafeln.
Älter ist an der Heerde die Lust, als die Lust am Ich: und so lange
das gute Gewissen Heerde heisst, sagt nur das schlechte Gewis-
sen: Ich.
Wahrlich, das schlaue Ich, das lieblose, das seinen Nutzen im Nut-
zen Vieler will: das ist nicht der Heerde Ursprung, sondern ihr Un-
tergang.
Liebende waren es stets und Schaffende, die schufen Gut und
Böse. Feuer der Liebe glüht in aller Tugenden Namen und Feuer
des Zorns.
Viele Länder sah Zarathustra und viele Völker: keine grössere Macht
fand Zarathustra auf Erden, als die Werke der Liebenden: »gut«
und »böse« ist ihr Name.
Wahrlich, ein Ungethüm ist die Macht dieses Lobens und Tadelns.
Sagt, wer bezwingt es mir, ihr Brüder? Sagt, wer wirft diesem
Thier die Fessel über die tausend Nacken?
Tausend Ziele gab es bisher, denn tausend Völker gab es. Nur die
Fessel der tausend Nacken fehlt noch, es fehlt das Eine Ziel. Noch
hat die Menschheit kein Ziel.
Aber sagt mir doch, meine Brüder: wenn der Menschheit das Ziel
noch fehlt, fehlt da nicht auch - sie selber noch? -
1.17. VON DER NÄCHSTENLIEBE 55

Also sprach Zarathustra.

1.17 Von der Nächstenliebe

Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür.
Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe
zu euch selber.
Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch dar-
aus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer »Selbstlo-
ses«.
Das Du ist älter als das Ich; das Du ist heilig gesprochen, aber
noch nicht das Ich: so drängt sich der Mensch hin zum Nächsten.
Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur
Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!
Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und
Künftigen; höher noch als die Liebe zu Menschen ist die Liebe zu
Sachen und Gespenstern.
Diess Gespenst, das vor dir herläuft, mein Bruder, ist schöner als
du; warum giebst du ihm nicht dein Fleisch und deine Knochen?
Aber du fürchtest dich und läufst zu deinem Nächsten.
Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht ge-
nug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit
seinem Irrthum vergolden.
Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Nächsten und deren
Nachbarn; so müsstet ihr aus euch selber euren Freund und sein
überwallendes Herz schaffen.
Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden
wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken,
denkt ihr selber gut von euch.
Nicht nur Der lügt, welcher wider sein Wissen redet, sondern erst
recht Der, welcher wider sein Nichtwissen redet. Und so redet ihr
von euch im Verkehre und belügt mit euch den Nachbar.
Also spricht der Narr: »der Umgang mit Menschen verdirbt den
Charakter, sonderlich wenn man keinen hat.«
Der Eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der Andre,
56 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu euch selber


macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängniss.
Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen;
und schon wenn ihr zu fünfen mit einander seid, muss immer ein
sechster sterben.
Ich liebe auch eure Feste nicht: zu viel Schauspieler fand ich da-
bei, und auch die Zuschauer gebärdeten sich oft gleich Schau-
spielern.
Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund
sei euch das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen.
Ich lehre euch den Freund und sein übervolles Herz. Aber man
muss verstehn, ein Schwamm zu sein, wenn man von übervollen
Herzen geliebt sein will.
Ich lehre euch den Freund, in dem die Welt fertig dasteht, eine
Schale des Guten, - den schaffenden Freund, der immer eine fer-
tige Welt zu verschenken hat.
Und wie ihm die Welt auseinander rollte, so rollt sie ihm wieder
in Ringen zusammen, als das Werden des Guten durch das Böse,
als das Werden der Zwecke aus dem Zufalle.
Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in
deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache
lieben.
Meine Brüder, zur Nächstenliebe rathe ich euch nicht: ich rathe
euch zur Fernsten-Liebe.
Also sprach Zarathustra.

1.18 Vom Wege des Schaffenden

Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den


Weg zu dir selber suchen? Zaudere noch ein Wenig und höre mich.
»Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung
ist Schuld«: also spricht die Heerde. Und du gehörtest lange zur
Heerde.
Die Stimme der Heerde wird auch in dir noch tönen. Und wenn
du sagen wirst »ich habe nicht mehr Ein Gewissen mit euch«, so
1.18. VOM WEGE DES SCHAFFENDEN 57

wird es eine Klage und ein Schmerz sein.


Siehe, diesen Schmerz selber gebar noch das Eine Gewissen: und
dieses Gewissens letzter Schimmer glüht noch auf deiner Trübsal.
Aber du willst den Weg deiner Trübsal gehen, welches ist der Weg
zu dir selber? So zeige mir dein Recht und deine Kraft dazu!
Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewe-
gung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst du auch Sterne zwingen,
dass sie um dich sich drehen?
Ach, es giebt so viel Lüsternheit nach Höhe! Es giebt so viel Krämp-
fe der Ehrgeizigen! Zeige mir, dass du keiner der Lüsternen und
Ehrgeizigen bist!
Ach, es giebt so viel grosse Gedanken, die thun nicht mehr als ein
Blasebalg: sie blasen auf und machen leerer.
Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hö-
ren und nicht, dass du einem Joche entronnen bist.
Bist du ein Solcher, der einem Joche entrinnen durfte ? Es giebt
Manchen, der seinen letzten Werth wegwarf, als er seine Dienst-
barkeit wegwarf.
Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein
Auge künden: frei wozu ?
Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen
Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber
Richter sein und Rächer deines Gesetzes?
Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eig-
nen Gesetzes. Also wird ein Stern hinausgeworfen in den öden
Raum und in den eisigen Athem des Alleinseins.
Heute noch leidest du an den Vielen, du Einer: heute noch hast
du deinen Muth ganz und deine Hoffnungen.
Aber einst wird dich die Einsamkeit müde machen, einst wird dein
Stolz sich krümmen und dein Muth knirschen. Schreien wirst du
einst »ich bin allein!«
Einst wirst du dein Hohes nicht mehr sehn und dein Niedriges
allzunahe; dein Erhabnes selbst wird dich fürchten machen wie
ein Gespenst. Schreien wirst du einst: »Alles ist falsch!«
Es giebt Gefühle, die den Einsamen tödten wollen; gelingt es ih-
58 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

nen nicht, nun, so müssen sie selber sterben! Aber vermagst du


das, Mörder zu sein?
Kennst du, mein Bruder, schon das Wort »Verachtung«? Und die
Qual deiner Gerechtigkeit, Solchen gerecht zu sein, die dich ver-
achten?
Du zwingst Viele, über dich umzulernen; das rechnen sie dir hart
an. Du kamst ihnen nahe und giengst doch vorüber: das verzeihen
sie dir niemals.
Du gehst über sie hinaus: aber je höher du steigst, um so klei-
ner sieht dich das Auge des Neides. Am meisten aber wird der
Fliegende gehasst.
»Wie wolltet ihr gegen mich gerecht sein! - musst du sprechen -
ich erwähle mir eure Ungerechtigkeit als den mir zugemessnen
Theil.«
Ungerechtigkeit und Schmutz werfen sie nach dem Einsamen:
aber, mein Bruder, wenn du ein Stern sein willst, so musst du
ihnen desshalb nicht weniger leuchten!
Und hüte dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen ger-
ne Die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden, - sie hassen den
Einsamen.
Hüte dich auch vor der heiligen Einfalt! Alles ist ihr unheilig, was
nicht einfältig ist; sie spielt auch gerne mit dem Feuer - der Schei-
terhaufen.
Und hüte dich auch vor den Anfällen deiner Liebe! Zu schnell
streckt der Einsame Dem die Hand entgegen, der ihm begegnet.
Manchem Menschen darfst du nicht die Hand geben, sondern nur
die Tatze: und ich will, dass deine Tatze auch Krallen habe.
Aber der schlimmste Feind, dem du begegnen kannst, wirst du
immer dir selber sein; du selber lauerst dir auf in Höhlen und Wäl-
dern.
Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber fuhrt
dein Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln!
Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr
und Zweifler und Unheiliger und Bösewicht.
Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie
wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!
1.19. VON ALTEN UND JUNGEN WEIBLEIN 59

Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden: einen Gott willst


du dir schaffen aus deinen sieben Teufeln!
Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selbst liebst du
und desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten.
Schaffen will der Liebende, weil er verachtet! Was weiss Der von
Liebe, der nicht gerade verachten musste, was er liebte!
Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem
Schaffen, mein Bruder; und spät erst wird die Gerechtigkeit dir
nachhinken.
Mit meinen Thränen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder.
Ich liebe Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu
Grunde geht. -
Also sprach Zarathustra.

1.19 Von alten und jungen Weiblein

»Was schleichst du so scheu durch die Dämmerung, Zarathustra?


Und was birgst du behutsam unter deinem Mantel?
»Ist es ein Schatz, der dir geschenkt? Oder ein Kind, das dir gebo-
ren wurde? Oder gehst du jetzt selber auf den Wegen der Diebe,
du Freund der Bösen?« -
Wahrlich, mein Bruder! sprach Zarathustra, es ist ein Schatz, der
mir geschenkt wurde: eine kleine Wahrheit ist's, die ich trage.
Aber sie ist ungebärdig wie ein junges Kind; und wenn ich ihr nicht
den Mund halte, so schreit sie überlaut.
Als ich heute allein meines Weges gieng, zur Stunde, wo die Sonne
sinkt, begegnete mir ein altes Weiblein und redete also zu meiner
Seele:
»Vieles sprach Zarathustra auch zu uns Weibern, doch nie sprach
er uns über das Weib.«
Und ich entgegnete ihr: »über das Weib soll man nur zu Männern
reden.«
»Rede auch zu mir vom Weibe, sprach sie; ich bin alt genug, um
es gleich wieder zu vergessen.«
60 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Und ich willfahrte dem alten Weiblein und sprach also zu ihm:
Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lö-
sung: sie heisst Schwangerschaft.
Der Mann ist für das Weib ein Mittel: der Zweck ist immer das
Kind. Aber was ist das Weib für den Mann?
Zweierlei will der ächte Mann: Gefahr und Spiel. Desshalb will er
das Weib, als das gefährlichste Spielzeug.
Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Er-
holung des Kriegers: alles Andre ist Thorheit.
Allzusüsse Früchte - die mag der Krieger nicht. Darum mag er das
Weib; bitter ist auch noch das süsseste Weib.
Besser als ein Mann versteht das Weib die Kinder, aber der Mann
ist kindlicher als das Weib.
Im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen. Auf, ihr
Frauen, so entdeckt mir doch das Kind im Manne!
Ein Spielzeug sei das Weib, rein und fein, dem Edelsteine gleich,
bestrahlt von den Tugenden einer Welt, welche noch nicht da ist.
Der Strahl eines Sternes glänze in eurer Liebe! Eure Hoffnung
heisse: »möge ich den Übermenschen gebären!«
In eurer Liebe sei Tapferkeit! Mit eurer Liebe sollt ihr auf Den los-
gehn, der euch Furcht einflösst!
In eurer Liebe sei eure Ehre! Wenig versteht sich sonst das Weib
auf Ehre. Aber diess sei eure Ehre, immer mehr zu lieben, als ihr
geliebt werdet, und nie die Zweiten zu sein.
Der Mann fürchte sich vor dem Weibe, wenn es liebt: da bringt es
jedes Opfer, und jedes andre Ding gilt ihm ohne Werth.
Der Mann fürchte sich vor dem Weibe, wenn es hasst: denn der
Mann ist im Grunde der Seele nur böse, das Weib aber ist dort
schlecht.
Wen hasst das Weib am meisten? - Also sprach das Eisen zum
Magneten: »ich hasse dich am meisten, weil du anziehst, aber
nicht stark genug bist, an dich zu ziehen.«
Das Glück des Mannes heisst: ich will. Das Glück des Weibes heisst:
er will.
1.20. VOM BISS DER NATTER 61

»Siehe, jetzt eben ward die Welt vollkommen!« - also denkt ein
jedes Weib, wenn es aus ganzer Liebe gehorcht.
Und gehorchen muss das Weib und eine Tiefe finden zu seiner
Oberfläche. Oberfläche ist des Weibes Gemüth, eine bewegliche
stürmische Haut auf einem seichten Gewässer.
Des Mannes Gemüth aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdi-
schen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht.
-
Da entgegnete mir das alte Weiblein: »Vieles Artige sagte Zara-
thustra und sonderlich für Die, welche jung genug dazu sind.
»Seltsam ist's, Zarathustra kennt wenig die Weiber, und doch hat
er über sie Recht! Geschieht diess desshalb, weil beim Weibe kein
Ding unmöglich ist?
»Und nun nimm zum Danke eine kleine Wahrheit! Bin ich doch alt
genug für sie!
»Wickle sie ein und halte ihr den Mund: sonst schreit sie überlaut,
diese kleine Wahrheit.«
»Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit!« sagte ich. Und also sprach
das alte Weiblein:
»Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!« -
Also sprach Zarathustra.

1.20 Vom Biss der Natter

Eines Tages war Zarathustra unter einem Feigenbaume einge-


schlafen, da es heiss war, und hatte seine Arme über das Ge-
sicht gelegt. Da kam eine Natter und biss ihn in den Hals, so dass
Zarathustra vor Schmerz aufschrie. Als er den Arm vom Gesicht
genommen hatte, sah er die Schlange an: da erkannte sie die
Augen Zarathustra's, wand sich ungeschickt und wollte davon.
»Nicht doch, sprach Zarathustra; noch nahmst du meinen Dank
nicht an! Du wecktest mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.«
»Dein Weg ist noch kurz, sagte die Natter traurig; mein Gift töd-
tet.« Zarathustra lächelte. »Wann starb wohl je ein Drache am Gift
einer Schlange? - sagte er. Aber nimm dein Gift zurück! Du bist
62 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

nicht reich genug, es mir zu schenken.« Da fiel ihm die Natter von
Neuem um den Hals und leckte ihm seine Wunde.
Als Zarathustra diess einmal seinen Jüngern erzählte, fragten sie:
»Und was, oh Zarathustra, ist die Moral deiner Geschichte?« Za-
rathustra antwortete darauf also:
Den Vernichter der Moral heissen mich die Guten und Gerechten:
meine Geschichte ist unmoralisch. -
So ihr aber einen Feind habt, so vergeltet ihm nicht Böses mit
Gutem: denn das würde beschämen. Sondern beweist, dass er
euch etwas Gutes angethan hat.
Und lieber zürnt noch, als dass ihr beschämt! Und wenn euch ge-
flucht wird, so gefällt es mir nicht, dass ihr dann segnen wollt.
Lieber ein Wenig mitfluchen!
Und geschah euch ein grosses Unrecht, so thut mir geschwind fünf
kleine dazu! Grässlich ist Der anzusehn, den allein das Unrecht
drückt.
Wusstet ihr diess schon? Getheiltes Unrecht ist halbes Recht. Und
Der soll das Unrecht auf sich nehmen, der es tragen kann!
Eine kleine Rache ist menschlicher, als gar keine Rache. Und wenn
die Strafe nicht auch ein Recht und eine Ehre ist für den Übertre-
tenden, so mag ich auch euer Strafen nicht.
Vornehmer ist's, sich Unrecht zu geben als Recht zu behalten, son-
derlich wenn man Recht hat. Nur muss man reich genug dazu
sein.
Ich mag eure kalte Gerechtigkeit nicht; und aus dem Auge eurer
Richter blickt mir immer der Henker und sein kaltes Eisen.
Sagt, wo findet sich die Gerechtigkeit, welche Liebe mit sehenden
Augen ist?
So erfindet mir doch die Liebe, welche nicht nur alle Strafe, son-
dern auch alle Schuld trägt!
So erfindet mir doch die Gerechtigkeit, die Jeden freispricht, aus-
genommen den Richtenden!
Wollt ihr auch diess noch hören? An Dem, der von Grund aus ge-
recht sein will, wird auch noch die Lüge zur Menschen-Freundlichkeit.
Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Je-
1.21. VON KIND UND EHE 63

dem das Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe Jedem das
Meine.
Endlich, meine Brüder, hütet euch Unrecht zu thun allen Einsied-
lern! Wie könnte ein Einsiedler vergessen! Wie könnte er vergel-
ten!
Wie ein tiefer Brunnen ist ein Einsiedler. Leicht ist es, einen Stein
hineinzuwerfen; sank er aber bis zum Grunde, sagt, wer will ihn
wieder hinausbringen?
Hütet euch, den Einsiedler zu beleidigen! Thatet ihr's aber, nun,
so tödtet ihn auch noch!
Also sprach Zarathustra.

1.21 Von Kind und Ehe

Ich habe eine Frage für dich allein, mein Bruder: wie ein Senkblei
werfe ich diese Frage in deine Seele, dass ich wisse, wie tief sie
sei.
Du bist jung und wünschest dir Kind und Ehe. Aber ich frage dich:
bist du ein Mensch, der ein Kind sich wünschen darf ?
Bist du der Siegreiche, der Selbstbezwinger, der Gebieter der Sin-
ne, der Herr deiner Tugenden? Also frage ich dich.
Oder redet aus deinem Wunsche das Thier und die Nothdurft?
Oder Vereinsamung? Oder Unfriede mit dir?
Ich will, dass dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde
sehne. Lebendige Denkmale sollst du bauen deinem Siege und
deiner Befreiung.
Über dich sollst du hinausbauen. Aber erst musst du mir selber
gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.
Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf! Dazu helfe
dir der Garten der Ehe!
Einen höheren Leib sollst du schaffen, eine erste Bewegung, ein
aus sich rollendes Rad, - einen Schaffenden sollst du schaffen.
Ehe: so heisse ich den Willen zu Zweien, das Eine zu schaffen, das
mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe
64 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

als vor den Wollenden eines solchen Willens.


Diess sei der Sinn und die Wahrheit deiner Ehe. Aber Das, was die
Viel-zu-Vielen Ehe nennen, diese Überflüssigen, - ach, wie nenne
ich das?
Ach, diese Armuth der Seele zu Zweien! Ach, dieser Schmutz der
Seele zu Zweien! Ach diess erbärmliche Behagen zu Zweien!
Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im
Himmel geschlossen.
Nun, ich mag ihn nicht, diesen Himmel der Überflüssigen! Nein,
ich mag sie nicht, diese im himmlischen Netz verschlungenen
Thiere!
Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt, zu segnen, was
er nicht zusammenfügte!
Lacht mir nicht über solche Ehen! Welches Kind hätte nicht Grund,
über seine Eltern zu weinen?
Würdig schien mir dieser Mann und reif für den Sinn der Erde: aber
als ich sein Weib sah, schien mir die Erde ein Haus für Unsinnige.
Ja, ich wollte, dass die Erde in Krämpfen bebte, wenn sich ein
Heiliger und eine Gans mit einander paaren.
Dieser gieng wie ein Held auf Wahrheiten aus und endlich erbeu-
tete er sich eine kleine geputzte Lüge. Seine Ehe nennt er's.
Jener war spröde im Verkehre und wählte wählerisch. Aber mit
Einem Male verdarb er für alle Male seine Gesellschaft: seine Ehe
nennt er's.
Jener suchte eine Magd mit den Tugenden eines Engels. Aber mit
Einem Male wurde er die Magd eines Weibes, und nun thäte es
Noth, dass er darüber noch zum Engel werde.
Sorgsam fand ich jetzt alle Käufer, und Alle haben listige Augen.
Aber seine Frau kauft auch der Listigste noch im Sack.
Viele kurze Thorheiten - das heisst bei euch Liebe. Und eure Ehe
macht vielen kurzer Thorheiten ein Ende, als Eine lange Dumm-
heit.
Eure Liebe zum Weibe und des Weibes Liebe zum Manne: ach,
möchte sie doch Mitleiden sein mit leidenden und verhüllten Göt-
tern! Aber zumeist errathen zwei Thiere einander.
1.22. VOM FREIEN TODE 65

Aber auch noch eure beste Liebe ist nur ein verzücktes Gleich-
niss und eine schmerzhafte Gluth. Eine Fackel ist sie, die euch zu
höheren Wegen leuchten soll.
Über euch hinaus sollt ihr einst lieben! So lernt erst lieben! Und
darum musstet ihr den bittern Kelch eurer Liebe trinken.
Bitterniss ist im Kelch auch der besten Liebe: so macht sie Sehn-
sucht zum Übermenschen, so macht sie Durst dir, dem Schaffen-
den!
Durst dem Schaffenden, Pfeil und Sehnsucht zum Übermenschen:
sprich, mein Bruder, ist diess dein Wille zur Ehe?
Heilig heisst mir solch ein Wille und solche Ehe. -
Also sprach Zarathustra.

1.22 Vom freien Tode

Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt


fremd die Lehre: »stirb zur rechten Zeit!«
Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra.
Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten
Zeit sterben? Möchte er doch nie geboren sein! - Also rathe ich
den Überflüssigen.
Aber auch die Überflüssigen thun noch wichtig mit ihrem Sterben,
und auch die hohlste Nuss will noch geknackt sein.
Wichtig nehmen Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest.
Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste
weiht.
Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Sta-
chel und ein Gelöbniss wird.
Seinen Tod stirbt der Vollbringende, siegreich, umringt von Hof-
fenden und Gelobenden.
Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo
ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte!
Also zu sterben ist das Beste; das Zweite aber ist: im Kampfe zu
sterben und eine grosse Seele zu verschwenden.
66 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Aber dem Kämpfenden gleich verhasst wie dem Sieger ist euer
grinsender Tod, der heranschleicht wie ein Dieb - und doch als
Herr kommt.
Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich
will.
Und wann werde ich wollen? - Wer ein Ziel hat und einen Erben,
der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben.
Und aus Ehrfurcht vor Ziel und Erben wird er keine dürren Kränze
mehr im Heiligthum des Lebens aufhängen.
Wahrlich, nicht will ich den Seildrehern gleichen: sie ziehen ihren
Faden in die Länge und gehen dabei selber immer rückwärts.
Mancher wird auch für seine Wahrheiten und Siege zu alt; ein
zahnloser Mund hat nicht mehr das Recht zu jeder Wahrheit.
Und Jeder, der Ruhm haben will, muss sich bei Zeiten von der Ehre
verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu -
gehn.
Man muss aufhören, sich essen zu lassen, wenn man am besten
schmeckt: das wissen Die, welche lange geliebt werden wollen.
Saure Äpfel giebt es freilich, deren Loos will, dass sie bis auf den
letzten Tag des Herbstes warten: und zugleich werden sie reif,
gelb und runzelig.
Andern altert das Herz zuerst und Andern der Geist. Und Einige
sind greis in der Jugend: aber spät jung erhält lang jung.
Manchem missräth das Leben: ein Giftwurm frisst sich ihm an's
Herz. So möge er zusehn, dass ihm das Sterben um so mehr ge-
rathe.
Mancher wird nie süss, er fault im Sommer schon. Feigheit ist es,
die ihn an seinem Aste festhält.
Viel zu Viele leben und viel zu lange hängen sie an ihren Ästen.
Möchte ein Sturm kommen, der all diess Faule und Wurmfressne
vom Baume schüttelt!
Möchten Prediger kommen des schnellen Todes ! Das wären mir
die rechten Stürme und Schüttler an Lebensbäumen Aber ich hö-
re nur den langsamen Tod predigen und Geduld mit allem »Irdi-
schen«.
1.22. VOM FREIEN TODE 67

Ach, ihr predigt Geduld mit dem Irdischen? Dieses Irdische ist es,
das zu viel Geduld mit euch hat, ihr Lästermäuler!
Wahrlich, zu früh starb jener Hebräer, den die Prediger des langsa-
men Todes ehren: und Vielen ward es seitdem zum Verhängniss,
dass er zu früh starb.
Noch kannte er nur Thränen und die Schwermuth des Hebräers,
sammt dem Hasse der Guten und Gerechten, - der Hebräer Jesus:
da überfiel ihn die Sehnsucht zum Tode.
Wäre er doch in der Wüste geblieben und ferne von den Guten und
Gerechten! Vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben
gelernt - und das Lachen dazu!
Glaubt es mir, meine Brüder! Er starb zu früh; er selber hätte seine
Lehre widerrufen, wäre er bis zu meinem Alter gekommen! Edel
genug war er zum Widerrufen!
Aber ungereift war er noch. Unreif liebt der Jüngling und unreif
hasst er auch Mensch und Erde. Angebunden und schwer ist ihm
noch Gemüth und Geistesflügel.
Aber im Manne ist mehr Kind als im Jünglinge, und weniger Schwer-
muth: besser versteht er sich auf Tod und Leben.
Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-sager, wenn es
nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben.
Dass euer Sterben keine Lästerung sei auf Mensch und Erde, mei-
ne Freunde: das erbitte ich mir von dem Honig eurer Seele.
In eurem Sterben soll noch euer Geist und eure Tugend glühn,
gleich einem Abendroth um die Erde: oder aber das Sterben ist
euch schlecht gerathen.
Also will ich selber sterben, dass ihr Freunde um meinetwillen die
Erde mehr liebt; und zur Erde will ich wieder werden, dass ich in
Der Ruhe habe, die mich gebar.
Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen Ball: nun seid
ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch werfe ich den goldenen Ball
zu.
Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde, den goldenen Ball
werfen! Und so verziehe ich noch ein Wenig auf Erden: verzeiht
es mir!
Also sprach Zarathustra.
68 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

1.23 Von der schenkenden Tugend

1.23.1

Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, welcher


sein Herz zugethan war und deren Name lautet: »die bunte Kuh«
- folgten ihm Viele, die sich seine Jünger nannten und gaben ihm
das Geleit. Also kamen sie an einen Kreuzweg: da sagte ihnen
Zarathustra, dass er nunmehr allein gehen wolle; denn er war ein
Freund des Alleingehens. Seine Jünger aber reichten ihm zum Ab-
schiede einen Stab, an dessen goldnem Griffe sich eine Schlange
um die Sonne ringelte. Zarathustra freute sich des Stabes und
stützte sich darauf; dann sprach er also zu seinen Jüngern.
Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werthe? Darum, dass
es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glanze;
es schenkt sich immer.
Nur als Abbild der höchsten Tugend kam Gold zum höchsten Wert-
he. Goldgleich leuchtet der Blick dem Schenkenden. Goldes-Glanz
schliesst Friede zwischen Mond und Sonne.
Ungemein ist die höchste Tugend und unnützlich, leuchtend ist
sie und mild im Glanze: eine schenkende Tugend ist die höchste
Tugend.
Wahrlich, ich errathe euch wohl, meine Jünger: ihr trachtet, gleich
mir, nach der schenkenden Tugend. Was hättet ihr mit Katzen und
Wölfen gemeinsam?
Das ist euer Durst, selber zu Opfern und Geschenken zu werden:
und darum habt ihr den Durst, alle Reichthümer in euren Seele zu
häufen.
Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen und Kleinodien,
weil eure Tugend unersättlich ist im Verschenken-Wollen.
Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, dass sie aus eurem
Borne zurückströmen sollen als die Gaben eurer Liebe.
Wahrlich, zum Räuber an allen Werthen muss solche schenkende
Liebe werden; aber heil und heilig heisse ich diese Selbstsucht.
Eine andre Selbstsucht giebt es, eine allzuarme, eine hungernde,
die immer stehlen will, jene Selbstsucht der Kranken, die kranke
1.23. VON DER SCHENKENDEN TUGEND 69

Selbstsucht.
Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles Glänzende; mit der
Gier des Hungers misst sie Den, der reich zu essen hat; und immer
schleicht sie um den Tisch der Schenkenden.
Krankheit redet aus solcher Begierde und unsichtbare Entartung;
von siechem Leibe redet die diebische Gier dieser Selbstsucht.
Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlech-
testes? Ist es nicht Entartung? - Und auf Entartung rathen wir im-
mer, wo die schenkende Seele fehlt.
Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber
ein Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: »Alles für
mich.«
Aufwärts fliegt unser Sinn: so ist er ein Gleichniss unsres Leibes,
einer Erhöhung Gleichniss. Solcher Erhöhungen Gleichnisse sind
die Namen der Tugenden.
Also geht der Leib durch die Geschichte, ein Werdender und ein
Kämpfender. Und der Geist - was ist er ihm? Seiner Kämpfe und
Siege Herold, Genoss und Wiederhall.
Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Böse: sie sprechen nicht
aus, sie winken nur. Ein Thor, welcher von ihnen Wissen will!
Achtet mir, meine Brüder, auf jede Stunde, wo euer Geist in Gleich-
nissen reden will: da ist der Ursprung eurer Tugend.
Erhöht ist da euer Leib und auferstanden; mit seiner Wonne ent-
zückt er den Geist, dass er Schöpfer wird und Schätzer und Lie-
bender und aller Dinge Wohlthäter.
Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Strome gleich, ein Se-
gen und eine Gefahr den Anwohnenden: da ist der Ursprung eurer
Tugend.
Wenn ihr erhaben seid über Lob und Tadel, und euer Wille allen
Dingen befehlen will, als eines Liebenden Wille: da ist der Ur-
sprung eurer Tugend.
Wenn ihr das Angenehme verachtet und das weiche Bett, und von
den Weichlichen euch nicht weit genug betten könnt: da ist der
Ursprung eurer Tugend.
Wenn ihr Eines Willens Wollende seid, und diese Wende aller Noth
euch Nothwendigkeit heisst: da ist der Ursprung eurer Tugend.
70 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Wahrlich, ein neues Gutes und Böses ist sie! Wahrlich, ein neues
tiefes Rauschen und eines neuen Quelles Stimme!
Macht ist sie, diese neue Tugend; ein herrschender Gedanke ist
sie und um ihn eine kluge Seele: eine goldene Sonne und um sie
die Schlange der Erkenntniss

1.23.2

Hier schwieg Zarathustra eine Weile und sah mit Liebe auf seine
Jünger. Dann fuhr er also fort zu reden: - und seine Stimme hatte
sich verwandelt.
Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tu-
gend! Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem
Sinn der Erde! Also bitte und beschwöre ich euch.
Lasst sie nicht davon fliegen vom Irdischen und mit den Flügeln
gegen ewige Wände schlagen! Ach, es gab immer so viel verflo-
gene Tugend!
Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück - ja, zu-
rück zu Leib und Leben: dass sie der Erde ihren Sinn gebe, einen
Menschen-Sinn!
Hundertfältig verflog und vergriff sich bisher so Geist wie Tugend.
Ach, in unserm Leibe wohnt jetzt noch all dieser Wahn und Fehl-
griff: Leib und Wille ist er da geworden.
Hundertfältig versuchte und verirrte sich bisher so Geist wie Tu-
gend. Ja, ein Versuch war der Mensch. Ach, viel Unwissen und
Irrthum ist an uns Leib geworden!
Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden - auch ihr Wahnsinn
bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein.
Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und
über der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der
Ohne-Sinn.
Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brü-
der: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum
sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!
Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er
sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten
1.23. VON DER SCHENKENDEN TUGEND 71

wird die Seele fröhlich.


Arzt, hilf dir selber: so hilfst du auch deinem Kranken noch. Das
sei seine beste Hülfe, dass er Den mit Augen sehe, der sich selber
heil macht.
Tausend Pfade giebt es, die nie noch gegangen sind; tausend Ge-
sundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und
unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschen-Erde.
Wachet und horcht, ihr Einsamen! Von der Zukunft her kommen
Winde mit heimlichem Flügelschlagen; und an feine Ohren ergeht
gute Botschaft.
Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein
Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein aus-
erwähltes Volk erwachsen: - und aus ihm der Übermensch.
Wahrlich, eine Stätte der Genesung soll noch die Erde werden!
Und schon liegt ein neuer Geruch um sie, ein Heil bringender, -
und eine neue Hoffnung!

1.23.3

Als Zarathustra diese Worte gesagt hatte, schwieg er, wie Einer,
der nicht sein letztes Wort gesagt hat; lange wog er den Stab zwei-
felnd in seiner Hand. Endlich sprach er also: - und seine Stimme
hatte sich verwandelt.
Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und
allein! So will ich es.
Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen
Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht be-
trog er euch.
Der Mensch der Erkenntniss muss nicht nur seine Feinde lieben,
sondern auch seine Freunde hassen können.
Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schü-
ler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?
Ihr verehrt mich; aber wie, wenn eure Verehrung eines Tages um-
fällt? Hütet euch, dass euch nicht eine Bildsäule erschlage!
Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra!
72 KAPITEL 1. ERSTER THEIL

Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen!


Ihr hattet euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So thun
alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben.
Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst,
wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann
meine Verlorenen suchen; mit einer anderen Liebe werde ich euch
dann lieben.
Und einst noch sollt ihr mir Freunde geworden sein und Kinder
Einer Hoffnung: dann will ich zum dritten Male bei euch sein, dass
ich den grossen Mittag mit euch feiere.
Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner
Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum
Abende als seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu
einem neuen Morgen.
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hin-
übergehender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im
Mittage stehn.
»Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.«
- diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wille! -
Also sprach Zarathustra.
Kapitel 2

Zweiter Theil

»- und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wie-
derkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann
meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch
dann lieben«.
Zarathustra, von der schenkenden Tugend

2.1 Das Kind mit dem Spiegel

Hierauf gieng Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die


Einsamkeit seiner Höhle und entzog sich den Menschen: wartend
gleich einem Säemann, der seinen Samen ausgeworfen hat. Seine
Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde nach Denen,
welche er liebte: denn er hatte ihnen noch Viel zu geben. Diess
nämlich ist das Schwerste, aus Liebe die offne Hand schliessen
und als Schenkender die Scham bewahren.
Also vergiengen dem Einsamen Monde und Jahre; seine Weisheit
aber wuchs und machte ihm Schmerzen durch ihre Fülle.
Eines Morgens aber wachte er schon vor der Morgenröthe auf,
besann sich lange auf seinem Lager und sprach endlich zu seinem
Herzen:
»Was erschrak ich doch so in meinem Traume, dass ich aufwach-
te? Trat nicht ein Kind zu mir, das einen Spiegel trug?

73
74 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

»Oh Zarathustra - sprach das Kind zu mir - schaue Dich an im


Spiegel!«
Aber als ich in den Spiegel schaute, da schrie ich auf, und mein
Herz war erschüttert: denn nicht mich sahe ich darin, sondern
eines Teufels Fratze und Hohnlachen.
Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes Zeichen und Mah-
nung: meine Lehre ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen!
Meine Feinde sind mächtig worden und haben meiner Lehre Bild-
niss entstellt, also, dass meine Liebsten sich der Gaben schämen
müssen, die ich ihnen gab.
Verloren giengen mir meine Freunde; die Stunde kam mir, meine
Verlornen zu suchen!' -
Mit diesen Worten sprang Zarathustra auf, aber nicht wie ein Ge-
ängstigter, der nach Luft sucht, sondern eher wie ein Seher und
Sänger, welchen der Geist anfällt. Verwundert sahen sein Adler
und seine Schlange auf ihn hin: denn gleich dem Morgenrothe lag
ein kommendes Glück auf seinem Antlitze.
Was geschah mir doch, meine Thiere? - sagte Zarathustra. Bin ich
nicht verwandelt! Kam mir nicht die Seligkeit wie ein Sturmwind?
»Thöricht ist mein Glück und Thörichtes wird es reden: zu jung
noch ist es - so habt Geduld mit ihm!
Verwundet bin ich von meinem Glücke: alle Leidenden sollen mir
Arzte sein!
Zu meinen Freunden darf ich wieder hinab und auch zu meinen
Feinden! Zarathustra darf wieder reden und schenken und Lieben
das Liebste thun!
Meine ungeduldige Liebe fliesst über in Strömen, abwärts, nach
Aufgang und Niedergang. Aus schweigsamem Gebirge und Ge-
wittern des Schmerzes rauscht meine Seele in die Thäler.
Zu lange sehnte ich mich und schaute in die Ferne. Zu lange ge-
hörte ich der Einsamkeit: so verlernte ich das Schweigen.
Mund bin ich worden ganz und gar, und Brausen eines Bachs aus
hohen Felsen: hinab will ich meine Rede stürzen in die Thäler.
Und mag mein Strom der Liebe in Unwegsames stürzen! Wie sollte
ein Strom nicht endlich den Weg zum Meere finden!
2.1. DAS KIND MIT DEM SPIEGEL 75

Wohl ist ein See in mir, ein einsiedlerischer, selbstgenugsamer;


aber mein Strom der Liebe reisst ihn mit sich hinab - zum Meere!
Neue Wege gehe ich, eine neue Rede kommt mir; müde wurde
ich, gleich allen Schaffenden, der alten Zungen. Nicht will mein
Geist mehr auf abgelaufnen Sohlen wandeln.
Zu langsam läuft mir alles Reden: - in deinen Wagen springe ich,
Sturm! Und auch dich will ich noch peitschen mit meiner Bosheit!
Wie ein Schrei und ein jauchzen will ich über weite Meere hin-
fahren, bis ich die glückseligen Inseln finde, wo meine Freunde
weilen: -
Und meine Feinde unter ihnen! Wie liebe ich nun jeden, zu dem ich
nur reden darf! Auch meine Feinde gehören zu meiner Seligkeit.
Und wenn ich auf mein wildestes Pferd steigen will, so hilft mir
mein Speer immer am besten hinauf: der ist meines Fusses allzeit
bereiter Diener: -
Der Speer, den ich gegen meine Feinde schleudere! Wie danke
ich es meinen Feinden, dass ich endlich ihn schleudern darf!
Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelächtern
der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.
Gewaltig wird sich da meine Brust heben, gewaltig wird sie ihren
Sturm über die Berge hinblasen: so kommt ihr Erleichterung.
Wahrlich, einem Sturme gleich kommt mein Glück und meine Frei-
heit! Aber meine Feinde sollen glauben, der Böse rase über ihren
Häuptern.
Ja, auch ihr werdet erschreckt sein, meine Freunde, ob meiner wil-
den Weisheit; und vielleicht flieht ihr davon sammt meinen Fein-
den.
Ach, dass ich's verstünde, euch mit Hirtenflöten zurück zu locken!
Ach, dass meine Löwin Weisheit zärtlich brüllen lernte! Und Vieles
lernten wir schon mit einander!
Meine wilde Weisheit wurde trächtig auf einsamen Bergen; auf
rauhen Steinen gebar sie ihr Junges, Jüngstes.
Nun läuft sie närrisch durch die harte Wüste und sucht und sucht
nach sanftem Rasen - meine alte wilde Weisheit!
Auf eurer Herzen sanften Rasen, meine Freunde! - auf eure Liebe
76 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

möchte sie ihr Liebstes betten!


Also sprach Zarathustra.

2.2 Auf den glückseligen Inseln

Die Feigen fallen von den Bäumen, sie sind gut und süss; und
indem sie fallen, reisst ihnen die rothe Haut. Ein Nordwind bin ich
reifen Feigen.
Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde:
nun trinkt ihren Saft und ihr süsses Fleisch! Herbst ist es umher
und reiner Himmel und Nachmittag.
Seht, welche Fülle ist um uns! Und aus dem Überflusse heraus ist
es schön hinaus zu blicken auf ferne Meere.
Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber
lehrte ich euch sagen: Übermensch.
Gott ist eine Muthmaassung; aber ich will, dass euer Muthmaas-
sen nicht weiter reiche, als euer schaffender Wille.
Könntet ihr einen Gott schaffen ? - So schweigt mir doch von allen
Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen.
Nicht ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vor-
fahren könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Diess
sei euer bestes Schaffen! -
Gott ist eine Muthmaassung: aber ich will, dass euer Muthmaas-
sen begrenzt sei in der Denkbarkeit.
Könntet ihr einen Gott denken ? - Aber diess bedeute euch Wille
zur Wahrheit, dass Alles verwandelt werde in Menschen - Denk-
bares, Menschen - Sichtbares, Menschen - Fühlbares! Eure eignen
Sinne sollt ihr zu Ende denken!
Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen wer-
den: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber
werden! Und wahrlich, zu eurer Seligkeit, ihr Erkennenden!
Und wie wolltet ihr das Leben ertragen ohne diese Hoffnung, ihr
Erkennenden? Weder in's Unbegreifliche dürftet ihr eingeboren
sein, noch in's Unvernünftige.
2.2. AUF DEN GLÜCKSELIGEN INSELN 77

Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn
es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also giebt
es keine Götter.
Wohl zog ich den Schluss; nun aber zieht er mich. -
Gott ist eine Muthmaassung: aber wer tränke alle Qual dieser
Muthmaassung, ohne zu sterben? Soll dem Schaffenden sein Glau-
be genommen sein und dem Adler sein Schweben in Adler-Fernen?
Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm und Alles,
was steht, drehend. Wie? Die Zeit wäre hinweg, und alles Ver-
gängliche nur Lüge?
Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebei-
nen und noch dem Magen ein Erbrechen: wahrlich, die drehende
Krankheit heisse ich's, Solches zu muthmaassen.
Böse heisse ich's und menschenfeindlich: all diess Lehren vom
Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergängli-
chen!
Alles Unvergängliche - das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter
lügen zuviel. -
Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein
Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!
Schaffen - das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens
Leichtwerden. Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid
noth und viel Verwandelung.
Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben sein, ihr Schaffen-
den! Also seid ihr Fürsprecher und Rechtfertiger aller Vergänglich-
keit.
Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde,
dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz
der Gebärerin.
Wahrlich, durch hundert Seelen gieng ich meinen Weg und durch
hundert Wiegen und Geburtswehen. Manchen Abschied nahm ich
schon, ich kenne die herzbrechenden letzten Stunden.
Aber so will's mein schaffender Wille, mein Schicksal. Oder, dass
ich's euch redlicher sage: solches Schicksal gerade - will mein
Wille.
Alles Fühlende leidet an mir und ist in Gefängnissen: aber mein
78 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer.


Wollen befreit: das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit - so
lehrt sie euch Zarathustra.
Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und Nicht-mehr-schaffen!
ach, dass diese grosse Müdigkeit mir stets ferne bleibe!
Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-
Lust; und wenn Unschuld in meiner Erkenntniss ist, so geschieht
diess, weil Wille zur Zeugung in ihr ist.
Hinweg von Gott und Göttem lockte mich dieser Wille; was wäre
denn zu schaffen, wenn Götter - da wären!
Aber zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein inbrün-
stiger Schaffens-Wille; so treibt's den Hammer hin zum Steine.
Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner
Bilder! Ach, dass es im härtesten, hässlichsten Steine schlafen
muss!
Nun wüthet mein Hammer grausam gegen sein Gefängniss. Vom
Steine stäuben Stücke: was schiert mich das?
Vollenden will ich's: denn ein Schatten kam zu mir - aller Dinge
Stillstes und Leichtestes kam einst zu mir!
Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten. Ach, mei-
ne Brüder! Was gehen mich noch - die Götter an! -
Also sprach Zarathustra.

2.3 Von den Mitleidigen

Meine Freunde, es kam eine Spottrede zu eurem Freunde: »seht


nur Zarathustra! Wandelt er nicht unter uns wie unter Thieren?«
Aber so ist es besser geredet: »der Erkennende wandelt unter
Menschen als unter Thieren.«
Der Mensch selber aber heisst dem Erkennenden: das Thier, das
rothe Backen hat.
Wie geschah ihm das? Ist es nicht, weil er sich zu oft hat schämen
müssen?
2.3. VON DEN MITLEIDIGEN 79

Oh meine Freunde! So spricht der Erkennende: Scham, Scham,


Scham - das ist die Geschichte des Menschen!
Und darum gebeut sich der Edle, nicht zu beschämen: Scham ge-
beut er sich vor allem Leidenden.
Wahrlich, ich mag sie nicht, die Barmherzigen, die selig sind in
ihrem Mitleiden: zu sehr gebricht es ihnen an Scham.
Muss ich mitleidig sein, so will ich's doch nicht heissen; und wenn
ich's bin, dann gern aus der Ferne.
Gerne verhülle ich auch das Haupt und fliehe davon, bevor ich
noch erkannt bin: und also heisse ich euch thun, meine Freunde!
Möge mein Schicksal mir immer Leidlose, gleich euch, über den
Weg führen, und Solche, mit denen mir Hoffnung und Mahl und
Honig gemein sein darf!
Wahrlich, ich that wohl Das und jenes an Leidenden: aber Bes-
seres schien ich mir stets zu thun, wenn ich lernte, mich besser
freuen.
Seit es Menschen giebt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut:
Das allein, meine Brüder, ist unsre Erbsünde!
Und lernen wir besser uns freuen, so verlernen wir am besten,
Andern wehe zu thun und Wehes auszudenken.
Darum wasche ich mir die Hand, die dem Leidenden half, darum
wische ich mir auch noch die Seele ab.
Denn dass ich den Leidenden leidend sah, dessen schämte ich
mich um seiner Scham willen; und als ich ihm half, da vergieng
ich mich hart an seinem Stolze.
Grosse Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rach-
süchtig; und wenn die kleine Wohlthat nicht vergessen wird, so
wird noch ein Nage-Wurm daraus.
»Seid spröde im Annehmen! Zeichnet aus damit, dass ihr an-
nehmt!« - also rathe ich Denen, die Nichts zu verschenken haben.
Ich aber bin ein Schenkender: gerne schenke ich, als Freund den
Freunden. Fremde aber und Arme mögen sich die Frucht selber
von meinem Baume pflücken: so beschämt es weniger.
Bettler aber sollte man ganz abschaffen! Wahrlich, man ärgert
sich ihnen zu geben und, ärgert sich ihnen nicht zu geben.
80 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Und insgleichen die Sünder und bösen Gewissen! Glaubt mir, mei-
ne Freunde: Gewissensbisse erziehn zum Beissen.
Das Schlimmste aber sind die kleinen Gedanken. Wahrlich, besser
noch bös gethan, als klein gedacht!
Zwar ihr sagt: »die Lust an kleinen Bosheiten erspart uns manche
grosse böse That.« Aber hier sollte man nicht sparen wollen.
Wie ein Geschwür ist die böse That: sie juckt und kratzt und bricht
heraus, - sie redet ehrlich.
»Siehe, ich bin Krankheit« - so redet die böse That; das ist ihre
Ehrlichkeit.
Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke: er kriecht und duckt
sich und will nirgendswo sein - bis der ganze Leib morsch und welk
ist vor kleinen Pilzen.
Dem aber, der vom Teufel besessen ist, sage ich diess Wort in's
Ohr: »besser noch, du ziehest deinen Teufel gross! Auch für dich
giebt es noch einen Weg der Grösse!« -
Ach, meine Brüder! Man weiss von Jedermann Etwas zu viel! Und
Mancher wird uns durchsichtig, aber desshalb können wir noch
lange nicht durch ihn hindurch.
Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen so schwer
ist.
Und nicht gegen Den, der uns zuwider ist, sind wir am unbilligsten,
sondern gegen Den, welcher uns gar Nichts angeht.
Hast du aber einen leidenden Freund, so sei seinem Leiden eine
Ruhestätte, doch gleichsam ein hartes Bett, ein Feldbett: so wirst
du ihm am besten nützen.
Und thut dir ein Freund Übles, so sprich: »ich vergebe dir, was
du mir thatest; dass du es aber dir thatest, - wie könnte ich das
vergeben!«
Also redet alle grosse Liebe: die überwindet auch noch Vergebung
und Mitleiden.
Man soll sein Herz festhalten; denn lässt man es gehn, wie bald
geht Einem da der Kopf durch!
Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den
Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid, als die Thor-
2.4. VON DEN PRIESTERN 81

heiten der Mitleidigen?


Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche
über ihrem Mitleiden ist!
Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle:
das ist seine Liebe zu den Menschen.«
Und jüngst hörte ich ihn diess Wort sagen: »Gott ist todt; an sei-
nem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.« -
So seid mir gewarnt vordem Mitleiden: daher kommt noch den
Menschen eine schwere Wolke! Wahrlich, ich verstehe mich auf
Wetterzeichen!
Merket aber auch diess Wort: alle grosse Liebe ist noch über all
ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch - schaffen!
»Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, und meinen Nächsten
gleich mir« - so geht die Rede allen Schaffenden.
Alle Schaffenden aber sind hart. -
Also sprach Zarathustra.

2.4 Von den Priestern

Und einstmals gab Zarathustra seinen Jüngern ein Zeichen und


sprach diese Worte zu ihnen:
»Hier sind Priester: und wenn es auch meine Feinde sind, geht mir
still an ihnen vorüber und mit schlafendem Schwerte!
Auch unter ihnen sind Helden; Viele von ihnen litten zuviel -: so
wollen sie Andre leiden machen.
Böse Feinde sind sie: Nichts ist rachsüchtiger als ihre Demuth.
Und leicht besudelt sich Der, welcher sie angreift.
Aber mein Blut ist mit dem ihren verwandt; und ich will mein Blut
auch noch in dem ihren geehrt wissen.« -
Und als sie vorüber gegangen waren, fiel Zarathustra der Schmerz
an; und nicht lange hatte er mit seinem Schmerze gerungen, da
hub er also an zu reden:
Es jammert mich dieser Priester. Sie gehen mir auch wider den
82 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Geschmack; aber das ist mir das Geringste, seit ich unter Men-
schen bin.
Aber ich leide und litt mit ihnen: Gefangene sind es mir und Abge-
zeichnete. Der, welchen sie Erlöser nennen, schlug sie in Banden:
-
In Banden falscher Werthe und Wahn-Worte! Ach dass Einer sie
noch von ihrem Erlöser erlöste!
Auf einem Eilande glaubten sie einst zu landen, als das Meer sie
herumriss; aber siehe, es war ein schlafendes Ungeheuer!
Falsche Werthe und Wahn-Worte: das sind die schlimmsten Un-
geheuer für Sterbliche, - lange schläft und wartet in ihnen das
Verhängniss.
Aber endlich kommt es und wacht und frisst und schlingt, was auf
ihm sich Hütten baute.
Oh seht mir doch diese Hütten an, die sich diese Priester bauten!
Kirchen heissen sie ihre süssduftenden Höhlen.
Oh über diess verfälschte Licht, diese versumpfte Luft! Hier, wo
die Seele zu ihrer Höhe hinauf - nicht fliegen darf!
Sondern also gebietet ihr Glaube: »auf den Knien die Treppe hin-
an, ihr Sünder!«
Wahrlich, lieber sehe ich noch den Schamlosen, als die verrenkten
Augen ihrer Scham und Andacht!
Wer schuf sich solche Höhlen und Buss-Treppen? Waren es nicht
Solche, die sich verbergen wollten und sich vor dem reinen Him-
mel schämten?
Und erst wenn der reine Himmel wieder durch zerbrochne Decken
blickt, und hinab auf Gras und rothen Mohn an zerbrochnen Mau-
ern, - will ich den Stätten dieses Gottes wieder mein Herz zuwen-
den.
Sie nannten Gott, was ihnen widersprach und wehe that: und
wahrlich, es war viel Helden-Art in ihrer Anbetung!
Und nicht anders wussten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie
den Menschen an's Kreuz schlugen!
Als Leichname gedachten sie zu leben, schwarz schlugen sie ih-
ren Leichnam aus; auch aus ihren Reden rieche ich noch die üble
2.4. VON DEN PRIESTERN 83

Würze von Todtenkammern.


Und wer ihnen nahe lebt, der lebt schwarzen Teichen nahe, aus
denen heraus die Unke ihr Lied mit süssem Tiefsinne singt.
Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser
glauben lerne: erlöster müssten mir seine jünger aussehen!
Nackt möchte ich sie sehn: denn allein die Schönheit sollte Busse
predigen. Aber wen überredet wohl diese vermummte Trübsal!
Wahrlich, ihre Erlöser selber kamen nicht aus der Freiheit und der
Freiheit siebentem Himmel! Wahrlich, sie selber wandelten nie-
mals auf den Teppichen der Erkenntniss!
Aus Lücken bestand der Geist dieser Erlöser; aber in jede Lücke
hatten sie ihren Wahn gestellt, ihren Lückenbüsser, den sie Gott
nannten.
In ihrem Mitleiden war ihr Geist ertrunken, und wenn sie schwollen
und überschwollen von Mitleiden, schwamm immer obenauf eine
grosse Thorheit.
Eifrig trieben sie und mit Geschrei ihre Heerde über ihren Steg:
wie als ob es zur Zukunft nur Einen Steg gäbe! Wahrlich, auch
diese Hirten gehörten noch zu den Schafen!
Kleine Geister und umfängliche Seelen hatten diese Hirten: aber,
meine Brüder, was für kleine Länder waren bisher auch die um-
fänglichsten Seelen!
Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre
Thorheit lehrte, dass man mit Blut die Wahrheit beweise.
Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet
die reinste Lehre noch zu Wahn und Hass der Herzen.
Und wenn Einer durch's Feuer geht für seine Lehre, - was beweist
diess! Mehr ist's wahrlich, dass aus eignem Brande die eigne Leh-
re kommt!
Schwüles Herz und kalter Kopf: wo diess zusammentrifft, da ent-
steht der Brausewind, der »Erlöser«.
Grössere gab es wahrlich und Höher-Geborene, als Die, welche
das Volk Erlöser nennt, diese hinreissenden Brausewinde!
Und noch von Grösseren, als alle Erlöser waren, müsst ihr, meine
Brüder, erlöst werden, wollt ihr zur Freiheit den Weg finden!
84 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich Beide,


den grössten und den kleinsten Menschen: -
Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den Grössten
fand ich - allzumenschlich!
Also sprach Zarathustra.

2.5 Von den Tugendhaften

Mit Donnern und himmlischen Feuerwerken muss man zu schlaf-


fen und schlafenden Sinnen reden.
Aber der Schönheit Stimme redet leise: sie schleicht sich nur in
die aufgewecktesten Seelen.
Leise erbebte und lachte mir heut mein Schild; das ist der Schön-
heit heiliges Lachen und Beben.
Über euch, ihr Tugendhaften, lachte heut meine Schönheit. Und
also kam ihre Stimme zu mir: »sie wollen noch - bezahlt sein!«
Ihr wollt noch bezahlt sein, ihr Tugendhaften! Wollt Lohn für Tu-
gend und Himmel für Erden und Ewiges für euer Heute haben?
Und nun zürnt ihr mir, dass ich lehre, es giebt keinen Lohn- und
Zahlmeister? Und wahrlich, ich lehre nicht einmal, dass Tugend
ihr eigener Lohn ist.
Ach, das ist meine Trauer: in den Grund der Dinge hat man Lohn
und Strafe hineingelogen - und nun auch noch in den Grund eurer
Seelen, ihr Tugendhaften!
Aber dem Rüssel des Ebers gleich soll mein Wort den Grund eurer
Seelen aufreissen; Pflugschar will ich euch heissen.
Alle Heimlichkeiten eures Grundes sollen an's Licht; und wenn ihr
aufgewühlt und zerbrochen in der Sonne liegt, wird auch eure Lü-
ge von eurer Wahrheit ausgeschieden sein.
Denn diess ist eure Wahrheit: ihr seid zu reinlich für den Schmutz
der Worte: Rache, Strafe, Lohn, Vergeltung.
Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind; aber wann hörte
man, dass eine Mutter bezahlt sein wollte für ihre Liebe?
Es ist euer liebstes Selbst, eure Tugend. Des Ringes Durst ist in
2.5. VON DEN TUGENDHAFTEN 85

euch: sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich
jeder Ring.
Und dem Sterne gleich, der erlischt, ist jedes Werk eurer Tugend:
immer ist sein Licht noch unterwegs und wandert - und wann wird
es nicht mehr unterwegs sein?
Also ist das Licht eurer Tugend noch unterwegs, auch wenn das
Werk gethan ist. Mag es nun vergessen und todt sein: sein Strahl
von Licht lebt noch und wandert.
Dass eure Tugend euer Selbst sei und nicht ein Fremdes, eine
Haut, eine Bemäntelung: das ist die Wahrheit aus dem Grunde
eurer Seele, ihr Tugendhaften! -
Aber wohl giebt es Solche, denen Tugend der Krampf unter einer
Peitsche heisst: und ihr habt mir zuviel auf deren Geschrei gehört!
Und Andre giebt es, die heissen Tugend das Faulwerden ihrer La-
ster; und wenn ihr Hass und ihre Eifersucht einmal die Glieder
strecken, wird ihre »Gerechtigkeit« munter und reibt sich die ver-
schlafenen Augen.
Und Andre giebt es, die werden abwärts gezogen: ihre Teufel ziehn
sie. Aber je mehr sie sinken, um so glühender leuchtet ihr Auge
und die Begierde nach ihrem Gotte.
Ach, auch deren Geschrei drang zu euren Ohren, ihr Tugendhaf-
ten: was ich nicht bin, das, das ist mir Gott und Tugend!'
Und Andre giebt es, die kommen schwer und knarrend daher,
gleich Wägen, die Steine abwärts fahren: die reden viel von Würde
und Tugend, - ihren Hemmschuh heissen sie Tugend!
Und Andre giebt es, die sind gleich Alltags-Uhren, die aufgezo-
gen wurden; sie machen ihr Tiktak und wollen, dass man Tiktak -
Tugend heisse.
Wahrlich, an Diesen habe ich meine Lust: wo ich solche Uhren
finde, werde ich sie mit meinem Spotte aufziehn; und sie sollen
mir dabei noch schnurren!
Und Andre sind stolz über ihre Handvoll Gerechtigkeit und bege-
hen um ihrerwillen Frevel an allen Dingen: also dass die Welt in
ihrer Ungerechtigkeit ertränkt wird.
Ach, wie übel ihnen das Wort »Tugend« aus dem Munde läuft! Und
wenn sie sagen: »ich bin gerecht,« so klingt es immer gleich wie:
86 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

»ich bin gerächt!«


Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen;
und sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen.
Und wiederum giebt es Solche, die sitzen in ihrem Sumpfe und
reden also heraus aus dem Schilfrohr: »Tugend - das ist still im
Sumpfe sitzen.
Wir beissen Niemanden und gehen Dem aus dem Wege, der beis-
sen will; und in Allem haben wir die Meinung, die man uns giebt.«
Und wiederum giebt es Solche, die lieben Gebärden und denken:
Tugend ist eine Art Gebärde.
Ihre Kniee beten immer an, und ihre Hände sind Lobpreisungen
der Tugend, aber ihr Herz weiss Nichts davon.
Und wiederum giebt es Solche, die halten es für Tugend, zu sagen:
»Tugend ist nothwendig«; aber sie glauben im Grunde nur daran,
dass Polizei nothwendig ist.
Und Mancher, der das Hohe an den Menschen nicht sehen kann,
nennt es Tugend, dass er ihr Niedriges allzunahe sieht: also heisst
er seinen bösen Blick Tugend.
Und Einige wollen erbaut und aufgerichtet sein und heissen es
Tugend; und Andre wollen umgeworfen sein - und heissen es auch
Tugend.
Und derart glauben fast Alle daran, Antheil zu haben an der Tu-
gend; und zum Mindesten will ein jeder Kenner sein über »gut«
und »böse«.
Aber nicht dazu kam Zarathustra, allen diesen Lügnern und Nar-
ren zu sagen: »was wisst ihr von Tugend! Was könntet ihr von
Tugend wissen!« -
Sondern, dass ihr, meine Freunde, der alten Worte müde würdet,
welche ihr von den Narren und Lügnern gelernt habt:
Müde würdet der Worte »Lohn,« »Vergeltung,« »Strafe,« »Rache
in der Gerechtigkeit« -
Müde würdet zu sagen: »dass eine Handlung gut ist, das macht,
sie ist selbstlos.«
Ach, meine Freunde! Dass euer Selbst in der Handlung sei, wie
die Mutter im Kinde ist: das sei mir euer Wort von Tugend!
2.6. VOM GESINDEL 87

Wahrlich, ich nahm euch wohl hundert Worte und eurer Tugend
liebste Spielwerke; und nun zürnt ihr mir, wie Kinder zürnen.
Sie spielten am Meere, - da kam die Welle und riss ihnen ihr Spiel-
werk in die Tiefe: nun weinen sie.
Aber die selbe Welle soll ihnen neue Spielwerke bringen und neue
bunte Muscheln vor sie hin ausschütten!
So werden sie getröstet sein; und gleich ihnen sollt auch ihr, mei-
ne Freunde, eure Tröstungen haben - und neue bunte Muscheln!
-
Also sprach Zarathustra.

2.6 Vom Gesindel

Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt,
da sind alle Brunnen vergiftet.
Allem Reinlichen bin ich hold; aber ich mag die grinsenden Mäuler
nicht sehn und den Durst der Unreinen.
Sie warfen ihr Auge hinab in den Brunnen: nun glänzt mir ihr wid-
riges Lächeln herauf aus dem Brunnen.
Das heilige Wasser haben sie vergiftet mit ihrer Lüsternheit; und
als sie ihre schmutzigen Träume Lust nannten, vergifteten sie auch
noch die Worte.
Unwillig wird die Flamme, wenn sie ihre feuchten Herzen an's Feu-
er legen; der Geist selber brodelt und raucht, wo das Gesindel an's
Feuer tritt.
Süsslich und übermürbe wird in ihrer Hand die Frucht: windfällig
und wipfeldürr macht ihr Blick den Fruchtbaum.
Und Mancher, der sich vom Leben abkehrte, kehrte sich nur vom
Gesindel ab: er wollte nicht Brunnen und Flamme und Frucht mit
dem Gesindel theilen.
Und Mancher, der in die Wüste gieng und mit Raubthieren Durst
litt, wollte nur nicht mit schmutzigen Kameeltreibern um die Ci-
sterne sitzen.
Und Mancher, der wie ein Vernichter daher kam und wie ein Hagel-
88 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

schlag allen Fruchtfeldern, wollte nur seinen Fuss dem Gesindel


in den Rachen setzen und also seinen Schlund stopfen.
Und nicht das ist der Bissen, an dem ich am meisten würgte, zu
wissen, dass das Leben selber Feindschaft nöthig hat und Sterben
und Marterkreuze: -
Sondern ich fragte einst und erstickte fast an meiner Frage: wie?
hat das Leben auch das Gesindel nöthig?
Sind vergiftete Brunnen nöthig und stinkende Feuer und beschmutz-
te Träume und Maden im Lebensbrode?
Nicht mein Hass, sondern mein Ekel frass mir hungrig am Leben!
Ach, des Geistes wurde ich oft müde, als ich auch das Gesindel
geistreich fand!
Und den Herrschenden wandt'ich den Rücken, als ich sah, was sie
jetzt Herrschen nennen: schachern und markten um Macht - mit
dem Gesindel!
Unter Völkern wohnte ich fremder Zunge, mit verschlossenen Oh-
ren: dass mir ihres Schacherns Zunge fremd bliebe und ihr Mark-
ten um Macht.
Und die Nase mir haltend, gieng ich unmuthig durch alles Gestern
und Heute: wahrlich, übel riecht alles Gestern und Heute nach
dem schreibenden Gesindel!
Einem Krüppel gleich, der taub und blind und stumm wurde: also
lebte ich lange, dass ich nicht mit Macht- und Schreib- und Lust-
Gesindel lebte.
Mühsam stieg mein Geist Treppen, und vorsichtig; Almosen der
Lust waren sein Labsal; am Stabe schlich dem Blinden das Leben.
Was geschah mir doch? Wie erlöste ich mich vom Ekel? Wer ver-
jüngte mein Auge? Wie erflog ich die Höhe, wo kein Gesindel mehr
am Brunnen sitzt?
Schuf mein Ekel selber mir Flügel und quellenahnende Kräfte?
Wahrlich, in's Höchste musste ich fliegen, dass ich den Born der
Lust wiederfände!
Oh, ich fand ihn, meine Brüder! Hier im Höchsten quillt mir der
Born der Lust! Und es giebt ein Leben, an dem kein Gesindel mit
trinkt!
Fast zu heftig strömst du mir, Quell der Lust! Und oft leerst du den
2.6. VOM GESINDEL 89

Becher wieder, dadurch dass du ihn füllen willst!


Und noch muss ich lernen, bescheidener dir zu nahen: allzuheftig
strömt dir noch mein Herz entgegen: -
Mein Herz, auf dem mein Sommer brennt, der kurze, heisse, schwer-
müthige, überselige: wie verlangt mein Sommer-Herz nach deiner
Kühle!
Vorbei die zögernde Trübsal meines Frühlings! Vorüber die Bos-
heit meiner Schneeflocken im Juni! Sommer wurde ich ganz und
Sommer-Mittag!
Ein Sommer im Höchsten mit kalten Quellen und seliger Stille: oh
kommt, meine Freunde, dass die Stille noch seliger werde! Denn
diess ist unsre Höhe und unsre Heimat: zu hoch und steil wohnen
wir hier allen Unreinen und ihrem Durste. Werft nur eure reinen
Augen in den Born meiner Lust, ihr Freunde! Wie sollte er darob
trübe werden! Entgegenlachen soll er euch mit seiner Reinheit.
Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest; Adler sollen uns
Einsamen Speise bringen in ihren Schnäbeln!
Wahrlich, keine Speise, an der Unsaubere mitessen dürften! Feuer
würden sie zu fressen wähnen und sich die Mäuler verbrennen!
Wahrlich, keine Heimstätten halten wir hier bereit für Unsaube-
re! Eishöhle würde ihren Leibern unser Glück heissen und ihren
Geistern!
Und wie starke Winde wollen wir über ihnen leben, Nachbarn den
Adlern, Nachbarn dem Schnee, Nachbarn der Sonne: also leben
starke Winde.
Und einem Winde gleich will ich einst noch zwischen sie blasen
und mit meinem Geiste ihrem Geiste den Athem nehmen: so will
es meine Zukunft.
Wahrlich, ein starker Wind ist Zarathustra allen Niederungen; und
solchen Rath räth er seinen Feinden und Allem, was spuckt und
speit: hütet euch gegen den Wind zu speien!"
Also sprach Zarathustra.
90 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

2.7 Von den Taranteln

Siehe, das ist der Tarantel Höhle! Willst du sie selber sehn? Hier
hängt ihr Netz: rühre daran, dass es erzittert.
Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf dei-
nem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch,
was in deiner Seele sitzt.
Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwar-
zer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!
Also rede ich zu euch im Gleichniss, die ihr die Seelen drehend
macht, ihr Prediger der Gleichheit! Taranteln seid ihr mir und ver-
steckte Rachsüchtige!
Aber ich will eure Verstecke schon an's Licht bringen: darum lache
ich euch in's Antlitz mein Gelächter der Höhe.
Darum reisse ich an eurem Netze, dass eure Wuth euch aus eurer
Lügen-Höhle locke, und eure Rache hervorspringe hinter eurem
Wort »Gerechtigkeit.«
Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die
Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen
Unwettern.
Aber anders wollen es freilich die Taranteln. »Das gerade heisse
uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern
unsrer Rache« - also reden sie mit einander.
»Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht
gleich sind« - so geloben sich die Tarantel-Herzen.
Und »Wille zur Gleichheit« - das selber soll fürderhin der Name für
Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser
Geschrei erheben!«
Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht
schreit also aus euch nach »Gleichheit«: eure heimlichsten Tyrannen-
Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte!
Vergrämter Dünkel, verhaltener Neid, vielleicht eurer Väter Dün-
kel und Neid: aus euch bricht's als Flamme heraus und Wahnsinn
der Rache.
Was der Vater schwieg, das kommt im Sohne zum Reden; und oft
2.7. VON DEN TARANTELN 91

fand ich den Sohn als des Vaters entblösstes Geheimniss.


Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was
sie begeistert, - sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt
werden, ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein und
kalt macht.
Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist
das Merkmal ihrer Eifersucht - immer gehn sie zu weit: dass ihre
Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss.
Aus jeder ihrer Klagen tönt Rache, in jedem ihrer Lobsprüche ist
ein Wehethun; und Richter-sein scheint ihnen Seligkeit.
Also aber rathe ich euch, meine Freunde: misstraut Allen, in wel-
chen der Trieb, zu strafen, mächtig ist!
Das ist Volk schlechter Art und Abkunft; aus ihren Gesichtern blickt
der Henker und der Spürhund.
Misstraut allen Denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden! Wahr-
lich, ihren Seelen fehlt es nicht nur an Honig.
Und wenn sie sich selber »die Guten und Gerechten« nennen, so
vergesst nicht, dass ihnen zum Pharisäer Nichts fehlt als - Macht!
Meine Freunde, ich will nicht vermischt und verwechselt werden.
Es giebt Solche, die predigen meine Lehre vom Leben: und zu-
gleich sind sie Prediger der Gleichheit und Taranteln.
Dass sie dem Leben zu Willen reden, ob sie gleich in ihrer Höhle
sitzen, diese Gift-Spinnen, und abgekehrt vom Leben: das macht,
sie wollen damit wehethun.
Solchen wollen sie damit wehethun, die jetzt die Macht haben:
denn bei diesen ist noch die Predigt vom Tode am besten zu Hau-
se.
Wäre es anders, so würden die Taranteln anders lehren: und ge-
rade sie waren ehemals die besten Welt-Verleumder und Ketzer-
Brenner.
Mit diesen Predigern der Gleichheit will ich nicht vermischt und
verwechselt sein. Denn so redet mir die Gerechtigkeit: »die Men-
schen sind nicht gleich.«
Und sie sollen es auch nicht werden! Was wäre denn meine Liebe
zum Übermenschen, wenn ich anders spräche?
92 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Auf tausend Brücken und Stegen sollen sie sich drängen zur Zu-
kunft, und immer mehr Krieg und Ungleichheit soll zwischen sie
gesetzt sein: so lässt mich meine grosse Liebe reden!
Erfinder von Bildern und Gespenstern sollen sie werden in ihren
Feindschaften, und mit ihren Bildern und Gespenstern sollen sie
noch gegeneinander den höchsten Kampf kämpfen!
Gut und Böse, und Reich und Arm, und Hoch und Gering, und alle
Namen der Werthe: Waffen sollen es sein und klirrende Merkma-
le davon, dass das Leben sich immer wieder selber überwinden
muss!
In die Höhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben
selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen
Schönheiten, - darum braucht es Höhe!
Und weil es Höhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der
Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich
überwinden.
Und seht mir doch, meine Freunde! Hier, wo der Tarantel Höhle
ist, heben sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts, - seht mir
doch mit erleuchteten Augen hin!
Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürm-
te, um das Geheimniss alles Lebens wusste er gleich dem Weise-
sten!
Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei und
Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlich-
sten Gleichniss.
Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen brechen, im Ringkamp-
fe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die
göttlich-Strebenden -
Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde!
Göttlich wollen wir wider einander streben! -
Wehe! Da biss mich selber die Tarantel, meine alte Feindin! Gött-
lich sicher und schön biss sie mich in den Finger!
»Strafe muss sein und Gerechtigkeit - so denkt sie: nicht umsonst
soll er hier der Feindschaft zu Ehren Lieder singen!«
Ja, sie hat sich gerächt! Und wehe! nun wird sie mit Rache auch
noch meine Seele drehend machen!
2.8. VON DEN BERÜHMTEN WEISEN 93

Dass ich mich aber nicht drehe, meine Freunde, bindet mich fest
hier an diese Säule! Lieber noch Säulen-Heiliger will ich sein, als
Wirbel der Rachsucht!
Wahrlich, kein Dreh- und Wirbelwind ist Zarathustra; und wenn er
ein Tänzer ist, nimmermehr doch ein Tarantel-Tänzer! -
Also sprach Zarathustra.

2.8 Von den berühmten Weisen

Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes Aberglauben, ihr be-
rühmten Weisen alle! - und nicht der Wahrheit! Und gerade darum
zollte man euch Ehrfurcht.
Und darum auch ertrug man euren Unglauben, weil er ein Witz
und Umweg war zum Volke. So lässt der Herr seine Sclaven ge-
währen und ergötzt sich noch an ihrem Übermuthe.
Aber wer dem Volke verhasst ist wie ein Wolf den Hunden: das ist
der freie Geist, der Fessel-Feind, der Nicht-Anbeter, der in Wäldern
Hausende.
Ihn zu jagen aus seinem Schlupfe - das hiess immer dem Vol-
ke »Sinn für das Rechte«: gegen ihn hetzt es noch immer seine
scharfzahnigsten Hunde.
»Denn die Wahrheit ist da: ist das Volk doch da! Wehe, wehe den
Suchenden!« - also scholl es von jeher.
Eurem Volke wolltet ihr Recht schaffen in seiner Verehrung: das
hiesset ihr »Wille zur Wahrheit,« ihr berühmten Weisen!
Und euer Herz sprach immer zu sich: »vom Volke kam ich: von
dort her kam mir auch Gottes Stimme.«
Hart-nackig und klug, dem Esel gleich, wart ihr immer als des
Volkes Fürsprecher.
Und mancher Mächtige, der gut fahren wollte mit dem Volke, spann-
te vor seine Rosse noch - ein Eselein, einen berühmten Weisen.
Und nun wollte ich, ihr berühmten Weisen, ihr würfet endlich das
Fell des Löwen ganz von euch!
Das Fell des Raubthiers, das buntgefleckte, und die Zotten des
94 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Forschenden, Suchenden, Erobernden!


Ach, dass ich an eure »Wahrhaftigkeit« glauben lerne, dazu müs-
stet ihr mir erst euren verehrenden Willen zerbrechen.
Wahrhaftig - so heisse ich Den, der in götterlose Wüsten geht und
sein verehrendes Herz zerbrochen hat.
Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne schielt er wohl
durstig nach den quellenreichen Eilanden, wo Lebendiges unter
dunkeln Bäumen ruht.
Aber sein Durst überredet ihn nicht, diesen Behaglichen gleich zu
werden: denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder.
Hungernd, gewaltthätig, einsam, gottlos: so will sich selber der
Löwen-Wille.
Frei von dem Glück der Knechte, erlöst von Göttern und Anbetun-
gen, furchtlos und fürchterlich, gross und einsam: so ist der Wille
des Wahrhaftigen.
In der Wüste wohnten von je die Wahrhaftigen, die freien Geister,
als der Wüste Herren; aber in den Städten wohnen die gutgefüt-
terten, berühmten Weisen, - die Zugthiere.
Immer nämlich ziehen sie, als Esel - des Volkes Karren!
Nicht dass ich ihnen darob zürne: aber Dienende bleiben sie mir
und Angeschirrte, auch wenn sie von goldnem Geschirre glänzen.
Und oft waren sie gute Diener und preiswürdige. Denn so spricht
die Tugend: musst du Diener sein, so suche Den, welchem dein
Dienst am besten nützt!
»Der Geist und die Tugend deines Herrn sollen wachsen, dadurch
dass du sein Diener bist: so wächsest du selber mit seinem Geiste
und seiner Tugend!«
Und wahrlich, ihr berühmten Weisen, ihr Diener des Volkes! Ihr
selber wuchset mit des Volkes Geist und Tugend - und das Volk
durch euch! Zu euren Ehren sage ich das!
Aber Volk bleibt ihr mir auch noch in euren Tugenden, Volk mit
blöden Augen, - Volk, das nicht weiss, was Geist ist!
Geist ist das Leben, das selber in's Leben schneidet: an der eignen
Qual mehrt es sich das eigne Wissen, - wusstet ihr das schon?
Und des Geistes Glück ist diess: gesalbt zu sein und durch Thrä-
2.8. VON DEN BERÜHMTEN WEISEN 95

nen geweiht zum Opferthier, - wusstet ihr das schon?


Und die Blindheit des Blinden und sein Suchen und Tappen soll
noch von der Macht der Sonne zeugen, in die er schaute, - wusstet
ihr das schon?
Und mit Bergen soll der Erkennende bauen lernen! Wenig ist es,
dass der Geist Berge versetzt, - wusstet ihr das schon?
Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Ambos nicht,
der er ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers!
Wahrlich, ihr kennt des Geistes Stolz nicht! Aber noch weniger
würdet ihr des Geistes Bescheidenheit ertragen, wenn sie einmal
reden wollte!
Und niemals noch durftet ihr euren Geist in eine Grube von Schnee
werfen: ihr seid nicht heiss genug dazu! So kennt ihr auch die Ent-
zückungen seiner Kälte nicht.
In Allem aber thut ihr mir zu vertraulich mit dem Geiste; und
aus der Weisheit machtet ihr oft ein Armen- und Krankenhaus für
schlechte Dichter.
Ihr seid keine Adler: so erfuhrt ihr auch das Glück im Schrekken
des Geistes nicht. Und wer kein Vogel ist, soll sich nicht über Ab-
gründen lagern.
Ihr seid mir Laue: aber kalt strömt jede tiefe Erkenntniss. Eiskalt
sind die innersten Brunnen des Geistes: ein Labsal heissen Hän-
den und Handelnden.
Ehrbar steht ihr mir da und steif und mit geradem Rücken, ihr
berühmten Weisen! - euch treibt kein starker Wind und Wille.
Saht ihr nie ein Segel über das Meer gehn, geründet und gebläht
und zitternd vor dem Ungestüm des Windes?
Dem Segel gleich, zitternd vor dem Ungestüm des Geistes, geht
meine Weisheit über das Meer - meine wilde Weisheit!
Aber ihr Diener des Volkes, ihr berühmten Weisen, - wie könntet
ihr mit mir gehn! -
Also sprach Zarathustra.
96 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

2.9 Das Nachtlied

Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch
meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und
auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.
Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine
Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der
Liebe.
Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre! Aber diess ist meine Ein-
samkeit, dass ich von Licht umgürtet bin.
Ach, dass ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brü-
sten des Lichts saugen!
Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelster-
ne und Leuchtwürmer droben! - und selig sein ob eurer Licht-
Geschenke.
Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in
mich zurück, die aus mir brechen.
Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir
davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als Nehmen.
Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom
Schenken; das ist mein Neid, dass ich wartende Augen sehe und
die erhellten Nächte der Sehnsucht.
Oh Unseligkeit aller Schenkenden! Oh Verfinsterung meiner Son-
ne! Oh Begierde nach Begehren! Oh Heisshunger in der Sätti-
gung!
Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft
ist zwischen Geben und Nehmen; und die kleinste Kluft ist am
letzten zu überbrücken.
Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehethun möchte ich
Denen, welchen ich leuchte, berauben möchte ich meine Beschenk-
ten: - also hungere ich nach Bosheit.
Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entge-
genstreckt; dem Wasserfälle gleich zögernd, der noch im Sturze
zögert: - also hungere ich nach Bosheit.
2.9. DAS NACHTLIED 97

Solche Rache sinnt meine Fülle aus; solche Tücke quillt aus meiner
Einsamkeit.
Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wur-
de ihrer selber müde an ihrem Überflusse!
Wer immer schenkt, dessen Gefahr ist, dass er die Scham verliere;
wer immer austheilt, dessen Hand und Herz hat Schwielen vor
lauter Austheilen.
Mein Auge quillt nicht mehr über vor der Scham der Bittenden;
meine Hand wurde zu hart für das Zittern gefüllter Hände.
Wohin kam die Thräne meinem Auge und der Flaum meinem Her-
zen? Oh Einsamkeit aller Schenkenden! Oh Schweigsamkeit aller
Leuchtenden!
Viel Sonnen kreisen im öden Räume: zu Allem, was dunkel ist,
reden sie mit ihrem Lichte, - mir schweigen sie.
Oh diess ist die Feindschaft des Lichts gegen Leuchtendes, erbar-
mungslos wandelt es seine Bahnen.
Unbillig gegen Leuchtendes im tiefsten Herzen: kalt gegen Son-
nen, - also wandelt jede Sonne.
Einem Sturme gleich fliegen die Sonnen ihre Bahnen, das ist ihr
Wandeln. Ihrem unerbittlichen Willen folgen sie, das ist ihre Kälte.
Oh, ihr erst seid es, ihr Dunklen, ihr Nächtigen, die ihr Wärme
schafft aus Leuchtendem! Oh, ihr erst trinkt euch Milch und Labsal
aus des Lichtes Eutern!
Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem! Ach,
Durst ist in mir, der schmachtet nach eurem Durste!
Nacht ist es: ach dass ich Licht sein muss! Und Durst nach Näch-
tigem! Und Einsamkeit!
Nacht ist es: nun bricht wie ein Born aus mir mein Verlangen, -
nach Rede verlangt mich.
Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch
meine Seele ist ein springender Brunnen.
Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und
auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. -
Also sang Zarathustra.
98 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

2.10 Das Tanzlied

Eines Abends gieng Zarathustra mit seinen Jüngern durch den


Wald; und als er nach einem Brunnen suchte, siehe, da kam er
auf eine grüne Wiese, die von Bäumen und Gebüsch still umstan-
den war: auf der tanzten Mädchen mit einander. Sobald die Mäd-
chen Zarathustra erkannten, liessen sie vom Tanze ab; Zarathu-
stra aber trat mit freundlicher Gebärde zu ihnen und sprach diese
Worte:
»Lasst vom Tanze nicht ab, ihr lieblichen Mädchen! Kein Spielver-
derber kam zu euch mit bösem Blick, kein Mädchen-Feind.
Gottes Fürsprecher bin ich vor dem Teufel: der aber ist der Geist
der Schwere. Wie sollte ich, ihr Leichten, göttlichen Tänzen feind
sein? Oder Mädchen-Füssen mit schönen Knöcheln?
Wohl bin ich ein Wald und eine Nacht dunkler Bäume: doch wer
sich vor meinem Dunkel nicht scheut, der findet auch Rosenhänge
unter meinen Cypressen.
Und auch den kleinen Gott findet er wohl, der den Mädchen der
liebste ist: neben dem Brunnen liegt er, still, mit geschlossenen
Augen.
Wahrlich, am hellen Tage schlief er mir ein, der Tagedieb! Haschte
er wohl zu viel nach Schmetterlingen?
Zürnt mir nicht, ihr schönen Tanzenden, wenn ich den kleinen Gott
ein Wenig züchtige! Schreien wird er wohl und weinen, - aber zum
Lachen ist er noch im Weinen!
Und mit Thränen im Auge soll er euch um einen Tanz bitten; und
ich selber will ein Lied zu seinem Tanze singen:
Ein Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere, meinen aller-
höchsten grossmächtigsten Teufel, von dem sie sagen, dass er
»der Herr der Welt« sei.« -
Und diess ist das Lied, welches Zarathustra sang, als Cupido und
die Mädchen zusammen tanzten.
In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben! Und in's Unergründli-
che schien ich mir da zu sinken.
Aber du zogst mich mit goldner Angel heraus; spöttisch lachtest
du, als ich dich unergründlich nannte.
2.10. DAS TANZLIED 99

»So geht die Rede aller Fische, sprachst du; was sie nicht ergrün-
den, ist unergründlich.
»Aber veränderlich bin ich nur und wild und in Allem ein Weib,
und kein tugendhaftes:
»Ob ich schon euch Männern »die Tiefe« heisse oder »die Treue«,
»die Ewige«, »die Geheimnissvolle.« -
»Doch ihr Männer beschenkt uns stets mit den eignen Tugenden
- ach, ihr Tugendhaften!«
Also lachte sie, die Unglaubliche; aber ich glaube ihr niemals und
ihrem Lachen, wenn sie bös von sich selber spricht.
Und als ich unter vier Augen mit meiner wilden Weisheit redete,
sagte sie mir zornig: »Du willst, du begehrst, du liebst, darum
allein lobst du das Leben!«
Fast hätte ich da bös geantwortet und der Zornigen die Wahrheit
gesagt; und man kann nicht böser antworten, als wenn man sei-
ner Weisheit »die Wahrheit sagt.«
So nämlich steht es zwischen uns Dreien. Von Grund aus liebe
ich nur das Leben - und, wahrlich, am meisten dann, wenn ich es
hasse!
Dass ich aber der Weisheit gut bin und oft zu gut: das macht, sie
erinnert mich gar sehr an das Leben!
Sie hat ihr Auge, ihr Lachen und sogar ihr goldnes Angelrüthchen:
was kann ich dafür, dass die Beiden sich so ähnlich sehen?
Und als mich einmal das Leben fragte: Wer ist denn das, die Weis-
heit? - da sagte ich eifrig: »Ach ja! die Weisheit!
Man dürstet um sie und wird nicht satt, man blickt durch Schleier,
man hascht durch Netze.
Ist sie schön? Was weiss ich! Aber die ältesten Karpfen werden
noch mit ihr geködert.
Veränderlich ist sie und trotzig; oft sah ich sie sich die Lippe beis-
sen und den Kamm wider ihres Haares Strich führen.
Vielleicht ist sie böse und falsch, und in Allem ein Frauenzimmer;
aber wenn sie von sich selber schlecht spricht, da gerade verführt
sie am meisten.«
Als ich diess zu dem Leben sagte, da lachte es boshaft und machte
100 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

die Augen zu. Von wem redest du doch? sagte sie, wohl von mir?
Und wenn du Recht hättest, - sagt man das mir so in's Gesicht!
Aber nun sprich doch auch von deiner Weisheit!«
Ach, und nun machtest du wieder dein Auge auf, oh geliebtes
Leben! Und in's Unergründliche schien ich mir wieder zu sinken. -
Also sang Zarathustra. Als aber der Tanz zu Ende und die Mädchen
fortgegangen waren, wurde er traurig.
»Die Sonne ist lange schon hinunter, sagte er endlich; die Wiese
ist feucht, von den Wäldern her kommt Kühle.
Ein Unbekanntes ist um mich und blickt nachdenklich. Was! Du
lebst noch, Zarathustra?
Warum? Wofür? Wodurch? Wohin? Wo? Wie? Ist es nicht Thorheit,
noch zu leben? -
Ach, meine Freunde, der Abend ist es, der so aus mir fragt. Ver-
gebt mir meine Traurigkeit!
Abend ward es: vergebt mir, dass es Abend ward!«
Also sprach Zarathustra.

2.11 Das Grablied

»Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort sind auch die
Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz
des Lebens tragen.«
Also im Herzen beschliessend fuhr ich über das Meer. -
Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen! Oh, ihr Blicke
der Liebe alle, ihr göttlichen Augenblicke! Wie starbt ihr mir so
schnell! Ich gedenke eurer heute wie meiner Todten.
Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir ein süsser Ge-
ruch, ein herz- und thränenlösender. Wahrlich, er erschüttert und
löst das Herz dem einsam Schiffenden.
Immer noch bin ich der Reichste und Bestzubeneidende - ich der
Einsamste! Denn ich hatte euch doch, und ihr habt mich noch:
sagt, wem fielen, wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume?
2.11. DAS GRABLIED 101

Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erdreich, blühend zu
eurem Gedächtnisse von bunten wildwachsenen Tugenden, oh ihr
Geliebtesten!
Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben, ihr holden
fremden Wunder; und nicht schüchternen Vögeln gleich kamt ihr
zu mir und meiner Begierde - nein, als Trauende zu dem Trauen-
den!
Ja, zur Treue gemacht, gleich mir, und zu zärtlichen Ewigkeiten:
muss ich nun euch nach eurer Untreue heissen, ihr göttlichen
Blicke und Augenblicke: keinen andern Namen lernte ich noch.
Wahrlich, zu schnell starbt ihr mir, ihr Flüchtlinge. Doch floht ihr
mich nicht, noch floh ich euch: unschuldig sind wir einander in
unsrer Untreue.
Mich zu tödten, erwürgte man euch, ihr Singvögel meiner Hoff-
nungen! Ja, nach euch, ihr Liebsten, schoss immer die Bosheit
Pfeile - mein Herz zu treffen!
Und sie traf! Wart ihr doch stets mein Herzlichstes, mein Besitz
und mein Besessen-sein: darum musstet ihr jung sterben und all-
zu frühe!
Nach dem Verwundbarsten, das ich besass, schoss man den Pfeil:
das waret ihr, denen die Haut einem Flaume gleich ist und mehr
noch dem Lächeln, das an einem Blick erstirbt!
Aber diess Wort will ich zu meinen Feinden reden: was ist alles
Menschen-Morden gegen Das, was ihr mir thatet!
Böseres thatet ihr mir, als aller Menschen-Mord ist; Unwieder-
bringliches nahmt ihr mir: - also rede ich zu euch, meine Feinde!
Mordetet ihr doch meiner Jugend Gesichte und liebste Wunder!
Meine Gespielen nahmt ihr mir, die seligen Geister! Ihrem Ge-
dächtnisse lege ich diesen Kranz und diesen Fluch nieder.
Diesen Fluch gegen euch, meine Feinde! Machtet ihr doch mein
Ewiges kurz, wie ein Ton zerbricht in kalter Nacht! Kaum als Auf-
blinken göttlicher Augen kam es mir nur, - als Augenblick!
Also sprach zur guten Stunde einst meine Reinheit: »göttlich sol-
len mir alle Wesen sein.«
Da überfielt ihr mich mit schmutzigen Gespenstern; ach, wohin
floh nun jene gute Stunde!
102 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

»Alle Tage sollen mir heilig sein« - so redete einst die Weisheit
meiner Jugend: wahrlich, einer fröhlichen Weisheit Rede!
Aber da stahlt ihr Feinde mir meine Nächte und verkauftet sie zu
schlafloser Qual: ach, wohin floh nun jene fröhliche Weisheit?
Einst begehrte ich nach glücklichen Vogelzeichen: da führtet ihr
mir ein Eulen-Unthier über den Weg, ein widriges. Ach, wohin floh
da meine zärtliche Begierde?
Allem Ekel gelobte ich einst zu entsagen: da verwandeltet ihr mei-
ne Nahen und Nächsten in Eiterbeulen. Ach, wohin floh da mein
edelstes Gelöbniss«
Als Blinder gieng ich einst selige Wege: da warft ihr Unflath auf
den Weg des Blinden: und nun ekelte ihn des alten Blinden-Fusssteigs.
Und als ich mein Schwerstes that und meiner Überwindungen
Sieg feierte: da machtet ihr Die, welche mich liebten, schrein, ich
thue ihnen am wehesten.
Wahrlich, das war immer euer Thun: ihr vergälltet mir meinen be-
sten Honig und den Fleiss meiner besten Bienen.
Meiner Mildthätigkeit sandtet ihr immer die frechsten Bettler zu;
um mein Mitleiden drängtet ihr immer die unheilbar Schamlosen.
So verwundetet ihr meine Tugend in ihrem Glauben.
Und legte ich noch mein Heiligstes zum Opfer hin: flugs stellte eu-
re »Frömmigkeit« ihre fetteren Gaben dazu: also dass im Dampfe
eures Fettes noch mein Heiligstes erstickte.
Und einst wollte ich tanzen, wie nie ich noch tanzte: über alle
Himmel weg wollte ich tanzen. Da überredetet ihr meinen liebsten
Sänger.
Und nun stimmte er eine schaurige dumpfe Weise an; ach, er tu-
tete mir, wie ein düsteres Horn, zu Ohren!
Mörderischer Sänger, Werkzeug der Bosheit, Unschuldigster! Schon
stand ich bereit zum besten Tanze: da mordetest du mit deinen
Tönen meine Verzückung!
Nur im Tanze weiss ich der höchsten Dinge Gleichniss zu reden:
- und nun blieb mir mein höchstes Gleichniss ungeredet in einen
Gliedern!
Ungeredet und unerlöst blieb mir die höchste Hoffnung! Und es
starben mir alle Gesichte und Tröstungen meiner Jugend!
2.12. VON DER SELBST-UEBERWINDUNG 103

Wie ertrug ich's nur? Wie verwand und überwand ich solche Wun-
den? Wie erstand meine Seele wieder aus diesen Gräbern?
Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an mir, ein Felsen-
sprengendes: das heisst mein Wille. Schweigsam schreitet es und
unverändert durch die Jahre.
Seinen Gang will er gehn auf meinen Füssen, mein alter Wille;
herzenshart ist ihm der Sinn und unverwundbar.
Unverwundbar bin ich allein an meiner Ferse. Immer noch lebst
du da und bist dir gleich, Geduldigster! Immer noch brachst du
dich durch alle Gräber!
In dir lebt auch noch das Unerlöste meiner Jugend; und als Leben
und Jugend sitzest du hoffend hier auf gelben Grab-Trümmern.
Ja, noch bist du mir aller Gräber Zertrümmerer: Heil dir, mein Wil-
le! Und nur wo Gräber sind, giebt es Auferstehungen. -
Also sang Zarathustra. -

2.12 Von der Selbst-Ueberwindung

»Wille zur Wahrheit« heisst ihr's, ihr Weisesten, was euch treibt
und brünstig macht?
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heisse ich euren Willen!
Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen : denn ihr zweifelt
mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist.
Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt
soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und
Widerbild.
Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht;
und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Wert-
hschätzungen. Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien
könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit.
Die Unweisen freilich, das Volk, - die sind gleich dem Flusse, auf
dem ein Nachen weiter schwimmt: und im Nachen sitzen feierlich
und vermummt die Werthschätzungen.
Euren Willen und eure Werthe setztet ihr auf den Fluss des Wer-
104 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

dens; einen alten Willen zur Macht verräth mir, was vom Volke als
gut und böse geglaubt wird.
Ihr wart es, ihr Weisesten, die solche Gäste in diesen Nachen setz-
ten und ihnen Prunk und stolze Namen gaben, - ihr und euer herr-
schender Wille!
Weiter trägt nun der Fluss euren Nachen: er muss ihn tragen. We-
nig thut's, ob die gebrochene Welle schäumt und zornig dem Kiele
widerspricht!
Nicht der Fluss ist eure Gefahr und das Ende eures Guten und
Bösen, ihr Weisesten: sondern jener Wille selber, der Wille zur
Macht, - der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.
Aber damit ihr mein Wort versteht vom Guten und Bösen: dazu
will ich euch noch mein Wort vom Leben sagen und von der Art
alles Lebendigen.
Dem Lebendigen gieng ich nach, ich gieng die grössten und die
kleinsten Wege, dass ich seine Art erkenne.
Mit hundertfachem Spiegel fieng ich noch seinen Blick auf, wenn
ihm der Mund geschlossen war: dass sein Auge mir rede. Und sein
Auge redete mir.
Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom
Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes.
Und diess ist das Zweite: Dem wird befohlen, der sich nicht selber
gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art.
Diess aber ist das Dritte, was ich hörte: dass Befehlen schwerer
ist, als Gehorchen. Und nicht nur, dass der Befehlende die Last al-
ler Gehorchenden trägt, und dass leicht ihn diese Last zerdrückt:
-
Ein Versuch und Wagniss erschien mir in allem Befehlen; und stets,
wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran.
Ja noch, wenn es sich selber befiehlt: auch da noch muss es sein
Befehlen büssen. Seinem eignen Gesetze muss es Richter und
Rächer und Opfer werden.
Wie geschieht diess doch! so fragte ich mich. Was überredet das
Lebendige, dass es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Ge-
horsam übt?
Hört mir nun mein Wort, ihr Weisesten! Prüft es ernstlich, ob ich
2.12. VON DER SELBST-UEBERWINDUNG 105

dem Leben selber in's Herz kroch und bis in die Wurzeln seines
Herzens!
Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch
im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.
Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es
sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust
allein mag es nicht entrathen.
Und wie das Kleinere sich dem Grösseren hingiebt, dass es Lust
und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste
noch hin und setzt um der Macht willen - das Leben dran.
Das ist die Hingebung des Grössten, dass es Wagniss ist und Ge-
fahr und um den Tod ein Würfelspielen.
Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da
ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der
Schwächere in die Burg und bis in's Herz dem Mächtigeren - und
stiehlt da Macht.
Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. Siehe, sprach
es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss.
»Freilich, ihr heisst es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke,
zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all diess ist Eins und
Ein Geheimniss.
»Lieber noch gehe ich unter, als dass ich diesem Einen absagte;
und wahrlich, wo es Untergang giebt und Blätterfallen, siehe, da
opfert sich Leben - um Macht!
»Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke
Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf
welchen krummen Wegen er gehen muss!
»Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, - bald muss ich
Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.
»Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fusstapfen mei-
nes Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den
Füssen deines Willens zur Wahrheit!
»Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoss
vom »Willen zum Dasein«: diesen Willen - giebt es nicht!
»Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein
ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen!
106 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

»Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben,
sondern - so lehre ich's dich - Wille zur Macht!
»Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch
aus dem Schätzen selber heraus redet - der Wille zur Macht!« -
Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr
Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens.
Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wä-
re - das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder
überwinden.
Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt,
ihr Werthschätzenden: und diess ist eure verborgene Liebe und
eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.
Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werthen und eine
neue Überwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale.
Und wer ein Schöpfer sein muss im Guten und Bösen: wahrlich,
der muss ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen.
Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist
die schöpferische. -
Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist.
Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenere Wahrheiten wer-
den giftig.
Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zer-
brechen - kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen!
Also sprach Zarathustra.

2.13 Von den Erhabenen

Still ist der Grund meines Meeres: wer erriethe wohl, dass er scherz-
hafte Ungeheuer birgt!
Unerschütterlich ist meine Tiefe: aber sie glänzt von schwimmen-
den Räthseln und Gelächtern.
Einen Erhabenen sah ich heute, einen Feierlichen, einen Büsser
des Geistes: oh wie lachte meine Seele ob seiner Hässlichkeit!
Mit erhobener Brust und Denen gleich, welche den Athem an sich
2.13. VON DEN ERHABENEN 107

ziehn: also stand er da, der Erhabene, und schweigsam:


Behängt mit hässlichen Wahrheiten, seiner Jagdbeute, und reich
an zerrissenen Kleidern; auch viele Dornen hiengen an ihm - aber
noch sah ich keine Rose.
Noch lernte er das Lachen nicht und die Schönheit. Finster kam
dieser Jäger zurück aus dem Walde der Erkenntniss.
Vom Kampfe kehrte er heim mit wilden Thieren: aber aus seinem
Ernste blickt auch noch ein wildes Thier - ein unüberwundenes!
Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich
mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack
allen diesen Zurückgezognen.
Und ihr sagt mir, Freunde, dass nicht zu streiten sei über Ge-
schmack und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack
und Schmecken!
Geschmack: das ist Gewicht zugleich und Wagschale und Wägen-
der; und wehe allem Lebendigen, das ohne Streit um Gewicht und
Wagschale und Wägende leben wollte!
Wenn er seiner Erhabenheit müde würde, dieser Erhabene: dann
erst würde seine Schönheit anheben, - und dann erst will ich ihn
schmecken und schmackhaft finden.
Und erst, wenn er sich von sich selber abwendet, wird er über
seinen eignen Schatten springen - und, wahrlich! hinein in seine
Sonne.
Allzulange sass er im Schatten, die Wangen bleichten dem Büsser
des Geistes; fast verhungerte er an seinen Erwartungen.
Verachtung ist noch in seinem Auge; und Ekel birgt sich an seinem
Munde. Zwar ruht er jetzt, aber seine Ruhe hat sich noch nicht in
die Sonne gelegt.
Dem Stiere gleich sollte er thun; und sein Glück sollte nach Erde
riechen und nicht nach Verachtung der Erde.
Als weissen Stier möchte ich ihn sehn, wie er schnaubend und
brüllend der Pflugschar vorangeht: und sein Gebrüll sollte noch
alles Irdische preisen!
Dunkel noch ist sein Antlitz; der Hand Schatten spielt auf ihm.
Verschattet ist noch der Sinn seines Auges.
108 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Seine That selber ist noch der Schatten auf ihm: die Hand verdun-
kelt den Handelnden. Noch hat er seine That nicht überwunden.
Wohl liebe ich an ihm den Nacken des Stiers: aber nun will ich
auch noch das Auge des Engels sehn.
Auch seinen Helden-Willen muss er noch verlernen: ein Gehobe-
ner soll er mir sein und nicht nur ein Erhabener: - der Aether selber
sollte ihn heben, den Willenlosen!
Er bezwang Unthiere, er löste Räthsel: aber erlösen sollte er auch
noch seine Unthiere und Räthsel, zu himmlischen Kindern sollte
er sie noch verwandeln.
Noch hat seine Erkenntniss nicht lächeln gelernt und ohne Eifer-
sucht sein; noch ist seine strömende Leidenschaft nicht stille ge-
worden in der Schönheit.
Wahrlich, nicht in der Sattheit soll sein Verlangen schweigen und
untertauchen, sondern in der Schönheit! Die Anmuth gehört zur
Grossmuth des Grossgesinnten.
Den Arm über das Haupt gelegt: so sollte der Held ausruhn, so
sollte er auch noch sein Ausruhen überwinden.
Aber gerade dem Helden ist das Schöne aller Dinge Schwerstes.
Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen.
Ein Wenig mehr, ein Wenig weniger: das gerade ist hier Viel, das
ist hier das Meiste.
Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist
das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen!
Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's Sichtbare: Schön-
heit heisse ich solches Herabkommen.
Und von Niemandem will ich so als von dir gerade Schönheit, du
Gewaltiger: deine Güte sei deine letzte Selbst- Überwältigung.
Alles Böse traue ich dir zu: darum will ich von dir das Gute.
Wahrlich, ich lachte oft der Schwächlinge, welche sich gut glau-
ben, weil sie lahme Tatzen haben!
Der Säule Tugend sollst du nachstreben: schöner wird sie immer
und zarter, aber inwendig härter und tragsamer, je mehr sie auf-
steigt.
Ja, du Erhabener, einst sollst du noch schön sein und deiner eig-
2.14. VOM LANDE DER BILDUNG 109

nen Schönheit den Spiegel vorhalten.


Dann wird deine Seele vor göttlichen Begierden schaudern; und
Anbetung wird noch in deiner Eitelkeit sein!
Diess nämlich ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der
Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, - der Über-Held.
Also sprach Zarathustra.

2.14 Vom Lande der Bildung

Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen überfiel mich.
Und als ich um mich sah, siehe! da war die Zeit mein einziger
Zeitgenosse.
Da floh ich rückwärts, heimwärts - und immer eilender: so kam
ich zu euch, ihr Gegenwärtigen, und in's Land der Bildung.
Zum ersten Male brachte ich ein Auge mit für euch, und gute Be-
gierde: wahrlich, mit Sehnsucht im Herzen kam ich.
Aber wie geschah mir? So angst mir auch war, - ich musste lachen!
Nie sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes!
Ich lachte und lachte, während der Fuss mir noch zitterte und das
Herz dazu: »hier ist ja die Heimat aller Farbentöpfe!« - sagte ich.
Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr
da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen!
Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmei-
chelten und nachredeten!
Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegen-
wärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch - erkennen!
Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch
diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch
gut versteckt vor allen Zeichendeutern!
Und wenn man auch Nierenprüfer ist: wer glaubt wohl noch, dass
ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleim-
ten Zetteln.
Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten
110 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

und Glauben reden bunt aus euren Gebärden.


Wer von euch Schleier und Überwürfe und Farben und Gebärden
abzöge: gerade genug würde er übrig behalten, um die Vögel da-
mit zu erschrecken.
Wahrlich, ich selber bin der erschreckte Vogel, der euch einmal
nackt sah und ohne Farbe; und ich flog davon, als das Gerippe
mir Liebe zuwinkte.
Lieber wollte ich doch noch Tagelöhner sein in der Unterwelt und
bei den Schatten des Ehemals! - feister und voller als ihr sind ja
noch die Unterweltlichen!
Diess, ja diess ist Bitterniss meinen Gedärmen, dass ich euch we-
der nackt, noch bekleidet aushalte, ihr Gegenwärtigen!
Alles Unheimliche der Zukunft, und was je verflogenen Vögeln
Schauder machte, ist wahrlich heimlicher noch und traulicher als
eure »Wirklichkeit«.
Denn so sprecht ihr: »Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben
und Aberglauben«: also brüstet ihr euch - ach, auch noch ohne
Brüste!
Ja, wie solltet ihr glauben können, ihr Buntgesprenkelten! - die ihr
Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde!
Wandelnde Widerlegungen seid ihr des Glaubens selber, und aller
Gedanken Gliederbrechen. Unglaubwürdige : also heisse ich euch,
ihr Wirklichen!
Alle Zeiten schwätzen wider einander in euren Geistern; und al-
ler Zeiten Träume und Geschwätz waren wirklicher noch als euer
Wachsein ist!
Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euch an Glauben. Aber wer
schaffen musste, der hatte auch immer seine Wahr-Träume und
Stern-Zeichen - und glaubte an Glauben! -
Halboffne Thore seid ihr, an denen Todtengräber warten. Und das
ist eure Wirklichkeit: »Alles ist werth, dass es zu Grunde geht.«
Ach, wie ihr mir dasteht, ihr Unfruchtbaren, wie mager in den Rip-
pen! Und Mancher von euch hatte wohl dessen selber ein Einse-
hen.
Und er sprach: »es hat wohl da ein Gott, als ich schlief, mir heim-
lich Etwas entwendet? Wahrlich, genug, sich ein Weibchen daraus
2.15. VON DER UNBEFLECKTEN ERKENNTNISS 111

zu bilden!
Wundersam ist die Armuth meiner Rippen!« also sprach schon
mancher Gegenwärtige.
Ja, zum Lachen seid ihr mir, ihr Gegenwärtigen! Und sonderlich,
wenn ihr euch über euch selber wundert!
Und wehe mir, wenn ich nicht lachen könnte über eure Verwunde-
rung, und alles Widrige aus euren Näpfen hinunter trinken müs-
ste!
So aber will ich's mit euch leichter nehmen, da ich Schweres zu
tragen habe; und was thut's mir, wenn sich Käfer und Flügelwür-
mer noch auf mein Bündel setzen!
Wahrlich, es soll mir darob nicht schwerer werden! Und nicht aus
euch, ihr Gegenwärtigen, soll mir die grosse Müdigkeit kommen.
- Ach, wohin soll ich nun noch steigen mit meiner Sehnsucht! Von
allen Bergen schaue ich aus nach Vater- und Mutterländern.
Aber Heimat fand ich nirgends: unstät bin ich in allen Städten und
ein Aufbruch an allen Thoren.
Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich
jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mut-
terländern.
So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im
fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und su-
chen.
An meinen Kindern will ich es gut machen, dass ich meiner Väter
Kind bin: und an aller Zukunft - diese Gegenwart!
Also sprach Zarathustra.

2.15 Von der unbefleckten Erkenntniss

Als gestern der Mond aufgieng, wähnte ich, dass er eine Sonne
gebären wolle: so breit und trächtig lag er am Horizonte.
Aber ein Lügner war er mir mit seiner Schwangerschaft; und eher
noch will ich an den Mann im Monde glauben als an das Weib.
Freilich, wenig Mann ist er auch, dieser schüchterne Nachtschwär-
112 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

mer. Wahrlich, mit schlechtem Gewissen wandelt er über die Dä-


cher.
Denn er ist lüstern und eifersüchtig, der Mönch im Monde, lüstern
nach der Erde und nach allen Freuden der Liebenden.
Nein, ich mag ihn nicht, diesen Kater auf den Dächern! Widerlich
sind mir Alle, die um halbverschlossne Fenster schleichen!
Fromm und schweigsam wandelt er hin auf Sternen-Teppichen: -
aber ich mag alle leisetretenden Mannsfüsse nicht, an denen auch
nicht ein Sporen klirrt.
Jedes Redlichen Schritt redet; die Katze aber stiehlt sich über den
Boden weg. Siehe, katzenhaft kommt der Mond daher und unred-
lich. -
Dieses Gleichniss gebe ich euch empfindsamen Heuchlern, euch,
den Rein-Erkennenden!« Euch heisse ich - Lüsterne!
Auch ihr liebt die Erde und das Irdische: ich errieth euch wohl!
- aber Scham ist in eurer Liebe und schlechtes Gewissen, - dem
Monde gleicht ihr!
Zur Verachtung des Irdischen hat man euren Geist überredet,
aber nicht eure Eingeweide: die aber sind das Stärkste an euch!
Und nun schämt sich euer Geist, dass er euren Eingeweiden zu
willen ist und geht vor seiner eignen Scham Schleich- und Lügen-
wege.
»Das wäre mir das Höchste - also redet euer verlogner Geist zu
sich - auf das Leben ohne Begierde zu schaun und nicht gleich
dem Hunde mit hängender Zunge:
»Glücklich zu sein im Schauen, mit erstorbenem Willen, ohne Griff
und Gier der Selbstsucht - kalt und aschgrau am ganzen Leibe,
aber mit trunkenen Mondesaugen!«
»Das wäre mir das Liebste, - also verführt sich selber der Verführte
- die Erde zu lieben, wie der Mond sie liebt, und nur mit dem Auge
allein ihre Schönheit zu betasten.
»Und das heisse mir aller Dinge unbefleckte Erkenntniss, dass ich
von den Dingen Nichts will: ausser dass ich vor ihnen da liegen
darf wie ein Spiegel mit hundert Augen.« -
Oh, ihr empfindsamen Heuchler, ihr Lüsternen! Euch fehlt die Un-
schuld in der Begierde: und nun verleumdet ihr drum das Begeh-
2.15. VON DER UNBEFLECKTEN ERKENNTNISS 113

ren!
Wahrlich, nicht als Schaffende, Zeugende, Werdelustige liebt ihr
die Erde!
Wo ist Unschuld? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich
hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen.
Wo ist Schönheit? Wo ich mit allem Willen wollen muss; wo ich
lieben und untergehn will, dass ein Bild nicht nur Bild bleibe.
Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur
Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch
Feiglingen!
Aber nun will euer entmanntes Schielen »Beschaulichkeit« heis-
sen! Und was mit feigen Augen sich tasten lässt, soll »schön«
getauft werden! oh, ihr Beschmutzer edler Namen!
Aber das soll euer Fluch sein, ihr Unbefleckten, ihr Rein-Erkennenden,
dass ihr nie gebären werdet: und wenn ihr auch breit und trächtig
am Horizonte liegt!
Wahrlich, ihr nehmt den Mund voll mit edlen Worten: und wir sol-
len glauben, dass euch das Herz übergehe, ihr Lügenbolde?
Aber in eine Worte sind geringe, verachtete, krumme Worte: ger-
ne nehme ich auf, was bei eurer Mahlzeit unter den Tisch fällt.
Immer noch kann ich mit ihnen - Heuchlern die Wahrheit sagen!
ja, meine Gräten, Muscheln und Stachelblätter sollen - Heuchlern
die Nasen kitzeln!
Schlechte Luft ist immer um euch und eure Mahlzeiten: eure lü-
sternen Gedanken, eure Lügen und Heimlichkeiten sind ja in der
Luft!
Wagt es doch erst, euch selber zu glauben - euch und euren Ein-
geweiden! Wer sich selber nicht glaubt, lügt immer.
Eines Gottes Larve hängtet ihr um vor euch selber, ihr »Reinen«:
in eines Gottes Larve verkroch sich euer greulicher Ringelwurm.
Wahrlich, ihr täuscht, ihr »Beschaulichen«! Auch Zarathustra war
einst der Narr eurer göttlichen Häute; nicht errieth er das Schlan-
gengeringel, mit denen sie gestopft waren.
Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu sehn in euren Spie-
len, ihr Rein-Erkennenden! Keine bessere Kunst wähnte ich einst
114 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

als eure Künste!


Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte mir die Fer-
ne: und dass einer Eidechse List lüstern hier herumschlich.
Aber ich kam euch nah: da kam mir der Tag - und nun kommt er
euch, - zu Ende gieng des Mondes Liebschaft!
Seht doch hin! Ertappt und bleich steht er da - vor der Morgenrö-
the!
Denn schon kommt sie, die Glühende, - ihre Liebe zur Erde kommt!
Unschuld und Schöpfer-Begier ist alle Sonnen-Liebe!
Seht doch hin, wie sie ungeduldig über das Meer kommt! Fühlt ihr
den Durst und den heissen Athem ihrer Liebe nicht?
Am Meere will sie saugen und seine Tiefe zu sich in die Höhe trin-
ken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten.
Geküsst und gesaugt will es sein vom Durste der Sonne; Luft will
es werden und Höhe und Fusspfad des Lichts und selber Licht!
Wahrlich, der Sonne gleich liebe ich das Leben und alle tiefen Mee-
re.
Und diess heisst mir Erkenntniss: alles Tiefe soll hinauf - zu meiner
Höhe!
Also sprach Zarathustra.

2.16 Von den Gelehrten

Als ich im Schlafe lag, da frass ein Schaf am Epheukranze meines


Hauptes, - frass und sprach dazu: »Zarathustra ist kein Gelehrter
mehr.«
Sprach's und gieng stotzig davon und stolz. Ein Kind erzählte mir's.
Gerne liege ich hier, wo die Kinder spielen, an der zerbrochnen
Mauer, unter Disteln und rothen Mohnblumen.
Ein Gelehrter bin ich den Kindern noch und auch den Disteln und
rothen Mohnblumen. Unschuldig sind sie, selbst noch in ihrer Bos-
heit.
Aber den Schafen bin ich's nicht mehr: so will es mein Loos - ge-
2.16. VON DEN GELEHRTEN 115

segnet sei es!


Denn diess ist die Wahrheit: ausgezogen bin ich aus dem Hause
der Gelehrten: und die Thür habe ich noch hinter mir zugeworfen.
Zu lange sass meine Seele hungrig an ihrem Tische; nicht, gleich
ihnen, bin ich auf das Erkennen abgerichtet wie auf das Nüsse-
knacken.
Freiheit liebe ich und die Luft über frischer Erde; lieber noch will
ich auf Ochsenhäuten schlafen, als auf ihren Würden und Acht-
barkeiten.
Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken: oft will es
mir den Athem nehmen. Da muss ich in's Freie und weg aus allen
verstaubten Stuben.
Aber sie sitzen kühl in kühlem Schatten: sie wollen in Allem nur
Zuschauer sein und hüten sich dort zu sitzen, wo die Sonne auf
die Stufen brennt.
Gleich Solchen, die auf der Strasse stehn und die Leute angaffen,
welche vorübergehn: also warten sie auch und gaffen Gedanken
an, die Andre gedacht haben.
Greift man sie mit Händen, so stäuben sie um sich gleich Mehl-
säcken, und unfreiwillig. aber wer erriethe wohl, dass ihr Staub
vom Korne stammt und von der gelben Wonne der Sommerfel-
der?
Geben sie sich weise, so fröstelt mich ihrer kleinen Sprüche und
Wahrheiten: ein Geruch ist oft an ihrer Weisheit, als ob sie aus
dem Sumpfe stamme: und wahrlich, ich hörte auch schon den
Frosch aus ihr quaken!
Geschickt sind sie, sie haben kluge Finger: was will meine Einfalt
bei ihrer Vielfalt! Alles Fädeln und Knüpfen und Weben verstehn
ihre Finger: also wirken sie die Strümpfe des Geistes!
Gute Uhrwerke sind sie: nur sorge man, sie richtig aufzuziehn!
Dann zeigen sie ohne Falsch die Stunde an und machen einen
bescheidnen Lärm dabei.
Gleich Mühlwerken arbeiten sie und Stampfen: man werfe ihnen
nur seine Fruchtkörner zu! - sie wissen schon, Korn klein zu mah-
len und weissen Staub daraus zu machen.
Sie sehen einander gut auf die Finger und trauen sich nicht zum
116 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Besten. Erfinderisch in kleinen Schlauheiten warten sie auf Sol-


che, deren Wissen auf lahmen Füssen geht, - gleich Spinnen war-
ten sie.
Ich sah sie immer mit Vorsicht Gift bereiten; und immer zogen sie
gläserne Handschuhe dabei an ihre Finger.
Auch mit falschen Würfeln wissen sie zu spielen; und so eifrig fand
ich sie spielen, dass sie dabei schwitzten.
Wir sind einander fremd, und ihre Tugenden gehn mir noch mehr
wider den Geschmack, als ihre Falschheiten und falschen Würfel.
Und als ich bei ihnen wohnte, da wohnte ich über ihnen. Darüber
wurden sie mir gram.
Sie wollen Nichts davon hören, dass Einer über ihren Köpfen wan-
delt; und so legten sie Holz und Erde und Unrath zwischen mich
und ihre Köpfe.
Also dämpften sie den Schall meiner Schritte: und am schlechte-
sten wurde ich bisher von den Gelehrtesten gehört.
Aller Menschen Fehl und Schwäche legten sie zwischen sich und
mich: - »Fehlboden« heissen sie das in ihren Häusern.
Aber trotzdem wandele ich mit meinen Gedanken über ihren Köp-
fen; und selbst, wenn ich auf meinen eignen Fehlern wandeln woll-
te, würde ich noch über ihnen sein und ihren Köpfen.
Denn die Menschen sind nicht gleich: so spricht die Gerechtigkeit.
Und was ich will, dürften sie nicht wollen!
Also sprach Zarathustra.

2.17 Von den Dichtern

»Seit ich den Leib besser kenne, - sagte Zarathustra zu einem


seiner Jünger - ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und
alles das »Unvergängliche« - das ist auch nur ein Gleichniss.«
»So hörte ich dich schon einmal sagen, antwortete der Jünger; und
damals fügtest du hinzu: »aber die Dichter lügen zuviel.« Warum
sagtest du doch, dass die Dichter zuviel lügen?«
»Warum? sagte Zarathustra. Du fragst warum? Ich gehöre nicht
2.17. VON DEN DICHTERN 117

zu Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.


Ist denn mein Erleben von Gestern? Das ist lange her, dass ich
die Gründe meiner Meinungen erlebte.
Müsste ich nicht ein Fass sein von Gedächtniss, wenn ich auch
meine Gründe bei mir haben wollte?
Schon zuviel ist mir's, meine Meinungen selber zu behalten; und
mancher Vogel fliegt davon.
Und mitunter finde ich auch ein zugezogenes Thier in meinem
Taubenschlage, das mir fremd ist, und das zittert, wenn ich meine
Hand darauf lege.
Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zuviel lü-
gen? - Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.
Glaubst du nun, dass er hier die Wahrheit redete? Warum glaubst
du das?«
Der Jünger antwortete: »ich glaube an Zarathustra.« Aber Zara-
thustra schüttelte den Kopf und lächelte.
Der Glaube macht mich nicht selig, sagte er, zumal nicht der Glau-
be an mich.
Aber gesetzt, dass jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen
zuviel: so hat er Recht, - wir lügen zuviel.
Wir wissen auch zu wenig und sind schlechte Lerner: so müssen
wir schon lügen.
Und wer von uns Dichtern hätte nicht seinen Wein verfälscht?
Manch giftiger Mischmasch geschah in unsern Kellern, manches
Unbeschreibliche ward da gethan.
Und weil wir wenig wissen, so gefallen uns von Herzen die geistig
Armen, sonderlich wenn es junge Weibchen sind!
Und selbst nach den Dingen sind wir noch begehrlich, die sich die
alten Weibchen Abends erzählen. Das heissen wir selber an uns
das Ewig-Weibliche.
Und als ob es einen besondren geheimen Zugang zum Wissen
gäbe, der sich Denen verschütte, welche Etwas lernen: so glauben
wir an das Volk und seine »Weisheit.«
Das aber glauben alle Dichter: dass wer im Grase oder an einsa-
men Gehängen liegend die Ohren spitze, Etwas von den Dingen
118 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

erfahre, die zwischen Himmel und Erde sind.


Und kommen ihnen zärtliche Regungen, so meinen die Dichter
immer, die Natur selber sei in sie verliebt:
Und sie schleiche zu ihrem Ohre, Heimliches hinein zu sagen und
verliebte Schmeichelreden: dessen brüsten und blähen sie sich
vor allen Sterblichen!
Ach, es giebt so viel Dinge zwischen Himmel und Erden, von de-
nen sich nur die Dichter Etwas haben träumen lassen!
Und zumal über dem Himmel: denn alle Götter sind Dichter-Gleichniss,
Dichter-Erschleichniss!
Wahrlich, immer zieht es uns hinan - nämlich zum Reich der Wol-
ken: auf diese setzen wir unsre bunten Bälge und heissen sie dann
Götter und Übermenschen: -
Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! - alle diese
Götter und Übermenschen.
Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Er-
eigniss sein soll! Ach, wie bin ich der Dichter müde!
Als Zarathustra so sprach, zürnte ihm sein Jünger, aber er schwieg.
Und auch Zarathustra schwieg; und sein Auge hatte sich nach in-
nen gekehrt, gleich als ob es in weite Fernen sähe. Endlich seufzte
er und holte Athem.
Ich bin von Heute und Ehedem, sagte er dann; aber Etwas ist in
mir, das ist von Morgen und übermorgen und Einstmals.
Ich wurde der Dichter müde, der alten und der neuen: Oberfläch-
liche sind sie mir Alle und seichte Meere.
Sie dachten nicht genug in die Tiefe: darum sank ihr Gefühl nicht
bis zu den Gründen.
Etwas Wollust und etwas Langeweile: das ist noch ihr bestes Nach-
denken gewesen.
Gespenster-Hauch und -Huschen gilt mir all ihr Harfen-Klingklang;
was wussten sie bisher von der Inbrunst der Töne! -
Sie sind mir auch nicht reinlich genug: sie trüben Alle ihr Gewäs-
ser, dass es tief scheine.
Und gerne geben sie sich damit als Versöhner: aber Mittler und
Mischer bleiben sie mir und Halb-und-Halbe und Unreinliche! -
2.18. VON GROSSEN EREIGNISSEN 119

Ach, ich warf wohl mein Netz in ihre Meere und wollte gute Fische
fangen; aber immer zog ich eines alten Gottes Kopf herauf.
So gab dem Hungrigen das Meer einen Stein. Und sie selber mö-
gen wohl aus dem Meere stammen.
Gewiss, man findet Perlen in ihnen: um so ähnlicher sind sie selber
harten Schalthieren. Und statt der Seele fand ich oft bei ihnen
gesalzenen Schleim.
Sie lernten vom Meere auch noch seine Eitelkeit: ist nicht das
Meer der Pfau der Pfauen?
Noch vor dem hässlichsten aller Büffel rollt es seinen Schweif hin,
nimmer wird es seines Spitzenfächers von Silber und Seide müde.
Trutzig blickt der Büffel dazu, dem Sande nahe in seiner Seele,
näher noch dem Dickicht, am nächsten aber dem Sumpfe.
Was ist ihm Schönheit und Meer und Pfauen-Zierath! Dieses Gleich-
niss sage ich den Dichtern.
Wahrlich, ihr Geist selber ist der Pfau der Pfauen und ein Meer von
Eitelkeit!
Zuschauer will der Geist des Dichters: sollten's auch Büffel sein!
-
Aber dieses Geistes wurde ich müde: und ich sehe kommen, dass
er seiner selber müde wird.
Verwandelt sah ich schon die Dichter und gegen sich selber den
Blick gerichtet.
Büsser des Geistes sah ich kommen: die wuchsen aus ihnen.
Also sprach Zarathustra.

2.18 Von grossen Ereignissen

Es giebt eine Insel im Meere - unweit den glückseligen Inseln Za-


rathustra's - auf welcher beständig ein Feuerberg raucht; von der
sagt das Volk, und sonderlich sagen es die alten Weibchen aus
dem Volke, dass sie wie ein Felsblock vor das Thor der Unterwelt
gestellt sei: durch den Feuerberg selber aber führe der schmale
Weg abwärts, der zu diesem Thore der Unterwelt geleite.
120 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Um jene Zeit nun, als Zarathustra auf den glückseligen Inseln


weilte, geschah es, dass ein Schiff an der Insel Anker warf, auf
welcher der rauchende Berg steht; und seine Mannschaft gieng
an's Land, um Kaninchen zu schiessen. Gegen die Stunde des
Mittags aber, da der Capitän und seine Leute wieder beisammen
waren, sahen sie plötzlich durch die Luft einen Mann auf sich zu-
kommen, und eine Stimme sagte deutlich: »es ist Zeit! Es ist die
höchste Zeit!« Wie die Gestalt ihnen aber am nächsten war - sie
flog aber schnell gleich einem Schatten vorbei, in der Richtung,
wo der Feuerberg lag - da erkannten sie mit grösster Bestürzung,
dass es Zarathustra sei; denn sie hatten ihn Alle schon gesehn,
ausgenommen der Capitän selber, und sie liebten ihn, wie das
Volk liebt: also dass zu gleichen Theilen Liebe und Scheu beisam-
men sind.
»Seht mir an! sagte der alte Steuermann, da fährt Zarathustra
zur Hölle!« -
Um die gleiche Zeit, als diese Schiffer an der Feuerinsel landeten,
lief das Gerücht umher, dass Zarathustra verschwunden sei; und
als man seine Freunde fragte, erzählten sie, er sei bei Nacht zu
Schiff gegangen, ohne zu sagen, wohin er reisen wolle.
Also entstand eine Unruhe; nach drei Tagen aber kam zu dieser
Unruhe die Geschichte der Schiffsleute hinzu - und nun sagte alles
Volk, dass der Teufel Zarathustra geholt habe. Seine jünger lach-
ten zwar ob dieses Geredes; und einer von ihnen sagte sogar:
»eher glaube ich noch, dass Zarathustra sich den Teufel geholt
hat.' Aber im Grunde der Seele waren sie Alle voll Besorgniss und
Sehnsucht: so war ihre Freude gross, als am fünften Tage Zara-
thustra unter ihnen erschien.
Und diess ist die Erzählung von Zarathustra's Gespräch mit dem
Feuerhunde.
Die Erde, sagte er, hat eine Haut; und diese Haut hat Krankheiten.
Eine dieser Krankheiten heisst zum Beispiel: »Mensch.«
Und eine andere dieser Krankheiten heisst »Feuerhund«: über den
haben sich die Menschen Viel vorgelogen und vorlügen lassen.
Diess Geheimniss zu ergründen gieng ich über das Meer: und ich
habe die Wahrheit nackt gesehn, wahrlich! barfuss bis zum Halse.
Was es mit dem Feuerhund auf sich hat, weiss ich nun; und ins-
2.18. VON GROSSEN EREIGNISSEN 121

gleichen mit all den Auswurf- und Umsturz-Teufeln, vor denen sich
nicht nur alte Weibchen fürchten.
Heraus mit dir, Feuerhund, aus deiner Tiefe! rief ich, und bekenne,
wie tief diese Tiefe ist! Woher ist das, was du da heraufschnaubst?
Du trinkst reichlich am Meere: das verräth deine versalzte Be-
redsamkeit! Fürwahr, für einen Hund der Tiefe nimmst du deine
Nahrung zu sehr von der Oberfläche!
Höchstens für den Bauchredner der Erde halt' ich dich: und im-
mer, wenn ich Umsturz- und Auswurf-Teufel reden hörte, fand ich
sie gleich dir: gesalzen, lügnerisch und flach.
Ihr versteht zu brüllen und mit Asche zu verdunkeln! Ihr seid die
besten Grossmäuler und lerntet sattsam die Kunst, Schlamm heiss
zu sieden.
Wo ihr seid, da muss stets Schlamm in der Nähe sein, und viel
Schwammichtes, Höhlichtes, Eingezwängtes: das will in die Frei-
heit.
»Freiheit« brüllt ihr Alle am liebsten: aber ich verlernte den Glau-
ben an »grosse Ereignisse,« sobald viel Gebrüll und Rauch um sie
herum ist.
Und glaube mir nur, Freund Höllenlärm! Die grössten Ereignisse -
das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden.
Nicht um die Erfinder von neuem Lärme: um die Erfinder von neu-
en Werthen dreht sich die Welt; unhörbar dreht sie sich.
Und gesteh es nur! Wenig war immer nur geschehn, wenn dein
Lärm und Rauch sich verzog. Was liegt daran, dass eine Stadt zur
Mumie wurde, und eine Bildsäule im Schlamme liegt!
Und diess Wort sage ich noch den Umstürzern von Bildsäulen. Das
ist wohl die grösste Thorheit, Salz in's Meer und Bildsäulen in den
Schlamm zu werfen.
Im Schlamme eurer Verachtung lag die Bildsäule: aber das ist ge-
rade ihr Gesetz, dass ihr aus der Verachtung wieder Leben und
lebende Schönheit wächst!
Mit göttlicheren Zügen steht sie nun auf und leidendverführerisch;
und wahrlich! sie wird euch noch Dank sagen, dass ihr sie um-
stürztet, ihr Umstürzer!
Diesen Rath aber rathe ich Königen und Kirchen und Allem, was
122 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

alters- und tugendschwach ist - lasst euch nur umstürzen! Dass


ihr wieder zum Leben kommt, und zu euch - die Tugend! -
Also redete ich vor dem Feuerhunde: da unterbrach er mich mür-
risch und fragte: »Kirche? Was ist denn das?«
Kirche? antwortete ich, das ist eine Art von Staat, und zwar die
verlogenste. Doch schweig still, du Heuchelhund! Du kennst deine
Art wohl am besten schon!
Gleich dir selber ist der Staat ein Heuchelhund; gleich dir redet er
gern mit Rauch und Gebrülle, - dass er glauben mache, gleich dir,
er rede aus dem Bauch der Dinge.
Denn er will durchaus das wichtigste Thier auf Erden sein, der
Staat; und man glaubt's ihm auch. -
Als ich das gesagt hatte, gebärdete sich der Feuerhund wie unsin-
nig vor Neid. »Wie? schrie er, das wichtigste Thier auf Erden? Und
man glaubt's ihm auch?« Und so viel Dampf und grässliche Stim-
men kamen ihm aus dem Schlunde, dass ich meinte, er werde vor
Arger und Neid ersticken.
Endlich wurde er stiller, und sein Keuchen liess nach; sobald er
aber stille war, sagte ich lachend:
»Du ärgerst dich, Feuerhund: also habe ich über dich Recht!
Und dass ich auch noch Recht behalte, so höre von einem andern
Feuerhunde: der spricht wirklich aus dem Herzen der Erde.
Gold haucht sein Athem und goldigen Regen: so will's das Herz
ihm. Was ist ihm Asche und Rauch und heisser Schleim noch!
Lachen flattert aus ihm wie ein buntes Gewölke; abgünstig ist er
deinem Gurgeln und Speien und Grimmen der Ein- geweide!
Das Gold aber und das Lachen - das nimmt er aus dem Herzen
der Erde: denn dass du's nur weisst, - das Herz der Erde ist von
Gold.«
Als diess der Feuerhund vernahm, hielt er's nicht mehr aus, mir
zuzuhören. Beschämt zog er seinen Schwanz ein, sagte auf eine
kleinlaute Weise Wau! Wau! und kroch hinab in seine Höhle. -
Also erzählte Zarathustra. Seine Jünger aber hörten ihm kaum zu:
so gross war ihre Begierde, ihm von den Schiffsleuten, den Kanin-
chen und dem fliegenden Manne zu erzählen.
2.19. DER WAHRSAGER 123

»Was soll ich davon denken! sagte Zarathustra. Bin ich denn ein
Gespenst?
Aber es wird mein Schatten gewesen sein. Ihr hörtet wohl schon
Einiges vom Wanderer und seinem Schatten?
Sicher aber ist das: ich muss ihn kürzer halten, - er verdirbt mir
sonst noch den Ruf.«
Und nochmals schüttelte Zarathustra den Kopf und wunderte sich.
»Was soll ich davon denken!« sagte er nochmals.
»Warum schrie denn das Gespenst: es ist Zeit! Es ist die höchste
Zeit!
Wozu ist es denn - höchste Zeit?« -
Also sprach Zarathustra.

2.19 Der Wahrsager

»- und ich sahe eine grosse Traurigkeit über die Menschen kom-
men. Die Besten wurden ihrer Werke müde.
Eine Lehre ergieng, ein Glauben lief neben ihr: »Alles ist leer, Alles
ist gleich, Alles war!«
Und von allen Hügeln klang es wieder: »Alles ist leer, Alles ist
gleich, Alles war!«
Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Früchte uns
faul und braun? Was fiel vom bösen Monde bei der letzten Nacht
hernieder?
Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick
sengte unsre Felder und Herzen gelb.
Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf uns, so stäuben wir
der Asche gleich: - ja das Feuer selber machten wir müde.
Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich zurück. Aller
Grund will reissen, aber die Tiefe will nicht schlingen!
»Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte«: so
klingt unsre Klage - hinweg über flache Sümpfe.
Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen
124 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

wir noch und leben fort - in Grabkammern!« -


Also hörte Zarathustra einen Wahrsager reden; und seine Weis-
sagung gieng ihm zu Herzen und verwandelte ihn. Traurig gieng
er umher und müde; und er wurde Denen gleich, von welchen der
Wahrsager geredet hatte.
Wahrlich, so sagte er zu seinen Jüngern, es ist um ein Kleines,
so kommt diese lange Dämmerung. Ach, wie soll ich mein Licht
hinüber retten!
Dass es mir nicht ersticke in dieser Traurigkeit! Ferneren Welten
soll es ja Licht sein und noch fernsten Nächten!
Dergestalt im Herzen bekümmert gieng Zarathustra umher; und
drei Tage lang nahm er nicht Trank und Speise zu sich, hatte kei-
ne Ruhe und verlor die Rede. Endlich geschah es, dass er in einen
tiefen Schlaf verfiel. Seine jünger aber sassen um ihn in langen
Nachtwachen und warteten mit Sorge, ob er wach werde und wie-
der rede und genesen sei von seiner Trübsal.
Diess aber ist die Rede, welche Zarathustra sprach, als er auf-
wachte; seine Stimme aber kam zu seinen Jüngern wie aus weiter
Ferne.
Hört mir doch den Traum, den ich träumte, ihr Freunde, und helft
mir seinen Sinn rathen!
Ein Räthsel ist er mir noch, dieser Traum; sein Sinn ist verborgen in
ihm und eingefangen und fliegt noch nicht über ihn hin mit freien
Flügeln.
Allem Leben hatte ich abgesagt, so träumte mir. Zum Nacht- und
Grabwächter war ich worden, dort auf der einsamen Berg-Burg
des Todes.
Droben hütete ich seine Särge: voll standen die dumpfen Gewölbe
von solchen Siegeszeichen. Aus gläsernen Särgen blickte mich
überwundenes Leben an.
Den Geruch verstaubter Ewigkeiten athmete ich: schwül und ver-
staubt lag meine Seele. Und wer hätte dort auch seine Seele lüf-
ten können!
Helle der Mitternacht war immer um mich, Einsamkeit kauerte ne-
ben ihr; und, zudritt, röchelnde Todesstille, die schlimmste meiner
Freundinnen.
2.19. DER WAHRSAGER 125

Schlüssel führte ich, die rostigsten aller Schlüssel; und ich ver-
stand es, damit das knarrendste aller Thore zu öffnen.
Einem bitterbösen Gekrächze gleich lief der Ton durch die langen
Gänge, wenn sich des Thores Flügel hoben: unhold schrie dieser
Vogel, ungern wollte er geweckt sein.
Aber furchtbarer noch und herzzuschnürender war es, wenn es
wieder schwieg und rings stille ward, und ich allein sass in diesem
tückischen Schweigen.
So gieng mir und schlich die Zeit, wenn Zeit es noch gab: was
weiss ich davon! Aber endlich geschah das, was mich weckte.
Dreimal schlugen Schläge an's Thor, gleich Donnern, es hallten
und heulten die Gewölbe dreimal wieder: da gieng ich zum Thore.
Alpa! rief ich, wer trägt seine Asche zu Berge? Alpa! Alpa! Wer
trägt seine Asche zu Berge?
Und ich drückte den Schlüssel und hob am Thore und mühte mich.
Aber noch keinen Fingerbreit stand es offen:
Da riss ein brausender Wind seine Flügel auseinander: pfeifend,
schrillend und schneidend warf er mir einen schwarzen Sarg zu:
Und im Brausen und Pfeifen und Schrillen zerbarst der Sarg und
spie tausendfältiges Gelächter aus.
Und aus tausend Fratzen von Kindern, Engeln, Eulen, Narren und
kindergrossen Schmetterlingen lachte und höhnte und brauste es
wider mich.
Grässlich erschrak ich darob: es warf mich nieder. Und ich schrie
vor Grausen, wie nie ich schrie.
Aber der eigne Schrei weckte mich auf: - und ich kam zu mir. -
Also erzählte Zarathustra seinen Traum und schwieg dann: denn
er wusste noch nicht die Deutung seines Traumes. Aber der jün-
ger, den er am meisten lieb hatte, erhob sich schnell, fasste die
Hand Zarathustra's und sprach:
»Dein Leben selber deutet uns diesen Traum, oh Zarathustra!
Bist du nicht selber der Wind mit schrillem Pfeifen, der den Burgen
des Todes die Thore aufreisst?
Bist du nicht selber der Sarg voll bunter Bosheiten und Engels-
fratzen des Lebens?
126 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Wahrlich, gleich tausendfältigem Kindsgelächter kommt Zarathu-


stra in alle Todtenkammern, lachend über diese Nacht- und Grab-
wächter, und wer sonst mit düstern Schlüsseln rasselt.
Schrecken und umwerfen wirst du sie mit deinem Gelächter; Ohn-
macht und Wachwerden wird deine Macht über sie beweisen.
Und auch, wenn die lange Dämmerung kommt und die Todesmü-
digkeit, wirst du an unserm Himmel, nicht untergehn, du Fürspre-
cher des Lebens!
Neue Sterne liessest du uns sehen und neue Nachtherrlichkeiten;
wahrlich, das Lachen selber spanntest du wie ein buntes Gezelt
über uns.
Nun wird immer Kindes-Lachen aus Särgen quellen; nun wird im-
mer siegreich ein starker Wind kommen aller Todesmüdigkeit: des-
sen bist du uns selber Bürge und Wahrsager!
Wahrlich, sie selber träumtest du, deine Feinde: das war dein
schwerster Traum!
Aber wie du von ihnen aufwachtest und zu dir kamst, also sollen
sie selber von sich aufwachen - und zu dir kommen!« -
So sprach der jünger; und alle Anderen drängten sich nun um
Zarathustra und ergriffen ihn bei den Händen und wollten ihn be-
reden, dass er vom Bette und von der Traurigkeit lasse und zu ih-
nen zurückkehre. Zarathustra aber sass aufgerichtet auf seinem
Lager, und mit fremdem Blicke. Gleichwie Einer, der aus langer
Fremde heimkehrt, sah er auf seine Jünger und prüfte ihre Ge-
sichter; und noch erkannte er sie nicht. Als sie aber ihn hoben
und auf die Füsse stellten, siehe, da verwandelte sich mit Einem
Male sein Auge; er begriff Alles, was geschehen war, strich sich
den Bart und sagte mit starker Stimme:
»Wohlan! Diess nun hat seine Zeit; sorgt mir aber dafür, meine
jünger, dass wir eine gute Mahlzeit machen, und in Kürze! Also
gedenke ich Busse zu thun für schlimme Träume!
Der Wahrsager aber soll an meiner Seite essen und trinken: und
wahrlich, ich will ihm noch ein Meer zeigen, in dem er ertrinken
kann!«
Also sprach Zarathustra. Darauf aber blickte er dem jünger, wel-
cher den Traumdeuter abgegeben hatte, lange in's Gesicht und
schüttelte dabei den Kopf. -
2.20. VON DER ERLÖSUNG 127

2.20 Von der Erlösung

Als Zarathustra eines Tags über die grosse Brücke gieng, umring-
ten ihn die Krüppel und Bettler, und ein Bucklichter redete also
zu ihm:
»Siehe, Zarathustra! Auch das Volk lernt von dir und gewinnt Glau-
ben an deine Lehre: aber dass es ganz dir glauben soll, dazu be-
darf es noch Eines - du musst erst noch uns Krüppel überreden!
Hier hast du nun eine schöne Auswahl und wahrlich, eine Gele-
genheit mit mehr als Einem Schopfe! Blinde kannst du heilen und
Lahme laufen machen; und Dem, der zuviel hinter sich hat, könn-
test du wohl auch ein Wenig abnehmen: - das, meine ich, wäre
die rechte Art, die Krüppel an Zarathustra glauben zu machen!«
Zarathustra aber erwiderte Dem, der da redete, also: »Wenn man
dem Bucklichten seinen Buckel nimmt, so nimmt man ihm seinen
Geist - also lehrt das Volk. Und wenn man dem Blinden seine Au-
gen giebt, so sieht er zuviel schlimme Dinge auf Erden: also dass
er Den verflucht, der ihn heilte. Der aber, welcher den Lahmen
laufen macht, der thut ihm den grössten Schaden an: denn kaum
kann er laufen, so gehn seine Laster mit ihm durch - also lehrt das
Volk über Krüppel. Und warum sollte Zarathustra nicht auch vom
Volke lernen, wenn das Volk von Zarathustra lernt?
Das ist mir aber das Geringste, seit ich unter Menschen bin, dass
ich sehe: »Diesem fehlt ein Auge und jenem ein Ohr und einem
Dritten das Bein, und Andre giebt es, die verloren die Zunge oder
die Nase oder den Kopf.«
Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so Abscheuliches,
dass ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem nicht ein-
mal schweigen möchte: nämlich Menschen, denen es an Allem
fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben - Menschen, welche Nichts
weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein
grosser Bauch oder irgend etwas Grosses, - umgekehrte Krüppel
heisse ich Solche.
Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über
diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin,
und wieder hin, und sagte endlich: »das ist ein Ohr! Ein Ohr, so
gross wie ein Mensch!« Ich sah noch besser hin: und wirklich, un-
ter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein
128 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure


Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, - der Stiel aber war ein
Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein
kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedun-
senes Seelchen am Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das
grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser Mensch,
ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von gros-
sen Menschen redete - und behielt meinen Glauben bei, dass es
ein umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem
zu viel habe.«
Als Zarathustra so zu dem Bucklichten geredet hatte und zu De-
nen, welchen er Mundstück und Fürsprecher war, wandte er sich
mit tiefem Unmuthe zu seinen Jüngern und sagte:
»Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie
unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen!
Diess ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich den Menschen
zertrümmert finde und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schläch-
terfeld hin.
Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet immer
das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufälle -
aber keine Menschen!
Das jetzt und das Ehemals auf Erden - ach! meine Freunde - das,
ist mein Unerträglichstes; und ich wüsste nicht zu leben, wenn ich
nicht noch ein Seher wäre, dessen, was kommen muss.
Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und
eine Brücke zur Zukunft - und ach, auch noch gleichsam ein Krüp-
pel an dieser Brücke: das Alles ist Zarathustra.
Und auch ihr fragtet euch oft: »wer ist uns Zarathustra? Wie soll
er uns heissen?« Und gleich mir selber gabt ihr euch Fragen zur
Antwort.
Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfüller? Ein Erobernder? Oder
ein Erbender? Ein Herbst? Oder eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder
ein Genesener?
Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein
Bändiger? Ein Guter? Oder ein Böser?
Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft:
jener Zukunft, die ich schaue.
2.20. VON DER ERLÖSUNG 129

Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte
und zusammentragen was Bruchstück ist und Räthsel und grauser
Zufall.
Und wie ertrüge ich es, Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht
auch Dichter und Räthselrather und der Erlöser des Zufalls wäre!
Die Vergangnen zu erlösen und alles »Es war« umzuschauen in
ein »So wollte ich es!« - das hiesse mir erst Erlösung!
Wille - so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich
euch, meine Freunde! Und nun lernt diess hinzu: der Wille selber
ist noch ein Gefangener.
Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch den Befreier noch
in Ketten schlägt?
»Es war«: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste
Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist - ist er allem Ver-
gangenen ein böser Zuschauer.
Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen
kann und der Zeit Begierde, - das ist des Willens einsamste Trüb-
sal.
Wollen befreit: was ersinnt sich das Wollen selber, dass es los sei-
ner Trübsal werde und seines Kerkers spotte?
Ach, ein Narr wird jeder Gefangene! Närrisch erlöst sich auch der
gefangene Wille.
Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; »Das, was
war« - so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann.
Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth und übt Rache
an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt.
Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethäter: und an Allem,
was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann.
Diess, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwille ge-
gen die Zeit und ihr »Es war.«
Wahrlich, eine grosse Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum
Fluche wurde es allem Menschlichen, dass diese Narrheit Geist
lernte!
Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen
bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.
130 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

»Strafe« nämlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem Lü-
genwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen.
Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob dass es nicht zurück
wollen kann, - also sollte Wollen selber und alles Leben - Strafe
sein!
Und nun wälzte sich Wolke auf Wolke über den Geist: bis endlich
der Wahnsinn predigte: »Alles vergeht, darum ist Alles werth zu
vergehn!«
»Und diess ist selber Gerechtigkeit, jenes Gesetz der Zeit, dass
sie ihre Kinder fressen muss«: also predigte der Wahnsinn.
»Sittlich sind die Dinge geordnet nach Recht und Strafe. Oh wo
ist die Erlösung vom Fluss der Dinge und der Strafe Dasein«? Also
predigte der Wahnsinn.
»Kann es Erlösung geben, wenn es ein ewiges Recht giebt? Ach,
unwälzbar ist der Stein »Es war«: ewig müssen auch alle Strafen
sein!« Also predigte der Wahnsinn.
»Keine That kann vernichtet werden: wie könnte sie durch die
Strafe ungethan werden! Diess, diess ist das Ewige an der Stra-
fe »Dasein«, dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld
sein muss!
»Es sei denn, dass der Wille endlich sich selber erlöste und Wol-
len zu Nicht-Wollen würde -«: doch ihr kennt, meine Brüder, diess
Fabellied des Wahnsinns!
Weg führte ich euch von diesen Fabelliedern, als ich euch lehrte:
»der Wille ist ein Schaffender.«
Alles »Es war« ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall
- bis der schaffende Wille dazu sagt: aber so wollte ich es!«
Bis der schaffende Wille dazu sagt: »Aber so will ich es! So werde
ich's wollen!«
Aber sprach er schon so? Und wann geschieht diess? Ist der Wille
schon abgeschirrt von seiner eignen Thorheit?
Wurde der Wille sich selber schon Erlöser und Freudebringer? Ver-
lernte er den Geist der Rache und alles Zähneknirschen?
Und wer lehrte ihn Versöhnung mit der Zeit, und Höheres als alle
Versöhnung ist?
2.21. VON DER MENSCHEN-KLUGHEIT 131

Höheres als alle Versöhnung muss der Wille wollen, welcher der
Wille zur Macht ist -: doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn
auch noch das Zurückwollen?«
- Aber an dieser Stelle seiner Rede geschah es, dass Zarathustra
plötzlich innehielt und ganz einem Solchen gleich sah, der auf das
Äusserste erschrickt. Mit erschrecktem Auge blickte er auf seine
Jünger; sein Auge durchbohrte wie mit Pfeilen ihre Gedanken und
Hintergedanken. Aber nach einer kleinen Weile lachte er schon
wieder und sagte begütigt:
»Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen so schwer
ist. Sonderlich für einen Geschwätzigen.« -
Also sprach Zarathustra. Der Bucklichte aber hatte dem Gesprä-
che zugehört und sein Gesicht dabei bedeckt; als er aber Zara-
thustra lachen hörte, blickte er neugierig auf und sagte langsam:
»Aber warum redet Zarathustra anders zu uns als zu seinen Jün-
gern?«
Zarathustra antwortete: »Was ist da zum Verwundern! Mit Buck-
lichten darf man schon bucklicht reden!«
»Gut, sagte der Bucklichte; und mit Schülern darf man schon aus
der Schule schwätzen.
Aber warum redet Zarathustra anders zu seinen Schülern - als zu
sich selber?« -

2.21 Von der Menschen-Klugheit

Nicht die Höhe: der Abhang ist das Furchtbare!


Der Abhang, wo der Blick hinunter stürzt und die Hand hinauf
greift. Da schwindelt dem Herzen vor seinem doppelten Willen.
Ach, Freunde, errathet ihr wohl auch meines Herzens doppelten
Willen?
Das, Das ist mein Abhang und meine Gefahr, dass mein Blick in
die Höhe stürzt, und dass meine Hand sich halten und stützen
möchte - an der Tiefe!
An den Menschen klammert sich mein Wille, mit Ketten binde
ich mich an den Menschen, weil es mich hinauf reisst zum Ober-
132 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

menschen: denn dahin will mein andrer Wille.


Und dazu lebe ich blind unter den Menschen; gleich als ob ich
sie nicht kennte: dass meine Hand ihren Glauben an Festes nicht
ganz verliere.
Ich kenne euch Menschen nicht: diese Finsterniss und Tröstung ist
oft um mich gebreitet.
Ich sitze am Thorwege für jeden Schelm und frage: wer will mich
betrügen?
Das ist meine erste Menschen-Klugheit, dass ich mich betrügen
lasse, um nicht auf der Hut zu sein vor Betrügern.
Ach, wenn ich auf der Hut wäre vor dem Menschen: wie könnte
meinem Balle der Mensch ein Anker sein! Zu leicht risse es mich
hinauf und hinweg!
Diese Vorsehung ist über meinem Schicksal, dass ich ohne Vor-
sicht sein muss.
Und wer unter Menschen nicht verschmachten will, muss lernen,
aus allen Gläsern zu trinken; und wer unter Menschen rein blei-
ben will, muss verstehn, sich auch mit schmutzigem Wasser zu
waschen.
Und also sprach ich oft mir zum Troste: »Wohlan! Wohlauf! Altes
Herz! Ein Unglück missrieth dir: geniesse diess als dein - Glück!«
Diess aber ist meine andre Menschen-Klugheit: ich schone die Eit-
len mehr als die Stolzen.
Ist nicht verletzte Eitelkeit die Mutter aller Trauerspiele? Wo aber
Stolz verletzt wird, da wächst wohl etwas Besseres noch, als Stolz
ist.
Damit das Leben gut anzuschaun sei, muss sein Spiel gut gespielt
werden: dazu aber bedarf es guter Schauspieler.
Gute Schauspieler fand ich alle Eitlen: sie spielen und wollen, dass
ihnen gern zugeschaut werde, - all ihr Geist ist bei diesem Willen.
Sie führen sich auf, sie erfinden sich; in ihrer Nähe liebe ich's, dem
Leben zuzuschaun, - es heilt von der Schwermuth.
Darum schone ich die Eitlen, weil sie mir Arzte sind meiner Schwer-
muth und mich am Menschen fest halten als an einem Schauspie-
le.
2.21. VON DER MENSCHEN-KLUGHEIT 133

Und dann: wer ermisst am Eitlen die ganze Tiefe seiner Beschei-
denheit! Ich bin ihm gut und mitleidig ob seiner Bescheidenheit.
Von euch will er seinen Glauben an sich lernen; er nährt sich an
euren Blicken, er frisst das Lob aus euren Händen.
Euren Lügen glaubt er noch, wenn ihr gut über ihn lügt: denn im
Tiefsten seufzt sein Herz: was bin ich!«
Und wenn das die rechte Tugend ist, die nicht um sich selber
weiss: nun, der Eitle weiss nicht um seine Bescheidenheit! -
Das ist aber meine dritte Menschen-Klugheit, dass ich mir den
Anblick der Bösen nicht verleiden lasse durch eure Furchtsamkeit.
Ich bin selig, die Wunder zu sehn, welche heisse Sonne ausbrütet:
Tiger und Palmen und Klapperschlangen.
Auch unter Menschen giebt es schöne Brut heisser Sonne und viel
Wunderwürdiges an den Bösen.
Zwar, wie eure Weisesten mir nicht gar so weise erschienen: so
fand ich auch der Menschen Bosheit unter ihrem Rufe.
Und oft fragte ich mit Kopfschütteln: Warum noch klappern, ihr
Klapperschlangen?
Wahrlich, es giebt auch für das Böse noch eine Zukunft! Und der
heisseste Süden ist noch nicht entdeckt für den Menschen.
Wie Manches heisst jetzt schon ärgste Bosheit, was doch nur zwölf
Schuhe breit und drei Monate lang ist! Einst aber werden grössere
Drachen zur Welt kommen.
Denn dass dem Übermenschen sein Drache nicht fehle, der Über-
Drache, der seiner würdig ist: dazu muss viel heisse Sonne noch
auf feuchten Urwald glühen!
Aus euren Wildkatzen müssen erst Tiger geworden sein und aus
euren Giftkröten Krokodile: denn der gute Jäger soll eine gute Jagd
haben!
Und wahrlich, ihr Guten und Gerechten! An euch ist Viel zum La-
chen und zumal eure Furcht vor dem, was bisher »Teufel« hiess!
So fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der
Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte!
Und ihr Weisen und Wissenden, ihr würdet vor dem Sonnenbran-
de der Weisheit flüchten, in dem der Übermensch mit Lust seine
134 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Nacktheit badet!
Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete! das ist mein
Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr wür-
det meinen Übermenschen - Teufel heissen!
Ach, ich ward dieser Höchsten und Besten müde: aus ihrer »Höhe«
verlangte mich hinauf, hinaus, hinweg zu dem Übermenschen!
Ein Grausen überfiel mich, als ich diese Besten nackend sah: da
wuchsen mir die Flügel, fortzuschweben in ferne Zukünfte.
In fernere Zukünfte, in südlichere Süden, als je ein Bildner träum-
te: dorthin, wo Götter sich aller Kleider schämen!
Aber verkleidet will ich euch sehn, ihr Nächsten und Mitmenschen,
und gut geputzt, und eitel, und würdig, als »die Guten und Ge-
rechten,« -
Und verkleidet will ich selber unter euch sitzen, - dass ich euch
und mich verkenne: das ist nämlich meine letzte Menschen-Klugheit.
Also sprach Zarathustra.

2.22 Die stillste Stunde

Was geschah mir, meine Freunde? Ihr seht mich verstört, fortge-
trieben, unwillig-folgsam, bereit zu gehen - ach, von euch fortzu-
gehen!
Ja, noch Ein Mal muss Zarathustra in seine Einsamkeit: aber un-
lustig geht diessmal der Bär zurück in seine Höhle!
Was geschah mir? Wer gebeut diess? - Ach, meine zornige Her-
rin will es so, sie sprach zu mir: nannte ich je euch schon ihren
Namen?
Gestern gen Abend sprach zu mir meine stillste Stunde: das ist
der Name meiner furchtbaren Herrin.
Und so geschah's, - denn Alles muss ich euch sagen, dass euer
Herz sich nicht verhärte gegen den plötzlich Scheidenden!
Kennt ihr den Schrecken des Einschlafenden? -
Bis in die Zehen hinein erschrickt er, darob, dass ihm der Boden
weicht und der Traum beginnt.
2.22. DIE STILLSTE STUNDE 135

Dieses sage ich euch zum Gleichniss. Gestern, zur stillsten Stun-
de, wich mir der Boden: der Traum begann.
Der Zeiger rückte, die Uhr meines Lebens holte Athem - nie hörte
ich solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak.
Dann sprach es ohne Stimme zu mir: »Du weisst es, Zarathustra?«
-
Und ich schrie vor Schrecken bei diesem Flüstern, und das Blut
wich aus meinem Gesichte: aber ich schwieg.
Da sprach es abermals ohne Stimme zu mir: »Du weisst es, Zara-
thustra, aber du redest es nicht!« -
Und ich antwortete endlich gleich einem Trotzigen: »Ja, ich weiss
es, aber ich will es nicht reden!«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Du willst nicht, Za-
rathustra? Ist diess auch wahr? Verstecke dich nicht in deinen
Trotz!« -
Und ich weinte und zitterte wie ein Kind und sprach: »Ach, ich
wollte schon, aber wie kann ich es! Erlass mir diess nur! Es ist
über meine Kraft!«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an dir, Za-
rathustra! Sprich dein Wort und zerbrich!« -
Und ich antwortete: »Ach, ist es mein Wort? Wer bin ich? Ich warte
des Würdigeren; ich bin nicht werth, an ihm auch nur zu zerbre-
chen.«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an dir? Du
bist mir noch nicht demüthig genug. Die Demuth hat das härteste
Fell.« -
Und ich antwortete: »Was trug nicht schon das Fell meiner De-
muth! Am Fusse wohne ich meiner Höhe: wie hoch meine Gipfel
sind? Niemand sagte es mir noch. Aber gut kenne ich meine Thä-
ler.«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Oh Zarathustra, wer
Berge zu versetzen hat, der versetzt auch Thäler und Niederun-
gen.« -
Und ich antwortete: »Noch versetzte mein Wort keine Berge, und
was ich redete, erreichte die Menschen nicht. Ich gieng wohl zu
den Menschen, aber noch langte ich nicht bei ihnen an.«
136 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL

Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was weisst du davon!


Der Thau fällt auf das Gras, wenn die Nacht am verschwiegensten
ist.« -
Und ich antwortete: »sie verspotteten mich, als ich meinen eige-
nen Weg fand und gieng; und in Wahrheit zitterten damals meine
Füsse.
Und so sprachen sie zu mir: du verlerntest den Weg, nun verlernst
du auch das Gehen!«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Was liegt an ihrem
Spotte! Du bist Einer, der das Gehorchen verlernt hat: nun sollst
du befehlen!
Weisst du nicht, wer Allen am nöthigsten thut? Der Grosses be-
fiehlt.
Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerere ist, Grosses
befehlen.
Das ist dein Unverzeihlichstes: du hast die Macht, und du willst
nicht herrschen.« -
Und ich antwortete: »Mir fehlt des Löwen Stimme zu allem Befeh-
len.«
Da sprach es wieder wie ein Flüstern zu mir: »Die stillsten Worte
sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüs-
sen kommen, lenken die Welt.
Oh Zarathustra, du sollst gehen als ein Schatten dessen, was kom-
men muss: so wirst du befehlen und befehlend vorangehen.« -
Und ich antwortete: »Ich schäme mich.«
Da sprach es wieder ohne Stimme zu mir: »Du musst noch Kind
werden und ohne Scham.
Der Stolz der Jugend ist noch auf dir, spät bist du jung geworden:
aber wer zum Kinde werden will, muss auch noch seine Jugend
überwinden.« -
Und ich besann mich lange und zitterte. Endlich aber sagte ich,
was ich zuerst sagte: »Ich will nicht.«
Da geschah ein Lachen um mich. Wehe, wie diess Lachen mir die
Eingeweide zerriss und das Herz aufschlitzte!
Und es sprach zum letzten Male zu mir: »Oh Zarathustra, deine
2.22. DIE STILLSTE STUNDE 137

Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte!
So musst du wieder in die Einsamkeit: denn du sollst noch mürbe
werden.« -
Und wieder lachte es und floh: dann wurde es stille um mich
wie mit einer zwiefachen Stille. Ich aber lag am Boden, und der
Schweiss floss mir von den Gliedern.
- Nun hörtet ihr Alles, und warum ich in meine Einsamkeit zurück
muss. Nichts verschwieg ich euch, meine Freunde.
Aber auch diess hörtet ihr von mir, wer immer noch aller Men-
schen Verschwiegenster ist - und es sein will!
Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte
euch noch Etwas zu geben! Warum gebe ich es nicht? Bin ich denn
geizig?« -
Als Zarathustra aber diese Worte gesprochen hatte, überfiel ihn
die Gewalt des Schmerzes und die Nähe des Abschieds von seinen
Freunden, also dass er laut weinte; und Niemand wusste ihn zu
trösten. Des Nachts aber gieng er allein fort und verliess seine
Freunde.
138 KAPITEL 2. ZWEITER THEIL
Kapitel 3

Dritter Theil

»Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich
sehe hinab, weil ich erhoben bin.
Wer von euch kann zugleich lachen und erhoben sein?
Wer auf den höchsten Bergen steigt, der lacht über alle Trauer-
Spiele und Trauer-Ernste.«
Zarathustra, vom Lesen und Schreiben.

3.1 Der Wanderer

Um Mitternacht war es, da nahm Zarathustra seinen Weg über


den Rücken der Insel, dass er mit dem frühen Morgen an das and-
re Gestade käme: denn dort wollte er zu Schiff steigen. Es gab
nämlich allda eine gute Rhede, an der auch fremde Schiffe gern
vor Anker giengen; die nahmen Manchen mit sich, der von den
glückseligen Inseln über das Meer wollte. Als nun Zarathustra so
den Berg hinanstieg, gedachte er unterwegs des vielen einsamen
Wanderns von Jugend an, und wie viele Berge und Rücken und
Gipfel er schon gestiegen sei.
Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, sagte er zu seinem Her-
zen, ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange
still sitzen.
Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme,
- ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt

139
140 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

endlich nur noch sich selber.


Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften;
und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein
Eigen wäre!
Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim - mein eigen
Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut
unter alle Dinge und Zufälle.
Und noch Eins weiss ich: ich stehe jetzt vor meinem letzten Gipfel
und vor dem, was mir am längsten aufgespart war. Ach, meinen
härtesten Weg muss ich hinan! Ach, ich begann meine einsamste
Wanderung!
Wer aber meiner Art ist, der entgeht einer solchen Stunde nicht:
der Stunde, die zu ihm redet: »Jetzo erst gehst du deinen Weg der
Grösse! Gipfel und Abgrund - das ist jetzt in Eins beschlossen!
Du gehst deinen Weg der Grösse: nun ist deine letzte Zuflucht
worden, was bisher deine letzte Gefahr hiess!
Du gehst deinen Weg der Grösse: das muss nun dein bester Muth
sein, dass es hinter dir keinen Weg mehr giebt!
Du gehst deinen Weg der Grösse; hier soll dir Keiner nachschlei-
chen! Dein Fuss selber löschte hinter dir den Weg aus, und über
ihm steht geschrieben: Unmöglichkeit.
Und wenn dir nunmehr alle Leitern fehlen, so musst du verstehen,
noch auf deinen eigenen Kopf zu steigen: wie wolltest du anders
aufwärts steigen?
Auf deinen eigenen Kopf und hinweg über dein eigenes Herz! Jetzt
muss das Mildeste an dir noch zum Härtesten werden.
Wer sich stets viel geschont hat, der kränkelt zuletzt an seiner
vielen Schonung. Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land
nicht, wo Butter und Honig - fliesst!
Von sich absehn lernen ist nöthig, um Viel zu sehn: - diese Härte
thut jedem Berge-Steigenden Noth.
Wer aber mit den Augen zudringlich ist als Erkennender, wie sollte
der von allen Dingen mehr als ihre vorderen Gründe sehn!
Du aber, oh Zarathustra, wolltest aller Dinge Grund schaun und
Hintergrund: so musst du schon über dich selber steigen, - hinan,
hinauf, bis du auch deine Sterne noch unter dir hast!
3.1. DER WANDERER 141

Ja! Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das
erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurück als mein
letzter Gipfel! -
Also sprach Zarathustra im Steigen zu sich, mit harten Sprüchlein
sein Herz tröstend: denn er war wund am Herzen wie noch nie-
mals zuvor. Und als er auf die Höhe des Bergrückens kam, siehe,
da lag das andere Meer vor ihm ausgebreitet: und er stand still
und schwieg lange. Die Nacht aber war kalt in dieser Höhe und
klar und hellgestirnt.
Ich erkenne mein Loos, sagte er endlich mit Trauer. Wohlan! Ich
bin bereit. Eben begann meine letzte Einsamkeit.
Ach, diese schwarze traurige See unter mir! Ach, diese schwan-
gere nächtliche Verdrossenheit! Ach, Schicksal und See! Zu euch
muss ich nun hinab steigen!
Vor meinem höchsten Berge stehe ich und vor meiner längsten
Wanderung: darum muss ich erst tiefer hinab als ich jemals stieg:
- tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg, bis hinein in
seine schwärzeste Fluth! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich
bin bereit.
Woher kommen die höchsten Berge? so fragte ich einst. Da lernte
ich, dass sie aus dem Meere kommen.
Diess Zeugniss ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände
ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muss das Höchste zu seiner Höhe
kommen. -
Also sprach Zarathustra auf der Spitze des Berges, wo es kalt war;
als er aber in die Nähe des Meeres kam und zuletzt allein un-
ter den Klippen stand, da war er unterwegs müde geworden und
sehnsüchtiger als noch zuvor.
Es schläft jetzt Alles noch, sprach er; auch das Meer schläft. Schlaf-
trunken und fremd blickt sein Auge nach mir.
Aber es athmet warm, das fühle ich. Und ich fühle auch, dass es
träumt. Es windet sieh träumend auf harten Kissen.
Horch! Horch! Wie es stöhnt von bösen Erinnerungen! Oder bösen
Erwartungen?
Ach, ich bin traurig mit dir, du dunkles Ungeheuer, und mir selber
noch gram um deinetwillen.
142 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Ach, dass meine Hand nicht Stärke genug hat! Gerne, wahrlich,
möchte ich dich von bösen Träumen erlösen! -
Und indem Zarathustra so sprach, lachte er mit Schwermuth und
Bitterkeit über sich selber. »Wie! Zarathustra! sagte er, willst du
noch dem Meere Trost singen?
Ach, du liebreicher Narr Zarathustra, du Vertrauens-Überseliger!
Aber so warst du immer: immer kamst du vertraulich zu allem
Furchtbaren.
Jedes Ungethüm wolltest du noch streicheln. Ein Hauch warmen
Athems, ein Wenig weiches Gezottel an der Tatze -: und gleich
warst du bereit, es zu lieben und zu locken.
Die Liebe ist die Gefahr des Einsamsten, die Liebe zu Allem, wenn
es nur lebt! Zum Lachen ist wahrlich meine Narrheit und meine
Bescheidenheit in der Liebe!« -
Also sprach Zarathustra und lachte dabei zum andern Male: da
aber gedachte er seiner verlassenen Freunde -, und wie als ob
er sich mit seinen Gedanken an ihnen vergangen habe, zürnte
er sich ob seiner Gedanken. Und alsbald geschah es, dass der
Lachende weinte: - vor Zorn und Sehnsucht weinte Zarathustra
bitterlich.

3.2 Vom Gesicht und Räthsel

3.2.1

Als es unter den Schiffsleuten ruchbar wurde, dass Zarathustra


auf dem Schiffe sei, - denn es war ein Mann zugleich mit ihm an
Bord gegangen, der von den glückseligen Inseln kam - da ent-
stand eine grosse Neugierde und Erwartung. Aber Zarathustra
schwieg zwei Tage und war kalt und taub vor Traurigkeit, also,
dass er weder auf Blicke noch auf Fragen antwortete. Am Aben-
de aber des zweiten Tages that er seine Ohren wieder auf, ob
er gleich noch schwieg: denn es gab viel Seltsames und Gefähr-
liches auf diesem Schiffe anzuhören, welches weither kam und
noch weiterhin wollte. Zarathustra aber war ein Freund aller Sol-
chen, die weite Reisen thun und nicht ohne Gefahr leben mögen.
Und siehe! zuletzt wurde ihm im Zuhören die eigne Zunge gelöst,
3.2. VOM GESICHT UND RÄTHSEL 143

und das Eis seines Herzens brach: - da begann er also zu reden:


Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listi-
gen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, -
euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele
mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird:
- denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten;
und, wo ihr errathen könnt, da hasst ihr es, zu erschliessen -
euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich sah, - das Gesicht des
Einsamsten. -
Düster gieng ich jüngst durch leichenfarbne Dämmerung, - düster
und hart, mit gepressten Lippen. Nicht nur Eine Sonne war mir
untergegangen.
Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein boshafter, einsamer,
dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein Bergpfad knirsch-
te unter dem Trotz meines Fusses.
Stumm über höhnischem Geklirr von Kieseln schreitend, den Stein
zertretend, der ihn gleiten liess: also zwang mein Fuss sich auf-
wärts.
Aufwärts: - dem Geiste zum Trotz, der ihn abwärts zog, abgrund-
wärts zog, dem Geiste der Schwere, meinem Teufel und Erzfeinde.
Aufwärts: - obwohl er auf mir sass, halb Zwerg, halb Maulwurf;
lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein
Hirn träufelnd.
»Oh Zarathustra, raunte er höhnisch Silb' um Silbe, du Stein der
Weisheit! Du warfst dich hoch, aber jeder geworfene Stein muss
- fallen!
Oh Zarathustra, du Stein der Weisheit, du Schleuderstein, du Stern-
Zertrümmerer! Dich selber warfst du so hoch, - aber jeder gewor-
fene Stein - muss fallen!
Verurtheilt zu dir selber und zur eignen Steinigung: oh Zarathu-
stra, weit warfst du ja den Stein, - aber auf dich wird er zurückfal-
len!«
Drauf schwieg der Zwerg; und das währte lange. Sein Schweigen
aber drückte mich; und solchermaassen zu Zwein ist man wahr-
lich einsamer als zu Einem!
144 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Ich stieg, ich stieg, ich träumte, ich dachte, - aber Alles drückte
mich. Einem Kranken glich ich, den seine schlimme Marter müde
macht, und den wieder ein schlimmerer Traum aus dem Einschla-
fen weckt. -
Aber es giebt Etwas in mir, das ich Muth heisse: das schlug bisher
mir jeden Unmuth todt. Dieser Muth hiess mich endlich stille stehn
und sprechen: »Zwerg! Du! Oder ich!« -
Muth nämlich ist der beste Todtschläger, - Muth, welcher angreift
: denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel.
Der Mensch aber ist das muthigste Thier: damit überwand er jedes
Thier. Mit klingendem Spiele überwand er noch jeden Schmerz;
Menschen-Schmerz aber ist der tiefste Schmerz.
Der Muth schlägt auch den Schwindel todt an Abgründen: und wo
stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht selber -
Abgründe sehen?
Muth ist der beste Todtschläger: der Muth schlägt auch das Mitlei-
den todt. Mitleiden aber ist der tiefste Abgrund: so tief der Mensch
in das Leben sieht, so tief sieht er auch in das Leiden.
Muth aber ist der beste Todtschläger, Muth, der angreift: der schlägt
noch den Tod todt, denn er spricht: »War das das Leben? Wohlan!
Noch Ein Mal!«
In solchem Spruche aber ist viel klingendes Spiel. Wer Ohren hat,
der höre. -

3.2.2

»Halt! Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärke-
re von uns Beiden -: du kennst meinen abgründlichen Gedanken
nicht! Den - könntest du nicht tragen!« -
Da geschah, was mich leichter machte: denn der Zwerg sprang
mir von der Schulter, der Neugierige! Und er hockte sich auf einen
Stein vor mich hin. Es war aber gerade da ein Thorweg, wo wir
hielten.
»Siehe diesen Thorweg! Zwerg! sprach ich weiter: der hat zwei
Gesichter. Zwei Wege kommen hier zusammen: die gieng noch
Niemand zu Ende.
3.2. VOM GESICHT UND RÄTHSEL 145

Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange
Gasse hinaus - das ist eine andre Ewigkeit.
Sie widersprechen sich, diese Wege; sie stossen sich gerade vor
den Kopf: - und hier, an diesem Thorwege, ist es, wo sie zusam-
men kommen. Der Name des Thorwegs steht oben geschrieben:
»Augenblick«.
Aber wer Einen von ihnen weiter gienge - und immer weiter und
immer ferner: glaubst du, Zwerg, dass diese Wege sich ewig wi-
dersprechen?« -
»Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit
ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«
»Du Geist der Schwere! sprach ich zürnend, mache dir es nicht zu
leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuss, - und
ich trug dich hoch!
Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwe-
ge Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts hinter uns
liegt eine Ewigkeit.
Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese
Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn kann von allen
Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein?
Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von
diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon - da-
gewesen sein?
Und sind nicht solchermaassen fest alle Dinge verknotet, dass
dieser Augenblick alle kommenden Dinge nach sich zieht? Also -
- sich selber noch?
Denn, was laufen kann von allen Dingen: auch in dieser langen
Gasse hinaus - muss es einmal noch laufen! -
Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht, und die-
ser Mondschein selber, und ich und du im Thorwege, zusammen
flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd - müssen wir nicht Alle
schon dagewesen sein?
- und wiederkommen und in jener anderen Gasse laufen, hinaus,
vor uns, in dieser langen schaurigen Gasse - müssen wir nicht
ewig wiederkommen? -«
Also redete ich, und immer leiser: denn ich fürchtete mich vor
146 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

meinen eignen Gedanken und Hintergedanken. Da, plötzlich, hör-


te ich einen Hund nahe heulen.
Hörte ich jemals einen Hund so heulen? Mein Gedanke lief zurück.
Ja! Als ich Kind war, in fernster Kindheit:
- da hörte ich einen Hund so heulen. Und sah ihn auch, gesträubt,
den Kopf nach Oben, zitternd, in stillster Mitternacht, wo auch
Hunde an Gespenster glauben:
- also dass es mich erbarmte. Eben nämlich gieng der volle Mond,
todtschweigsam, über das Haus, eben stand er still, eine runde
Gluth, - still auf flachem Dache, gleich als auf fremdem Eigenthu-
me: -
darob entsetzte sich damals der Hund: denn Hunde glauben an
Diebe und Gespenster. Und als ich wieder so heulen hörte, da
erbarmte es mich abermals.
Wohin war jetzt Zwerg? und Thorweg? Und Spinne? Und alles Flü-
stern? Träumte ich denn? Wachte ich auf? Zwischen wilden Klip-
pen stand ich mit Einem Male, allein, öde, im ödesten Mondschei-
ne.
Aber da lag ein Mensch! Und da! Der Hund, springend, gesträubt,
winselnd, - jetzt sah er mich kommen - da heulte er wieder, da
schrie er: - hörte ich je einen Hund so Hülfe schrein?
Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jun-
gen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten
Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde
hieng.
Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er
hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund
- da biss sie sich fest.
Meine Hand riss die Schlange und riss: - umsonst! sie riss die
Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: »Beiss
zu! Beiss zu!
Den Kopf ab! Beiss zu!« - so schrie es aus mir, mein Grauen, mein
Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes
schrie mit Einem Schrei aus mir. -
Ihr Kühnen um mich! Ihr Sucher, Versucher, und wer von euch mit
listigen Segeln sich in unerforschte Meere einschiffte! Ihr Räthsel-
3.3. VON DER SELIGKEIT WIDER WILLEN 147

Frohen!
So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet
mir doch das Gesicht des Einsamsten!
Denn ein Gesicht war's und ein Vorhersehn: - was sah ich damals
im Gleichnisse? Und wer ist, der einst noch kommen muss?
Wer ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch?
Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in
den Schlund kriechen wird?
- Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gu-
tem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange -: und sprang
empor. -
Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, - ein Verwandelter, ein Um-
leuchteter, welcher lachte ! Niemals noch auf Erden lachte je ein
Mensch, wie er lachte!
Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen La-
chen war, - - und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die
nimmer stille wird.
Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage
ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich's, jetzt zu sterben! -
Also sprach Zarathustra.

3.3 Von der Seligkeit wider Willen

Mit solchen Räthseln und Bitternissen im Herzen fuhr Zarathustra


über das Meer. Als er aber vier Tagereisen fern war von den glück-
seligen Inseln und von seinen Freunden, da hatte er allen seinen
Schmerz überwunden -: siegreich und mit festen Füssen stand er
wieder auf seinem Schicksal. Und damals redete Zarathustra also
zu seinem frohlockenden Gewissen:
Allein bin ich wieder und will es sein, allein mit reinem Himmel
und freiem Meere; und wieder ist Nachmittag um mich.
Des Nachmittags fand ich zum ersten Male einst meine Freunde,
des Nachmittags auch zum anderen Male: - zur Stunde, da alles
Licht stiller wird.
Denn was von Glück noch unterwegs ist zwischen Himmel und
148 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Erde, das sucht sich nun zur Herberge noch eine lichte Seele: vor
Glück ist alles Licht jetzt stiller worden.
Oh Nachmittag meines Lebens! Einst stieg auch mein Glück zu
Thale, dass es sich eine Herberge suche: da fand es diese offnen
gastfreundlichen Seelen.
Oh Nachmittag meines Lebens! Was gab ich nicht hin, dass ich
Eins hätte: diese lebendige Pflanzung meiner Gedanken und diess
Morgenlicht meiner höchsten Hoffnung!
Gefährten suchte einst der Schaffende und Kinder seiner Hoff-
nung: und siehe, es fand sich, dass er sie nicht finden könne, es
sei denn, er schaffe sie selber erst.
Also bin ich mitten in meinem Werke, zu meinen Kindern gehend
und von ihnen kehrend: um seiner Kinder willen muss Zarathustra
sich selbst vollenden.
Denn von Grund aus liebt man nur sein Kind und Werk; und wo
grosse Liebe zu sich selber ist, da ist sie der Schwangerschaft
Wahrzeichen: so fand ich's.
Noch grünen mir meine Kinder in ihrem ersten Frühlinge, nahe
bei einander stehend und gemeinsam von Winden geschüttelt,
die Bäume meines Gartens und besten Erdreichs.
»Und wahrlich! Wo solche Bäume bei einander stehn, da sind
glückselige Inseln!
Aber einstmals will ich sie ausheben und einen jeden für sich allein
stellen: dass er Einsamkeit lerne und Trotz und Vorsicht.
Knorrig und gekrümmt und mit biegsamer Härte soll er mir dann
am Meere dastehn, ein lebendiger Leuchtthurm unbesiegbaren
Lebens.
Dort, wo die Stürme hinab in's Meer stürzen, und des Gebirgs Rüs-
sel Wasser trinkt, da soll ein jeder einmal seine Tag- und Nacht-
wachen haben, zu seiner Prüfung und Erkenntniss.
Erkannt und geprüft soll er werden, darauf, ob er meiner Art und
Abkunft ist, - ob er eines langen Willens Herr sei, schweigsam,
auch wenn er redet, und nachgebend also, dass er im Geben
nimmt: -
- dass er einst mein Gefährte werde und ein Mitschaffender und
Mitfeiernder Zarathustra's -: ein Solcher, der mir meinen Willen
3.3. VON DER SELIGKEIT WIDER WILLEN 149

auf meine Tafeln schreibt: zu aller Dinge vollerer Vollendung.


Und um seinetwillen und seines Gleichen muss ich selber mich
vollenden: darum weiche ich jetzt meinem Glücke aus und biete
mich allem Unglücke an - zu meiner letzten Prüfung und Erkennt-
niss.
Und wahrlich, Zeit war's, dass ich gieng; und des Wanderers Schat-
ten und die längste Weile und die stillste Stunde - alle redeten mir
zu: »es ist höchste Zeit!«
Der Wind blies mir durch's Schlüsselloch und sagte »Komm!« Die
Thür sprang mir listig auf und sagte »Geh!«
Aber ich lag angekettet an die Liebe zu meinen Kindern: das Be-
gehren legte mir diese Schlinge, das Begehren nach Liebe, dass
ich meiner Kinder Beute würde und mich an sie verlöre.
Begehren - das heisst mir schon: mich verloren haben. Ich habe
euch, meine Kinder! In diesem Haben soll Alles Sicherheit und
Nichts Begehren sein.
Aber brütend lag die Sonne meiner Liebe auf mir, im eignen Safte
kochte Zarathustra, - da flogen Schatten und Zweifel über mich
weg.
Nach Frost und Winter gelüstete mich schon: »oh dass Frost und
Winter mich wieder knacken und knirschen machten!« seufzte
ich: - da stiegen eisige Nebel aus mir auf.
Meine Vergangenheit brach ihm Gräber, manch lebendig begrab-
ner Schmerz wachte auf -: ausgeschlafen hatte er sich nur, ver-
steckt in Leichen-Gewänder.
Also rief mir Alles in Zeichen zu: »es ist Zeit!« - Aber ich - hörte
nicht: bis endlich mein Abgrund sich rührte und mein Gedanke
mich biss.
Ach, abgründlicher Gedanke, der du mein Gedanke bist! Wann fin-
de ich die Stärke, dich graben zu hören und nicht mehr zu zittern?
Bis zur Kehle hinauf klopft mir das Herz, wenn ich dich graben hö-
re! Dein Schweigen noch will mich würgen, du abgründlich Schwei-
gender!
Noch wagte ich niemals, dich herauf zu rufen: genug schon, dass
ich dich mit mir - trug! Noch war ich nicht stark genug zum letzten
Löwen-Übermuthe und -Muthwillen.
150 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Genug des Furchtbaren war mir immer schon deine Schwere: aber
einst soll ich noch die Stärke finden und die Löwen-Stimme, die
dich herauf ruft!
Wenn ich mich dessen erst überwunden habe, dann will ich mich
auch des Grösseren noch überwinden; und ein Sieg soll meiner
Vollendung Siegel sein! -
Inzwischen treibe ich noch auf ungewissen Meeren; der Zufall
schmeichelt mir, der glattzüngige; vorwärts und rückwärts schaue
ich -, noch schaue ich kein Ende.
Noch kam mir die Stunde meines letzten Kampfes nicht, - oder
kommt sie wohl mir eben? Wahrlich, mit tückischer Schönheit
schaut mich rings Meer und Leben an!
Oh Nachmittag meines Lebens! Oh Glück vor Abend! Oh Hafen
auf hoher See! Oh Friede im Ungewissen! Wie misstraue ich euch
Allen!
Wahrlich, misstrauisch bin ich gegen eure tückische Schönheit!
Dem Liebenden gleiche ich, der allzusammtenem Lächeln mis-
straut.
Wie er die Geliebteste vor sich her stösst, zärtlich noch in seiner
Härte, der Eifersüchtige -, also stosse ich diese selige Stunde vor
mir her.
Hinweg mit dir, du selige Stunde! Mit dir kam mir eine Seligkeit
wider Willen! Willig zu meinem tiefsten Schmerze stehe ich hier:
- zur Unzeit kamst du!
Hinweg mit dir, du selige Stunde! Lieber nimm Herberge dort - bei
meinen Kindern! Eile! und segne sie vor Abend noch mit meinem
Glücke!
Da naht schon der Abend: die Sonne sinkt. Dahin - mein Glück! -
Also sprach Zarathustra. Und er wartete auf sein Unglück die gan-
ze Nacht: aber er wartete umsonst. Die Nacht blieb hell und still,
und das Glück selber kam ihm immer näher und näher. Gegen
Morgen aber lachte Zarathustra zu seinem Herzen und sagte spöt-
tisch: »das Glück läuft mir nach. Das kommt davon, dass ich nicht
den Weibern nachlaufe. Das Glück aber ist ein Weib.«
3.4. VOR SONNEN-AUFGANG 151

3.4 Vor Sonnen-Aufgang

Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich


schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden.
In deine Höhe mich zu werfen - das ist meine Tiefe! In deine Rein-
heit mich zu bergen - das ist meine Unschuld!
Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst du deine Sterne.
Du redest nicht: so kündest du mir deine Weisheit.
Stumm über brausendem Meere bist du heut mir aufgegangen,
deine Liebe und deine Scham redet Offenbarung zu meiner brau-
senden Seele.
Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine Schönheit, dass du
stumm zu mir sprichst, offenbar in deiner Weisheit:
Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner Seele! Vor der
Sonne kamst du zu mir, dem Einsamsten.
Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und
Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam.
Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen -: wir schwei-
gen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu.
Bist du nicht das Licht zu meinem Feuer? Hast du nicht die Schwester-
Seele zu meiner Einsicht?
Zusammen lernten wir Alles; zusammen lernten wir über uns zu
uns selber aufsteigen und wolkenlos lächeln: -
- wolkenlos hinab lächeln aus lichten Augen und aus meilenweiter
Ferne, wenn unter uns Zwang und Zweck und Schuld wie Regen
dampfen.
Und wanderte ich allein: wes hungerte meine Seele in Nächten
und Irr-Pfaden? Und stieg ich Berge, wen suchte ich je, wenn nicht
dich, auf Bergen?
Und all mein Wandern und Bergsteigen: eine Noth war's nur und
ein Behelf des Unbeholfenen: - fliegen allein will mein ganzer Wil-
le, in dich hinein fliegen!
Und wen hasste ich mehr, als ziehende Wolken und Alles, was dich
befleckt? Und meinen eignen Hass hasste ich noch, weil er dich
befleckte!
152 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Den ziehenden Wolken bin ich gram, diesen schleichenden Raub-


Katzen: sie nehmen dir und mir, was uns gemein ist, - das unge-
heure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.
Diesen Mittlern und Mischern sind wir gram, den ziehenden Wol-
ken: diesen Halb- und Halben, welche weder segnen lernten, noch
von Grund aus fluchen.
Lieber will ich noch unter verschlossnem Himmel in der Tonne
sitzen, lieber ohne Himmel im Abgrund sitzen, als dich, Licht-
Himmel, mit Zieh-Wolken befleckt sehn!
Und oft gelüstete mich, sie mit zackichten Blitz-Golddrähten fest-
zuheften, dass ich, gleich dem Donner, auf ihrem Kessel-Bauche
die Pauke schlüge: -
- ein zorniger Paukenschläger, weil sie mir dein Ja! und Amen! rau-
ben, du Himmel über mir, du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! -
weil sie dir mein Ja! und Amen! rauben.
Denn lieber noch will ich Lärm und Donner und Wetter-Flüche, als
diese bedächtige zweifelnde Katzen-Ruhe; und auch unter Men-
schen hasse ich am besten alle Leisetreter und Halb- und Halben
und zweifelnde, zögernde Zieh-Wolken.
Und »wer nicht segnen kann, der soll fluchen lernen!« - diese helle
Lehre fiel mir aus hellem Himmel, dieser Stern steht auch noch in
schwarzen Nächten an meinem Himmel.
Ich aber bin ein Segnender und ein Ja-sager, wenn du nur um mich
bist, du Reiner! Lichter! Du Licht-Abgrund! - in alle Abgründe trage
ich da noch mein segnendes Ja-sagen.
Zum Segnenden bin ich worden und zum Ja-sagenden: und dazu
rang ich lange und war ein Ringer, dass ich einst die Hände frei
bekäme zum Segnen.
Das aber ist mein Segnen: über jedwedem Ding als sein eigener
Himmel stehn, als sein rundes Dach, seine azurne Glocke und ewi-
ge Sicherheit: und selig ist, wer also segnet!
Denn alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits
von Gut und Böse; Gut und Böse selber aber sind nur Zwischen-
schatten und feuchte Trübsale und Zieh-Wolken.
Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: »über
allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der
3.4. VOR SONNEN-AUFGANG 153

Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.«


»Von Ohngefähr« - das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich
allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter
dem Zwecke.
Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner
Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, dass über ihnen und durch
sie kein »ewiger Wille« - will.
Diesen Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes
Willens, als ich lehrte: »bei Allem ist Eins unmöglich - Vernünftig-
keit!«
Ein Wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von
Stern zu Stern, - dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt:
um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt!
Ein Wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit
fand ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des
Zufalls - tanzen.
Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine
Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze
giebt: -
- dass du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir
ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler! -
Doch du erröthest? Sprach ich Unaussprechbares? Lästerte ich,
indem ich dich segnen wollte?
Oder ist es die Scham zu Zweien, welche dich erröthen machte? -
Heissest du mich gehn und schweigen, weil nun - der Tag kommt?
Die Welt ist tief -: und tiefer als je der Tag gedacht hat. Nicht Alles
darf vor dem Tage Worte haben. Aber der Tag kommt: so scheiden
wir nun!
Oh Himmel über mir, du Schamhafter! Glühender! Oh du mein
Glück vor Sonnen-Aufgang! Der Tag kommt: so scheiden wir nun!
-
Also sprach Zarathustra.
154 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

3.5 Von der verkleinernden Tugend

3.5.1

Als Zarathustra wieder auf dem festen Lande war, gieng er nicht
stracks auf sein Gebirge und seine Höhle los, sondern that vie-
le Wege und Fragen und erkundete diess und das, also, dass er
von sich selber im Scherze sagte: »siehe einen Fluss, der in vielen
Windungen zurück zur Quelle fliesst!« Denn er wollte in Erfahrung
bringen, was sich inzwischen mit dem Menschen zugetragen ha-
be: ob er grösser oder kleiner geworden sei. Und ein Mal sah er
eine Reihe neuer Häuser; da wunderte er sich und sagte:
Was bedeuten diese Häuser? Wahrlich, keine grosse Seele stellte
sie hin, sich zum Gleichnisse!
Nahm wohl ein blödes Kind sie aus seiner Spielschachtel? Dass
doch ein anderes Kind sie wieder in seine Schachtel thäte!
Und diese Stuben und Kammern: können Männer da aus- und ein-
gehen? Gemacht dünken sie mich für Seiden-Puppen; oder für
Naschkatzen, die auch wohl an sich naschen lassen.
Und Zarathustra blieb stehn und dachte nach. Endlich sagte er
betrübt: »Es ist Alles kleiner geworden!«
Überall sehe ich niedrigere Thore: wer meiner Art ist, geht da wohl
noch hindurch, aber - er muss sich bücken!
Oh wann komme ich wieder in meine Heimat, wo ich mich nicht
mehr bücken muss - nicht mehr bücken muss vor den Kleinen!« -
Und Zarathustra seufzte und blickte in die Ferne. -
Desselbigen Tages aber redete er seine Rede über die verkleinern-
de Tugend.

3.5.2

Ich gehe durch diess Volk und halte meine Augen offen: sie ver-
geben mir es nicht, dass ich auf ihre Tugenden nicht neidisch bin.
Sie beissen nach mir, weil ich zu ihnen sage: für kleine Leute sind
kleine Tugenden nöthig - und weil es mir hart eingeht, dass kleine
Leute nöthig sind!
3.5. VON DER VERKLEINERNDEN TUGEND 155

Noch gleiche ich dem Hahn hier auf fremdem Gehöfte, nach dem
auch die Hennen beissen; doch darob bin ich diesen Hennen nicht
ungut.
Ich bin höflich gegen sie wie gegen alles kleine Aergerniss; gegen
das Kleine stachlicht zu sein dünkt mich eine Weisheit für Igel.
Sie reden Alle von mir, wenn sie Abends um's Feuer sitzen, - sie
reden von mir, aber Niemand denkt - an mich!
Diess ist die neue Stille, die ich lernte: ihr Lärm um mich breitet
einen Mantel über meine Gedanken.
Sie lärmen unter einander: »was will uns diese düstere Wolke?
sehen wir zu, dass sie uns nicht eine Seuche bringe!«
Und jüngst riss ein Weib sein Kind an sich, das zu mir wollte:
»nehmt die Kinder weg! schrie es; solche Augen versengen Kinder-
Seelen.«
Sie husten, wenn ich rede: sie meinen, Husten sei ein Einwand
gegen starke Winde, - sie errathen Nichts vom Brausen meines
Glückes!
»Wir haben noch keine Zeit für Zarathustra« - so wenden sie ein;
aber was liegt an einer Zeit, die für Zarathustra »keine Zeit hat«?
Und wenn sie gar mich rühmen: wie könnte ich wohl auf ihrem
Ruhme einschlafen? Ein Stachel-Gürtel ist mir ihr Lob: es kratzt
mich noch, wenn ich es von mir thue.
Und auch das lernte ich unter ihnen: der Lobende stellt sich, als
gäbe er zurück, in Wahrheit aber will er mehr beschenkt sein!
Fragt meinen Fuss, ob ihm ihre Lob- und Lock-Weise gefällt! Wahr-
lich, nach solchem Takt und Tiktak mag er weder tanzen, noch
stille stehn.
Zur kleinen Tugend möchten sie mich locken und loben; zum Tik-
tak des kleinen Glücks möchten sie meinen Fuss überreden.
Ich gehe durch diess Volk und halte die Augen offen: sie sind klei-
ner geworden und werden immer kleiner: - das aber macht ihre
Lehre von Glück und Tugend.
Sie sind nämlich auch in der Tugend bescheiden - denn sie wol-
len Behagen. Mit Behagen aber verträgt sich nur die bescheidene
Tugend.
156 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Wohl lernen auch sie auf ihre Art Schreiten und Vorwärts-Schreiten:
das heisse ich ihr Humpeln -. Damit werden sie jedem zum Anstos-
se, der Eile hat.
Und Mancher von ihnen geht vorwärts und blickt dabei zurück,
mit versteiftem Nacken: dem renne ich gern wider den Leib.
Fuss und Augen sollen nicht lügen, noch sich einander Lügen stra-
fen. Aber es ist viel Lügnerei bei den kleinen Leuten.
Einige von ihnen wollen, aber die Meisten werden nur gewollt. Ei-
nige von ihnen sind ächt, aber die Meisten sind schlechte Schau-
spieler.
Es giebt Schauspieler wider Wissen unter ihnen und Schauspieler
wider Willen -, die Ächten sind immer selten, sonderlich die ächten
Schauspieler.
Des Mannes ist hier wenig: darum vermännlichen sich ihre Weiber.
Denn nur wer Mannes genug ist, wird im Weibe das Weib - erlösen.
Und diese Heuchelei fand ich unter ihnen am schlimmsten: dass
auch Die, welche befehlen, die Tugenden Derer heucheln, welche
dienen.
»Ich diene, du dienst, wir dienen« - so betet hier auch die Heu-
chelei der Herrschenden, - und wehe, wenn der erste Herr nur der
erste Diener ist!
Ach, auch in ihre Heucheleien verflog sich wohl meines Auges
Neugier; und gut errieth ich all ihr Fliegen-Glück und ihr Summen
um besonnte Fensterscheiben.
Soviel Güte, soviel Schwäche sehe ich. Soviel Gerechtigkeit und
Mitleiden, soviel Schwäche.
Rund, rechtlich und gütig sind sie mit einander, wie Sandkörnchen
rund, rechtlich und gütig mit Sandkörnchen sind.
Bescheiden ein kleines Glück umarmen - das heissen sie »Erge-
bung«! und dabei schielen sie bescheiden schon nach einem neu-
en kleinen Glücke aus.
Sie wollen im Grunde einfältiglich Eins am meisten: dass ihnen
Niemand wehe thue. So kommen sie jedermann zuvor und thun
ihm wohl.
Diess aber ist Feigheit : ob es schon »Tugend« heisst. -
3.5. VON DER VERKLEINERNDEN TUGEND 157

Und wenn sie einmal rauh reden, diese kleinen Leute: ich höre
darin nur ihre Heiserkeit, - jeder Windzug nämlich macht sie hei-
ser.
Klug sind sie, ihre Tugenden haben kluge Finger. Aber ihnen fehlen
die Fäuste, ihre Finger wissen nicht, sich hinter Fäuste zu verkrie-
chen.
Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit
machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu
des Menschen bestem Hausthiere.
»Wir setzten unsern Stuhl in die Mitte - das sagt mir ihr Schmun-
zeln - und ebenso weit weg von sterbenden Fechtern wie von ver-
gnügten Säuen.«
Diess aber ist - Mittelmässigkeit: ob es schon Mässigkeit heisst. -

3.5.3

Ich gehe durch diess Volk und lasse manches Wort fallen: aber sie
wissen weder zu nehmen noch zu behalten.
Sie wundern sich, dass ich nicht kam, auf Lüste und Laster zu
lästern; und wahrlich, ich kam auch nicht, dass ich vor Taschen-
dieben warnte!
Sie wundern sich, dass ich nicht bereit bin, ihre Klugheit noch zu
witzigen und zu spitzigen: als ob sie noch nicht genug der Klüg-
linge hätten, deren Stimme mir gleich Schieferstiften kritzelt!
Und wenn ich rufe: »Flucht allen feigen Teufeln in euch, die gerne
winseln und Hände falten und anbeten möchten«: so rufen sie:
»Zarathustra ist gottlos«.
Und sonderlich rufen es ihre Lehrer der Ergebung -; aber gerade
ihnen liebe ich's, in das Ohr zu schrein: Ja! Ich bin Zarathustra,
der Gottlose!
Diese Lehrer der Ergebung! Überall hin, wo es klein und krank und
grindig ist, kriechen sie, gleich Läusen; und nur mein Ekel hindert
mich, sie zu knacken.
Wohlan! Diess ist meine Predigt für ihre Ohren: ich bin Zarathu-
stra, der Gottlose, der da spricht »wer ist gottloser denn ich, dass
ich mich seiner Unterweisung freue?«
158 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich Meines-Gleichen?


Und alle Die sind Meines-Gleichen, die sich selber ihren Willen
geben und alle Ergebung von sich abthun.
Ich bin Zarathustra, der Gottlose: ich koche mir noch jeden Zufall
in meinem Topfe. Und erst, wenn er da gar gekocht ist, heisse ich
ihn willkommen, als meine Speise.
Und wahrlich, mancher Zufall kam herrisch zu mir: aber herrischer
noch sprach zu ihm mein Wille, - da lag er schon bittend auf den
Knieen -
- bittend, dass er Herberge finde und Herz bei mir, und schmeich-
lerisch zuredend: »sieh doch; oh Zarathustra, wie nur Freund zu
Freunde kommt!« -
Doch was rede ich, wo Niemand meine Ohren hat! Und so will ich
es hinaus in alle Winde rufen:
Ihr werdet immer kleiner, ihr kleinen Leute! Ihr bröckelt ab, ihr
Behaglichen! Ihr geht mir noch zu Grunde -
- an euren vielen kleinen Tugenden, an eurem vielen kleinen Un-
terlassen, an eurer vielen kleinen Ergebung!
Zu viel schonend, zu viel nachgebend: so ist euer Erdreich! Aber
dass ein Baum gross werde, dazu will er um harte Felsen harte
Wurzeln schlagen!
Auch was ihr unterlasse, webt am Gewebe aller Menschen-Zukunft;
auch euer Nichts ist ein Spinnennetz und eine Spinne, die von der
Zukunft Blute lebt.
Und wenn ihr nehmt, so ist es wie stehlen, ihr kleinen Tugendhaf-
ten; aber noch unter Schelmen spricht die Ehre : »man soll nur
stehlen, wo man nicht rauben kann.«
»Es giebt sich« - das ist auch eine Lehre der Ergebung. Aber ich
sage euch, ihr Behaglichen: es nimmt sich und wird immer mehr
noch von euch nehmen!
Ach, dass ihr alles halbe Wollen von euch abthätet und entschlos-
sen würdet zur Trägheit wie zur That!
Ach, dass ihr mein Wort verstündet: »thut immerhin, was ihr wollt,
- aber seid erst Solche, die wollen können!«
»Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, - aber seid mir erst
solche, die sich selber lieben -
3.6. AUF DEM OELBERGE 159

- mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lie-
ben!« Also spricht Zarathustra, der Gottlose. -
Doch was rede ich, wo Niemand meine Ohren hat! Es ist hier noch
eine Stunde zu früh für mich.
Mein eigner Vorläufer bin ich unter diesem Volke, mein eigner
Hahnen-Ruf durch dunkle Gassen.
Aber ihre Stunde kommt! Und es kommt auch die meine! Stünd-
lich werden sie kleiner, ärmer, unfruchtbarer, - armes Kraut! ar-
mes Erdreich!
Und bald sollen sie mir dastehn wie dürres Gras und Steppe, und
wahrlich! ihrer selber müde - und mehr, als nach Wasser, nach
Feuer lechzend!
Oh gesegnete Stunde des Blitzes! Oh Geheimniss vor Mittag! -
Laufende Feuer will ich einst noch aus ihnen machen und Verkün-
der mit Flammen-Zungen: -
- verkünden sollen sie einst noch mit Flammen-Zungen: Er kommt,
er ist nahe, der grosse Mittag!
Also sprach Zarathustra.

3.6 Auf dem Oelberge

Der Winter, ein schlimmer Gast, sitzt bei mir zu Hause; blau sind
meine Hände von seiner Freundschaft Händedruck.
Ich ehre ihn, diesen schlimmen Gast, aber lasse gerne ihn allein
sitzen. Gerne laufe ich ihm davon; und, läuft man gut, so entläuft
man ihm!
Mit warmen Füssen und warmen Gedanken laufe ich dorthin, wo
der Wind stille steht, - zum Sonnen-Winkel meines Oelbergs.
Da lache ich meines gestrengen Gastes und bin ihm noch gut,
dass er zu Hause mir die Fliegen wegfängt und vielen kleinen
Lärm stille macht.
Er leidet es nämlich nicht, wenn eine Mücke singen will, oder gar
zwei; noch die Gasse macht er einsam, dass der Mondschein drin
Nachts sich fürchtet.
160 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Ein harter Gast ist er, - aber ich ehre ihn, und nicht bete ich, gleich
den Zärtlingen, zum dickbäuchichten Feuer-Götzen.
Lieber noch ein Wenig zähneklappern als Götzen anbeten! - so
will's meine Art. Und sonderlich bin ich allen brünstigen damp-
fenden dumpfigen Feuer-Götzen gram.
Wen ich liebe, den liebe ich Winters besser als Sommers; besser
spotte ich jetzt meiner Feinde und herzhafter, seit der Winter mir
im Hause sitzt.
Herzhaft wahrlich, selbst dann noch, wenn ich zu Bett krieche -:
da lacht und muthwillt noch mein verkrochenes Glück; es lacht
noch mein Lügen-Traum.
Ich - ein Kriecher? Niemals kroch ich im Leben vor Mächtigen;
und log ich je, so log ich aus Liebe. Desshalb bin ich froh auch im
Winter-Bette.
Ein geringes Bett wärmt mich mehr als ein reiches, denn ich bin
eifersüchtig auf meine Armuth. Und im Winter ist sie mir am treue-
sten.
Mit einer Bosheit beginne ich jeden Tag, ich spotte des Winters mit
einem kalten Bade: darob brummt mein gestrenger Hausfreund.
Auch kitzle ich ihn gerne mit einem Wachskerzlein: dass er mir
endlich den Himmel herauslasse aus aschgrauer Dämmerung.
Sonderlich boshaft bin ich nämlich des Morgens: zur frühen Stun-
de, da der Eimer am Brunnen klirrt und die Rosse warm durch
graue Gassen wiehern: -
Ungeduldig warte ich da, dass mir endlich der lichte Himmel auf-
gehe, der schneebärtige Winter-Himmel, der Greis und Weisskopf,
-
- der Winter-Himmel, der schweigsame, der oft noch seine Sonne
verschweigt!
Lernte ich wohl von ihm das lange lichte Schweigen? Oder lernte
er's von mir? Oder hat ein jeder von uns es selbst erfunden?
Aller guten Dinge Ursprung ist tausendfältig, - alle guten muthwil-
ligen Dinge springen vor Lust in's Dasein: wie sollten sie das im-
mer nur - Ein Mal thun!
Ein gutes muthwilliges Ding ist auch das lange Schweigen und
gleich dem Winter-Himmel blicken aus lichtem rundäugichten Ant-
3.6. AUF DEM OELBERGE 161

litze: -
- gleich ihm seine Sonne verschweigen und seinen unbeugsamen
Sonnen-Willen: wahrlich, diese Kunst und diesen Winter-Muthwillen
lernte ich gut!
Meine liebste Bosheit und Kunst ist es, dass mein Schweigen lern-
te, sich nicht durch Schweigen zu verrathen.
Mit Worten und Würfeln klappernd überliste ich mir die feierlichen
Warter: allen diesen gestrengen Aufpassern soll mein Wille und
Zweck entschlüpfen.
Dass mir Niemand in meinen Grund und letzten Willen hinab sehe,
- dazu erfand ich mir das lange lichte Schweigen.
So manchen Klugen fand ich: der verschleierte sein Antlitz und
trübte sein Wasser, dass Niemand ihm hindurch und hinunter se-
he.
Aber zu ihm gerade kamen die klügeren Misstrauer und Nussknacker:
ihm gerade fischte man seinen verborgensten Fisch heraus!
Sondern die Hellen, die Wackern, die Durchsichtigen - das sind
mir die klügsten Schweiger: denen so tief ihr Grund ist, dass auch
das hellste Wasser ihn nicht - verräth. -
Du schneebärtiger schweigender Winter-Himmel, du rundäugich-
ter Weisskopf über mir! Oh du himmlisches Gleichniss meiner See-
le und ihres Muthwillens!
Und muss ich mich nicht verbergen, gleich Einem, der Gold ver-
schluckt hat, - dass man mir nicht die Seele aufschlitze?
Muss ich nicht Stelzen tragen, dass sie meine langen Beine über-
sehen, - alle diese Neidbolde und Leidholde, die um mich sind?
Diese räucherigen, stubenwarmen, verbrauchten, vergrünten, ver-
grämelten Seelen - wie könnte ihr Neid mein Glück ertragen!
So zeige ich ihnen nur das Eis und den Winter auf meinen Gip-
feln - und nicht, dass mein Berg noch alle Sonnengürtel um sich
schlingt!
Sie hören nur meine Winter-Stürme pfeifen: und nicht, dass ich
auch über warme Meere fahre, gleich sehnsüchtigen, schweren,
heissen Südwinden.
Sie erbarmen sich noch meiner Unfälle und Zufälle: - aber mein
162 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Wort heisst: »lasst den Zufall zu mir kommen: unschuldig ist er,
wie ein Kindlein!«
Wie könnten sie mein Glück ertragen, wenn ich nicht Unfälle und
Winter-Nöthe und Eisbären-Mützen und Schneehimmel-Hüllen um
mein Glück legte!
- wenn ich mich nicht selbst ihres Mitleids erbarmte - des Mitleids
dieser Neidbolde und Leidholde!
- wenn ich nicht selber vor ihnen seufzte und frostklapperte und
mich geduldsam in ihr Mitleid wickeln liesse!
Diess ist der weise Muthwille und Wohlwille meiner Seele, dass
sie ihren Winter und ihre Froststürme nicht verbirgt; sie verbirgt
auch ihre Frostbeulen nicht.
Des Einen Einsamkeit ist die Flucht des Kranken; des Andern Ein-
samkeit die Flucht vor den Kranken.
Mögen sie mich klappern und seufzen hören vor Winterkälte, alle
diese armen scheelen Schelme um mich! Mit solchem Geseufz
und Geklapper flüchte ich noch vor ihren geheizten Stuben.
Mögen sie mich bemitleiden und bemitseufzen ob meiner Frost-
beulen: »am Eis der Erkenntniss erfriert er uns noch!« - so klagen
sie.
Inzwischen laufe ich mit warmen Füssen kreuz und quer auf mei-
nem Oelberge: im Sonnen-Winkel meines Oelberges singe und
spotte ich alles Mitleids. -
Also sang Zarathustra.

3.7 Vom Vorübergehen

Also, durch viel Volk und vielerlei Städte langsam hindurchschrei-


tend, gieng Zarathustra auf Umwegen zurück zu seinem Gebirge
und seiner Höhle. Und siehe, dabei kam er unversehens auch an
das Stadtthor der grossen Stadt : hier aber sprang ein schäumen-
der Narr mit ausgebreiteten Händen auf ihn zu und trat ihm in den
Weg. Diess aber war der selbige Narr, welchen das Volk »den Af-
fen Zarathustra's« hiess: denn er hatte ihm Etwas vom Satz und
Fall der Rede abgemerkt und borgte wohl auch gerne vom Schat-
3.7. VOM VORÜBERGEHEN 163

ze seiner Weisheit. Der Narr aber redete also zu Zarathustra:


»Oh Zarathustra, hier ist die grosse Stadt: hier hast du Nichts zu
suchen und Alles zu verlieren.
Warum wolltest du durch diesen Schlamm waten? Habe doch Mit-
leiden mit deinem Fusse! Speie lieber auf das Stadtthor und - keh-
re um!
Hier ist die Hölle für Einsiedler-Gedanken: hier werden grosse Ge-
danken lebendig gesotten und klein gekocht.
Hier verwesen alle grossen Gefühle: hier dürfen nur klapperdürre
Gefühlchen klappern!
Riechst du nicht schon die Schlachthäuser und Garküchen des
Geistes? Dampft nicht diese Stadt vom Dunst geschlachteten Gei-
stes?
Siehst du nicht die Seelen hängen wie schlaffe schmutzige Lum-
pen? - Und sie machen noch Zeitungen aus diesen Lumpen!
Hörst du nicht, wie der Geist hier zum Wortspiel wurde? Widriges
Wort-Spülicht bricht er heraus! - Und sie machen noch Zeitungen
aus diesem Wort-Spülicht.
Sie hetzen einander und wissen nicht, wohin? Sie erhitzen einan-
der und wissen nicht, warum? Sie klimpern mit ihrem Bleche, sie
klingeln mit ihrem Golde.
Sie sind kalt und suchen sich Wärme bei gebrannten Wassern; sie
sind erhitzt und suchen Kühle bei gefrorenen Geistern; sie sind
Alle siech und süchtig an öffentlichen Meinungen.
Alle Lüste und Laster sind hier zu Hause; aber es giebt hier auch
Tugendhafte, es giebt viel anstellige angestellte Tugend: -
Viel anstellige Tugend mit Schreibfingern und hartem Sitz- und
Warte-Fleische, gesegnet mit kleinen Bruststernen und ausgestopf-
ten steisslosen Töchtern.
Es giebt hier auch viel Frömmigkeit und viel gläubige Speichel-
Leckerei, Schmeichel-Bäckerei vor dem Gott der Heerschaaren.
»Von Oben« her träufelt ja der Stern und der gnädige Speichel;
nach Oben hin sehnt sich jeder sternenlose Busen.
Der Mond hat seinen Hof, und der Hof hat seine Mondkälber: zu
Allem aber, was vom Hofe kommt, betet das Bettel-Volk und alle
164 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

anstellige Bettel-Tugend.
»Ich diene, du dienst, wir dienen« - so betet alle anstellige Tugend
hinauf zum Fürsten: dass der verdiente Stern sich endlich an den
schmalen Busen hefte!
Aber der Mond dreht sich noch um alles Irdische: so dreht sich
auch der Fürst noch um das Aller-Irdischste -: das aber ist das
Gold der Krämer.
Der Gott der Heerschaaren ist kein Gott der Goldbarren; der Fürst
denkt, aber der Krämer - lenkt!
Bei Allem, was licht und stark und gut in dir ist, oh Zarathustra!
Speie auf diese Stadt der Krämer und kehre um!
Hier fliesst alles Blut faulicht und lauicht und schaumicht durch
alle Adern: speie auf die grosse Stadt, welche der grosse Abraum
ist, wo aller Abschaum zusammenschäumt!
Speie auf die Stadt der eingedrückten Seelen und schmalen Brü-
ste, der spitzen Augen, der klebrigen Finger -
- auf die Stadt der Aufdringlinge, der Unverschämten, der Schreib-
und Schreihälse, der überheizten Ehrgeizigen: -
- wo alles Anbrüchige, Anrüchige, Lüsterne, Düsterne, Übermür-
be, Geschwürige, Verschwörerische zusammenschwärt: -
- speie auf die grosse Stadt und kehre um!« - -
Hier aber unterbrach Zarathustra den schäumenden Narren und
hielt ihm den Mund zu.
»Höre endlich auf! rief Zarathustra, mich ekelt lange schon deiner
Rede und deiner Art!
Warum wohntest du so lange am Sumpfe, dass du selber zum
Frosch und zur Kröte werden musstest?
Fliesst dir nicht selber nun ein faulichtes schaumichtes Sumpf-Blut
durch die Adern, dass du also quaken und lästern lerntest?
Warum giengst du nicht in den Wald? Oder pflügtest die Erde? Ist
das Meer nicht voll von grünen Eilanden?
Ich verachte dein Verachten; und wenn du mich warntest, - warum
warntest du dich nicht selber?
Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender
3.8. VON DEN ABTRÜNNIGEN 165

Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe! -


Man heisst dich meinen Affen, du schäumender Narr: aber ich
heisse dich mein Grunze-Schwein, - durch Grunzen verdirbst du
mir noch mein Lob der Narrheit.
Was war es denn, was dich zuerst grunzen machte? Dass Nie-
mand dir genug geschmeichelt hat: - darum setztest du dich hin
zu diesem Unrathe, dass du Grund hättest viel zu grunzen, -
- dass du Grund hättest zu vieler Rache! Rache nämlich, du eitler
Narr, ist all dein Schäumen, ich errieth dich wohl!
Aber dein Narren-Wort thut mir Schaden, selbst, wo du Recht hast!
Und wenn Zarathustra's Wort sogar hundert Mal Recht hätte : du
würdest mit meinem Wort immer - Unrecht thun!«
Also sprach Zarathustra; und er blickte die grosse Stadt an, seufz-
te und schwieg lange. Endlich redete er also:
Mich ekelt auch dieser grossen Stadt und nicht nur dieses Narren.
Hier und dort ist Nichts zu bessern, Nichts zu bösern.
Wehe dieser grossen Stadt! - Und ich wollte, ich sähe schon die
Feuersäule, in der sie verbrannt wird!
Denn solche Feuersäulen müssen dem grossen Mittage voran-
gehn. Doch diess hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal. -
Diese Lehre aber gebe ich dir, du Narr, zum Abschiede: wo man
nicht mehr lieben kann, da soll man - vorübergehn! -
Also sprach Zarathustra und gieng an dem Narren und der gros-
sen Stadt vorüber.

3.8 Von den Abtrünnigen

3.8.1

Ach, liegt Alles schon welk und grau, was noch jüngst auf dieser
Wiese grün und bunt stand? Und wie vielen Honig der Hoffnung
trug ich von hier in meine Bienenkörbe!
Diese jungen Herzen sind alle schon alt geworden, - und nicht alt
einmal! nur müde, gemein, bequem: - sie heissen es »Wir sind
166 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

wieder fromm geworden.«


Noch jüngst sah ich sie in der Frühe auf tapferen Füssen hinaus-
laufen: aber ihre Füsse der Erkenntniss wurden müde, und nun
verleumden sie auch noch ihre Morgen-Tapferkeit!
Wahrlich, Mancher von ihnen hob einst die Beine wie ein Tänzer,
ihm winkte das Lachen in meiner Weisheit: - da besann er sich.
Eben sah ich ihn krumm - zum Kreuze kriechen.
Um Licht und Freiheit flatterten sie einst gleich Mücken und jun-
gen Dichtern. Ein Wenig älter, ein Wenig kälter: und schon sind
sie Dunkler und Munkler und Ofenhocker.
Verzagte ihnen wohl das Herz darob, dass mich die Einsamkeit
verschlang gleich einem Wallfische? Lauschte ihr Ohr wohl sehnsüchtig-
lange umsonst nach mir und meinen Trompeten- und Herolds-
Rufen?
- Ach! Immer sind ihrer nur Wenige, deren Herz einen langen Muth
und Übermuth hat; und solchen bleibt auch der Geist geduldsam.
Der Rest aber ist feige.
Der Rest: das sind immer die Allermeisten, der Alltag, der Über-
fluss, die Viel-zu-Vielen - diese alle sind feige! -
Wer meiner Art ist, dem werden auch die Erlebnisse meiner Art
über den Weg laufen: also, dass seine ersten Gesellen Leichname
und Possenreisser sein müssen.
Seine zweiten Gesellen aber - die werden sich seine Gläubigen
heissen: ein lebendiger Schwarm, viel Liebe, viel Thorheit, viel
unbärtige Verehrung.
An diese Gläubigen soll Der nicht sein Herz binden, wer meiner
Art unter Menschen ist; an diese Lenze und bunte Wiesen soll Der
nicht glauben, wer die flüchtig-feige Menschenart kennt!
Könnten sie anders, so würden sie auch anders wollen. Halb- und
Halbe verderben alles Ganze. Dass Blätter welk werden, - was ist
da zu klagen!
Lass sie fahren und fallen, oh Zarathustra, und klage nicht! Lieber
noch blase mit raschelnden Winden unter sie, -
- blase unter diese Blätter, oh Zarathustra: dass alles Welke schnel-
ler noch von dir davonlaufen! -
3.8. VON DEN ABTRÜNNIGEN 167

3.8.2

»Wir sind wieder fromm geworden« - so bekennen diese Abtrünni-


gen; und Manche von ihnen sind noch zu feige, also zu bekennen.
Denen sehe ich in's Auge, - denen sage ich es in's Gesicht und in
die Röthe ihrer Wangen: ihr seid Solche, welche wieder beten!
Es ist aber eine Schmach, zu beten! Nicht für Alle, aber für dich
und mich und wer auch im Kopfe sein Gewissen hat. Für dich ist
es eine Schmach, zu beten!
Du weisst es wohl: dein feiger Teufel in dir, der gerne Hände-falten
und Hände-in-den-Schooss-legen und es bequemer haben möch-
te: - dieser feige Teufel redet dir zu »es giebt einen Gott!«
Damit aber gehörst du zur lichtscheuen Art, denen Licht nimmer
Ruhe lässt; nun musst du täglich deinen Kopf tiefer in Nacht und
Dunst stecken!
Und wahrlich, du wähltest die Stunde gut: denn eben wieder flie-
gen die Nachtvögel aus. Die Stunde kam allem lichtscheuen Volke,
die Abend- und Feierstunde, wo es nicht - »feiert.«
Ich höre und rieche es: es kam ihre Stunde für Jagd und Umzug,
nicht zwar für eine wilde Jagd, sondern für eine zahme lahme
schnüffelnde Leisetreter- und Leisebeter-Jagd, -
- für eine Jagd auf seelenvolle Duckmäuser: alle Herzens- Mau-
sefallen sind jetzt wieder aufgestellt! Und wo ich einen Vorhang
aufhebe, da kommt ein Nachtfalterchen herausgestürzt.
Hockte es da wohl zusammen mit einem andern Nachtfalterchen?
Denn überall rieche ich kleine verkrochne Gemeinden; und wo
es Kämmerlein giebt, da giebt es neue Bet-Brüder drin und den
Dunst von Bet-Brüdern.
Sie sitzen lange Abende bei einander und sprechen: lasset uns
wieder werden wie die Kindlein und »lieber Gott« sagen!« - an
Mund und Magen verdorben durch die frommen Zuckerbäcker.
Oder sie sehen lange Abende einer listigen lauernden Kreuzspin-
ne zu, welche den Spinnen selber Klugheit predigt und also lehrt:
»unter Kreuzen ist gut spinnen!«
Oder sie sitzen Tags über mit Angelruthen an Sümpfen und glau-
ben sich tief damit; aber wer dort fischt, wo es keine Fische giebt,
168 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

den heisse ich noch nicht einmal oberflächlich!


Oder sie lernen fromm-froh die Harfe schlagen bei einem Lieder-
Dichter, der sich gern jungen Weibchen in's Herz harfnen möchte:
- denn er wurde der alten Weibchen müde und ihres Lobpreisens.
Oder sie lernen gruseln bei einem gelehrten Halb-Tollen, der in
dunklen Zimmern wartet, dass ihm die Geister kommen - und der
Geist ganz davonläuft!
Oder sie horchen einem alten umgetriebnen Schnurr- und Knurr-
pfeifer zu, der trüben Winden die Trübsal der Töne ablernte; nun
pfeift er nach dem Winde und predigt in trüben Tönen Trübsal.
Und Einige von ihnen sind sogar Nachtwächter geworden: die ver-
stehen jetzt in Hörner zu blasen und Nachts umherzugehn und
alte Sachen aufzuwecken, die lange schon eingeschlafen sind.
Fünf Worte von alten Sachen hörte ich gestern Nachts an der
Garten-Mauer: die kamen von solchen alten betrübten trocknen
Nachtwächtern.
»Für einen Vater sorgt er nicht genug um seine Kinder: Menschen-
Väter thun diess besser!« -
»Er ist zu alt! Er sorgt schon gar nicht mehr um seine Kinder« -
also antwortete der andere Nachtwächter.
»Hat er denn Kinder? Niemand kann's beweisen, wenn er's selber
nicht beweist! Ich wollte längst, er bewiese es einmal gründlich.«
»Beweisen? Als ob Der je Etwas bewiesen hätte! Beweisen fällt
ihm schwer; er hält grosse Stücke darauf, dass man ihm glaubt.«
»Ja! Ja! Der Glaube macht ihn selig, der Glaube an ihn. Das ist so
die Art alter Leute! So geht's uns auch!« -
- Also sprachen zu einander die zwei alten Nachtwächter und Licht-
scheuchen, und tuteten darauf betrübt in ihre Hörner: so gesch-
ah's gestern Nachts an der Garten-Mauer.
Mir aber wand sich das Herz vor Lachen und wollte brechen und
wusste nicht, wohin? und sank in's Zwerchfell.
Wahrlich, das wird noch mein Tod sein, dass ich vor Lachen er-
sticke, wenn ich Esel betrunken sehe und Nachtwächter also an
Gott zweifeln höre.
Ist es denn nicht lange vorbei auch für alle solche Zweifel? Wer
3.9. DIE HEIMKEHR 169

darf noch solche alte eingeschlafne lichtscheue Sachen aufwecken!


Mit den alten Göttern gieng es ja lange schon zu Ende: - und wahr-
lich, ein gutes fröhliches Götter-Ende hatten sie!
Sie »dämmerten« sich nicht zu Tode, - das lügt man wohl! Viel-
mehr: sie haben sich selber einmal zu Tode - gelacht !
Das geschah, als das gottloseste Wort von einem Gotte selber
ausgieng, - das Wort: »Es ist Ein Gott! Du sollst keinen andern
Gott haben neben mir!« -
- ein alter Grimm-Bart von Gott, ein eifersüchtiger vergass sich
also:
Und alle Götter lachten damals und wackelten auf ihren Stühlen
und riefen: »Ist das nicht eben Göttlichkeit, dass es Götter, aber
keinen Gott giebt?«
Wer Ohren hat, der höre. -
Also redete Zarathustra in der Stadt, die er liebte und welche zu-
benannt ist die bunte Kuh.' Von hier nämlich hatte er nur noch
zwei Tage zu gehen, dass er wieder in seine Höhle käme und zu
seinen Thieren; seine Seele aber frohlockte beständig ob der Nä-
he seiner Heimkehr. -

3.9 Die Heimkehr

Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Zu lange lebte ich


wild in wilder Fremde, als dass ich nicht mit Thränen zu dir heim-
kehrte!
Nun drohe mir nur mit dem Finger, wie Mütter drohn, nein lächle
mir zu, wie Mütter lächeln, nun sprich nur: »Und wer war das, der
wie ein Sturmwind einst von mir davonstürmte? -
»- der scheidend rief: zu lange sass ich bei der Einsamkeit, da
verlernte ich das Schweigen! D a s - lerntest du nun wohl?
»Oh Zarathustra, Alles weiss ich: und dass du unter den Vielen
verlassener warst, du Einer, als je bei mir!
»Ein Anderes ist Verlassenheit, ein Anderes Einsamkeit: Das - lern-
test du nun! Und dass du unter Menschen immer wild und fremd
sein wirst:
170 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

»-Wild und fremd auch noch, wenn sie dich lieben: denn zuerst
von Allem wollen sie geschont sein!
»Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles
hinausreden und alle Gründe ausschütten, Nichts schämt sich hier
versteckter, verstockter Gefühle.
»Hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmei-
cheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem
Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit.
»Aufrecht und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden: und
wahrlich, wie Lob klingt es ihren Ohren, dass Einer mit allen Din-
gen - gerade redet!
»Ein Anderes aber ist Verlassensein. Denn, weisst du noch, oh Za-
rathustra? Als damals dein Vogel über dir schrie, als du im Walde
standest, unschlüssig, wohin? unkundig, einem Leichnam nahe: -
»- als du sprachst: mögen mich meine Thiere führen! Gefährlicher
fand ich's unter Menschen, als unter Thieren: - Das war Verlassen-
heit!
»Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als du auf deiner Insel sas-
sest, unter leeren Eimern ein Brunnen Weins, gebend und ausge-
bend, unter Durstigen schenkend und ausschenkend:
»- bis du endlich durstig allein unter Trunkenen sassest und nächt-
lich klagtest »ist Nehmen nicht seliger als Geben? Und Stehlen
noch seliger als Nehmen?« - Das war Verlassenheit!
»Und weisst du noch, oh Zarathustra? Als deine stillste Stunde
kam und dich von dir selber forttrieb, als sie mit bösem Flüstern
sprach: Sprich und zerbrich!« -
»- als sie dir all dein Warten und Schweigen leid machte und dei-
nen demüthigen Muth entmuthigte: Das war Verlassenheit!« -
Oh Einsamkeit! Du meine Heimat Einsamkeit! Wie selig und zärt-
lich redet deine Stimme zu mir!
Wir fragen einander nicht, wir klagen einander nicht, wir gehen
offen mit einander durch offne Thüren.
Denn offen ist es bei dir und hell; und auch die Stunden laufen hier
auf leichteren Füssen. Im Dunklen nämlich trägt man schwerer an
der Zeit, als im Lichte.
Hier springen mir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf: alles
3.9. DIE HEIMKEHR 171

Sein will hier Wort werden, alles Werden will hier von mir reden
lernen.
Da unten aber - da ist alles Reden umsonst! Da ist Vergessen und
Vorübergehn die beste Weisheit: Das - lernte ich nun!
Wer Alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste Alles
angreifen. Aber dazu habe ich zu reinliche Hände.
Ich mag schon ihren Athem nicht einathmen; ach, dass ich so lan-
ge unter ihrem Lärm und üblem Athem lebte!
Oh selige Stille um mich! Oh reine Gerüche um mich! Oh wie aus
tiefer Brust diese Stille reinen Athem holt! Oh wie sie horcht, diese
selige Stille!
Aber da unten - da redet Alles, da wird Alles überhört. Man mag
seine Weisheit mit Glocken einläuten: die Krämer auf dem Markte
werden sie mit Pfennigen überklingeln!
Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn. Alles fällt
in's Wasser, Nichts fällt mehr in tiefe Brunnen.
Alles bei ihnen redet, Nichts geräth mehr und kommt zu Ende.
Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und
Eier brüten?
Alles bei ihnen redet, Alles wird zerredet. Und was gestern noch
zu hart war für die Zeit selber und ihren Zahn: heute hängt es
zerschabt und zernagt aus den Mäulern der Heutigen.
Alles bei ihnen redet, Alles wird verrathen. Und was einst Geheim-
niss hiess und Heimlichkeit tiefer Seelen, heute gehört es den
Gassen-Trompetern und andern Schmetterlingen.
Oh Menschenwesen, du wunderliches! Du Lärm auf dunklen Gas-
sen! Nun liegst du wieder hinter mir: - meine grösste Gefahr liegt
hinter mir!
Im Schonen und Mitleiden lag immer meine grösste Gefahr; und
alles Menschenwesen will geschont und gelitten sein.
Mit verhaltenen Wahrheiten, mit Narrenhand und vernarrtem Her-
zen und reich an kleinen Lügen des Mitleidens: - also lebte ich
immer unter Menschen.
Verkleidet sass ich unter ihnen, bereit, mich zu verkennen, dass
ich sie ertrüge, und gern mir zuredend »du Narr, du kennst die
Menschen nicht!«
172 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Man verlernt die Menschen, wenn man unter Menschen lebt: zu


viel Vordergrund ist an allen Menschen, - was sollen da weitsich-
tige, weit-süchtige Augen!
Und wenn sie mich verkannten: ich Narr schonte sie darob mehr,
als mich: gewohnt zur Härte gegen mich und oft noch an mir sel-
ber mich rächend für diese Schonung.
Zerstochen von giftigen Fliegen und ausgehöhlt, dem Steine gleich,
von vielen Tropfen Bosheit, so sass ich unter ihnen und redete mir
noch zu: »unschuldig ist alles Kleine an seiner Kleinheit!«
Sonderlich Die, welche sich »die Guten« heissen, fand ich als die
giftigsten Fliegen: sie stechen in aller Unschuld, sie lügen in aller
Unschuld; wie vermöchten sie, gegen mich - gerecht zu sein!
Wer unter den Guten lebt, den lehrt Mitleid lügen. Mitleid macht
dumpfe Luft allen freien Seelen. Die Dummheit der Guten nämlich
ist unergründlich.
Mich selber verbergen und meinen Reichthum - das lernte ich da
unten: denn jeden fand ich noch arm am Geiste. Das war der Lug
meines Mitleidens, dass ich bei jedem wusste,
- dass ich jedem es ansah und anroch, was ihm Geistes genug
und was ihm schon Geistes zuviel war!
Ihre steifen Weisen: ich hiess sie weise, nicht steif, - so lernte ich
Worte verschlucken. Ihre Todtengräber: ich hiess sie Forscher und
Prüfer, - so lernte ich Worte vertauschen.
Die Todtengräber graben sich Krankheiten an. Unter altem Schutte
ruhn schlimme Dünste. Man soll den Morast nicht aufrühren. Man
soll auf Bergen leben.
Mit seligen Nüstern athme ich wieder Berges-Freiheit! Erlöst ist
endlich meine Nase vom Geruch alles Menschenwesens!
Von scharfen Lüften gekitzelt, wie von schäumenden Weinen, niest
meine Seele, - niest und jubelt sich zu: Gesundheit!
Also sprach Zarathustra.
3.10. VON DEN DREI BÖSEN 173

3.10 Von den drei Bösen

3.10.1

Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heut auf einem Vor-


gebirge, - jenseits der Welt, hielt eine Wage und wog die Welt.
Oh dass zu früh mir die Morgenröthe kam: die glühte mich wach,
die Eifersüchtige! Eifersüchtig ist sie immer auf meine Morgentraum-
Gluthen.
Messbar für Den, der Zeit hat, wägbar für einen guten Wäger,
erfliegbar für starke Fittige, errathbar für göttliche Nüsseknacker:
also fand mein Traum die Welt: -
Mein Traum, ein kühner Segler, halb Schiff, halb Windsbraut, gleich
Schmetterlingen schweigsam, ungeduldig gleich Edelfalken: wie
hatte er doch zum Welt-Wägen heute Geduld und Weile!
Sprach ihm heimlich wohl meine Weisheit zu, meine lachende wa-
che Tags-Weisheit, welche über alle »unendliche Welten« spottet?
Denn sie spricht: »wo Kraft ist, wird auch die Zahl Meisterin: die
hat mehr Kraft.«
Wie sicher schaute mein Traum auf diese endliche Welt, nicht neu-
gierig, nicht altgierig, nicht fürchtend, nicht bittend: -
- als ob ein voller Apfel sich meiner Hand böte, ein reifer Goldapfel,
mit kühl-sanfter sammtener Haut: - so bot sich mir die Welt: -
- als ob ein Baum mir winke, ein breitästiger, starkwilliger, ge-
krümmt zur Lehne und noch zum Fussbrett für den Wegmüden:
so stand die Welt auf meinem Vorgebirge: -
- als ob zierliche Hände mir einen Schrein entgegentrügen, - einen
Schrein offen für das Entzücken schamhafter verehrender Augen:
also bot sich mir heute die Welt entgegen: -
- nicht Räthsel genug, um Menschen-Liebe davon zu scheuchen,
nicht Lösung genug, um Menschen-Weisheit einzuschläfern: - ein
menschlich gutes Ding war mir heut die Welt, der man so Böses
nachredet!
Wie danke ich es meinem Morgentraum, dass ich also in der Frühe
heut die Welt wog! Als ein menschlich gutes Ding kam er zu mir,
dieser Traum und Herzenströster!
174 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Und dass ich's ihm gleich thue am Tage und sein Bestes ihm nach-
und ablerne: will ich jetzt die drei bösesten Dinge auf die Wage
thun und menschlich gut abwägen. -
Wer da segnen lehrte, der lehrte auch fluchen: welches sind in der
Welt die drei bestverfluchten Dinge? Diese will ich auf die Wage
thun.
Wollust, Herrschsucht, Selbstsucht: diese Drei wurden bisher am
besten verflucht und am schlimmsten beleu- und belügenmundet,
- diese Drei will ich menschlich gut abwägen.
Wohlauf! Hier ist mein Vorgebirg und da das Meer: das wälzt sich
zu mir heran, zottelig, schmeichlerisch, das getreue alte hundert-
köpfige Hunds-Ungethüm, das ich liebe.
Wohlauf! Hier will ich die Wage halten über gewälztem Meere:
und auch einen Zeugen wähle ich, dass er zusehe, - dich, du
Einsiedler-Baum, dich starkduftigen, breitgewölbten, den ich lie-
be! -
Auf welcher Brücke geht zum Dereinst das Jetzt? Nach welchem
Zwange zwingt das Hohe sich zum Niederen? Und was heisst auch
das Höchste noch - hinaufwachsen? -
Nun steht die Wage gleich und still: drei schwere Fragen warf ich
hinein, drei schwere Antworten trägt die andre Wagschale.

3.10.2

Wollust: allen busshemdigen Leib-Verächtern ihr Stachel und Pfahl,


und als »Welt« verflucht bei allen Hinterweltlern: denn sie höhnt
und narrt alle Wirr- und Irr-Lehrer.
Wollust: dem Gesindel das langsame Feuer, auf dem es verbrannt
wird; allem wurmichten Holze, allen stinkenden Lumpen der be-
reite Brunst- und Brodel-Ofen.
Wollust: für die freien Herzen unschuldig und frei, das Garten-
Glück der Erde, aller Zukunft Dankes-Überschwang an das Jetzt.
Wollust: nur dem Welken ein süsslich Gift, für die Löwen-Willigen
aber die grosse Herzstärkung, und der ehrfürchtig geschonte Wein
der Weine.
Wollust: das grosse Gleichniss-Glück für höheres Glück und höch-
3.10. VON DEN DREI BÖSEN 175

ste Hoffnung. Vielem nämlich ist Ehe verheissen und mehr als
Ehe, -
- Vielem, das fremder sich ist, als Mann und Weib: - und wer begriff
es ganz, wie fremd sich Mann und Weib sind!
Wollust: - doch ich will Zäune um meine Gedanken haben und
auch noch um meine Worte: dass mir nicht in meine Gärten die
Schweine und Schwärmer brechen! -
Herrschsucht: die Glüh-Geissel der härtesten Herzensharten; die
grause Marter, die sich dem Grausamsten selber aufspart; die
düstre Flamme lebendiger Scheiterhaufen.
Herrschsucht: die boshafte Bremse, die den eitelsten Völkern auf-
gesetzt wird; die Verhöhnerin aller ungewissen Tugend; die auf
jedem Rosse und jedem Stolze reitet.
Herrschsucht: das Erdbeben, das alles Morsche und Höhlichte bricht
und aufbricht; die rollende grollende strafende Zerbrecherin über-
tünchter Gräber; das blitzende Fragezeichen neben vorzeitigen
Antworten.
Herrschsucht: vor deren Blick der Mensch kriecht und duckt und
fröhnt und niedriger wird als Schlange und Schwein: - bis endlich
die grosse Verachtung aus ihm aufschreie -,
Herrschsucht: die furchtbare Lehrerin der grossen Verachtung,
welche Städten und Reichen in's Antlitz predigt »hinweg mit dir!«
- bis es aus ihnen selber aufschreie »hinweg mit mir!«
Herrschsucht: die aber lockend auch zu Reinen und Einsamen und
hinauf zu selbstgenugsamen Höhen steigt, glühend gleich einer
Liebe, welche purpurne Seligkeiten lockend an Erdenhimmel malt.
Herrschsucht: doch wer hiesse es Sucht, wenn das Hohe hinab
nach Macht gelüstet! Wahrlich, nichts Sieches und Süchtiges ist
an solchem Gelüsten und Niedersteigen!
Dass die einsame Höhe sich nicht ewig vereinsame und selbst
begnüge; dass der Berg zu Thale komme und die Winde der Höhe
zu den Niederungen: -
Oh wer fände den rechten Tauf- und Tugendnamen für solche Sehn-
sucht! »Schenkende Tugend« - so nannte das Unnennbare einst
Zarathustra.
Und damals geschah es auch, - und wahrlich, es geschah zum
176 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

ersten Male! - dass sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile,
gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: -
- aus mächtiger Seele, zu welcher der hohe Leib gehört, der schö-
ne, sieghafte, erquickliche, um den herum jedwedes Ding Spiegel
wird:
- der geschmeidige überredende Leib, der Tänzer, dessen Gleich-
niss und Auszug die selbst-lustige Seele ist. Solcher Leiber und
Seelen Selbst-Lust heisst sich selber: »Tugend.«
Mit ihren Worten von Gut und Schlecht schirmt sich solche Selbst-
Lust wie mit heiligen Hainen; mit den Namen ihres Glücks bannt
sie von sich alles Verächtliche.
Von sich weg bannt sie alles Feige; sie spricht: Schlecht - das ist
feige! Verächtlich dünkt ihr der immer Sorgende, Seufzende, Kläg-
liche und wer auch die kleinsten Vortheile aufliest.
Sie verachtet auch alle wehselige Weisheit: denn, wahrlich, es
giebt auch Weisheit, die im Dunklen blüht, eine Nachtschatten-
Weisheit: als welche immer seufzt: »Alles ist eitel!«
Das scheue Misstrauen gilt ihr gering, und Jeder, wer Schwüre
statt Blicke und Hände will: auch alle allzu misstrauische Weisheit,
- denn solche ist feiger Seelen Art.
Geringer noch gilt ihr der Schnell-Gefällige, der Hündische, der
gleich auf dem Rücken liegt, der Demüthige; und auch Weisheit
giebt es, die demüthig und hündisch und fromm und schnellge-
fällig ist.
Verhasst ist ihr gar und ein Ekel, wer nie sich wehren will, wer gifti-
gen Speichel und böse Blicke hinunterschluckt, der All-zu-Geduldige,
Alles-Dulder, Allgenügsame: das nämlich ist die knechtische Art.
Ob Einer vor Göttern und göttlichen Fusstritten knechtisch ist, ob
vor Menschen und blöden Menschen-Meinungen: alle Knechts-Art
speit sie an, diese selige Selbstsucht!
Schlecht: so beisst sie Alles, was geknickt und knickerisch-knechtisch
ist, unfreie Zwinker-Augen, gedruckte Herzen, und jene falsche
nachgebende Art, welche mit breiten feigen Lippen küsst.
Und After-Weisheit: so heisst sie Alles, was Knechte und Greise
und Müde witzeln; und sonderlich die ganze schlimme aberwitzi-
ge, überwitzige Priester-Narrheit!
3.11. VOM GEIST DER SCHWERE 177

Die After-Weisen aber, alle die Priester, Weltmüden und wessen


Seele von Weibs- und Knechtsart ist, - oh wie hat ihr Spiel von
jeher der Selbstsucht übel mitgespielt!
Und Das gerade sollte Tugend sein und Tugend heissen, dass man
der Selbstsucht übel mitspiele! Und »selbstlos« - so wünschten
sich selber mit gutem Grunde alle diese weltmüden Feiglinge und
Kreuzspinnen!
Aber denen Allen kommt nun der Tag, die Wandlung, das Richt-
schwert, der grosse Mittag : da soll Vieles offenbar werden!
Und wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig,
wahrlich, der spricht auch, was er weiss, ein Weissager: »Siehe,
er kommt, er ist nahe, der grosse Mittag!«
Also sprach Zarathustra.

3.11 Vom Geist der Schwere

3.11.1

Mein Mundwerk - ist des Volks: zu grob und herzlich rede ich für
die Seidenhasen. Und noch fremder klingt mein Wort allen Tinten-
Fischen und Feder-Füchsen.
Meine Hand - ist eine Narrenhand: wehe allen Tischen und Wän-
den, und was noch Platz hat für Narren-Zierath, Narren-Schmierath!
Mein Fuss - ist ein Pferdefuss; damit trapple und trabe ich über
Stock und Stein, kreuz- und querfeld-ein und bin des Teufels vor
Lust bei allem schnellen Laufen.
Mein Magen - ist wohl eines Adlers Magen? Denn er liebt am lieb-
sten Lammfleisch. Gewisslich aber ist er eines Vogels Magen.
Von unschuldigen Dingen genährt und von Wenigem, bereit und
ungeduldig zu fliegen, davonzufliegen - das ist nun meine Art: wie
sollte nicht Etwas daran von Vogel-Art sein!
Und zumal, dass ich dem Geist der Schwere feind bin, das ist
Vogel-Art: und wahrlich, todfeind, erzfeind, urfeind! Oh wohin flog
und verflog sich nicht schon meine Feindschaft!
Davon könnte ich schon ein Lied singen - - und will es singen: ob
178 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

ich gleich allein in leerem Hause bin und es meinen eignen Ohren
singen muss.
Andre Sänger giebt es freilich, denen macht das volle Haus erst
ihre Kehle weide, ihre Hand gesprächig, ihr Auge ausdrücklich, ihr
Herz wach: - Denen gleiche ich nicht. -

3.11.2

Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine ver-
rückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die
Erde wird er neu taufen - als »die Leichte.«
Der Vogel Strauss läuft schneller als das schnellste Pferd, aber
auch er steckt noch den Kopf schwer in schwere Erde: also der
Mensch, der noch nicht fliegen kann.
Schwer heisst ihm Erde und Leben; und so will es der Geist der
Schwere! Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muss sich
selber lieben: - also lehre ich.
Nicht freilich mit der Liebe der Siechen und Süchtigen: denn bei
denen stinkt auch die Eigenliebe!
Man muss sich selber lieben lernen - also lehre ich - mit einer
heilen und gesunden Liebe: dass man es bei sich selber aushalte
und nicht umherschweife.
Solches Umherschweifen tauft sich »Nächstenliebe«: mit diesem
Worte ist bisher am besten gelogen und geheuchelt worden, und
sonderlich von Solchen, die aller Welt schwer fielen.
Und wahrlich, das ist kein Gebot für Heute und Morgen, sich lieben
lernen. Vielmehr ist von allen Künsten diese die feinste, listigste,
letzte und geduldsamste.
Für seinen Eigener ist nämlich alles Eigene gut versteckt; und von
allen Schatzgruben wird die eigne am spätesten ausgegraben, -
also schafft es der Geist der Schwere.
Fast in der Wiege giebt man uns schon schwere Worte und Werthe
mit: »gut« und »böse« - so heisst sich diese Mitgift. Um derent-
willen vergiebt man uns, dass wir leben.
Und dazu lässt man die Kindlein zu sich kommen, dass man ihnen
bei Zeiten wehre, sich selber zu lieben: also schafft es der Geist
3.11. VOM GEIST DER SCHWERE 179

der Schwere.
Und wir - wir schleppen treulich, was man uns mitgiebt, auf harten
Schultern und über rauhe Berge! Und schwitzen wir, so sagt man
uns: »Ja, das Leben ist schwer zu tragen!«
Aber der Mensch nur ist sich schwer zu tragen! Das macht, er
schleppt zu vieles Fremde auf seinen Schultern. Dem Kameele
gleich kniet er nieder und lässt sich gut aufladen.
Sonderlich der starke, tragsame Mensch, dem Ehrfurcht innewohnt:
zu viele fremde schwere Worte und Werthe lädt er auf sich, - nun
dünkt das Leben ihm eine Wüste!
Und wahrlich! Auch manches Eigene ist schwer zu tragen! Und
viel Inwendiges am Menschen ist der Auster gleich, nämlich ekel
und schlüpfrig und schwer erfasslich -,
- also dass eine edle Schale mit edler Zierath fürbitten muss. Aber
auch diese Kunst muss man lernen: Schale haben und schönen
Schein und kluge Blindheit!
Abermals trügt über Manches am Menschen, dass manche Schale
gering und traurig und zu sehr Schale ist. Viel verborgene Güte
und Kraft wird nie errathen; die köstlichsten Leckerbissen finden
keine Schmecker!
Die Frauen wissen das, die köstlichsten: ein Wenig fetter, ein We-
nig magerer - oh wie viel Schicksal liegt in so Wenigem!
Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich selber noch am
schwersten; oft lügt der Geist über die Seele. Also schafft es der
Geist der Schwere.
Der aber hat sich selber entdeckt, welcher spricht: Das ist mein
Gutes und Böses: damit hat er den Maulwurf und Zwerg stumm
gemacht, welcher spricht »Allen gut, Allen bös.«
Wahrlich, ich mag auch Solche nicht, denen jegliches Ding gut
und diese Welt gar die beste heisst. Solche nenne ich die Allge-
nügsamen.
Allgenügsamkeit, die Alles zu schmecken weiss: das ist nicht der
beste Geschmack! Ich ehre die widerspänstigen wählerischen Zun-
gen und Mägen, welche »Ich« und »Ja« und »Nein« sagen lernten.
Alles aber kauen und verdauen - das ist eine rechte Schweine-
Art! Immer I-a sagen - das lernte allein der Esel, und wer seines
180 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Geistes ist! -
Das tiefe Gelb und das heisse Roth: so will es mein Geschmack, -
der mischt Blut zu allen Farben. Wer aber sein Haus weiss tüncht,
der verräth mir eine weissgetünchte Seele.
In Mumien verliebt die Einen, die Andern in Gespenster; und Beide
gleich feind allem Fleisch und Blute - oh wie gehen Beide mir wider
den Geschmack! Denn ich liebe Blut.
Und dort will ich nicht wohnen und weilen, wo Jedermann spuckt
und speit: das ist nun mein Geschmack, - lieber noch lebte ich
unter Dieben und Meineidigen. Niemand trägt Gold im Munde.
Widriger aber sind mir noch alle Speichellecker; und das widrigste
Thier von Mensch, das ich fand, das taufte ich Schmarotzer: das
wollte nicht lieben und doch von Liebe leben.
Unselig heisse ich Alle, die nur Eine Wahl haben: böse Thiere zu
werden oder böse Thierbändiger: bei Solchen würde ich mir keine
Hütten bauen.
Unselig heisse ich auch Die, welche immer warten müssen, - die
gehen mir wider den Geschmack: alle die Zöllner und Krämer und
Könige und andren Länder- und Ladenhüter.
Wahrlich, ich lernte das Warten auch und von Grund aus,
- aber nur das Warten auf mich. Und über Allem lernte ich stehn
und gehn und laufen und springen und klettern und tanzen.
Das ist aber meine Lehre: wer einst fliegen lernen will, der muss
erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: -
man erfliegt das Fliegen nicht!
Mit Strickleitern lernte ich manches Fenster erklettern, mit hurti-
gen Beinen klomm ich auf hohe Masten: auf hohen Masten der
Erkenntniss sitzen dünkte mich keine geringe Seligkeit, -
- gleich kleinen Flammen flackern auf hohen Masten: ein kleines
Licht zwar, aber doch ein grosser Trost für verschlagene Schiffer
und Schiffbrüchige! -
Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit; nicht
auf Einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine Ferne
schweift.
Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen, - das gieng mir im-
mer wider den Geschmack! Lieber fragte und versuchte ich die
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 181

Wege selber.
Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen: - und wahrlich,
auch antworten muss man lernen auf solches Fragen! Das aber -
ist mein Geschmack:
- kein guter, kein schlechter, aber mein Geschmack, dessen ich
weder Scham noch Hehl mehr habe.
»Das - ist nun mein Weg, - wo ist der eure?« so antwortete ich
Denen, welche mich »nach dem Wege« fragten. Den Weg nämlich
- den giebt es nicht!
Also sprach Zarathustra.

3.12 Von alten und neuen Tafeln

3.12.1

Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und
auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?
- die Stunde meines Niederganges, Unterganges: denn noch Ein
Mal will ich zu den Menschen gehn.
Dess warte ich nun: denn erst müssen mir die Zeichen kommen,
dass es meine Stunde sei, - nämlich der lachende Löwe mit dem
Taubenschwarme.
Inzwischen rede ich als Einer, der Zeit hat, zu mir selber. Niemand
erzählt mir Neues: so erzähle ich mir mich selber. -

3.12.2

Als ich zu den Menschen kam, da fand ich sie sitzen auf einem
alten Dünkel: Alle dünkten sich lange schon zu wissen, was dem
Menschen gut und böse sei.
Eine alte müde Sache dünkte ihnen alles Reden von Tugend; und
wer gut schlafen wollte, der sprach vor Schlafengehen noch von
»Gut« und »Böse«.
182 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse
ist, das weiss noch Niemand: - es sei denn der Schaffende!
- Das aber ist Der, welcher des Menschen Ziel schafft und der
Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft: Dieser erst schafft es, dass
Etwas gut und böse ist.
Und ich hiess sie ihre alten Lehr-Stühle umwerfen, und wo nur
jener alte Dünkel gesessen hatte; ich hiess sie lachen über ih-
re grossen Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und Welt-
Erlöser.
Über ihre düsteren Weisen hiess ich sie lachen, und wer je als
schwarze Vogelscheuche warnend auf dem Baume des Lebens
gesessen hatte.
An ihre grosse Gräberstrasse setzte ich mich und selber zu Aas
und Geiern - und ich lachte über all ihr Einst und seine mürbe
verfallende Herrlichkeit.
Wahrlich, gleich Busspredigern und Narrn schrie ich Zorn und Ze-
ter über all ihr Grosses und Kleines -, dass ihr Bestes so gar klein
ist! Dass ihr Bösestes so gar klein ist! - also lachte ich.
Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir, die auf
Bergen geboren ist, eine wilde Weisheit wahrlich! - meine grosse
flügelbrausende Sehnsucht.
Und oft riss sie mich fort und hinauf und hinweg und mitten im
Lachen: da flog ich wohl schaudernd, ein Pfeil, durch sonnentrun-
kenes Entzücken:
- hinaus in ferne Zukünfte, die kein Traum noch sah, in heissere
Süden, als je sich Bildner träumten: dorthin, wo Götter tanzend
sich aller Kleider schämen: -
- dass ich nämlich in Gleichnissen rede und gleich Dichtern hin-
ke und stammle: und wahrlich, ich schäme mich, dass ich noch
Dichter sein muss! -
Wo alles Werden mich Götter-Tanz und Götter-Muthwillen dünkte,
und die Welt los- und ausgelassen und zu sich selber zurückflie-
hend: -
- als ein ewiges Sich-fliehn und -Wiedersuchen vieler Götter, als
das selige Sich-Widersprechen, Sich-Wieder-hören, Sich-Wieder-
Zugehören vieler Götter: -
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 183

Wo alle Zeit mich ein seliger Hohn auf Augenblicke dünkte, wo die
Nothwendigkeit die Freiheit selber war, die selig mit dem Stachel
der Freiheit spielte: -
Wo ich auch meinen alten Teufel und Erzfeind wiederfand, den
Geist der Schwere und Alles, was er schuf: Zwang, Satzung, Noth
und Folge und Zweck und Wille und Gut und Böse: -
Denn muss nicht dasein, über das getanzt, hinweggetanzt werde?
Müssen nicht um der Leichten, Leichtesten willen - Maulwürfe und
schwere Zwerge dasein? - -

3.12.3

Dort war's auch, wo ich das Wort »Übermensch« vom Wege auf-
las, und dass der Mensch Etwas sei, das überwunden werden müs-
se,
- dass der Mensch eine Brücke sei und kein Zweck: sich selig prei-
send ob seines Mittags und Abends, als Weg zu neuen Morgenrö-
then:
- das Zarathustra-Wort vom grossen Mittage, und was sonst ich
über den Menschen aufhängte, gleich purpurnen zweiten Abendrö-
then.
Wahrlich, auch neue Sterne liess ich sie sehn sammt neuen Näch-
ten; und über Wolken und Tag und Nacht spannte ich noch das
Lachen aus wie ein buntes Gezelt.
Ich lehrte sie all mein Dichten und Trachten: in Eins zu dichten
und zusammen zu tragen, was Bruchstück ist am Menschen und
Räthsel und grauser Zufall, -
- als Dichter, Räthselrather und Erlöser des Zufalls lehrte ich sie an
der Zukunft schaffen, und Alles, das war -, schaffend zu erlösen.
Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles »Es war« um-
zuschauen, bis der Wille spricht: »Aber so wollte ich es! So werde
ich's wollen -«
- Diess hiess ich ihnen Erlösung, Diess allein lehrte ich sie Erlösung
heissen. - -
Nun warte ich meiner Erlösung -, dass ich zum letzten Male zu
ihnen gehe.
184 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Denn noch Ein Mal will ich zu den Menschen: unter ihnen will ich
untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben!
Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche:
Gold schüttet sie da in's Meer aus unerschöpflichem Reichthume,
-
- also, dass der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert!
Diess nämlich sah ich einst und wurde der Thränen nicht satt im
Zuschauen. - -
Der Sonne gleich will auch Zarathustra untergehn: nun sitzt er
hier und wartet, alte zerbrochne Tafeln um sich und auch neue
Tafeln, - halbbeschriebene.

3.12.4

Siehe, hier ist eine neue Tafel: aber wo sind meine Brüder, die sie
mit mir zu Thale und in fleischerne Herzen tragen? -
Also heischt es meine grosse Liebe zu den Fernsten: schone dei-
nen Nächsten nicht! Der Mensch ist Etwas, das überwunden wer-
den muss.
Es giebt vielerlei Weg und Weise der Überwindung.- da siehe du
zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: »der Mensch kann auch
übersprungen werden.«
Überwinde dich selber noch in deinem Nächsten: und ein Recht,
das du dir rauben kannst, sollst du dir nicht geben lassen!
Was du thust, das kann dir Keiner wieder thun. Siehe, es giebt
keine Vergeltung.
Wer sich nicht befehlen kann, der soll gehorchen. Und Mancher
kann sich befehlen, aber da fehlt noch Viel, dass er sich auch ge-
horche!

3.12.5

Also will es die Art edler Seelen: sie wollen Nichts umsonst haben,
am wenigsten das Leben.
Wer vom Pöbel ist, der will umsonst leben; wir Anderen aber, de-
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 185

nen das Leben sich gab, - wir sinnen immer darüber, was wir am
besten dagegen geben!
Und wahrlich, diess ist eine vornehme Rede, welche spricht: »was
uns das Leben verspricht, das wollen wir - dem Leben halten!«
Man soll nicht geniessen wollen, wo man nicht zu geniessen giebt.
Und - man soll nicht geniessen wollen!
Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge:
Beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie haben -, aber man
soll eher noch nach Schuld und Schmerzen suchen! -

3.12.6

Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert.
Nun aber sind wir Erstlinge.
Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir brennen und braten
Alle zu Ehren alter Götzenbilder.
Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen. Unser Fleisch
ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm-Fell: - wie sollten wir nicht alte
Götzenpriester reizen!
In uns selber wohnt er noch, der alte Götzenpriester, der unser
Bestes sich zum Schmause brät. Ach, meine Brüder, wie sollten
Erstlinge nicht Opfer sein!
Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die, welche sich nicht be-
wahren wollen. Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen
Liebe: denn sie gehn hinüber. -

3.12.7

Wahr sein - das können Wenige! Und wer es kann, der will es noch
nicht! Am wenigsten aber können es die Guten.
Oh diese Guten! - Gute Menschen reden nie die Wahrheit; für den
Geist ist solchermaassen gut sein eine Krankheit.
Sie geben nach, diese Guten, sie ergeben sich, ihr Herz spricht
nach, ihr Grund gehorcht; wer aber gehorcht, der hört sich selber
nicht!
186 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Alles, was den Guten böse heisst, muss zusammen kommen, dass
Eine Wahrheit geboren werde: oh meine Brüder, seid ihr auch bö-
se genug zu dieser Wahrheit?
Das verwegene Wagen, das lange Misstrauen, das grausame Nein,
der Überdruss, das Schneiden in's Lebendige - wie selten kommt
das zusammen! Aus solchem Samen aber wird Wahrheit gezeugt!
Neben dem bösen Gewissen wuchs bisher alles Wissen! Zerbrecht,
zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!

3.12.8

Wenn das Wasser Balken hat, wenn Stege und Geländer über den
Fluss springen: wahrlich, da findet Keiner Glauben, der da spricht:
»Alles ist im Fluss.«
Sondern selber die Tölpel widersprechen ihm. »Wie? sagen die
Tölpel, Alles wäre im Flusse? Balken und Geländer sind doch über
dem Flusse!«
Ȇber dem Flusse ist Alles fest, alle die Werthe der Dinge, die
Brücken, Begriffe, alles »Gut« und »Böse«: das ist Alles fest!« -
Kommt gar der harte Winter, der Fluss-Thierbändiger: dann lernen
auch die Witzigsten Misstrauen; und, wahrlich, nicht nur die Tölpel
sprechen dann: »Sollte nicht Alles - stille stehn?«
»Im Grunde steht Alles stille« -, das ist eine rechte Winter-Lehre,
ein gut Ding für unfruchtbare Zeit, ein guter Trost für Winterschlä-
fer und Ofenhocker.
»Im Grund steht Alles still« -: dagegen aber predigt der Thauwind!
Der Thauwind, ein Stier, der kein pflügender Stier ist, - ein wüthen-
der Stier, ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis
aber - - bricht Stege!
Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle
Geländer und Stege in's Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an
»Gut« und »Böse«?
»Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!« - Also predigt mir, oh
meine Brüder, durch alle Gassen!
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 187

3.12.9

Es giebt einen alten Wahn, der heisst Gut und Böse. Um Wahrsa-
ger und Sterndeuter drehte sich bisher das Rad dieses Wahns.
Einst glaubte man an Wahrsager und Sterndeuter: und darum
glaubte man »Alles ist Schicksal: du sollst, denn du musst!«
Dann wieder misstraute man allen Wahrsagern und Sterndeutern:
und darum glaubte man »Alles ist Freiheit: du kannst, denn du
willst!«
Oh meine Brüder, über Sterne und Zukunft ist bisher nur gewähnt,
nicht gewusst worden: und darum ist über Gut und Böse bisher
nur gewähnt, nicht gewusst worden!

3.12.10

»Du sollst nicht rauben! Du sollst nicht todtschlagen!« - solche


Worte hiess man einst heilig; vor ihnen beugte man Knie und Köp-
fe und zog die Schuhe aus.
Aber ich frage euch: wo gab es je bessere Räuber und Todtschlä-
ger in der Welt, als es solche heilige Worte waren?
Ist in allem Leben selber nicht - Rauben und Todtschlagen? Und
dass solche Worte heilig hiessen, wurde damit die Wahrheit selber
nicht - todtgeschlagen?
Oder war es eine Predigt des Todes, dass heilig hiess, was allem
Leben widersprach und widerrieth? - Oh meine Brüder, zerbrecht,
zerbrecht mir die alten tafeln!

3.12.11

Diess ist mein Mitleid mit allem Vergangenen, dass ich sehe: es
ist preisgegeben, -
- der Gnade, dem Geiste, dem Wahnsinne jedes Geschlechtes
preisgegeben, das kommt und Alles, was war, zu seiner Brücke
umdeutet!
Ein grosser Gewalt-Herr könnte kommen, ein gewitzter Unhold,
188 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

der mit seiner Gnade und Ungnade alles Vergangene zwänge und
zwängte: bis es ihm Brücke würde und Vorzeichen und Herold und
Hahnenschrei.
Diess aber ist die andre Gefahr und mein andres Mitleiden: - wer
vom Pöbel ist, dessen Gedenken geht zurück bis zum Grossvater,
- mit dem Grossvater aber hört die Zeit auf.
Also ist alles Vergangene preisgegeben: denn es könnte einmal
kommen, dass der Pöbel Herr würde und in seichten Gewässern
alle Zeit ertränke.
Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem
Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue
Tafeln neu das Wort schreibt »edel«.
Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen, dass es Adel
gebe! Oder, wie ich einst im Gleichniss sprach: »Das eben ist Gött-
lichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott giebt!«

3.12.12

Oh meine Brüder, ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel:
ihr sollt mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zu-
kunft, -
- wahrlich, nicht zu einem Adel, den ihr kaufen könntet gleich den
Krämern und mit Krämer-Golde: denn wenig Werth hat Alles, was
seinen Preis hat.
Nicht, woher ihr kommt, mache euch fürderhin eure Ehre, sondern
wohin ihr geht! Euer Wille und euer Fuss, der über euch selber
hinaus will, - das mache eure neue Ehre!
Wahrlich nicht, dass ihr einem Fürsten gedient habt - was liegt
noch an Fürsten! - oder dem, was steht, zum Bollwerk wurdet,
dass es fester stünde!
Nicht, dass euer Geschlecht an Höfen höfisch wurde, und ihr lern-
tet, bunt, einem Flamingo ähnlich, lange Stunden in flachen Tei-
chen stehn.
- Denn Stehen-können ist ein Verdienst bei Höflingen; und alle
Höflinge glauben, zur Seligkeit nach dem Tode gehöre - Sitzen-
dürfen! -
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 189

Nicht auch, dass ein Geist, den sie heilig nennen, eure Vorfahren
in gelobte Länder führte, die ich nicht lobe: denn wo der schlimm-
ste aller Bäume wuchs, das Kreuz, - an dem Lande ist Nichts zu
loben! -
- und wahrlich, wohin dieser »heilige Geist« auch seine Ritter führ-
te, immer liefen bei solchen Zügen - Ziegen und Gänse und Kreuz-
und Querköpfe voran! -
Oh meine Brüder, nicht zurück soll euer Adel schauen, sondern
hinaus! Vertriebene sollt ihr sein aus allen Vater- und Urväterlän-
dern!
Eurer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel,
- das unentdeckte, im feinsten Meere! Nach ihm heisse ich eure
Segel suchen und suchen!
An euren Kindern sollt ihr gutmachen, dass ihr eurer Väter Kinder
seid: alles Vergangene sollt ihr so erlösen! Diese neue Tafel stelle
ich über euch!

3.12.13

»Wozu leben? Alles ist eitel! Leben - das ist Stroh dreschen; Leben
- das ist sich verbrennen und doch nicht warm werden.« -
Solch alterthümliches Geschwätz gilt immer noch als »Weisheit«;
dass es aber alt ist und dumpfig riecht, darum wird es besser
geehrt. Auch der Moder adelt. -
Kinder durften so reden: die scheuen das Feuer, weil es sie brann-
te! Es ist viel Kinderei in den alten Büchern der Weisheit.
Und wer immer »Stroh drischt«, wie sollte der auf das Dreschen
lästern dürfen! Solchem Narren müsste man doch das Maul ver-
binden!
Solche setzen sich zu Tisch und bringen Nichts mit, selbst den
guten Hunger nicht: - und nun lästern sie »Alles ist eitel!«
Aber gut essen und trinken, oh meine Brüder, ist wahrlich kei-
ne eitle Kunst! Zerbrecht, zerbrecht mir die Tafeln der Nimmer-
Frohen!
190 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

3.12.14

»Dem Reinen ist Alles rein« - so spricht das Volk. Ich aber sage
euch: den Schweinen wird Alles Schwein!
Darum predigen die Schwärmer und Kopfhänger, denen auch das
Herz niederhängt: »die Welt selber ist ein kothiges Ungeheuer.«
Denn diese Alle sind unsäuberlichen Geistes; sonderlich aber Je-
ne, welche nicht Ruhe, noch Rast haben, es sei denn, sie sehen
die Welt von hinten, - die Hinterweltler!
Denen sage ich in's Gesicht, ob es gleich nicht lieblich klingt: die
Welt gleicht darin dem Menschen, dass sie einen Hintern hat, - so
Viel ist wahr!
Es giebt in der Welt viel Koth: so Viel ist wahr! Aber darum ist die
Welt selber noch kein kothiges Ungeheuer!
Es ist Weisheit darin, dass Vieles in der Welt übel riecht: der Ekel
selber schafft Flügel und quellenahnende Kräfte!
An dem Besten ist noch Etwas zum Ekeln; und der Beste ist noch
Etwas, das überwunden werden muss! -
Oh meine Brüder, es ist viel Weisheit darin, dass viel Koth in der
Welt ist! -

3.12.15

Solche Sprüche hörte ich fromme Hinterweltler zu ihrem Gewissen


reden; und wahrlich, ohne Arg und Falsch, - ob es Schon nichts
Falscheres in der Welt giebt, noch Ärgeres.
»Lass doch die Welt der Welt sein! Hebe dawider auch nicht Einen
Finger auf!«
»Lass, wer da wolle, die Leute würgen und stechen und schneiden
und schaben: hebe dawider auch nicht Einen Finger auf! Darob
lernen sie noch der Welt absagen.«
»Und deine eigne Vernunft - die sollst du selber görgeln und wür-
gen; denn es ist eine Vernunft von dieser Welt, - darob lernst du
selber der Welt absagen.« -
- Zerbrecht, zerbrecht mir, oh meine Brüder, diese alten Tafeln
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 191

der Frommen! Zersprecht mir die Sprüche der Welt-Verleumder!

3.12.16

»Wer viel lernt, der verlernt alles heftige Begehren« - das flüstert
man heute sich zu auf allen dunklen Gassen.
»Weisheit macht müde, es lohnt sich - Nichts; du sollst nicht be-
gehren!« - diese neue Tafel fand ich hängen selbst auf offnen
Märkten.
Zerbrecht mir, oh meine Brüder, zerbrecht mir auch diese neue
Tafel! Die Welt-Müden hängten sie hin und die Prediger des Todes,
und auch die Stockmeister: denn seht, es ist auch eine Predigt zur
Knechtschaft! -
Dass sie schlecht lernten und das Beste nicht, und Alles zu früh
und Alles zu geschwind: dass sie schlecht assen, daher kam ihnen
jener verdorbene Magen, -
- ein verdorbener Magen ist nämlich ihr Geist: der räth zum Tode!
Denn wahrlich, meine Brüder, der Geist ist ein Magen!
Das Leben ist ein Born der Lust: aber aus wem der verdorbene
Magen redet, der Vater der Trübsal, dem sind alle Quellen vergif-
tet.
Erkennen: das ist Lust dem Löwen-willigen! Aber wer müde wur-
de, der wird selber nur »gewollt«, mit dem spielen alle Wellen.
Und so ist es immer schwacher Menschen Art: sie verlieren sich
auf ihren Wegen. Und zuletzt fragt noch ihre Müdigkeit: »wozu
giengen wir jemals Wege! Es ist Alles gleich!«
Denen klingt es lieblich zu Ohren, dass gepredigt wird: »Es ver-
lohnt sich Nichts! Ihr sollt nicht wollen!« Diess aber ist eine Predigt
zur Knechtschaft.
Oh meine Brüder, ein frischer Brause-Wind kommt Zarathustra
allen Weg-Müden; viele Nasen wird er noch niesen machen!
Auch durch Mauern bläst mein freier Athem, und hinein in Gefäng-
nisse und eingefangne Geister!
Wollen befreit: denn Wollen ist Schaffen: so lehre ich. Und nur zum
Schaffen sollt ihr lernen!
192 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Und auch das Lernen sollt ihr erst von mir lernen, das Gut-Lernen!
- Wer Ohren hat, der höre!

3.12.17

Da steht der Nachen, - dort hinüber geht es vielleicht in's grosse


Nichts. - Aber wer will in diess »Vielleicht« einsteigen?
Niemand von euch will in den Todes-Nachen einsteigen! Wieso
wollt ihr dann Welt-Müde sein!
Weltmüde! Und noch nicht einmal Erd-Entrückte wurdet ihr! Lü-
stern fand ich euch immer noch nach Erde, verliebt noch in die
eigne Erd-Müdigkeit!
Nicht umsonst hängt euch die Lippe herab: - ein kleiner Erden-
Wunsch sitzt noch darauf! Und im Auge - schwimmt da nicht ein
Wölkchen unvergessner Erden-Lust?
Es giebt auf Erden viel gute Erfindungen, die einen nützlich, die
andern angenehm: derentwegen ist die Erde zu lieben.
Und mancherlei so gut Erfundenes giebt es da, dass es ist wie des
Weibes Busen: nützlich zugleich und angenehm.
Ihr Welt-Müden aber! Ihr Erden-Faulen! Euch soll man mit Ruthen
streichen! Mit Ruthenstreichen soll man euch wieder muntre Bei-
ne machen.
Denn: seid ihr nicht Kranke und verlebte Wichte, deren die Erde
müde ist, so seid ihr schlaue Faulthiere oder naschhafte verkro-
chene Lust-Katzen. Und wollt ihr nicht wieder lustig laufen, so sollt
ihr - dahinfahren!
An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen: also lehrt es Za-
rathustra: - so sollt ihr dahinfahren!
Aber es gehört mehr Muth dazu, ein Ende zu machen, als einen
neuen Vers: das wissen alle Ärzte und Dichter. -

3.12.18

Oh meine Brüder, es giebt Tafeln, welche die Ermüdung, und Ta-


feln, welche die Faulheit schuf, die faulige: ob sie schon gleich
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 193

reden, so wollen sie doch ungleich gehört sein. -


Seht hier diesen Verschmachtenden! Nur eine Spanne weit ist er
noch von seinem Ziele, aber vor Müdigkeit hat er sich trotzig hier
in den Staub gelegt: dieser Tapfere!
Vor Müdigkeit gähnt er Weg und Erde und Ziel und sich selber an:
keinen Schritt will er noch weiter thun, - dieser Tapfere!
Nun glüht die Sonne auf ihn, und die Hunde lecken nach seinem
Schweisse: aber er liegt da in seinem Trotze und will lieber ver-
schmachten: -
- eine Spanne weit von seinem Ziele verschmachten! Wahrlich, ihr
werdet ihn noch an den Haaren in seinen Himmel ziehen müssen,
- diesen Helden!
Besser noch, ihr lasst ihn liegen, wohin er sich gelegt hat, dass der
Schlaf ihm komme, der Tröster, mit kühlendem Rausche-Regen:
Lasst ihn liegen, bis er von selber wach wird, bis er von selber alle
Müdigkeit widerruft und was Müdigkeit aus ihm lehrte!
Nur, meine Brüder, dass ihr die Hunde von ihm scheucht, die fau-
len Schleicher, und all das schwärmende Geschmeiss: -
- all das schwärmende Geschmeiss der »Gebildeten«, das sich am
Schweisse jedes Helden - gütlich thut! -

3.12.19

Ich schliesse Kreise um mich und heilige Grenzen; immer Wenige-


re steigen mit mir auf immer höhere Berge, - ich baue ein Gebirge
aus immer heiligeren Bergen. -
Wohin ihr aber auch mit mir steigen mögt, oh meine Brüder: seht
zu, dass nicht ein Schmarotzer mit euch steige!
Schmarotzer: das ist ein Gewürm, ein kriechendes, geschmiegtes,
das fett werden will an euren kranken wunden Winkeln.
Und das ist seine Kunst, dass er steigende Seelen erräth, wo sie
müde sind: in euren Gram und Unmuth, in eure zarte Scham baut
er sein ekles Nest.
Wo der Starke schwach, der Edle allzumild ist, - dahinein baut
er sein ekles Nest: der Schmarotzer wohnt, wo der Grosse kleine
194 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

wunde Winkel hat.


Was ist die höchste Art alles Seienden und was die geringste? Der
Schmarotzer ist die geringste Art; wer aber höchster Art ist, der
ernährt die meisten Schmarotzer.
Die Seele nämlich, welche die längste Leiter hat und am tiefsten
hinunter kann: wie sollten nicht an der die meisten Schmarotzer
sitzen? -
- die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und
irren und schweifen kann; die nothwendigste, welche sich aus
Lust in den Zufall stürzt: -
- die seiende Seele, welche in's Werden taucht; die habende, wel-
che in's Wollen und Verlangen will: -
- die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise ein-
holt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zure-
det: -
- die sich selber liebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Wie-
derströmen und Ebbe und Fluth haben: - oh wie sollte die höchste
Seele nicht die schlimmsten Schmarotzer haben?

3.12.20

Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt,
das soll man auch noch stossen!
Das Alles von Heute - das fällt, das verfällt: wer wollte es halten!
Aber ich - ich will es noch stossen!
Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt? - Diese Men-
schen von heute: seht sie doch, wie sie in meine Tiefen rollen!
Ein Vorspiel bin ich besserer Spieler, oh meine Brüder! Ein Bei-
spiel! Thut nach meinem Beispiele!
Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir - schneller fallen! -

3.12.21

Ich liebe die Tapferen: aber es ist nicht genug, Hau-Degen sein, -
man muss auch wissen Hau-schau-Wen !
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 195

Und oft ist mehr Tapferkeit darin, dass Einer an sich hält und vor-
übergeht: damit er sich dem würdigeren Feinde aufspare!
Ich sollt nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde
zum Verachten: ihr müsst stolz auf euren Feind sein: also lehrte
ich schon Ein Mal.
Dem würdigeren Feinde, oh meine Freunde, sollt ihr euch aufspa-
ren: darum müsst ihr an Vielem vorübergehn, -
- sonderlich an vielem Gesindel, das euch in die Ohren lärmt von
Volk und Völkern.
Haltet euer Auge rein von ihrem Für und Wider! Da giebt es viel
Recht, viel Unrecht: wer da zusieht, wird zornig.
Dreinschaun, dreinhaun - das ist da Eins: darum geht weg in die
Wälder und legt euer Schwert schlafen!
Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn! - dunkle
Wege wahrlich, auf denen auch nicht Eine Hoffnung mehr wetter-
leuchtet!
Mag da der Krämer herrschen, wo Alles, was noch glänzt - Krämer-
Gold ist! Es ist die Zeit der Könige nicht mehr: was sich heute Volk
heisst, verdient keine Könige.
Seht doch, wie diese Völker jetzt selber den Krämern gleich thun:
sie lesen sich die kleinsten Vortheile noch aus jedem Kehricht!
Sie lauern einander auf, sie lauern einander Etwas ab, - das heis-
sen sie »gute Nachbarschaft.« Oh selige ferne Zeit, wo ein Volk
sich sagte: »ich will über Völker - Herr sein!«
Denn, meine Brüder: das Beste soll herrschen, das Beste will auch
herrschen! Und wo die Lehre anders lautet, da - fehlt es am Be-
sten.

3.12.22

Wenn Die - Brod umsonst hätten, wehe! Wonach würden Die schrein!
Ihr Unterhalt - das ist ihre rechte Unterhaltung; und sie sollen es
schwer haben!
Raubthiere sind es.- in ihrem »Arbeiten« - da ist auch noch Rau-
ben, in ihrem »Verdienen« - da ist auch noch Überlisten! Darum
196 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

sollen sie es schwer haben!


Bessere Raubthiere sollen sie also werden, feinere, klügere, menschen-
ähnlichere: der Mensch nämlich ist das beste Raubthier.
Allen Thieren hat der Mensch schon ihre Tugenden abgeraubt: das
macht, von allen Thieren hat es der Mensch am schwersten ge-
habt.
Nur noch die Vögel sind über ihm. Und wenn der Mensch noch
fliegen lernte, wehe! wohinauf - würde seine Raublust fliegen!

3.12.23

So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den Einen, gebärtüchtig


das Andre, beide aber tanztüchtig mit Kopf und Beinen.
Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und
falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter
gab!

3.12.24

Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein schlechtes Schlies-


sen sei! Ihr schlosset zu schnell: so folgt daraus - Ehebrechen!
Und besser noch Ehebrechen als Ehe-biegen, Ehelügen! - So sprach
mir ein Weib: »wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe
- mich!«
Schlimm-Gepaarte fand ich immer als die schlimmsten Rachsüch-
tigen: sie lassen es aller Welt entgelten, dass sie nicht mehr ein-
zeln laufen.
Desswillen will ich, dass Redliche zu einander reden: »wir lieben
uns: lasst uns zusehn, dass wir uns lieb behalten! Oder soll unser
Versprechen ein Versehen sein?«
- »Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, dass wir zusehn, ob wir
zur grossen Ehe taugen! Es ist ein grosses Ding, immer zu Zwein
sein!«
Also rathe ich allen Redlichen; und was wäre denn meine Liebe
zum Übermenschen und zu Allem, was kommen soll, wenn ich
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 197

anders riethe und redete!


Nicht nur fort euch zu pflanzen, sondern hinauf - dazu, oh meine
Brüder, helfe euch der Garten der Ehe!

3.12.25

Wer über alte Ursprünge weise wurde, siehe, der wird zuletzt nach
Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Ursprüngen. -
Oh meine Brüder, es ist nicht über lange, da werden neue Völker
entspringen und neue Quellen hinab in neue Tiefen rauschen.
Das Erdbeben nämlich - das verschüttet viel Brunnen, das schafft
viel Verschmachten: das hebt auch innre Kräfte und Heimlichkei-
ten an's Licht.
Das Erdbeben macht neue Quellen offenbar. Im Erdbeben alter
Völker brechen neue Quellen aus.
Und wer da ruft: »Siehe hier ein Brunnen für viele Durstige, Ein
Herz für viele Sehnsüchtige, Ein Wille für viele Werkzeuge«: - um
den sammelt sich ein Volk, das ist: viel Versuchende.
Wer befehlen kann, wer gehorchen muss - Das wird da versucht!
Ach, mit welch langem Suchen und Rathen und Missrathen und
Lernen und Neu-Versuchen!
Die Menschen-Gesellschaft: die ist ein Versuch, so lehre ich's, -
ein langes Suchen: sie sucht aber den Befehlenden! -
- ein Versuch, oh meine Brüder! Und kein »Vertrag«! Zerbrecht,
zerbrecht mir solch Wort der Weich-Herzen und Halb- und Halben!

3.12.26

Oh meine Brüder! Bei Welchen liegt doch die grösste Gefahr aller
Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? -
- als bei Denen, die sprechen und im Herzen fühlen: »wir wissen
schon, was gut ist und gerecht, wir haben es auch; wehe Denen,
die hier noch suchen!« -
Und was für Schaden auch die Bösen thun mögen: der Schaden
der Guten ist der schädlichste Schaden!
198 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Und was für Schaden auch die Welt-Verleumder thun mögen: der
Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden.
Oh meine Brüder, den Guten und Gerechten sah Einer einmal in's
Herz, der da sprach: »es sind die Pharisäer.« Aber man verstand
ihn nicht.
Die Guten und Gerechten selber durften ihn nicht verstehen: ihr
Geist ist eingefangen in ihr gutes Gewissen. Die Dummheit der
Guten ist unergründlich klug.
Das aber ist die Wahrheit: die Guten müssen Pharisäer sein, - sie
haben keine Wahl!
Die Guten müssen Den kreuzigen, der sich seine eigne Tugend
erfindet! Das ist die Wahrheit!
Der Zweite aber, der ihr Land entdeckte, Land, Herz und Erdreich
der Guten und Gerechten: das war, der da fragte: »wen hassen
sie am meisten?«
Den Schaffenden hassen sie am meisten: den, der Tafeln bricht
und alte Werthe, den Brecher - den heissen sie Verbrecher.
Die Guten nämlich - die können nicht schaffen: die sind immer
der Anfang vom Ende:-
- sie kreuzigen Den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt, sie
opfern sich die Zukunft, - sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!
Die Guten - die waren immer der Anfang vom Ende. -

3.12.27

Oh meine Brüder, verstandet ihr auch diess Wort? Und was ich
einst sagte vom »letzten Menschen«? - -
Bei Welchen liegt die grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist
es nicht bei den Guten und Gerechten?
Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten! - Oh meine
Brüder, verstandet ihr auch diess Wort?
3.12. VON ALTEN UND NEUEN TAFELN 199

3.12.28

Ihr flieht von mir? Ihr seid erschreckt? Ihr zittert vor diesem Wor-
te?
Oh meine Brüder, als ich euch die Guten zerbrechen hiess und die
Tafeln der Guten: da erst schiffte ich den Menschen ein auf seine
hohe See.
Und nun erst kommt ihm der grosse Schrecken, das grosse Um-
sich-sehn, die grosse Krankheit, der grosse Ekel, die grosse See-
Krankheit.
Falsche Küsten und falsche Sicherheiten lehrten euch die Guten;
in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in
den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten.
Aber wer das Land »Mensch« entdeckte, entdeckte auch das Land
»Menschen-Zukunft«. Nun sollt ihr mir Seefahrer sein, wackere,
geduldsame!
Aufrecht geht mir bei Zeiten, oh meine Brüder, lernt aufrecht gehn!
Das Meer stürmt: Viele wollen an euch sich wieder aufrichten.
Das Meer stürmt: Alles ist im Meere. Wohlan! Wohlauf! Ihr alten
Seemanns-Herzen!
Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder-Land
ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre grosse
Sehnsucht! -

3.12.29

»Warum so hart! - sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle;


sind wir denn nicht Nah-Verwandte?« -
Warum so weich? Oh meine Brüder, also frage ich euch: seid ihr
denn nicht - meine Brüder?
Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel
Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in
eurem Blicke?
Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet
ihr mit mir - siegen?
200 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden
will: wie könntet ihr einst mit mir - schaffen?
Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muss es euch
dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, -
- Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf
Erz, - härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.
Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch: werdet
hart! -

3.12.30

Oh du mein Wille! Du Wende aller Noth du meine Nothwendigkeit!


Bewahre mich vor allen kleinen Siegen!
Du Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heisse! Du-In-mir!
Über-mir! Bewahre und spare mich auf zu Einem grossen Schick-
sale!
Und deine letzte Grösse, mein Wille, spare dir für dein Letztes auf,
- dass du unerbittlich bist in deinem Siege! Ach, wer unterlag nicht
seinem Siege!
Ach, wessen Auge dunkelte nicht in dieser trunkenen Dämme-
rung! Ach, wessen Fuss taumelte nicht und verlernte im Siege -
stehen! -
- Dass ich einst bereit und reif sei im grossen Mittage: bereit und
reif gleich glühendem Erze, blitzschwangrer Wolke und schwel-
lendem Milch-Euter: -
- bereit zu mir selber und zu meinem verborgensten Willen: ein
Bogen brünstig nach seinem Pfeile, ein Pfeil brünstig nach seinem
Sterne: -
- ein Stern bereit und reif in seinem Mittage, glühend, durchbohrt,
selig vor vernichtenden Sonnen-Pfeilen: -
- eine Sonne selber und ein unerbittlicher Sonnen-Wille, zum Ver-
nichten bereit im Siegen!
Oh Wille, Wende aller Noth, du meine Nothwendigkeit! Spare mich
auf zu Einem grossen Siege! - -
Also sprach Zarathustra.
3.13. DER GENESENDE 201

3.13 Der Genesende

3.13.1

Eines Morgens, nicht lange nach seiner Rückkehr zur Höhle, sprang
Zarathustra von seinem Lager auf wie ein Toller, schrie mit furcht-
barer Stimme und gebärdete sich, als ob noch Einer auf dem La-
ger läge, der nicht davon aufstehn wolle; und also tönte Zara-
thustra's Stimme, dass seine Thiere erschreckt hinzukamen, und
dass aus allen Höhlen und Schlupfwinkeln, die Zarathustra's Höh-
le benachbart waren, alles Gethier davon huschte, - fliegend, flat-
ternd, kriechend, springend, wie ihm nur die Art von Fuss und Flü-
gel gegeben war. Zarathustra aber redete diese Worte:
Herauf, abgründlicher Gedanke, aus meiner Tiefe! Ich bin dein
Hahn und Morgen-Grauen, verschlafener Wurm: auf! auf! Meine
Stimme soll dich schon wach krähen!
Knüpfe die Fessel deiner Ohren los: horche! Denn ich will dich hö-
ren! Auf! Auf! Hier ist Donners genug, dass auch Gräber horchen
lernen!
Und wische den Schlaf und alles Blöde, Blinde aus deinen Augen!
Höre mich auch mit deinen Augen: meine Stimme ist ein Heilmit-
tel noch für Blindgeborne.
Und bist du erst wach, sollst du mir ewig wach bleiben. Nicht ist
das meine Art, Urgrossmütter aus dem Schlafe wecken, dass ich
sie heisse - weiterschlafen!
Du regst dich, dehnst dich, röchelst? Auf! Auf! Nicht röcheln - re-
den sollst du mir! Zarathustra ruft dich, der Gottlose!
Ich, Zarathustra, der Fürsprecher des Lebens, der Fürsprecher des
Leidens, der Fürsprecher des Kreises - dich rufe ich, meinen ab-
gründlichsten Gedanken!
Heil mir! Du kommst - ich höre dich! Mein Abgrund redet, meine
letzte Tiefe habe ich an's Licht gestülpt!
Heil mir! Heran! Gieb die Hand - - ha! lass! Haha! - - Ekel, Ekel,
Ekel - - - wehe mir!
202 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

3.13.2

Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da stürz-


te er nieder gleich einem Todten und blieb lange wie ein Todter.
Als er aber wieder zu sich kam, da war er bleich und zitterte und
blieb liegen und wollte lange nicht essen noch trinken. Solches
Wesen dauerte an ihm sieben Tage; seine Thiere verliessen ihn
aber nicht bei Tag und Nacht, es sei denn, dass der Adler ausflog,
Speise zu holen. Und was er holte und zusammenraubte, das leg-
te er auf Zarathustra's Lager: also dass Zarathustra endlich unter
gelben und rothen Beeren, Trauben, Rosenäpfeln, wohlriechen-
dem Krautwerke und Pinien-Zapfen lag. Zu seinen Füssen aber
waren zwei Lämmer gebreitet, welche der Adler mit Mühe ihren
Hirten abgeraubt hatte.
Endlich, nach sieben Tagen, richtete sich Zarathustra auf seinem
Lager auf, nahm einen Rosenapfel in die Hand, roch daran und
fand seinen Geruch lieblich. Da glaubten seine Thiere, die Zeit
sei gekommen, mit ihm zu reden.
»Oh Zarathustra, sagten sie, nun liegst du schon sieben Tage so,
mit schweren Augen: willst du dich nicht endlich wieder auf deine
Füsse stellen?
Tritt hinaus aus deiner Höhle: die Welt wartet dein wie ein Garten.
Der Wind spielt mit schweren Wohlgerüchen, die zu dir wollen;
und alle Bäche möchten dir nachlaufen.
Alle Dinge sehnen sich nach dir, dieweil du sieben Tage allein
bliebst, - tritt hinaus aus deiner Höhle! Alle Dinge wollen deine
Ärzte sein!
Kam wohl eine neue Erkenntniss zu dir, eine saure, schwere? Gleich
angesäuertem Teige lagst du, deine Seele gieng auf und schwoll
über alle ihre Ränder. -«
- Oh meine Thiere, antwortete Zarathustra, schwätzt also weiter
und lasst mich zuhören! Es erquickt mich so, dass ihr schwätzt:
wo geschwätzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten.
Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte
und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen Ewig-Geschiedenem?
Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede and-
re Seele eine Hinterwelt.
3.13. DER GENESENDE 203

Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten;


denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.
Für mich - wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen! Aber
das vergessen wir bei allen Tönen; wie lieblich ist es, dass wir
vergessen!
Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch
sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narrethei, das
Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.
Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne! Mit Tönen tanzt
unsre Liebe auf bunten Regenbögen. -
- »Oh Zarathustra, sagten darauf die Thiere, Solchen, die denken
wie wir, tanzen alle Dinge selber: das kommt und reicht sich die
Hand und lacht und flieht - und kommt zurück.
Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles
stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.
Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus
des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich
treu der Ring des Seins.
In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel
Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« -
- Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra
und lächelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen
erfüllen musste: -
- und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte!
Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir.
Und ihr, - ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege
ich da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch
von der eigenen Erlösung.
Und ihr schautet dem Allen zu? Oh meine Thiere, seid auch ihr
grausam? Habt ihr meinem grossen Schmerze zuschaun wollen,
wie Menschen thun? Der Mensch nämlich ist das grausamste Thier.
Bei Trauerspielen, Stierkämpfen und Kreuzigungen ist es ihm bis-
her am wohlsten geworden auf Erden; und als er sich die Hölle
erfand, siehe, da war das sein Himmel auf Erden.
Wenn der grosse Mensch schreit -: flugs läuft der kleine hinzu;
und die Zunge hängt ihm aus dem Halse vor Lüsternheit. Er aber
204 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

heisst es sein »Mitleiden.«


Der kleine Mensch, sonderlich der Dichter - wie eifrig klagt er das
Leben in Worten an! Hört hin, aber überhört mir die Lust nicht, die
in allem Anklagen ist!
Solche Ankläger des Lebens: die überwindet das Leben mit einem
Augenblinzeln. »Du liebst mich? sagt die Freche; warte noch ein
Wenig, noch habe ich für dich nicht Zeit.«
Der Mensch ist gegen sich selber das grausamste Thier; und bei
Allem, was sich »Sünder« und »Kreuzträger« und »Büsser« heisst,
überhört mir die Wollust nicht, die in diesem Klagen und Anklagen
ist!
Und ich selber - will ich damit des Menschen Ankläger sein? Ach,
meine Thiere, Das allein lernte ich bisher, dass dem Menschen
sein Bösestes nöthig ist zu seinem Besten, -
- dass alles Böseste seine beste Kraft ist und der härteste Stein
dem höchsten Schaffenden; und dass der Mensch besser und bö-
ser werden muss: -
Nicht an diess Marterholz war ich geheftet, dass ich weiss: der
Mensch ist böse, - sondern ich schrie, wie noch Niemand geschri-
en hat:
»Ach dass sein Bösestes so gar klein ist! Ach dass sein Bestes so
gar klein ist!«
Der grosse Überdruss am Menschen - der würgte mich und war
mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte:
»Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.«
Eine lange Dämmerung hinkte vor mir her, eine todesmüde, to-
destrunkene Traurigkeit, welche mit gähnendem Munde redete.
»Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du müde bist, der kleine
Mensch« - so gähnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss
und konnte nicht einschlafen.
Zur Höhle wandelte sich mir die Menschen-Erde, ihre Brust sank
hinein, alles Lebendige ward mir Menschen-Moder und Knochen
und morsche Vergangenheit.
Mein Seufzen sass auf allen Menschen-Gräbern und konnte nicht
mehr aufstehn; mein Seufzen und Fragen unkte und würgte und
nagte und klagte bei Tag und Nacht:
3.13. DER GENESENDE 205

- »ach, der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt
ewig wieder!« -
Nackt hatte ich einst Beide gesehn, den grössten Menschen und
den kleinsten Menschen: allzuähnlich einander, - allzumenschlich
auch den Grössten noch!
Allzuklein der Grösste! - Das war mein Überdruss am Menschen!
Und ewige Wiederkunft auch des Kleinsten! - Das war mein Über-
druss an allem Dasein!
Ach, Ekel! Ekel! Ekel! - - Also sprach Zarathustra und seufzte und
schauderte; denn er erinnerte sich seiner Krankheit. Da liessen
ihn aber seine Thiere nicht weiter reden.
»Sprich nicht weiter, du Genesender! - so antworteten ihm seine
Thiere, sondern geh hinaus, wo die Welt auf dich wartet gleich
einem Garten.
Geh hinaus zu den Rosen und Bienen und Taubenschwärmen!
Sonderlich aber zu den Singe-Vögeln: dass du ihnen das Singen
ablernst!
Singen nämlich ist für Genesende; der Gesunde mag reden. Und
wenn auch der Gesunde Lieder will, will er andre Lieder doch als
der Genesende.«
- »Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln, so schweigt doch! - ant-
wortete Zarathustra und lächelte über seine Thiere. Wie gut ihr
wisst, welchen Trost ich mir selber in sieben Tagen erfand!
Dass ich wieder singen müsse, - den Trost erfand ich mir und die-
se Genesung: wollt ihr auch daraus gleich wieder ein Leier-Lied
machen?«
- »Sprich nicht weiter, antworteten ihm abermals seine Thiere;
lieber noch, du Genesender, mache dir erst eine Leier zurecht,
eine neue Leier!
Denn siehe doch, oh Zarathustra! Zu deinen neuen Liedern bedarf
es neuer Leiern.
Singe und brause über, oh Zarathustra, heile mit neuen Liedern
deine Seele: dass du dein grosses Schicksal tragest, das noch kei-
nes Menschen Schicksal war!
Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra, wer du bist und
werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft
206 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

-, das ist nun dein Schicksal!


Dass du als der Erste diese Lehre lehren musst, - wie sollte diess
grosse Schicksal nicht auch deine grösste Gefahr und Krankheit
sein!
Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkeh-
ren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen
sind, und alle Dinge mit uns.
Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Unge-
heuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich,
immer wieder von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe
und auslaufe: -
- so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und
auch im Kleinsten, - so dass wir selber in jedem grossen Jahre uns
selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.
Und wenn du jetzt sterben wolltest, oh Zarathustra: siehe, wir wis-
sen auch, wie du da zu dir sprechen würdest: - aber deine Thiere
bitten dich, dass du noch nicht sterbest!
Du würdest sprechen und ohne Zittern, vielmehr aufathmend vor
Seligkeit: denn eine grosse Schwere und Schwüle wäre von dir
genommen, du Geduldigster! -
»Nun sterbe und schwinde ich, würdest du sprechen, und im Nu
bin ich ein Nichts. Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber.
Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlun-
gen bin, - der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den
Ursachen der ewigen Wiederkunft.
Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem
Adler, mit dieser Schlange - nicht zu einem neuen Leben oder
besseren Leben oder ähnlichen Leben:
- ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben,
im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge
ewige Wiederkunft lehre, -
- dass ich wieder das Wort spreche vom grossen Erden- und Menschen-
Mittage, dass -ich wieder den Menschen den Übermenschen kün-
de.
Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es
mein ewiges Loos -, als Verkündiger gehe ich zu Grunde!
3.14. VON DER GROSSEN SEHNSUCHT 207

Die Stunde kam nun, dass der Untergehende sich selber segnet.
Also- endet Zarathustra's Untergang.« - -
Als die Thiere diese Worte gesprochen hatten, schwiegen sie und
warteten, dass Zarathustra Etwas zu ihnen sagen werde: aber Za-
rathustra hörte nicht, dass sie schwiegen. Vielmehr lag er still, mit
geschlossenen Augen, einem Schlafenden ähnlich, ob er schon
nicht schlief: denn er unterredete sich eben mit seiner Seele. Die
Schlange aber und der Adler, als sie ihn solchermaassen schweig-
sam fanden, ehrten die grosse Stille um ihn und machten sich
behutsam davon.

3.14 Von der grossen Sehnsucht

Oh meine Seele, ich lehrte dich »Heute« sagen wie »Einst« und
»Ehemals« und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen
hinweg tanzen.
Oh meine Seele, ich erlöste dich von allen Winkeln, ich kehrte
Staub, Spinnen und Zwielicht von dir ab.
Oh meine Seele, ich wusch die kleine Scham und die Winkel-Tugend
von dir ab und überredete dich, nackt vor den Augen der Sonne
zu stehn.
Mit dem Sturme, welcher »Geist« heisst, blies ich über deine wo-
gende See; alle Wolken blies ich davon, ich erwürgte selbst die
Würgerin, die »Sünde« heisst.
Oh meine Seele, ich gab dir das Recht, Nein zu sagen wie der
Sturm und Ja zu sagen wie offner Himmel Ja sagt: still wie Licht
stehst du und gehst du nun durch verneinende Stürme.
Oh meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück über Erschaffnes
und Unerschaffnes: und wer kennt, wie du sie kennst, die Wollust
des Zukünftigen?
Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein
Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Verachten, welches
am meisten liebt, wo es am meisten verachtet.
Oh meine Seele, ich lehrte dich so überreden, dass du zu dir die
Gründe selber überredest: der Sonne gleich, die das Meer noch
zu seiner Höhe überredet.
208 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Oh meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen Kniebeugen


und Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen »Wende der Noth«
und »Schicksal«.
Oh meine Seele, ich gab dir neue Namen und bunte Spielwerke,
ich hiess dich »Schicksal« und »Umfang der Umfänge« und »Na-
belschnur der Zeit« und »azurne Glocke«.
Oh meine Seele, deinem Erdreich gab ich alle Weisheit zu trinken,
alle neuen Weine und auch alle unvordenklich alten starken Weine
der Weisheit.
Oh meine Seele, jede Sonne goss ich auf dich und jede Nacht und
jedes Schweigen und jede Sehnsucht: - da wuchsest du mir auf
wie ein Weinstock.
Oh meine Seele, überreich und schwer stehst du nun da, ein Wein-
stock mit schwellenden Eutern und gedrängten braunen Gold-
Weintrauben: -
- gedrängt und gedrückt von deinem Glücke, wartend vor Über-
flusse und schamhaft noch ob deines Wartens.
Oh meine Seele, es giebt nun nirgends eine Seele, die liebender
wäre und umfangender und umfänglicher! Wo wäre Zukunft und
Vergangnes näher beisammen als bei dir?
Oh meine Seele, ich gab dir Alles, und alle meine Hände sind an
dich leer geworden: - und nun! Nun sagst du mir lächelnd und voll
Schwermuth: »Wer von uns hat zu danken? -
- hat der Geber nicht zu danken, dass der Nehmende nahm? Ist
Schenken nicht eine Nothdurft? Ist Nehmen nicht - Erbarmen?« -
Oh meine Seele, ich verstehe das Lächeln deiner Schwermuth:
dein Über-Reichthum selber streckt nun sehnende Hände aus!
Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und sucht und wartet;
die Sehnsucht der Über-Fülle blickt aus deinem lächelnden Augen-
Himmel!
Und wahrlich, oh meine Seele! Wer sähe dein Lächeln und schmel-
ze nicht vor Thränen? Die Engel selber schmelzen vor Thränen ob
der Über-Güte deines Lächelns.
Deine Güte und Über-Güte ist es, die nicht klagen und weinen will:
und doch sehnt sich, oh meine Seele, dein Lächeln nach Thränen
und dein zitternder Mund nach Schluchzen.
3.14. VON DER GROSSEN SEHNSUCHT 209

»Ist alles Weinen nicht ein Klagen? Und alles Klagen nicht ein An-
klagen?« Also redest du zu dir selber, und darum willst du, oh
meine Seele, lieber lächeln, als dein Leid ausschütten.
- in stürzende Thränen ausschütten all dein Leid über deine Fülle
und über all die Drängniss des Weinstocks nach Winzer und Win-
zermesser!
Aber willst du nicht weinen, nicht ausweinen deine purpurne Schwer-
muth, so wirst du singen müssen, oh meine Seele! - Siehe, ich
lächle selber, der ich dir solches vorhersage:
- singen, mit brausendem Gesange, bis alle Meere still werden,
dass sie deiner Sehnsucht zuhorchen, -
- bis über stille sehnsüchtige Meere der Nachen schwebt, das gül-
dene Wunder, um dessen Gold alle guten schlimmen wunderli-
chen Dinge hüpfen: -
- auch vieles grosse und kleine Gethier und Alles, was leichte
wunderliche Füsse hat, dass es auf veilchenblauen Pfaden laufen
kann, -
- hin zu dem güldenen Wunder, dem freiwilligen Nachen und zu
seinem Herrn: das aber ist der Winzer, der mit diamantenem Win-
zermesser wartet, -
- dein grosser Löser, oh meine Seele, der Namenlose - - dem zu-
künftige Gesänge erst Namen finden! Und wahrlich, schon duftet
dein Athem nach zukünftigen Gesängen, -
- schon glühst du und träumst, schon trinkst du durstig an allen
tiefen klingenden Trost-Brunnen, schon ruht deine Schwermuth in
der Seligkeit zukünftiger Gesänge! - -
Oh meine Seele, nun gab ich dir Alles und auch mein Letztes,
und alle meine Hände sind an dich leer geworden: - dass ich dich
singen hiess, siehe, das war mein Letztes!
Dass ich dich singen hiess, sprich nun, sprich: wer von uns hat
jetzt - zu danken? - Besser aber noch: singe mir, singe, oh meine
Seele! Und mich lass danken! -
Also sprach Zarathustra.
210 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

3.15 Das andere Tanzlied

3.15.1

»In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben: Gold sah ich in deinem
Nacht-Auge blinken, - mein Herz stand still vor dieser Wollust:
- einen goldenen Kahn sah ich blinken auf mächtigen Gewässern,
einen sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen Schaukel-
Kahn!
Nach meinem Fusse, dem tanzwüthigen, warfst du einen Blick,
einen lachenden fragenden schmelzenden Schaukel-Blick:
Zwei Mal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Händen - da
schaukelte schon mein Fuss vor Tanz-Wuth. -
Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen horchten, dich zu ver-
stehen: trägt doch der Tänzer sein Ohr - in seinen Zehen!
Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurück vor meinem Sprun-
ge; und gegen mich züngelte deines fliehenden fliegenden Haars
Zunge!
Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standst du
schon, halbgewandt, das Auge voll Verlangen.
Mit krummen Blicken - lehrst du mich krumme Bahnen; auf krum-
men Bahnen lernt mein Fuss - Tücken!
Ich fürchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne; deine Flucht lockt mich,
dein Suchen stockt mich: - ich leide, aber was litt ich um dich nicht
gerne!
Deren Kälte zündet, deren Hass verführt, deren Flucht bindet, de-
ren Spott - rührt:
- wer hasste dich nicht, dich grosse Binderin, Umwinderin, Versu-
cherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige,
ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!
Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und jetzt
fliehst du mich wieder, du süsser Wildfang und Undank!
Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist
du? Gieb mir die Hand! Oder einen Finger nur!
Hier sind Höhlen und Dickichte: wir werden uns verirren! - Halt!
3.15. DAS ANDERE TANZLIED 211

Steh still! Siehst du nicht Eulen und Fledermäuse schwirren?


Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich äffen? Wo sind wir? Von
den Hunden lerntest du diess Heulen und Kläffen.
Du fletschest mich lieblich an mit weissen Zähnlein, deine bösen
Augen springen gegen mich aus lockichtem Mähnlein!
Das ist ein Tanz über Stock und Stein: ich bin der Jäger, - willst du
mein Hund oder meine Gemse sein?
Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hin-
auf! Und hinüber! - Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin!
Oh sieh mich liegen, du Übermuth, und um Gnade flehn! Gerne
möchte ich mit dir - lieblichere Pfade gehn!
- der Liebe Pfade durch stille bunte Büsche! Oder dort den See
entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!
Du bist jetzt müde? Da drüben sind Schafe und Abendröthen: ist
es nicht schön, zu schlafen, wenn Schäfer flöten?
Du bist so arg müde? Ich trage dich hin, lass nur die Arme sinken!
Und hast du Durst, - ich hätte wohl Etwas, aber dein Mund will es
nicht trinken! -
- Oh diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupf-Hexe!
Wo bist du hin? Aber im Gesicht fühle ich von deiner Hand zwei
Tupfen und rothe Klexe!
Ich bin es wahrlich müde, immer dein schafichter Schäfer zu sein!
Du Hexe, habe ich dir bisher gesungen, nun sollst du mir - schrein!
Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein!
Ich vergass doch die Peitsche nicht? - Nein!« -

3.15.2

Da antwortete mir das Leben also und hielt sich dabei die zierli-
chen Ohren zu:
»Oh Zarathustra! Klatsche doch nicht so fürchterlich mit deiner
Peitsche! Du weisst es ja: Lärm mordet Gedanken, - und eben
kommen mir so zärtliche Gedanken.
Wir sind Beide zwei rechte Thunichtgute und Thunichtböse. Jen-
seits von Gut und Böse fanden wir unser Eiland und unsre grüne
212 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

Wiese - wir Zwei allein! Darum müssen wir schon einander gut
sein!
Und lieben wir uns auch nicht von Grund aus -, muss man sich
denn gram sein, wenn man sich nicht von Grund aus liebt?
Und dass ich dir gut bin und oft zu gut, Das weisst du: und der
Grund ist, dass ich auf deine Weisheit eifersüchtig bin. Ah, diese
tolle alte Närrin von Weisheit!
Wenn dir deine Weisheit einmal davonliefe, ach! da liefe dir schnell
auch meine Liebe noch davon.« -
Darauf blickte das Leben nachdenklich hinter sich und um sich
und sagte leise: »Oh Zarathustra, du bist mir nicht treu genug!
Du liebst mich lange nicht so sehr wie du redest; ich weiss, du
denkst daran, dass du mich bald verlassen willst.
Es giebt eine alte schwere schwere Brumm-Glocke: die brummt
Nachts bis zu deiner Höhle hinauf: -
- hörst du diese Glocke Mitternachts die Stunde schlagen, so denkst
du zwischen Eins und Zwölf daran -
- du denkst daran, oh Zarathustra, ich weiss es, dass du mich bald
verlassen willst!« -
»Ja, antwortete ich zögernd, aber du weisst es auch -« Und ich
sagte ihr Etwas in's Ohr, mitten hinein zwischen ihre verwirrten
gelben thörichten Haar-Zotteln.
Du weisst Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand. - -
Und wir sahen uns an und blickten auf die grüne Wiese, über wel-
che eben der kühle Abend lief, und weinten mit einander. - Damals
aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit. -
Also sprach Zarathustra.

3.15.3

Eins!
Oh Mensch! Gieb Acht!
Zwei!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
3.16. DIE SIEBEN SIEGEL (ODER: DAS JA- UND AMEN-LIED) 213

Drei!
»Ich schlief, ich schlief -,
Vier!
»Auf tiefen Traum bin ich erwacht:-
Fünf!
»Die Welt ist tief,
Sechs!
»Und tiefer als der Tag gedacht.
Sieben!
»Tief ist ihr Weh -,
Acht!
»Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Neun!
»Weh spricht: Vergeh!
Zehn!
»Doch alle Lust will Ewigkeit -,
Elf!
»- will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Zwölf!

3.16 Die sieben Siegel (Oder: das Ja-


und Amen-Lied)

3.16.1

Wenn ich ein Wahrsager bin und voll jenes wahrsagerischen Gei-
stes, der auf hohem Joche zwischen zwei Meeren wandelt, -
zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wan-
delt, - schwülen Niederungen feind und Allem, was müde ist und
nicht sterben, noch leben kann.-
214 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erlösenden Licht-


strahle, schwanger von Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahr-
sagerischen Blitzstrahlen: -
- selig aber ist der also Schwangere! Und wahrlich, lange muss
als schweres Wetter am Berge hängen, wer einst das Licht der
Zukunft zünden soll! -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!

3.16.2

Wenn mein Zorn je Gräber brach, Grenzsteine rückte und alte Ta-
feln zerbrochen in steile Tiefen rollte:
Wenn mein Hohn je vermoderte Worte zerblies, und ich wie ein
Besen kam den Kreuzspinnen und als Fegewind alten verdumpf-
ten Grabkammern:
Wenn ich je frohlockend sass, wo alte Götter begraben liegen,
weltsegnend, weltliebend neben den Denkmalen alter Welt-Verleumder:
-
- denn selbst Kirchen und Gottes-Gräber liebe ich, wenn der Him-
mel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt;
gern sitze ich gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kir-
chen -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3.16. DIE SIEBEN SIEGEL (ODER: DAS JA- UND AMEN-LIED) 215

3.16.3

Wenn je ein Hauch zu mir kam vom schöpferischen Hauche und


von jener himmlischen Noth, die noch Zufälle zwingt, Sternen-
Reigen zu tanzen:
Wenn ich je mit dem Lachen des schöpferischen Blitzes lachte,
dem der lange Donner der That grollend, aber gehorsam nach-
folgt:
Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit Göttern Würfel spielte,
dass die Erde bebte und brach und Feuerflüsse heraufschnob: -
- denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von schöpferi-
schen neuen Worten und Götter-Würfen: -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!

3.16.4

Wenn ich je vollen Zuges trank aus jenem schäumenden Würz-


und Mischkruge, in dem alle Dinge gut gemischt sind:
Wenn meine Hand je Fernstes zum Nächsten goss und Feuer zu
Geist und Lust zu Leid und Schlimmstes zum Gütigsten:
Wenn ich selber ein Korn bin von jenem erlösenden Salze, welches
macht, dass alle Dinge im Mischkruge gut sich mischen: -
- denn es giebt ein Salz, das Gutes mit Bösem bindet; und auch
das Böseste ist zum Würzen würdig und zum letzten Überschäu-
men: -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
216 KAPITEL 3. DRITTER THEIL

3.16.5

Wenn ich dem Meere hold bin und Allem, was Meeres-Art ist, und
am holdesten noch, wenn es mir zornig widerspricht:
Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die
Segel treibt, wenn eine Seefahrer-Lust in meiner Lust ist:
Wenn je mein Frohlocken rief: »die Küste schwand, - nun fiel mir
die letzte Kette ab -
- das Grenzenlose braust um mich, weit hinaus glänzt mir Raum
und Zeit, wohlan! wohlauf! altes Herz!« -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!

3.16.6

Wenn meine Tugend eines Tänzers Tugend ist, und ich oft mit bei-
den Füssen in gold-smaragdenes Entzücken sprang:
Wenn meine Bosheit eine lachende Bosheit ist, heimisch unter
Rosenhängen und Lilien-Hecken:
- im Lachen nämlich ist alles Böse bei einander, aber heilig- und
losgesprochen durch seine eigne Seligkeit: -
Und wenn Das mein A und O ist, dass alles Schwere leicht, aller
Leib Tänzer, aller Geist Vogel werde: und wahrlich, Das ist mein A
und O! -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
3.16. DIE SIEBEN SIEGEL (ODER: DAS JA- UND AMEN-LIED) 217

3.16.7

Wenn ich je stille Himmel über mir ausspannte und mit eignen
Flügeln in eigne Himmel flog:
Wenn ich spielend in tiefen Licht-Fernen schwamm, und meiner
Freiheit Vogel-Weisheit kam: -
- so aber spricht Vogel-Weisheit: »Siehe, es giebt kein Oben, kein
Unten! Wirf dich umher, hinaus, zurück, du Leichter! Singe! sprich
nicht mehr!
- »sind alle Worte nicht für die Schweren gemacht? Lügen dem
Leichten nicht alle Worte! Singe! sprich nicht mehr!« -
Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach
dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring de Wiederkunft!
Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, sei denn
dieses Weib, das ich lieb: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!
218 KAPITEL 3. DRITTER THEIL
Kapitel 4

Vierter und letzter Theil

Ach, wo in der Welt geschahen grössere Thorheiten, als bei den


Mitleidigen? Und was in der Weit stiftete mehr Leid, als die Thor-
heiten der Mitleidigen?
Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche
über ihrem Mitleiden ist!
Also sprach der Teufel einst zu mir: »auch Gott hat seine Hölle:
das ist seine Liebe zu den Menschen.«
Und jüngst hörte ich ihn diess Wort sagen: »Gott ist todt; an sei-
nem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.«
Zarathustra, Von den Mitleidigen

4.1 Das Honig-Opfer

- Und wieder liefen Monde und Jahre über Zarathustra's Seele, und
er achtete dessen nicht; sein Haar aber wurde weiss. Eines Tages,
als er auf einem Steine vor seiner Höhle sass und still hinaus-
schaute, - man schaut aber dort auf das Meer hinaus, und hinweg
über gewundene Abgründe - da giengen seine Thiere nachdenk-
lich um ihn herum und stellten sich endlich vor ihn hin.
»Oh Zarathustra, sagten sie, schaust du wohl aus nach deinem
Glücke?« - »Was liegt am Glücke! antwortete er, ich trachte lan-
ge nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.« -
»Oh Zarathustra, redeten die Thiere abermals, Das sagst du als

219
220 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Einer, der des Guten übergenug hat. Liegst du nicht in einem him-
melblauen See von Glück?« - Ihr Schalks-Narren, antwortete Za-
rathustra und lächelte, wie gut wähltet ihr das Gleichniss! Aber ihr
wisst auch, dass mein Glück schwer ist und nicht wie eine flüssi-
ge Wasserwelle: es drängt mich und will nicht von mir und thut
gleich geschmolzenem Peche.« -
Da giengen die Thiere wieder nachdenklich um ihn herum und
stellten sich dann abermals vor ihn hin. »Oh Zarathustra, sagten
sie, daher also kommt es, dass du selber immer gelber und dunk-
ler wirst, obschon dein Haar weiss und flächsern aussehen will?
Siehe doch, du sitzest in deinem Peche!« - Was sagt ihr da, meine
Thiere, sagte Zarathustra und lachte dazu, wahrlich, ich läster-
te als ich von Peche sprach. Wie mir geschieht, so geht es allen
Früchten, die reif werden. Es ist der Honig in meinen Adern, der
mein Blut dicker und auch meine Seele stiller macht.« - »So wird
es sein, oh Zarathustra, antworteten die Thiere und drängten sich
an ihn; willst du aber nicht heute auf einen hohen Berg steigen?
Die Luft ist rein, und man sieht heute mehr von der Welt als je-
mals.« - »Ja, meine Thiere, antwortete er, ihr rathet trefflich und
mir nach dem Herzen: ich will heute auf einen hohen Berg stei-
gen! Aber sorgt, dass dort Honig mir zur Hand sei, gelber, weisser,
guter, eisfrischer Waben-Goldhonig. Denn wisset, ich will droben
das Honig-Opfer bringen.« -
Als Zarathustra aber oben auf der Höhe war, sandte er die Thiere
heim, die ihn geleitet hatten, und fand, dass er nunmehr allein
sei: - da lachte er aus ganzem Herzen, sah sich um und sprach
also:
Dass ich von Opfern sprach und Honig-Opfern, eine List war's nur
meiner Rede und, wahrlich, eine nützliche Thorheit! Hier oben
darf ich schon freier reden, als vor Einsiedler-Höhlen und Einsiedler-
Hausthieren.
Was opfern! Ich verschwende, was mir geschenkt wird, ich Ver-
schwender mit tausend Händen: wie dürfte ich Das noch - Opfern
heissen!
Und als ich nach Honig begehrte, begehrte ich nur nach Köder
und süssem Seime und Schleime, nach dem auch Brummbären
und wunderliche mürrische böse Vögel die Zunge lecken:
- nach dem besten Köder, wie er Jägern und Fischfängern notht-
4.1. DAS HONIG-OPFER 221

hut. Denn wenn die Welt wie ein dunkler Thierwald ist und aller
wilden Jäger Lustgarten, so dünkt sie mich noch mehr und lieber
ein abgründliches reiches Meer,
- ein Meer voll bunter Fische und Krebse, nach dem es auch Götter
gelüsten möchte, dass sie an ihm zu Fischern würden und zu Netz-
Auswerfern: so reich ist die Welt an Wunderlichem, grossem und
kleinem!
Sonderlich die Menschen-Welt, das Menschen-Meer: - nach dem
werfe ich nun meine goldene Angelruthe aus und spreche: thue
dich auf, du Menschen-Abgrund!
Thue dich auf und wirf mir deine Fische und Glitzer-Krebse zu! Mit
meinem besten Köder ködere ich mir heute die wunderlichsten
Menschen-Fische!
- mein Glück selber werfe ich hinaus in alle Weiten und Fernen,
zwischen Aufgang, Mittag und Niedergang, ob nicht an meinem
Glücke viele Menschen-Fische zerrn und zappeln lernen.
Bis sie, anbeissend an meine spitzen verborgenen Haken, hin-
auf müssen in meine Höhe, die buntesten Abgrund-Gründlinge
zu dem boshaftigsten aller Menschen- Fischfänger.
Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranzie-
hend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zucht-
meister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: »Werde, der
du bist!«
Also mögen nunmehr die Menschen zu mir hinauf kommen: denn
noch warte ich der Zeichen, dass es Zeit sei zu meinem Nieder-
gange, noch gehe ich selber nicht unter, wie ich muss, unter Men-
schen.
Dazu warte ich hier, listig und spöttisch auf hohen Bergen, kein
Ungeduldiger, kein Geduldiger, vielmehr Einer, der auch die Ge-
duld verlernt hat, - weil er nicht mehr »duldet.«
Mein Schicksal nämlich lässt mir Zeit: es vergass mich wohl? Oder
sitzt es hinter einem grossen Steine im Schatten und fängt Flie-
gen?
Und wahrlich, ich bin ihm gut darob, meinem ewigen Schicksa-
le, dass es mich nicht hetzt und drängt und mir Zeit zu Possen
lässt und Bosheiten: also dass ich heute zu einem Fischfange auf
diesen hohen Berg stieg.
222 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Fieng wohl je ein Mensch auf hohen Bergen Fische? Und wenn es
auch eine Thorheit ist, was ich hier oben will und treibe: besser
noch Diess, als dass ich da unten feierlich würde vor Warten und
grün und gelb -
- ein gespreitzter Zornschnauber vor Warten, ein heiliger Heule-
Sturm aus Bergen, ein Ungeduldiger, der in die Thäler hinabruft:
»Hört, oder ich peitsche euch mit der Geissel Gottes!«
Nicht dass ich solchen Zürnern darob gram würde: zum Lachen
sind sie mir gut genung! Ungeduldig müssen sie schon sein, die-
se grossen Lärmtrommeln, welche heute oder niemals zu Worte
kommen!
Ich aber und mein Schicksal - wir reden nicht zum Heute, wir reden
auch nicht zum Niemals: wir haben zum Reden schon Geduld und
Zeit und Überzeit. Denn einst muss er doch kommen und darf
nicht vorübergehn.
Wer muss einst kommen und darf nicht vorübergehn? Unser gros-
ser Hazar, das ist unser grosses fernes Menschen-Reich, das Zarathustra-
Reich von tausend Jahren - -
Wie ferne mag solches »Ferne« sein? was geht's mich an! Aber
darum steht es mir doch nicht minder fest -, mit beiden Füssen
stehe ich sicher auf diesem Grunde,
- auf einem ewigen Grunde, auf hartem Urgesteine, auf diesem
höchsten härtesten Urgebirge, zu dem alle Winde kommen als zur
Wetterscheide, fragend nach Wo? und Woher? und Wohinaus?
Hier lache, lache meine helle heile Bosheit! Von hohen Bergen
wirf hinab dein glitzerndes Spott-Gelächter! Ködere mit deinem
Glitzern mir die schönsten Menschen-Fische!
Und was in allen Meeren mir zugehört, mein An-und-für-mich in
allen Dingen - Das fische mir heraus, Das führe zu mir herauf:
dess warte ich, der boshaftigste aller Fischfänger.
Hinaus, hinaus, meine Angel! Hinein, hinab, Köder meines Glücks!
Träufle deinen süssesten Thau, mein Herzens-Honig! Beisse, mei-
ne Angel, in den Bauch aller schwarzen Trübsal!
Hinaus, hinaus, mein Auge! Oh welche vielen Meere rings um
mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir - welch
rosenrothe Stille! Welch entwölktes Schweigen!
4.2. DER NOTHSCHREI 223

4.2 Der Nothschrei

Des nächsten Tages sass Zarathustra wieder auf seinem Steine


vor der Höhle, während die Thiere draussen in der Welt herum-
schweiften, dass sie neue Nahrung heimbrächten, - auch neuen
Honig: denn Zarathustra hatte den alten Honig bis auf das letzte
Korn verthan und verschwendet. Als er aber dermaassen dasass,
mit einem Stecken in der Hand, und den Schatten seiner Gestalt
auf der Erde abzeichnete, nachdenkend und, wahrlich! nicht über
sich und seinen Schatten - da erschrak er mit Einem Male und fuhr
zusammen: denn er sahe neben seinem Schatten noch einen an-
dern Schatten. Und wie er schnell um sich blickte und aufstand,
siehe, da stand der Wahrsager neben ihm, der selbe, den er einst-
mals an seinem Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkün-
diger der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: »Alles ist gleich, es
lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.« Aber sein
Antlitz hatte sich inzwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra
in die Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt: so viel
schlimme Verkündigungen und aschgraue Blitze liefen über diess
Gesicht.
Der Wahrsager, der es wahrgenommen, was sich in Zarathustra's
Seele zutrug, wischte mit der Hand über sein Antlitz hin, wie als
ob er dasselbe wegwischen wollte; desgleichen that auch Zara-
thustra. Und als Beide dergestalt sich schweigend gefasst und
gekräftigt hatten, gaben sie sich die Hände, zum Zeichen, dass
sie sich wiedererkennen wollten.
»Sei mir willkommen, sagte Zarathustra, du Wahrsager der gros-
sen Müdigkeit, du sollst nicht umsonst einstmals mein Tisch- und
Gastfreund gewesen sein. Iss und trink auch heute bei mir und
vergieb es, dass ein vergnügter alter Mann mit dir zu Tische sitzt!«
- »Ein vergnügter alter Mann? antwortete der Wahrsager, den
Kopf schüttelnd: wer du aber auch bist oder sein willst, oh Za-
rathustra, du bist es zum Längsten hier Oben gewesen, - dein
Nachen soll über Kurzem nicht mehr im Trocknen sitzen!« - »Sitze
ich denn im Trocknen?« fragte Zarathustra lachend. - »Die Wellen
um deinen Berg, antwortete der Wahrsager, steigen und steigen,
die Wellen grosser Noth und Trübsal: die werden bald auch dei-
nen Nachen heben und dich davontragen.« - Zarathustra schwieg
hierauf und wunderte sich. - »Hörst du noch Nichts? fuhr der Wahr-
224 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

sager fort: rauscht und braust es nicht herauf aus der Tiefe?«
- Zarathustra schwieg abermals und horchte: da hörte er einen
langen, langen Schrei, welchen die Abgründe sich zuwarfen und
weitergaben, denn keiner wollte ihn behalten: so böse klang er.
»Du schlimmer Verkündiger, sprach endlich Zarathustra, das ist
ein Nothschrei und der Schrei eines Menschen, der mag wohl aus
einem schwarzen Meere kommen. Aber was geht mich Menschen-
Noth an! Meine letzte Sünde, die mir aufgespart blieb, - weisst du
wohl, wie sie heisst?«
- »Mitleiden! antwortete der Wahrsager aus einem überströmen-
den Herzen und hob beide Hände empor - oh Zarathustra, ich
komme, dass ich dich zu deiner letzten Sünde verführe!« -
Und kaum waren diese Worte gesprochen, da erscholl der Schrei
abermals, und länger und ängstlicher als vorher, auch schon viel
näher. »Hörst du? Hörst du, oh Zarathustra? rief der Wahrsager,
dir gilt der Schrei, dich ruft er: komm, komm, komm, es ist Zeit,
es ist höchste Zeit!« -
Zarathustra schwieg hierauf, verwirrt und erschüttert; endlich frag-
te er, wie Einer, der bei sich selber zögert: »Und wer ist das, der
dort mich ruft?«
»Aber du weisst es ja, antwortete der Wahrsager heftig, was ver-
birgst du dich? Der höhere Mensch ist es, der nach dir schreit!«
»Der höhere Mensch? schrie Zarathustra von Grausen erfasst:
was will der? Was will der? Der höhere Mensch! Was will der hier?«
- und seine Haut bedeckte sich mit Schweiss.
Der Wahrsager aber antwortete nicht auf die Angst Zarathustra's,
sondern horchte und horchte nach der Tiefe zu. Als es jedoch lan-
ge Zeit dort stille blieb, wandte er seinen Blick zurück und sahe
Zarathustra stehn und zittern.
»Oh Zarathustra, hob er mit trauriger Stimme an, du stehst nicht
da wie Einer, den sein Glück drehend macht: du wirst tanzen müs-
sen, dass du mir nicht umfällst!
Aber wenn du auch vor mir tanzen wolltest und alle deine Seiten-
sprünge springen: Niemand soll mir doch sagen dürfen: »Siehe,
hier tanzt der letzte frohe Mensch!«
Umsonst käme Einer auf diese Höhe, der den hier suchte: Höhlen
fände er wohl und Hinter-Höhlen, Verstecke für Versteckte, aber
4.2. DER NOTHSCHREI 225

nicht Glücks-Schachte und Schatzkammern und neue Glücks-Goldadern.


Glück - wie fände man wohl das Glück bei solchen Vergrabenen
und Einsiedlern! Muss ich das letzte Glück noch auf glückseligen
Inseln suchen und ferne zwischen vergessenen Meeren?
Aber Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es hilft kein Suchen, es
giebt auch keine glückseligen Inseln mehr!« - -
Also seufzte der Wahrsager; bei seinem letzten Seufzer aber wur-
de Zarathustra wieder hell und sicher, gleich Einem, der aus ei-
nem tiefen Schlunde an's Licht kommt. »Nein! Nein! Drei Mal Nein!
rief er mit starker Stimme und strich sich den Bart - Das weiss ich
besser! Es giebt noch glückselige Inseln! Stille davon, du seufzen-
der Trauersack!
Höre davon auf zu plätschern, du Regenwolke am Vormittag! Ste-
he ich denn nicht schon da, nass von deiner Trübsal und begossen
wie ein Hund?
Nun schüttle ich mich und laufe dir davon, dass ich wieder trocken
werde: dess darfst du nicht Wunder haben! Dünke ich dir unhöf-
lich? Aber hier ist mein Hof.
Was aber deinen höheren Menschen angeht: wohlan! ich suche
ihn flugs in jenen Wäldern: daher kam sein Schrei. Vielleicht be-
drängt ihn da ein böses Thier.
Er ist in meinem Bereiche: darin soll er mir nicht zu Schaden kom-
men! Und wahrlich, es giebt viele böse Thiere bei mir.« -
Mit diesen Worten wandte sich Zarathustra zum Gehen. Da sprach
der Wahrsager: »Oh Zarathustra, du bist ein Schelm!
Ich weiss es schon: du willst mich los sein! Lieber noch läufst du
in die Wälder und stellst bösen Thieren nach!
Aber was hilft es dir? Des Abends wirst du doch mich wieder-
haben, in deiner eignen Höhle werde ich dasitzen, geduldig und
schwer wie ein Klotz - und auf dich warten!«
»So sei's! rief Zarathustra zurück im Fortgehn: und was mein ist
in meiner Höhle, gehört auch dir, meinem Gastfreunde!
Solltest du aber drin noch Honig finden, wohlan! so lecke ihn nur
auf, du Brummbär, und versüsse deine Seele! Am Abende nämlich
wollen wir Beide guter Dinge sein,
- guter Dinge und froh darob, dass dieser Tag zu Ende gieng! Und
226 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

du selber sollst zu meinen Liedern als mein Tanzbär tanzen.


Du glaubst nicht daran? Du schüttelst den Kopf? Wohlan! Wohlauf!
Alter Bär! Aber auch ich - bin ein Wahrsager.«
Also sprach Zarathustra.

4.3 Gespräch mit den Königen

4.3.1

Zarathustra war noch keine Stunde in seinen Bergen und Wäldern


unterwegs, da sahe er mit Einem Male einen seltsamen Aufzug.
Gerade auf dem Wege, den er hinabwollte, kamen zwei Könige
gegangen, mit Kronen und Purpurgürteln geschmückt und bunt
wie Flamingo-Vögel: die trieben einen beladenen Esel vor sich her.
»Was wollen diese Könige in meinem Reiche?« sprach Zarathustra
erstaunt zu seinem Herzen und versteckte Sich geschwind hinter
einem Busche. Als aber die Könige bis zu ihm herankamen, sagte
er, halblaut, wie Einer, der zu sich allein redet: »Seltsam! Seltsam!
Wie reimt sich Das zusammen? Zwei Könige sehe ich - und nur
Einen Esel!«
Da machten die beiden Könige Halt, lächelten, sahen nach der
Stelle hin, woher die Stimme kam, und sahen sich nachher selber
in's Gesicht. »Solcherlei denkt man wohl auch unter uns, sagte
der König zur Rechten, aber man spricht es nicht aus.«
Der König zur Linken aber zuckte mit den Achseln und antworte-
te: »Das mag wohl ein Ziegenhirt sein. Oder ein Einsiedler, der
zu lange unter Felsen und Bäumen lebte. Gar keine Gesellschaft
nämlich verdirbt auch die guten Sitten.«
»Die guten Sitten? entgegnete unwillig und bitter der andre Kö-
nig: wem laufen wir denn aus dem Wege? Ist es nicht den »guten
Sitten«? Unsrer »guten Gesellschaft«?
Lieber, wahrlich, unter Einsiedlern und Ziegenhirten als mit un-
serm vergoldeten falschen überschminkten Pöbel leben, - ob er
sich schon »gute Gesellschaft« heisst,
- ob er sich schon »Adel« heisst. Aber da ist Alles falsch und faul,
voran das Blut, Dank alten schlechten Krankheiten und schlech-
4.3. GESPRÄCH MIT DEN KÖNIGEN 227

teren Heil-Künstlern.
Der Beste und Liebste ist mir heute noch ein gesunder Bauer,
grob, listig, hartnäckig, langhaltig: das ist heute die vornehmste
Art.
Der Bauer ist heute der Beste; und Bauern-Art sollte Herr sein!
Aber es ist das Reich des Pöbels, - ich lasse mir Nichts mehr vor-
machen. Pöbel aber, das heisst: Mischmasch.
Pöbel-Mischmasch: darin ist Alles in Allem durcheinander, Heiliger
und Hallunke und Junker und Jude und jeglich Vieh aus der Arche
Noäh.
Gute Sitten! Alles ist bei uns falsch und faul. Niemand weiss mehr
zu verehren: dem gerade laufen wir davon. Es sind süssliche zu-
dringliche Hunde, sie vergolden Palmenblätter.
Dieser Ekel würgt mich, dass wir Könige selber falsch wurden,
überhängt und verkleidet durch alten vergilbten Grossväter-Prunk,
Schaumünzen für die Dümmsten und die Schlauesten, und wer
heute Alles mit der Macht Schacher treibt!
Wir sind nicht die Ersten - und müssen es doch bedeuten: dieser
Betrügerei sind wir endlich satt und ekel geworden.
Dem Gesindel giengen wir aus dem Wege, allen diesen Schreihälsen
und Schreib-Schmeissfliegen, dem Krämer-Gestank, dem Ehrgeiz-
Gezappel, dem üblen Athem -: pfui, unter dem Gesindel leben,
- pfui, unter dem Gesindel die Ersten zu bedeuten! Ach, Ekel! Ekel!
Ekel! Was liegt noch an uns Königen!« -
»Deine alte Krankheit fällt dich an, sagte hier der König zur Linken,
der Ekel fällt dich an, mein armer Bruder. Aber du weisst es doch,
es hört uns Einer zu.«
Sofort erhob sich Zarathustra, der zu diesen Reden Ohren und
Augen aufgesperrt hatte, aus seinem Schlupfwinkel, trat auf die
Könige zu und begann:
»Der Euch zuhört, der Euch gerne zuhört, ihr Könige, der heisst
Zarathustra.
Ich bin Zarathustra, der einst sprach: »Was liegt noch an Köni-
gen!« Vergebt mir, ich freute mich, als Ihr zu einander sagtet:
»Was liegt an uns Königen!«
Hier aber ist mein Reich und meine Herrschaft: was mögt Ihr wohl
228 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

in meinem Reiche suchen? Vielleicht aber fandet Ihr unterwegs,


was ich suche: nämlich den höheren Menschen.«
Als Diess die Könige hörten, schlugen sie sich an die Brust und
sprachen mit Einem Munde: »Wir sind erkannt!
Mit dem Schwerte dieses Wortes zerhaust du unsres Herzens dicks-
te Finsterniss. Du entdecktest unsre Noth, denn siehe! Wir sind
unterwegs, dass wir den höheren Menschen fänden -
- den Menschen, der höher ist als wir: ob wir gleich Könige sind.
Ihm führen wir diesen Esel zu. Der höchste Mensch nämlich soll
auf Erden auch der höchste Herr sein.
Es giebt kein härteres Unglück in allem Menschen-Schicksale, als
wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die ersten Menschen
sind. Da wird Alles falsch und schief und ungeheuer.
Und wenn sie gar die letzten sind und mehr Vieh als Mensch: da
steigt und steigt der Pöbel im Preise, und endlich spricht gar die
Pöbel-Tugend: »siehe, ich allein bin Tugend!« -
Was hörte ich eben? antwortete Zarathustra; welche Weisheit bei
Königen! Ich bin entzückt, und, wahrlich, schon gelüstet's mich,
einen Reim darauf zu machen: -
- mag es auch ein Reim werden, der nicht für Jedermanns Oh-
ren taugt. Ich verlernte seit langem schon die Rücksicht auf lange
Ohren. Wohlan! Wohlauf!
(Hier aber geschah es, dass auch der Esel zu Worte kam: er sagte
aber deutlich und mit bösem Willen I-A.)

Einstmals - ich glaub', im Jahr des Heiles Eins -


Sprach die Sibylle, trunken sonder Weins:
»Weh, nun geht's schief!
»Verfall! Verfall! Nie sank die Welt so tief!
»Rom sank zur Hure und zur Huren-Bude,
»Rom's Caesar sank zum Vieh, Gott selbst - ward Jude!«

4.3.2

An diesen Reimen Zarathustra's weideten sich die Könige; der Kö-


nig zur Rechten aber sprach: »oh Zarathustra, wie gut thaten wir,
dass wir auszogen, dich zu sehn!
4.3. GESPRÄCH MIT DEN KÖNIGEN 229

Deine Feinde nämlich zeigten uns dein Bild in ihrem Spiegel: da


blicktest du mit der Fratze eines Teufels und hohnlachend: also
dass wir uns vor dir fürchteten.
Aber was half's! Immer wieder stachst du uns in Ohr und Herz mit
deinen Sprüchen. Da sprachen wir endlich: was liegt daran, wie
er aussieht!
Wir müssen ihn hören, ihn, der lehrt »ihr sollt den Frieden lieben
als Mittel zu neuen Kriegen, und den kurzen Frieden mehr als den
langen!«
Niemand sprach je so kriegerische Worte: »Was ist gut? Tapfer
sein ist gut. Der gute Krieg ist's, der jede Sache heiligt.«
Oh Zarathustra, unsrer Väter Blut rührte sich bei solchen Wor-
ten in unserm Leibe: das war wie die Rede des Frühlings zu alten
Weinfässern.
Wenn die Schwerter durcheinander liefen gleich rothgefleckten
Schlangen, da wurden unsre Väter dem Leben gut; alles Friedens
Sonne dünkte sie flau und lau, der lange Frieden aber machte
Scham.
Wie sie seufzten, unsre Väter, wenn sie an der Wand blitzblanke
ausgedorrte Schwerter sahen! Denen gleich dürsteten sie nach
Krieg. Ein Schwert nämlich will Blut trinken und funkelt vor Be-
gierde.« - -
- Als die Könige dergestalt mit Eifer von dem Glück ihrer Väter
redeten und schwätzten, überkam Zarathustra keine kleine Lust,
ihres Eifers zu spotten: denn ersichtlich waren es sehr friedfertige
Könige, welche er vor sich sah, solche mit alten und feinen Gesich-
tern. Aber er bezwang sich. »Wohlan! sprach er, dorthin führt der
Weg, da liegt die Höhle Zarathustra's; und dieser Tag soll einen
langen Abend haben! Jetzt aber ruft mich eilig ein Nothschrei fort
von Euch.
Es ehrt meine Höhle, wenn Könige in ihr sitzen und warten wollen:
aber, freilich, Ihr werdet lange warten müssen!
Je nun! Was thut's! Wo lernt man heute besser warten als an Hö-
fen? Und der Könige ganze Tugend, die ihnen übrig blieb, - heisst
sie heute nicht: Warten-können ?«
Also sprach Zarathustra.
230 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

4.4 Der Blutegel

Und Zarathustra gieng nachdenklich weiter und tiefer, durch Wäl-


der und vorbei an moorigen Gründen; wie es aber Jedem ergeht,
der über schwere Dinge nachdenkt, so trat er unversehens dabei
auf einen Menschen. Und siehe, da sprützten ihm mit Einem Male
ein Weheschrei und zwei Flüche und zwanzig schlimme Schimpf-
worte in's Gesicht: also dass er in seinem Schrecken den Stock
erhob und auch auf den Getretenen noch zuschlug. Gleich dar-
auf aber kam ihm die Besinnung; und sein Herz lachte über die
Thorheit, die er eben gethan hatte.
»Vergieb, sagte er zu dem Getretenen, der sich grimmig erhoben
und gesetzt hatte, vergieb und vernimm vor Allem erst ein Gleich-
niss.
Wie ein Wanderer, der von fernen Dingen träumt, unversehens
auf einsamer Strasse einen schlafenden Hund anstösst, einen Hund,
der in der Sonne liegt:
- wie da Beide auffahren, sich anfahren, Todfeinden gleich, diese
zwei zu Tod Erschrockenen: also ergieng es uns.
Und doch! Und doch - wie wenig hat gefehlt, dass sie einander
liebkosten, dieser Hund und dieser Einsame! Sind sie doch Beide
- Einsame!«
- »Wer du auch sein magst, sagte immer noch grimmig der Getre-
tene, du trittst mir auch mit deinem Gleichniss zu nahe, und nicht
nur mit deinem Fusse!
Siehe doch, bin ich denn ein Hund?« - und dabei erhob sich der
Sitzende und zog seinen nackten Arm aus dem Sumpfe. Zuerst
nämlich hatte er ausgestreckt am Boden gelegen, verborgen und
unkenntlich gleich Solchen, die einem Sumpf-Wilde auflauern.
»Aber was treibst du doch!« rief Zarathustra erschreckt, denn er
sahe, dass über den nackten Arm weg viel Blut floss, - was ist dir
zugestossen? Biss dich, du Unseliger, ein schlimmes Thier?
Der Blutende lachte, immer noch erzürnt. »Was geht's dich an!
sagte er und wollte weitergehn. Hier bin ich heim und in meinem
Bereiche. Mag mich fragen, wer da will: einem Tölpel aber werde
ich schwerlich antworten.«
»Du irrst, sagte Zarathustra mitleidig und hielt ihn fest, du irrst:
4.4. DER BLUTEGEL 231

hier bist du nicht bei dir, sondern in meinem Reiche, und darin
soll mir Keiner zu Schaden kommen.
Nenne mich aber immerhin, wie du willst, - ich bin, der ich sein
muss. Ich selber heisse mich Zarathustra.
Wohlan! Dort hinauf geht der Weg zu Zarathustra's Höhle: die ist
nicht fern, - willst du nicht bei mir deiner Wunden warten?
Es gieng dir schlimm, du Unseliger, in diesem Leben: erst biss dich
das Thier, und dann - trat dich der Mensch!« - -
Als aber der Getretene den Namen Zarathustra's hörte, verwan-
delte er sich. »Was geschieht mir doch! rief er aus, wer kümmert
mich denn noch in diesem Leben, als dieser Eine Mensch, näm-
lich Zarathustra, und jenes Eine Thier, das vom Blute lebt, der
Blutegel?
Des Blutegels halber lag ich hier an diesem Sumpfe wie ein Fi-
scher, und schon war mein ausgehängter Arm zehn Mal angebis-
sen, da beisst noch ein schönerer Igel nach meinem Blute, Zara-
thustra selber!
Oh Glück! Oh Wunder! Gelobt sei dieser Tag, der mich in diesen
Sumpf lockte! Gelobt sei der beste lebendigste Schröpfkopf, der
heut lebt, gelobt sei der grosse Gewissens-Blutegel Zarathustra!«
-
Also sprach der Getretene; und Zarathustra freute sich über seine
Worte und ihre feine ehrfürchtige Art. »Wer bist du? fragte er und
reichte ihm die Hand, zwischen uns bleibt Viel aufzuklären und
aufzuheitern: aber schon, dünkt mich, wird es reiner heller Tag.«
»Ich bin der Gewissenhafte des Geistes, antwortete der Gefragte,
und in Dingen des Geistes nimmt es nicht leicht Einer strenger,
enger und härter als ich, ausgenommen der, von dem ich's lernte,
Zarathustra selber.
Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! Lieber ein Narr sein
auf eigne Faust, als ein Weiser nach fremdem Gutdünken! Ich -
gehe auf den Grund:
- was liegt daran, ob er gross oder klein ist? Ob er Sumpf oder
Himmel heisst? Eine Hand breit Grund ist mir genung: wenn er
nur wirklich Grund und Boden ist!
- eine Hand breit Grund: darauf kann man stehn. In der rechten
232 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Wissen-Gewissenschaft giebt es nichts Grosses und nichts Klei-


nes.«
»So bist du vielleicht der Erkenner des Blutegels? fragte Zarathu-
stra; und du gehst dem Blutegel nach bis auf die letzten Gründe,
du Gewissenhafter?«
»Oh Zarathustra, antwortete der Getretene, das wäre ein Unge-
heures, wie dürfte ich mich dessen unterfangen!
Wess ich aber Meister und Kenner bin, das ist des Blutegels Hirn:
- das ist meine Welt!
Und es ist auch eine Welt! Vergieb aber, dass hier mein Stolz zu
Worte kommt, denn ich habe hier nicht meines Gleichen. Darum
sprach ich »hier bin ich heim.«
Wie lange gehe ich schon diesem Einen nach, dem Hirn des Blut-
egels, dass die schlüpfrige Wahrheit mir hier nicht mehr entschlüp-
fe! Hier ist mein Reich!
- darob warf ich alles Andere fort, darob wurde mir alles. Andre
gleich; und dicht neben meinem Wissen lagert mein schwarzes
Unwissen.
Mein Gewissen des Geistes will es so von mir, dass ich Eins weiss
und sonst Alles nicht weiss: es ekelt mich aller Halben des Geistes,
aller Dunstigen, Schwebenden, Schwärmerischen.
Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind und will auch blind
sein. Wo ich aber wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich
hart, streng, eng, grausam, unerbittlich.
Dass du einst sprachst, oh Zarathustra: »Geist ist das Leben, das
selber in's Leben schneidet,« das führte und verführte mich zu
deiner Lehre. Und, wahrlich, mit eignem Blute mehrte ich mir das
eigne Wissen!«
- Wie der Augenschein lehrt,« fiel Zarathustra ein; denn immer
noch floss das Blut an dem nackten Arme des Gewissenhaften
herab. Es hatten nämlich zehn Blutegel sich in denselben einge-
bissen.
»Oh du wunderlicher Gesell, wie Viel lehrt mich dieser Augen-
schein da, nämlich du selber! Und nicht Alles dürfte ich vielleicht
in deine strengen Ohren giessen!
Wohlan! So scheiden wir hier! Doch möchte ich gerne dich wieder-
4.5. DER ZAUBERER 233

finden. Dort hinauf führt der Weg zu meiner Höhle: heute Nacht
sollst du dort mein lieber Gast sein!
Gerne möchte ich's auch an deinem Leibe wieder gut machen,
dass Zarathustra dich mit Füssen trat: darüber denke ich nach.
Jetzt aber ruft mich ein Nothschrei eilig fort von dir.«
Also sprach Zarathustra.

4.5 Der Zauberer

4.5.1

Als aber Zarathustra um einen Felsen herumbog, da sahe er, nicht


weit unter sich, auf dem gleichen Wege, einen Menschen, der die
Glieder warf wie ein Tobsüchtiger und endlich bäuchlings zur Er-
de niederstürzte. »Halt! sprach da Zarathustra zu seinem Herzen,
Der dort muss wohl der höhere Mensch sein, von ihm kam jener
schlimme Nothschrei, - ich will sehn, ob da zu helfen ist.« Als er
aber hinzulief, an die Stelle, wo der Mensch auf dem Boden lag,
fand er einen zitternden alten Mann mit stieren Augen; und wie
sehr sich Zarathustra mühte, dass er ihn aufrichte und wieder auf
seine Beine stelle, es war umsonst. Auch schien der Unglückliche
nicht zu merken, dass jemand um ihn sei; vielmehr sah er sich im-
mer mit rührenden Gebärden um, wie ein von aller Welt Verlasse-
ner und Vereinsamter. Zuletzt aber, nach vielem Zittern, Zucken
und Sich-zusammen-Krümmen, begann er also zu jammern:

Wer wärmt mich, wer liebt mich noch?


Gebt heisse Hände!
Gebt Herzens-Kohlenbecken!
Hingestreckt, schaudernd,
Halbtodtem gleich, dem man die Füsse wärmt -
Geschüttelt, ach! von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frost-Pfeilen,
Von dir gejagt, Gedanke!
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
Du Jäger hinter Wolken!
Darniedergeblitzt von dir,
Du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt:
234 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

- so liege ich,
Biege mich, winde mich, gequält
Von allen ewigen Martern,
Getroffen
Von Dir, grausamster Jäger,
Du unbekannter - Gott!

Triff tiefer,
Triff Ein Mal noch!
Zerstich, zerbrich diess Herz!
Was soll diess Martern
Mit zähnestumpfen Pfeilen?
Was blickst du wieder,
Der Menschen-Qual nicht müde,
Mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen?
Nicht tödten willst du,
Nur martern, martern?
Wozu - mich martern,
Du schadenfroher unbekannter Gott? -

Haha! Du schleichst heran?


Bei solcher Mitternacht
Was willst du? Sprich!
Du drängst mich, drückst mich -
Ha! schon viel zu nahe!
Weg! Weg!
Du hörst mich athmen,
Du behorchst mein Herz,
Du Eifersüchtiger -
Worauf doch eifersüchtig?
Weg! Weg! Wozu die Leiter?
Willst du hinein,
In's Herz,
Einsteigen, in meine heimlichsten
Gedanken einsteigen?
Schamloser! Unbekannter - Dieb!
Was willst du dir erstehlen,
Was willst du dir erhorchen,
Was willst du dir erfoltern,
Du Folterer!
Du - Henker-Gott!
4.5. DER ZAUBERER 235

Oder soll ich, dem Hunde gleich,


Vor dir mich wälzen?
Hingebend, begeistert-ausser-mir,
Dir - Liebe zuwedeln?

Umsonst! Stich weiter,


Grausamster Stachel! Nein,
Kein Hund - dein Wild nur bin ich,
Grausamster Jäger!
Dein stolzester Gefangner,
Du Räuber hinter Wolken!
Sprich endlich,
Was willst du, Wegelagerer, von mir?
Du Blitz-Verhüllter! Unbekannter! Sprich,
Was willst du, unbekannter Gott? - -

Wie? Lösegeld?
Was willst du Lösegelds?
Verlange Viel - das räth mein Stolz!
Und rede kurz - das räth mein andrer Stolz!
Haha!

Mich - willst du? Mich?


Mich - ganz?

Haha!
Und marterst mich, Narr, der du bist,
Zermarterst meinen Stolz?
Gieb Liebe mir - wer wärmt mich noch?
Wer liebt mich noch? - gieb heisse Hände,
Gieb Herzens-Kohlenbecken,
Gieb mir, dem Einsamsten,
Den Eis, ach! siebenfaches Eis
Nach Feinden selber,
Nach Feinden schmachten lehrt,
Gieb, ja ergieb,
Grausamster Feind,
Mir - dich! - -

Davon!
236 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Da floh er selber,
Mein letzter einziger Genoss,
Mein grosser Feind,
Mein Unbekannter,
Mein Henker-Gott! -

- Nein! Komm zurück,


Mit allen deinen Martern!
Zum Letzten aller Einsamen
Oh komm zurück!
All meine Thränen-Bäche laufen
Zu dir den Lauf!

Und meine letzte Herzens-Flamme -


Dir glüht sie auf!
Oh komm zurück,
Mein unbekannter Gott! Mein Schmerz! Mein letztes -
Glück!

4.5.2

- Hier aber konnte sich Zarathustra nicht länger halten, nahm sei-
nen Stock und schlug mit allen Kräften auf den jammernden los.
»Halt ein! schrie er ihm zu, mit ingrimmigem Lachen, halt ein, du
Schauspieler! Du Falschmünzer! Du Lügner aus dem Grunde! Ich
erkenne dich wohl!
Ich will dir schon warme Beine machen, du schlimmer Zauberer,
ich verstehe mich gut darauf, Solchen wie du bist - einzuheizen!«
- »Lass ab, sagte der alte Mann und sprang vom Boden auf, schla-
ge nicht mehr, oh Zarathustra! Ich trieb's also nur zum Spiele!
Solcherlei gehört zu meiner Kunst; dich selber wollte ich auf die
Probe stellen, als ich dir diese Probe gab! Und, wahrlich, du hast
mich gut durchschaut!
Aber auch du - gabst mir von dir keine kleine Probe: du bist hart,
du weiser Zarathustra! Hart schlägst du zu mit deinen »Wahrhei-
ten,« dein Knüttel erzwingt von mir - diese Wahrheit!«
- »Schmeichle nicht, antwortete Zarathustra, immer noch erregt
4.5. DER ZAUBERER 237

und finsterblickend, du Schauspieler aus dem Grunde! Du bist


falsch: was redest du - von Wahrheit!
Du Pfau der Pfauen, du Meer der Eitelkeit, was spieltest du vor
mir, du schlimmer Zauberer, an wen sollte ich glauben, als du in
solcher Gestalt jammertest?«
»Den Büsser des Geistes, sagte der alte Mann, den - spielte ich:
du selber erfandest einst diess Wort -
- den Dichter und Zauberer, der gegen sich selber endlich seinen
Geist wendet, den Verwandelten, der an seinem bösen Wissen
und Gewissen erfriert.
Und gesteh es nur ein: es währte lange, oh Zarathustra, bis du
hinter meine Kunst und Lüge kamst! Du glaubtest an meine Noth,
als du mir den Kopf mit beiden Händen hieltest, -
- ich hörte dich jammern »man hat ihn zu wenig geliebt, zu wenig
geliebt!« Dass ich dich soweit betrog, darüber frohlockte inwendig
meine Bosheit.«
»Du magst Feinere betrogen haben als mich, sagte Zarathustra
hart. Ich bin nicht auf der Hut vor Betrügern, ich muss ohne Vor-
sicht sein: so will es mein Loos.
Du aber - musst betrügen: so weit kenne ich dich! Du musst immer
zwei- drei- vier- und fünfdeutig sein! Auch was du jetzt bekann-
test, war mir lange nicht wahr und nicht falsch genung!
Du schlimmer Falschmünzer, wie könntest du anders! Deine Krank-
heit würdest du noch schminken, wenn du dich deinem Arzte nackt
zeigtest.
So schminktest du eben vor mir deine Lüge, als du sprachst: »ich
trieb's also nur zum Spiele!« Es war auch Ernst darin, du bist Et-
was von einem Büsser des Geistes!
Ich errathe dich wohl: du wurdest der Bezauberer Aller, aber ge-
gen dich hast du keine Lüge und List mehr übrig, - du selber bist
dir entzaubert!
Du erntetest den Ekel ein, als deine Eine Wahrheit. Kein Wort ist
mehr an dir ächt, aber dein Mund: nämlich der Ekel, der an deinem
Munde klebt.« - -
- »Wer bist du doch! schrie hier der alte Zauberer mit einer trot-
zigen Stimme, wer darf also zu m i r reden, dem Grössten, der
238 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

heute lebt?« - und ein grüner Blitz schoss aus seinem Auge nach
Zarathustra. Aber gleich darauf verwandelte er sich und sagte
traurig:
»Oh Zarathustra, ich bin's müde, es ekelt mich meiner Künste, ich
bin nicht gross, was verstelle ich mich! Aber, du weisst es wohl -
ich suchte nach Grösse!
Einen grossen Menschen wollte ich vorstellen und überredete Vie-
le: aber diese Lüge gieng über meine Kraft. An ihr zerbreche ich.
Oh Zarathustra, Alles ist Lüge an mir; aber dass ich zerbreche -
diess mein Zerbrechen ist ächt!« -
»Es ehrt dich, sprach Zarathustra düster und zur Seite nieder-
blickend, es ehrt dich, dass du nach Grösse suchtest, aber es ver-
räth dich auch. Du bist nicht gross.
Du schlimmer alter Zauberer, das ist dein Bestes und Redlich-
stes, was ich an dir ehre, dass du deiner müde wurdest und es
aussprachst: »ich bin nicht gross.«
Darin ehre ich dich als einen Büsser des Geistes: und wenn auch
nur für einen Hauch und Husch, diesen Einen Augenblick warst du
- ächt.
Aber sprich, was suchst du hier in meinen Wäldern und Felsen?
Und wenn du mir dich in den Weg legtest, welche Probe wolltest
du von mir? -
- wess versuchtest du mich?« -
Also sprach Zarathustra, und seine Augen funkelten. Der alte Zau-
berer schwieg eine Weile, dann sagte er: »Versuchte ich dich? Ich
- suche nur.
Oh Zarathustra, ich suche einen Ächten, Rechten, Einfachen, Ein-
deutigen, einen Menschen aller Redlichkeit, ein Gefäss der Weis-
heit, einen Heiligen der Erkenntniss, einen grossen Menschen!
Weisst du es denn nicht, oh Zarathustra? Ich suche Zarathustra.«
- Und hier entstand ein langes Stillschweigen zwischen Beiden;
Zarathustra aber versank tief hinein in sich selber, also dass er die
Augen schloss. Dann aber, zu seinem Unterredner zurückkehrend,
ergriff er die Hand des Zauberers und sprach, voller Artigkeit und
Arglist:
»Wohlan! Dort hinauf führt der Weg, da liegt die Höhle Zarathu-
4.6. AUSSER DIENST 239

stra's. In ihr darfst du suchen, wen du finden möchtest.


Und frage meine Thiere um Rath, meinen Adler und meine Schlan-
ge: die sollen dir suchen helfen. Meine Höhle aber ist gross.
Ich selber freilich - ich sah noch keinen grossen Menschen. Was
gross ist, dafür ist das Auge der Feinsten heute grob. Es ist das
Reich des Pöbels.
So Manchen fand ich schon, der streckte und blähte sich, und das
Volk schrie: »Seht da, einen grossen Menschen!« Aber was helfen
alle Blasebälge! Zuletzt fährt der Wind heraus.
Zuletzt platzt ein Frosch, der sich zu lange aufblies: da fährt der
Wind heraus. Einem Geschwollnen in den Bauch stechen, das heis-
se ich eine brave Kurzweil. Hört das, ihr Knaben!
Diess Heute ist des Pöbels: wer weiss da noch, was gross, was
klein ist! Wer suchte da mit Glück nach Grösse! Ein Narr allein:
den Narren glückt's.
Du suchst nach grossen Menschen, du wunderlicher Narr? Wer
lehrte's dich? Ist heute dazu die Zeit? Oh du schlimmer Sucher,
was - versuchst du mich?« - -
Also sprach Zarathustra, getrösteten Herzens, und gieng lachend
seines Wegs fürbass.

4.6 Ausser Dienst

Nicht lange aber, nachdem Zarathustra sich von dem Zauberer


losgemacht hatte, sahe er wiederum Jemanden am Wege sitzen,
den er gieng, nämlich einen schwarzen langen Mann mit einem
hageren Bleichgesicht: der verdross ihn gewaltig. »Wehe, sprach
er zu seinem Herzen, da, sitzt vermummte Trübsal, das dünkt
mich von der Art der Priester: was wollen die in meinem Reiche?
Wie! Kaum bin ich jenem Zauberer entronnen: muss mir da wieder
ein anderer Schwarzkünstler über den Weg laufen, -
- irgend ein Hexenmeister mit Handauflegen, ein dunkler Wun-
derthäter von Gottes Gnaden, ein gesalbter Welt-Verleumder, den
der Teufel holen möge!
Aber der Teufel ist nie am Platze, wo er am Platze wäre: immer
240 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

kommt er zu spät, dieser vermaledeite Zwerg und Klumpfuss!« -


Also fluchte Zarathustra ungeduldig in seinem Herzen und ge-
dachte, wie er abgewandten Blicks an dem schwarzen Manne vor-
überschlüpfe: aber siehe, es kam anders. Im gleichen Augenblicke
nämlich hatte ihn schon der Sitzende erblickt; und nicht unähnlich
einem Solchen, dem ein unvermuthetes Glück zustösst, sprang er
auf und gieng auf Zarathustra los.
»Wer du auch bist, du Wandersmann, sprach er, hilf einem Ver-
irrten, einem Suchenden, einem alten Manne, der hier leicht zu
Schaden kommt!
Diese Welt hier ist mir fremd und fern, auch hörte ich wilde Thiere
heulen; und Der, welcher mir hätte Schutz bieten können, der ist
selber nicht mehr.
Ich suchte den letzten frommen Menschen, einen Heiligen und
Einsiedler, der allein in seinem Walde noch Nichts davon gehört
hatte, was alle Welt heute weiss.«
»Was weiss heute alle Welt? fragte Zarathustra. Etwa diess, dass
der alte Gott nicht mehr lebt, an den alle Welt einst geglaubt hat?«
»Du sagst es, antwortete der alte Mann betrübt. Und ich diente
diesem alten Gotte bis zu seiner letzten Stunde.
Nun aber bin ich ausser Dienst, ohne Herrn, und doch nicht frei,
auch keine Stunde mehr lustig, es sei denn in Erinnerungen.
Dazu stieg ich in diese Berge, dass ich endlich wieder ein Fest mir
machte, wie es einem alten Papste und Kirchen-Vater zukommt:
denn wisse, ich bin der letzte Papst! - ein Fest frommer Erinne-
rungen und Gottesdienste.
Nun aber ist er selber todt, der frömmste Mensch, jener Heilige
im Walde, der seinen Gott beständig mit Singen und Brummen
lobte.
Ihn selber fand ich nicht mehr, als ich seine Hütte fand, - wohl
aber zwei Wölfe darin, welche um seinen Tod heulten - denn alle
Thiere liebten ihn. Da lief ich davon.
Kam ich also umsonst in diese Wälder und Berge? Da entschloss
sich mein Herz, dass ich einen Anderen suchte, den Frömmsten
aller Derer, die nicht an Gott glauben -, dass ich Zarathustra such-
te!«
4.6. AUSSER DIENST 241

Also sprach der Greis und blickte scharfen Auges Den an, welcher
vor ihm stand; Zarathustra aber ergriff die Hand des alten Papstes
und betrachtete sie lange mit Bewunderung.
»Siehe da, du Ehrwürdiger, sagte er dann, welche schöne und
lange Hand! Das ist die Hand eines Solchen, der immer Segen
ausgetheilt hat. Nun aber hält sie Den fest, welchen du suchst,
mich, Zarathustra.
Ich bin's, der gottlose Zarathustra, der da spricht: wer ist gottloser
als ich, dass ich mich seiner Unterweisung freue?« -
Also sprach Zarathustra und durchbohrte mit seinen Blicken die
Gedanken und Hintergedanken des alten Papstes. Endlich begann
dieser:
»Wer ihn am meisten liebte und besass, der hat ihn nun am mei-
sten auch verloren -:
- siehe, ich selber bin wohl von uns Beiden jetzt der Gottlosere?
Aber wer könnte daran sich freuen!« -
»Du dientest ihm bis zuletzt, fragte Zarathustra nachdenklich,
nach einem tiefen Schweigen, du weisst, wie er starb? Ist es wahr,
was man spricht, dass ihn das Mitleiden erwürgte,
- dass er es sah, wie der Mensch am Kreuze hieng, und es nicht
ertrug, dass die Liebe zum Menschen seine Hölle und zuletzt sein
Tod wurde?« - -
Der alte Papst aber antwortete nicht, sondern blickte scheu und
mit einem schmerzlichen und düsteren Ausdrucke zur Seite.
»Lass ihn fahren, sagte Zarathustra nach einem langen Nachden-
ken, indem er immer noch dem alten Manne gerade in's Auge
blickte.
Lass ihn fahren, er ist dahin. Und ob es dich auch ehrt, dass du
diesem Todten nur Gutes nachredest, so weisst du so gut als ich,
wer er war; und dass er wunderliche Wege gieng.«
»Unter drei Augen gesprochen, sagte erheitert der alte Papst (denn
er war auf Einem Auge blind), in Dingen Gottes bin ich aufgeklär-
ter als Zarathustra selber - und darf es sein.
Meine Liebe diente ihm lange Jahre, mein Wille gieng allem seinen
Willen nach. Ein guter Diener aber weiss Alles, und Mancherlei
auch, was sein Herr sich selbst verbirgt.
242 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Es war ein verborgener Gott, voller Heimlichkeit. Wahrlich zu ei-


nem Sohne sogar kam er nicht anders als auf Schleichwegen. An
der Thür seines Glaubens steht der Ehebruch.
Wer ihn als einen Gott der Liebe preist, denkt nicht hoch genug
von der Liebe selber. Wollte dieser Gott nicht auch Richter sein?
Aber der Liebende liebt jenseits von Lohn und Vergeltung.
Als er jung war, dieser Gott aus dem Morgenlande, da war er hart
und rachsüchtig und erbaute sich eine Hölle zum Ergötzen seiner
Lieblinge.
Endlich aber wurde er alt und weich und mürbe und mitleidig,
einem Grossvater ähnlicher als einem Vater, am ähnlichsten aber
einer wackeligen alten Grossmutter.
Da sass er, welk, in seinem Ofenwinkel, härmte sich ob seiner
schwachen Beine, weltmüde, willensmüde, und erstickte eines
Tags an seinem allzugrossen Mitleiden.« - -
»Du alter Papst, sagte hier Zarathustra dazwischen, hast du Das
mit Augen angesehn? Es könnte wohl so abgegangen sein: so,
und auch anders. Wenn Götter sterben, sterben sie immer viele
Arten Todes.
Aber wohlan! So oder so, so und so - er ist dahin! Er gieng meinen
Ohren und Augen wider den Geschmack, Schlimmeres möchte ich
ihm nicht nachsagen.
Ich liebe Alles, was hell blickt und redlich redet. Aber er - du weisst
es ja, du alter Priester, es war Etwas von deiner Art an ihm, von
Priester-Art - er war vieldeutig.
Er war auch undeutlich. Was hat er uns darob gezürnt, dieser
Zornschnauber, dass wir ihn schlecht verstanden Aber warum sprach
er nicht reinlicher?
Und lag es an unsern Ohren, warum gab er uns Ohren, die ihn
schlecht hörten? War Schlamm in unsern Ohren, wohlan! wer leg-
te ihn hinein?
Zu Vieles missrieth ihm, diesem Töpfer, der nicht ausgelernt hat-
te! Dass er aber Rache an seinen Töpfen und Geschöpfen nahm,
dafür dass sie ihm schlecht geriethen, - das war eine Sünde wider
den guten Geschmack.
Es giebt auch in der Frömmigkeit guten Geschmack: der sprach
4.6. AUSSER DIENST 243

endlich »Fort mit einem solchen Gotte! Lieber keinen Gott, lieber
auf eigne Faust Schicksal machen, lieber Narr sein, lieber selber
Gott sein!«
- »Was höre ich! sprach hier der alte Papst mit gespitzten Ohren;
oh Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit einem sol-
chen Unglauben! Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner
Gottlosigkeit.
Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen
Gott glauben lässt? Und deine übergrosse Redlichkeit wird dich
auch noch jenseits von Gut und Böse wegfuhren!
Siehe, doch, was blieb dir aufgespart? Du hast Augen und Hand
und Mund, die sind zum Segnen vorher bestimmt seit Ewigkeit.
Man segnet nicht mit der Hand allein.
In deiner Nähe, ob du schon der Gottloseste sein willst, wittere ich
einen heimlichen Weih- und Wohlgeruch von langen Segnungen:
mir wird wohl und wehe dabei.
Lass mich deinen Gast sein, oh Zarathustra, für eine einzige Nacht!
Nirgends auf Erden wird es mir jetzt wohler als bei dir!« -
»Amen! So soll es sein! sprach Zarathustra mit grosser Verwunde-
rung, dort hinauf führt der Weg, da liegt die Höhle Zarathustra's.
Gerne, fürwahr, würde ich dich selber dahin geleiten, du Ehrwür-
diger, denn ich liebe alle frommen Menschen. Aber jetzt ruft mich
eilig ein Nothschrei weg von dir.
In meinem Bereiche soll mir Niemand zu Schaden kommen; meine
Höhle ist ein guter Hafen. Und am liebsten möchte ich jedweden
Traurigen wieder auf festes Land und feste Beine stellen.
Wer aber nähme dir deine Schwermuth von der Schulter? Dazu
bin ich zu schwach. Lange, wahrlich, möchten wir warten, bis dir
Einer deinen Gott wieder aufweckt.
Dieser alte Gott nämlich lebt nicht mehr: der ist gründlich todt.«
-
Also sprach Zarathustra.
244 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

4.7 Der hässlichste Mensch

- Und wieder liefen Zarathustra's Füsse durch Berge und Wälder,


und seine Augen suchten und suchten, aber nirgends war Der zu
sehen, welchen sie sehn wollten, der grosse Nothleidende und
Nothschreiende. Auf dem ganzen Wege aber frohlockte er in sei-
nem Herzen und war dankbar. »Welche guten Dinge, sprach er,
schenkte mir doch dieser Tag, zum Entgelt, dass er schlimm be-
gann! Welche seltsamen Unterredner fand ich!
An deren Worten will ich lange nun kauen gleich als an guten Kör-
nern; klein soll mein Zahn sie mahlen und malmen, bis sie mir wie
Milch in die Seele fliessen!« - -
Als aber der Weg wieder um einen Felsen bog, veränderte sich
mit Einem Male die Landschaft, und Zarathustra trat in ein Reich
des Todes. Hier starrten schwarze und rothe Klippen empor: kein
Gras, kein Baum, keine Vogelstimme. Es war nämlich ein Thal,
welches alle Thiere mieden, auch die Raubthiere-, nur dass ei-
ne Art hässlicher, dicker, grüner Schlangen, wenn sie alt wurden,
hierher kamen, um zu sterben. Darum nannten diess Thal die Hir-
ten: Schlangen-Tod.
Zarathustra aber versank in eine schwarze Erinnerung, denn ihm
war, als habe er schon ein Mal in diesem Thal gestanden. Und vie-
les Schwere legte sich ihm über den Sinn: also, dass er langsam
gieng und immer langsamer und endlich still stand. Da aber sahe
er, als er die Augen aufthat, Etwas, das am Wege sass, gestaltet
wie ein Mensch und kaum wie ein Mensch, etwas Unaussprech-
liches. Und mit Einem Schlage überfiel Zarathustra die grosse
Scham darob, dass er so Etwas mit den Augen angesehn habe:
erröthend bis hinauf an sein weisses Haar, wandte er den Blick
ab und hob den Fuss, dass er diese schlimme Stelle verlasse.
Da aber wurde die todte Öde laut: vom Boden auf nämlich quoll
es gurgelnd und röchelnd, wie Wasser Nachts durch verstopfte
Wasser-Röhren gurgelt und röchelt; und zuletzt wurde daraus ei-
ne Menschen-Stimme und Menschen-Rede: - die lautete also.
»Zarathustra! Zarathustra! Rathe mein Räthsel! Sprich, sprich!
Was ist die Rache am Zeugen?
Ich locke dich zurück, hier ist glattes Eis! Sieh zu, sieh zu, ob dein
Stolz sich hier nicht die Beine bricht!
4.7. DER HÄSSLICHSTE MENSCH 245

Du dünkst dich weise, du stolzer Zarathustra! So rathe doch das


Räthsel, du harter Nüsseknacker, - das Räthsel, das ich bin! So
sprich doch - wer bin ich! «
- Als aber Zarathustra diese Worte gehört hatte, - was glaubt ihr
wohl, dass sich da mit seiner Seele zutrug? Das Mitleiden fiel
ihn an; und er sank mit Einem Male nieder, wie ein Eichbaum,
der lange vielen Holzschlägern widerstanden hat, - schwer, plötz-
lich, zum Schrecken selber für Die, welche ihn fällen wollten. Aber
schon stand er wieder vom Boden auf, und sein Antlitz wurde hart.
»Ich erkenne dich wohl, sprach er mit einer erzenen Stimme: du
bist der Mörder Gottes! Lass mich gehn.
Du ertrugst Den nicht, der dich sah, - der dich immer und durch
und durch sah, du hässlichster Mensch! Du nahmst Rache an die-
sem Zeugen!«
Also sprach Zarathustra und wollte davon; aber der Unaussprech-
liche fasste nach einem Zipfel seines Gewandes und begann von
Neuem zu gurgeln und nach Worten zu suchen. »Bleib!« sagte er
endlich -
- bleib! Geh nicht vorüber! Ich errieth, welche Axt dich zu Boden
schlug: Heil dir, oh Zarathustra, dass du wieder stehst!
Du erriethest, ich weiss es gut, wie Dem zu Muthe ist, der ihn
tödtete, - dem Mörder Gottes. Bleib! Setze dich her zu mir, es ist
nicht umsonst.
Zu wem wollte ich, wenn nicht zu dir? Bleib, setze dich! Blicke
mich aber nicht an! Ehre also - meine Hässlichkeit!
Sie verfolgen mich: nun bist du meine letzte Zuflucht. Nicht mit
ihrem Hasse, nicht mit ihren Häschern: - oh solcher Verfolgung
würde ich spotten und stolz und froh sein!
War nicht aller Erfolg bisher bei den Gut-Verfolgten? Und wer gut
verfolgt, lernt leicht folgen: - ist er doch einmal - hinterher! Aber
ihr Mitleid ist's -
- ihr Mitleid ist's, vor dem ich flüchte und dir zuflüchte. Oh Zara-
thustra, schütze mich, du meine letzte Zuflucht, du Einziger, der
mich errieth:
- du erriethest, wie Dem zu Muthe ist, welcher ihn tödtete. Bleib!
Und willst du gehn, du Ungeduldiger: geh nicht den Weg, den ich
246 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

kam. Der Weg ist schlecht.


Zürnst du mir, dass ich zu lange schon rede-rade-breche? Dass
ich schon dir rathe? Aber wisse, ich bin's, der hässlichste Mensch,
- der auch die grössten schwersten Füsse hat. Wo ich gieng, ist
der Weg schlecht. Ich trete alle Wege todt und zu Schanden.
Dass du aber an mir vorübergiengst, schweigend; dass du errö-
thetest, ich sah es wohl: daran erkannte ich dich als Zarathustra.
Jedweder Andere hätte mir sein Almosen zugeworfen, sein Mitlei-
den, mit Blick und Rede. Aber dazu - bin ich nicht Bettler genug,
das erriethest du -
- dazu bin ich zu reich , reich an Grossem, an Furchtbarem, am
Hässlichsten, am Unaussprechlichsten! Deine Scham, oh Zarathu-
stra, ehrte mich!
Mit Noth kam ich heraus aus dem Gedräng der Mitleidigen, - dass
ich den Einzigen fände, der heute lehrt »Mitleiden ist zudringlich«
- dich, oh Zarathustra!
- sei es eines Gottes, sei es der Menschen Mitleiden: Mitleiden
geht gegen die Scham. Und nicht-helfen-wollen kann vornehmer
sein als jene Tugend, die zuspringt.
Das aber heisst heute Tugend selber bei allen kleinen Leuten, das
Mitleiden: - die haben keine Ehrfurcht vor grossem Unglück, vor
grosser Hässlichkeit, vor grossem Missrathen.
Über diese Alle blicke ich hinweg, wie ein Hund über die Rücken
wimmelnder Schafheerden wegblickt. Es sind kleine wohlwollige
wohlwillige graue Leute.
Wie ein Reiher verachtend über flache Teiche wegblickt, mit zu-
rückgelegtem Kopfe: so blicke ich über das Gewimmel grauer klei-
ner Wellen und Willen und Seelen weg.
Zu lange hat man ihnen Recht gegeben, diesen kleinen Leuten:
so gab man ihnen endlich auch die Macht - nun lehren sie: »gut
ist nur, was kleine Leute gut heissen.«
Und »Wahrheit« heisst heute, was der Prediger sprach, der selber
aus ihnen herkam, jener wunderliche Heilige und Fürsprecher der
kleinen Leute, welcher von sich zeugte »ich - bin die Wahrheit.«
Dieser Unbescheidne macht nun lange schon den kleinen Leuten
den Kamm hoch schwellen - er, der keinen kleinen Irrthum lehrte,
4.7. DER HÄSSLICHSTE MENSCH 247

als er lehrte »ich - bin die Wahrheit.«


Ward einem Unbescheidnen jemals höflicher geantwortet? - Du
aber, oh Zarathustra, giengst an ihm vorüber und sprachst: »N-
ein! Nein! Drei Mal Nein!«
Du warntest vor seinem Irrthum, du warntest als der Erste vor
dem Mitleiden - nicht Alle, nicht Keinen, sondern dich und deine
Art.
Du schämst dich an der Scham des grossen Leidenden; und wahr-
lich, wenn du sprichst »von dem Mitleiden her kommt eine grosse
Wolke, habt Acht, ihr Menschen!«
- wenn du lehrst »alle Schaffenden sind hart, alle grosse Liebe ist
über ihrem Mitleiden«: oh Zarathustra, wie gut dünkst du mich
eingelernt auf Wetter-Zeichen!
Du selber aber - warne dich selber auch vor deinem Mitleiden!
Denn Viele sind zu dir unterwegs, viele Leidende, Zweifelnde, Ver-
zweifelnde, Ertrinkende, Frierende -
Ich warne dich auch vor mir. Du erriethest mein bestes, schlimm-
stes Räthsel, mich selber und was ich that. Ich kenne die Axt, die
dich fällt.
Aber er - musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn,
- er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte
Schmach und Hässlichkeit.
Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzig-
sten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige
musste sterben.
Er sah immer mich: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache
haben - oder selber nicht leben.
Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen dieser Gott musste
sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.«
Also, sprach der hässlichste Mensch. Zarathustra aber erhob sich
und schickte sich an fortzugehn: denn ihn fröstelte bis in seine
Eingeweide.
»Du Unaussprechlicher, sagte er, du warntest mich vor deinem
Wege. Zum Danke dafür lobe ich dir den meinen. Siehe, dort hin-
auf liegt die Höhle Zarathustra's.
Meine Höhle ist gross und tief und hat viele Winkel; da findet
248 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

der Versteckteste sein Versteck. Und dicht bei ihr sind hundert
Schlüpfe und Schliche für kriechendes, flatterndes und springen-
des Gethier.
Du Ausgestossener, der du dich selber ausstiessest, du willst nicht
unter Menschen und Menschen-Mitleid wohnen? Wohlan, so thu's
mir gleich! So lernst du auch von mir; nur der Thäter lernt.
Und rede zuerst und -nächst mit meinen Thieren! Das stolzeste
Thier und das klügste Thier - die möchten uns Beiden wohl die
rechten Rathgeber sein!« - -
Also sprach Zarathustra und gieng seiner Wege, nachdenklicher
und langsamer noch als zuvor: denn er fragte sich Vieles und wus-
ste sich nicht leicht zu antworten.
»Wie arm ist doch der Mensch! dachte er in seinem Herzen, wie
hässlich, wie röchelnd, wie voll verborgener Scham!
Man sagt mir, dass der Mensch sich selber liebe: ach, wie gross
muss diese Selber-Liebe sein! Wie viel Verachtung hat sie wider
sich!
Auch dieser da liebte sich, wie er sich verachtete, - ein grosser
Liebender ist er mir und ein grosser Verächter.
Keinen fand ich noch, der sich tiefer verachtet hätte: auch Das ist
Höhe. Wehe, war Der vielleicht der höhere Mensch, dessen Schrei
ich hörte?
Ich liebe die grossen Verachtenden. Der Mensch aber ist Etwas,
das überwunden werden muss.« - -

4.8 Der freiwillige Bettler

Als Zarathustra den hässlichsten Menschen verlassen hatte, fror


ihn, und er fühlte sich einsam: es gieng ihm nämlich vieles Kalte
und Einsame durch die Sinne, also, dass darob auch seine Glie-
der kälter wurden. Indem er aber weiter und weiter stieg, hinauf,
hinab, bald an grünen Weiden vorbei, aber auch über wilde stei-
nichte Lager, wo ehedem wohl ein ungeduldiger Bach sich zu Bett
gelegt hatte.- da wurde ihm mit Einem Male wieder wärmer und
herzlicher zu Sinne.
4.8. DER FREIWILLIGE BETTLER 249

»Was geschah mir doch? fragte er sich, etwas Warmes und Le-
bendiges erquickt mich, das muss in meiner Nähe sein.
Schon bin ich weniger allein; unbewusste Gefährten und Brüder
schweifen um mich, ihr warmer Athem rührt an meine Seele.«
Als er aber um sich spähete und nach den Tröstern seiner Einsam-
keit suchte: siehe, da waren es Kühe, welche auf einer Anhöhe
bei einander standen; deren Nähe und Geruch hatten sein Herz
erwärmt. Diese Kühe aber schienen mit Eifer einem Redenden zu-
zuhören und gaben nicht auf Den Acht, der herankam. Wie aber
Zarathustra ganz in ihrer Nähe war, hörte er deutlich, dass ei-
ne Menschen-Stimme aus der Mitte der Kühe heraus redete; und
ersichtlich hatten sie allesammt ihre Köpfe dem Redenden zuge-
dreht.
Da sprang Zarathustra mit Eifer hinauf und drängte die Thiere
auseinander, denn er fürchtete, dass hier jemandem ein Leids ge-
schehn sei, welchem schwerlich das Mitleid von Kühen abhelfen
mochte. Aber darin hatte er sich getäuscht; denn siehe, da sass
ein Mensch auf der Erde und schien den Thieren zuzureden, dass
sie keine Scheu vor ihm haben sollten, ein friedfertiger Mensch
und Berg-Prediger, aus dessen Augen die Güte selber predigte.
»Was suchst du hier?« rief Zarathustra mit Befremden.
»Was ich hier suche? antwortete er: das Selbe, was du suchst, du
Störenfried! nämlich das Glück auf Erden.
Dazu aber möchte ich von diesen Kühen lernen. Denn, weisst du
wohl, einen halben Morgen schon rede ich ihnen zu, und eben
wollten sie mir Bescheid geben. Warum doch störst du sie?
So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir
nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen:
das Wiederkäuen.
Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und
lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde
nicht seine Trübsal los
- seine grosse Trübsal: die aber heisst heute Ekel. Wer hat heute
von Ekel nicht Herz, Mund und Augen voll? Auch du! Auch du!
Aber siehe doch diese Kühe an!« -
Also sprach der Berg-Prediger und wandte dann seinen eignen
Blick Zarathustra zu, - denn bisher hieng er mit Liebe an den Kü-
250 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

hen -: da aber verwandelte er sich. »Wer ist das, mit dem ich rede?
rief er erschreckt und sprang vom Boden empor.
Diess ist der Mensch ohne Ekel, diess ist Zarathustra selber, der
Überwinder des grossen Ekels, diess ist das Auge, diess ist der
Mund, diess ist das Herz Zarathustra's selber.«
Und indem er also sprach, küsste er Dem, zu welchem er redete,
die Hände, mit überströmenden Augen, und gebärdete sich ganz
als Einer, dem ein kostbares Geschenk und Kleinod unversehens
vom Himmel fällt. Die Kühe aber schauten dem Allen zu und wun-
derten sich.
»Sprich nicht von mir, du Wunderlicher! Lieblicher! sagte Zara-
thustra und wehrte seiner Zärtlichkeit, sprich mir erst von dir! Bist
du nicht der freiwillige Bettler, der einst einen grossen Reichthum
von sich warf, -
- der sich seines Reichthums schämte und der Reichen, und zu
den Ärmsten floh, dass er ihnen seine Fülle und sein Herz schen-
ke? Aber sie nahmen ihn nicht an.«
»Aber sie nahmen mich nicht an, sagte der freiwillige Bettler, du
weisst es ja. So gieng ich endlich zu den Thieren und zu diesen
Kühen.«
»Da lerntest du, unterbrach Zarathustra den Redenden, wie es
schwerer ist, recht geben als recht nehmen, und dass gut schen-
ken eine Kunst ist und die letzte listigste Meister-Kunst der Güte.«
»Sonderlich heutzutage, antwortete der freiwillige Bettler: heute
nämlich, wo alles Niedrige aufständisch ward und scheu und auf
seine Art hoffährtig: nämlich auf Pöbel-Art.
Denn es kam die Stunde, du weisst es ja, für den grossen schlim-
men langen langsamen Pöbel- und Sklaven-Aufstand: der wächst
und wächst!
Nun empört die Niedrigen alles Wohlthun und kleine Weggeben;
und die Überreichen mögen auf der Hut sein!
Wer heute gleich bauchichten Flaschen tröpfelt aus allzuschmalen
Hälsen: - solchen Flaschen bricht man heute gern den Hals.
Lüsterne Gier, gallichter Neid, vergrämte Rachsucht, Pöbel-Stolz:
das sprang mir Alles in's Gesicht. Es ist nicht mehr wahr, dass die
Armen selig sind. Das Himmelreich aber ist bei den Kühen.«
4.8. DER FREIWILLIGE BETTLER 251

Und warum ist es nicht bei den Reichen? fragte Zarathustra ver-
suchend, während er den Kühen wehrte, die den Friedfertigen zu-
traulich anschnauften.
»Was versuchst du mich? antwortete dieser. Du weisst es selber
besser noch als ich. Was trieb mich doch zu den Ärmsten, oh Za-
rathustra? War es nicht der Ekel vor unsern Reichsten?
- vor den Sträflingen des Reichthums, welche sich ihren Vortheil
aus jedem Kehricht auflesen, mit kalten Augen, geilen Gedanken,
vor diesem Gesindel, das gen Himmel stinkt,
- vor diesem vergüldeten verfälschten Pöbel, dessen Väter Lang-
finger oder Aasvögel oder Lumpensammler waren, mit Weibern
willfährig, lüstern, vergesslich: - sie haben's nämlich alle nicht
weit zur Hure -
Pöbel oben, Pöbel unten! Was ist heute noch »Arm« und »Reich«!
Diesen Unterschied verlernte ich, - da floh ich davon, weiter, im-
mer weiter, bis ich zu diesen Kühen kam.«
Also sprach der Friedfertige und schnaufte selber und schwitzte
bei seinen Worten: also dass die Kühe sich von Neuem wunderten.
Zarathustra aber sah ihm immer mit Lächeln in's Gesicht, als er
so hart redete, und schüttelte dazu schweigend den Kopf.
»Du thust dir Gewalt an, du Berg-Prediger, wenn du solche harte
Worte brauchst. Für solche Härte wuchs dir nicht der Mund, nicht
das Auge.
Auch, wie mich dünkt, dein Magen selber nicht: dem widersteht
all solches Zürnen und Hassen und Überschäumen. Dein Magen
will sanftere Dinge: du bist kein Fleischer.
Vielmehr dünkst du mich ein Pflanzler und Wurzelmann. Vielleicht
malmst du Körner. Sicherlich aber bist du fleischlichen Freuden
abhold und liebst den Honig.«
»Du erriethst mich gut, antwortete der freiwillige Bettler, mit er-
leichtertem Herzen. Ich liebe den Honig, ich malme auch Körner,
denn ich suchte, was lieblich mundet und reinen Athem macht:
- auch was lange Zeit braucht, ein Tag- und Maul-Werk für sanfte
Müssiggänger und Tagediebe.
Am weitesten freilich brachten es diese Kühe: die erfanden sich
das Wiederkäuen und In-der-Sonne-Liegen. Auch enthalten sie sich
252 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

aller schweren Gedanken, welche das Herz blähn.«


- Wohlan! sagte Zarathustra: du solltest auch meine Thiere sehn,
meinen Adler und meine Schlange, - ihres Gleichen giebt es heute
nicht auf Erden.
Siehe, dorthin führt der Weg zu meiner Höhle: sei diese Nacht ihr
Gast. Und rede mit meinen Thieren vom Glück der Thiere, -
- bis ich selber heimkomme. Denn jetzt ruft ein Nothschrei Mich
eilig weg von dir. Auch findest du neuen Honig bei mir, eisfrischen
Waben-Goldhonig: den iss!
Jetzt aber nimm flugs Abschied von deinen Kühen, du Wunderli-
cher! Lieblicher! ob es dir schon schwer werden mag. Denn es
sind deine wärmsten Freunde und Lehrmeister!« -
»- Einen ausgenommen, den ich noch lieber habe, antwortete der
freiwillige Bettler. Du selber bist gut und besser noch als eine Kuh,
oh Zarathustra!«
»Fort, fort mit dir! du arger Schmeichler! schrie Zarathustra mit
Bosheit, was verdirbst du mich mit solchem Lob und Schmeichel-
Honig?«
»Fort, fort von mir!« schrie er noch Ein Mal und schwang seinen
Stock nach dem zärtlichen Bettler: der aber lief hurtig davon.

4.9 Der Schatten

Kaum aber war der freiwillige Bettler davongelaufen und Zara-


thustra wieder mit sich allein, da hörte er hinter sich eine neue
Stimme: die rief »Halt! Zarathustra! So warte doch! Ich bin's ja, oh
Zarathustra, ich, dein Schatten!« Aber Zarathustra wartete nicht,
denn ein plötzlicher Verdruss überkam ihn ob des vielen Zudrangs
und Gedrängs in seinen Bergen. »Wo ist meine Einsamkeit hin?
sprach er.
Es wird mir wahrlich zu viel; diess Gebirge wimmelt, mein Reich
ist nicht mehr von dieser Welt, ich brauche neue Berge.
Mein Schatten ruft mich? Was liegt an meinem Schatten! Mag er
mir nachlaufen! ich - laufe ihm davon. -
Also sprach Zarathustra zu seinem Herzen und lief davon. Aber
4.9. DER SCHATTEN 253

Der, welcher hinter ihm war, folgte ihm nach: so dass alsbald drei
Laufende hinter einander her waren, nämlich voran der freiwillige
Bettler, dann Zarathustra und zudritt und -hinterst sein Schatten.
Nicht lange liefen sie so, da kam Zarathustra zur Besinnung über
seine Thorheit und schüttelte mit Einem Rucke allen Verdruss und
Überdruss von sich.
»Wie! sprach er, geschahen nicht von je die lächerlichsten Dinge
bei uns alten Einsiedlern und Heiligen?
Wahrlich, meine Thorheit wuchs hoch in den Bergen! Nun höre ich
sechs alte Narren-Beine hinter einander her klappern!
Darf aber Zarathustra sich wohl vor einem Schatten fürchten?
Auch dünkt mich zu guterletzt, dass er längere Beine hat als ich.«
Also sprach Zarathustra, lachend mit Augen und Eingeweiden,
blieb stehen und drehte sich schnell herum - und siehe, fast warf
er dabei seinen Nachfolger und Schatten zu Boden: so dicht schon
folgte ihm derselbe auf den Fersen, und so schwach war er auch.
Als er ihn nämlich mit Augen prüfte, erschrak er wie vor einem
plötzlichen Gespenste: so dünn, schwärzlich, hohl und überlebt
sah dieser Nachfolger aus.
»Wer bist du? fragte Zarathustra heftig, was treibst du hier? Und
wesshalb heissest du dich meinen Schatten? Du gefällst mir nicht.«
»Vergieb mir, antwortete der Schatten, dass ich's bin; und wenn
ich dir nicht gefalle, wohlan, oh Zarathustra! darin lobe ich dich
und deinen guten Geschmack.
Ein Wanderer bin ich, der viel schon hinter deinen Fersen her
gieng: immer unterwegs, aber ohne Ziel, auch ohne Heim: also
dass mir wahrlich wenig zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, dass
ich nicht ewig, und auch nicht Jude bin.
Wie? Muss ich immerdar unterwegs sein? Von jedem Winde ge-
wirbelt, unstät, fortgetrieben? Oh Erde, du wardst mir zu rund!
Auf jeder Oberfläche sass ich schon, gleich müdem Staube schlief
ich ein auf Spiegeln und Fensterscheiben: Alles nimmt von mir,
Nichts giebt, ich werde dünn, - fast gleiche ich einem Schatten.
Dir aber, oh Zarathustra, flog und zog ich am längsten nach, und,
verbarg ich mich schon vor dir, so war ich doch dein bester Schat-
ten: wo du nur gesessen hast, sass ich auch.
254 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Mit dir bin ich in fernsten, kältesten Welten umgegangen, einem


Gespenste gleich, das freiwillig über Winterdächer und Schnee
läuft.
Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und
wenn irgend Etwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem
Verbote Furcht hatte.
Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine
und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach,
- wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg.
Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werthe und grosse
Namen. Wenn der Teufel sich häutet, fällt da nicht auch sein Name
ab? der ist nämlich auch Haut. Der Teufel selber ist vielleicht -
Haut.
»Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt«: so sprach ich mir zu. In die
kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie
oft stand ich darob nackt als rother Krebs da!
Ach, wohin kam mir alles Gute und alle Scham und aller Glaube
an die Guten! Ach, wohin ist jene verlogne Unschuld, die ich einst
besass, die Unschuld der Guten und ihrer edlen Lügen!
Zu oft, wahrlich, folgte ich der Wahrheit dicht auf dem Fusse: da
trat sie mir vor den Kopf. Manchmal meinte ich zu lügen, und sie-
he! da erst traf ich - die Wahrheit.
Zu Viel klärte sich mir auf: nun geht es mich Nichts mehr an.
Nichts lebt mehr, das ich liebe, - wie sollte ich noch mich selber
lieben?
»Leben, wie ich Lust habe, oder gar nicht leben«: so will ich's, so
will's auch der Heiligste. Aber, wehe! wie habe ich noch - Lust?
Habe ich - noch ein Ziel? Einen Hafen, nach dem mein Segel läuft?
Einen guten Wind? Ach, nur wer weiss, wohin er fährt, weiss auch,
welcher Wind gut und sein Fahrwind ist.
Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unstäter
Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochnes Rückgrat.
Diess Suchen nach meinem Heim: oh Zarathustra, weisst du wohl,
diess Suchen war meine Heimsuchung, es frisst mich auf.
»Wo ist - mein Heim?« Darnach frage und suche und suchte ich,
das fand ich nicht. Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh
4.10. MITTAGS 255

ewiges - Umsonst!«
Also sprach der Schatten, und Zarathustra's Gesicht verlängerte
sich bei seinen Worten. »Du bist mein Schatten! sagte er endlich,
mit Traurigkeit.
Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du
hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein
schlimmerer Abend kommt!
Solchen Unstäten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängniss selig.
Sahst du je, wie eingefangne Verbrecher schlafen? Sie schlafen
ruhig, sie gemessen ihre neue Sicherheit.
Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube ein-
fängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und ver-
sucht nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.
Du hast das Ziel verloren: wehe, wie wirst du diesen Verlust ver-
scherzen und verschmerzen? Damit - hast du auch den Weg ver-
loren!
Du armer Schweifender, Schwärmender, du müder Schmetter-
ling! willst du diesen Abend eine Rast und Heimstätte haben? So
gehe hinauf zu meiner Höhle!
Dorthin führt der Weg zu meiner Höhle. Und jetzo will ich Schnell
wieder von dir davonlaufen. Schon liegt es wie ein Schatten auf
mir.
Ich will allein laufen, dass es wieder hell um mich werde. Dazu
muss ich noch lange lustig auf den Beinen sein. Des Abends aber
wird bei mir - getanzt!« - -
Also sprach Zarathustra.

4.10 Mittags

- Und Zarathustra lief und lief und fand Niemanden mehr und war
allein und fand immer wieder sich und genoss und schlürfte sei-
ne Einsamkeit und dachte an gute Dinge, - stundenlang. Um die
Stunde des Mittags aber, als die Sonne gerade über Zarathustra's
Haupte stand, kam er an einem alten krummen und knorrichten
Baume vorbei, der von der reichen Liebe eines Weinstocks rings
256 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

umarmt und vor sich selber verborgen war: von dem hiengen gel-
be Trauben in Fülle dem Wandernden entgegen. Da gelüstete ihn,
einen kleinen Durst zu löschen und sich eine Traube abzubrechen;
als er aber schon den Arm dazu ausstreckte, da gelüstete ihn et-
was Anderes noch mehr: nämlich sich neben den Baum niederzu-
legen, um die Stunde des vollkommnen Mittags, und zu schlafen.
Diess that Zarathustra; und sobald er auf dem Boden lag, in der
Stille und Heimlichkeit des bunten Grases, hatte er auch schon
seinen kleinen Durst vergessen und schlief ein. Denn, wie das
Sprichwort Zarathustra's sagt: Eins ist nothwendiger als das And-
re. Nur dass seine Augen offen blieben: - sie wurden nämlich nicht
satt, den Baum und die Liebe des Weinstocks zu sehn und zu prei-
sen. Im Einschlafen aber sprach Zarathustra also zu seinem Her-
zen:
Still! Still! Ward die Welt nicht eben vollkommen? Was geschieht
mir doch?
Wie ein zierlicher Wind, ungesehn, auf getäfeltem Meere tanzt,
leicht, federleicht: so - tanzt der Schlaf auf mir,
Kein Auge drückt er mir zu, die Seele lässt er mir wach. Leicht ist
er, wahrlich! federleicht.
Er überredet mich, ich weiss nicht wie?, er betupft mich innewen-
dig mit schmeichelnder Hand, er zwingt mich. Ja, er zwingt mich,
dass meine Seele sich ausstreckt: -
- wie sie mir lang und müde wird, meine wunderliche Seele! Kam
ihr eines siebenten Tages Abend gerade am Mittage? Wandelte
sie zu lange schon selig zwischen guten und reifen Dingen?
Sie streckt sich lang aus, lang, - länger! sie liegt stille, meine wun-
derliche Seele. Zu viel Gutes hat sie schon geschmeckt, diese.
goldene Traurigkeit drückt sie, sie verzieht den Mund.
- Wie ein Schiff, das in seine stillste Bucht einlief: - nun lehnt es
sich an die Erde, der langen Reisen müde und der ungewissen
Meere. Ist die Erde nicht treuer?
Wie solch ein Schiff sich dem Lande anlegt, anschmiegt: - da ge-
nügt's, dass eine Spinne vom Lande her zu ihm ihren Faden spinnt.
Keiner stärkeren Taue bedarf es da.
Wie solch ein müdes Schiff in der stillsten Bucht: so ruhe auch ich
nun der Erde nahe, treu, zutrauend, wartend, mit den leisesten
4.10. MITTAGS 257

Fäden ihr angebunden.


Oh Glück! Oh Glück! Willst du wohl singen, oh meine Seele? Du
liegst im Grase. Aber das ist die heimliche feierliche Stunde, wo
kein Hirt seine Flöte bläst.
Scheue dich! Heisser Mittag schläft auf den Fluren. Singe. nicht!
Still! Die Welt ist vollkommen.
Singe nicht, du Gras-Geflügel, oh meine Seele! Flüstere nicht ein-
mal! Sieh doch - still! der alte Mittag schläft, er bewegt den Mund:
trinkt er nicht eben einen Tropfen Glücks -
- einen alten braunen Tropfen goldenen Glücks, goldenen Weins?
Es huscht über ihn hin, sein Glück lacht. So - lacht ein Gott. Still!
-
- »Zum Glück, wie wenig genügt schon zum Glücke!« So sprach
ich einst, und dünkte mich klug. Aber es war eine Lästerung: das
lernte ich nun. Kluge Narrn reden besser.
Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Ra-
scheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blidk - Wenig macht die
Art des besten Glücks. Still!
- Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich
nicht? Fiel ich nicht - horch! in den Brunnen der Ewigkeit?
- Was geschieht mir? Still! Es sticht mich - wehe - in's Herz? In's
Herz! Oh zerbrich, zerbrich, Herz, nach solchem Glücke, nach sol-
chem Stiche!
- Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? Rund und reif? Oh
des goldenen runden Reifs - wohin fliegt er wohl? Laufe ich ihm
nach! Husch!
Still - - (und hier dehnte sich Zarathustra und fühlte, dass er schla-
fe.) -
Auf! sprach er zu sich selber, du Schläfer! Du Mittagsschläfer!
Wohlan, wohlauf, ihr alten Beine! Zeit ist's und Überzeit, manch
gut Stück Wegs blieb euch noch zurück -
Nun schlieft ihr euch aus, wie lange doch? Eine halbe Ewigkeit!
Wohlan, wohlauf nun, mein altes Herz! Wie lange erst darfst du
nach solchem Schlaf - dich auswachen?
(Aber da schlief er schon von Neuem ein, und seine Seele sprach
gegen ihn und wehrte sich und legte sich wieder hin) - »Lass mich
258 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

doch! Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen
runden Balls!« -
»Steh auf, sprach Zarathustra, du kleine Diebin, du Tagediebin!
Wie? Immer noch sich strecken, gähnen, seufzen, hinunterfallen
in tiefe Brunnen?
Wer bist du doch! Oh meine Seele!« (und hier erschrak er, denn
ein Sonnenstrahl fiel vom Himmel herunter auf sein Gesicht)
»Oh Himmel über mir, sprach er seufzend und setzte sich auf-
recht, du schaust mir zu? Du horchst meiner wunderlichen Seele
zu?
Wann trinkst du diesen Tropfen Thau's, der auf alle Erden-Dinge
niederfiel, - wann trinkst du diese wunderliche Seele -
- wann, Brunnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher Mittags-
Abgrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurück?«
Also sprach Zarathustra und erhob sich von seinem Lager am Bau-
me wie aus einer fremden Trunkenheit: und siehe, da stand die
Sonne immer noch gerade über seinem Haupte. Es möchte aber
Einer daraus mit Recht abnehmen, dass Zarathustra damals nicht
lange geschlafen habe.

4.11 Die Begrüssung

Am späten Nachmittage war es erst, dass Zarathustra, nach lan-


gem umsonstigen Suchen und Umherstreifen, wieder zu seiner
Höhle heimkam. Als er aber derselben gegenüberstand, nicht zwan-
zig Schritt mehr von ihr ferne, da geschah das, was er jetzt am we-
nigsten erwartete: von Neuem hörte er den grossen Nothschrei.
Und, erstaunlich! diess Mal kam derselbige aus seiner eignen Höh-
le. Es war aber ein langer vielfältiger seltsamer Schrei, und Za-
rathustra unterschied deutlich, dass er sich aus vielen Stimmen
zusammensetze: mochte er schon, aus der Ferne gehört, gleich
dem Schrei aus einem einzigen Munde klingen.
Da sprang Zarathustra auf seine Höhle zu, und siehe! welches
Schauspiel erwartete ihn erst nach diesem Hörspiele! Denn da
sassen sie allesammt bei einander, an denen er des Tags vorüber-
gegangen war: der König zur Rechten und der König zur Linken,
4.11. DIE BEGRÜSSUNG 259

der alte Zauberer, der Papst, der freiwillige Bettler, der Schatten,
der Gewissenhafte des Geistes, der traurige Wahrsager und der
Esel; der hässlichste Mensch aber hatte sich eine Krone aufge-
setzt und zwei Purpurgürtel umgeschlungen, - denn er liebte es,
gleich allen Hässlichen, sich zu verkleiden und schön zu thun. In-
mitten aber dieser betrübten Gesellschaft stand der Adler Zara-
thustra's, gesträubt und unruhig, denn er sollte auf zu Vieles ant-
worten, wofür sein Stolz keine Antwort hatte; die kluge Schlange
aber hieng um seinen Hals.
Diess Alles schaute Zarathustra mit grosser Verwunderung; dann
prüfte er jeden Einzelnen seiner Gäste mit leutseliger Neugier-
de, las ihre Seelen ab und wunderte sich von Neuem. Inzwischen
hatten sich die Versammelten von ihren Sitzen erhoben und war-
teten mit Ehrfurcht, dass Zarathustra reden werde. Zarathustra
aber sprach also:
»Ihr Verzweifelnden! Ihr Wunderlichen! Ich hörte also euren Noth-
schrei? Und nun weiss ich auch, wo Der zu suchen ist, den ich
umsonst heute suchte: der höhere Mensch - :
- in meiner eignen Höhle sitzt er, der höhere Mensch! Aber was
wundere ich mich! Habe ich ihn nicht selber zu mir gelockt durch
Honig-Opfer und listige Lockrufe meines Glücks?
Doch dünkt mir, ihr taugt euch schlecht zur Gesellschaft, ihr macht
einander das Herz unwirsch, ihr Nothschreienden, wenn ihr hier
beisammen sitzt? Es muss erst Einer kommen,
- Einer, der euch wieder lachen macht, ein guter fröhlicher Hans-
wurst, ein Tänzer und Wind und Wildfang, irgend ein alter Narr: -
was dünket euch?
Vergebt mir doch, ihr Verzweifelnden, dass ich vor euch mit solch
kleinen Worten rede, unwürdig, wahrlich!, solcher Gäste! Aber ihr
errathet nicht, was mein Herz muthwillig macht: -
- ihr selber thut es und euer Anblick, vergebt es mir! Jeder nämlich
wird muthig, der einem Verzweifelnden zuschaut. Einem Verzwei-
felnden zuzusprechen - dazu dünkt sich jeder stark genug.
Mir selber gabt ihr diese Kraft, - eine gute Gabe, meine hohen
Gäste! Ein rechtschaffnes Gastgeschenk! Wohlan, so zürnt nun
nicht, dass ich euch auch vom Meinigen anbiete.
Diess hier ist mein Reich und meine Herrschaft: was aber mein ist,
260 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

für diesen Abend und diese Nacht soll es euer sein. Meine Thiere
sollen euch dienen: meine Höhle sei eure Ruhestatt!
Bei mir zu Heim-und-Hause soll Keiner verzweifeln, in meinem Re-
viere schütze ich jeden vor seinen wilden Thieren. Und das ist das
Erste, was ich euch anbiete: Sicherheit!
Das Zweite aber ist: mein kleiner Finger. Und habt ihr den erst,
so nehmt nur noch die ganze Hand, wohlan! und das Herz dazu!
Willkommen hier, willkommen, meine Gastfreunde!«
Also sprach Zarathustra und lachte vor Liebe und Bosheit. Nach
dieser Begrüssung verneigten sich seine Gäste abermals und schwie-
gen ehrfürchtig; der König zur Rechten aber antwortete ihm in
ihrem Namen.
»Daran, oh Zarathustra, wie du uns Hand und Gruss botest, er-
kennen wir dich als Zarathustra. Du erniedrigtest dich vor uns;
fast thatest du unserer Ehrfurcht wehe -:
- wer aber vermochte gleich dir sich mit solchem Stolze zu ernied-
rigen? Das richtet uns selber auf, ein Labsal ist es unsern Augen
und Herzen.
Diess allein nur zu schaun, stiegen gern wir auf höhere Berge, als
dieser Berg ist. Als Schaulustige nämlich kamen wir, wir wollten
sehn, was trübe Augen hell macht.
Und siehe, schon ist es vorbei mit allem unsern Nothschrein. Schon
steht Sinn und Herz uns offen und ist entzückt. Wenig fehlt: und
unser Muth wird muthwillig.
Nichts, oh Zarathustra, wächst Erfreulicheres auf Erden, als ein
hoher starker Wille: der ist ihr schönstes Gewächs. Eine ganze
Landschaft erquickt sich an Einem solchen Baume.
Der Pinie vergleiche ich, wer gleich dir, oh Zarathustra, aufwächst:
lang, schweigend, hart, allein, besten biegsamsten Holzes, herr-
lich, -
- zuletzt aber hinausgreifend mit starken grünen Ästen nach sei-
ner Herrschaft, starke Fragen fragend vor Winden und Wettern
und was immer auf Höhen heimisch ist,
- stärker antwortend, ein Befehlender, ein Siegreicher: oh wer soll-
te nicht, solche Gewächse zu schaun, auf hohe Berge steigen?
Deines Baumes hier, oh Zarathustra, erlabt sich auch der Düstere,
4.11. DIE BEGRÜSSUNG 261

der Missrathene, an deinem Anblicke wird auch der Unstäte sicher


und heilt sein Herz.
Und wahrlich, zu deinem Berge und Baume richten sich heute vie-
le Augen; eine grosse Sehnsucht hat sich aufgemacht, und Man-
che lernten fragen: wer ist Zarathustra?
Und wem du jemals dein Lied und deinen Honig in's Ohr geträu-
felt: alle die Versteckten, die Einsiedler, die Zweisiedler sprachen
mit Einem Male zu ihrem Herzen:
»Lebt Zarathustra noch? Es lohnt sich nicht mehr zu leben, Alles
ist gleich, Alles ist umsonst: oder - wir müssen mit Zarathustra
leben!«
»Warum kommt er nicht, der sich so lange ankündigte? also fra-
gen Viele; verschlang ihn die Einsamkeit? Oder sollen wir wohl zu
ihm kommen?«
Nun geschieht's, dass die Einsamkeit selber mürbe wird und zer-
bricht, einem Grabe gleich, das zerbricht und seine Todten nicht
mehr halten kann. Überall sieht man Auferstandene.
Nun steigen und steigen die Wellen um deinen Berg, oh Zara-
thustra. Und wie hoch auch deine Höhe ist, Viele müssen zu dir
hinauf; dein Nachen soll nicht lange mehr im Trocknen sitzen.
Und dass wir Verzweifelnde jetzt in deine Höhle kamen und schon
nicht mehr verzweifeln: ein Wahr- und Vorzeichen ist es nur, da-
von, dass Bessere zu dir unterwegs sind, -
- denn er selber ist zu dir unterwegs, der letzte Rest Gottes unter
Menschen, das ist: alle die Menschen der grossen Sehnsucht, des
grossen Ekels, des grossen Überdrusses,
- Alle, die nicht leben wollen, oder sie lernen wieder hoffen - oder
sie lernen von dir, oh Zarathustra, die grosse Hoffnung!«
Also sprach der König zur Rechten und ergriff die Hand Zarathu-
stra's, um sie zu küssen; aber Zarathustra wehrte seiner Vereh-
rung und trat erschreckt zurück, schweigend und plötzlich wie in
weite Fernen entfliehend. Nach einer kleinen Weile aber war er
schon wieder bei seinen Gästen, blickte sie mit hellen, prüfenden
Augen an und sprach:
Meine Gäste, ihr höheren Menschen, ich will deutsch und deutlich
mit euch reden. Nicht auf euch wartete ich hier in diesen Bergen.
262 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

(»Deutsch und deutlich? Dass Gott erbarm! sagte hier der König
zur Linken, bei Seite; man merkt, er kennt die lieben Deutschen
nicht, dieser Weise aus dem Morgenlande!
Aber er meint »deutsch und derb« - wohlan! Das ist heutzutage
noch nicht der schlimmste Geschmack!«)
»Ihr mögt wahrlich insgesammt höhere Menschen sein, fuhr Za-
rathustra fort: aber für mich - seid ihr nicht hoch und stark genug.
Für mich, das heisst: für das Unerbittliche, das in mir schweigt,
aber nicht immer schweigen wird. Und gehört ihr zu mir, so doch
nicht als mein rechter Arm.
Wer nämlich selber auf kranken und zarten Beinen steht, gleich
euch, der will vor Allem, ob er's weiss oder sich verbirgt: dass er
geschont werde.
Meine Arme und meine Beine aber schone ich nicht, ich schone
meine Krieger nicht: wieso könntet ihr zu meinem Kriege taugen?
Mit euch verdürbe ich mir jeden Sieg noch. Und Mancher von euch
fiele schon um, wenn er nur den lauten Schall meiner Trommeln
hörte.
Auch seid ihr mir nicht schön genug und wohlgeboren. Ich brau-
che reine glatte Spiegel für meine Lehren; auf eurer Oberfläche
verzerrt sich noch mein eignes Bildniss.
Eure Schultern drückt manche Last, manche Erinnerung; manch
schlimmer Zwerg hockt in euren Winkeln. Es giebt verborgenen
Pöbel auch in euch.
Und seid ihr auch hoch und höherer Art: Vieles an euch ist krumm
und missgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir
zurecht und gerade schlüge.
Ihr seid nur Brücken: mögen Höhere auf euch hinüber schreiten!
Ihr bedeutet Stufen: so zürnt Dem nicht, der über euch hinweg in
seine Höhe steigt!
Aus eurem Samen mag auch mir einst ein ächter Sohn und voll-
kommener Erbe wachsen: aber das ist ferne. Ihr selber seid Die
nicht, welchen mein Erbgut und Name zugehört.
Nicht auf euch warte ich hier in diesen Bergen, nicht mit euch darf
ich zum letzten Male niedersteigen. Als Vorzeichen kamt ihr mir
nur, dass schon Höhere zu mir unterwegs sind, -
4.12. DAS ABENDMAHL 263

- nicht die Menschen der grossen Sehnsucht, des grossen Ekels,


des grossen Überdrusses und Das, was ihr den Überrest Gottes
nanntet.
- Nein! Nein! Drei Mal Nein! Auf Andere warte ich hier in diesen
Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben,
- auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemuthere, Solche, die
rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müs-
sen kommen!
Oh, meine Gastfreunde, ihr Wunderlichen, - hörtet ihr noch Nichts
von meinen Kindern? Und dass sie zu mir unterwegs sind?
Sprecht mir doch von meinen Gärten, von meinen glückseligen
Inseln, von meiner neuen schönen Art, - warum sprecht ihr mir
nicht davon?
Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir
von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich
arm: was gab ich nicht hin,
- was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte: diese Kinder, die-
se lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und
meiner höchsten Hoffnung!«
Also sprach Zarathustra und hielt plötzlich inne in seiner Rede:
denn ihn überfiel seine Sehnsucht, und er schloss Augen und Mund
vor der Bewegung seines Herzens. Und auch alle seine Gäste
schwiegen und standen still und bestürzt: nur dass der alte Wahr-
sager mit Händen und Gebärden Zeichen gab.

4.12 Das Abendmahl

An dieser Stelle nämlich unterbrach der Wahrsager die Begrüs-


sung Zarathustra's und seiner Gäste: er drängte sich vor, wie Ei-
ner, der keine Zeit zu verlieren hat, fasste die Hand Zarathustra's
und rief: »Aber Zarathustra!
Eins ist nothwendiger als das Andre, so redest du selber: wohlan,
Eins ist mir jetzt nothwendiger als alles Andere.
Ein Wort zur rechten Zeit: hast du mich nicht zum Mahle eingela-
den? Und hier sind viele, die lange Wege machten. Du willst uns
264 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

doch nicht mit Reden abspeisen?


Auch gedachtet ihr Alle mir schon zu viel des Erfrierens, Ertrin-
kens, Erstickens und andrer Leibes-Nothstände: Keiner aber ge-
dachte meines Nothstandes, nämlich des Verhungerns -«
(Also sprach der Wahrsager; wie die Thiere Zarathustra's aber die-
se Worte hörten, liefen sie vor Schrecken davon. Denn sie sahen,
dass was sie auch am Tage heimgebracht hatten, nicht genug sein
werde, den Einen Wahrsager zu stopfen.)
»Eingerechnet das Verdursten, fuhr der Wahrsager fort. Und ob
ich schon Wasser hier plätschern höre, gleich Reden der Weisheit,
nämlich reichlich und unermüdlich: ich - will Wein!
Nicht jeder ist gleich Zarathustra ein geborner Wassertrinker. Was-
ser taugt auch nicht für Müde und Verwelkte: uns gebührt Wein,
- der erst giebt plötzliches Genesen und stegreife Gesundheit!«
Bei dieser Gelegenheit, da der Wahrsager nach Wein begehrte,
geschah es, dass auch der König zur Linken, der Schweigsame,
einmal zu Worte kam. »Für Wein, sprach er, trugen wir Sorge, ich
sammt meinem Bruder, dem Könige zur Rechten: wir haben Weins
genug, - einen ganzen Esel voll. So fehlt Nichts als Brod.«
»Brod? entgegnete Zarathustra und lachte dazu. Nur gerade Brod
haben Einsiedler nicht. Aber der Mensch lebt nicht vom Brod al-
lein, sondern auch vom Fleische guter Lämmer, deren ich zwei
habe:
- Die soll man geschwinde schlachten und würzig, mit Salbei, zu-
bereiten: so liebe ich's. Und auch an Wurzeln und Früchten fehlt
es nicht, gut genug selbst für Lecker- und Schmeckerlinge; noch
an Nüssen und andern Räthseln zum Knacken.
Also wollen wir in Kürze eine gute Mahlzeit machen. Wer aber mit
essen will, muss auch mit Hand anlegen, auch die Könige. Bei
Zarathustra nämlich darf auch ein König Koch sein.«
Mit diesem Vorschlage war Allen nach dem Herzen geredet: nur
dass der freiwillige Bettler sich gegen Fleisch und Wein und Wür-
zen sträubte.
»Nun hört mir doch diesen Schlemmer Zarathustra! sagte er scherz-
haft: geht man dazu in Höhlen und Hoch-Gebirge, dass man sol-
che Mahlzeiten macht?
4.13. VOM HÖHEREN MENSCHEN 265

Nun freilich verstehe ich, was er einst uns lehrte: »Gelobt sei die
kleine Armuth!« Und warum er die Bettler abschaffen will.«
»Sei guter Dinge, antwortete ihm Zarathustra, wie ich es bin. Blei-
be bei deiner Sitte, du Trefflicher, malme deine Körner, trink dein
Wasser, lobe deine Küche: wenn sie dich nur fröhlich macht!
Ich bin ein Gesetz nur für die Meinen, ich bin kein Gesetz für Alle.
Wer aber zu mir gehört, der muss von starken Knochen sein, auch
von leichten Füssen, -
- lustig zu Kriegen und Festen, kein Düsterling, kein Traum-Hans,
bereit zum Schwersten wie zu seinem Feste, gesund und heil.
Das Beste gehört den Meinen und mir; und giebt man's uns nicht,
so nehmen wir's: - die beste Nahrung, den reinsten Himmel, die
stärksten Gedanken, die schönsten Fraun!« -
Also sprach Zarathustra; der König zur Rechten aber entgegnete:
»Seltsam! Vernahm man je solche kluge Dinge aus dem Munde
eines Weisen?
Und wahrlich, das ist das Seltsamste an einem Weisen, wenn er
zu alledem auch noch klug und kein Esel ist.«
Also sprach der König zur Rechten und wunderte sich; der Esel
aber sagte zu seiner Rede mit bösem Willen I-A. Diess aber war
der Anfang von jener langen Mahlzeit, welche »das Abendmahl«
in den Historien-Büchern genannt wird. Bei derselben aber wurde
von nichts Anderem geredet als vom höheren Menschen.

4.13 Vom höheren Menschen

4.13.1

Als ich zum ersten Male zu den Menschen kam, da that ich die
Einsiedler-Thorheit, die grosse Thorheit: ich stellte mich auf den
Markt.
Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. Des Abends
aber waren Seiltänzer meine Genossen, und Leichname; und ich
selber fast ein Leichnam.
Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lern-
266 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

te ich sprechen »Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm
und lange Pöbel-Ohren an!«
Ihr höheren Menschen, Diess lernt von mir: auf dem Markt glaubt
Niemand an höhere Menschen. Und wollt ihr dort reden, wohlan!
Der Pöbel aber blinzelt »wir sind Alle gleich.«
»Ihr höheren Menschen, - so blinzelt der Pöbel - es giebt keine
höheren Menschen, wir sind Alle gleich, Mensch ist Mensch, vor
Gott - sind wir Alle gleich!«
Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott. Vor dem Pöbel aber wollen
wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht weg vom Markt!

4.13.2

Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren Menschen,
dieser Gott war eure grösste Gefahr.
Seit er im Grabe liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst
kommt der grosse Mittag, nun erst wird der höhere Mensch - Herr!
Verstandet ihr diess Wort, oh meine Brüder? Ihr seid erschreckt:
wird euren Herzen schwindlig? Klafft euch hier der Abgrund? Kläfft
euch hier der Höllenhund?
Wohlan! Wohlauf! Ihr höheren Menschen! Nun erst kreisst der
Berg der Menschen-Zukunft. Gott starb: nun wollen wir, - dass
der Übermensch lebe.

4.13.3

Die Sorglichsten fragen heute: »wie bleibt der Mensch erhalten?«


Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: »wie wird der
Mensch überwunden?«
Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Ein-
ziges, - und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste,
nicht der Leidendste, nicht der Beste -
Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass
er ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist vie-
les, das mich lieben und hoffen macht.
4.13. VOM HÖHEREN MENSCHEN 267

Dass ihr verachtetet, ihr höheren Menschen, das macht mich hof-
fen. Die grossen Verachtenden nämlich sind die grossen Vereh-
renden.
Dass ihr verzweifeltet, daran ist Viel zu ehren. Denn ihr lerntet
nicht, wie ihr euch ergäbet, ihr lerntet die kleinen Klugheiten nicht.
Heute nämlich wurden die kleinen Leute Herr: die predigen Alle
Ergebung und Bescheidung und Klugheit und Fleiss und Rücksicht
und das lange Und-so-weiter der kleinen Tugenden.
Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich
der Pöbel-Mischmasch: Das will nun Herr werden alles Menschen-
Schicksals - oh Ekel! Ekel! Ekel!
Das frägt und frägt und wird nicht müde: »Wie erhält sich der
Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?« Damit -
sind sie die Herrn von Heute.
Diese Herrn von Heute überwindet mir, oh meine Brüder, - diese
kleinen Leute: die sind des Übermenschen grösste Gefahr!
»Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden,
die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-
Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das »Glück der Meisten«
-!
Und lieber verzweifelt, als dass ihr euch ergebt. Und, wahrlich, ich
liebe euch dafür, dass ihr heute nicht zu leben wisst, ihr höheren
Menschen! So nämlich lebt ihr - am Besten!

4.13.4

Habt ihr Muth, oh meine Brüder? Seid ihr herzhaft? Nicht Muth vor
Zeugen, sondern Einsiedler- und Adler-Muth, dem auch kein Gott
mehr zusieht?
Kalte Seelen, Maulthiere, Blinde, Trunkene heissen mir nicht herz-
haft. Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt, er den Ab-
grund sieht, aber mit Stolz.
Wer den Abgrund sieht, aber mit Adlers-Augen, wer mit Adlers-
Krallen den Abgrund fasst: Der hat Muth. - -
268 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

4.13.5

»Der Mensch ist böse« - so sprachen mir zum Troste alle Weise-
sten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist
des Menschen beste Kraft.
»Der Mensch muss besser und böser werden« - so lehre ich. Das
Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem.
Das mochte gut sein für jenen Prediger der kleinen Leute, dass er
litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der
grossen Sünde als meines grossen Trostes. -
Solches ist aber nicht für lange Ohren gesagt. Jedwedes Wort ge-
hört auch nicht in jedes Maul. Das sind feine ferne Dinge: nach
denen sollen nicht Schafs-Klauen greifen!

4.13.6

Ihr höheren Menschen, meint ihr, ich sei da, gut zu machen, was
ihr schlecht machtet?
Oder ich wollte fürderhin euch Leidende bequemer betten? Oder
euch Unstäten, Verirrten, Verkletterten neue leichtere Fusssteige
zeigen?
Nein! Nein! Drei Mal Nein! Immer Mehr, immer Bessere eurer Art
sollen zu Grunde gehn, - denn ihr sollt es immer schlimmer und
härter haben. So allein -
- so allein wächst der Mensch in die Höhe, wo der Blitz ihn trifft
und zerbricht: hoch genug für den Blitz!
Auf Weniges, auf Langes, auf Fernes geht mein Sinn und meine
Sehnsucht: was gienge mich euer kleines, vieles, kurzes Elend an!
Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr lit-
tet noch nicht am Menschen. Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders
sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran ich litt. - -
4.13. VOM HÖHEREN MENSCHEN 269

4.13.7

Es ist mir nicht genug, dass der Blitz nicht mehr schadet. Nicht
ableiten will ich ihn: er soll lernen für mich - arbeiten. -
Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie
wird stiller und dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze
gebären soll. -
Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht
heissen. Die - will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen
die Augen aus!

4.13.8

Wollt Nichts über euer Vermögen: es giebt eine schlimme Falsch-


heit bei Solchen, die über ihr Vermögen wollen.
Sonderlich, wenn sie grosse Dinge wollen! Denn sie wecken Miss-
trauen gegen grosse Dinge, diese feinen Falschmünzer und Schau-
spieler: -
- bis sie endlich falsch vor sich selber sind, schieläugig, übertünch-
ter Wurmfrass, bemäntelt durch starke Worte, durch Aushänge-
Tugenden, durch glänzende falsche Werke.
Habt da eine gute Vorsicht, ihr höheren Menschen! Nichts nämlich
gilt mir heute kostbarer und seltner als Redlichkeit.
Ist diess Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiss nicht, was gross,
was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm,
der lügt immer.

4.13.9

Habt heute ein gutes Misstrauen, ihr höheren Menschen, ihr Be-
herzten! Ihr Offenherzigen! Und haltet eure Gründe geheim! Diess
Heute nämlich ist des Pöbels.
Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm
durch Gründe Das - umwerfen?
Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe
270 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

machen den Pöbel misstrauisch.


Und wenn da einmal Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch Mit
gutem Misstrauen: »welch starker Irrthum hat für sie gekämpft?«
Hütet euch auch vor den Gelehrten! Die hassen euch: denn sie
sind unfruchtbar! Sie haben kalte vertrocknete Augen, vor ihnen
liegt jeder Vogel entfedert.
Solche brüsten sich damit, dass sie nicht lügen: aber Ohnmacht
zur Lüge ist lange noch nicht Liebe zur Wahrheit. Hütet euch!
Freiheit von Fieber ist lange noch nicht Erkenntniss! Ausgekälte-
ten Geistern glaube ich nicht. Wer nicht lügen kann, weiss nicht,
was Wahrheit ist.

4.13.10

Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch
nicht empor tragen, setzt euch nicht auf fremde Rükken und Köp-
fe!
Du aber stiegst zu Pferde? Du reitest nun hurtig hinauf zu deinem
Ziele? Wohlan, mein Freund! Aber dein lahmer Fuss sitzt auch mit
zu Pferde!
Wenn du an deinem Ziele bist, wenn du von deinem Pferde springst:
auf deiner Höhe gerade, du höherer Mensch - wirst du stolpern!

4.13.11

Ihr Schaffenden, ihr höheren Menschen! Man ist nur für das eigne
Kind schwanger.
Lasst euch Nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Näch-
ster? Und handelt ihr auch »für den Nächsten«, - ihr schafft doch
nicht für ihn!
Verlernt mir doch diess »Für«, ihr Schaffenden: eure Tugend gera-
de will es, dass ihr kein Ding mit »für« und »um« und »weil« thut.
Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben.
Das »für den Nächsten« ist die Tugend nur der kleinen Leute: da
heisst es »gleich und gleich« und »Hand wäscht Hand«: - sie ha-
4.13. VOM HÖHEREN MENSCHEN 271

ben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz!


In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vor-
sicht und Vorsehung! Was Niemand noch mit Augen sah, die Frucht:
die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe.
Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure gan-
ze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist euer »Nächster«: lasst euch
keine falschen Werthe einreden!

4.13.12

Fragt die Weiber: man gebiert nicht, weil es Vergnügen macht.


Der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern.
Ihr Schaffenden, an euch ist viel Unreines. Das macht, ihr musstet
Mütter sein.
Ein neues Kind: oh wie viel neuer Schmutz kam auch zur Welt!
Geht bei Seite! Und wer geboren hat, soll seine Seele rein wa-
schen!

4.13.13

Seid nicht tugendhaft über eure Kräfte! Und wollt Nichts von euch
wider die Wahrscheinlichkeit!
Geht in den Fusstapfen, wo schon eurer Väter Tugend gierig! Wie
wolltet ihr hoch steigen, wenn nicht eurer Väter Wille mit euch
steigt?
Wer aber Erstling sein will, sehe zu, dass er nicht auch Letztling
werde! Und wo die Laster eurer Väter sind, darin sollt ihr nicht
Heilige bedeuten wollen!
Wessen Väter es mit Weibern hielten und mit starken Weinen und
Wildschweinen: was wäre es, wenn Der von sich Keuschheit woll-
te?
Eine Narrheit wäre es! Viel, wahrlich, dünkt es mich für einen Sol-
chen, wenn er Eines oder zweier oder dreier Weiber Mann ist.
Und stiftete er Klöster und schriebe über die Thür: »der Weg zum
Heiligen,« - ich spräche doch: wozu! es ist eine neue Narrheit!
272 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Er stiftete sich selber ein Zucht- und Fluchthaus: wohl bekomm's!


Aber ich glaube nicht daran.
In der Einsamkeit wächst, was Einer in sie bringt, auch das innere
Vieh. Solchergestalt widerräth sich Vielen die Einsamkeit.
Gab es Schmutzigeres bisher auf Erden als Wüsten-Heilige? Um
die herum war nicht nur der Teufel los, - sondern auch das Schwein.

4.13.14

Scheu, beschämt, ungeschickt, einem Tiger gleich, dem der Sprung


missrieth: also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch bei Seite
schleichen. Ein Wurf missrieth euch.
Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen
und spotten, wie man spielen und spotten muss! Sitzen wir nicht
immer an einem grossen Spott- und Spieltische?
Und wenn euch Grosses missrieth, seid ihr selber darum - missrat-
hen? Und missriethet ihr selber, missrieth darum - der Mensch?
Missrieth aber der Mensch: wohlan! wohlauf!

4.13.15

Je höher von Art, je seltener geräth ein Ding. Ihr höheren Men-
schen hier, seid ihr nicht alle - missgerathen?
Seid guten Muths, was liegt daran! Wie Vieles ist noch möglich!
Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss!
Was Wunders auch, dass ihr missriethet und halb geriethet, ihr
Halb-Zerbrochenen! Drängt und stösst sich nicht in euch - des
Menschen Zukunft?
Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine unge-
heure Kraft: schäumt Das nicht alles gegen einander in eurem
Topfe?
Was Wunders, dass mancher Topf zerbricht! Lernt über euch la-
chen, wie man lachen muss! Ihr höheren Menschen, oh wie Vieles
ist noch möglich!
Und wahrlich, wie Viel gerieth schon! Wie reich ist diese Erde an
4.13. VOM HÖHEREN MENSCHEN 273

kleinen guten vollkommenen Dingen, an Wohlgerathenem!


Stellt kleine gute vollkommne Dinge um euch, ihr höheren Men-
schen! Deren goldene Reife heilt das Herz. Vollkommnes lehrt hof-
fen.

4.13.16

Welches war hier auf Erden bisher die grösste Sünde? War es nicht
das Wort Dessen, der sprach: »Wehe Denen, die hier lachen!«
Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe? So suchte
er nur schlecht. Ein Kind findet hier noch Gründe.
Der - liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die La-
chenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklap-
pern verhiess er uns.
Muss man denn gleich fluchen, wo man nicht liebt? Das - dünkt
mich ein schlechter Geschmack. Aber so that er, dieser Unbeding-
te. Er kam vom Pöbel.
Und er selber liebte nur nicht genug: sonst hätte er weniger ge-
zürnt, dass man ihn nicht liebe. Alle grosse Liebe will nicht Liebe:
- die will mehr.
Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme
kranke Art, eine Pöbel-Art: sie sehn schlimm diesem Leben zu, sie
haben den bösen Blick für diese Erde.
Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Sie haben Schwe-
re Füsse und schwüle Herzen: - sie wissen nicht zu tanzen. Wie
möchte Solchen wohl die Erde leicht sein!

4.13.17

Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe. Gleich Katzen
machen sie Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen
Glücke, - alle guten Dinge lachen.
Der Schritt verräth, ob Einer schon auf seiner Bahn schreitet: so
seht mich gehn! Wer aber seinem Ziel nahe kommt, der tanzt.
Und, wahrlich, zum Standbild ward ich nicht, noch stehe ich nicht
274 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

da, starr, stumpf, steinern, eine Säule; ich liebe geschwindes Lau-
fen.
Und wenn es auf Erden auch Moor und dicke Trübsal giebt: wer
leichte Füsse hat, läuft über Schlamm noch hinweg und tanzt wie
auf gefegtem Eise.
Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir
auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer,
und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!

4.13.18

Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber


setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Geläch-
ter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu.
Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flü-
geln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und
fertig, ein Selig-Leichtfertiger: -
Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Un-
geduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprün-
ge liebt; ich selber setzte mir diese Krone auf!

4.13.19

Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir
auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer,
und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!
Es giebt auch im Glück schweres Gethier, es giebt Plumpfüssler
von Anbeginn. Wunderlich müht sie sich ab, einem Elephanten
gleich, der sich müht auf dem Kopf zu stehn.
Besser aber noch närrisch sein vor Glücke als närrisch vor Un-
glücke, besser plump tanzen als lahm gehn. So lernt mir doch mei-
ne Weisheit ab: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrsei-
ten, -
- auch das schlimmste Ding hat gute Tanzbeine: so lernt mir doch
euch selbst, ihr höheren Menschen, auf eure rechten Beine stel-
len!
4.14. DAS LIED DER SCHWERMUTH 275

So verlernt mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh


wie traurig dünken mich heute des Pöbels Hanswürste noch! Diess
Heute aber ist des Pöbels.

4.13.20

Dem Winde thut mir gleich, wenn er aus seinen Berghöhlen stürzt:
nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und
hüpfen unter seinen Fusstapfen.
Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt, gelobt sei dieser
gute unbändige Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein
Sturmwind kommt, -
- der Distel- und Tiftelköpfen feind ist und allen welken Blättern
und Unkräutern: gelobt sei dieser wilde gute freie Sturmgeist, wel-
cher auf Mooren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt!
Der die Pöbel-Schwindhunde hasst und alles missrathene düstere
Gezücht: gelobt sei dieser Geist aller freien Geister, der lachende
Sturm, welcher allen Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub in
die Augen bläst!
Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht
tanzen, wie man tanzen muss - über euch hinweg tanzen! Was
liegt daran, dass ihr missriethet!
Wie Vieles ist noch möglich! So lernt doch über euch hinweg la-
chen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und
vergesst mir auch das gute Lachen nicht!
Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch, mei-
nen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprach ich
heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir - lachen!

4.14 Das Lied der Schwermuth

4.14.1

Als Zarathustra diese Reden sprach, stand er nahe dem Eingange


seiner Höhle; mit den letzten Worten aber entschlüpfte er seinen
276 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Gästen und floh für eine kurze Weile in's Freie.


»Oh reine Gerüche um mich, rief er aus, oh selige Stille um mich!
Aber wo sind meine Thiere? Heran, heran, mein Adler und meine
Schlange!
Sagt mir doch, meine Thiere: diese höheren Menschen insgesammt
- riechen sie vielleicht nicht gut? Oh reine Gerüche um mich! Jetzo
weiss und fühle ich erst, wie ich euch, meine Thiere, liebe.«
- Und Zarathustra sprach nochmals: »ich liebe euch, meine Thie-
re!« Der Adler aber und die Schlange drängten sich an ihn, als
er diese Worte sprach, und sahen zu ihm hinauf. Solchergestalt
waren sie zu drei still beisammen und schnüffelten und schlürften
mit einander die gute Luft. Denn die Luft war hier draussen besser
als bei den höheren Menschen.

4.14.2

Kaum aber hatte Zarathustra seine Höhle verlassen, da erhob sich


der alte Zauberer, sah listig umher und sprach: »Er ist hinaus!
Und schon, ihr höheren Menschen - dass ich euch mit diesem Lob-
und Schmeichel-Namen kitzle, gleich ihm selber - schon fällt mich
mein schlimmer Trug- und Zaubergeist an, mein schwermüthiger
Teufel,
- welcher diesem Zarathustra ein Widersacher ist aus dem Grun-
de: vergebt es ihm! Nun will er vor euch zaubern, er hat gerade
seine Stunde; umsonst ringe ich mit diesem bösen Geiste.
Euch Allen, welche Ehren ihr euch mit Worten geben mögt, ob
ihr euch »die freien Geister« nennt oder »die Wahrhaftigen« oder
»die Büsser des Geistes« oder »die Entfesselten« oder »die gros-
sen Sehnsüchtigen« -
- euch Allen, die ihr am grossen Ekel leidet gleich mir, denen der
alte Gott starb und noch kein neuer Gott in Wiegen und Windeln
liegt, - euch Allen ist mein böser Geist und Zauber-Teufel hold.
Ich kenne euch, ihr höheren Menschen, ich kenne ihn, - ich kenne
auch diesen Unhold, den ich wider Willen liebe, diesen Zarathu-
stra: er selber dünkt mich öfter gleich einer schönen Heiligen-
Larve,
4.14. DAS LIED DER SCHWERMUTH 277

- gleich einem neuen wunderlichen Mummenschanze, in dem sich


mein böser Geist, der schwermüthige Teufel, gefällt: - ich liebe
Zarathustra, so dünkt mich oft, um meines bösen Geistes Willen.
-
Aber schon fällt der mich an und zwingt mich, dieser Geist der
Schwermuth, dieser Abend-Dämmerungs-Teufel: und, wahrlich, ihr
höheren Menschen, es gelüstet ihn -
- macht nur die Augen auf! - es gelüstet ihn, nackt zu kommen,
ob männlich, ob weiblich, noch weiss ich's nicht: aber er kommt,
er zwingt mich, wehe! macht eure Sinne auf!
Der Tag klingt ab, allen Dingen kommt nun der Abend, auch den
besten Dingen; hört nun und seht, ihr höheren Menschen, welcher
Teufel, ob Mann, ob Weib, dieser Geist der Abend-Schwermuth
ist!«
Also sprach der alte Zauberer, sah listig umher und griff dann zu
seiner Harfe.

4.14.3

Bei abgehellter Luft, Wenn schon des Thau's Tröstung Zur Erde
niederquillt, Unsichtbar, auch ungehört: - Denn zartes Schuhwerk
trägt Der Tröster Thau gleich allen Trost-Milden -: Gedenkst du da,
gedenkst du, heisses Herz, Wie einst du durstetest, Nach himm-
lischen Thränen und Thau-Geträufel Versengt und müde durste-
test, Dieweil auf gelben Gras-Pfaden Boshaft abendliche Sonnen-
blicke Durch schwarze Bäume um dich liefen, Blendende Sonnen-
Gluthblicke, schadenfrohe.
»Der Wahrheit Freier? Du? - so höhnten sie - Nein! Nur ein Dichter!
Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, Das lügen muss,
Das wissentlich, willentlich lügen muss: Nach Beute lüstern, Bunt
verlarvt, Sich selber Larve, Sich selbst zur Beute - Das - der Wahr-
heit Freier? Nein! Nur Narr! Nur Dichter! Nur Buntes redend, Aus
Narren-Larven bunt herausschreiend, Herumsteigend auf lügneri-
schen Wort-Brücken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen
Himmeln Und falschen Erden, Herumschweifend, herumschwe-
bend, - Nur Narr! Nur Dichter!
Das - der Wahrheit Freier? Nicht still, starr, glatt, kalt, Zum Bil-
278 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

de worden, Zur Gottes-Säule, Nicht aufgestellt vor Tempeln, Eines


Gottes Thürwart: Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern,
In jeder Wildniss heimischer als vor Tempeln, Voll Katzen-Muthwillens,
Durch jedes Fenster springend Husch! in jeden Zufall, Jedem Ur-
walde zuschnüffelnd, Süchtig-sehnsüchtig zuschnüffelnd, Dass du
in Urwäldern Unter buntgefleckten Raubthieren Sündlich-gesund
und bunt und schön liefest, Mit lüsternen Lefzen, Selig-höhnisch,
selig-höllisch, selig-blutgierig, Raubend, schleichend, lügend lie-
fest: -
Oder, dem Adler gleich, der lange, Lange starr in Abgründe blickt,
In seine Abgründe: - - Oh wie sie sich hier hinab, Hinunter, hinein,
In immer tiefere Tiefen ringeln! - Dann, Plötzlich, geraden Zugs,
Gezückten Flugs, Auf Lämmer stossen, Jach hinab, heisshung-
rig, Nach Lämmern lüstern, Gram allen Lamms-Seelen, Grimmig-
gram Allem, was blickt Schafmässig, lammäugig, krauswollig, Grau,
mit Lamms-Schafs-Wohlwollen!
Also Adlerhaft, pantherhaft Sind des Dichters Sehnsüchte, Sind
deine Sehnsüchte unter tausend Larven, Du Narr! Du Dichter!
Der du den Menschen schautest So Gott als Schaf -: Den Gott zer-
reissen im Menschen Wie das Schaf im Menschen, Und zerreisend
lachen -
Das, Das ist deine Seligkeit! Eines Panthers und Adlers Seligkeit!
Eines Dichters und Narren Seligkeit!« - -
Bei abgehellter Luft, Wenn schon des Monds Sichel Grün zwischen
Purpurröthen Und neidisch hinschleicht: - dem Tage feind, Mit je-
dem Schritte heimlich An Rosen-Hängematten Hinsichelnd, bis sie
sinken, Nacht-abwärts blass hinabsinken:
So sank ich selber einstmals Aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,
Aus meinen Tages-Sehnsüchten, Des Tages müde, krank vom Lich-
te, - sank abwärts, abendwärts, schattenwärts: Von Einer Wahr-
heit Verbrannt und durstig: - gedenkst du noch, gedenkst du, heis-
ses Herz, Wie da du durstetest? - Dass ich verbannt sei Von aller
Wahrheit, Nur Narr! Nur Dichter!
4.15. VON DER WISSENSCHAFT 279

4.15 Von der Wissenschaft

Also sang der Zauberer; und Alle, die beisammen waren, giengen
gleich Vögeln unvermerkt in das Netz seiner listigen und schwer-
müthigen Wollust. Nur der Gewissenhafte des Geistes war nicht
eingefangen: er nahm flugs dem Zauberer die Harfe weg und rief
»Luft! Lasst gute Luft herein! Lass Zarathustra herein! Du machst
diese Höhle schwül und giftig, du schlimmer alter Zauberer!
Du verfährst, du Falscher, Feiner, zu unbekannten Begierden und
Wildnissen. Und wehe, wenn Solche, wie du, von der Wahrheit
Redens und Wesens machen!
Wehe allen freien Geistern, welche nicht vor solchen Zauberern
auf der Hut sind! Dahin ist es mit ihrer Freiheit: du lehrst und
lockst zurück in Gefängnisse, -
- du alter schwermüthiger Teufel, aus deiner Klage klingt eine
Lockpfeife, du gleichst Solchen, welche mit ihrem Lobe der Keusch-
heit heimlich zu Wollüsten laden!«
Also sprach der Gewissenhafte; der alte Zauberer aber blickte
um sich, genoss seines Sieges und verschluckte darüber den Ver-
druss, welchen ihm der Gewissenhafte machte. »Sei still! sagte
er mit bescheidener Stimme, gute Lieder wollen gut wiederhal-
len; nach guten Liedern soll man lange schweigen.
So thun es diese Alle, die höheren Menschen. Du aber hast wohl
Wenig von meinem Lied verstanden? In dir ist Wenig von einem
Zaubergeiste.«
»Du lobst mich, entgegnete der Gewissenhafte, indem du mich
von dir abtrennst, wohlan! Aber ihr Anderen, was sehe ich? Ihr
sitzt alle noch mit lüsternen Augen da -:
Ihr freien Seelen, wohin ist eure Freiheit! Fast, dünkt mich's, gleicht
ihr Solchen, die lange schlimmen tanzenden nackten Mädchen zu-
sahn: eure Seelen tanzen selber!
In euch, ihr höheren Menschen, muss Mehr von Dem sein, was der
Zauberer seinen bösen Zauber- und Truggeist nennt: - wir müssen
wohl verschieden sein.
Und wahrlich, wir sprachen und dachten genug mitsammen, ehe
Zarathustra heimkam zu seiner Höhle, als dass ich nicht wüsste:
wir sind verschieden.
280 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Wir suchen Verschiednes auch hier oben, ihr und ich. Ich näm-
lich suche mehr Sicherheit, desshalb kam ich zu Zarathustra. Der
nämlich ist noch der festeste Thurm und Wille -
- heute, wo Alles wackelt, wo alle Erde bebt. Ihr aber, wenn ich
eure Augen sehe, die ihr macht, fast dünkt mich's, ihr sucht mehr
Unsicherheit,
- mehr Schauder, mehr Gefahr, mehr Erdbeben. Euch gelüstet,
fast dünkt mich's so, vergebt meinem Dünkel, ihr höheren Men-
schen -
- euch gelüstet nach dem schlimmsten gefährlichsten Leben, das
mir am meisten Furcht macht, nach dem Leben wilder Thiere,
nach Wäldern, Höhlen, steilen Bergen und Irr- Schlünden.
Und nicht die Führer aus der Gefahr gefallen euch am besten,
sondern die euch von allen Wegen abführen, die Verführer. Aber,
wenn solch Gelüsten an euch wirklich ist, so dünkt es mich trotz-
dem unmöglich.
Furcht nämlich - das ist des Menschen Erb- und Grundgefühl; aus
der Furcht erklärt sich jegliches, Erbsünde und Erbtugend. Aus der
Furcht wuchs auch meine Tugend, die heisst: Wissenschaft.
Die Furcht nämlich vor wildem Gethier - die wurde dem Men-
schen am längsten angezüchtet, einschliesslich das Thier, das er
in sich selber birgt und fürchtet: - Zarathustra heisst es »das in-
nere Vieh.«
Solche lange alte Furcht, endlich fein geworden, geistlich, geistig
- heute, dünkt mich, heisst sie: Wissenschaft.« -
Also sprach der Gewissenhafte; aber Zarathustra, der eben in sei-
ne Höhle zurückkam und die letzte Rede gehört und errathen hat-
te, warf dem Gewissenhaften eine Hand voll Rosen zu und lach-
te ob seiner »Wahrheiten«. »Wie! rief er, was hörte ich da eben?
Wahrlich, mich dünkt, du bist ein Narr oder ich selber bin's: und
deine »Wahrheit« stelle ich rucks und flugs auf den Kopf.
Furcht nämlich - ist unsre Ausnahme. Muth aber und Abenteuer
und Lust am Ungewissen, am Ungewagten, - Muth dünkt mich des
Menschen ganze Vorgeschichte.
Den wildesten muthigsten Thieren hat er alle ihre Tugenden ab-
geneidet und abgeraubt: so erst wurde er - zum Menschen.
4.16. UNTER TÖCHTERN DER WÜSTE 281

Dieser Muth, endlich fein geworden, geistlich, geistig, dieser Menschen-


Muth mit Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit: der, dünkt mich,
heisst heute -«
»Zarathustra«! schrien Alle, die beisammen sassen, wie aus Ei-
nem Munde und machten dazu ein grosses Gelächter; es hob sich
aber von ihnen wie eine schwere Wolke. Auch der Zauberer lachte
und sprach mit Klugheit: »Wohlan! Er ist davon, mein böser Geist!
Und habe ich euch nicht selber vor ihm gewarnt, als ich sagte,
dass er ein Betrüger sei, ein Lug- und Truggeist?
Sonderlich nämlich, wenn er sich nackend zeigt. Aber was kann
ich für seine Tücken! Habe ich ihn und die Welt geschaffen?
Wohlan! Seien wir wieder gut und guter Dinge! Und ob schon Za-
rathustra böse blickt - seht ihn doch! er ist mir gram -:
- bevor die Nacht kommt, lernt er wieder, mich lieben und loben,
er kann nicht lange leben, ohne solche Thorheiten zu thun.
Der - liebt seine Feinde: diese Kunst versteht er am besten von
Allen, die ich sah. Aber er nimmt Rache dafür - an seinen Freun-
den!«
Also sprach der alte Zauberer, und die höheren Menschen zollten
ihm Beifall: so dass Zarathustra herumgieng und mit Bosheit und
Liebe seinen Freunden die Hände schüttelte, - gleichsam als Einer,
der an Allen Etwas gutzumachen und abzubitten hat. Als er aber
dabei an die Thür seiner Höhle kam, siehe, da gelüstete ihn schon
wieder nach der guten Luft da draussen und nach seinen Thieren,
- und er wollte hinaus schlüpfen.

4.16 Unter Töchtern der Wüste

4.16.1

»Gehe nicht davon! sagte da der Wanderer, welcher sich den


Schatten Zarathustra's nannte, bleibe bei uns, es möchte uns
sonst die alte dumpfe Trübsal wieder anfallen.
Schon gab uns jener alte Zauberer von seinem Schlimmsten zum
Besten, und siehe doch, der gute fromme Papst da hat Thränen in
282 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

den Augen und hat sich ganz wieder auf's Meer der Schwermuth
eingeschifft.
Diese Könige mögen wohl vor uns noch gute Miene machen: das
lernten Die nämlich von uns Allen heute am Besten! Hätten sie
aber keine Zeugen, ich wette, auch bei ihnen fienge das böse
Spiel wieder an -
- das böse Spiel der ziehenden Wolken, der feuchten Schwermuth,
der verhängten Himmel, der gestohlenen Sonnen, der heulenden
Herbst-Winde,
- das böse Spiel unsres Heulens und Nothschreiens: bleibe bei
uns, oh Zarathustra! Hier ist viel verborgenes Elend, das reden
will, viel Abend, viel Wolke, viel dumpfe Luft!
Du nährtest uns mit starker Manns-Kost und kräftigen Sprüchen:
lass es nicht zu, dass uns zum Nachtisch die weichlichen weibli-
chen Geister wieder anfallen!
Du allein machst die Luft um dich herum stark und klar! Fand ich
je auf Erden so gute Luft als bei dir in deiner Höhle?
Viele Länder sah ich doch, meine Nase lernte vielerlei Luft prü-
fen und abschätzen: aber bei dir schmecken meine Nüstern ihre
grösste Lust!
Es sei denn, - es sei denn - , oh vergieb eine alte Erinnerung!
Vergieb mir ein altes Nachtisch-Lied, das ich einst unter Töchtern
der Wüste dichtete: -
- bei denen nämlich gab es gleich gute helle morgenländische
Luft; dort war ich am fernsten vom wolkigen feuchten schwer-
müthigen Alt-Europa!
Damals liebte ich solcherlei Morgenland-Mädchen und andres blau-
es Himmelreich, über dem keine Wolken und keine Gedanken hän-
gen.
Ihr glaubt es nicht, wie artig sie dasassen, wenn sie nicht tanzten,
tief, aber ohne Gedanken, wie kleine Geheimnisse, wie bebänder-
te Räthsel, wie Nachtisch-Nüsse -
bunt und fremd fürwahr! aber ohne Wolken: Räthsel, die sich rat-
hen lassen: solchen Mädchen zu Liebe erdachte ich damals einen
Nachtisch-Psalm.«
Also sprach der Wanderer und Schatten; und ehe Jemand ihm ant-
4.16. UNTER TÖCHTERN DER WÜSTE 283

wortete, hatte er schon die Harfe des alten Zauberers ergriffen,


die Beine gekreuzt und blickte gelassen und weise um sich: - mit
den Nüstern aber zog er langsam und fragend die Luft ein, wie
Einer, der in neuen Ländern neue fremde Luft kostet. Darauf hob
er mit einer Art Gebrüll zu singen an.

4.16.2

Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!

- Ha! Feierlich!
In der That feierlich!
Ein würdiger Anfang!
Afrikanisch feierlich!
Eines Löwen würdig,
Oder eines moralischen Brüllaffen -
- aber Nichts für euch,
Ihr allerliebsten Freundinnen,
Zu deren Füssen mir
Zum ersten Male,
Einem Europäer, unter Palmen
Zu sitzen vergönnt ist. Sela.

Wunderbar wahrlich!
Da sitze ich nun,
Der Wüste nahe und bereits
So fern wieder der Wüste,
Auch in Nichts noch verwüstet:
Nämlich hinabgeschluckt
Von dieser kleinsten Oasis - :
- sie sperrte gerade gähnend
Ihr liebliches Maul auf.
Das wohlriechendste aller Mäulchen:
Da fiel ich hinein,
Hinab, hindurch - unter euch,
Ihr allerliebsten Freundinnen! Sela.

Heil, Heil jenem Wallfische,


Wenn er also es seinem Gaste
284 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Wohl sein liess! - ihr versteht


Meine gelehrte Anspielung?
Heil seinem Bauche,
Wenn er also
Ein so lieblicher Oasis-Bauch war
Gleich diesem: was ich aber in Zweifel ziehe,
- dafür komme ich aus Europa,
Das zweifelsüchtiger ist als alle
Ältlichen Eheweibchen.
Möge Gott es bessern!
Amen!

Da sitze ich nun,


In dieser kleinsten Oasis,
Einer Dattel gleich,
Braun, durchsüsst, goldschwürig, lüstern
Nach einem runden Mädchenmunde,
Mehr noch aber nach mädchenhaften
Eiskalten schneeweissen schneidigen
Beisszähnen: nach denen nämlich
Lechzt das Herz allen heissen Datteln. Sela.

Den genannten Südfrüchten


Ähnlich, allzuähnlich
Liege ich hier, von kleinen
Flügelkäfern
Umtänzelt und umspielt,
Insgleichen von noch kleineren
Thörichteren boshafteren
Wünschen und Einfällen,
Umlagert von euch,
Ihr stummen, ihr ahnungsvollen
Mädchen-Katzen,
Dudu und Suleika,
- umsphinxt, dass ich in Ein Wort
Viel Gefühle stopfe:
(Vergebe mir Gott
Diese Sprach-Sünde!)
- sitze hier, die beste Luft schnüffelnd,
Paradieses-Luft wahrlich,
Lichte leichte Luft, goldgestreifte,
4.16. UNTER TÖCHTERN DER WÜSTE 285

So gute Luft nur je


Vom Monde herabfiel -
Sei es aus Zufall,
Oder geschah es aus Übermuthe?
Wie die alten Dichter erzählen.
Ich Zweifler aber ziehe es
In Zweifel, dafür aber komme ich
Aus Europa,
Das zweifelsüchtiger ist als alle
Ältlichen Eheweibchen.
Möge Gott es bessern!
Amen!

Diese schönste Luft trinkend,


Mit Nüstern geschwellt gleich Bechern,
Ohne Zukunft, ohne Erinnerungen,
So sitze ich hier, ihr
Allerliebsten Freundinnen,
Und sehe der Palme zu,
Wie sie, einer Tänzerin gleich,
Sich biegt und schmiegt und in der Hüfte wiegt,
- man thut es mit, sieht man lange zu!
Einer Tänzerin gleich, die, wie mir scheinen will,
Zu lange schon, gefährlich lange
Immer, immer nur auf Einem Beine stand?
- da vergass sie darob, wie mir scheinen will,
Das andre Bein?
Vergebens wenigstens
Suchte ich das vermisste
Zwillings-Kleinod
- nämlich das andre Bein -
In der heiligen Nähe
Ihres allerliebsten, allerzierlichsten
Fächer- und Flatter- und Flitterröckchens.
ja, wenn ihr mir, ihr schönen Freundinnen,
Ganz glauben wollt:
Sie hat es verloren!
Es ist dahin!
Auf ewig dahin!
Das andre Bein!
Oh schade um dieses liebliche andre Bein!
286 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Wo - mag es wohl weilen und verlassen trauern?


Das einsame Bein?
In Furcht vielleicht vor einem
Grimmen gelben blondgelockten
Löwen-Unthiere? Oder gar schon
Abgenagt, abgeknabbert -
Erbärmlich, wehe! wehe! abgeknabbert! Sela.

Oh weint mir nicht,


Weiche Herzen!
Weint mir nicht, ihr
Dattel-Herzen! Milch-Busen!
Ihr Süssholz-Herz-
Beutelchen!
Weine nicht mehr,
Bleiche Dudu!
Sei ein Mann, Suleika! Muth! Muth!
- Oder sollte vielleicht
Etwas Stärkendes, Herz-Stärkendes,
Hier am Platze sein?
Ein gesalbter Spruch?
Ein feierlicher Zuspruch? -

Ha! Herauf, Würde!


Tugend-Würde! Europäer-Würde!
Blase, blase wieder,
Blasebalg der Tugend!
Ha!
Noch Ein Mal brüllen,
Moralisch brüllen!
Als moralischer Löwe
Vor den Töchtern der Wüste brüllen!
- Denn Tugend-Geheul,
Ihr allerliebsten Mädchen,
Ist mehr als Alles
Europäer-Inbrunst, Europäer-Heisshunger!
Und da stehe ich schon,
Als Europäer,
Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!
Amen!
4.17. DIE ERWECKUNG 287

Die Wüste wächst: weh Dem, der Wüsten birgt!

4.17 Die Erweckung

4.17.1

Nach dem Liede des Wanderers und Schattens wurde die Höhle
mit Einem Male voll Lärmens und Lachens; und da die versam-
melten Gäste alle zugleich redeten, und auch der Esel, bei einer
solchen Ermuthigung, nicht mehr still blieb, überkam Zarathustra
ein kleiner Widerwille und Spott gegen seinen Besuch: ob er sich
gleich ihrer Fröhlichkeit erfreute. Denn sie dünkte ihm ein Zeichen
der Genesung. So schlüpfte er hinaus in's Freie und sprach zu sei-
nen Thieren.
»Wo ist nun ihre Noth hin? sprach er, und schon athmete er selber
von seinem kleinen Überdrusse auf, - bei mir verlernten sie, wie
mich dünkt, das Nothschrein!
- wenn auch, leider, noch nicht das Schrein.« Und Zarathustra
hielt sich die Ohren zu, denn eben mischte sich das I-A des Esels
wunderlich mit dem Jubel-Lärm dieser höheren Menschen.
»Sie sind lustig, begann er wieder, und wer weiss? vielleicht auf
ihres Wirthes Unkosten; und lernten sie von mir lachen, so ist es
doch nicht mein Lachen, das sie lernten.
Aber was liegt daran! Es sind alte Leute: sie genesen auf ihre Art,
sie lachen auf ihre Art; meine Ohren haben schon Schlimmeres
erduldet und wurden nicht unwirsch.
Dieser Tag ist ein Sieg: er weicht schon, er flieht, der Geist der
Schwere, mein alter Erzfeind! Wie gut will dieser Tag enden, der
so schlimm und schwer begann!
Und enden will er. Schon kommt der Abend: über das Meer her
reitet er, der gute Reiter! Wie er sich wiegt, der Selige, Heimkeh-
rende, in seinen purpurnen Sätteln!
Der Himmel blickt klar dazu, die Welt liegt tief: oh all ihr Wunder-
lichen, die ihr zu mir kamt, es lohnt sich schon, bei mir zu leben!«
Also sprach Zarathustra. Und wieder kam da das Geschrei und
288 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Gelächter der höheren Menschen aus der Höhle: da begann er


von Neuem.
»Sie beissen an, mein Köder wirkt, es weicht auch ihnen ihr Feind,
der Geist der Schwere. Schon lernen sie über sich selber lachen:
höre ich recht?
Meine Manns-Kost wirkt, mein Saft- und Kraft-Spruch: und wahr-
lich, ich nährte sie nicht mit Bläh-Gemüsen! Sondern mit Krieger-
Kost, mit Eroberer-Kost: neue Begierden weckte ich.
Neue Hoffnungen sind in ihren Armen und Beinen, ihr Herz streckt
sich aus. Sie finden neue Worte, bald wird ihr Geist Muthwillen
athmen.
Solche Kost mag freilich nicht für Kinder sein, noch auch für sehn-
süchtige alte und junge Weibchen. Denen überredet man anders
die Eingeweide; deren Arzt und Lehrer bin ich nicht.
Der Ekel weicht diesen höheren Menschen: wohlan! das ist mein
Sieg. In meinem Reiche werden sie sicher, alle dumme Scham
läuft davon, sie schütten sich aus.
Sie schütten ihr Herz aus, gute Stunden kehren ihnen zurück, sie
feiern und käuen wieder, - sie werden dankbar.
Das nehme ich als das beste Zeichen: sie werden dankbar. Nicht
lange noch, und sie denken sich Feste aus und stellen Denksteine
ihren alten Freuden auf.
Es sind Genesende!« Also sprach Zarathustra fröhlich zu seinem
Herzen und schaute hinaus; seine Thiere aber drängten sich an
ihn und ehrten sein Glück und sein Stillschweigen.

4.17.2

Plötzlich aber erschrak das Ohr Zarathustra's: die Höhle nämlich,


welche bisher voller Lärmens und Gelächters war, wurde mit Ei-
nem Male todtenstill; - seine Nase aber roch einen wohlriechen-
den Qualm und Weihrauch, wie von brennenden Pinien-Zapfen.
»Was geschieht? Was treiben sie?« fragte er sich und schlich zum
Eingange heran, dass er seinen Gästen, unvermerkt, zusehn kön-
ne. Aber, Wunder über Wunder! was musste er da mit seinen eig-
nen Augen sehn!
4.17. DIE ERWECKUNG 289

»Sie sind Alle wieder fromm geworden, sie beten, sie sind toll!« -
sprach er und verwundene sich über die Maassen. Und, fürwahr!,
alle diese höheren Menschen, die zwei Könige, der Papst ausser
Dienst, der schlimme Zauberer, der freiwillige Bettler, der Wan-
derer und Schatten, der alte Wahrsager, der Gewissenhafte des
Geistes und der hässlichste Mensch: sie lagen Alle gleich Kindern
und gläubigen alten Weibchen auf den Knien und beteten den Esel
an. Und eben begann der hässlichste Mensch zu gurgeln und zu
schnauben, wie als ob etwas Unaussprechliches aus ihm heraus
wolle; als er es aber wirklich bis zu Worten gebracht hatte, sie-
he, da war es eine fromme seltsame Litanei zur Lobpreisung des
angebeteten und angeräucherten Esels. Diese Litanei aber klang
also:
Amen! Und Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und
Stärke sei unserm Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit!
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Er trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam
von Herzen und redet niemals Nein; und wer seinen Gott liebt,
der züchtigt ihn.
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Er redet nicht: es sei denn, dass er zur Welt, die er Schuf, immer
Ja sagt: also preist er seine Welt. Seine Schlauheit ist es, die nicht
redet: so bekommt er selten Unrecht.
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Unscheinbar geht er durch die Welt. Grau ist die Leib-Farbe, in
welche er seine Tugend hüllt. Hat er Geist, so verbirgt er ihn; Je-
dermann aber glaubt an seine langen Ohren.
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Welche verborgene Weisheit ist das, dass er lange Ohren trägt
und allein ja und nimmer Nein sagt! Hat er nicht die Welt erschaf-
fen nach seinem Bilde, nämlich so dumm als möglich?
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Du gehst gerade und krumme Wege; es kümmert dich wenig, was
uns Menschen gerade oder krumm dünkt. Jenseits von Gut und
Böse ist dein Reich. Es ist deine Unschuld, nicht zu wissen, was
Unschuld ist.
290 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

- Der Esel aber schrie dazu I-A.


Siehe doch, wie du Niemanden von dir stössest, die Bettler nicht,
noch die Könige. Die Kindlein lässest du zu dir kommen, und wenn
dich die bösen Buben locken, so sprichst du einfältiglich I-A.
- Der Esel aber schrie dazu I-A.
Du liebst Eselinnen und frische Feigen, du bist kein Kostverächter.
Eine Distel kitzelt dir das Herz, wenn du gerade Hunger hast. Darin
liegt eines Gottes Weisheit.
- Der Esel aber schrie dazu I-A.

4.18 Das Eselsfest

4.18.1

An dieser Stelle der Litanei aber konnte Zarathustra sich nicht


länger bemeistern, schrie selber I-A, lauter noch als der Esel, und
sprang mitten unter seine tollgewordenen Gäste.
»Aber was treibt ihr da, ihr Menschenkinder? rief er, indem er die
Betenden vom Boden empor riss. Wehe, wenn euch Jemand An-
deres zusähe als Zarathustra:
Jeder würde urtheilen, ihr wäret mit eurem neuen Glauben die
ärgsten Gotteslästerer oder die thörichtsten aller alten Weiblein!
Und du selber, du alter Papst, wie stimmt Das mit dir selber zu-
sammen, dass du solchergestalt einen Esel hier als Gott anbe-
test?« -
»Oh Zarathustra, antwortete der Papst, vergieb mir, aber in Din-
gen Gottes bin ich aufgeklärter noch als du. Und so ist's billig.
Lieber Gott also anbeten, in dieser Gestalt, als in gar keiner Ge-
stalt! Denke über diesen Spruch nach, mein hoher Freund: du er-
räthst geschwind, in solchem Spruch steckt Weisheit.
Der, welcher sprach »Gott ist ein Geist« - der machte bisher auf
Erden den grössten Schritt und Sprung zum Unglauben: solch
Wort ist auf Erden nicht leicht wieder gut zu machen!
Mein altes Herz springt und hüpft darob, dass es auf Erden noch
4.18. DAS ESELSFEST 291

Etwas anzubeten giebt. Vergieb das, oh Zarathustra, einem alten


frommen Papst-Herzen! -«
- »Und du, sagte Zarathustra zu dem Wanderer und Schatten, du
nennst und wähnst dich einen freien Geist? Und treibst hier sol-
chen Götzen- und Pfaffendienst?
Schlimmer, wahrlich, treibst du's hier noch als bei deinen schlim-
men braunen Mädchen, du schlimmer neuer Gläubiger!«
»Schlimm genug, antwortete der Wanderer und Schatten, du hast
Recht: aber was kann ich dafür! Der alte Gott lebt wieder, Oh Za-
rathustra, du magst reden, was du willst.
Der hässlichste Mensch ist an Allem schuld: der hat ihn wieder
auferweckt. Und wenn er sagt, dass er ihn einst getödtet habe:
Tod ist bei Göttern immer nur ein Vorurtheil.«
- Und du, sprach Zarathustra, du schlimmer alter Zauberer, was
thatest du! Wer soll, in dieser freien Zeit, fürderhin an dich glau-
ben, wenn du an solche Götter-Eseleien glaubst?
Es war eine Dummheit, was du thatest; wie konntest du, du Klu-
ger, eine solche Dummheit thun!
»Oh Zarathustra, antwortete der kluge Zauberer, du hast Recht,
es war eine Dummheit, - es ist mir auch schwer genug geworden.«
- »Und du gar, sagte Zarathustra, zu dem Gewissenhaften des
Geistes, erwäge doch und lege den Finger an deine Nase! Geht
hier denn Nichts wider dein Gewissen? Ist dein Geist nicht zu rein-
lich für diess Beten und den Dunst dieser Betbrüder?«
»Es ist Etwas daran, antwortete der Gewissenhafte und legte den
Finger an die Nase, es ist Etwas an diesem Schauspiele, das mei-
nem Gewissen sogar wohlthut.
Vielleicht, dass ich an Gott nicht glauben darf: gewiss aber ist,
dass Gott mir in dieser Gestalt noch am glaubwürdigsten dünkt.
Gott soll ewig sein, nach dem Zeugnisse der Frömmsten: wer so
viel Zeit hat, lässt sich Zeit. So langsam und so dumm als möglich:
damit kann ein Solcher es doch sehr weit bringen.
Und wer des Geistes zu viel hat, der möchte sich wohl in die
Dumm- und Narrheit selber vernarren. Denke über dich selber
nach, oh Zarathustra!
Du selber - wahrlich! auch du könntest wohl aus Überfluss und
292 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Weisheit zu einem Esel werden.


Geht nicht ein vollkommner Weiser gern auf den krümmsten We-
gen? Der Augenschein lehrt es, oh Zarathustra, - dein Augen-
schein!«
- »Und du selber zuletzt, sprach Zarathustra und wandte sich ge-
gen den hässlichsten Menschen, der immer noch auf dem Bo-
den lag, den Arm zu dem Esel emporhebend (er gab ihm nämlich
Wein zu trinken). Sprich, du Unaussprechlicher, was hast du da
gemacht!
Du dünkst mich verwandelt, dein Auge glüht, der Mantel des Er-
habenen liegt um deine Hässlichkeit: was thatest du?
Ist es denn wahr, was jene sagen, dass du ihn wieder auferweck-
test? Und wozu? War er nicht mit Grund abgetödtet und abge-
than?
Du selber dünkst mich aufgeweckt: was thatest du? was kehrtest
du um? Was bekehrtest du dich? Sprich, du Unaussprechlicher?«
»Oh Zarathustra, antwortete der hässlichste Mensch, du bist ein
Schelm!
Ob Der noch lebt oder wieder lebt oder gründlich todt ist, - wer
von uns Beiden weiss Das am Besten? Ich frage dich.
Eins aber weiss ich, - von dir selber lernte ich's einst, oh Zarathu-
stra: wer am gründlichsten tödten will, der lacht.
»Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tödtet man« - so sprachst
du einst. Oh Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne
Zorn, du gefährlicher Heiliger, - du bist ein Schelm!«

4.18.2

Da aber geschah es, dass Zarathustra, verwundert über lauter


solche Schelmen-Antworten, zur Thür seiner Höhle zurück sprang
und, gegen alle seine Gäste gewendet, mit starker Stimme schrie:
»Oh ihr Schalks-Narren allesammt, ihr Possenreisser! Was ver-
stellt und versteckt ihr euch vor mir!
Wie doch einem jeden von euch das Herz zappelte vor Lust und
Bosheit, darob, dass ihr endlich einmal wieder wurdet wie die
4.18. DAS ESELSFEST 293

Kindlein, nämlich fromm, -


- dass ihr endlich wieder thatet wie Kinder thun, nämlich betetet,
hände-faltetet und »lieber Gott« sagtet!
Aber nun lasst mir diese Kinderstube, meine eigne Höhle, wo heu-
te alle Kinderei zu Hause ist. Kühlt hier draussen euren heissen
Kinder-Übermuth und Herzenslärm ab!
Freilich: so ihr nicht werdet wie die Kindlein, so kommt ihr nicht in
das Himmelreich. (Und Zarathustra zeigte mit den Händen nach
Oben.)
Aber wir wollen auch gar nicht in's Himmelreich: Männer sind wir
worden, - so wollen wir das Erdenreich.«

4.18.3

Und noch einmal hob Zarathustra an zu reden. »Oh meine neuen


Freunde, sprach er, - ihr Wunderlichen, ihr höheren Menschen, wie
gut gefallt ihr mir nun, -
- seit ihr wieder fröhlich wurdet! Ihr seid wahrlich Alle aufgeblüht:
mich dünkt, solchen Blumen, wie ihr seid, thun neue Feste noth,
- ein kleiner tapferer Unsinn, irgend ein Gottesdienst und Esels-
fest, irgend ein alter fröhlicher Zarathustra-Narr, ein Brausewind,
der euch die Seelen hell bläst.
Vergesst die Nacht und diess Eselsfest nicht, ihr höheren Men-
schen! Das erfandet ihr bei mir, Das nehme ich als gutes Wahr-
zeichen, - Solcherlei erfinden nur Genesende!
Und feiert ihr es abermals, dieses Eselsfest, thut's euch zu Liebe,
thut's auch mir zu Liebe! Und zu meinem Gedächtniss!«
Also sprach Zarathustra.
294 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

4.19 Das Nachtwandler-Lied

4.19.1

Inzwischen aber war Einer nach dem Andern hinaus getreten, in's
Freie und in die kühle nachdenkliche Nacht; Zarathustra selber
aber führte den hässlichsten Menschen an der Hand, dass er ihm
seine Nacht-Welt und den grossen runden Mond und die silbernen
Wasserstürze bei seiner Höhle zeige. Da standen sie endlich still
bei einander, lauter alte Leute, aber mit einem getrösteten tapfe-
ren Herzen und verwundert bei sich, dass es ihnen auf Erden so
wohl war; die Heimlichkeit der Nacht aber kam ihnen näher und
näher an's Herz. Und von Neuem dachte Zarathustra bei sich: »oh
wie gut sie mir nun gefallen, diese höheren Menschen!« - aber er
sprach es nicht aus, denn er ehrte ihr Glück und ihr Stillschwei-
gen. -
Da aber geschah Das, was an jenem erstaunlichen langen Tage
das Erstaunlichste war: der hässlichste Mensch begann noch ein
Mal und zum letzten Mal zu gurgeln und zu schnauben, und als
er es bis zu Worten gebracht hatte, siehe, da sprang eine Frage
rund und reinlich aus seinem Munde, eine gute tiefe klare Frage,
welche Allen, die ihm zuhörten, das Herz im Leibe bewegte.
»Meine Freunde insgesammt, sprach der hässlichste Mensch, was
dünket euch? Um dieses Tags Willen - ich bin's zum ersten Male
zufrieden, dass ich das ganze Leben lebte.
Und dass ich so viel bezeuge, ist mir noch nicht genug. Es lohnt
sich auf der Erde zu leben: Ein Tag, Ein Fest mit Zarathustra lehrte
mich die Erde lieben.
»War Das - das Leben?« will ich zum Tode sprechen. »Wohlan!
Noch Ein Mal!«
Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum
Tode sprechen: War Das - das Leben? Um Zarathustra's Willen,
wohlan! Noch Ein Mal!« - -
Also sprach der hässlichste Mensch; es war aber nicht lange vor
Mitternacht. Und was glaubt ihr wohl, dass damals sich zutrug?
Sobald die höheren Menschen seine Frage hörten, wurden sie sich
mit Einem Male ihrer Verwandlung und Genesung bewusst, und
4.19. DAS NACHTWANDLER-LIED 295

wer ihnen dieselbe gegeben habe: da sprangen sie auf Zarathu-


stra zu, dankend, verehrend, liebkosend, ihm die Hände küssend,
so wie es der Art eines Jeden eigen war: also dass Einige lachten,
Einige weinten. Der alte Wahrsager aber tanzte vor Vergnügen;
und wenn er auch, wie manche Erzähler meinen, damals voll süs-
sen Weines war, so war er gewisslich noch voller des süssen Le-
bens und hatte aller Müdigkeit abgesagt. Es giebt sogar Solche,
die erzählen, dass damals der Esel getanzt habe: nicht umsonst
nämlich habe ihm der hässlichste Mensch vorher Wein zu trinken
gegeben. Diess mag sich nun so verhalten oder auch anders; und
wenn in Wahrheit an jenem Abende der Esel nicht getanzt hat,
so geschahen doch damals grössere und seltsamere Wunderdin-
ge als es das Tanzen eines Esels wäre. Kurz, wie das Sprichwort
Zarathustra's lautet: »was liegt daran!«

4.19.2

Zarathustra aber, als sich diess mit dem hässlichsten Menschen


zutrug, stand da, wie ein Trunkener: sein Blick erlosch, seine Zun-
ge lallte, seine Füsse schwankten. Und wer möchte auch errathen,
welche Gedanken dabei über Zarathustra's Seele liefen? Ersicht-
lich aber wich sein Geist zurück und floh voraus und war in weiten
Fernen und gleichsam »auf hohem Joche, wie geschrieben steht,
zwischen zwei Meeren,
- zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wan-
delnd.« Allgemach aber, während ihn die höheren Menschen in
den Armen hielten, kam er ein Wenig zu sich selber zurück und
wehrte mit den Händen dem Gedränge der Verehrenden und Be-
sorgten; doch sprach er nicht. Mit Einem Male aber wandte er
schnell den Kopf, denn er schien Etwas zu hören: da legte er den
Finger an den Mund und sprach: »Kommt!«
Und alsbald wurde es rings still und heimlich; aus der Tiefe aber
kam langsam der Klang einer Glocke herauf. Zarathustra horch-
te darnach, gleich den höheren Menschen; dann aber legte er
zum andern Male den Finger an den Mund und sprach wiederum:
»Kommt! Kommt! Es geht gen Mitternacht!« - und seine Stim-
me hatte sich verwandelt. Aber immer noch rührte er sich nicht
von der Stelle: da wurde es noch stiller und heimlicher, und Alles
horchte, auch der Esel, und Zarathustra's Ehrenthiere, der Adler
296 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

und die Schlange, insgleichen die Höhle Zarathustra's und der


grosse kühle Mond und die Nacht selber. Zarathustra aber legte
zum dritten Male die Hand an den Mund und sprach:
Kommt! Kommt! Kommt! Lasst uns jetzo wandeln! Es ist die Stun-
de: lasst uns in die Nacht wandeln!

4.19.3

Ihr höheren Menschen, es geht gen Mitternacht: da will ich euch


Etwas in die Ohren sagen, wie jene alte Glocke es mir in's Ohr
sagt, -
- so heimlich, so schrecklich, so herzlich, wie jene Mitternachts-
Glocke zu mir es redet, die mehr erlebt hat als Ein Mensch:
- welche schon eurer Väter Herzens-Schmerzens-Schläge abzähl-
te - ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im Traume lacht! die alte tiefe
tiefe Mitternacht!
Still! Still! Da hört sich Manches, das am Tage nicht laut werden
darf; nun aber, bei kühler Luft, da auch aller Lärm eurer Herzen
stille ward, -
- nun redet es, nun hört es sich, nun schleicht es sich in nächtliche
überwache Seelen: ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im Traume
lacht!
- hörst du's nicht, wie sie heimlich, schrecklich, herzlich zu dir
redet, die alte tiefe tiefe Mitternacht? Oh Mensch, gieb Acht!

4.19.4

Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tiefe Brunnen? Die
Welt schläft -
Ach! Ach! Der Hund heult, der Mond scheint. Lieber will ich ster-
ben, sterben, als euch sagen, was mein Mitternachts-Herz eben
denkt.
Nun starb ich schon. Es ist dahin. Spinne, was spinnst du um mich?
Willst du Blut? Ach! Ach! der Thau fällt, die Stunde kommt -
- die Stunde, wo mich fröstelt und friert, die fragt und fragt und
4.19. DAS NACHTWANDLER-LIED 297

fragt: »wer hat Herz genug dazu?


- wer soll der Erde Herr sein? Wer will sagen: so sollt ihr laufen,
ihr grossen und kleinen Ströme!«
- die Stunde naht: oh Mensch, du höherer Mensch, gieb Acht! die-
se Rede ist für feine Ohren, für deine Ohren was spricht die tiefe
Mitternacht?

4.19.5

Es trägt mich dahin, meine Seele tanzt. Tagewerk! Tagewerk! Wer


soll der Erde Herr sein?
Der Mond ist kühl, der Wind schweigt. Ach! Ach! Flogt ihr schon
hoch genug? Ihr tanztet: aber ein Bein ist doch kein Flügel.
Ihr guten Tänzer, nun ist alle Lust vorbei, Wein ward Hefe, jeder
Becher ward mürbe, die Gräber stammeln.
Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Gräber »erlöst doch
die Todten! Warum ist so lange Nacht? Macht uns nicht der Mond
trunken?«
Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt die Leich-
name auf! Ach, was gräbt noch der Wurm? Es naht, es naht die
Stunde, -
- es brummt die Glocke, es schnarrt noch das Herz, es gräbt noch
der Holzwurm, der Herzenswurm. Ach! Ach! Die Welt ist tief!

4.19.6

Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen
Unken-Ton! - wie lang her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit
her, von den Teichen der Liebe!
Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss dir in's Herz,
Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväterschmerz, deine Rede wurde
reif,-
- reif gleich goldenem Herbste und Nachmittage, gleich meinem
Einsiedlerherzen - nun redest du: die Welt selber ward reif, die
Traube bräunt,
298 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

- nun will sie sterben, vor Glück sterben. Ihr höheren Menschen,
riecht ihr's nicht? Es quillt heimlich ein Geruch herauf,
- ein Duft und Geruch der Ewigkeit, ein rosenseliger, brauner Gold-
Wein-Geruch von altem Glücke,
von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, welches singt: die Welt
ist tief und tiefer als der Tag gedacht!

4.19.7

Lass mich! Lass mich! Ich bin zu rein für dich. Rühre mich nicht
an! Ward meine Welt nicht eben vollkommen?
Meine Haut ist zu rein für deine Hände. Lass mich, du dummer
tölpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller?
Die Reinsten sollen der Erde Herrn sein, die Unerkanntesten, Stärk-
sten, die Mitternachts-Seelen, die heller und tiefer sind als jeder
Tag.
Oh Tag, du tappst nach mir? Du tastest nach meinem Glücke? Ich
bin dir reich, einsam, eine Schatzgrube, eine Goldkammer?
Oh Welt, du willst mich? Bin ich dir weltlich? Bin ich dir geistlich?
Bin ich dir göttlich? Aber Tag und Welt, ihr seid zu plump, -
- habt klügere Hände, greift nach tieferem Glücke, nach tieferem
Unglücke, greift nach irgend einem Gotte, greift nicht nach mir:
- mein Unglück, mein Glück ist tief, du wunderlicher Tag, aber
doch bin ich kein Gott, keine Gottes-Hölle: tief ist ihr Weh.

4.19.8

Gottes Weh ist tiefer, du wunderliche Welt! Greife nach Gottes


Weh, nicht nach mir! Was bin ich! Eine trunkene süsse Leier, -
eine Mitternachts-Leier, eine Glocken-Unke, die Niemand versteht,
aber welche reden muss, vor Tauben, ihr höheren Menschen! Denn
ihr versteht mich nicht!
Dahin! Dahin! Oh Jugend! Oh Mittag! Oh Nachmittag! Nun kam
Abend und Nacht und Mitternacht, - der Hund heult, der Wind:
4.19. DAS NACHTWANDLER-LIED 299

- ist der Wind nicht ein Hund? Er winselt, er kläfft, er heult. Ach!
Ach! wie sie seufzt! wie sie lacht, wie sie röchelt und keucht, die
Mitternacht!
Wie sie eben nüchtern spricht, diese trunkene Dichterin! sie über-
trat wohl ihre Trunkenheit? sie wurde überwach? sie käut zurück?
- ihr Weh käut sie zurück, im Traume, die alte tiefe Mitternacht,
und mehr noch ihre Lust. Lust nämlich, wenn schon Weh tief ist:
Lust ist tiefer noch als Herzeleid.

4.19.9

Du Weinstock! Was preisest du mich? Ich schnitt dich doch! Ich


bin grausam, du blutest -: was will dein Lob meiner trunkenen
Grausamkeit?
»Was vollkommen ward, alles Reife - will sterben!« so redest du.
Gesegnet, gesegnet sei das Winzermesser! Aber alles Unreife will
leben: wehe!
Weh spricht: »Vergeh! Weg, du Wehe!« Aber Alles, was leidet, will
leben, dass es reif werde und lustig und sehnsüchtig,
- sehnsüchtig nach Fernerem, Höherem, Hellerem. »Ich will Erben,
so spricht Alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht mich,« -
Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, - Lust will sich selber, will
Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.
Weh spricht: »Brich, blute, Herz! Wandle, Bein! Flügel, flieg! Hin-
an! Hinauf! Schmerz!« Wohlan! Wohlauf! Oh mein altes Herz: Weh
spricht: »vergeh!«

4.19.10

Ihr höheren Menschen, was dünket euch? Bin ich ein Wahrsager?
Ein Träumender? Trunkener? Ein Traumdeuter? Eine Mitternachts-
Glocke?
Ein Tropfen Thau's? Ein Dunst und Duft der Ewigkeit? Hört ihr's
nicht? Riecht ihr's nicht? Eben ward meine Welt vollkommen, Mit-
ternacht ist auch Mittag, -
300 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist
auch eine Sonne, - geht davon oder ihr lernt: ein Weiser ist auch
ein Narr.
Sagtet ihr jemals ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet
ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt,
verliebt, -
- wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals »du ge-
fällst mir, Glück! Husch! Augenblick!« so wolltet ihr Alles zurück!
- Alles von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt,
oh so liebtet ihr die Welt, -
- ihr Ewigen, liebt sie ewig und allezeit: und auch zum Weh sprecht
ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will - Ewigkeit!

4.19.11

Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trun-
kene Mitternacht, will Gräber, will Gräber-Thränen-Trost, will ver-
güldetes Abendroth -
- was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schreck-
licher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beisst in sich, des
Ringes Wille ringt in ihr, -
- sie will Liebe, sie will Hass, sie ist überreich, schenkt, wirft weg,
bettelt, dass Einer sie nimmt, dankt dem Nehmenden, sie möchte
gern gehasst sein, -
- so reich ist Lust, dass sie nach Wehe durstet, nach Hölle, nach
Hass, nach Schmach, nach dem Krüppel, nach Welt, - denn diese
Welt, oh ihr kennt sie ja!
Ihr höheren Menschen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die
unbändige, selige, - nach eurem Weh, ihr Missrathenen! Nach
Missrathenem sehnt sich alle ewige Lust.
Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! Oh
Glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr höheren Menschen, lernt
es doch, Lust will Ewigkeit,
- Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!
4.20. DAS ZEICHEN 301

4.19.12

Lerntet ihr nun mein Lied? Erriethet ihr, was es will? Wohlan! Wohl-
auf! Ihr höheren Menschen, so singt mir nun meinen Rundgesang!
Singt mir nun selber das Lied, dess Name ist »Noch ein Mal«, dess
Sinn ist »in alle Ewigkeit!«, singt, ihr höheren Menschen, Zarathu-
stra's Rundgesang!

Oh Mensch! Gieb Acht!


Was spricht die tiefe Mitternacht?
»Ich schlief, ich schlief -,
»Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
»Die Welt ist tief,
»Und tiefer als der Tag gedacht.
»Tief ist ihr Weh -,
»Lust - tiefer noch als Herzeleid:
»Weh spricht: Vergeh!
»Doch alle Lust will Ewigkeit
»will tiefe, tiefe Ewigkeit!«

4.20 Das Zeichen

Des Morgens aber nach dieser Nacht sprang Zarathustra von sei-
nem Lager auf, gürtete sich die Lenden und kam heraus aus seiner
Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen
Bergen kommt.
»Du grosses Gestirn, sprach er, wie er einstmal gesprochen hatte,
du tiefes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die
hättest, welchen du leuchtest!
Und wenn sie in ihren Kammern blieben, während du schon wach
bist und kommst und schenkst und austheilst: wie würde darob
deine stolze Scham zürnen!
Wohlan! sie schlafen noch, diese höheren Menschen, während ich
wach bin: das sind nicht meine rechten Gefährten! Nicht auf sie
warte ich hier in meinen Bergen.
Zu meinem Werke will ich, zu meinem Tage: aber sie verstehen
nicht, was die Zeichen meines Morgens sind, mein Schritt - ist für
302 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

sie kein Weckruf.


Sie schlafen noch in meiner Höhle, ihr Traum käut noch an meinen
Mitternächten. Das Ohr, das nach mir horcht, - das gehorchende
Ohr fehlt in ihren Gliedern.«
- Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die
Sonne aufgieng: da blickte er fragend in die Höhe, denn er hörte
über sich den scharfen Ruf seines Adlers. »Wohlan! rief er hinauf,
so gefällt und gebührt es mir. Meine Thiere sind wach, denn ich
bin wach.
Mein Adler ist wach und ehrt gleich mir die Sonne. Mit Adlers-
Klauen greift er nach dem neuen Lichte. Ihr seid meine rechten
Thiere; ich liebe euch.
Aber noch fehlen mir meine rechten Menschen!« -
Also sprach Zarathustra; da aber geschah es, dass er sich plötz-
lich wie von unzähligen Vögeln umschwärmt und umflattert hör-
te, - das Geschwirr so vieler Flügel aber und das Gedräng um sein
Haupt war so gross, dass er die Augen schloss. Und wahrlich, einer
Wolke gleich fiel es über ihn her, einer Wolke von Pfeilen gleich,
welche sich über einen neuen Feind ausschüttet. Aber siehe, hier
war es eine Wolke der Liebe, und über einen neuen Freund.
»Was geschieht mir?« dachte Zarathustra in seinem erstaunten
Herzen und liess sich langsam auf dem grossen Steine nieder,
der neben dem Ausgange seiner Höhle lag. Aber, indem er mit
den Händen um sich und über sich und unter sich griff, und den
zärtlichen Vögeln wehrte, siehe, da geschah ihm etwas noch Selt-
sameres: er griff nämlich dabei unvermerkt in ein dichtes warmes
Haar-Gezottel hinein; zugleich aber erscholl vor ihm ein Gebrüll,
- ein sanftes langes Löwen-Brüllen.
»Das Zeichen kommt,« sprach Zarathustra und sein Herz verwan-
delte sich. Und in Wahrheit, als es helle vor ihm wurde, da lag ihm
ein gelbes mächtiges Gethier zu Füssen und schmiegte das Haupt
an seine Knie und wollte nicht von ihm lassen vor Liebe und that
einem Hunde gleich, welcher seinen alten Herrn wiederfindet. Die
Tauben aber waren mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der Lö-
we; und jedes Mal, wenn eine Taube über die Nase des Löwen
huschte, schüttelte der Löwe das Haupt und wunderte sich und
lachte dazu.
4.20. DAS ZEICHEN 303

Zu dem Allen sprach Zarathustra nur Ein Wort: »meine Kinder sind
nahe, meine Kinder« -, dann wurde er ganz stumm. Sein Herz aber
war gelöst, und aus seinen Augen tropften Thränen herab und fie-
len auf seine Hände. Und er achtete keines Dings mehr und sass
da, unbeweglich und ohne dass er sich noch gegen die Thiere
wehrte. Da flogen die Tauben ab und zu und setzten sich ihm auf
die Schulter und liebkosten sein weisses Haar und wurden nicht
müde mit Zärtlichkeit und Frohlocken. Der starke Löwe aber leck-
te immer die Thränen, welche auf die Hände Zarathustra's herab-
fielen und brüllte und brummte schüchtern dazu. Also trieben es
diese Thiere. -
Diess Alles dauerte eine lange Zeit, oder eine kurze Zeit: denn,
recht gesprochen, giebt es für dergleichen Dinge auf Erden keine
Zeit -. Inzwischen aber waren die höheren Menschen in der Höh-
le Zarathustra's wach geworden und ordneten sich mit einander
zu einem Zuge an, dass sie Zarathustra entgegen giengen und
ihm den Morgengruss böten: denn sie hatten gefunden, als sie
erwachten, dass er schon nicht mehr unter ihnen weilte. Als sie
aber zur Thür der Höhle gelangten, und das Geräusch ihrer Schrit-
te ihnen voranlief, da stutzte der Löwe gewaltig, kehrte sich mit
Einem Male von Zarathustra ab und sprang, wild brüllend, auf die
Höhle los; die höheren Menschen aber, als sie ihn brüllen hörten,
schrien alle auf, wie mit Einem Munde, und flohen zurück und wa-
ren im Nu verschwunden.
Zarathustra selber aber, betäubt und fremd, erhob sich von sei-
nem Sitze, sah um sich, stand staunend da, fragte sein Herz, be-
sann sich und war allein. »Was hörte ich doch? sprach er endlich
langsam, was geschah mir eben?«
Und schon kam ihm die Erinnerung, und er begriff mit Einem
Blicke Alles, was zwischen Gestern und Heute sich begeben hat-
te. »Hier ist ja der Stein, sprach er und strich sich den Bart, auf
dem sass ich gestern am Morgen; und hier trat der Wahrsager zu
mir, und hier hörte ich zuerst den Schrei, den ich eben hörte, den
grossen Nothschrei.
Oh ihr höheren Menschen, von eurer Noth war's ja, dass gestern
am Morgen jener alte Wahrsager mir wahrsagte, -
- zu eurer Noth wollte er mich verfuhren und versuchen: oh Za-
rathustra, sprach er zu mir, ich komme, dass ich dich zu deiner
letzten Sünde verführe.
304 KAPITEL 4. VIERTER UND LETZTER THEIL

Zu meiner letzten Sünde? rief Zarathustra und lachte zornig über


sein eigenes Wort: was blieb mir doch aufgespart als meine letzte
Sünde?«
- Und noch ein Mal versank Zarathustra in sich und setzte sich wie-
der auf den grossen Stein nieder und sann nach. Plötzlich sprang
er empor, -
»Mitleiden! Das Mitleiden mit dem höheren Menschen! schrie er
auf, und sein Antlitz verwandelte sich in Erz. Wohlan! Das - hatte
seine Zeit!
Mein Leid und mein Mitleiden - was liegt daran! Trachte ich denn
nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!
Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward
reif, meine Stunde kam: -
Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf, du
grosser Mittag!« - -
Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und
stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.

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