Depression - Volkskrankheit

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PSYCHIATRIE HEUTE

Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln

Prof. Dr. med. Volker Faust

Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesundheit

VOLKSKRANKHEIT DEPRESSION

Aktueller Wissensstand

Depressionen sind so alt wie die Menschheit, nehmen aber offenbar kontinu-
ierlich zu. Dabei stellt sich eine Reihe von Fragen, die die psychiatrischen
Experten zu erforschen und mit konkreten Hilfen zu beantworten suchen.
Nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht zum aktuellen Wissenstand der
„Volkskrankheit Depressionen“, wie sie inzwischen genannt wird zu den The-
men: Häufigkeit, Alter, Verbreitung, insbesondere was soziale Aspekte, re-
gionale Unterschiede, volkswirtschaftliche Konsequenzen, die Gefahr der In-
validität, vor allem aber Depression und Arbeitswelt u. a. anbelangt.

Was wurde bisher erreicht, was Vorbeugungs-, Diagnose-, Therapie- und


Rehabilitations-Programme oder -Projekte anbelangt (Stichworte: Kompe-
tenznetze, Bündnisse, Kampagnen gegen Depressionen)? Wie steht es mit
den Möglichkeiten, Grenzen oder gar Gefahren spezifischer Behandlungsfor-
men: psycho-, sozio- und pharmakotherapeutisch? Was bieten spezialisierte
Depressions-Stationen und Tagesklinken? Welche antidepressiven Medika-
mente werden heute bevorzugt, vor allem was Verträglichkeit, d. h. Neben-
wirkungen, Wechselwirkungen und Therapie-Resistenz anbelangt? Spielt die
körperliche Aktivität tatsächlich eine so bedeutsame Rolle und wenn ja, in
welcher Form? Und schließlich ein Symptom, was in der Regel schamhaft
verschwiegen wird, aber erhebliche zwischenmenschliche Folgen haben
kann: Depressionen und sexuelle Funktionsstörungen – und zwar sowohl
krankheits- als auch arzneimittel-bedingt.

Erwähnte Fachbegriffe:

Depressionen – Depressions-Häufigkeit – Depressions-Alter – Depressions-


Verbreitung – Depressions-Folgen – Depressions-Behandlung – Depressi-
ons-Geschlecht – Kinder-Depression – Jugend-Depression – Erwachsenen-
Depression – Frauen-Depression – Männer-Depression – Krankheits-Last –
Burden of Disease – Global Burden of Disease – Suizidgefahr – Depressi-

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ons-Diagnose – Depressions-Beschwerdebild – Arbeitslosigkeit und Depres-


sion – Einkommen und Depression – Familienstand und Depression – allein-
erziehende Eltern und Depression – allein-erziehende Mutter und Depressi-
on – allein-erziehender Vater und Depression – Partnerschaft und Depressi-
on – Armut und Depression – Ost-West-Unterschied und Depression – So-
zialisierung und Depression – Krankenkassen-Daten und Depression –
volkswirtschaftliche Konsequenzen und Depression – Depressions-Kosten –
Produktions-Ausfall und Depression – Gesundheits-System und Depression
– Arbeitgeber und Depression – Arbeitnehmer und Depression – Arbeitsun-
fähigkeits-Tage und Depression – Erwerbsunfähigkeits-Rente und Depressi-
on – körperliche Krankheit und Depression – depressive Hoch-Risikogrup-
pen – Risikofaktoren und Depression – depressive Warn-Symptome – Invali-
dität und Depression – Früh-Berentung und Depression – Renten-Bezug und
Depression – Wiedereingliederung nach Depression – Stress und Depressi-
on – Arbeits-Stress und Depression – Zeitdruck und Depression – Beloh-
nung und Depression – emotionale Anerkennung und Depression – Burnout
und Depression – Arbeitsplatz-Atmosphäre und Depression – Lärm-Belästi-
gung und Depression – betriebliche Anerkennung und Depression – Arbeits-
platz-Unsicherheit und Depression – Stress-Spirale und Depression – Er-
schöpfungs-Zustand und Depression – Depression und Angststörung – De-
pression und Somatisierungsstörung – Depression und vegetative Labilität –
Kompetenz-Netz gegen Depression und Suizidalität – Öffentlichkeitskampa-
gnen gegen Depressionen – Deutsches Bündnis gegen Depressionen – Eu-
ropean-Alliance-Against-Depression – Depression in der Arztpraxis – De-
pressions-Diagnose – Depressions-Akzeptanz – Compliance – Therapie-
treue – Einnahmezuverlässigkeit – Psychotherapie der Depressionen –
Selbsthilfegruppen – Psychoedukation – Tagesklinik und Depression – De-
pressions-Spezialstation – Depressions-Station – Antidepressiva – Phasen-
prophylaktika – Stimmungs-Stabilisierer – trizyklische Antidepressiva – tetra-
zyklische Antidepressiva – Mono-Amino-Oxidase-Hemmer (MAOI) – Seroto-
nin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) – Serotonin- und Noradrenalin-Wie-
deraufnahme-Hemmer (SNRI) – Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer
(NRI) – Medikamenten-Verträglichkeit – Nebenwirkungen – Begleiterschei-
nungen – Therapie-Resistenz – Lithium – Valproinsäure – Carbamazepin –
Lamotrigin – körperliche Aktivität gegen Depressionen – Sport gegen De-
pressionen – sportliche Vorbeugung gegen Depressionen – Depressionen
und sexuelle Funktionsstörungen – Antidepressiva-Nebenwirkungen und se-
xuelle Funktionsstörungen – Depression und Sexualität – u.a.m.

Depressionen sind so alt wie die Menschheit. Schon das Alte Testament kennt
klassische Beispiele – bis hin zum Suizid (z. B. König Saul). Aber noch keine
Generation hat sich so intensiv mit der Schwermut, der Melancholie, den De-
pressionen bzw. – wie man es heute nennt – den affektiven Störungen be-
schäftigt wie wir. Warum?

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Depressionen nehmen zu – real oder weil wir sie schneller und gezielter er-
kennen, behandeln, ja verhindern können. Und weil sie uns wahrscheinlich die
meiste Angst einjagen – mit Recht. Depressionen gehören nicht nur zu den
quälendsten, sondern auch gefürchtetsten seelischen Krankheiten, wahr-
scheinlich sogar Erkrankungen generell, seelisch, psychosomatisch, psycho-
sozial, körperlich.

Kein Wunder, dass die Depressionen inzwischen auch die Wissenschaft be-
schäftigen, vor allem die Psychiatrie, die alte Seelenheilkunde. Zunehmend
aber auch in der Psychologie, ja in der Soziologie, der Wissenschaft von der
Gesellschaft und damit aus wirtschaftlicher, finanzieller, pädagogischer Sicht.
Bezeichnend ist auch das steigende Interesse aus allen Blickrichtungen, ein-
schließlich Kunst, Literatur, Politik und sogar Sport. Depressionen irritieren
und faszinieren – und weiten sich aus, das ist wohl die alarmierendste Nach-
richt.

Nachfolgend deshalb eine Übersicht, wie sie anlässlich des offiziellen Gedenk-
tages für Depressionen in Europa, dem europäischen Depressions-Tag (EDD)
in Hannover, vorgestellt und in der Fachzeitschrift Psychiatrische Praxis vom
September 2007 zusammengefasst wurde. Im Einzelnen:

HÄUFIGKEIT – ALTER – VERBREITUNG – FOLGEN – BEHANDLUNG

Depressionen enthalten alles, was nicht nur die Menschen in Angst und
Schrecken versetzen kann, auch Gesellschaft, Wirtschaft, Politik fühlen sich
plötzlich verstärkt eingebunden und in der Pflicht. Warum?

Depressionen werden in zunehmendem Maße als folgenreiche Erkrankung


und Belastung für die Volksgesundheit in den (nicht nur westlichen) Industrie-
Nationen erkannt. Sie sind weit verbreitet, nehmen ständig zu, bedrohen mit
einer hohen Rückfallrate und belasten mit verminderter Leistungsfähigkeit und
erheblich verschlechterter Lebensqualität.

Und nicht nur das: Depressionen beeinträchtigen nicht nur auf seelischem,
psychosozialem und psychosomatischem Gebiet (psychosomatisch: seelische
Störungen äußern sich auch körperlich, dann meist ohne organischen
Befund), nein, Depressionen gehen auch mit einer deutlichen psychischen und
somatischen Ko-Morbidität einher, d. h. hier kommt eine Krankheit zur ande-
ren, und zwar sowohl seelisch als auch körperlich. Kein Wunder, dass auch
mit erhöhter und vor allem frühzeitiger Mortalität (Sterblichkeitsziffer) zu rech-
nen ist. Und das nicht nur wegen einer ohnehin erschreckend hohen Suizid-
Gefahr (die meisten Selbsttötungen gehen auf Depressionen zurück), sondern
auch durch das, was man „natürliche Ursachen“ nennt (Einzelheiten später).

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Depressionen sind in den Industrie-Nationen auch die Haupt-Ursache für Be-


hinderungen aller Art. Nach Herz- und Gefäßkrankheiten entfällt auf sie in den
wohlhabenden Staaten der größte Anteil dessen, was die Wissenschaftler
„Burden of Disease“ nennen, also „Krankheits-Last“ generell. Was heißt das
konkret? Nachfolgend eine komprimierte Übersicht, wie sie die Drs. Anke Bra-
mesfeld und F. W. Schwartz von der Abteilung für Epidemiologie, Sozialmedi-
zin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hanno-
ver in der Psychiatrischen Praxis S 3/2007 zusammenfassen:

Jeder Zehnte?

Nach Angaben des Bundesgesundheitssurveys wurden im Jahr 1998/99 in


Deutschland innerhalb eines Jahres 11% der hiesigen Bevölkerung im Alter
von 18 bis 65 Jahren von einer Depression heimgesucht. Frauen doppelt so
häufig wie Männer. Daran hat sich nichts Wesentliches geändert. Vor allem:
Mehr als ein Drittel der Betroffenen leidet bereits zum wiederholten Male an ei-
ner depressiven Episode, 40% an einer Dysthymie (leichteren, aber langfristi-
gen depressiven Verstimmung). Das heißt, für mindestens die Hälfte der Bun-
desbürger, die von einer Depression betroffen sind, handelt es sich um eine
wiederholte oder gar chronische, d. h. unter Umständen lebenslange Belas-
tung.

Während Kinder (noch?) sehr selten erkranken, obgleich es natürlich auch De-
pressionen im Kindes- und vor allem Jugendalter gibt (siehe das spezielle Ka-
pitel in dieser Serie), steigt die Prävalenz (Häufigkeit) depressiver Störungen
ab der Pubertät deutlich an. Doch die meisten depressiv Erkrankten finden
sich im mittleren Erwachsenenalter. Das überrascht, denn eigentlich glauben
die meisten einen Erkrankungsgipfel im höheren Lebensalter zu registrieren.
Doch im Rentenalter geht die Häufigkeit wieder zurück. Das heißt: Die besten
Jahre sind in diesem Fall wahrhaftig nicht die besten.

Mehr Depressionen im höheren Lebensalter?

Nun gibt es aber für diese Erkenntnis Ausnahmen, die jedoch einer besonde-
ren Prüfung bedürfen: In der Analyse von bestimmten Krankenkassen-Daten
findet sich nämlich in den Altersgruppen 70 bis über 90 eine zunehmende
Häufigkeit der ambulant gestellten Diagnose „Depression“. Im Jahre 2004 wa-
ren das fast ein Viertel der erfassten 80-jährigen und älteren Frauen und rund
jeder zehnte Mann im gleichen Alter. Das wäre natürlich deutlich mehr als in
den mittleren Lebensjahren. Doch die Experten winken ab. Ambulant heißt ja
in der Praxis, zumeist wohl des Hausarztes. Eine solche Depression kann also
nicht so schwer und riskant (Suizidgefahr!) sein, dass sie stationär behand-
lungsbedürftig wäre. Deshalb nennt man so etwas auch „subklinisch“, d. h.
letztlich grenzwertig, unter dem üblichen Leidens-Niveau liegend, was eine

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Depressions-Diagnose ansonsten rechtfertigt. Dass es den Betroffenen trotz-


dem nicht gut geht, ist ein anderes Thema.

Wissenschaftlich gesehen muss man aber schon bestimmte Kriterien, also


kennzeichnende Merkmale für eine objektivierbare Depression zugrunde le-
gen. Und dies hat im höheren Alter seine eigenen Schwierigkeiten, auf die hier
nicht näher eingegangen werden kann. Auf jeden Fall sind die Experten der
Meinung, dass es sich auch um so genannte falsch positiv diagnostizierte De-
pressionen gehandelt haben könnte, zumindest in der hausärztlichen Praxis
(wo die Psychiater mit ihren eigenen Diagnose-Bedingungen rund 11% De-
pressionen feststellen).

Umgekehrt aber gibt es immer mehr Hochbetagte, und hier liegt die Depressi-
ons-Rate vor allem in den Heimen deutlich höher, weshalb sich die Experten
letztlich zurückhalten, was den „Sonderfall des depressiven Mitbürgers im drit-
ten oder gar vierten Lebensalter“ anbelangt, wie man dies im Rahmen der
wachsenden Lebenserwartung heute nennt. Es herrscht also noch For-
schungsbedarf.

Soziale Aspekte

Auch die Arbeitslosigkeit ist in aller Munde. Deshalb stellt sich die Frage: Kann
Arbeitslosigkeit zu einer Depression beitragen?

In der Tat haben arbeitslose Menschen in Deutschland ein etwa doppelt so ho-
hes Risiko an einer Depression zu erkranken wie der Durchschnitt. Auch soll
das Risiko für Mitbürger mit geringerem Einkommen erhöht sein. Auch hier
muss noch weiter untersucht werden.

Viel zu wenig Beachtung haben aber bisher der Familienstand, ja, sogar die
Elternschaft gefunden: So haben allein erziehende Eltern zwischen 18 und 49
Jahren ein doppelt so hohes Depressions-Risiko wie Eltern in Partnerschaft
oder Singles ohne Kinder.

Besonders dramatisch sind die Verhältnisse für arbeitslose Mütter und Väter.
Sie haben im Vergleich zu vollbeschäftigten Eltern ein um das 4-fache er-
höhte Depressions-Risiko. Und jene, die teilzeit-beschäftigt oder nicht im Er-
werbsleben stehen, sind immer noch um das doppelte höher gefährdet als
Vollbeschäftigte.

Dagegen ist das Risiko für kinderlose Mitbürger in vergleichbarer Arbeitssitua-


tion nicht erhöht, jedenfalls nicht signifikant, d. h. statistisch gesichert.

Fazit: Diese Befunde weisen nicht nur auf den Zusammenhang von Depressi-
on und sozialer Ungleichheit hin, sondern auch auf die größere psychische

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Vulnerabilität, d. h. seelische und psychosoziale Verwundbarkeit jener Eltern,


deren Alltagssituation sich durch Fehlen der Arbeit (und damit Einkommen)
oder fehlende Partnerschaft verschärft (was in Deutschland ebenfalls mit ei-
nem relevanten Armuts-Risiko verbunden ist).

Regionale Unterschiede

Interessanterweise finden sich in einer so wohlhabenden und letztlich sozial


abgesicherten Nation wie Deutschland auch regionale Unterschiede mit offen-
sichtlich psychosozialem Hintergrund. Dabei gilt es auch einige Überraschun-
gen hinzunehmen, jedenfalls hätte man sich derlei vielleicht auch anders vor-
gestellt:

Sowohl in dem erwähnten Bundesgesundheitssurvey (1998) als auch in den


ambulanten Krankenkassen-Daten für das Jahr 2004 finden sich depressive
Störungen bzw. ambulante Depressions-Diagnosen in den neuen(!) Bundes-
ländern deutlich seltener, d. h. um 40% niedriger als in den alten.

Einzelheiten, insbesondere detaillierte Erklärungs-Ansätze würden hier zu weit


führen, doch zeigt sich dieser interessante Ost-/West-Unterschied nicht nur in
der Depressions-Häufigkeit, sondern auch in anderen epidemiologischen Da-
ten zu Häufigkeit und Einfluss bestimmter Aspekte in gesellschaftlicher, ge-
sundheitlicher u. a. Sicht.

Hier diskutieren die Experten vor allem (politisch) unterschiedliche Sozialisie-


rungs-Folgen, also was den Prozess der Einordnung des Einzelnen in die je-
weilige Gesellschaftsstruktur anbelangt.

Wie steht es mit rascher Diagnose und Therapie?

Wenn schon so viele Menschen von einer ernsten, vor allem quälenden
Schwermut heimgesucht werden, haben sie dann auch die Möglichkeit einer
raschen Diagnose und gezielten Therapie? Und – auch wenn es sonderbar
klingt – merken sie auch, dass sie eine Depression haben? Und wenn ja, nut-
zen sie die bestehenden Möglichkeiten?

Hier spielen viele Faktoren mit herein, auf die hier nicht näher eingegangen
werden kann. Eines aber steht fest: Nur die Hälfte aller Betroffenen (in einigen
mitteleuropäischen Nationen sind es sogar noch weniger als bei uns), also nur
die Hälfte aller Depressiven bekommt eine so genannte professionelle Be-
handlung auf Grund ihrer psychischen Probleme. Das geht aus einer Reihe
von Untersuchungen mit ganz unterschiedlichem Ansatz hervor.

Grundlage der ärztlichen Behandlung ist der Hausarzt, der in einer begrenzten
Zahl der Fälle an den Facharzt, also Psychiater und Nervenarzt überweist

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(dieser Prozentsatz ist offenbar nicht ganz einfach herauszurechnen, weshalb


hier auf entsprechende Prozent-Angaben verzichtet wird). Fast zwei Drittel er-
halten Medikamente, also Antidepressiva mit stimmungsaufhellender Wirkung,
rund jeder vierte Depressive eine Psychotherapie, also Behandlung mit seeli-
schen Mitteln.

Entsprechende Krankenkassen-Daten weisen darauf hin, dass jeder zweite


der ambulant versorgten Depressiven eine Psycho- und/oder Pharmakothera-
pie verschrieben bekomme. Über die Dosierung und durchschnittliche Länge
der Behandlung gibt es keine ausreichenden Daten.

Im Querschnitt zeigt sich allerdings, dass vor allem junge und alte Patienten
deutlich niedrigere Behandlungs-Raten aufweisen. Diese erstaunliche Er-
kenntnis mag bei Kindern und Jugendlichen nachvollziehbar sein, vor allem
was Medikamente anbelangt. Doch dort ist auch die Psychotherapie-Quote
bedenklich gering. Das sollte zu denken geben, mahnen die Experten A. Bra-
mesfeld und F.W. Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover.

Noch weniger nachvollziehbar sind die erheblich niedrigeren Therapie-Raten


der älteren Depressiven. Sie erhalten nur in etwa einem Drittel der Fälle eine
adäquate Antidepressiva-Medikation. Kommen sie dafür eher in den Genuss
einer Psychotherapie? Das schwer vermittelbare Ergebnis:

Männer wie Frauen jenseits des 60. Lebensjahres mit einer Depression be-
kommen praktisch keine Psychotherapie mehr verordnet, obgleich ansons-
ten gerade in Deutschland hier nicht gespart wird. Ältere Depressive schei-
nen aber aus diesem Raster herauszufallen, man konzentriert sich auf die
mittleren Lebensjahre.

Spielen hier finanzielle Überlegungen eine Rolle? Das leitet zum nächsten Ka-
pitel über, nämlich

Volkswirtschaftliche Konsequenzen

Die direkten jährlichen Kosten einer Depressions-Behandlung liegen in etwas


im Größenbereich anderer Volkskrankheiten, und die sind bekanntlich teuer
(die erwähnte „Krankheits-Last“ für die Allgemeinheit). Sie schwanken je nach
Erhebung zwischen rund 2.000 und 4.000 Euro. So gesehen würde man mei-
nen, dass sich gerade die Depressionen mit ihren volkswirtschaftlichen Konse-
quenzen einigermaßen in Grenzen halten, gemessen an den Ausgaben für an-
dere Leiden mit deutlich höheren Kosten. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.
Denn gerade ausländische Studien weisen darauf hin, dass die meisten Kos-
ten außerhalb des Gesundheits-Systems entstehen, beispielsweise durch Pro-
duktivitäts-Ausfall.

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Tatsächlich haben Arbeitnehmer mit einer depressiven Störung etwa doppelt


so viele Fehl-Tage wie nicht-depressive Mitbürger. Menschen, die an einer
Dysthymie leiden (der erwähnten leichteren Dauer-Verstimmung), sind sogar
mehr als drei Mal so häufig abwesend. Und schließlich: Die durch Depressio-
nen bedingten Arbeitsunfähigkeits-Tage haben in Deutschland in den letzten
Jahren kontinuierlich zugenommen. Im Jahre 2004 waren sie die häufigste
Diagnose für eine Erwerbsunfähigkeits-Rente. Damit haben sie die Skelett-Er-
krankungen (Wirbelsäule und Gelenke) von deren Spitzen-Position verdrängt.

Depressionen sind demnach ein volkswirtschaftlich ernsthafter Belastungsfak-


tor, der uns auch in Zukunft noch beschäftigen wird, wahrscheinlich mehr denn
je.

Und wie geht es weiter?

Das wäre schon die Grundlage zum Thema: Perspektiven. Tatsächlich nimmt
die Bedeutung von Depressionen ständig zu. Ob dies mit einer Häufigkeits-Zu-
nahme dieser Erkrankung zusammen hängt, bleibt fraglich. Bedeutsam ist
auch eine bevölkerungs-medizinische Verschiebung entsprechender Krank-
heits-Ursachen, und dies nicht zuletzt durch eine gestiegene Lebenserwar-
tung. In kardio-vaskulärer Hinsicht (also Herz-Kreislauf-System) zeichnen sich
erfreuliche Erfolge ab (dafür muss man mit mehr kognitiven Problemen im hö-
heren Lebensalter rechnen, bis hin zum Stichwort: Alzheimer Demenz).

Doch auch die Depressionen könnte man bis zu einem gewissen Grade in den
Griff bekommen, geben die Experten zu bedenken. Vor allem die generelle
„Krankheits-Last“ sei um maximal die Hälfte reduzierbar. Das setzt allerdings
eine optimierte Versorgung einschließlich Langzeittherapie voraus.

Voraussetzung hierfür wäre, dass mindestens zwei Drittel der depressiv er-
krankten Mitbürger erfasst und nach professionellen Kriterien behandelt wer-
den. Dabei ist die Akut-Therapie nur die eine Seite; danach muss eine Lang-
zeit-Behandlung folgen, sei es mit Antidepressiva, Phasenprophylaktika (so
genannte Stimmungs-Stabilisierer auf längere Frist) oder Psychotherapie.

Das Wunschziel aus wirtschaftlicher Sicht (Stichwort: Einspar-Potentiale) sind


schnelle Erfassung und damit kürzere Krankheitsdauer, seltenere Kranken-
haus-Aufenthalte sowie reduzierte Rückfallquote.

Das könnte die eine Seite sind. Die andere sind Gesundheitsförderung gene-
rell und gezielte Vorbeugung. Hier muss man sich vor allem auf so genannte
Hoch-Risikogruppen konzentrieren, bei denen mehrere Risikofaktoren zusam-
men fallen. Und man sollte auf depressive Warn-Symptome achten und sie
dann auch rechtzeitig in den Griff zu bringen versuchen (Stichwort: kognitive
verhaltenstherapeutische Interventionen, niederschwellig angeboten und dafür

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für die breite Masse zugänglich). Erfolgreiche Beispiele gibt es bereits, z. B. in


den Niederlanden und in Australien.

Wem jetzt nicht gleich bestimmte Hoch-Risikogruppen einfallen, der blättere


noch einmal zurück und stelle fest, dass er – rein statistisch gesehen – von
solch besonders belasteten Mitmenschen gar nicht so selten umgeben ist. Da
diese aber andere Sorgen zu haben scheinen, als sich um eine mögliche De-
pression im Vorfeld zu kümmern, könnte es sinnvoll sein, dass die Besser-Ge-
stellten ihnen dezent entgegen kommen, unter die Arme greifen, unauffällige
Hilfestellung leisten. Das wäre dann nicht nur ein volkswirtschaftlich sinnvoller
Schritt, sondern auch eine menschliche Geste.

KÖNNEN DEPRESSIONEN INVALIDE MACHEN?

Psychische Krankheiten nehmen zu. Das war einer der ersten, einleitenden
Kern-Sätze, die vor allem die Depressionen betreffen. Psychische Krankheiten
im Allgemeinen und Depressionen im Speziellen haben auch wirtschaftliche
Konsequenzen. Auch das wurde deutlich. Kann es aber soweit gehen, dass
man durch seelische Erkrankungen invalide wird?

Tatsächlich ist der Anteil psychischer Leiden in den Verfahren zur Berentung
auf Grund verminderter Erwerbsfähigkeit seit Jahren steigend. Andererseits
aber scheint es doch so, als ob die Betroffenen immer früher erkannt und ge-
zielter behandelt werden? Gleichwohl: Selbst moderne Behandlungsmaßnah-
men können offenbar diesen Trend nicht beeinflussen. Was sagt also die Sta-
tistik zur Frage: Welche Depressiven werden so schwer und chronisch krank,
dass es in einer Invalidität endet?

Darüber berichten in der Psychiatrischen Praxis S 3/2007 die Experten der Ab-
teilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hoch-
schule Hannover, nämlich Dr. Felix Wedegärtner und Mitarbeiter sowie Nicola-
Alexander Sittaro von der Hannover Rückversicherung AG. Sie schreiben:

Traditionell wurden psychische Erkrankungen lange Zeit nicht als größeres


epidemiologisches Problem angesehen, da sie im Vergleich zu Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und infektiösen Leiden mit geringerer
Mortalität (Sterblichkeitszimmer) verbunden sind. Es war erstmals eine ent-
sprechende Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in ihre Be-
rechnung auch die durch Krankheit verlorenen Lebensjahre einfließen ließ.

Damit verschiebt sich die bisher akzeptierte Krankheits-Last (wie erwähnt als
internationaler Fachbegriff: Global Burden of Disease) ganz erheblich. Näm-
lich:

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Depressionen werden bis 2030 die führende Ursache für die erwähnte Krank-
heits-Last in wohlhabenden Ländern sein. Und weltweit die zweitwichtigste Ur-
sache, in Ländern mit mittlerem und geringem Pro-Kopf-Einkommen nur noch
von HIV/AIDS und teilweise von perinatalen Krankheiten „um die Geburt her-
um“ und Todesfällen übertroffen.

Das wird sich auch in den sozialen Sicherungs-Systemen in ganz Europa nie-
derschlagen. Wie schon erwähnt spielen dabei eine Reihe von Risikofaktoren
eine Rolle wie Alter und Geschlecht, die soziale Situation, körperliche Erkran-
kungen und Behinderungen, wirtschaftliche Einflüsse und negative Lebenser-
eignisse. Unabhängig vom Arbeitsstatus ist es vor allem das mittlere Erwach-
senenalter, das mit den größten Problemen zu rechnen hat (während es jen-
seits des. 7. Lebensjahrzehnts wieder etwas entspannter zugeht).

Depressionen haben aber auf jeden Fall einen besonders schwerwiegenden


Einfluss auf die Erwerbstätigkeit. Dies zum einen bei frühem Auftreten bzw.
bei oft chronisch-rezidivierendem Verlauf mit Rückfällen.

Vorzeitige Berentung durch seelische Erkrankung?

Zwischen 1985 und 2005 hat sich der Anteil der psychischen Erkrankungen an
den Ursachen für eine Früh-Berentung von 10,9 auf 32,5% nahezu verdrei-
facht. Dabei sind die beiden anderen großen Ursachen-Komplexe, nämlich
Herz-Kreislauf und Muskel-Skelett-Erkrankungen deutlich zurückgegangen.
Das geht zum Teil auf eine Veränderung der Erwerbstätigen-Struktur zurück
(d. h. weniger harte „Knochenarbeit“, um es einmal volkstümlich auszu-
drücken), aber auch auf verbesserte Vorbeugungs- und Heilmaßnahmen. Im
Bereich der seelischen Erkrankung ist diese Entwicklung allerdings enttäu-
schend, geben die Experten zu bedenken.

Bedeutungsvoll ist dabei noch die bittere Erkenntnis, dass Menschen, die auf
Grund von psychischen Erkrankungen aus dem Erwerbsleben ausscheiden,
im Durchschnitt deutlich jünger sind als anders Erkrankte. Damit ist nicht nur
eine kürzere Erwerbstätigkeit und ein kürzerer Zeitraum zum Aufbau des eige-
nen Vermögens verbunden, sondern auch ein längerer Renten-Bezug, und
dies oft noch unter deutlich schlechteren Bedingungen.

Das durchschnittliche Berentungs-Alter auf Grund psychischer Erkrankungen


lag 2005 bei 47,2 Jahren (zum Vergleich: Herz-Kreislauf-Erkrankungen:
53,6 Jahre, die so genannten muskulo-skelettalen Erkrankungen, also von
Muskulatur und Knochensystem: 53,3 Jahre). 2004 waren knapp die Hälfte je-
ner Patienten, die auf Grund einer seelischen Erkrankung erstmals berentet
wurden, jünger als 40 Jahre (und zwar sowohl Männer als auch Frauen).

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Affektive Störungen besonders beteiligt

Der Anteil der depressiven Erkrankungen unter den Renten-Neuzugängen we-


gen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Grund psychischer Erkrankungen liegt
derzeit bei über 30% (wobei bipolare affektive Erkrankungen, d. h. manisch-
depressive Störungen nur einen geringen Anteil ausmachen). Depressionen
und neurotische sowie Belastungsstörungen machen derzeit etwas mehr als
die Hälfte aller Frühberentungen auf Grund psychischer Erkrankungen aus.
Dabei überwiegen Frauen so deutlich, dass auch insgesamt mehr Frauen als
Männer auf Grund seelischer Leiden frühberentet werden.

Nach diesen Störungen kommen Persönlichkeitsstörungen (mit immerhin auch


23%, hirnorganische Leiden (etwa 14%), Suchterkrankungen (rund 11%), schi-
zophrene Psychosen (6%) sowie andere seelische Störungen (Rest).

Frauen sind – wie erwähnt – bei Depressionen und neurotischen Störungen


häufiger betroffen, Männer überwiegen bei Suchterkrankungen, Schizophreni-
en und hirnorganischen Leiden.

Was hat auf einen Renten-Bezug Einfluss?

Eine exakte statistische Erfassung mit fundierten Schlussfolgerungen ist gera-


de bei den Renten-Verfahren äußerst schwierig. Auch gibt es dazu nicht allzu
viele Untersuchungen, vor allem mit der gleichen und damit vergleichbaren
Ausgangslage. So verwundert es nicht, dass oft widersprüchliche Ergebnisse
irritieren. Was sich aber immer wieder zu finden scheint, ist folgende Erkennt-
nis:

Der Übergang in den Renten-Bezug scheint mehr oder weniger abzuhängen


von

1. der Länge der depressiven Episode


2. dem Alter
3. dem männlichen Geschlecht und
4. dem Typ der Arbeit, vor allem ungelernt, spezialisiert u. ä.

Im Einzelnen, wie es die Experten der Medizinischen Hochschule Hannover


und der Hannover Rückversicherung zur Diskussion stellen:

Die Wiedereingliederung (Fachbegriff: Re-Integration) am Arbeitsplatz ist – so


die allseits akzeptierte Erkenntnis – umso schwieriger, je länger eine Arbeits-
unfähigkeit andauert. Das findet sich sowohl im seelischen als auch körperli-
chen Krankheitsfall.

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Es gibt aber auch Untersuchungen, die die Schwere der depressiven Episode,
die Anzahl vorangegangener Depressionen und die Wechselwirkung verschie-
dener Erkrankungen (seelisch-körperlich) ohne Einfluss sahen. Das hat aller-
dings auch methodische Gründe, denn solche Statistiken gehen beispielswei-
se auf die Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit zurück, und die muss mit
der alten Erkenntnis fertig werden, dass Menschen in unterschiedlichen sozia-
len Situationen einen ganz unterschiedlichen Anreiz haben, eine solche Be-
scheinigung zu erlangen (Beispiel: Angestellte und Arbeitslose haben einen
völlig anderen Bedarf als Selbstständige und im Haushalt tätige Menschen).
Hier gibt es also noch Forschungsbedarf.

Interessant sind deshalb so genannte psychometrische Studien, in denen Per-


sönlichkeits-Aspekte untersucht werden. Sie sind aber sehr selten und oft
nicht vergleichbar. Bei eingeschränkter Vergleichbarkeit, so die Experten,
scheinen jedoch „geringes Selbstbewusstsein“ bzw. der Grad der „Hoffnungs-
losigkeit“ die spätere Berentung entscheidend mit zu bestimmen.

Auf jeden Fall zeigt sich, dass man frühzeitig eingreifen sollte, wenn sich eine
Depression nicht in absehbarer Zeit aufhellen will. Vor allem sollte man im
Rahmen der Vielfalt depressiver Symptome jene herauszufinden und gezielt
zu behandeln suchen, die in der Arbeitswelt eine Rolle spielen. Darauf soll im
folgenden Beitrag gezielt eingegangen werden.

DEPRESSION UND ARBEITSWELT

In den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Arbeitsgesellschaft in
den industrialisierten Ländern grundlegend gewandelt, beginnt Dr. Hans-Peter
Unger von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios-Kli-
nik Harburg in Hamburg seinen Beitrag in der Psychiatrischen Praxis S
3/2007. Denn in einer Welt, in der scheinbar alles möglich ist und Flexibilität
und Kommunikation die neuen Zauberwörter sind, kann nicht jeder mithalten.
Und so steigt Mitte der 90-er Jahre in den hoch entwickelten Ländern Europas
die Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Erkrankung ständig an, interessan-
ter Weise bei rückläufigen Fehltagen.

Dies geht neben den Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen vor al-


lem auf depressive Störungen zurück, die auf der ganzen Welt eine der füh-
renden Ursachen für Behinderungen und Frühberentung sind. Allerdings lässt
sich das nicht auf einfache Erklärungs-Muster zurückführen. Denn das Ver-
hältnis von Arbeitswelt und Depression ist komplex.

Neben der Familie ist die Arbeit jener Bereich im Leben, der von den meisten
Menschen mit Selbstverwirklichung, Selbstbestätigung, Zufriedenheit und Si-

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cherheit in Verbindung gebracht wird. Und so ist die Beziehung zwischen Ar-
beit und Depression immer doppeldeutig:

„Gute“ Arbeit ermöglicht soziale Kontakte, gibt Selbstvertrauen und Selbstwert


und sichert die Tages- und Lebensstruktur. „Schlechte“ Arbeit kann aber auch
krank machen. Und Arbeitslosigkeit ist einer von mehreren Risikofaktoren, und
nicht der geringste, an einer Depression oder anderen psychischen Störung zu
erkranken, gibt der Autor zu bedenken. Was heißt das konkret?

Stress und depressive Störung

„Stress“ ist zwar in aller Munde, letztlich aber ein recht unspezifischer und vor
allem nicht klar definierter Begriff. Eines der ergiebigsten Stress-Modelle er-
möglicht das Verständnis für die Wechselwirkungen zwischen Umwelt /Arbeits-
platz und Individuum. Dabei steht im Zentrum der Betrachtung ein subjektiver
Bewertungsprozess, d. h. der Einzelne entscheidet auf der Grundlage seiner
persönlichen Vor-Erfahrungen, Ressourcen (Hilfsmittel) und Bewältigungs-
möglichkeiten, d. h. ob er ein Ereignis oder eine Situation für sich als belas-
tend oder gar bedrohlich, als neutral oder sogar als positive Herausforderung
einstuft.

In diesem Zusammenhang gibt es zwei interessante Modelle zum Arbeits-


Stress, und zwar unabhängig von der Art des Berufes oder Arbeitsplatzes.
Dort geht es beispielsweise um die psychischen Anforderungen unter qualitati-
ver und quantitativer Sichtweise wie Arbeitsmenge, Zeitdruck, widersprüchli-
che Arbeitsanforderungen, aber auch die Zusammenarbeit mit Kollegen und
Vorgesetzten.

Als gesundheits-belastender Stress-Faktor wird hier die Kombination aus nied-


rigem Entscheidungs-Spielraum und hohen Anforderungen gesehen. Bedeut-
sam ist zusätzlich der Faktor „soziale Unterstützung“, also wie andere Men-
schen auf die eigenen Bedürfnisse reagieren und eingehen und ob und wie ein
Austausch über Probleme mit anderen möglich ist und damit ggf. Hilfe und Un-
terstützung von außen.

Ein anderes Modell läuft auf eine so genannte „Gratifikations-Krise“ hinaus.


Das bezeichnet ein Ungleichgewicht zwischen geleisteter hoher Verausga-
bung/Leistung und nicht angemessener Belohnung. Letzteres bezieht sich da-
bei nicht nur auf die Bezahlung, sondern auch auf emotionale Anerkennung
und Status, also die Stellung in der entsprechenden Rangordnung.

In beiden Modellen zum Arbeits-Stress fanden sich die entsprechenden Bestä-


tigungen im negativen Fall, und zwar durch erhöhte kardiovaskuläre Mortalität
(Tod durch Herz- und Kreislauferkrankung) sowie leichte bis mittelschwere de-
pressive Störung.

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Wer ist in der Arbeitswelt besonders bedroht?

Wenn man die entsprechende Welt-Literatur durchforstet, dann findet man als
psychische Konsequenzen arbeitsplatz-bezogenen Stresses am häufigsten
„Depression“ und „Burn-out“ genannt. Die meisten Untersuchungen beziehen
sich auf die drei großen Berufsgruppen Fabrikarbeiter, Büroangestellte sowie
Beschäftigte in helfenden oder sozialen Berufen wie Lehrer oder Mitarbeiter im
Gesundheitswesen.

Obwohl diese drei Gruppen sich in ihren Arbeits-Anforderungen und -bedin-


gungen deutlich unterscheiden, scheint doch das „soziale Umfeld“ am Arbeits-
platz am ehesten mit der Entstehung von Depression und Burnout in Verbin-
dung zu stehen.

Besonders belastend sind in allen drei Gruppen konflikthafte Beziehungen zu


Kollegen und Vorgesetzten sowie geringe soziale Unterstützung. Bei den hel-
fenden Berufen treten entsprechende Stress-Faktoren durch ihre – zum Teil
sicher schwierigen – Klienten/Patienten hinzu.

In einer japanischen Studie wurden speziell bei Arbeitern ungenügende Ein-


flussmöglichkeiten auf die Arbeit, unpassende Arbeitsbedingungen und
schlechte oder geringe soziale Beziehungen am Arbeitsplatz als depressiver
Risikofaktor genannt. Außerdem wird eine komplexe, aber deutliche Bezie-
hung zwischen Lärm-Belästigung am Arbeitsplatz und körperlichen so wie psy-
chischen Symptomen beschrieben, was allerdings nicht jeden gleich trifft.
Denn in einer amerikanischen Studie fand man, dass depressiv erkrankte Ar-
beiter, die trotz Erkrankung arbeitsfähig bleiben, sich von ihren depressiven ar-
beitsunfähigen Kollegen durch gute körperliche Gesundheit und ein höheres
Ausbildungsniveau unterschieden.

Für Angestellte wurden in mehreren Studien folgende Risiko-Faktoren mit psy-


chischen Gesundheitsstörungen in Verbindung gebracht: Zwischenmenschli-
che Konflikte am Arbeitsplatz, hohe Anforderungen im Job bei geringer sozia-
ler Unterstützung, Veränderung eingespielter Arbeitsabläufe, Missverhältnis
zwischen geforderter Arbeitsleistung und betrieblicher Anerkennung, Unsicher-
heit des Arbeitsplatzes, Rückstufung, aber auch schnelles Wachstum im Be-
trieb mit entsprechenden Anforderungen u. a.

Speziell bei Managern drohen depressive Reaktionen bei fehlender Entschei-


dungs-Autonomie, Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit der eigenen Rolle permanen-
ter Arbeitsbelastung.

Spielt dabei auch die Persönlichkeitsstruktur eine Rolle? Sicherlich, und zwar
in beide Richtungen. Die jeweilige Wesensart kann sowohl ein unabhängiger
Risikofaktor für Depression und Burnout werden, aber auch stress-neutralisie-
rend und damit depressions- und burn-out-verhindernd wirken. Das zeigt sich

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schon in der Auswahl des jeweiligen Jobs und am Schluss in den ge- oder
misslungenen Bewältigungs-Strategien.

Affektive Störung und Arbeits-Produktivität

Es kam schon mehrfach zur Sprache: Arbeitsunfähigkeit auf Grund psychi-


scher Belastungen/Störungen nimmt in den wirtschaftlich hoch entwickelten
Ländern beständig zu. In den USA gehen die Kosten in die Milliarden, ein Drit-
tel als direkte Behandlungskosten und zwei Drittel durch Arbeitsunfähigkeit
und Produktivitätsverlust (drei Mal soviel wie bei nicht-depressiven Erkrankun-
gen). Dabei sind die Kosten für die Berentung noch nicht einmal berücksich-
tigt.

Dabei erstaunt auf den ersten Blick (nicht hingegen bei längerem Nachden-
ken), dass die meisten Probleme nicht die Fehltage, sondern der Produktivi-
täts-Verlust trotz Anwesenheit am Arbeitsplatz ausmachen. Inzwischen gibt es
bereits konkrete Bemühungen, diesem Dilemma direkt, d. h. am Arbeitsplatz
selber konstruktiv und damit kosten-senkend zu begegnen.

Denn in einer weiteren Studie konnte man zeigen, dass depressiv erkrankte
Arbeitnehmer gegenüber einer gesunden Kontrollgruppe in folgenden Berei-
chen eine deutlich herabgesetzte Leistungsfähigkeit zeigen: zwischenmensch-
liche Kontakte bzw. Aufgaben, zeit- und aufgaben-gerechte Fertigstellung der
Arbeitsaufträge, sinnvolles Zeit-Management sowie körperliche Bewältigung
der Arbeit. Es geht also vor allem um Einbußen in den Punkten „zeit-nah“,
d. h. möglichst schnell und dabei ausreichend effektiv.

Was kann man tun?

Als erstes gilt es eine kausale Beziehung zwischen Stress am Arbeitsplatz und
drohender Depression zu erkennen und dann auch konsequent zu neutralisie-
ren. Primäre Interventionen beziehen sich also vor allem auf innerbetriebliche
Organisationen und Strukturen, sekundär auf eine Verbesserung von Stress-
Management und Stress-Bewältigung. Auf einer dritten Ebene sollten jene Ar-
beitsnehmer identifiziert und unterstützt werden, die sich im Rahmen einer
Stress- oder Erschöpfungs-Spirale befinden oder gar an einer eindeutigen De-
pression erkrankt sind.

Die Ergebnisse sind zum Teil sehr unterschiedlich, offensichtlich besteht noch
Forschungsbedarf bei einer allerdings komplexen „Mensch-Betrieb-Konstella-
tion“. Auch gibt es sicher einen Zwischenraum zwischen Gesundheit und ein-
deutiger körperlicher oder seelischer Erkrankung, und zwar mit eigenem Be-
schwerdebild wie Erschöpfung, Anspannung, Reizbarkeit, Apathie, Schlafstö-
rungen, Gemütslabilität, Problem-Grübeln, Konzentrationsstörungen und einer

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Reihe körperlicher Beschwerden, teils psychosomatisch interpretierbar, teils


an eigenen Schwachpunkten ansetzend.

Andere erleiden klar definierte psychische Krankheiten wie Depression oder


Angststörung, eine dritte Gruppe gerät in eine so genannte Somatisierungsstö-
rung (früher als vegetative Labilität oder Dystonie bzw. auch „nur“ als Befind-
lichkeits-Störung abgetan). Das alles hängt von der jeweiligen Vulnerabilität
(Verwundbarkeit, Anfälligkeit, Empfänglichkeit) für die erwähnten Leiden ab,
seien sie seelischer oder körperlicher Natur oder gar von beiden Seiten unter
Druck.

Gerade zur Frage Stress-Folgen oder Depression (wenn auch stress-induziert)


sollte es öfter zur engen Zusammenarbeit zwischen Arbeitsmedizin und psych-
iatrischen bzw. psychosomatisch orientierten Experten kommen, um den psy-
chosozialen Anforderungen der modernen Arbeitswelt gerechter zu werden.
Wenn das funktioniert, kann man auch die Kosten senken – und das ist ja ne-
ben dem persönlichen Leid inzwischen der wichtigste Faktor im Geschäftsle-
ben geworden.

PROGRAMME – PROJEKTE – BÜNDNISSE –


KAMPAGNEN GEGEN DEPRESSION

Depressionen sind so als wie die Menschheit. Man kann es nicht oft genug be-
tonen. Aber – und jetzt wird das Ganze dann doch brisant –, die große medizi-
nische und gesundheitspolitische Bedeutung depressiver Erkrankungen wird
erst in den letzten Jahren, bestenfalls zwei Jahrzehnten deutlich. Dabei wei-
sen die aktuellen Daten aus den Gesundheitsberichten der Krankenkassen die
psychischen Erkrankungen generell als inzwischen viert-häufigste Ursache für
Krankheitstage aus. Betrachtet man die Arbeitsunfähigkeitstage genauer, steht
die Diagnose „Depressive Episode“ neben allgemeinen Verletzungen und hin-
ter Rückenschmerzen und akuten Atemwegsinfektionen an dritter Stelle.

Viele depressive Erkrankungen bleiben auch unerkannt, vor allem bei erstmali-
gem Auftreten. Ein großer Teil der Betroffenen kommt erst gar nicht mit dem
dafür zuständigen Versorgungssystem in Kontakt. Gehen die Depressiven
zum Hausarzt, dann wird die Diagnose häufig erschwert von einer Überlage-
rung des seelischen Leidensbildes durch körperliche Beschwerden wie Schlaf-
störungen, diffuse Schmerzen, Erschöpfungszustände u. a. Dies führt dazu,
dass schätzungsweise nur jeder zweite depressive Patient in der hausärztli-
chen Praxis korrekt diagnostiziert wird. Und wird die Depression als solche er-
kannt, wird sie nicht immer nach den Regeln der ärztlichen Kunst behandelt,
beginnen Prof. Dr. U. Hegerl und Frau Dr. Rita Schäfer von der Klinik und Poli-

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klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig ihren Beitrag in der Psychiatri-
schen Praxis S 3/2007.

Inzwischen gibt es eine Reihe von Pilotprojekten gegen die Depression. Eines
der bekanntesten ist das „Nürnberger Bündnis gegen Depression“, ein vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Kompetenznetz ge-
gen Depression und Suizidalität (www.kompetenznetz-depression.de). Das
Programm bietet mit vielerlei Anregungen, Beiträgen und konkreten Hilfen eine
bessere Kooperation mit niedergelassenen Allgemeinmedizinern und Hausärz-
ten, eine gezielte Öffentlichkeitskampagne mit professionellem Public-Relati-
on-Konzept, die Kooperation mit den unersetzlichen Multiplikatoren (Lehrer,
Polizisten, Seelsorger, Beratungsstellen-Mitarbeiter, Altenpflegekräfte, Heil-
praktiker und natürlich mit den Medien) sowie Angebote und Unterstützung für
Betroffene und Angehörige.

Nachdem sich unbestreitbare Fortschritte objektivieren ließen (z. B. ein Rück-


gang der suizidalen Handlungen um über 19%, nach dem zweiten Jahr um
24%), bekundeten auch andere Regionen und Städte im In- und Ausland ihr
Interesse an diesem Programm. Deshalb gründete sich Ende 2002 der überre-
gionale Verein „Deutsches Bündnis gegen Depression e.V.“, der mit den Kon-
zepten der Pilotstudie seine eigenen lokalen Aktivitäten starten konnte.

Inzwischen sind bereits 40 Bündnisse gegen Depression entstanden (weitere


Partner in einigen deutschsprachigen Kantonen der Schweiz, z. B. Zug, Bern,
ferner in Südtirol, Tirol u. a.).

Dabei wurden auch bestimmte Schwerpunkte berücksichtigt, z. B. Depression


bei Menschen mit Migrationshintergrund, Depression im Kindes- und Jugend-
alter, postpartale Depression (nach der Schwangerschaft) oder Depression im
Arbeitsleben usw.

Unterstützt und nach außen getragen werden diese Aktivitäten unter anderem
durch eine gemeinsame Internet-Präsenz (www.buendnis-depression.de) mit
den Portraits aller lokalen Kampagnen und einer aktuellen Darstellung ihrer
Aktivitäten, Angebote, Online-Selbsthilfe-Forum usw. (knapp 6.000 registrierte
Nutzer und über 180.000 Einträge, das größte zum Thema im deutschsprachi-
gen Raum). Natürlich hilft dies auch der Depressions-Forschung („Forschungs-
netz Psychische Gesundheit“).

Seit 2004 wird auch im Rahmen des Public-Health-Programms der Europäi-


schen Kommission die European Alliance Against Depression (www.eaad.net)
gefördert, ein Netzwerk von 19 internationalen Partnern aus 17 verschiedenen
Ländern. Sie wird von der Europäischen Kommission in ihrem 2005 veröffent-
lichten „Grünbuch: Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern –
Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in
der Europäischen Union“ als erfolgreiches Beispiel genannt.

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DIE BEHANDLUNG DEPRESSIVER MENSCHEN IN DER PRAXIS

Der Hausarzt ist die Grundlage der medizinischen Versorgung in unserer Zeit
und Gesellschaft. Das gilt auch für seelische Störungen im Allgemeinen und
Depressionen im Speziellen. Letztere nehmen in den vergangenen zwei bis
drei Jahrzehnten kontinuierlich zu. Das geht zum einen auf eine verbesserte
Diagnose zurück, d. h. rechtzeitig erkennen, vor allem aber akzeptieren (s. u.)
und dann gezielt und konsequent behandeln. Es sind aber auch die veränder-
ten, depressions-auslösenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die
sich z. B. in fehlenden familiären und sozialen Bindungen niederschlagen, in
der Zunahme von Arbeitslosigkeit oder der Entwurzelung von Migranten, die
nicht unerheblich dazu beitragen, dass sich die einstige Melancholia zur Volks-
krankheit entwickeln konnte. Deren adäquate Überwindung ist letztlich wohl
nur durch die Schaltstelle „hausärztliche Praxis“ zu bewältigen.

Dort ist erst einmal zu klären, ob es bei den geschilderten Symptomen, die ja
meist recht unspezifisch sind, um Befindlichkeitsstörungen oder bereits um
eine Depression handelt. Beispiele: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit mit Ge-
wichtsabnahme, Lustlosigkeit, uncharakteristische Schmerzen u. a. Wie auch
immer: Das hausärztliche Gespräch, die so genannte kleine Psychotherapie,
und danach begleitende Maßnahmen, etwa im Bereich der Physiotherapie
(Massage, Gymnastik, körperliche Aktivität), der Entspannungstherapie oder
sozialen Beratungen scheinen in vielen Fällen ausreichend, um den Betroffe-
nen aufzufangen.

Manchmal ist eine solche Entscheidung aber sehr schwer; hier ist eine beson-
dere Sensibilität des Arztes für psychische Auffälligkeiten gefordert. Denn soll-
te seine Behandlungsstrategie nicht genügen, muss man an eine Kombinati-
ons-Therapie denken, bestehend aus Krisen-Intervention, Psychotherapie
(also der Behandlung mit seelischen Mitteln) und Pharmakotherapie mit den
hierfür zuständigen Medikamenten.

Wie stellt sich nun der Umgang mit depressiven Patienten in der Praxis dar?
Dazu die Ausführungen der Ärztinnen Drs. Cornelia Goesmann, Astrid Bühren
und Astrid Neuy-Bartmann, niedergelassene Fachärztinnen für Allgemeinme-
dizin bzw. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Hannover, Mur-
nau und Aschaffenburg in der Psychiatrischen Praxis S 3/2007.

Der depressiv Kranke in der Praxis

- Als Erstes geht um die Diagnose. Mit gezielten Fragen ist die gerade bei
der Depression meist nicht schwer zu stellen. Dabei können auch bestimmte

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Fragebögen hilfreich sein. Das Ganze steht und fällt aber mit dem Erst-Ge-
spräch, d. h. dem Aufbau des notwendigen Vertrauens. Dazu benötigt der Pa-
tient Empathie, d. h. Zuwendung, Interesse und Anteilnahme. Schließlich geht
es um belastende Lebensereignisse, Vor-Erkrankungen, familiäre Krankheits-
belastungen sowie schuld- und schamhaft erlebte Lebenssituationen – keine
einfache Situation, möglicherweise noch mit einem mehr oder weniger frem-
den Menschen, auch wenn er der selbst gewählte Arzt ist.

- Fast noch wichtiger als die Diagnose ist die Akzeptanz der Krankheit, und
dazu noch einer seelischen. Den meisten Patienten wäre ein organisches Lei-
den lieber, weil sie sich dadurch weniger stigmatisiert fühlen. Noch immer erle-
ben die Betroffenen seelische Erkrankungen vorwiegend als schuldhaftes Ver-
sagen und fürchten eine Tabuisierung und Ausgrenzung.

Das heißt, der Therapeut muss sich mit den Zweifeln und Widerständen des
Patienten auseinander setzen. Es darf ruhig einmal ausgesprochen werden:
Seelische Patienten sind durchaus schwierige Kranke, zumindest aber an-
strengende. Das geht nicht zuletzt auf ihre tiefe Verunsicherung zurück, insbe-
sondere dann, wenn sie voller Misstrauen sind und keine Entscheidungen
mehr treffen können. Problem-Grübeln und Gedankenkreisen, vor allem die
ständige Suche nach Ursachen ihres eigenen Versagens, und dies häufig vol-
ler Schuldgefühle, betonen die Ärztinnen aus der Erfahrung ihrer Fachpraxen
heraus.

Deshalb muss man ihnen die Ursachen der Depression erklären, ein viel-
schichtiges Geschehen, bedingt durch genetische (Erb-)Ursachen, psychoso-
ziale Belastungen als Risiko-Faktoren, biologische Anfälligkeiten u. a. Das ent-
lastet.

Wichtig ist auch der Hinweis, dass es sich dabei oft um besonders engagierte,
ja sogar übergewissenhafte Menschen handelt; Depressionen sind keinesfalls
eine Erkrankung der Schwachen und Erfolglosen, von unkalkulierbaren
Schicksalsschlägen und einer belastenden Kindheit ganz zu schweigen.

Die Diagnose ist wichtig, die Akzeptanz, das Annehmen von Leid und Leiden
aber erscheint den Experten noch bedeutsamer, gleichsam ein Meilenstein in
der eigenen(!) Krankheitsbewältigung. Denn davon hängt auch die so genann-
te Compliance ab (auf Deutsch die Therapietreue, vor allem Einnahmezuver-
lässigkeit der verordneten Medikamente, aber auch Sorgfalt bei den übrigen
Therapie-Empfehlungen).

Auch müssen die Patienten lernen, sich nicht weiter an ihrem hohen Leis-
tungs-Standard zu messen; was sie brauchen ist viel Zeit und damit Geduld,
dass sie sich annehmen können, selbst wenn sie sich derzeit als schwach,
kraftlos oder ausgeliefert fühlen. So ist die scheinbar „philosophische“ Frage:
„Wer bin ich, wenn ich nichts leiste?“ letztlich ein Kernstück der Genesung. Für

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viele Depressive ist nämlich die Erfahrung nicht leicht, sogar bitter, hilfsbedürf-
tig zu sein und Hilfe annehmen zu müssen. Das gilt es zu lernen.

Erleichternd ist dabei die Erkenntnis, dass die Depression wieder vergeht und
die alte Leistungsfähigkeit wieder zurückkehrt. Zuerst einmal aber gilt es die
negativen Gedanken, die Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, ja sogar gelegent-
lich die Katastrophen-Erwartungen zu ertragen, zu bearbeiten, zu überwinden.

Ein gefährlicher Aspekt ist dabei die Suizidalität: Je nach Studie leiden 40 bis
80% unter Suizidideen, 20 bis 60% weisen Suizidversuche auf, mit 10 bis 15%
endet es in der Tat tödlich. Das ist eine riskante Situation, auch für den Thera-
peuten. Einzelheiten zu diesem Thema siehe die speziellen Kapitel in dieser
Serie.

- Schließlich gilt es dem Depressiven die verschiedenen Therapiemöglich-


keiten zu erklären und um seine Mitarbeit zu bitten. Gesund werden wollen
alle, aber bei der Kooperation, besonders im Detail und konsequent, da hapert
es nicht zuletzt bei diesen Patienten, obgleich sie von ihrer Wesensart her zu
den zuverlässigen Mitmenschen gehören. Grundlage ist eine Kombination aus
Psycho- und Soziotherapie sowie ggf. antidepressiven Medikamenten. Im Ein-
zelnen:

- - Glücklicherweise steht psychotherapeutisch ein reichhaltiges Angebot zur


Verfügung, das von stützender Psychotherapie und Krisenintervention über
die Aktivierung der Eigen-Initiative durch Selbsthilfegruppen und Psychoedu-
kation bis zur konflikt-zentrierten Kurzzeittherapie und Gruppentherapie reicht;
das übrigens ggf. auch langfristig, dann spezifisch verhaltenstherapeutisch,
tiefenpsychologisch fundiert oder analytisch. Schwerpunkt ist und bleibt in die-
sem Fall ein Wiederaufbau des Selbstwertgefühls sowie eine aktive Auseinan-
dersetzung mit den belastenden Konflikten, der Umgang mit depressiven Sym-
ptomen und eine positive Zukunftsgestaltung, erklären die Ärztinnen C. Goes-
mann, A. Bühren und A. Neuy-Bartmann. Der Patient muss lernen, seine eige-
nen Grenzen zu akzeptieren, wieder Sinn im Leben zu finden und eine gesun-
de Lebensplanung anzustreben.

- - Bei mittelschweren und schweren Depressionen muss an eine zusätzli-


che medikamentöse antidepressive Therapie gedacht werden. Hier geht es
vor allem darum, dass dem Patienten die Wirkweise der Medikamente erklärt
wird, einschließlich möglicher Nebenwirkungen. Und dass er eine ausreichend
hohe Dosierung akzeptieren und eine regelmäßige Einnahme garantieren
muss; und alles über einen ausreichend langen Zeitraum, der deutlich das
übersteigt, was er eigentlich vorhatte. Und er muss vor allem eines wissen,
weil es immer wieder fälschlich kolportiert wird: Antidepressiva machen nicht
abhängig.

Sinnvoll ist es auf jeden Fall nicht nur bei der Psychotherapie, sondern auch
und gerade bei der Pharmakotherapie die Angehörigen einzubeziehen. Denn

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von dort, einschließlich Freunde, Bekannte und Nachbarn, kommen gelegent-


lich auch mal unnötige, unqualifizierte oder falsche und damit – wenn auch
ungewollt - schädliche Überlegungen und Vorschläge. Dies vor allem dann,
wenn wieder einmal aus dem Zusammenhang gerissene oder tendenziös ne-
gative Medien-Berichte kursieren, woran auch die wissenschaftliche Fachwelt
gelegentlich ihre Schuld trägt.

In der Mehrzahl der Fälle aber ist das nähere Umfeld die größte und wichtigste
Hilfsquelle, was die zwischenmenschliche Unterstützung anbelangt, sofern die
Betreffenden aufgeklärt und konstruktiv einbezogen werden. Erfahrene Thera-
peuten richten übrigens einen wachsenden Anteil ihres Behandlungs-Einsat-
zes auf die wichtigsten Angehörigen, denen es im Laufe der Zeit immer
schlechter zu gehen pflegt, vor allem, wenn sich das Leiden „schier endlos
hinzuziehen droht“, die Hoffnung schwindet und die eigenen Reserven mit.

- Bei der Nachbehandlung und Rückfallprophylaxe lernt der Patient Früh-


warnzeichen zu erkennen und einen rechtzeitigen Rückfallplan zu erarbeiten.
Besonders schwer fällt es den meisten Betroffenen nach ihrer seelischen und
körperlichen „Wiederherstellung“ die Medikamente noch Monate lang weiter zu
nehmen (in der Regel über einen Zeitraum von sechs bis neun Monaten!). Kei-
nesfalls dürfen sie die Medikation aber abrupt unterbrechen, sonst drohen Ab-
setz-Symptome (die nicht mit den Entzugs-Symptomen bei Suchtgefahr zu
verwechseln sind).

Darüber hinaus müssen sie mit einer auch weiteren Depressions-Gefahr fertig
werden und mit dieser theoretischen Belastung gezielt und konstruktiv umzu-
gehen lernen. Hier ist gerade der Arzt in der Praxis, ob Hausarzt oder Fach-
arzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie die wich-
tigste Anlaufstelle. Stichworte: gesunde Lebensführung, aktive Gestaltung,
Ziele setzen, eigene Kraftquellen finden, sinnvolle Beschäftigungen suchen,
mehr auf die eigenen Bedürfnisse, aber auch Grenzen achten und sein Leben
bereichern (durchaus auch kleine tägliche „Höhepunkte“ organisieren). Dazu
gehören auch ein guter Freundeskreis, ggf. angepasste sportliche Betätigung,
wenigstens aber eine bescheidene tägliche körperliche Aktivität, am besten
bei Tageslicht und die Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins, was
dann auch zur notwendigen Selbstzufriedenheit führt, schließen die Autorin-
nen ihren Beitrag.

DER DEPRESSIVE IN EINER TAGESKLINIK?

Die therapeutische Institution einer Tagesklinik dürfte nicht allen völlig klar
sein. Immerhin besagt ja bereits der Begriff, dass es sich hier um eine klini-
sche Einrichtung handelt, die aber offenbar nur den Tagesablauf begleitet,

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strukturiert, therapeutisch bestimmt. Dann müsste es übrigens auch „nacht-kli-


nische Angebote“ geben, was in der Tat praktiziert wird. Nachfolgend geht es
aber um die tagesklinische Behandlung von Menschen mit depressiven Er-
krankungen, wie sie Frau PD Dr. Petra Garlipp und die Drs. Bernd Rüdiger
Brüggemann und Klaus-Peter Seidler von der Abteilung Sozialpsychiatrie und
Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover in der Psychiatri-
schen Praxis S 3/2007 erläutern.

Tageskliniken gibt es seit einigen Jahrzehnten im Rahmen gemeinde-psychia-


trischer Strukturen bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Patienten-
Versorgung. Ihre Erfolge sind beweisbar, weshalb immer neue Einrichtungen
dieser Art gegründet werden. Entsprechende Behandlungen depressiver Pati-
enten basieren entweder auf integrierten Tagesklinikplätzen im Rahmen spezi-
eller Depressionsstationen (s. später), zumeist jedoch noch in allgemein-
psychiatrischen Tageskliniken, also für verschiedene seelische Leiden (z. B.
Schizophrenie, Persönlichkeits- und Angststörungen u. a.). Die Patienten sind
also tagsüber in fachärztlicher Betreuung und schlafen zu Hause.

Was ist nun der Unterschied zur ambulanten Behandlung, sei es in der Ambu-
lanz/Poliklinik oder in der hausärztlichen/psychiatrisch-psychotherapeutischen
Praxis?

Bei weniger schweren und vorwiegend neurotischen Depressionen (siehe das


spezielle Kapitel über die Neurosen einst und heute) lassen sich offenbar kei-
ne wesentlichen Vorteile zwischen Tagesklinik und Ambulanz erkennen. Das
ändert sich aber bei schweren und vor allem langfristigen depressiven Störun-
gen; hier ist die Tagesklinik der Ambulanz/Praxis überlegen, erläutern die Ex-
perten auf Grund entsprechender Untersuchungen. Gilt dies auch für sämtli-
che seelische Störungen? Offenbar gibt es Unterschiede. Patienten mit einer
affektiven Störung (also zumeist Depressionen) profitieren scheinbar stärker
von einer allgemein-psychiatrischen tagesklinischen Behandlung als solche
mit einer schizophrenen Psychose (die auch häufiger abbrechen).

Die tagesklinische Behandlung depressiv Erkrankter bietet vor allem zwei Vor-
teile gegenüber Ambulanz und Klinik-Station:

1. Die Patienten verbleiben in ihrem sozialen Umfeld. Dadurch können auch


die entsprechenden Konfliktbereiche in die spezifische Behandlung einbe-
zogen werden (eine stationäre Behandlung nimmt sie hier eher heraus,
was einerseits entlastet, andererseits aber auch eine Art „Trainingsverlust“
nach sich ziehen kann).

2. Die Freiwilligkeit und damit Eigenverantwortung, jeden Tag die Tagesklinik


aufzusuchen, bedeutet auch eine Strukturierung und damit Aktivierung.

Auf jeden Fall kann das Behandlungsangebot einer Tagesklinik (Sozio-, Psy-
cho- und Pharmakotherapie, außerdem die Körpertherapien, kreative Therapi-
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en u. a.) in Abstimmung mit den aktuellen Problemfeldern besser „dosiert“


werden. Allerdings muss man hier auch auf eine mögliche Überforderung ach-
ten, besonders zu Behandlungs-Beginn, wie sie gerade durch die Kombination
Therapie – Alltagsanforderungen möglich ist.

Wer nutzt eine Tagesklinik?

Die Frage, wer eine Tagesklinik besonders nutzt, hängt natürlich weitgehend
von der jeweiligen Struktur des psychiatrischen Angebotes ab, und die wird
vor allem vom jeweiligen Krankheitsbild bestimmt. Bei den depressiven Stö-
rungen dominiert das weibliche Geschlecht, nicht nur generell, sondern auch
im tagesklinischen Angebot. Nicht wenige von ihnen haben dabei nicht nur
eine, sondern zwei oder gar mehrere seelische Beeinträchtigungen (Stichwort:
Co-Morbidität, d. h. wenn eine Krankheit zu anderen kommt, was im körperli-
chen Bereich sehr häufig der Fall ist, im seelischen aber ebenfalls nicht selten,
wenngleich bisher nicht immer ausreichend berücksichtigt).

Solche Leidens-Kombinationen, die natürlich auch die Behandlung erschwe-


ren können, sind beispielsweise affektive (also depressive) Störungen plus
Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, seelische Traumatisierungen
(Schicksalsschläge, Unfälle, wichtige zwischenmenschliche Auseinanderset-
zungen u. a.), aber auch Angststörungen, chronische Verstimmungen u. a.
Ähnliches gilt natürlich auch für schizophrene Störungen, Borderline-Erkran-
kungen u. a. (siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie).

Entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen zeigen nun, dass das ta-


gesklinische Angebot für die Therapie depressiv erkrankter Menschen zwar
geeignet ist, allerdings nicht gleichermaßen für alle Formen depressiven Lei-
dens. Weniger günstig für eine Tagesklinik und ggf. besser im Fachkranken-
haus behandelt sind beispielsweise Konfliktsituationen im häuslichen Umfeld.
Aus dem wird man ja dann heraus genommen, wenn man Tag und Nacht in
stationärer Behandlung ist, weshalb sich das Problem dann durch die räumli-
che Distanz besser bearbeiten lässt. Ebenfalls besser stationär zu behandeln
ist die starke Ausprägung einer depressiven Antriebsstörung, bei in der Regel
schwer psychomotorisch, d. h. seelisch-körperlich gehemmten bis blockierten
Patienten. Auch lange Fahrzeiten in die Tagesklinik, selbstverständlich akute
Suizidgefahr und die Notwendigkeit einer mehrschichtigen medikamentösen
Behandlung bzw. Umstellung sollten in der Klinik und nicht in der Tagesklinik
therapiert werden.

Es gibt aber auch Probleme anderer Art, die bei einer Behandlung in einer Ta-
gesklinik zu lösen sind: Beispielsweise die hohen Anforderungen, die sich ne-
ben der acht-stündigen Therapie noch aus den Aufgaben in Familie und häus-
lichem Umfeld ergeben, wenn sie jeden Abend nach Hause kommen. Dies ist
für manche Patienten, insbesondere Mütter mit kleinen Kindern eine schier un-
lösbare Aufgabe, wenn nicht Hilfe von außen zur Verfügung steht. Natürlich
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kann man diese indirekte Doppel-Belastung auch als Herausforderung, gleich-


sam als zusätzliches Training interpretieren. Dann muss man es allerdings
dem (ja in der Regel noch nicht verfügbaren) Leistungsniveau anpassen kön-
nen.

Insgesamt müssen die Möglichkeiten und Grenzen einer Tagesklinik für de-
pressiv Erkranke noch intensiver, längerfristig und vor allem im Hinblick auf
bestimmte Problemfelder (Co-Morbidität, Migrations-Hintergrund) nachhaltiger
untersucht werden. Das geschieht inzwischen aller Orten. Dann wird man
auch besser herausfinden, wem die Tagesklinik nutzt und wo sich
Ambulanz/Praxis oder Station eher eignen.

Positiv – das kann man heute schon sagen – zeichnet sich für depressive Pati-
enten ab, dass sie ausreichende Entlastung und Unterstützung (in der Patien-
tengruppe) finden sowie reichlich Anregung zur Aktivierung. Und dass sie die
Erfahrung machen, (wieder) etwas leisten zu können, so die Experten der Me-
dizinischen Hochschule Hannover.

STATIONÄRE DEPRESSIONS-BEHANDLUNG

Zwar gibt es immer wieder unterschiedliche Darstellungen bzw. Zahlen-Anga-


ben, aber eines wird grundsätzlich deutlich und hier immer wieder thematisiert:
Depressionen nehmen zu und gelten inzwischen als häufigste psychische Er-
krankung in der Allgemeinbevölkerung.

Nach einer entsprechenden Untersuchung, publiziert im Jahre 2001, beträgt


die so genannte 1-Jahres-Prävalenz depressiver Störungen in Deutschland
bei Menschen im Alter von 18 bis 65 Jahren durchschnittlich 11,5% (Frauen:
15,0%, Männer: 8,1%). Kein Wunder, dass sich inzwischen auch zahlreiche
Institutionen, Kommissionen, konzertierte Aktionen, Foren und das Bundesmi-
nisterium für Gesundheit für dieses Krankheitsbild interessieren und konkrete
Schritte zur Aufklärung, Vorbeugung, Diagnose, Therapie und Rehabilitation
eingeleitet haben.

Das war allerdings vor rund vier Jahrzehnten noch kein Thema, im Gegenteil.
Es war ein durchaus mutiger und nicht von allen Seiten (einschließlich der
Wissenschaft) akzeptierter Schritt, als der Basler Klinikdirektor Prof. Dr. Paul
Kielholz und sein damaliger Oberarzt Prof. Dr. Günter Hole die erste Depressi-
ons-Spezialstation Europas in Angriff nahmen (rückblickend sogar wörtlich zu
verstehen, es war kein einfaches Unternehmen). Als G. Hole dann Ordinarius
in Ulm wurde, gründete er vor dreißig Jahren in der Abteilung Psychiatrie I der
Universität Ulm, im damaligen Psychiatrischen Landeskrankenhaus Ravens-
burg-Weissenau, die erste deutsche Depressions-Station. Heute folgen rund

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90 Spezialstationen für schwer depressiv Kranke diesem Muster und es kom-


men immer neue dazu; der Bedarf lässt keine andere Wahl.

Depression in Stichworten

Wie der damalige Oberarzt der Weissenauer Depressions-Station und heutige


Ärztliche Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosoma-
tik am Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Prof. Dr. Manfred Wolfersdorf, sowie der
Chefarzt der Abteilung Psychotherapie - Depression am Zentrum für Psychia-
trie Zwiefalten, Dr. Berthold Müller, in der der Fachzeitschrift Psychiatrische
Praxis S 3/2007 anschaulich schildern, ist die Depression ein überaus quälen-
des Leiden:

Eigentlich ist sie leicht erkennbar, doch man muss sich mit ihr fachlich be-
schäftigt haben, denn „Depression ist nicht nur Schwermut“, sondern hält eine
schier unfassbare Vielfalt seelischer, psychosomatischer, psychosozialer und
sogar körperlicher Krankheitszeichen und entsprechender Folgen bereit. Das
Krankheitsbild entsteht im Zusammenhang mit innerseelischen und/oder äu-
ßeren Ereignissen, überwiegend von Verlust, Überforderung und Kränkung
bestimmt, und in Wechselwirkung mit einer depressiven Persönlichkeitsstruk-
tur (Typus melancholicus).

Die Dauer liegt im Schnitt bei etwa vier bis sechs Monaten, wobei eine völlige
Besserung innerhalb oft erst innerhalb eines Jahres zu erwarten ist, allerdings
auch nur bei etwa der Hälfte. Die Rückfallrate liegt im Mittel bei vier Episoden.
Chronisch drohen 15 bis 20% aller Depressionen zu werden.

Depressions-Stationen nehmen in der Regel die schwersten Krankheitsbilder


auf. Der Anteil weiblicher Patienten liegt bei 50 bis 65%. Jeder Vierte bis Dritte
erkrankte erstmals. Die „somatische Co-Morbidität“ liegt bei 20 bis 40% (d. h.
es sind noch organische Leiden zu berücksichtigen), die psychiatrische bei 20
bis 35% (z. B. zusätzlich Angst-, Persönlichkeits-, Ess-, Zwangs-Störungen,
posttraumatische Belastungsreaktionen u. a.). Hoch und damit riskant, auch
für eine Spezialstation, ist die Zahl der Suizidversuche im Vorfeld, nämlich bei
einem Drittel der Betroffenen. Dabei berichten bei der Aufnahme schon 40 bis
60% von Suizidideen und Todeswünschen. Die mitunter schwer zu behandeln-
de depressive Wahn-Symptomatik liegt bei rund 20% (wahnhafte Depression,
z. B. Versündigungs-, Schuld- oder Verarmungswahn).

Was bietet eine Depressions-Station?

Der Arbeitskreis Depressions-Stationen führte im Dezember 2006 eine Umfra-


ge bei den Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in
Deutschland durch. Hierbei ergaben sich bei den 71 Kliniken, die entsprechen-
de Daten lieferten, folgende Ergebnisse:

Int.1-Depressionen.doc
26

90% aller Patienten einer Depressions-Spezialstation erhalten Antidepressiva


(siehe später). Alle Depressions-Stationen bieten „Einzelpsychotherapie-Ge-
spräche“ an, im Mittel ein bis drei pro Woche. Fast alle haben auch Gruppen-
psychotherapie (etwa ein bis sechs Mal, im Schnitt zwei Mal pro Woche). Die
meisten verfügen über weitere Gruppen-Aktivitäten: Am häufigsten neben den
auf allen Depressions-Stationen üblichen Stationsversammlungen sowie Mor-
gen- und Stationsrunden ein Selbstsicherheits- bzw. soziales Kompetenz-Trai-
ning, ferner Psychoedukation, sowie so genannte Genuss-Gruppen oder auch
tiefenpsychologische Gesprächsgruppen. Mehrfach in der Woche kann auch
ein Entspannungstraining (meist progressive Muskelentspannung nach Jacob-
son) genutzt werden.

Zu den sonstigen Standards gehören die „psychiatrische Sport- und Bewe-


gungstherapie“ sowie die Ergotherapie, die häufig gestaltungstherapeutischen
Charakter hat. Fast alle bieten auch die schon erwähnte Psychoedukation für
Angehörige in Gruppen an (Aufklärung und Anleitung) und nicht wenige verfü-
gen über „Selbsthilfegruppen für Depressive“.

Viel genutzt werden auch Lichttherapie, Schlafentzug bzw. Wachtherapie, ja


sogar die so genannte transkranielle Magnetstimulation. Vielerorts werden
auch Musik- und Kunsttherapie, Gestaltungstherapie sowie Reittherapie ange-
boten. Acht Depressions-Stationen behalten sich auch die Möglichkeiten einer
Elektrokrampftherapie vor (Tendenz steigend?), von der es heißt: „Man soll sie
bedacht einsetzen, aber nie verlernen“.

Depressions-Spezialstationen gehört die Zukunft. Es ist vor allem eine schwe-


re Bürde, aber im wachsenden Maße auch ein erfolgreicher Aufwand. Vermut-
lich gehört die Depressions-Station für praktisch jede psychiatrische Klinik zum
Standard-Angebot der Zukunft. Die Krankheitsentwicklung der „modernen Ge-
sellschaft“ lässt offenbar keine andere Wahl.

ANTIDEPRESSIVE MEDIKAMENTE HEUTE

Während ein Großteil der Bevölkerung und ab dem Rückbildungsalter sicher


die Mehrheit mindestens ein Arzneimittel verordnet bekommt, meist aber de-
ren mehrere, und das nicht gerade begeistert, aber doch einsichtig, vielleicht
sogar dankbar nutzt, ist dies bei Psychopharmaka, also Medikamenten mit
Wirkung auf das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben ganz anders.

Dabei gehört den stimmungs-aufhellenden Antidepressiva, den antipsychoti-


schen Neuroleptika sowie den beruhigenden und angstlösenden Tranquilizern
die Zukunft, ob wir das gut finden oder nicht. D. h.: „Gut“ ist eigentlich kein

Int.1-Depressionen.doc
27

Thema, wir sollten es langsam schätzen lernen, dass uns seit rund einem hal-
ben Jahrhundert wirkungsvolle Substanzen gegen Depressionen, manische
Hochstimmung, schizophrene Psychosen, Angststörungen u. a. zur Verfügung
stehen – denn psychische Erkrankungen nehmen zu. Einzelheiten dazu siehe
die Einleitung in diesem Beitrag sowie konkret in den entsprechenden Kapiteln
dieser Serie.

Dazu kommen neue Möglichkeiten, die allerdings zumeist gar nicht neu sind,
erst in den letzten Jahren verstärkt eingesetzt bzw. genutzt werden, und zwar
erfolgreich. Hierzu gehören die Phasenprophylaktika (also Arzneimittel zur
Rückfall-Vorbeugung bei Depressionen und manischen Hochstimmungen), in
gewisser Hinsicht die Depot-Neuroleptika (intramuskuläre Injektionen mit einer
Wirkdauer von ein bis drei Wochen, z. B. gegen Schizophrenien) und neuer-
dings sogar Weckmittel, nämlich vor allem das Amphetamin Methylphenidat
gegen die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Und natür-
lich eine ganze Reihe von sonstigen heilsamen Möglichkeiten, was Schlafstö-
rungen (und zwar nicht nur ein Zuwenig, sondern auch bei zuviel Schlaf - sie-
he die entsprechenden Kapitel), Schmerzbilder (vor allem chronische Schmerz-
Syndrome mit ihren zermürbenden seelischen, körperlichen und psychosozia-
len Konsequenzen), eine Reihe von neurologischen Erkrankungen mit ent-
sprechenden Folgen (z. B. Parkinson, Multiple Sklerose, Narkolepsie, Epilep-
sie) und vor allem die sich geradezu beunruhigend ausbreitenden Überforde-
rungs- und Erschöpfungs-Syndrome anbelangt, von denen das Burnout inzwi-
schen am meisten von sich reden macht (aber natürlich auch so alt ist wie die
Menschheit, siehe Elias-Syndrom).

Doch es ist eine alte Erkenntnis und lässt sich sogar bei den Depressionen
(den an sich gesellschaftlich am besten gestellten seelischen Störungen) nicht
vermeiden: Psychisch Kranke gehen durch eine andere Tür wie körperlich Er-
krankte. Das wird sich wohl auch nicht ändern, zumindest nicht in absehbarer
Zeit, obgleich langsam aber sicher die Mehrzahl der Bevölkerung in der westli-
chen Welt eigene, herbe Erfahrungen mit solchen Erkrankungen machen
muss; die Statistik verweist jedenfalls unbeirrbar auf eine ständige Zunahme
(die Standard-Erklärung in diesem Beitrag).

Wenn also der gesellschaftliche Aspekt, den man nun in der Tat nicht unter-
schätzen sollte, einen so großen Einfluss hat, vor allem in negativ prägender
Hinsicht, dann sollte man wenigstens genügend Kenntnisse sammeln, was die
realen Möglichkeiten der modernen Antidepressiva (und anderer Psychophar-
maka) anbelangt, einschließlich ihrer Grenzen und Nachteile. Nur so kommt
man zu einem fundierten Meinungsbild mit gezielten Nutzungs-Möglichkeiten,
ohne sich dauernd irgendwelchen althergebrachten Stereotypien oder gar Dis-
kriminierungen, angelesenen Meinungsbildern, überholten Forschungs-Ergeb-
nissen und vor allem unqualifizierten Bemerkungen ausgesetzt zu sehen.

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht über die Psychopharmaka


gegen Depressionen, akut oder langfristig zur Rückfall-Vorbeugung, nämlich

Int.1-Depressionen.doc
28

die Antidepressiva und Phasenprophylaktika, wie sie Dr. Max Pillhatsch und
Prof. Dr. Michael Bauer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
Technischen Universität Dresden in der Psychiatrischen Praxis S 3/2007 in ih-
rer wissenschaftlichen Literatur-Übersicht vorstellen.

Fachlich hört sich das Wissens-Angebot einleitend so an: Systematische Aus-


wertung aktueller peer-reviewed Übersichtsarbeiten, Meta-Analysen und Be-
handlungsleitlinien im Hinblick auf evidenz-basierte Schlussfolgerungen für die
konkrete psychiatrische Praxis.

Danach folgt eine eindrucksvolle Aufzählung aller jener Institutionen, und zwar
weltweit, die sich mit der biologischen und pharmakologischen Behandlung af-
fektiver Störungen (also Depressionen und manischer Hochstimmungen) be-
fassen. Im Einzelnen:

Von einst bis heute

Begonnen hat die Behandlung der Depressionen mit teils drastischen, manch-
mal sogar brutal anmutenden Therapieverfahren, wie sie beispielsweise in
dem Kapitel zur Geschichte der Psychopharmaka in dieser Serie dargestellt
werden. Dabei sollte man sich aber nicht zu überheblich zeigen, man hatte frü-
her nichts anderes und war ständig auf der Suche nach einer halbwegs Linde-
rung versprechenden Behandlungsmaßnahme. Das ging bis zur Mitte des
letzten, des 20. Jahrhunderts.

Geblieben ist aus dieser Zeit lediglich die Elektrokrampftherapie, von der man
– wie erwähnt – sagt: „Man soll sie vermeiden, wenn es geht – aber nie verler-
nen!“ In der Tat, sie hat in den entsprechend indizierten, wohl meist „verzwei-
felten Fällen“ noch immer ihre Berechtigung (s. später). Aber zuerst zu der zu-
sammenfassenden Erkenntnis der Autoren, die da schreiben:

Die Vielzahl wirksamer antidepressiver Verfahren lässt eine individuelle und


patienten-gerechte Behandlung zu. Dabei gibt es offenbar keine heraus ragen-
de Spitzenstellung oder schwächeren Angebote; das derzeit vorliegende phar-
makologische Behandlungs-Spektrum für Depressionen kann gleichermaßen
empfohlen werden.

Dabei sind allerdings Verträglichkeits-Unterschiede zu berücksichtigen, und


die können sehr individuell ausfallen. Die Nebenwirkungen oder Begleiter-
scheinungen sind zwar bei weitem nicht mehr so unangenehm oder gar heftig
wie früher, aber immer noch zum Teil lästig bis belastend. Man kann aber da-
von ausgehen: Je schwerer die Depression, desto bedeutsamer ist eine medi-
kamentöse Depressions-Behandlung (und oft auch desto weniger klagen die
Betroffenen über Nebenwirkungen, so beherrscht sie ihr qualvolles Leidens-
bild).

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29

Wie geht man vor?

Auf was muss man nun bei einer medikamentösen Depressions-Behandlung


achten? Als erstes gilt es die Diagnose zu sichern und hier vor allem die Inten-
sität, den Schweregrad der depressiven Episode. Dafür stehen bestimmte Dia-
gnose-Systeme zur Verfügung (Fachbegriffe: ICD-10 und/oder DSM-IV-TR).
An zweiter Stelle steht der sorgfältige Ausschluss bedeutsamer psychiatri-
scher oder körperlicher Ko-Morbiditäten, d. h. wenn ein Leiden zum anderen
kommt. Drittens müssen zusätzliche Ursachen ausgeschlossen bzw. in Dia-
gnose und Therapie einbezogen werden. Dazu gehören beispielsweise die
Behandlung anderer Leiden (wie verhalten sich die verschiedenen Arzneimittel
untereinander?) sowie die zusätzlichen Einflüsse durch familiäre, gesellschaft-
liche oder berufliche Belastungen.

Danach gilt es den Behandlungs-Rahmen abzustecken, und zwar schon vor-


her, alle möglichen Entwicklungen einbeziehend. Beispiele: Behandlungsplan
(was – wie lange – wie?), Behandlungsvertrag (was wollen wir erreichen, vor
allem: was wollen wir dazu selber beitragen?), Behandlungs-Alternativen (was
tun, wenn das eine Mittel nicht greift?) u. a.

Dann muss der körperliche Zustand abgeklärt werden und in seelischer Hin-
sicht vor allem ein mögliches Suizid-Risiko. Und schließlich gilt es für eine psy-
chotherapeutische Unterstützung zu sorgen, denn die erhöht zu jedem(!) Zeit-
punkt die Chancen der Genesung und eine erfolgreiche Rückfall-Vorbeugung.
Es gilt mit dem Patienten (und seinen Angehörigen) zu reden, denn eine um-
fassende Aufklärung ohne Beschönigung, aber auch mit realistischem Opti-
mismus verbessert die so genannte Compliance, wie die Experten sagen (wir
erinnern uns: Therapietreue, vor allem Einnahme-Zuverlässigkeit).

Was steht nun zur Verfügung, wenn sich die Depression inzwischen so ver-
stärkt hat (bekanntermaßen dauert es Wochen, manchmal sogar Monate, bis
sich der Patient zu einer fachärztlichen Behandlung entschließt), dass man
auch mit einer medikamentösen Depressions-Therapie einverstanden ist?

Über 30 Antidepressiva aus sechs verschiedenen Wirkstoffklassen

Vor einem halben Jahrhundert gab es noch kein Antidepressivum im eigentli-


chen Sinne. Dann kam das erste spezifische Arzneimittel, allerdings mit ganz
anderer Heilanzeige (derjenige Kliniker, der seine stimmungs-aufhellende Wir-
kung erkannte, hatte sogar große Mühe, sich mit seiner Erkenntnis durchzu-
setzen; siehe das Kapitel über die Geschichte der Psychopharmaka) – aber
dann ging es Schlag auf Schlag. Heute stehen über 30 verschiedene Antide-
pressiva aus sechs verschiedenen Wirkstoffklassen zur Verfügung. Ihr Erfolg,
die so genannte Response-Rate liegt zwischen 50 und 75%. Das hört sich erst

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30

einmal nicht sehr beeindruckend an, ist aber ein eindrucksvoller Fortschritt,
gemessen an dem, was früher zur Verfügung stand.

Die höchste Evidenz-Stufen, wie dies die Experten nennen, also eine wissen-
schaftlich gesicherte antidepressive Wirksamkeit (im Vergleich zum Placebo,
einer Schein-Medikation) besitzen alle nachfolgenden Substanzen, nämlich

- die ersten antidepressiven Arzneimittel, die so genannten trizyklischen


(TZA) und später tetrazyklischen Antidepressiva (hier die Substanznamen,
die verschiedenen Handelsnamen siehe die entsprechende Fachliteratur):
Amitriptylin, Clomipramin, Desipramin, Doxepin, Imipramin (die erwähnte
erste Substanz – s. o.), Nortriptylin, Trimipramin sowie Maprotilin u. a.

- Etwa zeitgleich verfügbar waren auch die so genannten Mono-Amino-Oxi-


dase-Hemmer (MAOI), hier vor allem Tranylcypromin.

- Keiner eigenen Substanzklasse zuzuordnen ist Mirtazapin, das etwas spä-


ter dazu kam.

- Heute dominieren vor allem die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-


Hemmer (SSRI) wie Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Citalopram, Escita-
lopram u. a.

- Und schließlich die selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wiederauf-


nahme-Hemmer (SNRI) wie Venlafaxin.

- Außerdem stehen noch Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NRI) wie


Reboxetin zur Verfügung.

Was wirkt am besten?

Was wirkt nun am besten, wird der Laie fragen, besonders, wenn es ihn oder
einen Angehörigen betrifft. Hier muss man unterscheiden zwischen den Wer-
be-Aussagen, die natürlich auch bei Arzneimitteln eine Rolle spielen und für
die gerne die Ergebnisse bestimmter Arzneimittel-Studien herangezogen wer-
den (leider bisweilen nur diejenigen, die für das jeweilige Produkt günstig aus-
gefallen sind – s. u.). Deshalb helfen die so genannten evidenz-basierten
Wirksamkeitsvergleiche weiter, vor allem die erwähnten Meta-Analysen, die
ganze Gruppen vergleichbarer Untersuchungen zusammenfassen und ent-
sprechende Schlussfolgerungen ziehen (beispielsweise veröffentlicht durch
die inzwischen von vielen genutzte „The Cochrane Library“). Und diese Unter-
suchungs-Befunde besagen, dass sich unter den erwähnten Gruppen keine
generellen, vor allem signifikanten Unterschiede erkennen lassen, geben die
Autoren zu bedenken. Das bleibt allerdings nicht unwidersprochen, zumal
auch die Meta-Analysen offenbar unterschiedliche Gesamt-Ergebnisse liefern.

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31

Deshalb muss noch einmal das bereits angesprochene Problem erörtert wer-
den, auch wenn es erst in letzter Zeit vermehrt wissenschaftlich offener disku-
tiert wird: Auch wenn man mehrere vergleichbare Studien-Ergebnisse zusam-
men fasst, was dann natürlich eine viel höhere Datenmasse (also sehr viel
mehr Patienten) einschließt, bleibt doch eines unbefriedigend: Es sieht näm-
lich so aus, als ob in den letzten Jahrzehnten nicht alle wirklich verfügbaren
Untersuchungs-Ergebnisse in den Fachzeitschriften publiziert worden sind
(und noch immer werden?). Dabei kann man sich ganz gut vorstellen, was
nicht veröffentlicht wird, nämlich negative Resultate, die nicht den Erwartun-
gen der Autoren, möglicherweise aber auch der Redaktionen und Verlage von
Fachzeitschriften und ganz sicher der Sponsoren (also zumeist Hersteller) ent-
sprechen. Kurz: Hier gibt es noch Klärungs-Bedarf.

Das Problem der Medikamenten-Verträglichkeit

Das gilt allerdings nicht für die Verträglichkeit, also die erwähnten Begleiter-
scheinungen (freundlich ausgedrückt) oder Nebenwirkungen (was sich schon
etwas direkter, d. h. auch belastender anhört). Moderne Antidepressiva unter-
scheiden sich nämlich weniger durch ihre Wirksamkeit (s. o.), als vielmehr
durch die „Selektivität ihrer pharmakologischen Angriffspunkte“, wie es die
Fachleute ausdrücken. Und das heißt konkret: Mehr oder weniger verträglich,
wenn nicht gar ertragbar. Und hier liegt dann auch der Fortschritt in der Arz-
neimittel-Forschung der letzten Jahrzehnte. Der Verträglichkeits-Vergleich zwi-
schen SSRI und TZA beispielsweise (die Abkürzungen s. o.) fällt deutlich zu-
gunsten der später entwickelten SSRI aus. Das betrifft übrigens nicht nur lästi-
ge Begleiterscheinungen (z. B. Mundtrockenheit, Gewichtszunahme), sondern
auch durchaus riskante, wenn nicht gar gefährliche Nebenwirkungen (z. B. er-
niedrigte Krampfschwelle, Blutdruckanstieg). Einzelheiten siehe Fachliteratur.

Allerdings gilt nach wie vor der Satz: Keine Wirkung ohne Nebenwirkungen.
Darüber wird zwar in der Wissenschaft ebenfalls gestritten, aber letztlich ist
was dran. Und so sind natürlich auch die modernen Antidepressiva nicht ohne
Begleiterscheinungen zu haben. Dazu zählen beispielsweise die unter SSRI’s
gelegentlich auftretenden und insbesondere bei jungen Patienten häufig nicht
mehr tolerierbaren sexuellen Funktionsstörungen, was dann auch vermehrt
zum Therapie-Abbruch führen kann. Auch Magen-Darm-Beschwerden, Kopf-
schmerzen sowie innere Unruhe können zum Problem werden. Für die Ver-
träglichkeit der SNRI’s gelten die gleichen Grundsätze mit einem etwas höhe-
ren Risiko für die Blutdruckerhöhung.

Bei den „Antidepressiva-Pionieren“, also den trizyklischen Antidepressiva, fin-


den sich vor allem Mundtrockenheit, Herzrasen, Verstopfung, Dämpfung, Ge-
wichtszunahme, Herz-Kreislauf-Veränderungen sowie die schon erwähnte er-
höhte Krampfbereitschaft. Doch auch hier gab es schon Entwicklungs-Fort-
schritte, so dass die späteren Substanzen etwas günstiger abschneiden als
die allererste Generation.

Int.1-Depressionen.doc
32

Inzwischen kommen immer neue Antidepressiva auf den Markt (zum Teil auch
bekannte Substanzen mit ursprünglich anderen Heilanzeigen und der jetzt
neuen Aufgabe, auch Depressionen zu lindern). Die Forschung und damit der
Markt sind ständig in Bewegung. Da ist es manchmal sehr schwierig für den
Arzt, insbesondere den Hausarzt, der Hunderte von Arzneimitteln im Kopf ha-
ben sollte, hier alle Möglichkeiten und Grenzen abzuwägen. Hier ist die enge
Zusammenarbeit zwischen Hausarzt, Psychiater/Nervenarzt und ggf. Apothe-
ker unerlässlich. Darüber hinaus gibt es ständig neue Vorschläge seitens der
internationalen oder nationalen Fachgesellschaften oder sonstigen Experten-
Gremien. Auch hier kann sich plötzlich so manches ändern, was früher als un-
umstößliche Erkenntnis, also Wissens-Grundlage galt. Einzelheiten dazu wür-
den nur verwirren, besonders, wenn sie noch in der heißen Phase der wissen-
schaftlichen Diskussion stecken. Einiges ist nach wie vor von grundlegender
Bedeutung. Dazu gehören die notwendigen Kenntnisse zu

Behandlungsverlauf und Therapie-Resistenz

Was der Patient mit Recht will, ist eine möglichst rasche Genesung. Das ist
aber gerade bei Depressionen nicht die Regel, auch wenn es sich mühselig
bis qualvoll hinziehen sollte. Es gibt aber einen Zeit-Rahmen, in dem sich et-
was tun muss. Erfahrene Psychiater (und auch Hausärzte) entscheiden in Zu-
sammenarbeit mit Patienten und Angehörigen meist treffend genug, ob und
was und in welcher Zeit sich in Richtung Besserung bewegt. Manche nutzen
auch neben dem globalen klinischen Eindruck (also was man sieht und hört)
zur objektiven Orientierung so genannte Beurteilungsskalen, z. B. Selbst-Beur-
teilungsbogen oder Fremd-Beurteilungs-Skalen.

Grundsätzlich gilt: Nach zwei, spätestens vier Wochen muss zumindest bei
einzelnen Symptomen eine gewisse Erleichterung eingetreten sein (was aber
erfahrungsgemäß konkret abgefragt werden sollte, viele Patienten sind in die-
sem Zustand zu einer eigenen Beurteilung kaum in der Lage, selbst wenn sich
etwas zum Besseren wendet). Alles, was sich erst danach entwickelt, sieht
nicht so günstig aus, was das eingesetzte Antidepressivum anbelangt. Manch-
mal muss man auch mit einem Teil-Erfolg zufrieden sein (Fachbegriff: Teil-Re-
sponse). Jedenfalls sollte man nach der Genesung, also weitgehenden Sym-
ptom-Freiheit, die Behandlung noch über einige Monate, mindestens aber Wo-
chen hinweg ausdehnen, ggf. mit etwas reduzierter Dosis.

Was aber, wenn der Patient auf das Medikament nicht oder nur unbefriedi-
gend anspricht? Bei mindestens jedem dritten, vor allem schwer depressiven
Patienten bleibt nämlich ein befriedigender Behandlungserfolg nach dem ers-
ten(!) Therapieversuch aus. Was also tun?

Als Erstes muss man sicherstellen, dass der Patient das Medikament auch
wirklich nimmt, vor allem regelmäßig nimmt. Nimmt er es nicht, ist der Misser-

Int.1-Depressionen.doc
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folg nachvollziehbar. Nimmt er es unregelmäßig (z. B. ältere Menschen, die


die Einnahme vergessen oder unzuverlässige Patienten), kann der notwendi-
ge Wirk-Spiegel nicht erreicht bzw. gehalten werden. Letzteres lässt sich mit
einer Blutentnahme leicht nachprüfen: adäquater Serum-Spiegel oder nicht?
Hier kann natürlich auch ein individueller biologischer Faktor hereinspielen,
nämlich wenn der eine das Medikament "schneller verstoffwechselt“ wie der
andere und damit unter üblicher Dosierung keinen ausreichenden Wirkspiegel
erreicht. Auch können hier die so genannten Arzneimittel-Interaktionen be-
deutsam werden, d. h. wenn der Patient mehrere Leiden und damit mehrere
Medikamente hat, die sich gegenseitig „behindern“ (oder gar in ihren Neben-
wirkungen verstärken, was genau so unerwünscht ist).

Wie geht man also vor, wenn das Medikament nun trotz aller Abklärung nicht
„greift“? Dazu Dr. Bilhatsch und Prof. Bauer:

1. Man wechselt zu einem Antidepressivum einer anderen pharmakologi-


schen Klasse. Das ist zwar einleuchtend, aber nicht immer ohne Probleme
zu haben. Beispielsweise muss man mit dem einen Medikament ggf. aus-
schleichen, vielleicht sogar eine mehr oder weniger kurze Behandlungs-
pause einkalkulieren, um dann das neue Medikament wieder „aufzudosie-
ren“. In dieser Zwischenphase kann sich der Zustand des Patienten natür-
lich noch mehr verschlechtern.

2. Wechsel zu einem Antidepressivum innerhalb derselben pharmakologi-


schen Klasse. Das leuchtet zwar weniger ein, ist aber beispielsweise bei
den SSRI’s mitunter erstaunlich erfolgreich.

3. Man kombiniert zwei Antidepressiva unterschiedlicher Klassen. Das emp-


fiehlt sich vor allem, wenn man wenigstens einen Teil-Erfolg registrieren
konnte, aber natürlich letztendlich die volle Stimmungsstabilisierung will.
Der Erfolg hält sich allerdings in Grenzen, die Nachteile nicht immer (z. B.
Arzneimittel-Interaktionen s. o.). Einige Antidepressiva darf man gar nicht
kombinieren (z. B. wenn man die MAOI’s einsetzen will).

4. Man gibt eine primär nicht unbedingt antidepressiv wirksame Substanz


dazu (Fachbegriff: Augmentation = Zugabe von weiteren Substanzen, um
die Wirkung des ursprünglichen Medikaments zu verbessern). Hier hat sich
vor allem das Lithium bewährt. Der Vorteil: Die bisherige Behandlung kann
weitergeführt werden. Der Nachteil: Die Zahl der Nebenwirkungen kann
sich erhöhen. Außer dem Lithium kann man auch Schilddrüsenhormone
und Neuroleptika probieren, was jedoch wegen mangelhafter Datenlage
(auf Deutsch: man weiß hierzu noch zu wenig) aber kontrovers diskutiert
wird.

5. Wenn nichts hilft, und man hat sich aber lange genug in Geduld geübt und
Mühe gegeben (sprich zwischen zwei und zehn Wochen), können auch
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nicht-pharmakologische Verfahren diskutiert werden. Dazu gehören die


Elektrokrampftherapie (Elektrokonvulsionstherapie, Durchflutungstherapie),
die über den längsten Erfahrungszeitraum verfügt. In der Allgemeinheit gilt
sie zwar als „Horror“, doch ihre Erfolge sind gelegentlich erstaunlich, mitun-
ter geradezu spektakulär, vor allem bei scheinbar „hoffnungslosen Fällen“.
Früher etwas häufiger, inzwischen aber immer noch im Einsatz ist die
Schlaf-Entzugsbehandlung und neuerdings die Lichttherapie (insbesondere
während der dunklen Jahreszeit, aber auch sonst erwägenswert) und die
derzeit intensiv beforschte transkranielle Magnetstimulation.

KANN LITHIUM DIE SUIZIDGEFAHR REDUZIEREN?

Eines der größten und häufig genug tragischsten Probleme affektiver Störun-
gen ist die Suizidgefahr. Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel
in dieser Serie.

Eine erfolgreiche antidepressive Behandlung kann natürlich das Suizidrisiko


reduzieren. Für die Akut-Behandlung gibt es dazu keine Zweifel und Alternati-
ven; mittel- bis langfristig scheint die Situation aber etwas unbefriedigender,
erklärt Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, Berlin, in der Fachzeitschrift
Psychiatrische Praxis S 3/2007. Dabei hat die medikamentöse Suizid-Präven-
tion durch Lithiumsalze offenbar einen höheren Stellenwert, als bisher reali-
siert wurde, nicht zuletzt in den USA.

Die Gründe sind vielfältig, einige werden vom Autor konkretisiert:

1. Die Einnahmezuverlässigkeit im Rahmen einer Lithium-Behandlung ist


häufig unzureichend. Die Gründe sind bekannt (Langzeiteinnahme, Neben-
wirkungen u. a.).

2. Derzeit interessiert man sich wissenschaftlich mehr für so genannte atypi-


sche bzw. komplizierte Formen affektiver Störungen, und die sprechen er-
fahrungsgemäß weniger gut auf Lithium an wie die klassischen manisch-
depressiven Erkrankungen.

3. Zurzeit werden neue Substanzen im internationalen Pharma-Markt einge-


führt und – wie der Autor formuliert – auch aggressiv vermarktet. Dazu ge-
hören beispielsweise die „atypischen Neuroleptika“, also antipsychotisch
wirksame Psychopharmaka, deren Indikations-Spektrum verbreitert wird,
einschließlich affektiver Störungen.

4. Und schließlich gibt es ältere Lithium-Studien aus den 70-er Jahren, die
keine sehr hoffnungsvollen Ergebnisse brachten – damals bzw. unter den
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damaligen wissenschaftlichen Bedingungen durchaus nachvollziehbar.


Heute hat sich das offenbar deutlich gebessert. So ergab sich erst in den
80-er Jahren, dass eine Langzeit-Medikation mit Lithiumsalzen die be-
kanntlich um das 2- bis 3-fach erhöhte Sterblichkeit von Patienten mit af-
fektiven Störungen deutlich verringern kann. Dies betrifft offenbar nicht nur
manisch-depressive Störungen (also Schwermut im Wechsel mit mani-
scher Hochstimmung), sondern auch rein depressive Erkrankungen.

Die Lithium-Therapie ist also trotz „Konkurrenz“ (in positivem Sinne, schließ-
lich zielen sie ja alle auf eine Verringerung depressiven Leids oder gar Le-
bensmüdigkeit), also trotz konstruktiver Konkurrenz durch andere Phasen-Pro-
phylaktika wie Carbamazepin und Valproat (sowie neuerdings Lamotrigin)
nicht nur unverzichtbar, sondern in den Augen vieler Experten nach wie vor ei-
nes der wichtigsten Rückfall-Vorbeuger, vielleicht sogar nach wie vor die wich-
tigste, insbesondere in schweren Fällen, so Prof. Dr. Müller-Oelinghausen.

KÖRPERLICHES TRAINING IN DER BEHANDLUNG


DEPRESSIV ERKRANKTER

Es gibt nur ein unverändert „höchstes Gut“ im Leben eines Menschen, und
das ist nach wie vor die Gesundheit. Das mussten die Älteren schon mehrmals
schmerzlich erfahren; das bekommen die im mittleren Lebensalter, also in den
„besten Jahren“ oft genug auch schon mit. Und das ahnen sogar die Jungen,
obgleich sie sich darüber noch reichlich wenig Gedanken machen (im Gegen-
teil: in einer wachsenden Zahl sogar für einen vorzeitigen gesundheitlichen
Niedergang sorgen, z. B. Nikotin, Alkohol, Rauschdrogen, aber auch Schlaf-
quantum, selbst-provozierte Gehörschäden, beginnendes Übergewicht usw.).

Gleichzeitig taucht bei den positiven Maßnahmen im Rahmen einer „gesunden


Lebensweise“ immer wieder ein Faktor auf, der zu Hoffnung Anlass gibt, sind
seine Erfolge doch nicht zu übersehen. Gemeint sind körperliche Aktivität und
– wenn es sich ergibt –, durchaus sportliche Neigungen, solange es der Kör-
per mitmacht (von den üblichen Exzessen in jungen Jahren ganz zu schwei-
gen).

So sind sport- und bewegungs-therapeutische Behandlungsformen bei einer


Vielzahl von internistischen, orthopädischen, neurologischen u. a. Erkrankun-
gen ein inzwischen unverzichtbarer Bestandteil etablierter Therapie-Program-
me, beginnen Prof. Dr. Andreas Broocks und seine Kollegen Dr. Uwe Ahrendt
und Marcel Sommer von den Helios-Kliniken Schwerin ihren Beitrag in der
Fachzeitschrift Psychiatrische Praxis S 3/2007.

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Sport- und bewegungstherapeutische Behandlungsformen werden inzwischen


aber auch in praktisch allen psychiatrisch-psychotherapeutischen oder psy-
chosomatischen Kliniken eingesetzt. Dabei geht es nicht nur um eine Verbes-
serung der körperlichen Fitness, sondern auch des Körpergefühls mit den ent-
sprechend positiven Auswirkungen auf die psychische Befindlichkeit. Am häu-
figsten finden sich ausdauer-orientierte Maßnahmen wie Walking-Gruppen,
Fahrrad-Ergometertraining usw., aber auch Krafttraining, Gymnastik und spie-
lerisch orientierte Gruppenaktivitäten. Hier zählen nicht nur körperliche Robo-
rierung (Kräftigung), sondern auch Spaß und Kreativität durch Kommunikation
und Interaktion, wie es die Experten nennen. Moderne psychotherapeutische
Verfahren wie die so genannte dialektisch-behaviorale Therapie setzen Sport
und Bewegung im Rahmen ihres Fertigkeiten-Trainings ein, um beispielsweise
Spannungszustände abzubauen.

Die Erfolge sprechen für sich. Doch die Wissenschaftler wollen „harte Daten“,
und dafür gibt es für die Mehrzahl der bewegungs-therapeutischen Ansätze
bisher nur wenige empirische Belege (d. h. objektivierbare Erfolgs-Nach-
weise). Das beginnt sich allerdings zu ändern, besonders beim therapeutisch
begleiteten Ausdauer-Training, und hier insbesondere für depressive Störun-
gen.

Regelmäßige körperliche Aktivität reduziert depressive Störungen

Dabei lautet die vielleicht verwunderte Frage: Was soll körperliche Aktivität bei
einer so eindeutig seelischen Beeinträchtigung wie der Melancholie auch be-
wirken? Doch die Statistik (und nur die scheint ja zu überzeugen) spricht eine
deutliche Sprache: Entsprechende Studien ergaben, dass bei Patienten mit
geringer körperlicher Aktivität im Vergleich zu sportlich aktiven Personen in-
nerhalb von acht Jahren die Gefahr einer depressiven Neu-Erkrankung dop-
pelt so hoch ausfiel. Oder kurz: Wer sich adäquat bewegt, wird seltener de-
pressiv, wenn er schon mit einer solchen quälenden Krankheit schicksalhaft
geschlagen ist. Dabei handelt es sich nicht um kleine Stichproben, sondern
um so genannte epidemiologische Untersuchungen mit 8.000 und mehr Per-
sonen, unterteilt in verschiedene Gruppen. Und wieder: Regelmäßige körperli-
che Aktivität führt zu einer deutlich verringerten Häufigkeit depressiver Erkran-
kungen. Das gleiche gilt auch für die verschiedenen Angststörungen (siehe die
entsprechenden Kapitel in dieser Serie).

Gilt dies dann auch für alle anderen seelischen Leiden? Dazu liegen noch
nicht genügend Informationen vor. Eines aber scheint sich abzuzeichnen: lei-
der nein. Im Hinblick auf Suchtkrankheiten beispielsweise oder Psychosen
(z. B. Schizophrenie) konnten diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede
gesichert werden, erklären die Experten.

Nun könnte man meinen: Alles gut und recht, dies betrifft sicher vor allem die
älteren Jahrgänge, nicht zuletzt das so genannte „dritte Lebensalter“, wo De-

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pressionen, Angststörungen und sonstige seelische Leiden ohnehin am häu-


figsten zu finden sind. Weit gefehlt:

In einer deutschen Studie mit 1.000 Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren


zeigte sich, dass regelmäßiges Ausdauer-Training nicht nur mit einem positi-
veren Selbstbild verbunden war; entsprechende Untersuchungen ergaben
auch bei diesen Jahrgängen niedrige Angst- und Depressionswerte sowie
einen geringeren Grad an sozialer Hemmung.

Wer sich übrigens ein wenig auskennt, wird ohnehin mit Verwunderung, nach
und nach sogar mit Besorgnis registrieren müssen, dass seelische Störungen
ihren Schwerpunkt keinesfalls im höheren Lebensalter haben, jedenfalls in der
Mehrzahl der Fälle (von der Alzheimer Demenz u. ä. einmal abgesehen). Zah-
lenmäßig am häufigsten betroffen sind die erwähnten „besten Jahre“ und im-
mer öfter Heranwachsende, Jugendliche, ja sogar Kinder. Das hat einerseits
mit deren Lebensstil zu tun, andererseits aber auch mit noch nicht völlig ge-
klärten Ursachen. Gleichwohl: An dieser bedrückenden Statistik (immer mehr
Junge) kommt man offenbar nicht mehr vorbei.

Also gilt es auch, ja vor allem dort die kostenlosen (und damit natürlich unter-
schätzten) Maßnahmen zu fördern, die dieser drohenden Entwicklung entge-
gen wirken könnten. Einige davon fallen jedem ohnehin von vorne herein ein,
nämlich die entgleisungs-gefährlichen Genussmittel sowie die Rausch-Drogen
und damit die Suchtgefahr generell – mit allen Konsequenzen. Und so liegt
auch in solchen Untersuchungen der Konsum von Alkohol, Zigaretten und
Drogen bei den sportlich aktiven Jugendlichen statistisch signifikant niedriger.

In diesem Zusammenhang gibt es übrigens auch nachdenklich stimmende Er-


kenntnisse aus anderen Nationen: So war in einer Untersuchung an 4.000 Ja-
panern die Abneigung gegen körperliche Aktivität signifikant mit dem Auftreten
einer Panikstörung (überfallartige Angstattacken – siehe das entsprechende
Kapitel) verbunden. Und in einer finnischen Studie, in der zwei Gruppen von je
500 Patienten untersucht wurden, ergaben sich mehr Depressionen bei den
körperlich Inaktiven. Und um noch einmal auf die psychischen Krankheiten bei
Älteren zurück zu kommen: Bei geriatrischen Patienten verbesserte körperli-
che Aktivität sowohl den kognitiven als auch affektiven Status, wie sich die Ex-
perten ausdrücken; oder auf deutsch: geistig und gemütsmäßig „besser drauf“.

Natürlich weiß jeder Therapeut, von den Betroffenen ganz zu schweigen, wie
schwer es einem Menschen mit Depressionen (und auch Angststörungen)
fällt, seine psycho-motorische Hemmung zu überwinden. Depressionen blo-
ckieren regelrecht die körperliche Aktivität, selbst bei denen, die in gesunden
Tagen gerne, ja schier ständig in Bewegung sind. Das ist richtig, und trotzdem:
gerade jetzt. Ansonsten droht nämlich ein körperliches Trainings-Defizit, das
schließlich zu geistigen und nicht zuletzt seelischen Einbußen führen kann.
Ein verhängnisvoller Teufelskreis. Also müssen sich gerade Depressive zur
körperlichen Aktivität zwingen, so schwer es ihnen – rein biologisch erklärbar –

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auch fallen mag. Hier sind vor allem die Angehörigen gefordert, auch wenn sie
- langsam mutlos geworden - alle Hoffnung fahren lassen sollten. Der Grund-
satz lautet: leidenschaftslos, aber beharrlich, nämlich in der Förderung körper-
licher Aktivität „am Ball bleiben“.

Wie erklärt man sich den Therapie-Erfolg durch körperliche Aktivität?

Es ist eine alte Erkenntnis: Wissenschaftliche Ergebnisse machen sich häufig


erst einmal an einer Alltags-Erfahrung fest. So auch beim „Jogger‘s-High“.
Wer kennt sie nicht, die passionierten (fanatischen?) Langstreckenläufer in
Wald, Flur und Feld (manchmal sogar neben der Straße oder in Innenstädten),
häufig mit belasteter Miene, wenn nicht gar schmerzverzerrtem Gesicht ihre
Runden drehend. Warum tun sie sich das an? Muskeln, Sehnen, Gelenke u. a.
werden ja nicht gering strapaziert und auch das Herz-Kreislauf-System profi-
tiert ab einer gewissen Überlast keinesfalls von entsprechenden Exzessen.

Die Motive sind unterschiedlich, ein Beweggrund – im wahrsten Sinne des


Wortes - aber spielt, ausgesprochen oder nicht, keine geringe Rolle: das „gute
Gefühl“, das nach einem solchen Lauf bis in die Dimensionen der Euphorie,
des inhaltslosen Glücksgefühls steigen kann. Hier droht sogar eine Suchtge-
fahr. Wer aber süchtig geworden ist, der muss mit Abstinenz-Symptomen
rechnen, Entzugserscheinungen, wenn er den „Stoff“ nicht ständig nachliefert,
in diesem Fall also regelmäßige Dauer- oder Langlauf-Aktivitäten. Und genau
das kennt auch jeder Läufer, wenn er die physiologischen Grenzen überschrit-
ten hat. Vor allem das plötzliche „Absetzen“ von Ausdauertraining bei trainier-
ten Langstreckenläufern führt bekanntlich zu „Entzugs-Erscheinungen“. Das
Beschwerdebild ist nicht lustig: Reizbarkeit, innere Unruhe, ja sogar leichtere
depressive Verstimmungen bis hin zu diffusen Angstgefühlen. Also wird er so-
bald als möglich dieses Lauf-Abstinenz-Syndrom zu überwinden trachten und
in der Tat: nach Wiederaufnahme des Trainings kommt es zur raschen Rück-
bildung dieser Symptomatik, wie die Experten bestätigen.

Woher dies alles? Die fachliche Erklärung lautet: „Regelmäßige motorische


Aktivität führt zu einer Down-Regulation von zentralen 5-HT2c-Rezeptoren.
Ausdauertraining bewirkt einen vermehrten Tryptophan-Einstrom in das Ge-
hirn und scheint so die Synthese und auch den Umsatz von Serotonin zu sti-
mulieren“. Serotonin aber ist jener Neurotransmitter (Botenstoff) im Gehirn, der
u. a. für die Stimmung zuständig ist: wenig = Depression, zuviel = Hochstim-
mung? Und wenn das Gehirn eine entsprechend hoch angesiedelte Serotonin-
Verfügbarkeit gewohnt ist, dann reagiert es „unwirsch“ auf eine Absenkung.
Diese kann krankheits-bedingt sein (z. B. Depression und Angststörung), in
leichter und vor allem selbst-korrigierbarer Form auch durch eine Änderung
(sprich Reduzierung) durch körperliche Aktivität. (Nebenbei auch durch andere
Maßnahmen, aber das ist hier nicht das Thema)

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Daneben scheint sich körperliche Aktivität auch über weitere gehirn-physiolo-


gische Schienen vorteilhaft auszuwirken. Einzelheiten würden in diesem Zu-
sammenhang zu weit führen, doch kommt es auf jeden Fall zu einer Stimulie-
rung der Neuro-Genese (also zu einer verstärkten Entwicklung von Gehirn-
Nervenzellen). Das wiederum verbessert die Leistung, z. B. in Bezug auf Ge-
dächtnis und andere geistige Funktionen. Im Tierexperiment konnte übrigens
auch gezeigt werden, dass die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegenüber
verschiedenen Schadstoffen (Fachbegriff: Noxen) durch körperliche Aktivität
erhöht werden kann.

Das passt nebenbei gut zu klinischen Untersuchungen, in denen Ausdauertrai-


ning ein vorbeugender und therapeutischer Effekt im Hinblick auf die Alzhei-
mer’sche Demenz zugeschrieben wird. In leichteren oder mittelgradigen Fällen
soll einer konsequenten körperlichen Aktivität der gleiche Erfolg zukommen
wie die medikamentösen Behandlungsversuche, vermuten manche Experten.

Da wissenschaftlich eindeutig belegt und mittlerweile allseits bekannt ist, dass


regelmäßiges Ausdauertraining einen vorbeugenden Effekt auf die wichtigsten
Gefäß-Risikofaktoren hat (z. B. erhöhter Blutdruck, Fettstoffwechselstörung,
Übergewicht, diabetische Stoffwechsellage u. a.) und körperliche Aktivität zu-
dem eine vorbeugende Wirkung für eine Vielzahl anderer Erkrankungen entwi-
ckelt, wird auch nicht mehr bezweifelt, dass damit die Lebenserwartung erhöht
werden kann, und zwar eindeutig. Da mittlerweile auch eine Vielzahl von
Wechsel-Beziehungen zwischen diesen Gefäßrisiken (Fachbegriff: metaboli-
sches Syndrom) und depressiven Störungen erwiesen ist, könnte regelmäßi-
ges Training auch über diese Schiene einen antidepressiven Effekt bewirken.

DEPRESSIONEN UND SEXUELLE FUNKTIONSSTÖRUNGEN

Früher sprach man nicht darüber, aber die Not war gleich. Heute geht man an
die Auslage eines Kiosks und meint: Es gibt kein anderes Thema auf dieser
Welt. Und manche Fernsehprogramme scheuen sich nicht einmal mehr, ent-
sprechende Sendungen, zumindest aber Bilder zu bringen, zu denen zu be-
reits nachmittäglicher Zeit auch Kinder Zugang haben. Gemeint ist die Sexuali-
tät.

Seltsamerweise aber bleibt eines gleich: „Sex“ überschwemmt uns, aber dar-
über gesprochen wird nicht – wenn es einen selber negativ betrifft.

Das bestätigen auch Hausarzt und sogar Psychiater. Sexuelle Störungen sind
kein Thema – scheinbar. Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus. Zum
einen wird gnadenlos übertrieben, wenn von Befragungen die Rede ist, bei de-
nen sich selbstredend jeder so positiv darstellt, wir irgend glaubhaft. Zum an-

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deren wird darüber auch nicht mit den Experten gesprochen bzw. erst dann,
wenn man ohnehin bereits „alle Hoffnungen verloren hat“ oder im Rahmen ei-
ner sonstigen Erkrankung zu „solch peinlichen Zugeständnissen gezwungen
wird“.

Die Depression ist dafür ein gutes, konkreter: bedauerliches Beispiel. Beson-
ders ungünstig ist die Situation „sexueller Dysfunktionen“ bei depressiven Stö-
rungen, erklärt der Psychologe Prof. Dr. Uwe Hartmann vom Arbeitsbereich
Klinische Psychologie der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie
an der Medizinischen Hochschule Hannover in der Psychiatrischen Praxis
S 3/2007.

Dabei sind unsere Kenntnisse durchaus fundiert, der Zusammenhang bei-


spielsweise zwischen Depression und sexuellen Funktionsstörungen sogar gut
untersucht. Im Einzelnen:

- Etwa ein Drittel der medikamentös unbehandelten Depressiven berichtet


über negative Auswirkungen auf ihre Sexualität. Dies betrifft alle Phasen der
sexuellen Reaktion, also Libido, Erregung/Erektion, Ejakulation/Orgasmus
bzw. Befriedigung.

- Ein hoher Prozentsatz, nämlich zwischen 50 und 90% der depressiven Pati-
enten insgesamt beklagt Beeinträchtigungen in der Sexualität.

- Das häufigste mit Depressionen verbundene Sexualproblem ist die Minde-


rung oder der Verlust sexuellen Interesses und der sexuellen Ansprechbar-
keit.

- Bei Männern sind Depressionen einer der stärksten Prädiktoren (Vorhersa-


ge-Kriterien) für die Entwicklung einer Erektions-Störung (Versteifung des
männlichen Gliedes).

Was sind die Ursachen? Zum einen bestimmte Verhaltensmuster wie (über-
trieben-ängstliche) Selbstbeobachtung, Ablenkung und Versagens-Angst bei
depressiven Patienten. Zum anderen biologische Ursachen (z. B. Überaktivie-
rung des sympathikotonen Anteils des autonomen Nervensystems mit der da-
mit verbundenen Unfähigkeit, die notwendige Entspannung einzuleiten und
aufrecht zu erhalten). Entscheidender sind natürlich die biochemischen Ursa-
chen, wobei der erniedrigte Testosteron-Spiegel nur einen Teil des Problems
darstellt. Inzwischen ist man aber auch schon soweit, im fMRI (Abkürzung für
ein modernes bildgebendes Diagnose-Verfahren) eine niedrigere subjektive
Erregung und damit geringere Aktivierung bestimmter Hirn-Areale in einer de-
pressiven Verfassung festzustellen (während umgekehrt bestimmte Hirnregio-
nen mit sexuellen Hemmungs-Aufgaben nicht in der erforderlichen Weise „ab-
geschaltet“ werden können). Einzelheiten würden hier zu weit führen, wobei
die Forschung auch noch am Anfang eines – allerdings hochinteressanten –
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Weges steht. Nachfolgend deshalb einige leichter nachvollziehbare Erkennt-


nisse, und zwar

1. zur Bedeutung von Depressionen bei sexuellen Funktionsstörungen und


2. zur Bedeutung sexueller Dysfunktionen bei depressiven Störungen.

Im Einzelnen:

Die Bedeutung von Depressionen bei sexuellen Funktionsstörungen

Wir haben schon gehört: Sexuelle Störungen sind bei Depressionen häufig.
Damit ist aber noch nicht die Kausalität erklärt, d. h. das „Warum“. Außerdem
sind die Auswirkungen einer Depression auf die Sexualität deutlich vielschich-
tiger als früher angenommen, und dann noch in komplexer Weise mit den Ne-
benwirkungen bestimmter Antidepressiva verknüpft (s. später).

Die häufigste Auswirkung einer Depression besteht erst einmal im Verlust oder
in der Minderung der sexuellen Appetenz, also dem sexuellen Verlangen, was
sich natürlich auch gleich auf die sexuelle Erregbarkeit auswirkt. In früheren
Studien wurde deshalb ein niedriges sexuelles Interesse bei zwei Drittel aller
(allerdings schwer) depressiv Erkrankten festgestellt, während dies bei Nicht-
Depressiven in höchstens jedem vierten Fall registriert werden konnte. Neuere
Untersuchungen gehen sehr viel differenzierter vor, was dann allerdings auch
zu komplexeren Ergebnissen führt. Im Wesentlichen aber bleibt die Erkennt-
nis: Depressive Zustände führen zu sexuellen Beeinträchtigungen, wobei das
weibliche Geschlecht nicht weniger darunter leidet, z. B. mit Orgasmusstörun-
gen, Dyspareunie (Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) und Vaginismus
(Scheiden-Krampf).

Neuere Untersuchungen konzentrieren sich aber vor allem auf sexuelle Funkti-
onsstörungen beim Mann (Fachbegriff: erektile Dysfunktion - ED) im Rahmen
von Depressionen oder Stress-Faktoren mit verstärktem Ärger. Dabei ergab
sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Stärke des depressiven Be-
schwerdebildes und der Ausprägung einer erektilen Dysfunktion, und zwar in-
teressanterweise unabhängig vom Lebensalter. Und es bestätigten sich die
Vermutungen, dass depressive Symptome (also noch nicht unbedingt eine
ausgeprägte Depressions-Krankheit) ein Prädiktor (Vorhersage-Kriterium) ei-
ner dann zu erwartenden erektilen Dysfunktion werden könnte.

Die Schlussfolgerung dieser Untersuchungen lautet, gleichsam als Aufgabe für


den Arzt und ggf. Psychologen: Patienten mit sexuellen Funktionsstörungen
sollten auch zu einer ggf. depressiven Stimmungslage befragt werden; und de-
pressive Verstimmungen (also noch lange keine Depressionen als schwere
Krankheit) sollten die Frage nach sexuellen Funktionsstörungen nach sich zie-
hen. In beiden Fällen ist nämlich vom Patienten selber kaum ein entsprechen-
der Hinweis zu erwarten, er muss erfragt werden.

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Die Bedeutung sexueller Dysfunktionen bei depressiven Störungen

Wer schon an leichteren, vor allem aber mittelschweren oder gar schweren
Depressionen zu leiden hat, ist ohnehin beeinträchtigt genug. Wenn jetzt noch
zusätzlich sexuelle Störungen hinzukommen (was also im Rahmen einer De-
pression fast schicksalhaft zu erwarten ist), dann kann man sich die Doppel-
Belastung vorstellen (auch wenn die Sexualität nicht unbedingt als „Wichtigs-
tes im Leben“ bewertet wird, gleichsam vorbeugend bzw. bedeutungs-min-
dernd).

Am häufigsten und auch beharrlichsten finden sich Beeinträchtigungen im Sin-


ne eines nachlassenden Interesses an Sexualität, aber auch allgemeine
Schwierigkeiten im Bereich sexueller Erregung und Befriedigung. Natürlich
gibt es auch individuelle Unterschiede:

Bei manchen depressiven Männern ist der Verlust des sexuellen Interesses
auf der Verhaltensebene weniger bedeutsam, eher die depressiv getönte Be-
wertung der sexuellen Funktion und des sexuellen Erlebens als weniger be-
friedigend und lustvoll. Wieder andere zeigen dem gegenüber sogar eine er-
höhte sexuelle Aktivität, möglicherweise als eine Art Selbst-Behandlung oder
zumindest -Stabilisierung, gleichsam als eine Art „biologisches Antidepressi-
vum“.

Was aber auf jeden Fall erfreulich ist, Hoffnung machen und deshalb entspre-
chend angesprochen werden soll: Die Mehrzahl der sexuellen Beeinträchti-
gungen geht nach Abklingen der Depression wieder (völlig) zurück.

Nebenwirkungen von Antidepressiva

Am häufigsten wird in der Medizin das Problem entsprechender Nebenwirkun-


gen von Antidepressiva auf die Sexualität bewertet, beforscht und publiziert.
Das betrifft vor allem die ältere Klasse der so genannten trizyklischen Antide-
pressiva, leider aber auch die neueren Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SSRI), die zwar nicht unbedingt wirkungsvoller, dafür aber mit weniger Ne-
benwirkungen generell belastet sind. Die genauen Wirkungsmechanismen der
SSRI im Sinne ihrer unerwünschten Begleiterscheinungen sind zwar noch
nicht exakt geklärt, dafür aber die Häufigkeit der Klagen recht gut objektivier-
bar, nämlich:

Sexuelle Dysfunktionen gehören zu den am meisten beeinträchtigenden Ne-


benwirkungen, und zwar zwischen 35 und 60 % der Patienten. Eine nicht ge-
ringe Zahl der Therapie-Abbrüche geht deshalb auch – zumindest bei entspre-
chendem Alter – auf dieses Problem zurück.

Dabei scheinen alle Aspekte der sexuellen Aktivität betroffen zu sein, wobei je-
doch die meisten Patienten über Orgasmus-Probleme und mangelndes Ver-
langen klagen. Das ist leider Realität, bedauerlich, aber nicht ableugbar.
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Gleichwohl gilt es dabei aber zu berücksichtigen, dass man diese Nebenwir-


kungen oft schwer von den Auswirkungen der Grunderkrankung unterscheiden
kann. Man sollte deshalb seitens des Arztes gezielt nachfragen, ob entspre-
chende Defizite nicht schon vor der Behandlung aufgefallen sind, insbesonde-
re bei schweren Depressionen. Und man sollte versichern, dass eine langsa-
me Genesung (nämlich durch das verordnete Antidepressivum) auch mit einer
nach und nach verbesserten sexuellen Aktivität einherzugehen pflegt. (s. u.)

Was kann man tun?

Die konkreten Schlussfolgerungen, insbesondere was eine effektive therapeu-


tische Wirkung und gleichzeitig möglichst wenig Nebenwirkungen anbelangt,
halten sich notgedrungen in Grenzen. Natürlich kann man ein Antidepressivum
wählen, das weniger sexuelle Störungen nach sich zieht. Leider sind die der-
zeit gebräuchlichsten und wohl auch erfolgreichsten Substanzen alle im We-
sentlichen ähnlich belastet. Diejenigen, die hier weniger Probleme aufwerfen,
haben dafür andere Nachteile, auch wenn das eine oder andere Kompromiss-
Medikament diskutiert werden kann (Einzelheiten siehe Fachliteratur bzw. im
persönlichen Gespräch der Hausarzt oder Psychiater).

Wichtig sind Aufklärung und die Bitte um Geduld. Dabei kann man sich be-
stimmter Metaphern bedienen, die das Problem von einer anderen Seite her
etwas optimistischer „aussitzen“ lassen (siehe Kasten). Schließlich pflegen se-
xuelle Störungen durch Antidepressiva im Verlauf des Leidens kaum zuzuneh-
men, eher zurück zu gehen, nämlich in jenem Maße, wie das Arzneimittel
„greift“ und eine langsame, aber konsequente Besserung verspricht. Auch
kann man mit einer individuell angepassten Dosierung etwas weniger Neben-
wirkungs-Last erreichen, was aber ggf. heißt, dass die reduzierte Gabe dann
auch länger braucht, bis der End-Erfolg sicher gestellt ist.

Erfahrene Psychiater benützen gerne nachvollziehbare, eingängige und da-


mit besser verstehbare, nutzbare und tröstliche Metaphern, d. h. eine alltags-
orientierte Ausdrucksweise, die im Gedächtnis haften bleibt. Dazu folgendes
Beispiel:

Eine Nation wird im Krieg oder durch Naturgewalten völlig zerstört. Was ist
das erste, was Regierung und örtliche Behörden in Angriff nehmen? Wird zu-
erst die Oper oder das Schauspielhaus wieder aufgebaut – oder die Trink-
wasser-Versorgung gesichert? Ähnlich kann man sich einen von Depressio-
nen betroffenen Organismus vorstellen. Wird er in diesem Zustand als erstes
die reduzierte oder gar erloschene Sexualität „wieder beleben“? Oder lieber
alle Kräfte bündeln, um körperlich, geistig und seelisch die notwendige Stabi-
lität zu sichern? Später, wann auch immer es der staatliche Wiederaufbau
bzw. psycho-physische Zustand zulässt, können auch Opernhaus bzw. Se-
xualität wieder aufgebaut bzw. reaktiviert werden. Bis dahin aber gilt es ge-
duldig zu sein.

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Das Beispiel mag „hinken“, amüsieren oder gar Widerstand auslösen. Wer
ein besseres hat, um einem Menschen in Not die Situation zu erläutern bzw.
um Geduld zu bitten, möge es nutzen. Wer sich allerdings aus Bequemlich-
keit drückt, macht sich eines therapeutischen Defizits schuldig.

Aus der Vorlesung eines alten Psychiatrie-Professors.

Es sind zwar neue antidepressive Substanzen in Arbeit (Forschung) oder so-


gar inzwischen auf dem Markt, die weniger sexuelle Einbußen mit sich bringen
sollen. Hier muss allerdings der behandelnde Therapeut entscheiden, was ihm
wichtig, unerlässlich oder ggf. alternativ machbar erscheint.

Ist der Kummer um die sexuellen Störungen aber zentral und kann aus wel-
chen Gründen auch immer das nachgewiesenermaßen „schuldige“ Antide-
pressivum nicht ausgetauscht werden, empfehlen die Experten, wie auch Prof.
Dr. Uwe Hartmann, den Einsatz der inzwischen bekannten PDE 5-Hemmer für
Männer, nämlich Sildenafil, Tadalafil oder Vardenafil (Handelsnamen beim
Arzt oder Apotheker erfragen), die gerade erektile Dysfunktionen z. T. mit er-
staunlichem Erfolg beheben bzw. – rechtzeitig eingesetzt – verhindern kön-
nen. Das vermag dann auch einen günstigen Einfluss auf die Partnerschaft
auszuüben und sich damit insgesamt positiv auf den Verlauf der Depressionen
auszuwirken, schließt der Autor seinen Beitrag. Einen interessanten und in der
Realität sehr viel bedeutsameren Problemkreis, als allgemein zugestanden
wird, selbst in einer Zeit der „überbordenden fassadären Sexualität“.

LITERATUR

Jedes dieser Themen aus dem Sonderheft Multiplizität der Depression in der
Psychiatrischen Praxis vom September 2007 (S 3/2007) bietet ein ausführli-
ches Literaturverzeichnis, was im Bedarfsfall beim jeweiligen Autor nachge-
fragt werden kann.

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