Dirie, Waris - Wüstenblume
Dirie, Waris - Wüstenblume
Dirie, Waris - Wüstenblume
Waris Dirie ist ein Wesen aus zwei Welten: das Nomadenmdchen aus der
endlosen Wste Somalias und als Topmodel ein Geschpf der schnellen,
kurzlebigen Modewelt.
Mit ungefhr 14 Jahren flieht sie vor ihrem Vater, als er sie mit einem alten
Mann verheiraten mchte. Ihre Flucht fhrt sie schlielich als Hausmd
chen des somalischen Botschafters nach London. Sie jobbt bei McDo
nald's, wird dann als Model entdeckt, und 1991 kommt der groe Durch
bruch. Waris wird eines der gefragtesten Topmodels der Welt und arbeitet
mit den berhmtesten Modefotografen.
Doch ein Teil ihrer Seele ist in Afrika geblieben, obwohl sie dort die grau
samste Folter erdulden mute, die man einem Mdchen antun kann: Im
Alter von fnf Jahren wurde sie beschnitten. Neben den unsglichen Qua
len dieser Prozedur und den lebenslangen Schmerzen hat man sie damit
fr den Rest ihres Lebens der Mglichkeit jeder sexuellen Empfindung
beraubt.
In einem Artikel in Marie Claire brach sie ihr jahrelanges Schweigen, und
ein Gesprch mit der Starinterviewerin Barbara Walters erregte 1997 welt
weit Aufsehen.
In Wstenblume erzhlt sie von ihrem Leben, erzhlt mit der Stimme der
selbstbewuten Frau, die als UNO-Sonderbotschafterin den Kampf fr die
6000 Mdchen aufgenommen hat, die tglich immer noch weltweit be
schnitten werden.
DIE AUTORIN
Waris Dirie, Jahrgang 1965, verlie im Alter von 14 Jahren ihre Heimat und
wurde in London als Model entdeckt. 1991 Umzug nach New York, wo sie
durch Werbeaufnahmen fr Levi's und Benetton berhmt wurde. Seit 1994
Sonderbotschafterin der UNO im Kampf gegen die Folter der rituellen Be
schneidung. Waris Dirie ist verheiratet und hat einen Sohn. Sie leidet noch
heute an den Folgen ihrer Beschneidung - krperlich und seelisch.
Waris Dirie
und Cathleen Miller
Wstenblume
Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Jendricke,
Christa Prummer-Lehmair,
Gerlinde Schermer-Rauwolf
und Barbara Steckhan
S&C roccoEB
Desert Flower
Originalverlag:
Pseudonym vorgestellt.
Umschlaggestaltung:
Bauer + Mhring
CIP-Einheitsaufnahme
Dirie, Waris:
ISBN 3-548-35912-4
Fr Mama
Oh, du bist das feine Tuch, in das der junge Herr sich hllt,
Der kostbare Teppich, fr den man Tausende zahlt. Werde ich
je eine finden, die so einzigartig ist wie du? Ein Schirm kann
zerbrechen, du jedoch bist stark wie geschmiedetes Eisen.
Ob, du bist wie Gold aus Nairobi, aufs feinste verziert, Du bist
die aufgehende Sonne, das erste Licht des Morgens,
Werde ich je eine finden, die so einzigartig ist wie du?
Altes somalisches Gedicht
1. Die Ausreierin
Ein leises Gerusch weckte mich. Ich ffnete die Augen und
starrte direkt in das Gesicht eines Lwen. Sofort war ich hell
wach. Ich ri meine Augen so weit auf, als ob das Tier vor mir
darin Platz finden mte. Da ich seit Tagen nichts gegessen
hatte, war ich viel zu schwach, um aufzustehen, und meine
Beine gaben schon bei dem Versuch zitternd unter mir nach.
Matt lie ich mich an den Baum zurcksinken, in dessen
Schatten ich, geschtzt vor der gnadenlosen Sonne der afri
kanischen Wste, Rast gemacht hatte. Ich legte ruhig den
Kopf an den Stamm, schlo die Augen und sprte die rauhe
Baumrinde an meinem Schdel. Der Lwe war so nahe, da
ich in der sengenden Hitze seinen fauligen Atem roch. Und so
sprach ich zu Allah: Nun ist es vorbei, Herr. Nimm mich zu
dir.
Meine lange Reise durch die Wste war zu Ende. Ich hatte
weder einen Schutz noch eine Waffe und erst recht nicht die
Kraft, fortzulaufen. Doch selbst im gnstigsten Fall htte ich
gegen den Lwen nicht ankommen knnen, auch nicht durch
die Flucht auf den Baum. Denn wie alle Katzen sind Lwen
ausgezeichnete Kletterer und mit ihren langen Krallen weit
schneller als ein Mensch. Bevor ich den Baum auch nur zur
Hlfte hinaufgestiegen wre, htte er mich schon mit einem
Prankenhieb erledigt. Tapfer schlug ich die Augen auf. Komm
und hol mich, sagte ich zu dem Lwen. Ich bin bereit.
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und nach wurde mir klar, was geschehen war. O Allah, ich bin
ganz allein. Was soll ich nur tun?
Ich stand auf und lief weiter. Dies hielt ich ber Tage hinweg
durch; wie viele es waren, wei ich nicht. Ich wei lediglich,
da es Zeit fr mich nicht mehr gab, es gab nur noch Hunger,
Durst, Angst und Schmerzen. Wenn ich abends in der Dunkel
heit nichts mehr sehen konnte, setzte ich mich hin und ruhte
mich aus. Und mittags, wenn die Sonne am hchsten stand,
hockte ich mich unter einen Baum und machte Rast.
In einer dieser Mittagspausen weckte mich der Lwe aus
meinem Schlummer. Mittlerweile war mir meine Freiheit egal;
ich wollte nur noch zurck zu Mama. Nach meiner Mutter
sehnte ich mich mehr als nach Essen und Trinken. Und ob
wohl wir es gewohnt waren, einen oder zwei Tage ohne Na h
rung und Flssigkeit auszukommen, wute ich, da ich auf
diese Weise kaum noch lnger berleben konnte. Ich fhlte
mich so matt, da mir jede Bewegung schwerfiel, und meine
Fe waren so aufgeschrft und entzndet, da mich jeder
Schritt schmerzte. Als der Lwe vor mir sa und sich hungrig
das Maul leckte, hatte ich bereits aufgegeben. Ein schneller
Tod durch das Raubtier erschien mir als willkommener Aus
weg aus meinem Elend.
Doch der Lwe sah die Knochen, die sich unter meiner Haut
abzeichneten, sah meine eingefallenen Wangen, meine her
vortretenden Augen und wandte sich ab. Ich wei nicht, ob er
Mitleid mit mir hatte oder zu der vernnftigen Einschtzung
kam, da ich keine lohnende Mahlzeit abgeben wrde. Aber
vielleicht hatte in diesem Augenblick auch Allah seine Hand im
Spiel. Er wrde nicht so unbarmherzig sein, berlegte ich, und
mich verschonen, nur um mich des viel grausameren Hunger
todes sterben zu lassen. Er hatte mich fr etwas anderes vo r
gesehen, und so flehte ich ihn an, mir beizustehen. Hier bin
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Mir war klar, da ich in der Patsche sa, doch weil ich mir
nicht zu helfen wute, nickte ich nur. Der Fahrer bedeutete
mir, auf die Ladeflche zu klettern. Froh, nicht direkt neben
den beiden sitzen zu mssen, stieg ich hinten auf. Ich hockte
mich in eine Ecke und machte es mir auf den Steinen so be
quem, wie es ging. Mittlerweile war es dunkel und kalt gewor
den, und als der Laster losfuhr, kauerte ich mich hin, um im
Fahrtwind nicht allzusehr zu frieren.
Als nchstes erinnere ich mich, da der Beifahrer auf den
Steinen neben mir kniete. Er war Mitte Vierzig und hlich,
unglaublich hlich! Er hatte kaum noch Haare, war fast schon
kahl. Wohl zum Ausgleich hatte er sich einen kleinen
Schnauzbart wachsen lassen. Seine wenigen noch brigge
bliebenen Zhne waren Stummel und vom Khat schmutzigrot.
Trotzdem stellte er sie stolz zur Schau, als er mich angrinste.
Solange ich lebe, nie werde ich dieses Gesicht vergessen, das
lstern auf mich herabstarrte.
Auerdem war er fett, wie ich feststellte, nachdem er sich
die Hose heruntergezogen hatte. Sein erigierter Penis
schwankte. Er griff nach meinen Beinen und versuchte, sie
auseinanderzudrcken.
O bitte nicht! Bitte nicht! jammerte ich. Ich schlang meine
mageren Schenkel bereinander und schlo sie fest zusam
men. Er rang mit mir, zerrte an meinen Beinen. Als er merkte,
da er damit keinen Erfolg hatte, hob er die Hand und schlug
mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich stie einen schrillen Schrei
aus, der hinter mir in der Nacht verhallte.
Verdammt! Mach die Beine breit! Mittlerweile hockte er
mit seinem ganzen Gewicht auf mir. Die rauhen Kanten der
Steine schnitten mir in den Rcken. Er ri die Hand hoch und
schlug mich erneut, diesmal noch hrter. Bei seinem zweiten
Schlag wurde mir klar, da ich mir etwas einfallen lassen
mute, denn ich besa zu wenig Kraft, um gegen ihn anzu
kommen. Auerdem wute dieser Mann offensichtlich ganz
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der kleine Strau schlpfte, und ihn dann als Haustier behal
ten. Das Ei hat die Gre einer Bowlingkugel, und gerade als
ich es aus seinem als Nest dienenden Sandloch nehmen und
forttragen wollte, kam die Strauenmutter und heftete sich an
meine Fersen. Straue sind verflixt schnell, sie schaffen bis zu
sechzig Stundenkilometer. Sie hatte mich bald eingeholt und
begann - Ka-Ka-Ka -, nach meinem Kopf zu hacken. Ich hatte
Angst, sie wrde mir die Schdeldecke einschlagen wie eine
Eierschale. Rasch legte ich ihr Baby auf den Boden, und dann
rannte ich um mein Leben.
An Waldgebiete stieen wir nur selten, aber wenn es doch
einmal geschah, taten wir nichts lieber, als die Elefanten zu
beobachten. Sobald wir in der Ferne ihr schmetterndes Trom
peten hrten, kletterten wir in die Bume, um sie ausfindig zu
machen. Wie Lwen, Affen und Menschen leben die Elefanten
in greren Gemeinschaften. Wenn sie ein Baby in ihrer Mitte
haben, sorgen alle ausgewachsenen Tiere - Cousine und
Cousin, Tante, Onkel, Schwester, Mutter und Groeltern - da
fr, da ihm keiner zu nahe kommt. Wir Kinder standen oben
im Baum und freuten uns. Den Elefanten konnten wir stun
denlang zusehen.
Doch mit der Zeit wurden diese glcklichen Tage im Kreise
der Familie immer seltener. Meine Schwester lief fort, mein
Bruder ging auf die Schule in der Stadt. Ich erfuhr traurige
Dinge ber meine Angehrigen und ber das Leben. Der Re
gen blieb aus, und es fiel uns immer schwerer, die Tiere zu
versorgen. Das Leben wurde hrter. Und auch ich wurde hr
ter.
Zum Teil rhrte das daher, da ich Brder und Schwestern
von mir sterben sah. Ursprnglich hatten meine Eltern zwlf
Kinder, aber nur sechs sind davon heute noch am Leben. Zwei
Zwillinge starben gleich nach der Geburt. Dann bekam meine
Mutter eine wunderhbsche Tochter. Mit etwa sechs Monaten
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war die Kleine gesund und krftig. Doch irgendwann rief mich
meine Mutter aus heiterem Himmel zu sich. Waris! Ich
strzte zu ihr und sah, da sie sich ber das Baby beugte. Ich
war selbst noch ein kleines Mdchen, wute jedoch sofort,
da mit der Kleinen etwas nicht stimmte; sie sah nicht normal
aus. Lauf und hol mir ein wenig Kamelmilch, herrschte mich
meine Mutter an. Ich war unfhig, mich zu rhren. Lauf, beeil
dich! Wie in Trance und voller Furcht blickte ich meine kleine
Schwester an. Worauf wartest du noch? schrie meine Mut
ter.
Schlielich ri ich mich zusammen. Mir war klar, was mich
bei meiner Rckkehr erwarten wrde. Als ich mit der Milch
wiederkam, lag das Baby reglos da. Ich wute, da die Kleine
tot war. Whrend ich sie so betrachtete, schlug mir meine
Mutter pltzlich ins Gesicht. Noch lange Zeit spter gab sie mir
die Schuld am Tod des Babys; sie meinte, ich htte Zauber
krfte und den Tod meiner Schwester herbeigerufen, als ich
sie so in Trance anstarrte.
Von derartigen Krften konnte bei mir keine Rede sein; es
war mein kleiner Bruder, der bernatrliche Fhigkeiten be
sa. Allen war klar, da er kein gewhnliches Kind war. Wir
nannten ihn Alter Mann, weil er schon im Alter von knapp
sechs Jahren vollkommen ergraute. Er war auergewhnlich
klug, und die Leute um uns herum suchten seinen Rat. Sie
kamen zu uns und fragten: Wo ist der Alte Mann? Dann
nahmen sie den kleinen grauhaarigen Jungen auf den Scho.
Wie wird es dieses Jahr mit dem Regen? wollten sie bei
spielsweise wissen. Obwohl er den Jahren nach noch ein Kind
war, verhielt er sich niemals wie ein Kind. Er dachte, sprach,
sa da und benahm sich wie ein weiser lterer Mann. Zwar
achteten ihn alle, doch gleichzeitig frchteten sie ihn, denn
ganz offensichtlich war er keiner von uns. Noch jung an Jah
ren, starb der Alte Mann, als habe er ein ganzes Menschenle
ben in einige wenige Jahre zusammengefat. Niemand wute,
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Mehrere Jahre vor dem Vorfall mit den Schuhen, als ich
noch ein kleines Mdchen war, hatten wir eines Tages Be
such. Guban war ein guter Freund meines Vaters und kam
hufig vorbei. In der Abenddmmerung stand er bei meinen
Eltern und unterhielt sich mit ihnen, bis meine Mutter zum
Himmel sah. Als sie den helleuchtenden maqal hidhid ent
deckte, meinte sie, es sei Zeit, die Schafe hereinzubringen.
Oh, das kann ich doch fr euch tun, sagte Guban. Waris
soll mir helfen.
Ich kam mir wichtig vor, als Vaters Freund mich den Jungen
vorzog, um gemeinsam mit ihm die Tiere zu versorgen. Er
nahm mich bei der Hand, und wir gingen von der Htte zur
Herde, um sie zusammenzutreiben. Normalerweise wre ich
selbst wie ein junges Tier herumgerannt, doch weil es schon
dunkel wurde, bekam ich Angst und blieb in Gubans Nhe.
Pltzlich zog er seine Jacke aus, breitete sie auf den Sand und
setzte sich darauf. Ich starrte ihn verwundert an. Warum setzt
du dich hin? Es wird Nacht; wir mssen die Tiere hereinbri n
gen, protestierte ich.
Wir haben Zeit. Das ist im Handumdrehen erledigt. Er
sa auf der einen Hlfte der Jacke und klopfte auf den Platz
neben sich. Komm, setz dich. Zgernd ging ich zu ihm hin.
Da ich als Kind fr mein Leben gern Geschichten hrte, wollte
ich die gnstige Gelegenheit beim Schopfe packen. Erzhlst
du mir eine Geschichte?
Guban klopfte wieder auf den Mantel. ja, wenn du dich
hinsetzt, erzhle ich dir eine. Kaum hatte ich neben ihm Platz
genommen, da versuchte er, mich nach hinten zu drcken.
Ich will nicht liegen. Ich will, da du mir eine Geschichte er
zhlst, beharrte ich trotzig und wand mich nach oben.
Nun komm schon, komm. Er drckte meine Schultern
nach unten. Leg dich hin, sieh dir die Sterne an, und ich er
zhle dir eine Geschichte. Daraufhin lie ich den Kopf auf die
Jacke sinken, grub meine Zehen in den kalten Sand und be
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der und wieder wrde sehen mssen, wurde mir klar, da ich
ihn hassen wrde bis an mein Lebensende.
Mutter streichelte mir ber den Kopf, als ich mein Gesicht
an ihre Hften prete. Ist schon gut, Waris, ist schon gut. Das
war doch nur eine Geschichte, Kleines, und berhaupt nicht
wahr. Und zu Guban gewandt fragte sie: Wo sind die Lm
mer?
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3. Ein Nomadenleben
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Komm her, Schtzchen ... Meine Mutter lenkte ein und gab
mir von dem Popcorn.
In diesem Alter hatte ich keine Vorstellung davon, da es
noch etwas anderes geben knnte als unser Leben inmitten
der Ziegen und Kamele. Da ich keine fremden Lnder und we
der Bcher noch Fernsehen oder Kino kannte, bestand meine
Welt einfach nur aus all jenem, was ich tagtglich um mich
herum sah. Und noch weniger war mir klar, da meine Mutter
aus vllig anderen Verhltnissen stammte. Vor Somalias Un
abhngigkeit im Jahre 1960 gehrte der sdliche Teil des
Landes als Kolonie zu Italien. Daher war Mogadischus Kultur,
Architektur und Gesellschaft stark geprgt von italienischen
Einflssen, und aus diesem Grund sprach meine Mutter auch
Italienisch. Gelegentlich, wenn sie wtend war, stie sie eine
Reihe italienischer Flche aus. Mama! Ich sah sie ngstlich
an. Was redest du da?
Ach, das ist Italienisch.
Was ist Italienisch? Was bedeutet das?
Nichts - kmmere dich um deine eigenen Angelegenhei
ten, wies sie mich ab.
Spter entdeckte ich auf eigene Faust - so wie ich ent
deckte, da es Autos und Huser gab -, da Italienisch zu ei
ner Welt gehrte, die sich jenseits unserer Htte auftat. Wir
Kinder fragten unsere Mutter oft, warum sie Papa geheiratet
hatte. Warum bist du mit diesem Mann weggegangen? Sieh
doch, wo du lebst, whrend deine Brder und Schwestern als
Botschafter in allen Teilen der Welt wohnen. Und was hast du
erreicht? Warum bist du mit diesem Versager weggelaufen?
Sie antwortete dann, da sie sich eben in Papa verliebt habe
und da sie deshalb mit ihm weggelaufen sei, weil sie mit ihm
zusammenleben wollte. Meine Mutter ist dennoch eine sehr
starke Frau. Obwohl sie soviel durchmachen mute, hrte ich
nie eine Klage von ihr. Ich hrte sie niemals sagen: Ich habe
das alles satt, oder: Ich mache das nicht mehr mit. Mama
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Das werdet ihr schon sehen. Kommt einfach mit und helft
mir. Ich holte ein dickes, festes Seil, wie wir sie benutzten,
um unser Hab und Gut auf den Kamelen festzuschnren,
wenn wir weiterzogen. Dann fhrten wir Papas verngstigte
Frau von unserem Lager in den Busch. Dort zwangen wir sie,
sich ganz auszuziehen. Ich warf das eine Ende des Seils um
den Ast eines riesigen Baumes und band es um die Fukn
chel der kleinen Frau. Sie fluchte, schrie und schluchzte ab
wechselnd, whrend wir sie in die Luft zogen. Meine Brder
und ich probierten so lange herum, bis ihr Kopf etwa zweiein
halb Meter ber dem Erdboden baumelte. So war sie vor den
wilden Tieren sicher. Dann banden wir das Seil fest, gingen
nach Hause und lieen sie zappelnd und schreiend in der W
ste zurck.
Am Nachmittag des folgenden Tages kehrte mein Vater
heim, einen Tag zu frh. Er wollte wissen, wo seine kleine
Frau sei. Wir zuckten die Schultern und sagten, wir htten sie
nicht gesehen. Glcklicherweise hatten wir sie weit genug
weggefhrt, so da man ihre Schreie nicht hrte. Hmm,
sagte er und musterte uns argwhnisch. Bei Einbruch der
Dunkelheit hatte er noch immer keine Spur von ihr gefunden.
Papa wute, da irgend etwas nicht stimmte, und fing an, uns
auszufragen. Wann habt ihr sie zuletzt gesehen? Habt ihr sie
heute gesehen? Habt ihr sie gestern gesehen? Wir erklrten
ihm, sie sei letzte Nacht nicht heimgekommen, was natrlich
der Wahrheit entsprach.
Mein Vater geriet in Panik und suchte sie verzweifelt ber
all. Aber er fand sie erst am nchsten Morgen. Vaters Braut
hatte fast zwei Tage lang dort mit dem Kopf nach unten ge
hangen, und sie war in schlimmer Verfassung. Als er nach
Hause kam, war er auer sich vor Wut. Wer ist dafr verant
wortlich? wollte er wissen. Wir schwiegen eintrchtig und sa
hen uns an. Natrlich erzhlte sie es ihm. Sie sagte: Waris
war die Anfhrerin. Sie ist als erste ber mich hergefallen!
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Papa ging auf mich los und wollte mich schlagen, aber die an
deren Kinder strzten sich auf ihn. Obwohl wir wuten, da es
falsch war, den eigenen Vater zu schlagen, konnten wir es
einfach nicht lnger ertragen.
Nach diesem Tag war Papas kleine Frau wie ausgewech
selt. Wir hatten vorgehabt, ihr eine Lektion zu erteilen, und sie
hatte sie gut gelernt. Da das Blut zwei Tage lang in ihren
Kopf flo, hatte wohl ihr Gehirn erfrischt, denn sie wurde lie
benswrdig und hflich. Von diesem Zeitpunkt an kte sie
meiner Mutter die Fe und bediente sie wie eine Sklavin.
Soll ich dir etwas holen? Kann ich etwas fr dich tun? Nein,
das mach ich schon. Setz du dich hin, und ruh dich aus.
Da dachte ich bei mir: Es geht doch. Du httest dich von
Anfang an so benehmen sollen, du kleines Miststck. Dann
httest du uns viel unntigen Kummer erspart. Aber das No
madenleben ist hart, und obwohl sie zwanzig Jahre jnger war
als meine Mutter, war Vaters neue Frau nicht so stark wie sie.
Mama erkannte schlielich, da sie von diesem kleinen Md
chen nichts zu befrchten hatte.
Das Nomadenleben ist hart, aber es ist in seiner engen, un
auflslichen Naturverbundenheit auch voller Schnheit. Meine
Mutter hat mich nach einem Naturwunder benannt, denn Waris
bedeutet Wstenblume. Die Wstenblume wchst in einer
kargen Umgebung, wo sonst kaum etwas gedeihen kann. In
meinem Land fllt oft lnger als ein Jahr lang kein Regen.
Aber irgendwann setzt er ein, er reinigt die staubige Land
schaft, und dann erblhen wie durch ein Wunder diese
Blumen. Ihre Blten sind von einem leuchtenden Gelborange,
und aus diesem Grund war Gelb schon immer meine Lieb
lingsfa rbe.
Wenn ein Mdchen heiratet, gehen die Frauen ihres Stam
mes in die Wste und sammeln diese Blumen. Sie trocknen
die Blten und verarbeiten sie mit Hilfe von Wasser zu einer
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Paste, die sie auf das Gesicht des Mdchens streichen, damit
es golden schimmert. Auf ihre Hnde und Fe zeichnen sie
mit Henna kunstvolle Muster. Ihre Augen umranden sie mit
Khol, so da sie tief und sinnlich wirken. All diese Dinge wer
den aus Pflanzen und Krutern hergestellt, sie sind reine Na
turprodukte. Anschlieend hllen die Frauen die Braut in
leuchtend bunte Schals, rote, rosafarbene, orange und gelbe,
je mehr, desto besser. Auch wenn die Frau nicht viel besitzt
und viele Familien sind bitterarm -, daran soll es nicht man
geln. Sie trgt einfach das Beste, was ihre Mutter, ihre Schwe
stern oder Freundinnen finden knnen, und das mit groem
Stolz - eine Eigenschaft, die allen Somalis eigen ist. Am Tag
ihrer Hochzeit tritt sie nach drauen, um als betrende Sch n
heit ihren Brutigam zu begren. Ein Aufwand, den eigentlich
kein Mann verdient hat!
Zur Hochzeit bringen die Angehrigen des Stammes Ge
schenke mit, aber wieder besteht kein Zwang, etwas Besonde
res zu kaufen oder sich zu sorgen, da man sich nichts Besse
res leisten kann. Man gibt, was man hat: eine selbstgewebte
Schlafmatte, eine Schssel oder, wenn man nichts anderes
besitzt, irgend etwas zu essen fr die Feier nach der Zeremo
nie. So etwas wie Flitterwochen gibt es in meiner Kultur nicht,
der Tag nach der Hochzeit ist ein ganz normaler Arbeitstag fr
die Neuvermhlten. Sie brauchen all die Geschenke, um ihren
Hausstand zu grnden.
Auer Hochzeiten gibt es bei uns nur wenige Feste, und wir
kennen auch keine Feiertage, die im Kalender festgelegt sind.
Der wichtigste Grund zum Feiern ist der lang ersehnte Regen.
In meinem Land ist Wasser sehr knapp, und dabei ist es der
Urquell des Lebens. Die Nomaden in der Wste empfinden
groe Achtung fr das Wasser, fr sie ist jeder Tropfen ein
wertvolles Gut, und bis heute liebe ich das Wasser. Es macht
mir groe Freude, es einfach nur zu betrachten.
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Aman. Im Laufe der Zeit setzte sich in mir die Vorstellung fest,
da Jamah meine ltere Schwester mir vorzog, weil sie schon
beschnitten und damit etwas Besseres war. Wie sein Vater
wollte sich Jamah offensichtlich nicht mit schmutzigen, unbe
schnittenen kleinen Mdchen abgeben. Als ich etwa fnf Jahre
alt war, ging ich zu meiner Mutter. Mama, bitte mach diese
Frau fr mich ausfindig. Bitte, wann ist es denn endlich so
weit? Ich dachte, ich mu es hinter mich bringen - mu diese
rtselhafte Sache mit mir machen lassen. Wie das Schicksal
es wollte, gingen nur wenige Tage ins Land, ehe die Zigeune
rin erneut auftauchte.
Eines Abends sagte meine Mutter: brigens, dein Vater ist
dieser Zigeunerin begegnet. Wir erwarten sie, sie kann jeden
Tag hier eintreffen.
Am Abend vor meiner Beschneidung wies Mama mich an,
nicht zuviel Wasser oder Milch zu trinken, damit ich nicht st n
dig pinkeln mute. Zwar wute ich nicht, was sie meinte, doch
ich stellte keine Fragen und nickte nur brav. Ich war nervs,
aber entschlossen, es hinter mich zu bringen. Meine Familie
machte an diesem Abend groes Aufheben um mich, und ich
bekam eine Extraportion zum Essen. Das war so blich, und
genau das war es auch, was mich zuvor neidisch auf meine
lteren Schwestern gemacht hatte. Ehe ich mich schlafen
legte, sagte mir meine Mutter: Ich wecke dich in der Frhe,
wenn es Zeit ist. Woher sie wute, wann die Frau kommen
wrde, frage ich mich noch heute, aber Mama wute eben
immer alles. Sie sprte einfach, wenn jemand auf dem Weg zu
uns war oder wenn sich abzeichnete, da etwas Bestimmtes
geschah.
Aufgeregt lag ich in jener Nacht wach, bis pltzlich Mama
ber mir stand. Es war noch dunkel; jener Zeitpunkt vor Mor
genanbruch, wenn das Schwarz des Himmels unmerklich in
Grau bergeht. Mit einem Zeichen gab sie mir zu verstehen,
leise zu sein, und nahm meine Hand. Ich griff mir meine kleine
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auch, nur da sie nicht lchelte. Sie warf mir aus ihren toten
Augen einen strengen Blick zu, dann whlte sie in einer alten
Tasche aus Teppichstoff. Ich sah ihr aufmerksam zu, denn ich
wollte wissen, womit sie mich schneiden wrde. Eigentlich
hatte ich ein groes Messer erwartet, statt dessen zog sie ei
nen kleinen Stoffbeutel aus der Tasche. Sie griff mit ihren lan
gen Fingern hinein und brachte eine zerbrochene Rasierklinge
zum Vorschein, die sie von allen Seiten prfend musterte. Die
Sonne war gerade erst aufgegangen, und man konnte zwar
schon die einzelnen Farben erkennen, jedoch noch keine Ein
zelheiten. Trotzdem fiel mir auf, da auf der schartigen
Schneide der Klinge Blut klebte. Die Frau spuckte darauf und
wischte sie an ihrem Kleid ab. Noch whrend sie das tat, ver
dunkelte sich meine Welt. Meine Mutter hatte mir ein Tuch vor
die Augen gebunden.
Dann sprte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile,
fortgeschnitten wurden. Ich hrte den Klang der stumpfen
Klinge, die durch meine Haut fuhr. Wenn ich heute daran zu
rckdenke, erscheint es mir schlechtweg unfabar, da mir
dies widerfahren ist, und ich habe das Gefhl, als wrde ich
von jemand anderem sprechen. Es gibt keine Worte, die den
Schmerz beschreiben knnten. Es ist, als ob dir jemand ein
Stck Fleisch aus dem Oberschenkel reit oder dir den Arm
abschneidet, nur da es sich dabei um die empfindsamsten
Teile deines Krpers handelt. Ich rhrte mich jedoch keinen
Zentimeter, denn ich dachte an Aman und wute, da es kein
Entrinnen gab. Und ich wollte, da Mama stolz auf mich war.
Wie aus Stein sa ich da und sagte mir, je weniger ich mich
bewegte, desto eher wre die Qual zu Ende. Aber leider be
gannen meine Beine einfach zu beben und unkontrolliert zu
zucken. Herr im Himmel, la es rasch vorber sein, betete
ich. Und das war es auch, denn ich verlor das Bewutsein.
Als ich aufwachte, dachte ich, ich htte es hinter mir, doch
da begann erst der schlimmste Teil. Meine Augenbinde war
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Ich dachte, die Qual sei berstanden, bis ich pinkeln mute.
Nun verstand ich den Rat meiner Mutter, nicht zuviel Wasser
oder Milch zu trinken. Nachdem ich es stundenlang hinausge
schoben hatte, konnte ich es kaum noch aushalten, doch da
mir die Beine zusammengebunden waren, mute ich bleiben,
wo ich war. Mama hatte mich gewarnt, keinen Schritt zu tun,
damit ich nicht wieder aufri.
Wenn sich die Wunde ffnete, mute sie erneut genht
werden, und das war so ungefhr das letzte, was ich wollte.
Ich mu pinkeln, rief ich meiner Schwester zu. Ihr Gesichts
ausdruck verhie nichts Gutes. Sie kam herbei, rollte mich auf
die Seite und grub mit der Hand eine kleine Mulde in den
Sand.
Gut. Fang an.
Der erste Tropfen, der herauskam, brannte, als wrde mir
die Haut von Sure fortgefressen. Als die Zigeunerin mich zu
nhte, hatte sie fr den Urin und das Monatsblut nur ein winzi
ges Loch offengelassen, ein Loch in der Gre eines Streich
holzkopfes. Mit dieser ausgefeilten Methode sollte
sichergestellt werden, da ich vor meiner Hochzeit keinen Sex
hatte, und mein Ehemann konnte nachprfen, da er eine
Jungfrau bekam. Whrend der Urin sich in meiner blutigen
Wunde staute und, Tropfen fr Tropfen, an den Beinen entlang
in den Sand rann, begann ich zu schluchzen. Ich hatte keinen
Laut von mir gegeben, als die Mrderin mich aufschnitt. Nun
aber brannte es so sehr, da ich es anders nicht mehr aus
hielt.
Als der Abend anbrach und es dunkel wurde, kehrten Aman
und meine Mutter zur Familie zurck. Ich blieb allein in der
Htte. Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr vor der Dunkel
heit oder vor Lwen und Schlangen, obwohl ich hilflos war und
nicht fortlaufen konnte. Seit dem Augenblick, als ich meinen
Krper verlassen und zugesehen hatte, wie die alte Frau mein
Geschlecht zunhte, konnte mich nichts mehr ngstigen. Wie
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erstarrt blieb ich auf dem Boden liegen, nahm keine Furcht
mehr wahr, lag taub vor Schmerzen in der Htte, und mir war
gleich, ob ich am Leben blieb oder starb. Da die anderen
gemeinsam am Feuer saen und lachten, whrend ich allein in
der Dunkelheit lag, kmmerte mich nicht im geringsten.
Nach einigen Tagen, die ich so in der Htte verbrachte, ent
zndeten sich meine Genitalien, und ich bekam hohes Fieher.
Immer wieder verlor ich das Bewutsein. Aus Angst vor den
Schmerzen beim Urinieren hatte ich es so lange zurckgeha l
ten, bis meine Mutter schimpfte: Kleines, wenn du nicht pin
kelst, wirst du sterben. Also zwang ich mich dazu. Wenn ich
mute und niemand in der Nhe war, rutschte ich ein Stck
chen weiter, rollte mich auf die Seite und wappnete mich ge
gen den brennenden Schmerz, von dem ich wute, da er
kommen wrde. Doch irgendwann war meine Wunde so ent
zndet, da nicht einmal das mehr ging. Mama brachte mir
Essen und Wasser fr die kommenden zwei Wochen, anson
sten blieb ich allein. Mit zusammengebundenen Beinen lag ich
da und wartete, da die Wunde heilte. Unter dem Einflu des
Fiebers, verloren und matt, fragte ich mich immer wieder:
Wozu? Wozu ist das alles gut? In diesem Alter wute ich
noch nichts von Sex. Ich wute lediglich, da mit Mamas Ein
willigung an mir herumgeschnitten worden war und da ich
nicht einsehen konnte, warum.
Schlielich holte meine Mutter mich ab, und ich schlurfte mit
meinen zusammengebundenen Beinen zurck zu den ande
ren. Na, was ist das fr ein Gefhl? fragte mich mein Vater
am ersten Abend in unserer Familienhtte. Ich nehme an, das
bezog sich auf meinen neuen Status als Frau, aber ich konnte
an nichts anderes denken als an die Schmerzen zwischen
meinen Beinen. Da ich kaum mehr als fnf Jahre alt war, l
chelte ich nur und schwieg. Woher sollte ich wissen, was es
heit, eine Frau zu sein? Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt
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nach ihrer Tochter zu sehen, die wie blich ber Nacht allein in
der Htte geblieben war. Sie fand ihre kleine Tochter tot, der
Krper kalt und blau. Ehe sich die Aasfresser ber sie herma
chen konnten, begrub die Familie sie in der Wste.
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5. Der Ehevertrag
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weil ich noch zu klein war, um mir ber Sex oder die Ehe Ge
danken zu machen.
Zumindest bis ich von der Heirat meiner Freundin Shukrin
erfuhr. Ein paar Tage spter kam mein Vater eines Abends
nach Hause. He, wo ist Waris? hrte ich ihn rufen.
Hier drben, Papa, antwortete ich.
Komm her, forderte er mich mit sanfter Stimme auf. Da er
sonst immer sehr streng und schroff war, wute ich, da etwas
nicht stimmte. Ich nahm an, ich sollte morgen etwas fr ihn
erledigen, vielleicht mit den Tieren Wasser und Nahrung su
chen gehen oder eine hnliche Aufgabe. Also blieb ich, wo ich
war, musterte meinen Vater aus den Augenwinkeln und ver
suchte herauszufinden, was er mit mir vorhatte. Komm,
komm, komm, komm, rief er ungeduldig.
Schlielich ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, sah ihn
mitrauisch an, sagte aber nichts. Papa packte mich und
setzte mich auf sein Knie. Weit du, begann er, du bist
immer ein gutes Kind gewesen. Nun wute ich, da es um
etwas Ernstes ging. Du warst ein gutes Kind, mehr wie ein
Junge, ein Sohn fr mich. Dieser Satz war das hchste Lob,
das er geben konnte.
Hmm, antwortete ich nur und fragte mich, womit ich sol
che Lobeshymnen verdient hatte.
Du warst wie ein Sohn fr mich, du hast so hart gearbeitet
wie ein Mann und gut fr das Vieh gesorgt. Und ich mchte dir
sagen, da ich dich sehr vermissen werde. Bei diesen Wor
ten dachte ich, Papa htte Angst, ich wrde weglaufen wie
meine Schwester Aman. Sie war weggelaufen, als Vater sie
verheiraten wollte. Jetzt befrchtete er wohl, ich wrde auch
davonlaufen und ihn und Mama mit all der harten Arbeit allein
lassen.
Eine Woge der Zuneigung erfate mich, und ich schlang
meine Arme um ihn. Gleichzeitig hatte ich Gewissensbisse
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Papa vielleicht mit Jamah auf mich wartete, und ich stellte mir
sein glattes, schnes Gesicht vor. Mit geschlossenen Augen
ging ich auf sie zu. Bitte, la es Jamah sein ..., murmelte ich
vor mich hin, whrend ich mich zgernd nherte. Jamah war
zu meinem Rettungsanker geworden, jemand, der mich davor
bewahren konnte, meine Familie zu verlassen und mit einem
fremden Mann zu leben.
Schlielich ffnete ich die Augen und starrte in den blutro
ten Himmel. Die Sonne versank am Horizont, und ich konnte
nur die Umrisse zweier Mnner vor mir sehen. Mein Vater
sagte: Oh, da bist du ja. Komm her, mein Liebling. Das ist
Herr ... Mehr hrte ich nicht. Mein Blick fiel auf einen Mann,
der auf einen Stock gesttzt dasa. Er war mindestens sech
zig Jahre alt und hatte einen langen weien Bart.
Waris! Irgendwann bemerkte ich, da mein Vater zu mir
sprach. Sag guten Tag zu Herrn Galool.
Guten Tag, sagte ich so eisig, wie ich konnte. Man er
wartete Respekt von mir, aber nicht, da ich mich freute. Der
alte Narr sa da und grinste mich an, er sttzte sich fest auf
seinen Stock, erwiderte aber nichts. Wahrscheinlich wute er
nicht, was er zu diesem Mdchen, seiner zuknftigen Frau,
sagen sollte, die erschrocken den Blick auf ihn heftete. Um
den Ausdruck meiner Augen zu verbergen, senkte ich den
Kopf und starrte zu Boden.
Komm, Waris, sei nicht so schchtern, ermunterte mich
Papa. Ich blickte ihn an. Als er meinen Gesichtsausdruck sah,
entschied er, da es am klgsten war, mich wieder wegzu
schicken, damit ich meinen zuknftigen Ehemann nicht in die
Flucht jagte. Na, ist schon gut. Du gehst wohl besser zurck
an deine Arbeit und machst sie fertig. Dann erklrte er, an
Herrn Galool gewandt: Sie ist ein schchternes, ruhiges
Mdchen. Ich wartete keine Sekunde lnger, sondern lief ha
stig wieder zurck zu meinen Ziegen.
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Den ganzen Abend ber malte ich mir mein Leben an der
Seite von Herrn Galool aus. Da ich noch nie von meinen Eltern
getrennt gewesen war, stellte ich mir vor, wie es wohl sein
wrde, mit einem vllig Fremden zusammenzuleben. Glckli
cherweise beschftigte ich mich nicht mit der Vorstellung, mit
einem widerlichen alten Mann Sex zu haben, was mein Elend
sicherlich noch vergrert htte. Denn im zarten Alter von
dreizehn Jahren war mir dieser Teil der Abmachung unbe
kannt. Um mich von meinem Kummer ber die bevorstehende
Eheschlieung abzulenken, schlug ich meinen kleinen Bruder.
Am nchsten Morgen in aller Frhe rief mich mein Vater zu
sich. Du weit, wer das gestern abend war?
Ich kann es mir vorstellen.
Das ist dein zuknftiger Ehemann.
Aber Papa, er ist so alt! Ich konnte es nicht fassen, da
ich meinem Vater nicht mehr wert war. Wie konnte er mich nur
diesem alten Mann geben.
Das sind die Besten, mein Liebling! Er ist zu alt, um her
umzustreunen und anderen Frauen nachzulaufen oder sie gar
noch zu heiraten. Er wird dich nicht verlassen, wird fr dich
sorgen. Und auerdem, verkndete Papa mit stolzem Gri n
sen, weit du, wieviel er fr dich bezahlt?
Wieviel?
FNF Kamele! Er gibt mir FNF Kamele. Papa ttschelte
meinen Arm. Ich bin so stolz auf dich.
Ich wandte den Blick von meinem Vater ab und sah zu, wie
die goldene Morgensonne die Wstenlandschaft zum Leben
erweckte. Ich schlo die Augen und sprte die wrmenden
Strahlen auf meinem Gesicht. Meine Gedanken wanderten
zurck zur letzten Nacht, als ich nicht schlafen konnte. Gebor
gen im Kreis meiner Angehrigen hatte ich wach gelegen, den
Lauf der Sterne verfolgt und meine Entscheidung getroffen.
Wenn ich mich weigerte, den alten Mann zu heiraten, wre
damit nichts gewonnen, das war mir klar. Denn mein Vater
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6. Unterwegs
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und machst mit mir ein Nickerchen. Ich wute, da ich seine
Hilfe brauchte, um Onkel Ahmed zu finden. Und als er immer
aggressiver und aufdringlicher wurde, bekam ich Angst und tat
schlielich das Schlimmste, was ich tun konnte: Ich ging auf
seinen Vorschlag ein. Natrlich war von einem Nickerchen
nicht mehr die Rede, kaum da wir im Bett lagen. In Sekun
denschnelle strzte sich dieser Kerl auf mich. Als ich mich
wehrte und von ihm wegdrehte, schlug er mir auf den Hinter
kopf. Sag kein Wort, dachte ich mir; aber bei der ersten Gele
genheit wand ich mich aus seinen Armen und strzte aus dem
Zimmer. Whrend ich davonrannte, hrte ich ihn vom Bett aus
rufen: He, kleines Mdchen, komm zurck ... Dann hrte ich
ein leises Lachen.
Geschttelt von Weinkrmpfen, strzte ich auf die dunkle
Strae und floh zum Marktplatz, um bei anderen Menschen
Schutz zu suchen. Eine alte, etwa sechzigjhrige Mama kam
auf mich zu. Kind, was ist mit dir? Sie packte mich fest am
Arm und hie mich hinsetzen. Komm, komm. Sprich mit mir
sag mir, was dir fehlt. Ich brachte es nicht fertig, ihr zu er
zhlen, was mir gerade zugestoen war. Es war mir peinlich,
und ich schmte mich zu sehr. Denn ich war eine dumme
Gans, eine kleine dumme Gans gewesen, weil ich in das Haus
des Mannes gegangen war und diese Geschichte dadurch erst
mglich gemacht hatte. Unterbrochen von Schluchzern er
klrte ich ihr, da ich auf der Suche nach meinem Onkel war
und ihn nicht finden konnte.
Wer ist dein Onkel? Wie heit er?
Ahmed Dirie.
Die alte Mama hob ihre knochigen Finger und zeigte auf ein
leuchtend blaues Haus schrg gegenber. Er wohnt da dr
ben, sagte sie. Siehst du es? Da ist das Haus. Es war dort
drben. Die ganze Zeit war es dort drben gewesen, auf der
anderen Straenseite, als ich diesen Mistkerl gebeten hatte,
mir bei der Suche nach meinem Onkel zu helfen. Spter wurde
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mir klar, da er die ganze Zeit gewut hatte, wer ich war und
wen ich suchte. Die alte Frau fragte mich, ob sie mich beglei
ten sollte. Ich sah sie scharf an, weil ich niemandem mehr
vertraute. Aber in ihrem Gesicht las ich, da sie eine richtige
Mama war.
Ja, bitte entgegnete ich matt.
Wir gingen zu dem blauen Haus hinber, und sie klopfte an
die Tr. Meine Tante ffnete und starrte mich erschrokken an.
Was machst du denn hier? Die alte Frau drehte sich um und
ging fort.
Tante, ich bin hier! erwiderte ich einfltig. Was in Allahs
Namen machst du hier? Du bist weggelaufen, nicht wahr!?
Nun...
Ich werde dich zurckbringen, sagte sie entschlossen.
Onkel Ahmed, der Bruder meines Vaters, war gleichfalls er
staunt, mich zu sehen, aber am meisten wunderte es ihn, da
ich sein Haus gefunden hatte. Als ich ihm meine Geschichte
erzhlte, verschwieg ich, da ich einen Lastwagenfahrer mit
einem Stein niedergeschlagen hatte und von seinem Nach
barn beinahe vergewaltigt worden war. Zwar gab er sich be
eindruckt, da ich es geschafft hatte, die Wste zu durchque
ren und ihn aufzuspren, er hatte jedoch nicht die Absicht,
mich aufzunehmen. Er machte sich Sorgen, wer jetzt auf seine
Tiere aufpate, eine Aufgabe, die ich jahrelang erledigt hatte.
(Als Dank fr meine Mhe hatte er mir damals das Paar
Gummischlappen gekauft.) Die lteren Kinder meines Vaters
waren jetzt alle aus dem Haus. Ich war als einzige von den
lteren noch brig, ich war ausdauernd und zuverlssiger als
die Kleinen. Nein, du mut wieder nach Hause. Wer soll dei
ner Mutter und deinem Vater bei all der Arbeit helfen? Und
was willst du hier anfangen? Dumchen drehen? Leider hatte
ich auf diese Fragen keine guten Antworten parat. Ich konnte
ihm nicht erzhlen, da ich weggelaufen war, weil Papa mich
mit einem alten, weibrtigen Mann verheiraten wollte. Mein
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mich das letzte Mal gesehen, klar? Sie nickten und winkten
mir zum Abschied. Ich machte mich auf den Weg.
Die Reise nach Mogadischu dauerte schrecklich lange. Ich
brauchte Tage, aber wenigstens konnte ich mir jetzt, da ich ein
wenig Geld besa, unterwegs etwas zu essen kaufen. Nur
gelegentlich wurde ich mitgenommen, zwischendurch ging ich
weite Strecken zu Fu. Enttuscht, da ich so langsam voran
kam, leistete ich mir schlielich eine Fahrt in einem afrikani
schen Buschtaxi, einem groen Lastwagen mit etwa vierzig
Personen an Bord. Diese Buschtaxis findet man in Afrika
berall. Nachdem sie ihre Ladung Getreide oder Zuckerrohr
abgeliefert haben, nehmen sie auf dem leeren Anhnger Rei
sende mit. Die Ladeflche ist mit einem zaunartigen Holzgitter
eingefat, und die Menschen, die darauf sitzen oder stehen,
sehen aus wie Kinder in einem riesigen Laufstall. Das Bu
schtaxi transportiert Babys, Gepck, Haushaltsgegenstnde,
Mbel, lebende Ziegen und Hhnerkfige, und der Fahrer
nimmt so viele zahlende Passagiere wie mglich mit. Aber
nach meinen Erfahrungen in der letzten Zeit wollte ich lieber
eingezwngt in einer groen Gruppe reisen als allein mit frem
den Mnnern. Als wir in den Randbezirken Mogadischus an
kamen, bremste der Lastwagen und lie uns an einem Brun
nen heraus, an dem Menschen ihre Tiere trnkten. Ich
schpfte mit meinen hohlen Hnden Wasser und trank davon,
dann bespritzte ich mir damit das Gesicht. Mittlerweile war mir
aufgefallen, da es hier ziemlich viele Straen gab, immerhin
ist Mogadischu mit 700 000 Einwohnern die grte Stadt So
malias. Deshalb fragte ich zwei Nomaden, die bei ihren Ka
melen standen: Wit ihr, welche dieser Straen in die Haupt
stadt fhrt?
Ja, die da sagte einer der Mnner. Ich schlug die ange
gebene Richtung ein und machte mich auf den Weg zur
Stadtmitte. Mogadischu ist eine Hafenstadt am Indischen
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Ach, hrt auf. Mit Milch kenne ich mich aus. Diese hier
schmeckt nicht richtig. Habt ihr sie mit Wasser oder etwas an
derem vermischt? Schlielich gestanden sie, da sie die
Milch mit Wasser verdnnt hatten, damit sie sie billiger ver
kaufen konnten. Ihren Kunden machte es nichts aus. Wir ka
men ins Gesprch, und ich erzhlte ihnen, da ich in die
Hauptstadt gekommen war, um meine Schwester zu suchen.
Dann fragte ich sie, ob sie Aman vielleicht kannten.
Ja, du kamst mir schon gleich bekannt vor! rief eine der
Frauen. Ich lachte, weil wir Schwestern uns als Kinder zum
Verwechseln hnlich gesehen hatten. Sie kannten Aman, weil
sie jeden Tag auf diesen Markt ging. Die Milchfrau rief ihren
kleinen Sohn und trug ihm auf, mir den Weg zu meiner
Schwester zu zeigen. Bring sie zu Amans Haus, und dann
kommst du gleich wieder zurck, befahl sie dem Jungen.
Die Straen, durch die wir gingen, waren still geworden; in
zwischen war es Mittag, und die Menschen hielten Siesta. Der
Junge zeigte auf eine winzige Htte. Als ich hineinging, fand
ich meine Schwester schlafend vor. Ich schttelte sie am Arm,
um sie aufzuwecken. Was machst du denn hier ...; sagte sie
schlfrig und sah mich an, als wre ich ein Traumbild. Da
setzte ich mich zur ihr aufs Bett und erzhlte ihr, da ich von
zu Hause weggelaufen war wie sie vor vielen Jahren. Wenig
stens hatte ich jetzt jemanden zum Reden, der mich verstand.
Sie wrde verstehen, da ich es mit meinen dreizehn Jahren
nicht fertigbrachte, nur Papa zuliebe diesen dummen alten
Mann zu heiraten.
Aman berichtete, wie sie nach Mogadischu gekommen war
und ihren Mann gefunden hatte. Er war ein guter, ruhiger
Mann, der hart arbeitete. Sie erwartete ihr erstes Kind, das in
etwa einem Monat zur Welt kommen sollte. Als sie aufstand,
merkte man jedoch nichts von ihrer Schwangerschaft. Mit ih
ren eins achtundachtzig war sie einfach eine groe, vornehme
Erscheinung, und in ihrem weiten afrikanischen Kleid sah sie
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kein bichen schwanger aus. Ich wei noch, wie schn ich sie
fand und da ich hoffte, auch einmal so hbsch zu sein, wenn
ich schwanger war. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten
hatten, brachte ich schlielich den Mut auf, sie das zu fragen,
was mir schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag:
Aman, bitte. Ich mchte nicht wieder zurckgehen. Kann
ich hier bei dir bleiben?
Du bist also weggelaufen und hast Mama mit all der Arbeit
allein gelassen, erwiderte sie traurig. Doch sie erlaubte mir,
so lange zu bleiben, bis ich etwas anderes fand. Ihre kleine
Htte bestand aus zwei Zimmern: ein kleines, in dem ich
schlief, und ein zweites, das sie mit ihrem Mann teilte. Aller
dings sahen wir ihn nicht oft; er verlie das Haus am Morgen
und ging zur Arbeit, kam mittags zum Essen zurck und brach
nach dem Mittagsschlaf wieder auf. Am Abend kam er erst
spt nach Hause. Und da er wenig sprach, wenn er zu Hause
war, wei ich kaum noch etwas von ihm, nicht einmal seinen
Namen oder was er arbeitete.
Aman bekam ein wunderschnes kleines Mdchen, und ich
half ihr, es zu versorgen. Auerdem putzte ich das Haus,
wusch die Wsche im Freien und hngte sie zum Trocknen
auf.
Ich ging auch auf den Markt, um die Einkufe zu erledigen,
und dort lernte ich die groe Kunst des Feilschens. Dabei
ahmte ich die Einheimischen nach, ging auf einen Stand zu
und fragte sofort: Wieviel? Das Ritual lief wie nach einem
Drehbuch ab, es wiederholte sich jeden Tag auf die gleiche
Weise: Die Mama legte drei Tomaten vor mich hin, eine gre
re und zwei kleinere, und nannte mir einen Preis, fr den ich
drei Kamele bekommen konnte.
Ach, das ist zuviel, winkte ich mit gelangweilter Miene ab.
Also, sag schon, wieviel willst du zahlen? Zwei fnfzig.
O nein, nein, nein! Also bitte ... An diesem Punkt ging ich
zu anderen Hndlern und tat so, als wrde ich mich brennend
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7. Mogadischu
Whrend ich bei Aman lebte, besuchte sie mit mir zusam
men einige Verwandte, die in Mogadischu wohnten. Und so
lernte ich erstmals Familienangehrige meiner Mutter kennen.
Sie war in der Hauptstadt aufgewachsen, zusammen mit ihrer
Mutter, vier Brdern und vier Schwestern.
Ich bin dankbar dafr, da ich whrend meiner Zeit in Mo
gadischu meine Gromutter kennenlernen durfte. Mittlerweile
ist sie etwa neunzig Jahre alt, aber damals war sie erst um die
Siebzig. Gromama ist eine richtige Mama. Ihr Gesicht ist von
heller Farbe, und man kann an ihren Zgen erkennen, da sie
eine zhe Person ist, charakter- und willensstark. Ihre Hnde
sehen aus, als htte sie damit so lange in der Erde gegraben,
bis eine Krokodilhaut darbergewachsen ist. Sie ist in einem
arabischen Land gro geworden, aber ich wei nicht, in we l
chem. Sie ist eine fromme Moslime und betet fnfmal am Tag
nach Mekka gewandt. Wenn sie das Haus verlt, bedeckt sie
ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier; sie ist dann von
Kopf bis Fu verhllt. Ich habe sie immer geneckt: Groma
ma, ist mit dir alles in Ordnung? Weit du denn, wo du hin
mut? Kannst du durch dieses Ding berhaupt etwas sehen?
Ach, komm schon, komm, schimpfte sie. Durch dieses
Ding kann man alles sehen.
Gut, dann kannst du also auch atmen und all das? lachte
ich.
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er Rand und Band, sie ist wie ein Tier. Diese Erklrung trug
allerdings nicht dazu bei, die Situation zu entschrfen. Nach
dem sie mich, ein dreizehnjhriges Mdchen, die ganze Zeit
ber mit der Sorge fr ihre drei kleinen Kinder allein gelassen
hatte, ging meiner Tante das Wohlergehen ihrer Tochter mit
einem Mal ber alles. Mit erhobener Faust drohte sie, mich zu
verprgeln fr das, was ich ihrem kleinen Engel angetan hatte.
Aber ich hatte genug, nicht nur von ihr, sondern von der gan
zen Welt. O nein, du wirst mich nicht schlagen. Versuche es
doch, dann reie ich dir smtliche Haare aus, schrie ich. Das
lie sie in ihrer Drohgebrde innehalten, aber mir war klar, da
ich nun gehen mute. Nur, wo sollte ich diesmal Zuflucht su
chen?
Als ich die Hand hob, um an Tante Sahrus Tr zu klopfen,
dachte ich: Auf ein neues, Waris. Ich sagte verlegen ha l
lo, als sie die Tr ffnete. Tante Sahru war Mamas Schwe
ster. Und sie hatte fnf Kinder. Diese Tatsache lie nichts
Gutes erahnen, was meine Aussichten auf einen angenehmen
Aufenthalt in diesem Haus betraf, aber welche Wahl hatte ich
schon? Taschendieb oder Bettler zu werden? Ohne auf die
Grnde fr meinen Abschied von Tante L'uul einzugehen,
fragte ich, ob ich eine Zeitlang bei ihr wohnen drfe.
Du hast hier eine Freundin, antwortete sie zu meiner
berraschung. Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst.
Und wenn du mit jemandem reden willst, bin ich fr dich da.
Das fing besser an, als ich gedacht hatte. Wie zu erwarten
war, half ich bei der Hausarbeit mit. Doch Tante Sahrus lteste
Tochter Fatima war schon neunzehn, und hauptschlich war
sie fr den Haushalt verantwortlich.
Meine arme Cousine Fatima schuftete wie eine Sklavin. Sie
stand tglich frhmorgens auf und ging zum College, kam
mittags nach Hause, um das Essen zu kochen, ging dann wie
der zur Schule und kehrte gegen sechs Uhr abends heim,
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die Reise erschien mir ebenso endlos wie mein Dilemma: Was
war mir wichtiger? Mein Wunsch, meiner Mutter zu helfen,
oder mein Bedrfnis, der Ehe mit dem alten Mann zu entkom
men? Ich wei noch, wie ich einmal in der Abenddmmerung
unter einem Baum zusammenbrach und dachte: Wer kmmert
sich jetzt um Mama? Sie kmmert sich um alle anderen, aber
wer kmmert sich um sie?
Nun zurckzugehen wre allerdings sinnlos gewesen; das
htte nur bedeutet, da ich die Mhen der letzten Monate ver
gebens auf mich genommen hatte. Wenn ich jetzt wieder zu
meiner Familie ginge, wrde mein Vater nach sptestens ei
nem Monat jeden lahmen, klapprigen Trottel aus der Wste,
der ein Kamel besa, anschleppen, um mich mit ihm zu ver
heiraten. Dann htte ich einen Ehemann am Hals und knnte
meiner Mutter auch nicht helfen. Eines Tages fiel mir ein, da
ich meine Missetat wenigstens teilweise wiedergutmachen
konnte, wenn ich etwas Geld verdiente und es ihr schickte.
Dann knnte sie nmlich einige der Dinge, die meine Familie
brauchte, kaufen und mte nicht so hart arbeiten.
Ich nahm mir vor, Arbeit zu finden, und fragte berall in der
Stadt danach. Eines Tages schickte mich meine Tante zum
Markt, um ihre Einkufe zu erledigen, und auf dem Heimweg
kam ich an einer Baustelle vorbei. Ich blieb kurz stehen und
sah den Mnnern zu, die Ziegel schleppten und Mrtel an
rhrten, indem sie schaufelweise Sand hinzugeben und mit
Wasser verrhrten. He, schrie ich hinber, gibt es hier Ar
beit?
Der Kerl, der gerade Ziegel legte, hielt inne und lachte mich
an. Wer will das wissen?
Ich. Ich brauche Arbeit.
Nee. Wir haben keine Arbeit fr einen dnnen Hering wie
dich. Irgendwie habe ich nicht den Eindruck, als wrst du ein
Maurer. Er lachte wieder.
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ihren Arm. Bitte. Bitte sag ihm, da er mich nehmen soll. Ich
kann sein Hausmdchen sein. Als sie mich anblickte, konnte
ich sehen, wie verletzt sie war. Aber ich war ein willensstarkes
Kind, das nur an seine eigenen Wnsche dachte und nicht
daran, was sie alles fr mich getan hatte.
Dich! Du hast von nichts eine Ahnung. Was willst du in
London?
Ich kann putzen! Sag ihm, da er mich nehmen soll, Ta n
te! Ich will mitgehen, ich will!
Das finde ich keine gute Idee. Jetzt str mich nicht lnger,
und mach dich wieder an die Arbeit. Sie ging zurck in das
andere Zimmer und setzte sich neben ihren Schwager. Ich
hrte sie leise sagen: Warum nimmst du nicht sie? Weit du,
sie ist wirklich gut. Sie ist eine gute Putzfrau.
Die Tante rief mich zu sich ins Zimmer, und ich strmte
durch die Tr. Da stand ich, mit meinem Staubwedel in der
Hand, und kaute auf meinem Kaugummi herum. Ich heie
Waris. Und du bist mit meiner Tante verheiratet, nicht wahr?
Der Botschafter blickte mich stirnrunzelnd an. Wrdest du
bitte den Kaugummi aus dem Mund nehmen? Ich spuckte
den Kaugummi in die Ecke. Der Botschafter sah Tante Sahru
an. Ist das das Mdchen? Oh, nein, nein.
Ich bin ausgezeichnet. Ich kann putzen, kochen ... und ich
kann gut mit Kindern umgehen!
Oh, da bin ich mir sicher.
Ich wandte mich an die Tante. Sag du es ihm. Waris,
das gengt. Geh wieder an die Arbeit. Sag ihm, da ich die
Beste bin!
Waris! Pscht! An meinen Onkel gewandt, meinte sie: Sie
ist noch jung, aber sie arbeitet wirklich hart. Glaub mir, sie w
re die Richtige ...
Onkel Mohammed schwieg einen Moment und musterte
mich voller Abscheu. Gut, hr zu. Ich hole dich morgen ab. In
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London! Ich wute nichts darber, aber mir gefiel der Klang
des Namens. Ich wute nicht, wo es lag, nur, da es sehr weit
weg war. Und sehr weit weg, da wollte ich sein. Offenbar wa
ren meine Gebete erhrt worden, gleichzeitig schien es mir
aber auch zu schn, um wahr zu sein. Tante, quengelte ich,
werde ich wirklich fahren?
Streng drohte sie mir mit dem Finger. Sei ruhig. Fang nicht
wieder davon an. Doch als sie die Angst in meinem Gesicht
sah, lchelte sie. Schon gut. Ja, du wirst wirklich fahren.
In heller Aufregung rannte ich zu meiner Cousine Fatima,
die gerade das Abendessen kochen wollte. Ich fahre nach
London! Ich fahre nach London! rief ich und fing an, in der
Kche im Kreis herumzutanzen.
Was? Nach London! Sie packte mich mitten in einer Dre
hung am Arm und verlangte eine Erklrung. Dann wirst du
wei werden, verkndete Fatima trocken.
Was sagst du?
Du wirst wei werden, na, du weit schon ... wei. Ich
wute es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach,
denn ich hatte noch nie in meinem Leben einen Weien gese
hen. Ja, ich wute nicht einmal, da es solche Menschen gab.
Dennoch beunruhigte mich ihre Ankndigung nicht im gering
sten. Ach, sei still, sagte ich so hochnsig, wie ich nur
konnte. Du bist doch nur neidisch, weil ich nach London fahre
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und du nicht. Ich tanzte weiter, wiegte mich in den Hften und
klatschte in die Hnde, als feierte ich den Regen. Dazu sang
ich: Ich fahre nach London! Oohaajeeh! Ich fahre nach Lon
don!
Waris! rief Tante Sahru warnend.
Am Abend stattete mich meine Tante fr die Reise aus. Ich
bekam mein erstes Paar Schuhe - wunderschne Ledersan
dalen. Frs Flugzeug gab sie mir ein langes, bunt gemustertes
Kleid, darber sollte ich eine afrikanische Djellabah tragen. Ich
hatte kein Gepck, aber das machte nichts. Denn auer den
Kleidern, die ich am Leibe trug, besa ich nichts, was ich htte
mitnehmen knnen, als mich Onkel Mohammed am nchsten
Tag abholte.
Bevor wir zum Flughafen aufbrachen, umarmte und kte
ich Tante Sahru, die liebe Fatima und all meine kleinen Cou
sins und Cousinen. Fatima war so nett zu mir gewesen, da
ich sie am liebsten mitgenommen htte. Aber wie ich wute,
gab es dort nur fr eine von uns Arbeit, und deshalb war ich
froh, da ich mich durchgesetzt hatte. Onkel Mohammed gab
mir meinen Reisepa, den ich staunend betrachtete. Ich hatte
noch nie eine Geburtsurkunde oder ein anderes Dokument mit
meinem Namen darauf gehabt. Als ich ins Auto kletterte und
der Familie zum Abschied zuwinkte, kam ich mir sehr wichtig
vor.
Bis zu diesem Tag hatte ich Flugzeuge nur von unten gese
hen; sie zogen hin und wieder ber mich hinweg, wenn ich in
der Wste die Ziegen htete. Ich wute also, da es so etwas
gab. Doch noch nie war ich einem so nah gekommen wie an
jenem Nachmittag, als ich Mogadischu verlie. Onkel Mo
hammed fhrte mich durch das Flughafengebude, und wir
blieben an der Tr stehen, die hinaus auf die Rollbahn fhrte.
Auf der geteerten Startbahn sah ich einen riesigen britischen
Jet in der afrikanischen Sonne glnzen. Mein Onkel plapperte
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gerade etwas wie: ... und in London erwartet dich dann Tante
Maruim; ich komme in einigen Tagen nach. Ich mu erst noch
ein paar geschftliche Angelegenheiten erledigen, ehe ich
fortkann.
Mir blieb der Mund offenstehen. Ich drehte mich um und
starrte ihn an. Doch er drckte mir ungerhrt das Flugticket in
die Hand. Also, Waris, pa gut auf dein Ticket und deinen
Reisepa auf. Das sind wichtige Dokumente, verlier sie nicht.
Du kommst nicht mit? Nur mhsam brachte ich diese
Worte heraus.
Nein, erwiderte er ungeduldig. Ich mu noch ein paar
Tage hierbleiben. Auf der Stelle brach ich in Trnen aus. Ich
hatte Angst, alleine zu fliegen. Und da ich Somalia jetzt tat
schlich verlassen sollte, kamen mir Zweifel, ob das Ganze
wirklich eine gute Idee war. Trotz aller Probleme hier war es
schlielich meine Heimat, die ich kannte, whrend das, was
vor mir lag, nichts als ein groes Geheimnis war.
Stell dich nicht an, alles wird gutgehen. In London holt dich
jemand ab, und man wird dir erklren, was du zu tun hast. Ich
schniefte und wimmerte leise. Doch mein Onkel schob mich
sacht zur Tr. Na, geh schon, das Flugzeug fliegt gleich los.
Vorwrts ... INS FLUGZEUG, WARIS!
Stocksteif vor Angst, berquerte ich die glhendheie Teer
flche. Das Bodenpersonal lief um die Maschine herum und
machte sie startklar. Ich beobachtete die Mnner, die das Ge
pck einluden, und die Crew, die den Jet kontrollierte; dann
schaute ich die Gangway hoch. Und ich fragte mich, wie ich in
dieses Ding hineinkommen sollte. Schlielich entschied ich
mich fr die Treppe. Doch in den ungewohnten Schuhen fiel
es mir schwer, die glatten Aluminiumstufen hochzusteigen,
ohne ber mein langes Kleid zu stolpern. An Bord der Maschi
ne hatte ich keine Ahnung, wohin - ich mu gewirkt haben wie
der letzte Idiot. Die anderen Passagiere saen bereits alle auf
ihren Pltzen und schauten mich fragend an. Ich konnte ihnen
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wrde. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Die drei
stckige Botschafterresidenz war gelb, meine Lieblingsfarbe.
Wir gingen zum Haupteingang, ein beeindruckendes Portal mit
einem Oberlicht. Drinnen warf ein groer vergoldeter Spiegel
die Bcherwand der gegenberliegenden Bibliothek zurck.
Tante Maruim trat ins Foyer, um mich zu begren. Ta n
te! rief ich.
Die Frau war nur wenig jnger als meine Mutter und trug
elegante westliche Kleidung. Sie blieb in der Mitte der Halle
stehen. Komm herein, sagte sie khl. Und mach die Tr
zu. Eigentlich hatte ich zu ihr laufen und sie umarmen wollen,
aber etwas an der Art, wie sie mit zusammengepreten H n
den dort stand, hielt mich zurck. Zuerst mchte ich dir alles
zeigen und dir deine Pflichten erklren.
Oh, sagte ich leise und sprte, wie mich der letzte Fun
ken Energie verlie. Ich bin sehr mde, Tante. Ich mchte
mich einfach nur hinlegen. Darf ich bitte schlafen gehen?
Ja, schon gut. Komm mit. Sie fhrte mich ins Wohnzim
mer, und als wir die Treppe hochstiegen, fiel mir die elegante
Einrichtung auf: der Kronleuchter; ein weies Sofa mit Dut
zenden von Kissen; lgemlde ber dem Kaminsims, ab
strakte Kunst, wie ich spter lernte; groe Scheite, die im Ka
min prasselten. Tante Maruim brachte mich in ihr Zimmer und
erlaubte mir, in ihrem Bett zu schlafen. Das Himmelbett hatte
die Ausmae der Htte meiner Familie, darauf lag eine wun
derschne Daunensteppdecke. Ich strich mit der Hand ber
den seidenen Stoff und geno seine Gltte. Wenn du auf
wachst, zeige ich dir das Haus.
Weckst du mich?
Nein. Bleib liegen, bis du ausgeschlafen bist und von
selbst aufwachst. Ich schlpfte unter die Laken und war
berzeugt, noch nie in meinem Leben etwas so berirdisch
Weiches gefhlt zu haben. Meine Tante schlo leise die Tr,
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9. Das Dienstmdchen
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schon nach wenigen Wochen ein Ende. Mir war es nun zwar
nicht mehr mglich, am Unterricht teilzunehmen, doch ich
borgte mir die Bcher meiner Cousine und versuchte, mir das
Lesen selbst beizubringen. Ich durfte auch nicht mit der Fami
lie fernsehen, aber manchmal lungerte ich vor der Tr herum
und versuchte, mir die englische Satzmelodie einzuprgen.
Alles ging weiter seinen normalen Gang, bis mich Tante Ma
ruim eines Tages, als ich beim Putzen war, zu sich rief: Wa
ris, wenn du oben fertig bist, komm doch bitte mal zu mir. Ich
habe dir etwas zu sagen. Ich war gerade in den Schlafzim
mern, und als ich die Betten gemacht hatte, ging ich zu ihr ins
Wohnzimmer hinunter. Meine Tante stand am Kamin.
Ja?
Ich habe heute einen Anruf von zu Hause bekommen.
hm ... wie hie noch mal dein kleiner Bruder?
All?
Nein, der jngste, der Kleine mit den grauen Haaren?
Der Alte Mann? Du meinst den Alten Mann?
Ja. Der Alte Mann und deine groe Schwester Aman. Es
tut mir leid. Sie sind beide gestorben. Ich konnte nicht gla u
ben, was ich da hrte. Bestrzt starrte ich meine Tante an.
Bestimmt scherzte sie. Oder sie war wegen irgend etwas bse
auf mich und wollte mich mit dieser schrecklichen Nachricht
bestrafen. Doch ihre Miene blieb ausdruckslos und gab keinen
Aufschlu. Offensichtlich meint sie es ernst, warum sonst
sollte sie das sagen? Aber wie war das mglich? Wie verstei
nert blieb ich stehen, dann gaben meine Beine unter mir nach,
und ich sank auf das weie Sofa. Ich dachte nicht einmal dar
an, zu fragen, was geschehen war. Meine Tante htte es mir
vielleicht erzhlt, htte mir das furchtbare Geschehen vielleicht
erklren knnen, aber in meinem Kopf herrschte eine drh
nende Leere. Benommen stand ich wieder auf und ging mit
steifen Beinen in mein winziges Zimmer im dritten Stock, das
ich mit meiner kleinen Cousine teilte.
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Fassungslos blieb ich den Rest des Tages auf meinem Bett
unter der Dachtraufe liegen. Der Alte Mann und Aman tot! Wie
war das nur mglich? Ich war aus Somalia fortgegangen und
hatte mich damit der Mglichkeit beraubt, mehr Zeit mit mei
nem Bruder und meiner Schwester zu verbringen. Und jetzt
wrde ich die beiden nie wiedersehen! Aman, die doch immer
so stark gewesen war! Und der weise Alte Mann! Nie wre mir
in den Sinn gekommen, da die beiden sterben knnten
doch wenn sie tot waren, wie ging es dann dem Rest der Fa
milie, denen mit weniger Kraft und Wissen?
An diesem Abend entschlo ich mich, nicht mehr lnger zu
leiden. Seit ich an jenem Morgen von meinem Vater wegge
laufen war, hatte sich in meinem Leben nichts so entwickelt
wie ursprnglich erhofft. Das war inzwischen zwei Jahre her,
und ich vermite schmerzlich das Gefhl von Nhe, das mir
meine Familie gegeben hatte. Da nun zwei meiner engsten
Angehrigen aus dieser Welt geschieden waren, war mehr, als
ich ertragen konnte. Ich ging hinunter in die Kche, ffnete
eine Schublade und nahm ein Fleischermesser heraus. Mit
dem Messer in der Hand schlich ich mich wieder nach oben in
mein Zimmer. Doch whrend ich dalag und versuchte, genug
Mut zu sammeln, um mich umzubringen, dachte ich an meine
Mutter. Die arme Mama. Ich hatte in dieser Woche zwei liebe
Menschen verloren, fr sie jedoch wren es drei. Das erschien
mir so ungerecht, da ich das Messer auf den Nachttisch legte
und an die Decke starrte. Als meine Cousine Basma spter
hereinkam, um nach mir zu sehen, hatte ich das Messer be
reits vergessen. Sie jedoch sah es entsetzt an. Was zum
Teufel ist denn das? Wozu brauchst du hier ein Messer? Ich
versuchte erst gar nicht zu antworten, sondern blickte nur
weiter zur Decke hoch. Basma nahm das Messer und verlie
das Zimmer.
Ein paar Tage spter rief mich meine Tante erneut: Waris!
Komm herunter! Ich blieb liegen, als htte ich sie nicht ge
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hrt. Waris! Komm herunter! Ich ging nach unten und sah
sie am Fu der Treppe stehen. Beeil dich! Telefon! Das
verblffte mich, denn ich bekam niemals Anrufe. Ja, ich hatte
noch nie in meinem Leben telefoniert.
Fr mich? fragte ich leise.
Ja, ja. Sie zeigte auf den Hrer, der auf dem Tischchen
lag. Nimm ihn, nimm den Hrer in die Hand!
Ich hob den Hrer auf und betrachtete ihn, als wollte er
mich beien. Aus etwa dreiig Zentimetern Entfernung fl
sterte ich: Ja?
Tante Maruim blickte zur Decke. Sprich! Sag etwas ... in
den Apparat hinein! Sie drehte den Hrer richtig herum und
drckte ihn mir ans Ohr.
Hallo? Da hrte ich eine Stimme, mit der ich nun ber
haupt nicht gerechnet hatte: Es war meine Mutter. Mama,
Mama! O Gott, bist du es wirklich? Zum ersten Mal seit Ta
gen konnte ich wieder lcheln. Mama, wie geht es dir? Bist
du gesund?
Nein. Ich habe unter dem Baum gewohnt. Sie erzhlte
mir, da sie nach dem Tod meiner beiden Geschwister vllig
von Sinnen gewesen war. Ich war zutiefst dankbar, da ich
mich nicht umgebracht und dadurch ihren Kummer noch ver
grert hatte. Meine Mutter war in die Wste gerannt, um al
lein zu sein; sie hatte keine Menschenseele sehen und mit
niemandem sprechen wollen. Dann hatte sie sich allein nach
Mogadischu aufgemacht und ihre Familie besucht. Sie wohnte
bei Tante Sahru, von dort aus rief sie auch an.
Mama versuchte, mir zu erklren, was geschehen war, aber
fr mich ergab das alles keinen Sinn. Der Alte Mann war krank
geworden. Wie bei den meisten Nomaden in Afrika gab es
auch bei uns keine medizinische Versorgung; niemand wute,
was ihm fehlte und was man dagegen htte tun knnen. In
dieser Gesellschaft hatte man nur zwei Mglichkeiten: Man
blieb am Leben oder man starb - ein Dazwischen gab es nicht.
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Eines Abends bat ich Basma, mir bei meinem ersten Auftritt
als Model zu assistieren. Seit meiner Ankunft in London hatte
ich eine groe Schwche fr Kleider entwickelt. Nicht da ich
sie besitzen wollte, nein, ich probierte sie einfach nur gerne
an. Es war wie Theaterspielen, ich konnte dann sozusagen in
eine andere Haut schlpfen. Whrend die Familie vor dem
Fernsehapparat sa, ging ich in Onkel Mohammeds Zimmer
und schlo die Tr hinter mir. Dann ffnete ich seinen Wand
schrank und nahm einen seiner guten Anzge aus marine
blauer Schurwolle mit Nadelstreifen heraus. Ich legte ihn zu
sammen mit einem weien Hemd, einer Seidenkrawatte,
dunklen Socken, eleganten schwarzen englischen Schuhen
und einem Filzhut aufs Bett, dann zog ich die Sachen Stck fr
Stck an. Zum Schlu nestelte ich an der Krawatte, um einen
Knoten zu binden, wie ich ihn bei meinem Onkel gesehen
hatte. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, zog ich los und suchte
Basma, die sich vor Lachen kugelte.
Geh und sag deinem Vater, da ihn ein Mann sprechen
mchte.
Sind das seine Sachen? O Gott, er wird dich umbringen...
Geh schon.
Ich wartete in der Eingangshalle und spitzte die Ohren, um
den richtigen Augenblick fr meinen groen Auftritt abzupas
sen. Vater, sagte Basma, drauen ist ein Mann und will
dich sprechen.
So spt am Abend? Onkel Mohammed klang ungehalten.
Wie heit er? Und was will er? Kennst du ihn? hm, ich
wei nicht, stammelte Basma. Ja, ich glaube, ich habe ihn
schon mal gesehen.
Nun, dann sag ihm ...
Warum gehst du nicht kurz raus? unterbrach sie ihren
Vater. Er steht direkt vor der Tr.
Na gut, sagte mein Onkel lustlos. Das war mein Stich
wort. Ich zog den Hut so weit ber die Augen, da ich kaum
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Inzwischen war ich etwa sechzehn und lebte nun schon seit
zwei Jahren in London. Und ich hatte mich soweit an die Ge
pflogenheiten der westlichen Welt angepat, da ich wute,
welches Jahr wir schrieben: 1983.
Im Sommer diesen Jahres starb Onkel Mohammeds
Schwester in Deutschland und hinterlie eine kleine Tochter.
Sophie kam zu uns, und mein Onkel meldete sie in der All
Souls Church School an. Nun mute ich morgens neben allem
anderen auch noch Sophie in die ein paar Straen entfernt
liegende Schule bringen.
Ich hatte sie erst ein paarmal zu dem alten Backsteinge
bude begleitet, als mir eines Morgens ein merkwrdiger
Mann auffiel, der mich unverhohlen musterte. Er war ein Wei
er, etwa vierzig Jahre alt, und trug einen Pferdeschwanz. Der
Mann gab sich gar keine Mhe zu verbergen, da er mich an
starrte, sondern musterte mich im Gegenteil ziemlich unverfro
ren. Sobald Sophie durch die Tr verschwunden war, trat er
auf mich zu und sprach mich an. Natrlich konnte ich noch
immer kaum Englisch und hatte daher keine Ahnung, was er
sagte. Ich wich seinem Blick aus und rannte verngstigt nach
Hause. Aber so ging es nun Tag fr Tag: Ich brachte Sophie
zum Eingang, der weie Mann wartete auf mich und versuc h
te, mit mir zu sprechen, und ich rannte weg.
Nachmittags erzhlte mir Sophie auf dem Heimweg von der
Schule oft von ihrer neuen Freundin, die in die gleiche Klasse
ging. Ja, mmmh, murmelte ich desinteressiert. Doch eines
Tages versptete ich mich ein bichen, und als ich endlich
kam, um Sophie abzuholen, spielte sie vor dem Schulgebude
mit einem kleinen Mdchen. Waris, das ist meine Freundin,
sagte Sophie stolz. Neben den beiden Mdchen stand der
Perverse mit dem Pferdeschwanz, der mich jetzt schon seit
fast einem Jahr nervte.
Komm, la uns gehen, meinte ich nervs und schielte
mitrauisch zu dem Mann hinber. Doch er bckte sich und
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Nach der Nacht, in der ich Haji das Nudelholz ins Gesicht
geschlagen hatte, erwhnte niemand im Haus jemals wieder
diesen Vorfall. Ich htte glauben knnen, seine nchtlichen
Besuche seien nur ein Alptraum gewesen, wre da nicht eine
groe Vernderung eingetreten. Denn von nun an starrte mich
Haji, wenn wir uns auf dem Gang begegneten, nicht mehr
schmachtend an. Statt dessen sprach jetzt blanker Ha aus
seinen Augen. Ich war dankbar, da mein Gebet erhrt wor
den war und dieses unangenehme Kapitel in meinem Leben
ein Ende gefunden hatte. Doch schon bald stand mir eine
neue Sorge bevor.
Onkel Mohammed kndigte an, die Familie werde in einigen
Wochen nach Somalia zurckkehren. Seine vierjhrige Amts
zeit als somalischer Botschafter war abgelaufen, und wir wr
den nun wieder nach Hause fahren. Bei meiner Ankunft da
mals waren mir vier Jahre wie eine Ewigkeit vorgekommen,
aber nun konnte ich nicht fassen, da diese Zeit schon vorbei
sein sollte. Leider konnte ich mich ber die baldige Rckkehr
nach Somalia nicht recht freuen. Ich wollte nmlich als wohl
habende und erfolgreiche Frau heimkehren, eben so, wie es
sich jeder Afrikaner ertrumt, der aus einem reichen Land wie
Grobritannien in seine Heimat zurckkehrt. In einem armen
Land wie meinem suchen die Menschen stndig nach einem
Ausweg aus ihrer Misere und tun alles dafr, um nach Saudi
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Ein schreckliches Gefhl der Panik stieg in mir hoch, als ich
wieder ins Haus trat. Ich schlo die Eingangstr und ging in
die Kche, um mit dem einzigen Menschen zu reden, der au
er mir dageblieben war, meinem speziellen Freund, dem
Koch. Er begrte mich mit den Worten: Nun, du weit ja,
da du heute von hier fortmut. Ich bin der einzige, der hier
bleibt. Also verschwinde. Und damit deutete er zur Ein
gangstr. O ja, er hatte es kaum erwarten knnen, da mein
Onkel aus dem Haus war, um es mir richtig geben zu knnen.
Der selbstgefllige Ausdruck auf seinem dummen Gesicht
zeigte, da es ihm groen Spa machte, mir Befehle zu ertei
len. Ich lehnte am Trstock und sinnierte darber nach, wie
still das Haus nun schien, nachdem alle abgefahren waren.
Waris, du gehst jetzt. Ich will dich hier nicht mehr sehen ...
Ach, halt doch den Mund! Er war wie ein widerlicher,
klffender Kter. Ich gehe ja. Ich brauche nur noch meine
Tasche.
Dann hol sie geflligst, aber schnell. Schnell. Beeil dich,
ich mu nmlich ... Aber da war ich schon halb die Treppe
hinauf und schenkte seinem Gekeife keine Beachtung mehr.
Der Herr und Meister war fort, und in der kurzen Zwischenzeit,
bis der neue Botschafter eintraf, hatte nun der Koch das Sa
gen. Beim Durchqueren der leeren Rume dachte ich an all
die guten und schlechten Zeiten hier zurck und berlegte, wo
wohl mein nchstes Zuhause sein wrde.
Ich nahm meinen kleinen Beutel vom Bett, schwang ihn
ber die Schulter, stieg die vier Treppen hinunter und trat
durch die Vordertr ins Freie. Anders als an dem Tag, an dem
ich angekommen war, herrschte heute prchtiges, sonniges
Wetter. Der Himmel war blau und die Luft frisch wie im Frh
ling. In dem winzigen Garten grub ich mit Hilfe eines Steins
meinen Pa aus, nahm ihn aus der Plastiktte und verstaute
ihn in meinem Beutel. Dann putzte ich mir die Erde von den
Hnden und machte mich auf den Weg, die Strae hinunter.
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Ich hielt mir beide Fuste vor den Mund. Ja, und? Fahren
wir hin?
Na klar doch, meine Kleine. Wir sehen uns die Sache mal
an, dann werden wir schon herausfinden, wer dieser Kerl ist,
der hinter dir hergeschlichen ist.
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in Gabun, 1996
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Waris, im neunten
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chen, sah diese Frau aus wie Waris, das Model. Man hatte
mich in eines dieser bezaubernden Wesen verwandelt, wie sie
im Eingang zu Malcolm Fairchilds Studio ausgestellt waren.
Nachdem Malcolm den Film entwickelt hatte, zeigte er mir
einige Tage spter das Resultat. Er legte die Diapositive auf
einen Leuchttisch, und sie gefielen mir sehr gut. Auf meine
Frage, ob er noch mehr Aufnahmen von mir machen wrde,
meinte er, das sei zu teuer, und leider knne er sich das nicht
leisten. Aber er knne Abzge von der Aufnahme anfertigen,
die er gemacht hatte.
Einige Monate nach dieser Session rief Malcolm mich im
YMCA an. Hr mal, ich wei nicht, ob du an der Arbeit als
Model interessiert bist, aber es gibt da einige Leute, die dich
kennenlernen wollen. Eine der Modelagenturen hat dein Foto
in meinem Buch gesehen und gemeint, du solltest dich doch
bei ihnen melden. Wenn du willst, kannst du bei ihnen unte r
schreiben, dann werden sie dir Auftrge vermitteln.
Okay ... aber Sie mssen mich dorthin bringen ... weil, Sie
wissen ja, es ist mir unangenehm, so etwas allein zu machen.
Knnen Sie mich begleiten und mich dort vorstellen?
Nein, das geht nicht, aber ich gebe dir die Adresse, bot er
mir an.
Sorgfltig whlte ich die Kleidung aus, die ich bei diesem
wichtigen Treffen mit der Modelagentur Crawford tragen woll
te. Weil es Sommer und hei war, zog ich ein kurzrmeliges
rotes Kleid mit V-Ausschnitt an. Es war weder kurz noch lang,
sondern reichte mir etwa bis zum Knie und war furchtbar h
lich.
Mit diesem billigen roten Kleid und in weien Turnschuhen
betrat ich die Agentur und dachte dabei: Das ist es. Ich mache
Eindruck! In Wirklichkeit sah ich bescheuert aus. Noch heute
schaudert es mich, wenn ich an jenen Tag zurckdenke. Aber
vielleicht war es auch gar nicht schlecht, da ich nicht merkte,
wie falsch ich angezogen war, obwohl ich mein bestes Kleid
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trug. Ich htte ohnehin kein Geld gehabt, mir ein anderes zu
kaufen.
In der Agentur angekommen, fragte mich die Empfangsda
me, ob ich Fotos mitgebracht htte. Ich gab ihr das eine, das
ich hatte. Daraufhin fhrte sie mich zu einer klassisch schnen
und elegant gekleideten Frau namens Veronica. Diese bat
mich in ihr Bro und bot mir gegenber ihrem Schreibtisch ei
nen Stuhl an. Wie alt bist du, Waris?
Ich bin noch jung! Das waren die ersten Worte, die mir in
den Sinn kamen und aus mir herausplatzten. Ehrlich, ich bin
jung. Diese Falten - ich deutete auf meine Augen -, die habe
ich schon von Geburt an.
Sie lchelte mich an. Ist gut. Veronica notierte meine
Antworten in irgendwelche Formulare. Wo wohnst du? Oh,
ich wohne im Y.
Wie bitte? ... Sie runzelte die Stirn. Wo wohnst du? Ich
wohne im YMCA.
Hast du eine Arbeit?
Ja.
Wo arbeitest du?
McDonald's.
Gut ... Weit du etwas ber die Arbeit als Model?
Ja.
Was weit du darber - kennst du dich gut aus?
Nein. Aber ich wei, da ich es machen mchte. Um das
zu unterstreichen, wiederholte ich diesen Satz mehrere Male.
Gut. Hast du ein Buch ... ich meine Aufnahmen?
Nein.
Lebt jemand von deiner Familie hier?
Nein.
Wo ist deine Familie?
Afrika.
Stammst du von dort?
Ja, Somalia.
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up auf die Beine, damit sie dunkler wirkten. Ich lie mich auf
einen Stuhl fallen und sagte zu dem Mdchen, das neben mir
sa, hallo. Hm, was ist das fr ein Job?
Fr den Pirelli-Kalender.
Hmmm. Weise nickte ich. Prulli-Kalender. Danke. Was
zum Teufel ist das - der Prulli-Kalender? Meine Nerven lagen
blo, ich konnte nicht mehr stillsitzen, schlug stndig die Beine
bereinander, einmal links, dann wieder rechts, rutschte auf
meinem Stuhl herum, bis schlielich eine Assistentin herein
kam und mir mitteilte, ich sei als nchste dran. Vor Schreck
blieb ich eine Minute wie erstarrt sitzen.
Dann wandte ich mich an das Mdchen neben mir und
schob sie der Assistentin zu. Geh du. Ich mu noch auf mei
ne Freundin warten. jedesmal, wenn die Assistentin auf
tauchte, wiederholte ich dieses Spiel, bis der Raum leer war.
Alle auer mir waren gegangen.
Schlielich kam die Frau wieder heraus, lehnte sich mde
an die Wand und meinte: Komm. Du bist jetzt dran. Ich
starrte sie eine Zeitlang an und sagte dann zu mir selbst: Jetzt
reicht's, Waris. Machst du diese Sache jetzt oder nicht? Los,
steh auf, und geh mit.
Ich folgte der Assistentin in den Aufnahmeraum.
Ein Mann, der sich ber eine Kamera beugte, rief mir zu:
Dort hinber. Da ist die Markierung.- Mit der Hand zeigte er
mir die Richtung.
Markierung?
Ja, stell dich auf die Markierung.
Ach ja, gut. Stehe da.
Okay. Zieh dich obenrum aus.
Ich dachte: Bestimmt habe ich mich verhrt. Inzwischen war
mir so schlecht, da ich mich am liebsten bergeben htte.
Oben ausziehen? Sie meinen meine Bluse?
Er kam mit dem Kopf unter dem Tuch hervor und blickte
mich an wie eine arme Irre. Klar doch. Zieh deine Bluse aus,
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Rckweg zum YMCA ber heulte ich und dachte: Ich hab's
doch gewut - an dieser Arbeit als Model ist etwas Trauriges,
etwas ganz Abstoendes.
Abends, als ich krank vor Elend im Bett lag, kam meine Mit
bewohnerin herein. Waris, Anruf fr dich.
Es war Veronica von der Modelagentur. Sie sind das!
schrie ich. Ich will mit Leuten wie Ihnen nicht mehr sprechen!
Sie haben mich in eine peinig ... peinlig ... - ich wollte peinli
che Situation sagen, brachte es aber nicht heraus. Es war
schrecklich. Es war sehr schlimm; ich will so etwas nicht tun.
Ich will es nicht. Ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben!
Okay, aber beruhige dich erst einmal, Waris. Weit du,
wer das heute war, dieser Fotograf?
Nein.
Weit du, wer Terence Donovan ist?
Nein.
Hast du eine Freundin, die Englisch spricht?
Ja.
Nun, jeder, der Englisch spricht, wei, wer dieser Mann ist.
Frag sie nachher mal. Er macht Aufnahmen von Angehrigen
des Knigshauses, von Prinzessin Di und von allen groen
Models. Jedenfalls mchte er dich wiedersehen, er ist daran
interessiert, dich zu fotografieren.
Er wollte, da ich mich ausziehe! Das haben Sie mir nicht
gesagt, bevor ich hingefahren bin!
Das stimmt-tja, wir hatten es sehr eilig. Ich dachte einfach,
du seist genau die Richtige fr diesen Job. Ich habe ihm er
klrt, da du kein Englisch kannst und diese Aufnahmen dei
ner Kultur widersprechen. Aber das ist der Pirelli-Kalender,
und nach diesem Job wirst du jede Menge Auftrge bekom
men. Liest du Modemagazine, Vogue oder Elle?
Nein, die kann ich mir nicht leisten. Ich sehe sie mir am
Zeitungsstand an, lege sie dann aber wieder zurck. Okay,
dann kennst du sie also? Das ist die Art von Arbeit, die du ma
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viel Geduld mit mir. Terence war wie ein Vater, er merkte, da
ich einfach nur ein verngstigtes Kind war, das Hilfe brauchte.
Er brachte mir Tee und zeigte mir Beispiele seiner Arbeit, Auf
nahmen, die er von den schnsten Frauen der Welt gemacht
hatte. Okay. Ich will dir jetzt ein paar Bilder zeigen. Komm
mit. Wir gingen in einen anderen Raum voller Regale und
Schubksten. Auf einem Tisch lag ein Kalender. Er bltterte
durch die Seiten, und auf jeder war das Foto einer anderen
atemberaubend schnen Frau zu sehen. Siehst du? Das ist
der Pirelli-Kalender vom letzten Jahr. Ich mache ihn jedes
Jahr. Aber der nchste wird anders aussehen - nur mit afrika
nischen Frauen. Auf einigen Bildern wirst du etwas anhaben,
auf anderen nicht. Er sprach mit mir alles durch und erklrte
mir den gesamten Ablauf. So bekam ich das sichere Gefhl,
da er nicht einer dieser schmierigen alten Dreckskerle war.
Schlielich sagte er: Okay, und jetzt machen wir das Polaro
id. Bist du bereit?
Ich war bereit gewesen, seit Veronica mir gesagt hatte, wie
viel ich verdienen wrde, aber nun war ich auch vllig ent
spannt. Ja, ich bin bereit. Und von diesem Augenblick an
war ich voll und ganz Profi. Ich stellte mich auf die Markierung,
weg war die Bluse, und blickte vertrauensvoll in die Kamera.
Perfekt! Als Terence mir das Polaroid zeigte, war mir, als she
ich mich in meiner Heimat Afrika. Eine Aufnahme in Schwarz
wei, sehr einfach gemacht und anstndig - nichts Kitschiges
oder Schlpfriges, nichts Pornographisches. Statt dessen
zeigte sie Waris, wie sie in der Wste aufgewachsen war - ein
junges Mdchen, das in der Hitze seine kleinen Brste ent
blt hat.
Als ich abends nach Hause kam, erhielt ich einen Anruf von
der Agentur, die mir mitteilte, ich htte den Job bekommen und
wrde nchste Woche nach Bath fahren. Veronica hatte mir
ihre Privatnummer hinterlassen. So rief ich sie an, um ihr zu
erklren, da ich es mir nicht leisten knne, von meiner Arbeit
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redete mir selbst gut zu, da ich nun ja Berufsmodel war, oder
etwa nicht? Schlielich hatte ich mit Terence Donovan fr den
Pirelli-Kalender gearbeitet. Also gab es nichts, mit dem ich
nicht fertig werden konnte. Als ich an die Reihe kam, fhrten
sie mich ins Studio und zeigten mir die Markierung, auf die ich
mich stellen sollte.
Ich will euch Jungs nur sagen, da ich nicht sehr gut Eng
lisch spreche, begann ich.
Sie hielten eine Texttafel hoch und sagten: Ist schon in
Ordnung, du mut das nur ablesen. O mein Gott, was mache
ich jetzt? Zugeben, da ich kaum lesen kann? Nein, das ist
zuviel, das ist zu erniedrigend. Das kann ich nicht.
Statt dessen sagte ich: Entschuldigung. Ich mu mal
schnell, bin gleich zurck. Und ich rannte aus dem Gebude
hinber zur Agentur, um meine Tasche zu holen. Der Himmel
wei, wie lange die Casting-Leute auf meine Rckkehr ge
wartet haben, bis jemand merkte, da ich fort war. In der
Agentur behauptete ich, ich sei noch nicht an der Reihe und
wolle zuerst einmal meine Tasche holen, weil es nach einer
langen Warterei aussehe. Das war gegen ein oder zwei Uhr,
aber ich ging nach Hause, warf meine Tasche in die Ecke und
machte mich dann auf den Weg zu einem Friseur. Ganz in der
Nhe des YMCA fand ich einen Frisierladen. Der freundliche
Herr, der ihn fhrte, fragte nach meinen Wnschen.
Frben Sie mein Haar blond, erwiderte ich.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. Tja, das knnen wir
machen, aber Sie mssen wissen, da das ziemlich lange
dauert. Und wir schlieen um acht.
Gut. Dann haben wir ja Zeit bis um acht.
Ja schon. Aber es sind noch andere Kundinnen vor Ihnen
dran. Ich bettelte so lange, bis er schlielich nachgab. Beim
Auftragen des Peroxids bereute ich meinen Entschlu beinahe
schon wieder. Mein Haar war so kurz, da das Mittel auf der
Kopfhaut brannte; mir war, als wrden sich ganze Hautfetzen
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anderen Ende der Stadt, und manchmal, wenn sie erst spt
abends Dienstschlu hatte und zu mde fr die lange Fahrt
nach Hause war, bernachtete sie bei mir im Zimmer.
Marilyn war ein grozgiger, liebenswerter Mensch, und als
ich an jenem Abend im Becken meine Runden drehte und da
bei meine Probleme mit dem Pa zu vergessen suchte, kam
mir pltzlich die rettende Idee. Ich steuerte auf den Becken
rand zu und nahm meine Schwimmbrille ab. Marilyn, japste
ich, ich brauche deinen Pa.
Was? Wovon sprichst du? Ich erklrte ihr mein Dilemma.
Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank, Waris! Weit du,
was passieren wird? Sie werden dich schnappen und fr im
mer ausweisen, und mich stecken sie in den Knast. Und wofr
soll ich das alles riskieren? Damit du in einem blden JamesBond-Film mitspielen kannst! Ich denke gar nicht daran.
Ach, Marilyn, komm schon. Das ist doch nur ein Spa, ein
Abenteuer! Riskier's einfach. Wir gehen zusammen zum Post
amt, und ich beantrage in deinem Namen einen Pa. Ich f l
sche deine Unterschrift und klebe mein Bild hinein. Zwar ist
nicht mehr viel Zeit, aber einen vorlufigen Pa kann ich in
nerhalb von ein paar Tagen bekommen. Bitte, Marilyn. Das ist
meine groe Chance, zum Film zu kommen!
Nach stundenlangem Bitten und Betteln gab sie schlielich
am Tag vor meiner geplanten Abreise nach Marokko nach. Ich
lie ein Foto von mir machen, dann gingen wir gemeinsam
zum Postamt; eine Stunde spter hatte ich einen britischen
Pa. Marilyn jedoch war den ganzen Nachhauseweg ber
krank vor Sorge. Ich versuchte stndig, sie aufzumuntern.
Kopf hoch, Marilyn. Komm schon, es wird bestimmt gutge
hen. Du mut nur daran glauben.
Da ich nicht lache. Ich glaube nur eins, nmlich da die
ser Bldsinn mein ganzes Leben zerstren kann. Wir fuhren
zu ihrer Mutter, um dort den Abend zu verbringen. Ich schlug
vor, uns ein paar Videofilme auszuleihen, beim Chinesen et
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dieses Kamel nicht vertraut war und ich es nicht recht im Griff
hatte. Kamele laufen nicht nur ziemlich schnell, sondern be
wegen sich dabei auf und ab und schwanken noch dazu, des
halb klammerte ich mich mit aller Kraft fest. Mir war klar, wenn
ich hinunterfiel, wrden mich die Tiere zu Tode trampeln.
Am Ende belegte ich den zweiten Platz. Die James-BondLeute waren verblfft, und obwohl sie mich etwas sonderbar
musterten, hatte ich mir bei ihnen Respekt verschafft, vor al
lem, als sie ihre Wettgewinne abholten. Wieso kannst du so
etwas? wollte eines der Mdchen wissen. Das war leicht.
Wenn du auf einem Kamel geboren bist, weit du auch, wie
man ein Kamel reitet, lachte ich.
Das Kamelrennen erforderte jedoch weniger Mut als das,
was mich erwartete, als wir wieder in Heathrow eintrafen. Wir
stiegen aus dem Flugzeug und reihten uns in die Schlange vor
der Zollabfertigung ein. Whrend wir langsam vorrckten, hol
ten wir unsere Psse heraus. jedesmal wenn die Beamten am
Schalter Der nchste! riefen, litt ich Hllenqualen, denn da
durch nherte ich mich Schritt fr Schritt der Gefahr, verhaftet
zu werden.
Die britischen Grenzbeamten sind sowieso schon sehr
schroff, wenn man nach England einreisen will; aber bei einer
Afrikanerin mit schwarzer Hautfarbe sind sie doppelt streng.
Sie mustern die Psse mit Rntgenblicken. Ich fhlte mich so
elend, da ich am liebsten ohnmchtig geworden wre, und
wnschte mir, ich knnte mich auf den Boden legen und ster
ben, so da diese Qual ein Ende htte. Lieber Gott, betete ich,
bitte hilf mir. Wenn ich das durchstehe, verspreche ich, nie
wieder etwas so Bldes zu tun.
Mir durften nur die Knie nicht versagen, dann htte ich es
geschafft. Pltzlich ri mir eines der mnnlichen Models, ein
widerlicher Kerl namens Geoffrey, meinen Pa aus der Hand.
Dieser Geoffrey war bekannt als ekliger Klugscheier, der sich
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sem Tag war es unertrglich hei, und ich hockte matt unter
einem Baum und fhlte mich zusehends unwohler, weil mir der
Bauch weh tat. Zuerst berlegte ich: Was ist das fr ein
Schmerz? Bin ich etwa schwanger? Vielleicht bekomme ich
ein Baby? Aber ich bin doch mit keinem Mann zusammenge
wesen, wie knnte ich da schwanger sein? Der Druck wurde
immer strker und ebenso meine Angst. Etwa eine Stunde
spter ging ich pinkeln, und da sah ich das Blut. Ich dachte,
jetzt msse ich sterben.
Ich lie die Tiere im Busch grasen und lief, so schnell ich
konnte, zu meiner Mutter. Ich sterbe! O Mama, ich sterbe!
schrie ich.
Was redest du da?
Ich verblute, Mama, ich werde sterben!
Sie blickte mich streng an. Nein, du wirst nicht sterben.
Das ist schon in Ordnung. Es ist nur deine Periode. Ich hatte
noch nie davon gehrt und wute berhaupt nichts darber.
Kannst du mir das bitte erklren und mir sagen, was das
heit? Whrend ich mich vor Schmerzen krmmte und mir
den Unterleib hielt, beschrieb mir meine Mutter den Vorgang.
Aber was kann man gegen diese Schmerzen tun? Weil ...
weit du, es fhlt sich an, als wrde ich sterben!
Waris, da kann man nichts dagegen machen. Du mut es
halt ertragen. Warte, bis es von selbst wieder aufhrt. Aber
ich war nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Auf der Su
che nach irgend etwas, das mir Erleichterung verschaffen
knnte, ging ich zurck in die Wste und fing an, unter einem
Baum ein Loch zu graben. Die Bewegung tat mir gut und
lenkte mich ein wenig von den Schmerzen ab. Mit einem Stock
grub ich und grub, bis das Loch so tief war, da ich bis zur
Hfte hineinpate. Dann stieg ich hinein und fllte es um mich
herum wieder mit Erde; auf diese Weise verschaffte ich mir
etwas Khlung, es war wie eine Art Eispackung. Und dort blieb
ich, solange die Hitze des Tages anhielt.
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von der Kche ins Ezimmer war, wo er wartete, fiel ich pltz
lich in Ohnmacht. Das ganze Geschirr rutschte mir aus der
Hand und zerbrach. Mein Onkel kam gleich herbeigelaufen
und schlug mir ins Gesicht, um mich wieder zu Bewutsein zu
bringen. Ganz langsam kam ich zu mir, und wie aus weiter
Ferne hrte ich ihn rufen: Maruim! Maruim! Sie ist ohnmch
tig geworden!
Als ich wieder bei Sinnen war, fragte mich Tante Maruim,
was mit mir los sei, und ich erzhlte ihr, da an diesem Mor
gen meine Periode eingesetzt hatte. Nun, das ist nicht in
Ordnung, wir mssen dich zu einem Arzt bringen. Ich verein
bare fr heute nachmittag einen Termin.
Dem Arzt meiner Tante erzhlte ich, da meine Perioden
sehr schlimm seien und ich anfangs immer ganz benommen
sei. Der Schmerz lhme mich, und ich wisse nicht, was ich
dagegen tun knne. Knnen Sie mir helfen? Bitte. Gibt es
etwas, was Sie dagegen machen knnen? Ich halte das nicht
mehr aus. Nicht erwhnt hatte ich allerdings, da ich be
schnitten war. Ich htte nicht einmal gewut, wie ich dieses
Thema htte anschneiden sollen. Damals war ich noch ein
junges Mdchen, und alles, was mit meinen Krperfunktionen
zusammenhing, war verbunden mit Unwissenheit, Verwirrung
und Scham. Auch war ich mir gar nicht sicher, ob meine Be
schneidung die Ursache des Problems war, weil ich damals
noch dachte, da mit allen Mdchen das gleiche gemacht
werde wie mit mir. In den Augen meiner Mutter waren meine
Schmerzen ganz normal gewesen, denn alle Frauen, die sie
kannte, waren beschnitten, alle durchlitten die gleichen Qua
len. Sie werden einfach als Teil der Brde angesehen, eine
Frau zu sein.
Da der Arzt mich nicht untersuchte, entdeckte er mein Ge
heimnis auch nicht. Das einzige, was ich Ihnen gegen die
Schmerzen verschreiben kann, ist die Anti-Baby-Pille. Sie wird
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fragte mich stndig, was denn mit mir nicht stimme. Schlielich
erzhlte ich ihr, da man mich als kleines Mdchen in Somalia
beschnitten hatte.
Marilyn aber war in London aufgewachsen, und deshalb
hatte sie keine Ahnung, wovon ich sprach. Zeig es mir doch
einmal, Waris. Ich wei wirklich nicht, was du damit meinst.
Haben sie dir was weggeschnitten? Und wo denn genau? Was
haben sie mit dir gemacht?
Schlielich zog ich eines Tages meine Hose herunter und
zeigte es ihr. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck verges
sen. Trnen liefen ihr ber die Wangen, und sie wandte sich
ab. Ich war vollkommen verzweifelt, weil ich dachte: O mein
Gott, sieht es wirklich so schlimm aus? Die ersten Worte, die
aus ihrem Mund kamen, waren: Waris, kannst du denn ir
gendwas fhlen?
Was meinst du damit?
Sie schttelte blo den Kopf. Ich meine, weit du denn
noch, wie das ausgesehen hat, als du ein kleines Mdchen
warst? Bevor sie das gemacht haben?
Ja.
Also - so sieht es bei mir aus. Du bist nicht so wie ich.
Jetzt wute ich es mit Bestimmtheit. Ich mute nicht mehr
darber nachgrbeln, ob alle Frauen auf die gleiche Weise
verstmmelt waren wie ich - oder hatte ich es vielleicht sogar
gehofft? Nun wute ich jedenfalls, da ich anders war. Ich
wnschte mein Leiden keiner anderen, aber ich wollte auch
nicht ganz allein damit sein.
Mit dir hat man das also nicht gemacht, weder mit dir noch
mit deiner Mutter?
Sie schttelte den Kopf und fing wieder an zu weinen. Es
ist schrecklich, Waris. Ich kann nicht fassen, da jemand dir so
etwas angetan hat.
Ach komm, mach mich bitte nicht traurig.
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Ich bin traurig. Traurig und wtend. Ich heule, weil ich nicht
glauben kann, da es auf der Welt Menschen gibt, die einem
kleinen Mdchen so etwas antun.
Wir saen eine Weile schweigend da. Marilyn schluchzte
leise vor sich hin; ich konnte sie nicht ansehen. Dann beschlo
ich, da es jetzt genug sei. Nun, was soll's. Ich lasse mich
operieren. Morgen rufe ich diesen Arzt an. Dann kann ich we
nigstens mit Genu aufs Klo gehen. Vielleicht ist das alles,
was ich genieen kann, aber wenigstens das.
Ich begleite dich, Waris. Ich werde dir beistehen. Das ver
spreche ich dir.
Marilyn rief in der Praxis des Arztes an und vereinbarte ei
nen Termin fr mich; diesmal dauerte die Wartezeit einen Mo
nat. Whrend dieser Wochen fragte ich Marilyn immer wieder:
Mdchen, kommst du auch ganz bestimmt mit?
Keine Sorge. Ich begleite dich. Ich werde zur Stelle sein.
An dem Tag, fr den die Operation angesetzt war, weckte sie
mich schon frh, und wir fuhren in die Klinik. Die Schwester
fhrte mich in den Behandlungsraum. Da stand er, der Opera
tionstisch. Als ich diesen Tisch sah, htte ich fast kehrtge
macht und wre aus dem Gebude gelaufen. Der Tisch war
zwar besser als ein Felsen im Busch, aber ich hegte wenig
Hoffnung, da der Eingriff fr mich viel angenehmer sein wr
de. Dr. Macnea gab mir ein Mittel gegen den Schmerz - solch
ein Mittel htte ich auch gerne gehabt, als die Mrderin damals
an mir herumgemetzgert hatte. Und Marilyn hielt mir die Hand,
whrend ich langsam wegdmmerte.
Als ich wieder erwachte, hatten sie mich in ein Doppelzim
mer geschoben, in dem eine Frau lag, die gerade ein Baby
bekommen hatte. Diese Dame und auch alle anderen, die ich
mittags in der Cafeteria traf, wollten von mir wissen: Weshalb
sind Sie denn hier?
Was konnte ich darauf antworten? Sollte ich es zugeben:
Ach, ich habe mich hier an der Vagina operieren lassen. Mei
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13. Paprobleme
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stank, und hielt mir die Nase zu. Whrend ich dort sa und
ber meine nchsten Schritte nachdachte, kamen zwei nicht
sehr freundlich aussehende Typen Mitte Zwanzig auf mich zu
und bauten sich vor mir auf.
Wer bist denn du? knurrte mich der eine an. Und warum
hockst du auf der Treppe von meinem Alten? Oh, hallo,
erwiderte ich freundlich. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber
ich bin mit Ihrem Vater verheiratet.
Die beiden starrten mich an, und der grere brllte: Was?
Wovon zum Teufel quatschst du da?
Hren Sie, ich stecke in der Klemme und brauche die Hilfe
Ihres Vaters. Er soll mich lediglich in die Stadt in dieses Amt
begleiten und dort ein paar Fragen beantworten. Man hat mir
meinen Pa abgenommen, und ich mu ihn wiederhaben,
deshalb ...
Verpi dich, du Schlampe.
Moment mal! Ich habe dem alten Herrn mein ganzes Geld
gegeben, sagte ich und zeigte auf die Tr, und ich werde
nicht ohne ihn gehen. Doch sein Sohn war anderer Meinung.
Er zog einen Prgel aus der Jacke und schwang ihn drohend,
als ob er mir den Schdel einschlagen wollte.
Ach ja? Na, das wollen wir mal sehen. Uns hier zu verar
schen, das Maul aufreien und Lgen verbreiten ... Sein Bru
der lachte breit grinsend und gab dabei den Blick auf etliche
Zahnlcken frei. Das reichte mir. Diese Kerle hatten nichts zu
verlieren. Sie konnten mich hier auf der Treppe totschlagen,
und keine Menschenseele wrde es sehen, geschweige denn
kmmern. Also sprang ich schnell auf und rannte los. Sie
hetzten mich ein paar Huserblocks weit, blieben dann aber
stehen, zufrieden, da sie mich verjagt hatten.
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, beschlo ich, trotz
allem wieder nach Croydon zu fahren, und zwar so lange, bis
ich den alten Mann aufgetrieben hatte. Mir blieb ja keine ande
re Wahl. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich nicht nur mietfrei bei
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tenham liegt nur ein paar Stunden von London entfernt, und es
ist wunderschn hier. Es wird dir guttun, mal eine Weile auf
dem Land zu leben, und vielleicht fllt uns ja etwas ein. Julie
holte mich vom Bahnhof ab, und wir fuhren durch das samtene
Grn der englischen Landschaft zu ihr nach Hause. Als wir im
Wohnzimmer saen, kam ihr Bruder Nigel herein, ein groer
und sehr blasser junger Mann mit langem, feinem blonden
Haar, die Vorderzhne und Fingerspitzen vom Nikotin gelb
verfrbt. Er brachte uns Tee und sa dann kettenrauchend mit
uns zusammen, whrend ich die alptraumhafte Geschichte
von meinen Paschwierigkeiten samt ihrem traurigen Ende
erzhlte.
Mit verschrnkten Armen lehnte sich Nigel in seinem Sessel
zurck und sagte: Mach dir keine Sorgen, ich werde dir hel
fen.
Verblfft von diesem Angebot eines jungen Mannes, den ich
kaum eine halbe Stunde kannte, fragte ich: Wie willst du das
anstellen? Wie knntest du mir helfen?
Ich werde dich heiraten.
Doch ich schttelte den Kopf. O nein, das habe ich schon
hinter mir. Das hat mir die Suppe ja erst eingebrockt. Nein, das
mache ich nicht noch einmal durch, davon habe ich die Nase
voll. Ich pack' das nicht. Ich will zurck nach Afrika, zu meiner
Familie, wo ich mich auskenne, und glcklich und zufrieden
leben. Hier in diesem verrckten Land kapiere ich berhaupt
nichts. Alles hier ist Chaos und Wahnsinn. Ich geh' zurck.
Nigel sprang auf und rannte nach oben. Als er zurckkam,
hatte er die Sunday Times mit meinem Bild auf der Titelseite in
der Hand - dabei war die Ausgabe doch schon vor ber einem
Jahr erschienen, also lange bevor ich Julie berhaupt kannte.
Wo hast du denn die her? fragte ich.
Ich habe sie aufgehoben, weil ich gewut habe, da ich
dich eines Tages kennenlerne. Er zeigte auf das Portrt, auf
mein Auge. An dem Tag, als ich dieses Bild zum ersten Mal
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sah, hattest du hier eine Trne im Auge, andere liefen dir ber
die Wangen. Ich habe dein Gesicht gesehen und gewut, da
du weinst und Hilfe brauchst. Allah hat mir gesagt ... Allah hat
gesagt, es sei meine Pflicht, dich zu retten. Auweia. Mit gro
en Augen starrte ich ihn an und dachte: So ein hirnrissiger
Idiot. Er ist es, der von uns beiden Hilfe braucht. Doch natr
lich gelang es Nigel und Julie im Lauf des Wochenendes, mich
davon zu berzeugen, da ich Nigels Angebot annehmen
sollte. Warum denn nicht?
Was fr eine Zukunft hatte ich denn schon in Somalia? Was
erwartete mich dort? Meine Ziegen und Kamele? Und so
stellte ich Nigel schlielich die Frage, die stndig in meinem
Kopf herumgeisterte: Was verlangst du denn als Gegenlei
stung? Was hast du davon, wenn du mich heiratest und dich
diesen ganzen Schwierigkeiten aussetzt?
Ich habe es dir schon gesagt, ich will nichts dafr. Allah
hat mich dir gesandt. Nun versuchte ich, ihm klarzumachen,
da es nicht ganz einfach war, mich zu heiraten. Es reichte
nicht, einfach zum Standesamt zu gehen und das Jawort zu
geben. Ich war schlielich bereits verheiratet.
Na, du kannst dich doch scheiden lassen, und wir erzhlen
diesen Behrdentypen, da wir heiraten wollen, berlegte
Nigel. Dann werden sie dich nicht abschieben. Ich werde dich
begleiten. Schlielich bin ich britischer Staatsbrger, da kn
nen sie nicht einfach >nein< sagen. Weit du, du tust mir halt
leid, deshalb will ich dir helfen. Ich werde tun, was in meinen
Krften steht.
Julie setzte hinzu: Wenn er dir helfen kann, Waris, warum
es dann nicht probieren? Du hast doch nichts zu verlieren, al
so ist es einen Versuch wert. Nachdem sie mehrere Tage auf
mich eingeredet hatten, sagte ich mir, da sie immerhin meine
Freundin war und Nigel ihr Bruder. Ich wute, wo er wohnte,
und konnte ihm trauen. Julie hatte recht: Es war einen Versuch
wert.
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Und so heckten wir einen Plan aus: Da ich keine Lust hatte,
nochmals allein Mr. O'Sullivans Nachwuchs zu begegnen,
wrde mich Nigel begleiten und ihn von einer Scheidung ber
zeugen. Vermutlich wrde der Alte - wie immer - Geld haben
wollen, berlegte ich, bevor er in irgend etwas einwilligte. Ich
seufzte, schon der bloe Gedanke raubte mir alle Kraft. Aber
meine Freundin und ihr Bruder drangen weiter in mich, und
schlielich sah ich die ganze Sache in rosigerem Licht. Los,
gehen wir, meinte Nigel. Wir setzen uns in meinen Wagen
und fahren gleich runter nach Croydon.
In dem Viertel, in dem der alte Mann wohnte, erklrte ich
Nigel den Weg zu der Wohnung. Pa auf dich auf, warnte
ich ihn whrend der Fahrt. Diese Typen, seine Shne, das
sind Wahnsinnige. Ich habe wirklich Angst, aus dem Auto zu
steigen. Doch Nigel lachte nur. Ich meine es ernst. Sie ha
ben mich verfolgt und versucht zu schlagen, sie sind nicht
richtig im Kopf. Wir mssen vorsichtig sein.
Ach, Waris, stell dich nicht so an. Wir sagen dem alten
Mann einfach nur, da du dich scheiden lassen willst. Das ist
doch keine groe Sache.
Als wir bei Mr. O'Sullivans Haus eintrafen, war es bereits
spter Nachmittag. Wir parkten direkt davor, und whrend
Nigel an die Tr klopfte, sah ich die ganze Zeit hinter mich und
lie die Strae nicht aus dem Auge. Niemand ffnete, aber ich
hatte bereits damit gerechnet, da wir in dem Pub an der Ecke
suchen muten.
Nigel jedoch meinte: La uns mal ums Haus herumgehen
und durchs Fenster schauen, vielleicht ist er ja doch daheim.
Im Gegensatz zu mir war er gro genug dazu. Doch nachdem
er erfolglos in mehrere Fenster gespht hatte, sah er mich
verwirrt an. Irgend etwas stimmt da nicht. Oh, Junge, scho
es mir durch den Kopf, jetzt begreifst du's endlich. Ich habe
dieses Gefhl jedesmal, wenn ich mit dem alten Widerling zu
tun habe.
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dich nicht zurecht, kaufst dir ein paar anstndige Schuhe und
legst dir eine Freundin zu? La mich dir helfen.
Und er antwortete. Eine Freundin? Ich will keine Freundin.
Um Himmels willen, ich habe schlielich eine Frau, was soll
ich da mit einer Freundin?
Als er das sagte, wurde ich fuchsteufelswild. Steck deinen
verdammten Schdel in die Kloschssel und spl ihn runter,
du Irrer! Mann, wach endlich auf und verschwinde aus meinem
Leben! Ich liebe dich nicht! Wir haben eine Abmachung ge
troffen, du wolltest mir helfen, gut. Aber ich kann fr dich nicht
sein, was du ihn mir siehst. Ich kann nicht so tun, als ob ich
dich liebe, nur damit du glcklich bist. Doch Nigel hatte sich
aus unserer gemeinsamen Abmachung seine eigene Version
zurechtgebastelt. Als er mit knallrotem Kopf die Beamten be
schimpfte, die uns zu Hause berprfen wollten, hatte er die
Wahrheit herausgeschrien. Fr ihn stimmte jedes Wort. Und
da ich von ihm abhngig war, machte die Sache noch kom
plizierter. Auerdem schtzte ich ihn als Freund und war ihm
dankbar fr seine Hilfe. Trotzdem schwrmte ich kein bichen
fr ihn und htte ihn wirklich am liebsten erwrgt, als er anfing,
mich als liebendes Eheweib und persnliches Eigentum zu
behandeln. Ich merkte rasch, da ich mich verdrcken sollte,
und zwar je schneller, desto besser. Sonst bekme ich noch
genauso einen Schlag wie Nigel.
Aber mein Dilemma mit dem Reisepa war noch immer
nicht gelst. Und kaum merkte Nigel, da ich von ihm abh n
gig war, stellte er Forderungen und schraubte sie immer h
her. Er wurde geradezu besessen von meiner Person - wo ich
gewesen sei, mit wem zusammen, was ich dort getan habe?
Stndig bettelte er um meine Liebe, doch je mehr er mich an
flehte, um so mehr verabscheute ich ihn. Hin und wieder hatte
ich einen Auftrag in London oder besuchte Freunde. Ich nutzte
jede Gelegenheit, Nigel zu entfliehen, damit ich nicht auch
noch verrckt wurde.
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sterte ich leise: O Gott, was habe ich getan? Ich kann nicht
einmal mehr in meine Heimat zurck. Nun stand ich wirklich
allein in der Fremde.
Htte man mir vorher gesagt, da meine Entscheidung sol
che Konsequenzen haben wrde, ich htte erwidert: Verget
es, gebt mir meinen somalischen Pa wieder. Doch keiner
hatte mit mir darber gesprochen. Und nun war es fr einen
Rckzieher zu spt. Da ich nicht mehr nach Somalia konnte,
blieb mir nur die Flucht nach vorn. Ich beantragte ein Visum fr
Amerika und buchte einen Flug nach New York - allein.
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lage dar: Hr mal zu, Nigel. Ich kann dich nicht ausstehen.
Ich kann dich nicht ausstehen. Du machst mich krank. Wenn
du in der Nhe bist, kann ich nicht arbeiten, ja nicht einmal
nachdenken. Ich bin gehemmt, angespannt und will einfach
nur, da du abbaust. Mir war bewut, da meine Worte
furchtbar fr ihn waren, und es machte mir keinen Spa, ihn
zu qulen. Aber ich war verzweifelt. Wenn ich nur grausam
und gemein genug zu ihm war, vielleicht begriff er dann end
lich.
Nigel sah so traurig und jmmerlich aus, da ich mich
schuldig fhlte. Okay, du hast deinen Standpunkt klarge
macht. Ich htte nicht kommen sollen. Morgen nehme ich den
ersten Flug zurck.
Gut! Verschwinde! Wenn ich morgen von der Arbeit heim
komme, will ich dich nicht mehr in der Wohnung sehen.
Schlielich bin ich ja nicht zum Vergngen hier, ich arbeite. Da
bleibt mir keine Zeit fr solchen Unfug. Aber als ich am nch
sten Abend nach Hause kam, war er immer noch da. Teil
nahmslos, einsam, elend sa er in der dunklen Wohnung und
starrte aus dem Fenster - und machte keine Anstalten zu ge
hen. Als ich ihn anzuschreien begann, willigte er ein, am nch
sten Tag zurckzufliegen. Doch am nchsten Tag war es das
gleiche. Schlielich flog er tatschlich nach London zurck,
und ich dachte, dem Himmel sei Dank, endlich habe ich ein
bichen Ruhe. Weil ich kontinuierlich Auftrge bekam, blieb
ich lnger als geplant in New York. Nigel jedoch lie mich nicht
in Frieden. Ohne mein Wissen hatte er sich meine Kreditkar
tennummern besorgt und buchte auf meine Kosten noch
zweimal einen Flug nach New York. Insgesamt kam er also
dreimal - jedesmal eine unangenehme berraschung.
Abgesehen von den absurden Szenen mit Nigel war alles
andere in meinem Leben einfach himmlisch. Ich hatte viel
Spa in New York, lernte wichtige Leute kennen, und mit mei
ner Karriere ging es steil nach oben. Neben Werbeaufnahmen
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fr Benetton und Levi's trat ich auch in einer Reihe von Wer
bespots fr einen Juwelier, Pomellato, auf - in weien afrikani
schen Gewndern. Auerdem warb ich fr Revlon und pr
sentierte spter deren neues Parfm Ajee. Der Slogan lautete:
Aus dem Herzen Afrikas kommt ein Duft, der das Herz einer
jeden Frau erobert. Alle diese Firmen bauten auf mein exoti
sches Aussehen, durch das ich mich von den anderen Models
unterschied - und das in London ein Hindernis fr meine Kar
riere gewesen war. Anllich der Oscar-Verleihung drehte Re
vlon einen speziellen Werbespot, in dem ich neben Cindy
Crawford, Claudia Schiffer und Lauren Hutton auftrat. Darin
stellte und beantwortete jede von uns dieselbe Frage, was fr
sie als Frau revolutionr sei. Meine Antwort fate meine bizar
re Lebenserfahrung zusammen: Ein Nomadenmdchen aus
Somalia wird Revlon-Model.
Spter erschien ich als erstes schwarzes Model berhaupt
in Anzeigen fr Oil of Olaz. Ich trat in Musikvideos fr Robert
Palmer und Meat Loaf auf. Bald wurde ich von solchen Auftr
gen frmlich berschttet, und binnen kurzem war ich in den
groen Modezeitschriften - Elle, Allure und Glamour - zu be
wundern, auerdem in der italienischen und der franzsischen
Vogue. Dabei arbeitete ich mit den besten Fotografen der
Branche zusammen, auch mit dem legendren Richard Ave
don. Trotz der Tatsache, da er berhmter ist als die Models,
die er fotografiert, ist Richard ein frhlicher und bodenstndi
ger Mann, und ich mag ihn sehr gern. Obwohl er ber eine
jahrzehntelange Berufserfahrung verfgt, fragte er mich stets
nach meiner Meinung zu den Bildern. Was hltst du davon,
Waris? Da er mich nicht einfach berging, bedeutete mir
sehr viel. Richard zhlt ebenso wie mein erster berhmter Fo
tograf Terence Donovan zu den Mnnern, die ich hoch sch t
ze.
Im Lauf der Jahre entwickelte ich eine Vorliebe fr die Zu
sammenarbeit mit einigen bestimmten Fotografen.
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gen besteht. Anfangs habe ich mich auch noch gefragt, ver
dammt, warum habe ich den Auftrag nicht gekriegt? Ich habe
ihn doch unbedingt haben wollen! Doch spter habe ich dann
gelernt, in dieser Branche gem dem Motto zu leben: C'est la
vie. Scheie, es hat eben nicht geklappt. Du hast ihnen nicht
gefallen, so einfach ist das. Und das ist nicht deine Schuld.
Wenn sie nach jemandem Ausschau halten, der ber zwei
Meter gro ist, keine vierzig Kilo wiegt und langes blondes
Haar hat, dann interessieren sie sich eben nicht fr Waris,
Punkt. Nichts wie weiter, Mdchen.
Wenn man von einem Kunden gebucht wird, hat man dort
weitere Termine zur Anprobe der Sachen, die man auf dem
Laufsteg tragen soll. All dieses hektische Hin und Her passiert
im Vorfeld, die Modeschauen sind noch gar nicht angelaufen.
Du bist abgehetzt und erschpft und unausgeschlafen und
hast keine Zeit, ordentlich zu essen. Du wirkst ausgemergelt
und mde. Und whrend du tagtglich darum kmpfst, so gut
wie nur mglich auszusehen, weil deine Karriere davon ab
hngt, wirst du immer magerer. Du fragst dich, warum tue ich
mir das an? Was habe ich hier berhaupt verloren?
Dann werden die groen Schauen erffnet, zeitgleich geht
aber das Casting weiter, denn die ganze Sache dauert ja nur
zwei Wochen. Am Tag der Vorfhrung mu man ungefhr fnf
Stunden vor Beginn dasein. Die Mdchen drngen sich, du
wirst geschminkt, dann sitzt du herum, irgendwann werden
deine Haare frisiert, und du sitzt wieder herum und wartest,
da die Schau endlich losgeht. Schlielich ziehst du das erste
Outfit an, jetzt stehst du herum, weil du dich nicht mehr hinset
zen darfst, es knnte ja etwas zerknittern! Die Modeschau wird
erffnet, und pltzlich herrscht vlliges Chaos, der absolute
Wahnsinn. Whoa! Wo steckst du? Was machst du da? Wo ist
Waris? Naomi, komm. Hier nach vorne, Beeilung. Du bist
Nummer neun, du bist die nchste. Man streift sich vor all
diesen wildfremden Menschen die Kleider ber. Ja, ja, ich
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nackten Bauch, wie Satans Fell sich strubte, und schon flog
ich durch die Lfte, die Mohave-Wste sauste an mir vorbei,
und ich fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den gebackenen
Sand.
Alles in Ordnung?
Ja, ja. Da ich nicht wollte, da irgend jemand Waris Dirie
eine Memme schalt, die sich vor einem alten Stier frchtete,
spielte ich jetzt die Knallharte und lie mir den Schreck nicht
anmerken. Also, auf ein neues. Helft mir hoch. Die Crew
zog mich auf die Beine, klopfte mir den Sand ab, und wir ver
suchten es wieder. Offensichtlich machte dem Stier die Hitze
ziemlich zu schaffen, denn er warf mich noch zwei weitere
Male ab. Bei meinem dritten Sturz verstauchte ich mir den
Knchel, der sofort anschwoll und zu pochen begann. Hast
du das Bild im Kasten? fragte ich, whrend ich am Boden lag.
Es wre prima, wenn wir noch einen Film verschieen
knnten ...
Zum Glck ist das Foto mit dem Stier nie erschienen. Aus
irgendeinem Grund hatte sich die Schnapsfirma dagegen ent
schieden, worber ich sehr erleichtert war. Denn der Gedanke,
da eine Gruppe alter Kerle zusammensitzt und sich besuft,
whrend sie meinen nackten Hintern anglotzen, ist nicht gera
de erfreulich. Nach diesem Erlebnis beschlo ich, nicht mehr
nackt zu posieren, denn das machte mir einfach keinen Spa.
Man fhlt sich so verletzlich, wenn man gehemmt und hilflos
vor den Leuten steht und auf eine Pause hofft, in der man sich
in sein Handtuch wickeln kann - es ist das Geld nicht wert.
Doch dieses Erlebnis zhlt sicher zu den schlimmsten, und
im groen und ganzen macht mir das Modeln sehr viel Spa.
Es ist der schnste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Ich
kann es heute ebensowenig fassen wie damals, als mich Te
rence Donovan nach Bath brachte und vor eine Kamera stell
te, da irgend jemand mich einfach nur fr mein Aussehen
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fen, die dann folgten, erzhlte ich Gerry und seinem Assisten
ten Colm meine Lebensgeschichte in allen Einzelheiten, und
wir planten das Projekt.
In London begannen wir dann auch gleich zu filmen. Ich sah
all die Sttten meiner Erinnerung wieder, angefangen mit On
kel Mohammeds Haus, der Residenz des somalischen Bot
schafters, die das Team von der BBC sogar betreten durfte.
Dann filmten sie die All Souls Church School, wo Malcolm
Fairchild mich entdeckt hatte. In einem Interview fragten sie
ihn vor laufender Kamera, warum er so hartnckig versucht
hatte, dieses unbekannte Hausmdchen zu fotografieren. Au
erdem filmte die Mannschaft bei einer meiner Fotosessions
mit Terence Donovan. Schlielich sprachen sie mit meiner
guten Freundin Sarah Doukas, der Leiterin der Londoner Mo
delagentur Storm.
Richtig hektisch wurde es, als die BBC meinen Auftritt als
Gastmoderatorin der Fernsehsendung Soul Train aufzeich
nen wollte. Da ich etwas Derartiges noch nie zuvor gemacht
hatte, lagen meine Nerven blo. Hinzu kam, da ich in Los
Angeles eine schreckliche Erkltung bekommen hatte und
kaum noch einen Ton herausbrachte. Und die ganze Zeit ber
- wenn ich mich schneuzte, mein Script las, mich auf die Show
vorbereitete oder im Auto sa -, immer folgte mir mein Scha t
ten, die Filmcrew der BBC. Der Wahnsinn steigerte sich noch,
als wir ins Studio kamen und die BBC-Leute das Team von
Soul Train dabei filmten, wie sie mich filmten. Wenn es et
was gab, das ich nicht im Bild festgehalten haben wollte, dann
diese Stunden. Eine schlechtere Moderatorin als mich hat es
bei Soul Train sicher nie gegeben, aber Don Cornelius und
die Produktionsmannschaft waren sehr geduldig mit mir. Wir
fingen um zehn Uhr morgens an und arbeiteten durch bis neun
Uhr abends. Wahrscheinlich haben sie fr die Aufzeichnung
der Show noch nie so lange gebraucht wie mit mir. Wie schon
bei meinem Filmdebt in dem James-Bond-Streifen machte
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namen nicht mehr erinnern, aber sie sagt, sie hat eine Tochter
namens Waris, die beim Botschafter in London gearbeitet
hat.
Gleich am nchsten Tag flog ich von New York nach Lon
don, wo sich die Filmcrew schon auf die Abreise vorbereitete.
Wir wollten zuerst in die thiopische Stadt Addis Abeba und
von dort mit einer kleinen Chartermaschine bis zur somali
schen Grenze fliegen. Die Reise wrde sehr gefhrlich wer
den. Wegen des Krieges konnten wir nicht nach Somalia ein
reisen, deshalb sollte meine Familie ber die Grenze zu uns
kommen. Landen wollten wir mitten in der Wste, in einem
Gebiet voller Felsen und Gestrpp und ohne jede Landebahn.
Whrend die Leute von der BBC die letzten Vorbereitungen
trafen, nahm ich mir ein Zimmer in einem Hotel. Dort besuchte
mich Nigel. Da mein Status noch immer nicht ganz geklrt war,
versuchte ich, ein freundschaftliches Verhltnis zu ihm zu be
halten. Ich bezahlte zu dieser Zeit die Raten fr sein Haus,
denn er hatte keine Arbeit und suchte auch keine. ber Be
kannte besorgte ich ihm sogar eine Stelle bei Greenpeace,
aber er war so durchgeknallt, da sie ihn nach drei Wochen
vor die Tr setzten und ihm deutlich machten, sich besser
nicht wieder blicken zu lassen. Seit Nigel von dem Fernsehfilm
erfahren hatte, setzte er mir zu, uns nach Afrika begleiten zu
drfen. Ich mchte mitkommen. Ich mu dafr sorgen, da
du keine Probleme hast.
Nein, sagte ich, du kommst nicht mit. Wie soll ich meiner
Mutter erklren, wer du bist?
Ist doch klar. Ich bin dein Mann!
Nein, das bist du nicht. Vergi es, ist das klar? Schmink dir
das ab. Eins war sicher; er war niemand, den ich meiner
Mutter vorstellen wollte. Und schon gar nicht als meinen Ehe
mann.
Schon als ich mich mit den Leuten von der BBC zu den er
sten Besprechungen traf, bestand Nigel darauf, mich zu be
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gleiten. Aber nach kurzer Zeit hatte Gerry genug von ihm.
Normalerweise gingen wir abends essen. Gerry rief tagsber
mehrmals an. Aber Nigel ist heute abend nicht dabei, oder?
Bitte, Waris, sorg dafr, da er wegbleibt.
Als ich wieder in London war, kam Nigel zu mir ins Hotel
und nervte wegen der Afrikareise, aber ich erteilte ihm eine
Abfuhr. Daraufhin stahl er mir den Pa. Natrlich wute er,
da wir in wenigen Tagen das Land verlassen wollten. Auch
meine besten berredungsknste konnten ihn nicht dazu be
wegen, da er ihn mir zurckgab. Verzweifelt verabredete ich
mich schlielich mit Gerry fr den Abend. Gerry, du wirst mir
nicht glauben, was passiert ist, sagte ich. Nigel hat mir den
Pa weggenommen und rckt ihn nicht mehr raus.
Gerry schlo die Augen und lie den Kopf auf die Hnde
sinken. Du meine Gte, Waris! jetzt habe ich aber die Nase
voll. Ich habe es satt, mich mit diesem Mist abzugeben, wirk
lich satt! Gerry und die anderen von der BBC versuchten es
bei Nigel mit guten Worten. Jetzt seien Sie nicht kindisch. Wir
haben dieses Projekt beinahe abgeschlossen; das knnen Sie
uns doch nicht antun. Den letzten Teil mssen wir in Afrika
drehen, und dazu brauchen wir Waris. Also, um Himmels wil
len, bitte! Doch Nigel lie sich nicht erweichen. Er nahm mei
nen Pa mit, als er nach Cheltenham zurckfuhr.
Allein machte ich mich auf die zweistndige Fahrt nach
Cheltenham. Ich bettelte und flehte, doch Nigel erklrte, er
wrde mir den Pa erst dann geben, wenn er nach Afrika mit
fahren drfe. So steckte ich in der Zwickmhle. Meine Mutter
nach fnfzehn Jahren wiederzusehen war mein sehnlichster
Wunsch. Doch mit Nigel im Schlepptau wre mir aller Spa
verdorben - dafr htte er schon gesorgt. Aber wenn ich ihn
nicht mitnahm, hatte ich keine Mglichkeit, meine Mutter zu
treffen, denn ohne Pa konnte ich die Reise nicht antreten.
Nigel, es geht einfach nicht, da du hinter uns herlufst und
uns allen auf den Geist gehst. Versteht du das denn nicht?
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Dies ist die einzige Chance, nach all der Zeit endlich meine
Mutter wiederzusehen.
Nigel konnte es nicht verwinden, da wir nach Afrika reisten
und er in England zurckbleiben sollte. Wirklich, du bist ver
dammt ungerecht, schrie er. Schlielich konnte ich ihn um
stimmen, indem ich ihm versprach, irgendwann mit ihm nach
Afrika zu fliegen, wenn die Aufnahmen abgeschlossen waren,
und dann wir beide ganz allein. Das war ein billiger Trick, auf
den ich nicht gerade stolz bin, denn ich wute, da ich mein
Versprechen nicht einhalten wrde. Aber gegen Nigel konnte
man mit Vernunft einfach nicht ankommen.
Die zweimotorige Buschmaschine landete bei Galadi, einem
kleinen thiopischen Dorf an der Grenze zu Somalia, in das
sich einige meiner Landsleute vor den Kmpfen in ihrer Hei
mat geflchtet hatten. Holpernd setzte das Flugzeug auf dem
roten, mit Steinen bersten Wstenstreifen auf. Anscheinend
war der dabei aufgewirbelte Staub kilometerweit zu sehen,
denn das ganze Dorf kam herbeigerannt. So etwas Aufregendes hatten die Menschen hier noch nie erlebt. Nachdem die
BBC-Mannschaft und ich ausgestiegen waren, sprach ich die
Leute in Somali an. Die Unterhaltung gestaltete sich nicht ge
rade einfach, denn einige waren thiopier und andere Soma
lis, die jedoch alle einen mir fremden Dialekt sprachen. Nach
einigen Minuten gab ich es auf.
Ich roch die heie staubige Luft, und mit einem Schlag
strmten die Kindheitserinnerungen auf mich ein. Pltzlich war
alles wieder lebendig, und ich lief einfach los. Waris! Wo
willst du denn hin? riefen die Filmleute.
Geht nur ... geht schon mal voraus ... ich komme nach.
Mit den Hnden berhrte ich den Boden, zerrieb die Erde zwi
schen meinen Fingern und streichelte die Bume. Sie waren
staubig und trocken, doch ich wute, bald wrde der Regen
kommen und alles zum Blhen bringen. Tief sog ich die Luft in
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die Lungen. Sie war erfllt von den Gerchen meiner Kindheit,
all der Jahre, in denen ich im Freien gelebt hatte und diese
Wstenpflanzen und dieser rote Sand meine Welt gewesen
waren. O Gott, das war meine Heimat. Trnen liefen mir ber
die Wangen, so sehr freute ich mich, wieder zu Hause zu sein.
Ich setzte mich unter einen Baum und geno das wunderbare
Gefhl, dort zu sein, wo ich hingehrte. Gleichzeitig berkam
mich Trauer, da ich solange darauf hatte verzichten mssen.
Whrend ich mich umsah, fragte ich mich, wie ich es so lange
in der Fremde ausgehalten hatte. Es war, als htte ich eine
Tr aufgestoen, vor der ich bis zu diesem Tag zurckge
scheut war, als htte ich einen Teil von mir wiedergefunden,
den ich vergessen hatte. Als ich zum Dorf ging, scharten sich
die Bewohner um mich und schttelten mir die Hand. Will
kommen, Schwester.
Aber dann muten wir feststellen, da es sich nicht so ge
staltete wie erwartet. Die Frau war nicht meine Mutter, und
ratlos berlegten wir, wie wir meine Familie ausfindig machen
sollten. Die Filmleute waren verzweifelt; ihr Etat reichte nicht
aus, um ein zweites Mal nach Afrika zu kommen. O nein, oh
ne diese Sequenz hat der Film kein Ende, sthnte Gerry im
mer wieder. Und ohne Ende hat der Film keine Geschichte.
Alles umsonst. Was sollen wir nur tun?
Wir durchstberten das Dorf, fragten jeden, der uns begeg
nete, ob er von meiner Familie gehrt hatte. Die Leute htten
uns nur allzugern geholfen, und rasch wurde berall bekannt,
was wir vorhatten. Spt nachmittags kam ein alter Mann auf
mich zu. Kennst du mich noch? fragte er. Nein.
Ich bin Ismael, vom gleichen Stamm wie dein Vater und
ein guter Freund von ihm. - Pltzlich fiel mir wieder ein, wer er
war, und ich schmte mich, da ich ihn nicht gleich erkannt
hatte, doch ich war ihm seit meiner Kindheit nicht mehr be
gegnet. Ich glaube, ich wei, wo deine Familie ist, und ich
denke, ich kann deine Mutter finden. Aber ich brauche Geld fr
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Benzin. Mein erster Gedanke war: Nein! Wieso sollte ich die
sem Kerl trauen? Diese Leute wollen uns doch nur ausnutzen.
Wenn ich ihm Geld gebe, wird er sich einfach aus dem Staub
machen, und wir sehen ihn wahrscheinlich nie wieder. Ich
habe zwar diesen Laster, aber nicht mehr viel ..., fuhr er der
weil fort.
Ismael deutete auf einen Kleinlaster in einem so erbrmli
chen Zustand, wie man ihn in den USA nur auf einem Schrott
platz sehen wrde. Die Windschutzscheibe auf der Beifahrer
seite war zersplittert, auf der Fahrerseite fehlte sie ganz, so
da dem Fahrer Sand und Fliegen ins Gesicht hagelten. Von
den steinigen Pisten waren die Felgen verbogen und zerbeult,
und die Karosserie sah aus, als habe man sie mit einem Vor
schlaghammer bearbeitet. Ich schttelte den Kopf. Warte, ich
mu erst mit den anderen sprechen.
Ich suchte Gerry. Der Mann dort drben behauptet, er
wei, wo meine Familie ist. Aber er sagt, er braucht Benzin
geld, um sie zu suchen, erklrte ich ihm.
Knnen wir ihm trauen?
Die Frage ist berechtigt, aber wir mssen es riskieren. Uns
bleibt nichts anderes brig. Die Filmleute waren einverstan
den und gaben ihm ein wenig Geld. Auf der Stelle stieg der
Mann in seinen Kleinlaster und preschte in einer dicken
Staubwolke davon. Gerry, der ihm traurig nachstarrte, konnte
man ansehen, was er dachte: Schon wieder Geld umsonst
rausgeworfen.
Ich klopfte ihm auf die Schulter. Keine Sorge, wir werden
meine Mutter schon finden, das verspreche ich dir. In drei Ta
gen ist sie da. Aber meine Prophezeihung beruhigte die
Filmmannschaft berhaupt nicht. Nach acht Tagen wrde das
Flugzeug kommen, um uns wieder abzuholen, mehr Zeit blieb
uns nicht. Wir konnten zu den Piloten ja kaum sagen: Wir
sind noch nicht ganz fertig; versucht es nchste Woche noch
einmal. Die Pltze fr den Rckflug von Addis Abeba waren
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nicht, wie ich darauf kam, aber ich glaubte einfach daran, und
so sprach ich es auch aus.
Gerry und die anderen zogen mich auf: Nein, wirklich?
Woher weit du denn das? Ach so, Waris wei natrlich alles.
Sie kann es vorhersehen. Sie sagt ja auch Regen voraus! Sie
lachten, weil ich behauptet hatte, ich knne riechen, da sich
Regen ankndigte.
Aber es hat doch geregnet, oder? erwiderte ich.
Also, Waris, ich bitte dich! Das war doch reiner Zufall.
Mit Zufall hat das nichts zu tun. Ich bin hier wieder in mei
ner vertrauten Umgebung, hier kenne ich mich aus. Bei uns
berlebt man nur, wenn man seinen Instinkten traut, meine
Freunde. Sie warfen sich verstohlene Blicke zu. Gut. Dann
glaubt ihr mir eben nicht. Ihr werdet schon sehen, um sechs.
Am kommenden Tag sa ich bei einer lteren Frau. Etwa zehn
Minuten vor sechs kam Gerry herbeigerannt. Du wirst es
nicht glauben!
Was?
Deine Mutter, ich glaube, deine Mutter ist hier! Lchelnd
stand ich auf. Aber wir sind nicht sicher. Dieser Mann ist wie
der da und hat eine Frau mitgebracht. Er sagt, sie sei deine
Mama. Komm, sieh sie dir an.
Die Nachricht verbreitete sich im Dorf wie ein Lauffeuer.
Unser kleines Schauspiel war zweifellos das grte Ereignis,
das sie seit Menschengedenken erlebten. Ein jeder wollte wis
sen, ist das nun Waris' Mutter oder wieder nur eine Schwindle
rin? Inzwischen war es schon fast dunkel geworden, und es
hatten sich um mich so viele Menschen geschart, da ich
kaum noch vorankam. Gerry fhrte mich einen baumgesum
ten Weg entlang. Vor uns stand der Kleinlaster mit der kaput
ten Windschutzscheibe. Eine Frau kletterte heraus. Zwar
konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, doch an der Art, wie sie
ihren Schal trug, wute ich gleich, da es meine Mutter war.
Ich lief zu ihr hin und packte sie am Arm. Oh, Mama!
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Arm nehmen. La mich los, rief er. Ich bin kein kleines
Kind mehr. Ich will bald heiraten!
Heiraten? Wie alt bist du?
Wei ich nicht. Aber alt genug, um zu heiraten.
Das ist mir gleich. Fr mich bist du immer noch mein klei
ner Bruder. Komm her! Ich zog ihn heran und wuschelte ihm
durchs Haar. Mein Cousin lachte uns aus. Dir habe ich frher
immer den Hintern versohlt, sagte ich zu ihm. Ich hatte ihn
fter hten mssen, als er noch klein war und seine Familie
uns besuchte.
Ach ja? Das solltest du jetzt noch mal versuchen. Er
schubste mich und tnzelte um mich herum.
La das! schimpfte ich. Wag es blo nicht! Sonst kriegst
du eine Abreibung. Auch mein Cousin wollte bald heiraten.
Wenn du deinen Hochzeitstag noch erleben willst, leg dich
nicht mit mir an.
Mama bernachtete in der Htte einer der Familien aus
Galadi, die uns aufgenommen hatten. Ali und ich schliefen
drauen, so wie frher. Als wir dort so lagen, versprte ich
einen unendlichen Frieden und vollkommenes Glck. Wir be
trachteten die Sterne und unterhielten uns bis tief in die Nacht.
Weit du noch, wie wir Papas kleine Frau an den Baum ge
bunden haben? Und dann bogen wir uns vor Lachen.
Zunchst war Ali recht verschlossen, aber irgendwann ge
stand er mir: Du fehlst mir wirklich sehr. Du bist schon so
lange weg. Es ist so seltsam, da du jetzt eine Frau bist, und
ich bin ein Mann. Ich geno das wunderbare Gefhl, wieder
bei meiner Familie zu sein und in meiner Muttersprache wie
frher mit ihnen zu reden, zu scherzen und zu streiten.
Die Dorfbewohner verhielten sich unglaublich grozgig.
Jeden Mittag und Abend wurden wir in ein anderes Haus ein
geladen. Die Leute verwhnten uns; sie wollten mit uns ange
ben und sich von den fremden Orten erzhlen lassen, an de
nen wir schon gewesen waren. Kommt nur, kommt, ihr mt
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ich viel gesehen und gelernt. Das Leben besteht nicht nur aus
Rindern und Kamelen. Ich knnte euch eine Menge erzhlen.
Und was wre das?
Beispielsweise, da ihr eure Umwelt zerstrt, indem ihr die
Bume beschneidet. Ihr gebt den jungen Pflanzen keine Mg
lichkeit zu wachsen, wenn ihr alle Zweige abschneidet, nur
weil ihr Pferche fr die dummen Tiere braucht. Dabei zeigte
ich auf eine Ziege, die in der Nhe herumstand. Das ist
falsch.
Was soll das heien?
Nun, unser Land ist eine Wste, weil wir smtliche Bume
kaputtgemacht haben.
Das Land ist eine Wste, weil es nicht regnet, Waris! Im
Norden, da regnet es, und da gibt es auch Bume. Deshalb
regnet es dort ja gerade. Es regnet, weil es dort Bume gibt.
Tag fr Tag schneidet ihr noch die kleinsten Zweige ab, so
da hier nie ein Wald wachsen kann. Sie wuten nicht, was
sie von dieser seltsamen Theorie halten sollten, und wechsel
ten zu einem Thema, bei dem mir, wie sie glaubten, Wider
spruch schwerfallen wrde.
Meine Mutter machte den Anfang. Warum bist du nicht
verheiratet? Selbst nach all den Jahren ri dieser Satz eine
alte Wunde in mir auf. Schlielich war es der Punkt gewesen,
der mich Heimat und Familie gekostet hatte. Ich wei, da es
mein Vater gut mit mir gemeint hatte, doch die Wahl, vor die er
mich gestellt hatte, war schrecklich gewesen: Entweder ich tat,
was er wollte, und zerstrte mein Leben, indem ich diesen alten Mann heiratete, oder ich lief fort und gab alles auf, was ich
kannte und liebte. Ich zahlte fr meine Freiheit einen uner
melich hohen Preis und hoffe nur, da ich mein Kind nie
zwingen werde, eine so schmerzliche Entscheidung zu treffen.
Warum sollte ich heiraten, Mama? Mu ich denn ber
haupt heiraten? Wnschst du mir nicht, da ich Erfolg habe
und stark und unabhngig bin? Was ich sagen will: Ich bin
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Im Frhjahr 1996 beendeten wir die Arbeit an der BBCDokumentation. Sie bekam den Titel: Eine Nomadin in New
York. Und eine Nomadin war ich wirklich, denn nach all den
Jahren hatte ich noch immer keinen festen Wohnsitz. Ich zog
durch die Welt, meiner Arbeit nach: New York, London, Paris,
Mailand. Dabei wohnte ich bei Freunden oder in Hotels. Meine
wenigen Besitztmer - ein paar Fotos, Bcher und CD's - hatte
ich bei Nigel in Cheltenham verstaut. Da ich einen Groteil
meiner Auftrge in New York bekam, hielt ich mich in dieser
Stadt auch lnger auf als anderswo. Und irgendwann mietete
ich mir dort dann meine erste Wohnung, ein Apartment in SoHo. Spter hatte ich eine Wohnung im Village und schlielich
ein Haus am West Broadway. Aber nirgendwo fhlte ich mich
so richtig wohl. Besonders das Haus am Broadway trieb mich
fast in den Wahnsinn. Wenn drauen ein Auto vorbeifuhr,
hatte ich das Gefhl, es wrde durch mein Wohnzimmer brau
sen. An der Straenecke befand sich eine Feuerwache, und
die ganze Nacht heulten die Sirenen. Weil ich mich dort nicht
entspannen konnte, kndigte ich nach zehn Monaten und
nahm mein Nomadenleben wieder auf.
In jenem Herbst arbeitete ich auf den Modenschauen in Pa
ris, entschlo mich jedoch dann, die in London auszulassen
und direkt nach New York zurckzufliegen. Ich hatte Lust, mir
eine feste Bleibe zu suchen, um ein wenig zur Ruhe zu kom
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hen, wenn sie fertig wren? Als er wiederkam, setzten wir uns
zusammen und unterhielten uns ber Gott und die Welt.
Schlielich meinte ich: Hier drinnen ist es zu verqualmt. Ich
kriege kaum noch Luft. Kommst du mit nach drauen?
Gut. Gehen wir raus und setzen wir uns auf die Stufen.
Aber auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. Ich mchte
dich was fragen. Darf ich dich in den Arm nehmen?
Ich sah ihn an, als wre das die selbstverstndlichste Bitte
von der Welt. Es kam mir vor, als wrde ich ihn schon ewig
kennen. Also umarmte ich ihn innig, und ich wute, das war es
- genauso wie damals, als es um meine Reise nach London
und um meine Arbeit als Model gegangen war. Ich wute, die
ser schchterne Schlagzeuger mit dem wirren Afrokopf war
mein Mann. Es war inzwischen schon zu spt, um noch woan
ders hinzugeben, aber ich bat ihn, mich am nchsten Tag an
zurufen, und gab ihm Georges Telefonnummer. Am Vormit
tag habe ich noch ein paar Termine. Ruf mich bitte Punkt drei
Uhr an. In Ordnung? Ich wollte sehen, ob er sich an die Zeit
halten wrde, die ich ihm gesagt hatte.
Spter erzhlte er mir, da er an jenem Abend auf dem
Heimweg nach Harlem zur U-Bahn gegangen war und dort am
Eingang eine riesige Reklametafel mit meinem Gesicht gese
hen hatte, das auf ihn herabblickte. Das Plakat war ihm noch
nie zuvor aufgefallen, und er war berrascht, da ich Model
war.
Am nchsten Tag klingelte das Telefon um zwanzig nach
drei. Ich ri den Hrer von der Gabel. Du hast dich versp
tet!
Tut mir leid. Mchtest du heute abend mit mir essen ge
hen? Wir trafen uns in einem kleinen Cafe im Village, und
wieder redeten wir und redeten. Jetzt, da ich ihn besser kenne,
wei ich, wie untypisch das fr ihn war, denn Leuten gegen
ber, die er nicht kennt, bleibt er fr gewhnlich recht
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zu machen, und dann erzhlte ich dem Mann, ich wrde ihn
lieben. Keine Sprche mehr ber Babys oder so etwas hnli
ches - und dann platze ich mit einer Liebeserklrung heraus! O
Waris, was ist nur mit dir los? Wenn ein Mann Interesse an mir
zeigte, ergriff ich gewhnlich die Flucht, und zwar so rasch,
da man nur noch eine Staubwolke von mir sah. Und jetzt
stellte ich einem Mann nach, den ich kaum kannte. Als ich
mich abends mit Dana traf, trug ich einen grnen Pullover und
hatte mein Haar zu einer wilden Afro-Frisur gekmmt. Dana
erzhlte mir, da er sich den ganzen Abend drehen und we n
den konnte, wohin er wollte, er htte nichts anderes gesehen
als grnen Pullover mit Afro. Ich erklrte ihm, da ich nicht
lockerliee, wenn ich etwas wollte, und aus unerfindlichen
Grnden wollte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen
Mann. Nur eines blieb mir unklar: Warum es mir vorkam, als
wrde ich ihn schon seit Ewigkeiten kennen.
Dana und ich trafen uns zum Mittagessen, und wieder re
deten wir Stunde um Stunde ber alles und jedes. Zwei Wo
chen spter zog ich zu ihm in seine Wohnung nach Harlern.
Und nach sechs Monaten beschlossen wir zu heiraten. Als wir
etwa ein Jahr zusammenlebten, sagte Dana pltzlich unver
mittelt: Ich glaube, du bist schwanger.
Um Himmels willen, was sagst du da! schrie ich. Komm,
wir gehen in die Apotheke. Ich protestierte, doch er lie nicht
locker. Wir kauften einen Schwangerschaftstest. Er war posi
tiv.
Du glaubst diesen Mist doch nicht etwa? fragte ich und
zeigte auf die Packung.
Er nahm die Schachtel und zog ein neues Rhrchen her
aus. Dann mach es noch mal! Der zweite Test war ebenfalls
positiv. Mir war schon vorher bel gewesen, aber ich litt immer
unter belkeit, wenn meine Periode einsetzte. Doch dieses
Mal war es anders, es ging mir schlechter als sonst, und ich
hatte strkere Schmerzen. Trotzdem glaubte ich nicht, da ich
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ihn nicht sehen will. Das habe ich dir klipp und klar gesagt, und
es war wohl deutlich genug. Ich will dich allein sprechen.
Dana stellte unsere Taschen auf den Brgersteig. Hren
Sie, sprechen Sie nicht so mit ihr! Und mir gegenber schla
gen Sie auch einen anderen Ton an. Warum wollen Sie mit ihr
allein sprechen? Was haben Sie vor? Sie wollen sie unter vier
Augen sprechen? Dagegen habe ich aber etwas einzuwenden.
Und wenn Sie das noch mal verlangen, dann trete ich Ihnen in
Ihren verdammten Arsch.
Nigel wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Tja ...
ich habe keinen Platz mehr im Auto frei.
Das interessiert mich einen Scheidreck. Wir knnen ein
Taxi nehmen. Bringen wir die Sache endlich hinter uns.
Doch Nigel hastete mittlerweile zu seinem Auto. Nein,
nein. So luft das nicht bei mir, rief er uns ber die Schulter
zu. Er sprang in den Wagen, startete den Motor und rauschte
an uns vorbei. Dana und ich standen neben unseren Taschen
und starrten ihm nach.
Wir beschlossen, uns eine Unterkunft zu suchen. Glckli
cherweise gab es gleich am Bahnhof ein Bed-and-Breakfast,
eine deprimierende kleine Absteige, aber angesichts der Um
stnde war das die geringste unserer Sorgen. Wir gingen in
ein indisches Lokal essen, aber weil wir keinen Appetit hatten,
hockten wir nur da und blickten dumpf vor uns hin, bis wir be
schlossen, zurck auf unser Zimmer zu gehen.
Am nchsten Morgen rief ich Nigel wieder an. Ich mchte
nur meine Sachen abholen. Wenn du ber das andere nicht
reden willst, dann vergi es. Aber gib mir mein Zeug. Keine
Chance. Dana und ich muten in ein Hotel umziehen, weil das
Bed-and-Breakfast, in dem wir bernachtet hatten, fr den
nchsten Tag ausgebucht war. Auerdem sah es so aus, als
mten wir uns fr lnger einrichten. Wenn man mit Nigel et
was aushandeln wollte, wute Gott allein, wie lange man
brauchen wrde. Nachdem wir ein neues Zimmer gefunden
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hatten und umgezogen waren, rief ich Nigel erneut an. War
um verhltst du dich eigentlich wie ein Arschloch? Warum tust
du das? Seit wie vielen Jahren geht das nun schon so? Seit
sieben? Seit acht? Bitte, komm zur Besinnung.
In Ordnung. Du willst mich sehen? Gut. Aber nur du allein.
Ich hole dich vom Hotel ab. Doch wenn er mitkommt, dann
vergi es. Dann fahre ich wieder ab. Also, du allein! Ich
seufzte, aber da ich keinen anderen Ausweg aus dem Dilem
ma sah, gab ich nach.
Nachdem ich eingehngt hatte, erklrte ich Dana die Situa
tion. Dana, bitte! La mich allein hingehen und sehen, ob er
mit sich reden lt. Ich mu es versuchen.
Wenn du meinst, da du damit Erfolg hast, einverstanden.
Aber wenn er dich auch nur mit dem kleinen Finger anrhrt,
dann kann er sich auf was gefat machen. Ich sage dir, die
Sache gefllt mir nicht. Doch wenn du es so willst, werde ich
dich nicht aufhalten. Ich bat Dana, in der Nhe des Hotels zu
bleiben. Ich wrde ihn anrufen, wenn ich ihn brauchte.
Nigel holte mich ab, und wir fuhren zu dem Cottage, das er
gemietet hatte. Drinnen kochte er mir Tee. Sieh mal, Nigel,
sagte ich. Ich will diesen Mann heiraten. Ich bekomme ein
Kind von ihm. Also schmink dir endlich ab, da ich deine klei
ne brave Ehefrau bin und wir zusammenleben. Du machst dir
was vor. Es ist vorbei, verstehst du? Komm, bringen wir es
hinter uns. Ich mchte die Scheidung, noch diese Woche. Und
ich fahre nicht eher nach New York zurck, als bis wir diesen
ganzen Mist geklrt haben.
Bevor ich mich scheiden lasse, mut du mir das Geld ge
ben, das du mir schuldest.
Was? Ich schulde dir Geld? Wieviel? Wer arbeitet denn
hier die ganze Zeit und finanziert dich seit Jahren?
Das ist fr unsere Lebensmittel draufgegangen.
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Ach so, ich verstehe. Auch wenn ich gar nicht da war. Aber
da dir das Geld so wichtig ist, um wieviel handelt es sich
denn?
Mindestens vierzigtausend Pfund.
Pah! Wo soll ich das denn hernehmen? Soviel habe ich
nicht!
Das ist mir egal. Vllig egal. Schnuppe. Ich meine, so ist
das nun mal. Du schuldest mir Geld, und vorher kriegst du von
mir nichts, und schon gar keine Scheidung. Ich gebe dich nicht
frei, ehe du nicht das Geld rausrckst, das du mir schuldest.
Wegen dir mute ich mein Haus verkaufen.
Du mutest dein Haus verkaufen, weil du die Raten nicht
zahlen konntest und ich die Nase voll davon hatte, immer fr
dich einzuspringen. Du httest dir einfach nur eine Arbeit su
chen mssen. Aber nicht mal das hast du fertiggebracht.
Was denn? Welche Arbeit? Wo htte ich arbeiten sollen?
Etwa bei McDonald's?
Wenn du damit die Raten httest zahlen knnen, warum
nicht?
So was liegt mir nicht.
Verdammt noch mal, was liegt dir dann?
Ich bin Umweltschtzer!
Ach ja? Ich habe dir die Stelle bei Greenpeace besorgt,
und man hat dich rausgeworfen. Du hast dort Hausverbot. Es
ist also allein deine Schuld, und ich werde mir dieses Gejam
mere nicht lnger anhren. Von mir kriegst du keinen ver
dammten Penny. Weit du was? Behalte den blden Pa und
steck ihn dir in den Hintern. Anscheinend gibt es zwischen uns
nichts mehr zu bereden. Wir waren nie richtig verheiratet, und
da die Ehe nie vollzogen wurde, ist sie vor dem Gesetz ungl
tig.
Das stimmt nicht. Inzwischen hat sich das Gesetz gen
dert. Du bist mit mir verheiratet, Waris, und ich werde dich
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nicht freigeben. Dein Baby wird sein Leben lang ein Bastard
sein.
Ich sa da und starrte ihn an. Alles Mitleid, das ich je fr ihn
empfunden hatte, verwandelte sich in Ha. Mir wurde bewut,
wie absurd die Situation war. Ich hatte Nigel geheiratet, weil er
mir unbedingt hatte helfen wollen. Es war Allahs Wille ge
wesen, wie er damals behauptete. Da seine Schwester eine
gute Freundin war, ging ich davon aus, da sie eingreifen
wrde, wenn Probleme auftauchten. Doch als ich Julie das
letzte Mal sah, befand sie sich in der geschlossenen Abteilung
einer Anstalt, wo ich sie mehrfach besuchte. Sie hatte Wahn
anflle, sah sich mit irrem Blick um, erzhlte mir die wildesten
Geschichten, da sie verfolgt werde, da man ihr nach dem
Leben trachte. Es brach mir beinahe das Herz, sie so zu se
hen, aber anscheinend lag geistige Verwirrtheit bei ihr in der
Familie. Ich kriege meine Scheidung, Nigel, mit oder ohne
deine Einwilligung. Es gibt nichts mehr zu besprechen.
Finster blickte er mich einen Moment lang an. Dann sagte
er leise: Na gut. Wenn ich dich verliere, habe ich nichts mehr
auf der Welt. Ich bringe dich um, und dann tte ich mich.
Ich erstarrte. Hastig berlegte ich mir meinen nchsten
Schritt, dann versuchte ich es mit einem Bluff. Dana kommt
gleich, um mich abzuholen. Wenn ich du wre, wrde ich
nichts Unberlegtes tun. Mir war klar, da ich so schnell wie
mglich hier wegkommen mute, denn dieses Mal drehte er
wirklich ab. Ich bckte mich, um meine Tasche vom Boden
aufzuheben. Da gab er mir von hinten einen Sto. Ich knallte
gegen die Stereoanlage, dann fiel ich rcklings auf das Par
kett. Zunchst blieb ich einfach nur liegen, ich hatte Angst,
mich zu bewegen. O Gott, das Baby! Ich konnte an nichts an
ders denken. Womglich war dem Baby etwas zugestoen.
Langsam rappelte ich mich auf.
Oh, Scheie. Ist alles in Ordnung mit dir? fragte Nigel.
Ja. Es geht schon, erwiderte ich leise. Mir wurde klar, wie
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kranz eher einem Engel. Seine breite Stirn wlbt sich genauso
hoch wie meine. Wenn ich mit ihm spreche, schrzt er die Lip
pen und sieht aus wie ein kleiner Vogel, der gleich Ioszwit
schern mchte. Vom ersten Moment an war er uerst auf
merksam, er sieht sich alles ruhig an und entdeckt seine neue
Welt.
Als kleines Mdchen freute ich mich immer ganz besonders
auf den Augenblick, wenn ich die Tiere versorgt hatte, nach
Hause kam und mich in Mamas Scho legen durfte. Sie strei
chelte mir dann ber den Kopf und gab mir damit ein ungehe u
res Gefhl des Friedens und der Geborgenheit. Nun mache
ich das mit Aleeke, und er liebt es genauso wie ich damals. Ich
massiere ihm den Kopf, und er schlft auf meinem Scho ein.
Mit seiner Geburt hat sich mein Leben von Grund auf ver
ndert. Das Glck, das er mir schenkt, bedeutet mir alles. All
die Dinge, ber die ich mich frher beklagt oder mir Sorgen
gemacht habe, sind unwichtig geworden. Darauf kommt es
nicht an. Einzig das Leben - das Geschenk des Lebens - zhlt,
das hat mir die Geburt meines Sohnes vor Augen gefhrt.
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Begegnung berlegte ich mir sehr genau, was ich in dem Arti
kel sagen wollte. Als ich Laura Ziv dann zum Mittagessen traf,
war sie mir auf Anhieb sympathisch. Wissen Sie, ich habe
keine Ahnung, was Sie von mir hren wollen, aber diese typi
schen Berichte ber das Leben eines Models sind doch schon
tausendmal gebracht worden. Wenn Sie mir die Verffentli
chung garantieren, bekommen Sie von mir eine richtige Ge
schichte, schlug ich ihr vor.
Wirklich? Nun, ich werde mein Bestes tun, erwiderte sie
und schaltete den Kassettenrecorder ein. Dann begann ich ihr
zu schildern, wie ich als Kind beschnitten wurde. Ich war noch
lngst nicht fertig mit meinem Bericht, da begann die Frau zu
weinen und schaltete den Recorder ab.
Oh, was haben Sie denn?
Ach, es ist schrecklich ... einfach frchterlich. Ich htte nie
gedacht, da so etwas heute noch passiert.
Eben, das ist es ja. Die Menschen in den Industrienationen
wissen nichts davon. Glauben Sie, Sie knnen es in Ihrer Zeit
schrift verffentlichen, in Ihrem berhmten Hochglanzmagazin,
das ausschlielich weibliche Leser hat?
Ich verspreche Ihnen, da ich alles versuchen werde, aber
die Entscheidung liegt bei meiner Chefin.
Am Tag darauf konnte ich nicht fassen, was ich getan hatte,
und schmte mich schrecklich. Alle wuten jetzt ber mich
Bescheid, waren in mein persnlichstes Geheimnis einge
weiht. Dabei hatte ich bisher nicht einmal meinen engsten
Freunden erzhlt, was mir als kleines Mdchen zugefgt wo r
den war. Da ich einer Kultur entstamme, in der nichts nach
auen getragen wird, hatte ich schlicht nie genug Mut gehabt,
ber so etwas zu sprechen. Und nun schilderte ich es Millio
nen von Fremden. Aber irgendwann sagte ich mir: Schlu
jetzt. Wenn es ntig ist, da du dich dafr deiner Wrde be
raubst, dann nichts wie weg damit. Und so geschah es. Ich
legte meine Wrde ab, als wrde ich die Kleider ausziehen,
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und lebte ohne sie weiter. Doch eines bereitete mir Sorgen:
Wie wrden andere Somalis darauf reagieren? Ich hrte schon
ihre Schimpftiraden: Wie kannst du es wagen, unsere uralten
Traditionen zu kritisieren? Sie wrden reden wie meine Fami
lie, als ich sie in thiopien wiedersah: Du meinst wohl, jetzt
wo du im Westen lebst, wtest du alles besser.
Nachdem ich lange darber nachgedacht hatte, kam ich zu
dem Schlu, da ich aus zwei Grnden ber meine Beschnei
dung sprechen mute: Zum einen beeintrchtigt sie mich sehr
stark. Neben den gesundheitlichen Problemen, mit denen ich
noch immer zu kmpfen habe, werde ich niemals eine lustvolle
Sexualitt erleben. Ich fhle mich unvollstndig, behindert, und
ich wei, da ich nichts dagegen tun kann; das gibt mir ein
Gefhl der Ohnmacht. Als ich Dana kennenlernte und mich in
ihn verliebte, wollte ich ein erflltes Sexualleben mit ihm ha
ben. Aber wenn mich heute jemand fragt: Gefllt dir Sex?,
mu ich antworten: Nicht so wie anderen Menschen. Es ge
fllt mir, da ich Dana krperlich nahe bin, weil ich ihn liebe.
Mein ganzes Leben lang habe ich nach einem Grund fr
meine Beschneidung gesucht. Vielleicht knnte ich akzeptie
ren, was mir angetan wurde, wenn mir ein einleuchtender
Grund dafr einfallen wrde. Doch ich wei keinen. Je lnger
ich erfolglos darber nachdachte, desto wtender wurde ich.
Ich mute ber mein Geheimnis sprechen, weil ich es mein
ganzes Leben lang versteckt mit mir herumgetragen hatte. Da
ich keine Familie um mich hatte, keine Mutter und keine
Schwestern, konnte ich meinen Kummer mit niemandem tei
len. Ich bezeichne mich nicht gern als Opfer, denn das klingt
so hilflos. Doch als die Zigeunerin ihr blutiges Werk an mir ve r
richtete, war ich genau das - hilflos. Spter allerdings, als er
wachsene Frau, war ich kein Opfer mehr, denn ich konnte
handeln. Als ich das Interview fr Marie Claire gab, wollte ich,
da diejenigen, die diese qualvollen Praktiken befrworten,
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von wenigstens einer Frau erfahren, wie das ist - denn die
Frauen in meinem Land sind zum Schweigen verurteilt.
Nachdem ich mein Geheimnis preisgegeben hatte, pas
sierte es mir gelegentlich, da die Leute mich auf der Strae
komisch ansahen. Ich beschlo, sie zu ignorieren. Denn es
gab einen zweiten Grund, warum ich den Artikel machen
wollte: Die Menschen sollten erfahren, da diese Praktiken
auch heute noch verbreitet sind. Ich mute an die ffentlich
keit gehen, nicht nur fr mich, sondern fr all die kleinen Md
chen auf der Welt, die in diesem Augenblick diese Tortur erlei
den. Es sind nicht Hunderte, nicht Tausende, sondern
Millionen von Mdchen, die damit leben mssen und daran
sterben. Fr mich ist es bereits zu spt, der Schaden ist nicht
wiedergutzumachen; aber vielleicht kann ich dazu beitragen,
da eine andere davor bewahrt wird.
Auf mein Interview mit dem Titel The Tragedy of Female
Circumcision gab es bewegende Reaktionen. Laura hatte
phantastische Arbeit geleistet, und mit der Verffentlichung
des Artikels bewies Marie Claire groen Mut. Das Magazin
und Equality Now, eine Organisation, die fr die Rechte der
Frauen kmpft, wurden mit positiven Zuschriften berhuft.
Wie Laura an dem Tag, als ich ihr meine Geschichte erzhlte,
zeigten sich auch die Leserinnen entsetzt:
Vor genau einem Monat las ich in der Mrz-Nummer der
Marie Claire entgeistert aber die Beschneidung von
Frauen, und seither geht mir das Thema nicht mehr aus
dem Sinn. Mir fllt es schwer zu glauben, da irgend je
mand, ob Mann oder Frau, jemals etwas so Grausames und
Unmenschliches vergessen oder abtun kann wie die Mi
handlung des Geschlechts, das Gott dem Mann als Freun
din und Kameradin, als Gefhrtin zur Seite gestellt hat. In
der Bibel steht, Mnner sollen ihre Frauen lieben. Aber
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leidet? Der Artikel hat mir die Trnen in die Augen getrie
ben, und ich schreibe jetzt gleich an Equality Now, um zu
fragen, wie ich helfen kann.
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viel klarer sein als zuvor. Heute lerne ich wieder, den Wert
der einfachen Dinge zu schtzen. Immer wieder begegne ich
Menschen, die ein wunderschnes Haus oder sogar mehrere
besitzen, dazu Autos, Jachten und Juwelen, aber nur an eines
denken: noch mehr zu besitzen. Als wrde ihnen das nchste
Ding, das sie kaufen, endlich Glck und Zufriedenheit sche n
ken. Ich brauche keinen Diamantring, um glcklich zu sein. Die
Leute sagen: Das kannst du jetzt leicht behaupten, nach dem
du es dir leisten kannst, alles zu kaufen, was du dir wnschst.
Aber ich mchte gar nichts. Das wertvollste Gut im Leben
auer dem Leben selbst - ist die Gesundheit. Doch die Men
schen ruinieren ihre kostbare Gesundheit, indem sie sich um
Nichtigkeiten Sorgen machen: Oh, hier kommt eine Rech
nung, und noch eine, aus allen Ecken kommen Rechnungen ...
wie soll ich das nur bezahlen? Die Vereinigten Staaten sind
das reichste Land der Erde, aber seine Brger empfinden sich
als arm.
Und noch knapper als Geld ist Zeit. Keiner hat Zeit. ber
haupt keine. Geh mir aus dem Weg, Mann, ich hab's eilig!
Die Straen sind voller Leute, die hin und her hetzen und hi n
ter Gott wei was herjagen.
Ich bin wirklich dankbar, da ich beide Lebensformen ken
nenlernen durfte, den einfachen und den eiligen Weg. Aber ich
wte nicht, ob ich ohne meine afrikanische Herkunft das ein
fache Leben genieen gelernt htte. Meine Kindheit in Soma
lia hat meine Persnlichkeit geprgt und mich davor bewahrt,
Banalitten wie Erfolg und Ruhm - denen so viele Leute nach
zujagen scheinen - allzu ernst zu nehmen. Hufig werde ich
gefragt: Wie fhlt man sich, wenn man berhmt ist? Dann
mu ich immer lachen. Was bedeutet das, berhmt zu sein?
Ich wei es nicht. Ich wei nur, da meine Art zu denken afri
kanisch ist, und daran wird sich nie etwas ndern.
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Kugel in ihrer Brust steckt. Meine Schwester hat sie ins Kran
kenhaus nach Saudi gebracht, aber dort meinten die rzte, sie
sei zu alt fr eine Operation. Ein Eingriff wre zu gefhrlich, sie
wrde ihn vielleicht nicht berleben. Doch als wir uns wieder
sahen, sah sie stark aus wie ein Kamel. Sie war ganz meine
Mama, zh wie eh und je, und scherzte ber ihre Schuverlet
zung. Als ich sie nmlich fragte, ob die Kugel immer noch in
ihrem Krper sei, erwiderte sie: Ja doch, ja, sie steckt noch in
mir. Aber das kmmert mich nicht. Vielleicht habe ich sie in
zwischen ja schon eingeschmolzen.
Diese Stammeskriege sind ebenso wie die Beschneidungs
prozedur ein Ausdruck fr die Selbstsucht, den Eigendnkel
und die Aggressivitt der Mnner. Ich sage das ungern, aber
es ist wahr. Beides rhrt daher, da Mnner zwanghaft an ih
rem Territorium, ihren Besitztmern, festhalten; Frauen fallen
kulturell und rechtlich gesehen ja ebenfalls in die Kategorie
des Besitzes. Vielleicht sollten wir den Mnnern die Eier ab
schneiden, damit aus meinem Land ein Paradies wird. Die
Mnner wrden ruhiger werden und sensibler mit ihrer Umwelt
umgehen. Ohne diesen stndigen Aussto von Testosteron
gbe es keinen Krieg, kein Tten, kein Rauben, keine Verge
waltigungen. Und wenn wir ihnen ihre Weichteile abhackten
und es ihnen dann freistellten, ob sie herumlaufen und ver
bluten oder berleben wollen, wrden sie vielleicht endlich
verstehen, was sie ihren Frauen antun.
Mein Ziel ist es, den Frauen in Afrika zu helfen. Ich mchte,
da sie strker werden, nicht schwcher. Die Verstmmelung
ihrer Genitalien schwcht sie krperlich und seelisch. Da
Frauen aber das Rckgrat Afrikas sind und die meiste Arbeit
verrichten, male ich mir gern aus, wieviel sie erreichen knn
ten, wenn man sie als Kinder unversehrt liee und nicht fr
den Rest ihres Lebens verstmmelte.
Trotz meines Zorns darber, was man mir angetan hat, ge
be ich nicht meinen Eltern die Schuld daran. Ich liebe meine
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USA
E-Mail: hp @ unfpa.org
Fr den Schutz in Deutschland lebender afrikanischer Mdchen und Frauen gegen die Genitalverstmmelung setzen sich u. a. die Organisationen
Terre des femmes und Intact ein. ber die Initiativen der Organisation in
Deutschland und Afrika informieren Sie sich bitte unter folgender Anschrift:
TERRE DES FEMMES E.V.
Konrad-Adenauer-Str. 40
72072 Tbingen
INTACT
Johannisstrae 4
66111 Saarbrcken
Telefon/Telefax: 06 81-3 24 00
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