Dirie, Waris - Wüstenblume

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DAS BUCH

Waris Dirie ist ein Wesen aus zwei Welten: das Nomadenmdchen aus der
endlosen Wste Somalias und als Topmodel ein Geschpf der schnellen,
kurzlebigen Modewelt.
Mit ungefhr 14 Jahren flieht sie vor ihrem Vater, als er sie mit einem alten
Mann verheiraten mchte. Ihre Flucht fhrt sie schlielich als Hausmd
chen des somalischen Botschafters nach London. Sie jobbt bei McDo
nald's, wird dann als Model entdeckt, und 1991 kommt der groe Durch
bruch. Waris wird eines der gefragtesten Topmodels der Welt und arbeitet
mit den berhmtesten Modefotografen.
Doch ein Teil ihrer Seele ist in Afrika geblieben, obwohl sie dort die grau
samste Folter erdulden mute, die man einem Mdchen antun kann: Im
Alter von fnf Jahren wurde sie beschnitten. Neben den unsglichen Qua
len dieser Prozedur und den lebenslangen Schmerzen hat man sie damit
fr den Rest ihres Lebens der Mglichkeit jeder sexuellen Empfindung
beraubt.
In einem Artikel in Marie Claire brach sie ihr jahrelanges Schweigen, und
ein Gesprch mit der Starinterviewerin Barbara Walters erregte 1997 welt
weit Aufsehen.
In Wstenblume erzhlt sie von ihrem Leben, erzhlt mit der Stimme der
selbstbewuten Frau, die als UNO-Sonderbotschafterin den Kampf fr die
6000 Mdchen aufgenommen hat, die tglich immer noch weltweit be
schnitten werden.

DIE AUTORIN
Waris Dirie, Jahrgang 1965, verlie im Alter von 14 Jahren ihre Heimat und
wurde in London als Model entdeckt. 1991 Umzug nach New York, wo sie
durch Werbeaufnahmen fr Levi's und Benetton berhmt wurde. Seit 1994
Sonderbotschafterin der UNO im Kampf gegen die Folter der rituellen Be
schneidung. Waris Dirie ist verheiratet und hat einen Sohn. Sie leidet noch
heute an den Folgen ihrer Beschneidung - krperlich und seelisch.

Waris Dirie
und Cathleen Miller

Wstenblume
Aus dem Amerikanischen
von Bernhard Jendricke,
Christa Prummer-Lehmair,
Gerlinde Schermer-Rauwolf
und Barbara Steckhan

S&C roccoEB

Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG,


Berlin
Taschenbuchnummer: 35912
Ungekrzte Ausgabe
6. Auflage Januar 2000
Originaltitel der amerikanischen Ausgabe:

Desert Flower

Originalverlag:

William Morrow, Inc., New York

Wstenblume ist Waris Diries Lebensgeschichte,

basierend auf ihrer Erinnerung. Alle im Buch

vorkommenden Personen sind Personen des

wirklichen Lebens. Um ihre Privatsphre zu

schtzen, werden die meisten von ihnen unter

Pseudonym vorgestellt.

Umschlaggestaltung:

Bauer + Mhring

unter Verwendung eines Fotos von

Koto Bolofo, Agentur Z, New York

Alle Rechte vorbehalten

1998 by Waris Dirie

1998 fr die deutsche Ausgabe

by Schneekluth Verlag GmbH

Lizenzausgabe mit Genehmigung des

Schneekluth Verlages, Mnchen

Printed in Germany 1999

Gesamtherstellung: Ebner Ulm

ISBN 3 548 35912 4

Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier

Mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff

Die Obersetzer gehren zum Kollektiv Druck-Reif

Die Deutsche Bibliothek

CIP-Einheitsaufnahme

Dirie, Waris:

Wstenblume / Waris Dirie

und Cathleen Miller.

Aus dem Amerikan. von Bernhard Jendricke

Ungekrzte Ausg., 6. Aufl. - Berlin : Ullstein, 2000

(Ullstein-Buch ; Nr. 35912)

Einheitssacht.: Desert flower <dt.>

Lizenz des Schneekluth Verl., Mnchen

ISBN 3-548-35912-4

Fr Mama

Auf dem Weg des Lebens - sei es in tobenden Strmen, im


wrmenden Sonnenschein oder mitten im Auge eines Zyklons
- hngt es allein vom Willen ab, ob man berlebt oder nicht.
Deshalb widme ich dieses Buch der Frau, auf deren Schultern
ich mich sttze und deren Kraft nie versagt: meiner Mutter
Fattuma Ahmed Aden.
Sie zeigte vor ihren Kindern selbst angesichts grter Not
noch unerschtterliche Zuversicht. Gerecht teilte sie ihre Liebe
zwischen uns zwlf Geschwistern auf (allein das schon eine
erstaunliche Leistung) und legte eine Weisheit an den Tag, die
den klgsten Gelehrten beschmen wrde.
Wenngleich sie viele Opfer bringen mute, beklagte sie sich
fast nie. Und wir, ihre Kinder, wuten stets, da sie vorbehalt
los gab, was sie hatte, wie wenig es auch sein mochte. Mehr
als einmal mute sie den Verlust eines Kindes beklagen, den
noch bewahrte sie sich die Kraft, fr das berleben der ande
ren weiterzukmpfen. Ihre Grozgigkeit und ihre innere wie
uere Schnheit sind einzigartig.
Mama, ich liebe, schtze und achte dich. Und ich danke Al
lah, dem Allmchtigen, da er mir dich zur Mutter gab. Mge
es mir vergnnt sein, deinem Vorbild zu folgen und meinen
Sohn mit der gleichen unerschpflichen Liebe aufzuziehen wie
du deine Kinder, darum bete ich.

Oh, du bist das feine Tuch, in das der junge Herr sich hllt,
Der kostbare Teppich, fr den man Tausende zahlt. Werde ich
je eine finden, die so einzigartig ist wie du? Ein Schirm kann
zerbrechen, du jedoch bist stark wie geschmiedetes Eisen.
Ob, du bist wie Gold aus Nairobi, aufs feinste verziert, Du bist
die aufgehende Sonne, das erste Licht des Morgens,
Werde ich je eine finden, die so einzigartig ist wie du?
Altes somalisches Gedicht

1. Die Ausreierin

Ein leises Gerusch weckte mich. Ich ffnete die Augen und
starrte direkt in das Gesicht eines Lwen. Sofort war ich hell
wach. Ich ri meine Augen so weit auf, als ob das Tier vor mir
darin Platz finden mte. Da ich seit Tagen nichts gegessen
hatte, war ich viel zu schwach, um aufzustehen, und meine
Beine gaben schon bei dem Versuch zitternd unter mir nach.
Matt lie ich mich an den Baum zurcksinken, in dessen
Schatten ich, geschtzt vor der gnadenlosen Sonne der afri
kanischen Wste, Rast gemacht hatte. Ich legte ruhig den
Kopf an den Stamm, schlo die Augen und sprte die rauhe
Baumrinde an meinem Schdel. Der Lwe war so nahe, da
ich in der sengenden Hitze seinen fauligen Atem roch. Und so
sprach ich zu Allah: Nun ist es vorbei, Herr. Nimm mich zu
dir.
Meine lange Reise durch die Wste war zu Ende. Ich hatte
weder einen Schutz noch eine Waffe und erst recht nicht die
Kraft, fortzulaufen. Doch selbst im gnstigsten Fall htte ich
gegen den Lwen nicht ankommen knnen, auch nicht durch
die Flucht auf den Baum. Denn wie alle Katzen sind Lwen
ausgezeichnete Kletterer und mit ihren langen Krallen weit
schneller als ein Mensch. Bevor ich den Baum auch nur zur
Hlfte hinaufgestiegen wre, htte er mich schon mit einem
Prankenhieb erledigt. Tapfer schlug ich die Augen auf. Komm
und hol mich, sagte ich zu dem Lwen. Ich bin bereit.

Es war ein prchtiges Mnnchen mit einer goldenen Mhne


und einem langen Schwanz, mit dem er hin und her schlug,
um die Fliegen zu verscheuchen. Er war etwa fnf oder sechs
Jahre alt, jung und gesund. Und ich wute, er konnte mich mit
einem Schlag tten; nicht umsonst hie er der Knig der W
ste. Im Laufe meines Lebens hatte ich oft genug beobachtet,
wie er Weischwanzgnus und Zebras schlug, die Hunderte
von Pfund schwerer waren als ich.
Der Lwe starrte mich an. Langsam blinzelten seine honig
gelben Augen. Ich starrte regungslos zurck. Der Lwe
wandte den Blick wieder ab. Mach schon. Komm und hol
mich. Er blickte mich erneut an und sah wieder fort. Schlie
lich leckte er sich das Maul und setzte sich auf seine Hinter
backen, stand aber gleich wieder auf und stolzierte mit aufrei
zend geschmeidigen Schritten vor mir auf und ab. Vllig
berraschend drehte er sich pltzlich um und trabte davon.
Wahrscheinlich war er zu dem Ergebnis gekommen, da ich
zuwenig Fleisch auf den Rippen hatte und es sich nicht lohnte,
mich zu verspeisen. Ich sah ihm nach, bis sein gelbbraunes
Fell mit dem Wstensand eins geworden war.
Als mir klar wurde, da der Lwe mich nicht reien wrde,
atmete ich keineswegs erleichtert auf. Ich hatte mich nicht ge
frchtet, ich war zum Sterben bereit gewesen. Doch offe n
sichtlich hatte Allah, der immer mein bester Freund gewesen
war, fr mich etwas anderes im Sinn, hatte er einen Grund,
mich am Leben zu lassen. Was wird das sein? fragte ich
mich. Und ich bat: Nimm mich, und fhre mich. Dann rap
pelte ich mich hoch.
Auf dieser alptraumhaften Reise befand ich mich deshalb,
weil ich vor meinem Vater davongelaufen war. Ich war etwa
dreizehn und hatte mit meiner Familie, einem Nomaden
stamm, in der Wste Somalias gelebt, als mein Vater eines
Tages verkndete, meine Heirat mit einem alten Mann sei be

schlossene Sache. Mir war klar, da ich rasch handeln mute,


denn sonst wrde pltzlich mein knftiger Mann vor mir ste
hen, um mich abzuholen. Also erklrte ich Mama, da ich
fortlaufen wrde; ich wollte zu meiner Tante, der Schwester
meiner Mutter, die in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias,
wohnte. Natrlich war ich nie zuvor in Mogadischu gewesen
und auch sonst in keiner Stadt. Ich hatte auch meine Tante
noch nie gesehen. Doch mit der Zuversicht eines Kindes ging
ich davon aus, da sich wie durch ein Wunder alles zum Be
sten wenden wrde.
Mein Vater und der Rest der Familie schliefen, als meine
Mutter mich weckte. Geh jetzt, sagte sie. Ich sah mich um,
ob es irgend etwas gab, was ich mitnehmen konnte, doch da
war nichts - keine Wasserflasche, kein Krug Milch, kein Korb
mit Essen. Barfu und nur in einen Schal gehllt rannte ich in
die schwarze Wstennacht.
Ich hatte keine Ahnung, wo Mogadischu lag, und so lief ich
einfach drauflos. Zunchst kam ich wegen der Dunkelheit nur
langsam voran; immer wieder stolperte ich ber Wurzeln und
Steine. Schlielich beschlo ich, mich einfach erst einmal hin
zusetzen. Denn berall in Afrika gibt es Schlangen, und vor
Schlangen hatte ich schreckliche Angst. Bei jeder Wurzel, an
die ich stie, bildete ich mir ein, es sei eine Gift verspritzende
Kobra. Ich setzte mich hin und sah zu, wie der Himmel allmh
lich heller wurde. Aber noch ehe die Sonne aufging, huschte
ich davon wie eine Gazelle. Ich rannte und rannte und rannte,
Stunde um Stunde.
Gegen Mittag war ich weit in die rote Wste vorgedrungen
und mit meinen Gedanken noch viel weiter geeilt. Wohin lief
ich verdammt noch mal berhaupt? Ich hatte keine Ahnung, an
welchen Ort mich die eingeschlagene Richtung bringen wrde.
Unermelich weit erstreckte sich das Land vor mir, nur hin und
wieder unterbrachen eine Akazie oder ein Dornbusch die Lee
re. Meilen ber Meilen nichts als Sand. Meine Schritte wurden

allmhlich langsamer, bis ich hungrig, durstig und mde nur


mehr dahintrottete. Dumpf und ratlos, fragte ich mich, was
mich in meinem neuen Leben erwartete. Wie wrde es weiter
gehen?
Whrend ich noch ber diese Frage nachsann, glaubte ich
pltzlich, die Stimme meines Vaters zu hren. Waris! Waris!
rief er. Ich wirbelte herum, blickte suchend umher, konnte je
doch niemanden entdecken. Vielleicht habe ich mir das nur
eingebildet, dachte ich. Waris! Waris! tnte es von berall
her. Die Stimme klang flehend, ich hatte aber trotzdem Angst.
Wenn er mich fand, wrde er mich zurckbringen und zwin
gen, diesen Mann zu heiraten, mich auerdem vielleicht noch
schlagen. Nein, es war keine Einbildung, da war mein Vater,
und er kam immer nher. Jetzt lief ich wirklich, so schnell ich
konnte. Trotz meines Vorsprungs von mehreren Stunden hatte
Papa mich eingeholt. Wie mir spter klar wurde, war er einfach
meinen Fuspuren im Sand gefolgt.
Dabei hatte ich gemeint, mein Vater sei zu alt, um mich ein
zuholen, denn ich war jung und schnell und er in meiner kindli
chen Vorstellung fast schon ein Greis. Heute mu ich lachen,
wenn ich daran denke, denn zu dieser Zeit kann er nicht lter
als Mitte Dreiig gewesen sein. Wir waren alle ausgesprochen
gut trainiert: Da wir weder ber Autos noch ber ffentliche
Verkehrsmittel verfgten, legten wir alle Strecken zu Fu zu
rck. Und ich war schnell, ob ich nun entlaufene Tiere einfing,
eine Wasserstelle suchte oder mich bei Einbruch der Dmme
rung beeilte, um noch bei Tageslicht zum Lagerplatz zurck
zukehren.
Nach einer Weile war von meinem Vater nichts mehr zu h
ren, und so verfiel ich in einen normalen Laufschritt. Wenn ich
immer weiterrenne, wird Papa irgendwann mde und kehrt zu
den anderen zurck, berlegte ich. Doch als ich mich um
drehte, sah ich ihn hinter mir einen Hgel hinunterkommen. Er
hatte mich gleichfalls entdeckt. Voller Angst rannte ich

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schneller. Und noch schneller. Ich strmte die Sanddnen


hoch und glitt an ihnen herunter. So ging es stundenlang, bis
mir irgendwann klar wurde, da ich ihn seit einiger Zeit nicht
mehr gesehen hatte. Und ich hrte ihn auch nicht mehr rufen.
Mit klopfendem Herzen kauerte ich mich schlielich hinter
einen Busch und sah mich um. Nichts. Ich lauschte aufmerk
sam. Niemand zu hren. Als ich an eine Felsplatte kam, hielt
ich an, um mich auszuruhen. Doch ich hatte aus meinem
Fehler der letzten Nacht gelernt, und als ich meinen Weg fort
setzte, blieb ich auf dem harten Boden am Rand der Felsen,
bevor ich eine neue Richtung einschlug, damit mein Vater kei
ne Fuspuren mehr entdeckte, denen er folgen konnte.
Papa, so berlegte ich, befand sich jetzt wohl auf dem
Rckweg zu den anderen, denn mittlerweile ging die Sonne
unter. Allerdings wrde er sie bei Tageslicht nicht mehr errei
chen. Er mute durch die Dunkelheit laufen, sich seinen Weg
anhand der abendlichen Gerusche unserer Familie suchen,
sich nach den Stimmen lachender, schreiender Kinder und
dem Muhen und Mhen der Tiere richten. In der Wste wird
der Klang vom Wind weit getragen, und wenn wir uns nachts
verlaufen hatten, dienten uns die Gerusche als Wegweiser.
Nachdem ich eine Weile an den Felsen entlanggelaufen
war, schlug ich eine neue Richtung ein. Welche, spielte keine
Rolle, denn ich wute ja ohnehin nicht, wo Mogadischu lag.
Ich rannte weiter bis Sonnenuntergang, bis die Dunkelheit an
brach und die Nacht so schwarz war, da ich nichts mehr se
hen konnte. Ich hatte mittlerweile so groen Hunger, da ich
an nichts anderes mehr denken konnte als an Essen. Meine
Fe bluteten. Ich setzte mich unter einen Baum und schlief
ein.
Am Morgen weckte mich die brennende Sonne.
Als ich die Augen ffnete, sah ich ber mir die Bltter eines
prchtigen Eukalyptusbaums, der in den Himmel ragte. Nach

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und nach wurde mir klar, was geschehen war. O Allah, ich bin
ganz allein. Was soll ich nur tun?
Ich stand auf und lief weiter. Dies hielt ich ber Tage hinweg
durch; wie viele es waren, wei ich nicht. Ich wei lediglich,
da es Zeit fr mich nicht mehr gab, es gab nur noch Hunger,
Durst, Angst und Schmerzen. Wenn ich abends in der Dunkel
heit nichts mehr sehen konnte, setzte ich mich hin und ruhte
mich aus. Und mittags, wenn die Sonne am hchsten stand,
hockte ich mich unter einen Baum und machte Rast.
In einer dieser Mittagspausen weckte mich der Lwe aus
meinem Schlummer. Mittlerweile war mir meine Freiheit egal;
ich wollte nur noch zurck zu Mama. Nach meiner Mutter
sehnte ich mich mehr als nach Essen und Trinken. Und ob
wohl wir es gewohnt waren, einen oder zwei Tage ohne Na h
rung und Flssigkeit auszukommen, wute ich, da ich auf
diese Weise kaum noch lnger berleben konnte. Ich fhlte
mich so matt, da mir jede Bewegung schwerfiel, und meine
Fe waren so aufgeschrft und entzndet, da mich jeder
Schritt schmerzte. Als der Lwe vor mir sa und sich hungrig
das Maul leckte, hatte ich bereits aufgegeben. Ein schneller
Tod durch das Raubtier erschien mir als willkommener Aus
weg aus meinem Elend.
Doch der Lwe sah die Knochen, die sich unter meiner Haut
abzeichneten, sah meine eingefallenen Wangen, meine her
vortretenden Augen und wandte sich ab. Ich wei nicht, ob er
Mitleid mit mir hatte oder zu der vernnftigen Einschtzung
kam, da ich keine lohnende Mahlzeit abgeben wrde. Aber
vielleicht hatte in diesem Augenblick auch Allah seine Hand im
Spiel. Er wrde nicht so unbarmherzig sein, berlegte ich, und
mich verschonen, nur um mich des viel grausameren Hunger
todes sterben zu lassen. Er hatte mich fr etwas anderes vo r
gesehen, und so flehte ich ihn an, mir beizustehen. Hier bin

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ich, leite mich. An den Baumstamm gesttzt, richtete ich mich


auf und bat um seine Hilfe.
Dann marschierte ich wieder los. Nach wenigen Minuten
kam ich an einen Flecken, auf dem Kamele grasten. Ich
suchte mir das Tier aus, das die meiste Milch hatte, lief zu ihm
hin und saugte an seinem Euter wie ein Baby. Der Hirte sah,
was ich tat. Verschwinde, du kleines Miststck! brllte er
und lie seine Peitsche knallen. Doch verzweifelt, wie ich war,
saugte ich weiter und schluckte soviel Milch, wie ich konnte.
Mittlerweile lief der Hirte brllend und schimpfend auf mich
zu, denn er wute, wenn er mich nicht rasch verjagte, wre
das Euter leer. Ich aber hatte mich schon satt getrunken und
rannte wieder los. Der Mann jagte mir nach, und seine Peit
sche traf mich ein paarmal, ehe ich ihm entkam. Ich war
schneller als er, und fluchend blieb er in der Nachmittagsson
ne stehen.
Nun, da ich getrunken hatte, kehrte meine Kraft zurck. Ich
lief und lief, bis ich auf ein Dorf stie. Eine derartige Ansied
lung mit Gebuden und Straen aus festgestampfter Erde
hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich marschierte mitten auf
der Strae, weil ich davon ausging, da man das so tat. Stau
nend verrenkte ich den Hals, weil ich soviel wie mglich von
der seltsamen Umgebung in mich aufnehmen wollte. Eine
Frau, die vorbeikam, musterte mich von oben bis unten. Was
bist du dumm! rief sie. Fr wen hltst du dich? Dann
wandte sie sich an die anderen Passanten. Du meine Gte!
Seht euch ihre Beine an! Sie zeigte auf meine blutigen, ver
schorften Fe. Herr im Himmel! Sie mu eines von diesen
dummen Mdchen vom Lande sein. Die Frau kannte sich
aus. Wenn dir dein Leben lieb ist, Kleine, geh von der Strae!
Geh von der Strae! Sie zeigte auf den Straenrand, dann
lachte sie.
Ich schmte mich furchtbar. Mit hngendem Kopf trottete
ich weiter mitten auf der Strae, denn mir war nicht klar, was

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die Frau gemeint hatte. Kurz darauf kam ein Lastwagen.


Rasch sprang ich zur Seite. Dann stellte ich mich dem Verkehr
entgegen, und whrend die Autos auf mich zurasten, streckte
ich die Hand aus. Ich hoffte auf jemanden, der anhielt und mir
half. Das kann man nicht unbedingt trampen nennen, denn
damals wute ich noch nicht, was trampen war. Ich stand ein
fach auf der Strae und streckte die Hand aus, um jemanden
anzuhalten. Ein Wagen scho an mir vorbei und ri mir beina
he den Arm ab, und so zog ich ihn blitzschnell an den Krper.
Beim nchsten Mal streckte ich die Hand nicht ganz so weit
heraus wie zuvor und trat ein wenig zur Seite, ging jedoch
weiter die Strae entlang. Whrend ich den Leuten, die in ih
ren Autos an mir vorbeifuhren, ins Gesicht sah, betete ich
stumm, da einer anhielt und mich mitnahm.
Schlielich stoppte ein Lastwagen neben mir. Auf das, was
dann geschah, bin ich nicht gerade stolz, doch es ist nun ein
mal passiert, und so mu ich auch die Wahrheit sagen. Wenn
ich daran denke, wie der Wagen vor mir stehenblieb, wnsche
ich selbst heute noch, ich htte meinem Gefhl getraut und ihn
weiterfahren lassen.
Auf der Ladeflche lag ein Haufen spitzer, etwa faustgroer
Steine fr eine Baustelle. Zwei Mnner saen in der Kabine;
der Fahrer ffnete die Tr. Hpf rein, Se, sagte er in So
mali. Ich fhlte mich wehrlos, mir war bel vor Angst. Ich will
nach Mogadischu, erklrte ich.
Wir bringen dich, wohin du willst, antwortete er grinsend.
Beim Lcheln zeigte er rtlich verfrbte Zhne. Ich wute, da
diese Farbe nicht von Tabak stammte, sondern von einer
Pflanze, die ich meinen Vater einmal hatte kauen sehen Khat, ein Rauschmittel vergleichbar mit Kokain, das die Mn
ner in Afrika nehmen. Frauen drfen es nicht anrhren, und
das ist auch gut so, denn die Mnner, die es kauen, werden
davon zgellos, reizbar und aggressiv. Khat hat schon manch
ein Leben zerstrt.

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Mir war klar, da ich in der Patsche sa, doch weil ich mir
nicht zu helfen wute, nickte ich nur. Der Fahrer bedeutete
mir, auf die Ladeflche zu klettern. Froh, nicht direkt neben
den beiden sitzen zu mssen, stieg ich hinten auf. Ich hockte
mich in eine Ecke und machte es mir auf den Steinen so be
quem, wie es ging. Mittlerweile war es dunkel und kalt gewor
den, und als der Laster losfuhr, kauerte ich mich hin, um im
Fahrtwind nicht allzusehr zu frieren.
Als nchstes erinnere ich mich, da der Beifahrer auf den
Steinen neben mir kniete. Er war Mitte Vierzig und hlich,
unglaublich hlich! Er hatte kaum noch Haare, war fast schon
kahl. Wohl zum Ausgleich hatte er sich einen kleinen
Schnauzbart wachsen lassen. Seine wenigen noch brigge
bliebenen Zhne waren Stummel und vom Khat schmutzigrot.
Trotzdem stellte er sie stolz zur Schau, als er mich angrinste.
Solange ich lebe, nie werde ich dieses Gesicht vergessen, das
lstern auf mich herabstarrte.
Auerdem war er fett, wie ich feststellte, nachdem er sich
die Hose heruntergezogen hatte. Sein erigierter Penis
schwankte. Er griff nach meinen Beinen und versuchte, sie
auseinanderzudrcken.
O bitte nicht! Bitte nicht! jammerte ich. Ich schlang meine
mageren Schenkel bereinander und schlo sie fest zusam
men. Er rang mit mir, zerrte an meinen Beinen. Als er merkte,
da er damit keinen Erfolg hatte, hob er die Hand und schlug
mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich stie einen schrillen Schrei
aus, der hinter mir in der Nacht verhallte.
Verdammt! Mach die Beine breit! Mittlerweile hockte er
mit seinem ganzen Gewicht auf mir. Die rauhen Kanten der
Steine schnitten mir in den Rcken. Er ri die Hand hoch und
schlug mich erneut, diesmal noch hrter. Bei seinem zweiten
Schlag wurde mir klar, da ich mir etwas einfallen lassen
mute, denn ich besa zu wenig Kraft, um gegen ihn anzu
kommen. Auerdem wute dieser Mann offensichtlich ganz

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genau, was er tat. Im Gegensatz zu mir hatte er Erfahrung und


zweifellos schon viele Frauen vergewaltigt - ich war einfach
nur die nchste. Ich wnschte ihm aus tiefstem Herzen den
Tod, aber ich hatte keine Waffe zur Hand.
Deshalb spielte ich ihm vor, da ich ihn wollte. Na gut. Na
gut, suselte ich. Aber erst mu ich noch pinkeln. Ich sah,
da er immer erregter wurde - he, diese Kleine wollte ihn ha
ben -, und er lie mich los. Ich ging in die entgegengesetzte
Ecke der Ladeflche, hockte mich hin und tat, als wrde ich
urinieren. So gewann ich ein paar Minuten, in denen ich mir
meine nchsten Schritte berlegen konnte. Als ich meine klei
ne Vorstellung beendet hatte, stand mein Plan fest. Ich nahm
den grten Stein, den ich finden konnte, verbarg ihn in der
Hand, kehrte zurck und legte mich neben den Mann.
Als er auf mich kletterte, schlossen sich meine Finger fester
um den Stein. Dann donnerte ich ihm meine Waffe mit aller
Kraft seitlich an den Kopf, mitten auf die Schlfe. Bei meinem
ersten Schlag wurde er benommen. Ich schlug ein zweites Mal
zu, und er sank in sich zusammen. Wie ein Krieger verfgte
ich pltzlich ber gewaltige Krfte, von denen ich nie gedacht
htte, da ich sie besa. Aber wenn dich jemand angreift und
dich tten will, wirst du stark und merkst erst dann, was alles in
dir steckt. Obwohl der Mann reglos dalag, schlug ich noch
einmal zu. Blut trat aus seinem Ohr.
Sein Freund, der Fahrer, beobachtete das Geschehen von
der Kabine aus. Was zum Teufel ist da hinten los? brllte er.
Gleichzeitig suchte er nach einer Stelle im Busch, wo er an
halten konnte. Ich wute, wenn er mich in die Finger bekam,
war es aus mit mir. Als der Laster langsamer wurde, krabbelte
ich zum hinteren Ende der Ladeflche und lie mich wie eine
Katze auf den Boden fallen. Dann rannte ich um mein Leben.
Der Fahrer, ein alter Mann, sprang aus dem Wagen. Du
hast meinen Freund umgebracht! schrie er heiser. Komm
zurck! Du hast ihn umgebracht! Ein kurzes Stck verfolgte

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er mich durch das trockene Gestrpp, dann gab er auf. Das


dachte ich zumindest.
Doch er kletterte wieder ins Fahrerhaus, startete den Motor
und folgte mir mit dem Lastwagen in die Wste. Das Schein
werferlicht strich neben mir ber den Boden, laut drhnte der
Motor in meinen Ohren. Obwohl ich so schnell rannte, wie ich
konnte, holte der Wagen auf. Verzweifelt schlug ich Haken,
rannte im Kreis. Irgendwann hatte er mich endlich aus den
Augen verloren; er gab auf und fuhr wieder zurck auf die
Strae.
Gleich einem Tier auf der Flucht vor seinem Jger hastete
ich ber die Ebene. Ich lie die Sandsteppe hinter mir, durch
querte ein Stck Dschungel, kam wieder in die Wste, ohne zu
wissen, wo ich war. Die Sonne ging auf, aber ich lief weiter.
Schlielich stie ich auf eine andere Strae. Obwohl mir bel
vor Angst war, wenn ich daran dachte, was alles geschehen
konnte, beschlo ich, wieder zu trampen. Ich wollte den Last
wagenfahrer und seinen Freund so weit wie mglich hinter mir
lassen. Was mit meinem Angreifer geschehen ist, nachdem
ich ihn mit dem Stein niedergeschlagen hatte, habe ich nie
erfahren. Doch einen der beiden wiederzusehen war so un
gefhr das letzte, was ich wollte.
Als ich an diesem Morgen im Sonnenschein an der Strae
stand, mu ich einen reizenden Anblick geboten haben. Mein
Schal war nur noch ein schmutziger Fetzen. Seit Tagen war
ich durch die Wste gelaufen, meine Haut und meine Haare
waren staubverkrustet, meine Arme und Beine mager wie vom
Wind gepeitschte Zweige und meine Fe wie bei einem Le
prakranken mit Wunden berzogen. Als ein Mercedes vorbei
kam, streckte ich die Hand aus und winkte. Ein elegant geklei
deter Mann lenkte den Wagen an die Seite, und ich kletterte
auf den Ledersitz. Bei all der Pracht verschlug es mir den
Atem. Wohin willst du? fragte der Mann.

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Dahin. Ich wies in die Richtung, in die der Mercedes be


reits fuhr. Der Mann ffnete den Mund, zeigte blitzend weie
Zhne und begann zu lachen.

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2. Vom Aufwachsen mit Tieren

Ehe ich von zu Hause fortlief, hatte es fr mich nichts Wich


tigeres gegeben als die Natur, die Familie und die enge Bezie
hung zu den Tieren, die unser berleben sicherten. In meinen
ersten Lebensjahren war ich, wie alle anderen Kinder auf der
Welt, vernarrt in Tiere. Eine meine frhesten Erinnerungen ist
die an meinen Lieblingsziegenbock Billy. Billy war mein
Schatz, mein ein und alles, und vielleicht liebte ich ihn deshalb
so sehr, weil er noch klein war, so wie ich. Ich steckte ihm jeden Leckerbissen zu, den ich auftreiben konnte, bis er der
pummeligste und glcklichste Ziegenbock der ganzen Herde
war. Warum ist dieses eine Tier so fett und die anderen so
mager? fragte meine Mutter immer wieder. Billy bekam bei
mir alles, was er brauchte, ich striegelte und streichelte ihn
und sprach stundenlang mit ihm.
Mein Verhltnis zu Billy war typisch fr unser Leben in So
malia, denn das Schicksal unserer Familie war mit dem unse
rer Herden aufs engste verknpft. Da wir von den Tieren ab
hngig waren, empfanden wir groe Achtung vor ihnen, die
sich auf all unser Handeln auswirkte. Wir Kinder muten die
Herden hten, eine Aufgabe, bei der wir mithalfen, kaum da
wir laufen konnten. Wir wuchsen mit den Tieren auf, uns ging
es gut, wenn es ihnen gutging, wir litten, wenn sie litten, und
wir siechten dahin, wenn sie starben. Obwohl wir Rinder,
Schafe und Ziegen hielten und ich meinen kleinen Billy sehr

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liebte, stand doch auer Frage, da unser wichtigster Besitz


die Kamele waren.
Ein Kamel ist in Somalia etwas ganz Besonderes; hier gibt
es mehr Kamele als in jedem anderen Land der Welt, sogar
mehr Kamele als Einwohner. Unzhlige der mndlich berlie
ferten Gedichte unseres Landes beschftigen sich mit dem
Kamel und seiner Bedeutung fr unsere Kultur. Meine Mutter
sang beispielsweise oft ein Lied, dessen Text sinngem la u
tet: Mein Kamel ist fort. Es ist bei dem bsen Mann; entweder
schlachtet er es, oder er nimmt es mir weg. Daher bitte ich,
flehe ich, gib mir mein Kamel zurck! Seit meinen frhesten
Kindertagen wei ich, da diese Tiere in unserer Gesellschaft
so kostbar sind wie pures Gold. Ohne sie hat man in der W
ste keine Chance.
Ein somalischer Dichter hat es einmal so formuliert:
Die Kamelstute ist dem eine Mutter,
dem sie gehrt;
doch der Kamelhengst ist die Ader,
an der das Leben hngt ...
So wird sogar ein Menschenleben in Kamelen aufgewogen:
Der Preis fr einen Ermordeten betrgt hundert Kamele. Wenn
der Clan des Mrders der Familie des Toten nicht hundert
Kamele gibt, kann der Stamm des Ermordeten Vergeltung
ben und ihn angreifen. Auch der traditionelle Brautpreis wird
gewhnlich in Kamelen gezahlt. Wichtiger ist jedoch, da uns
die Kamele jeden Tag berleben halfen, denn kein Tier ist so
gut fr die Wste gerstet wie das Kamel. Es mu einmal in
der Woche getrnkt werden, aber es kann auch bis zu einem
Monat ohne Wasser auskommen. Tag fr Tag gibt uns die
Kamelkuh ihre Milch, die unseren Hunger stillt und unseren
Durst lscht, was enorm wichtig ist, wenn keine Wasserstelle
in Reichweite liegt. Selbst bei hchsten Temperaturen spei

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chert das Kamel Flssigkeit und kann so berleben. Zum


Fressen begngt es sich mit den drren Bschen in unserer
kargen Landschaft, so da die Grasflecken den anderen Tie
ren bleiben.
Kamele tragen uns und unsere sprlichen Besitztmer
durch die Wste; mit Kamelen bezahlen wir unsere Schulden.
In anderen Lndern steigt man einfach in sein Auto und fhrt
los, doch wir hatten als Transportmittel neben unseren eige
nen Fen nur das Kamel.
Vom Charakter her hnelt das Kamel dem Pferd. Es entwik
kelt eine enge Beziehung zu seinem Herrn und tut fr ihn Din
ge, die es fr sonst niemanden tun wrde. Die Mnner reiten
die jungen Kamele zu - ein gefhrliches Unterfangen - und
bringen ihnen bei, einen Reiter zu tragen und seinen Befehlen
zu gehorchen. Dabei ist eine strenge Hand erforderlich, denn
sobald Kamele Schwche spren, werfen sie den Reiter ab
oder schlagen aus.
Wie fast alle Somalis lebten wir als Hirten auf dem Lande.
Zwar muten wir tglich ums berleben kmpfen, doch ge
messen an den Mastben unseres Landes, galten wir mit
unseren groen Herden von Kamelen, Rindern, Schafen und
Ziegen als wohlhabend. Wie es bei uns blich war, hteten
meine Brder die groen Tiere wie Kamele und Rinder, w h
rend wir Mdchen fr die kleineren verantwortlich waren.
Wir waren Nomaden, immer unterwegs, nie lnger als drei,
vier Wochen an einem Ort. Stndig muten wir weiterziehen,
um Nahrung und Wasser fr unsere Tiere zu suchen - die bei
den Lebensgrundlagen, die in dem trockenen Klima Somalias
nur schwer zu finden waren.
Unsere Unterkunft bestand aus einer tragbaren Htte aus
Gras, die hnlich eingesetzt wurde wie ein Zelt. Wir bauten ein
Gerst aus Zweigen, das eine Kuppel von knapp zwei Metern
Durchmesser bildete. Meine Mutter hatte dafr Matten aus
Gras gewebt, die auf diesem Gerst ausgebreitet wurden.

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Wenn wir weiterzogen, nahmen wir die Matten ab und


schnrten sie gemeinsam mit den Zweigen und unseren ande
ren Habseligkeiten auf den Rcken der Kamele. Kamele sind
ungeheuer krftig; sie trugen auerdem noch die Babys und
die kleinen Kinder, whrend wir anderen neben ihnen herliefen
und die Herden zu unserem neuen Lagerplatz trieben. Sobald
wir auf einen Flecken mit Wasser und Pflanzen stieen, schlu
gen wir wieder unser Lager auf.
Die Htte war die Unterkunft fr die Kleinsten, sie bot uns
Schatten vor der Mittagssonne, und sie diente als Lagerraum
fr die frische Milch. Nachts schliefen wir anderen unter freiem
Himmel, wobei sich die Kinder auf einer Matte aneinanderku
schelten. Nach Sonnenuntergang wird es kalt in der Wste,
und da wir weder gengend Decken fr jedes Kind noch war
me Kleidung besaen, wrmten wir uns gegenseitig mit unse
ren Krpern. Mein Vater bekam den Platz ganz auen, damit
er die Familie schtzen konnte.
Bei Tagesanbruch standen wir auf. Als erstes muten wir
hinausgehen zu den Tierpferchen, um die Herden zu melken.
Wo immer wir waren, schnitten wir Zweige von den Bumen,
aus denen wir die Umzunung der Pferche bauten, damit die
Tiere des Nachts nicht fortliefen. Die Jungtiere bekamen ge
trennt von ihren Mttern ihren eigenen Pferch, um zu verhi n
dern, da sie die ganze Milch wegtranken. Zu meinen Aufga
ben gehrte das Melken der Rinder. Wir stellten aus einem
Teil der frischen Milch Butter her, lieen aber noch genug da
von fr die Klber brig, die nach dem Melken hereingelassen
wurden.
Zum Frhstck tranken wir die nahrhafte Kamelmilch. Sie ist
wegen ihres hohen Anteils an Vitamin C gesnder als jede
andere Tiermilch. Weil unser Land so trocken war, konnten wir
darauf keine Feldfrchte anbauen, und so gab es weder Brot
noch Gemse. Manchmal folgten wir der Spur von Warzen
schweinen, groen afrikanischen Wildschweinen, die uns zu

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Pflanzen fhrten. Sie erschnffelten ebare Wurzeln, die sie


mit Hufen und Schnauzen ausgruben, um sie zu verspeisen.
Oft genug ergnzten wir mit ihrem Fund unseren bescheide
nen Speisezettel.
Das Schlachten von Vieh, um Fleisch zu essen, galt bei uns
als Verschwendung; wir tteten es nur in Notfllen oder zu
besonderen Anlssen wie einer Hochzeit. Die Tiere waren viel
zu kostbar fr uns, um sie zu tten und zu essen, wir hielten
sie wegen ihrer Milch und um sie gegen andere Dinge einzu
tauschen, die wir brauchten. Wie ernhrten uns von Kamel
milch, eine Portion zum Frhstck und eine weitere am Abend.
Manchmal reichte es nicht fr alle; dann bekamen die Kleinen
zuerst, anschlieend die lteren Kinder und so weiter. Meine
Mutter rhrte nichts an, ehe nicht alle anderen satt waren; ge
naugenommen habe ich sie nie essen sehen, obwohl sie das
natrlich getan haben mu. Aber auch wenn das Abendessen
einmal vllig ausfiel, wurde kein groes Aufheben darum ge
macht. Kein Grund zur Sorge, kein Anla zum Jammern und
Klagen. Die kleinen Babys mochten weinen, doch die gre
ren Kinder kannten die Spielregeln und legten sich einfach
schlafen. Wir versuchten, frhlich und ruhig zu bleiben: Mor
gen wrde sich, so Allah wollte, ein Ausweg finden. In'schallah
lautete unsere Philosophie, Allahs Wille geschehe. Unser Le
ben hing, wie wir wuten, von der Natur ab, und es war Allah,
der sie lenkte, nicht wir.
Ein groes Ereignis war fr uns - hnlich wie ein Feiertag
fr die Menschen in anderen Teilen der Welt -, wenn mein
Vater einen Sack Reis mitbrachte. Zu dem Reis aen wir un
sere selbstgemachte Butter, die wir gewannen, indem wir die
Kuhmilch in von meiner Mutter gewebten Krben schttelten.
Manchmal tauschten wir eine Ziege gegen Mais aus den
feuchteren Gebieten Somalias. Entweder verarbeiteten wir ihn
zu Maisbrei, oder wir gaben ihn in eine Pfanne ber dem offe
nen Feuer und machten Popcorn daraus. Trafen wir mit einer

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anderen Familie zusammen, wurde geteilt, was immer wir be


saen. Wenn die einen etwas Besonderes hatten - Datteln,
Wurzeln oder ein frisch geschlachtetes Tier -, kochten und
aen wir es gemeinsam. Wir teilten unseren Wohlstand, denn
obwohl wir die meiste Zeit allein, also lediglich mit einer oder
zwei Familien unterwegs waren, gehrten wir doch zu einer
greren Gemeinschaft. Das hatte auch seine praktische Sei
te, denn da es keinen Khlschrank gab, muten Fleisch und
andere verderbliche Dinge immer sofort verzehrt werden.
Jeden Morgen nach dem Frhstck wurden die Tiere aus
dem Pferch gelassen. Mit sechs Jahren war ich dafr verant
wortlich, die Herden mit sechzig, siebzig Schafen und Ziegen
zum Grasen in die Steppe zu treiben. Ich nahm meinen langen
Stock und machte mich allein mit der Herde auf den Weg.
Durch das Liedchen, das ich dabei sang, wies ich ihnen den
Weg. Wenn ein Tier aus der Herde ausbrach, scheuchte ich es
mit meinem Stab zurck. Sie gingen immer bereitwillig mit,
denn sie wuten, wenn sie den Pferch verlassen durften, gab
es etwas zu fressen. Man mute in aller Frhe aufbrechen, um
einen guten Platz mit frischem Wasser und ausreichend Gras
zu finden. Jeden Morgen suchte ich so schnell wie mglich
Wasser, damit ich den anderen Hirten zuvorkam, denn an
dernfalls wrden ihre Tiere das wenige, das es gab, wegsau
fen. Und sobald die Sonne hher stieg, heizte sich sowieso
der Boden dermaen auf, da alle Flssigkeit verdampfte. Ich
achtete darauf, da die Tiere sich satt tranken, denn es konnte
durchaus eine Woche vergehen, bis wir wieder auf eine Was
serstelle stieen. Oder zwei, vielleicht auch drei, wer wute
das schon. In einer Drreperiode war es das Schlimmste, mit
anzusehen, wie das Vieh starb. Wir zogen weiter, immer wei
ter, die Tiere versuchten durchzuhalten, doch irgendwann
konnten sie nicht mehr. Wenn sie zusammenbrachen, fhlte
ich mich elend wie sonst nie im Leben, denn ich wute, da ihr
Ende gekommen war, und ich konnte nichts dagegen tun.

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Das Weideland in Somalia gehrt niemandem. Daher war


es meine Aufgabe, geschickt zu sein und immer wieder Flek
ken mit ausreichend Gras fr meine Ziegen und Schafe zu
suchen. Meine Instinkte waren geschrft, kein Wlkchen am
Himmel entging meinem aufmerksamen Blick. Aber auch die
anderen Sinne setzte ich ein, denn aufziehenden Regen kann
man riechen und spren.
Whrend die Tiere grasten, pate ich auf, da die in Afrika
allgegenwrtigen Raubtiere nicht zu nahe kamen. Hynen
schlichen sich immer wieder an und rissen ein Lamm oder ein
Junges, das sich von der Herde entfernt hatte. Auerdem gab
es Lwen und Wildhunde. Whrend sie in Rudeln jagten,
mute ich ganz allein mit ihnen fertig werden.
Am Stand der Sonne las ich ab, wann ich aufbrechen mu
te, um vor Anbruch der Nacht wieder bei meiner Familie zu
sein. Oft genug verschtzte ich mich jedoch, und dann bekam
ich Probleme. Whrend ich durch die Dunkelheit stolperte,
griffen die Hynen an, denn sie wuten, da ich sie nicht se
hen konnte. Sobald ich die eine entdeckt hatte, kam eine an
dere von hinten angeschlichen. Kaum hatte ich die eine ver
scheucht, war schon die nchste zur Stelle. Die Hynen sind
am schlimmsten, denn sie lassen nicht locker und geben erst
Ruhe, wenn sie etwas gerissen haben. Sobald ich des Abends
die Tiere in den Pferch trieb, zhlte ich sie mehrmals durch,
um sicherzugehen, da keines fehlte. Eines Abends kehrte ich
zurck und hatte eine Ziege zuwenig. Ich zhlte noch mal,
dann ein drittes Mal. Pltzlich fiel mir auf, da ich Billy nicht
gesehen hatte. Ich mischte mich unter die Herde und suchte
ihn. Heulend lief ich zu meiner Mutter. Billy ist fort, Mama!
Was soll ich tun? Aber natrlich war alles zu spt. Sie strei
chelte mir den Kopf, whrend ich um meinen kleinen fetten
Liebling weinte, den die Hynen gefressen hatten.

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Welche Schicksalsschlge uns sonst auch trafen - Drrepe


rioden, Krankheit oder Krieg -, die Sorge um unsere Tiere
stand fr uns immer an erster Stelle. In den Stdten Somalias
verursachten die stndigen politischen Wirren groe Probleme
fr die Bevlkerung, doch wir waren davon meist abgeschnit
ten, so da uns nichts davon weiter berhrte. Aber als ich et
wa neun Jahre alt war, schlug ein groes Heer in unserer N
he sein Lager auf. Uns war zu Ohren gekommen, da die
Soldaten Mdchen, die allein unterwegs waren, vergewaltigt
hatten, und ich kannte eine, der das zugestoen war. Die Ar
mee Somalias htte fr uns genausogut ein Heer vom Mars
sein knnen; die Soldaten gehrten nicht zu unserem Stamm,
sie waren keine Nomaden, und wir gingen ihnen, soweit mg
lich, aus dem Weg.
Eines Morgens trug mir mein Vater auf, die Kamele zu trn
ken, und so zog ich mit der Herde los. In der Nacht war offe n
sichtlich das Heer eingetroffen und hatte an beiden Seiten des
Weges sein Lager aufgeschlagen - Zelte und Wagen so weit
das Auge reichte. Ich versteckte mich hinter einem Baum und
beobachtete die Mnner in ihren Uniformen. Weil ich an die
Geschichte des Mdchens dachte, frchtete ich mich, denn ich
hatte niemanden dabei, der mich beschtzte, so da die Mn
ner mit mir tun konnten, was ihnen gefiel. Von Anfang an
hate ich sie. Ich hate ihre Uniformen, ihre Lastwagen, ihre
Gewehre. Auerdem wute ich nicht, was sie hier zu suchen
hatten; auch wenn sie vielleicht zur Rettung Somalias im Ein
satz waren, wollte ich nichts mit ihnen zu tun haben. Trotzdem
brauchten meine Kamele Wasser. Es gab einen Weg, auf dem
ich einen Bogen um das Lager schlagen konnte, der jedoch fr
die Herde zu lang und zu verschlungen war. Also machte ich
die Kamele los und lie sie ohne mich das Lager durchqueren.
Wie ich gehofft hatte, marschierten sie geradewegs an den
Soldaten vorbei auf die Wasserstelle zu. Ich huschte im
Schutz der Bsche und Bume um das Lager herum und stie

26

an dem Wasserloch wieder zu den Tieren. Als es dunkel wur


de, wiederholten wir das Ganze und kehrten ungeschoren
wieder zur Familie zurck.
Wenn ich abends heimkam und meine Herde in den Schutz
des Pferchs getrieben hatte, wurde noch einmal gemolken. Die
Kamele trugen hlzerne Glocken am Hals. Ihr hohler Klang ist
Musik fr die Nomaden, denn sie luten die Abenddmmerung
ein, wenn das Melken beginnt. Und dem, der nach Einbruch
der Dunkelheit noch unterwegs ist und das Lager sucht, die
nen sie als Wegweiser. Whrend wir unseren Pflichten nach
gehen, wird das Himmelszelt immer schwrzer, und ein heller
Stern geht auf - Zeit, die Schafe in den Pferch zu treiben. In
anderen Lndern kennt man diesen Stern als die Venus, den
Planeten der Liebe, doch in meinem Land heit er maqal hid
hid, die Schafe heimtreiben.
Fr mich war das hufig die schwierigste Zeit des Tages,
denn da ich schon seit Sonnenaufgang bei der Arbeit war,
konnte ich meine Augen oft kaum mehr offenhalten. Einige
Male schlief ich ein, whrend ich durch die Dmmerung lief,
und die Ziegen rempelten mich an, oder mir sank beim Melken
das Kinn auf die Brust. Wenn mein Vater in diesem Augenblick
vorbeikam, war der Teufel los! Ich liebe meinen Vater, aber
manchmal konnte er richtig gemein werden - wenn er mich
ertappte, wie ich bei der Arbeit schlief, schlug er mich, um mir
einzubleuen, da ich meine Arbeit gewissenhaft und aufmerk
sam auszufhren hatte. Wenn wir unsere Aufgaben erledigt
hatten, gab es Kamelmilch zum Abendessen. Dann sammel
ten wir Holz fr ein groes Feuer, setzten uns in seinen w r
menden Schein und unterhielten uns und lachten miteinander,
bis wir schlafen gingen.
An diese Abende erinnere ich mich am liebsten, wenn ich
an Somalia zurckdenke: wie wir satt und zufrieden mit meiner
Mutter und meinem Vater, mit Brdern und Schwestern im

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Kreis saen und miteinander lachten. Wir versuchten stets,


frhlich und zuversichtlich zu bleiben. Nie hockte jemand da
und jammerte und klagte oder fing gar an, ber den Tod zu
sprechen. Unser Leben war hart; wir brauchten all unsere Kraft
zum berleben, und ungute Gedanken htten an unserer
Substanz gezehrt.
Obwohl wir weitab von den Drfern lebten, fhlte ich mich
nie einsam, denn ich hatte meine Geschwister zum Spielen.
Ich kam in der Reihenfolge etwa in der Mitte, hatte einen lte
ren Bruder, zwei ltere Schwestern und mehrere jngere Ge
schwister. Wir spielten endlos Fangen, kletterten wie die ff
chen in die Bume, hpften Kstchen, wozu wir mit den
Fingern Linien in den Sand zogen, sammelten Kieselsteine
und gruben Lcher in den Boden, um das afrikanische Spiel
Mancala zu spielen. Wir hatten sogar unsere eigene Version
von Jacks, doch anstelle eines Gummiballs warfen wir einen
Stein in die Hhe, und ebenso benutzten wir Steine anstatt der
Metallstcke als Jacks. Dieses Spiel mochte ich am liebsten;
ich war darin sehr geschickt und versuchte stndig, meinen
kleinen Bruder All zu berreden, es mit mir zu spielen.
Doch vor allem war es eine reine Lust, als Kind in der Wild
nis aufzuwachsen, frei in ihr umherzulaufen, ein Teil von ihr zu
sein und ihren Anblick, ihre Klnge, ihre Gerche in sich auf
zunehmen. Wir beobachteten ein Rudel Lwen, wie sie den
ganzen Tag faul in der Sonne lagen, sich auf dem Rcken
wlzten, die Beine in die Luft streckten und schnarchten.
Die Jungen spielten Fangen, genauso wie wir. Wir liefen mit
Giraffen, Zebras und Fchsen um die Wette. Besonders gern
mochten wir den Klippdachs, ein Tier von der Gre eines Ka
ninchens, das aber eigentlich zur Familie der Elefanten gehrt.
Geduldig warteten wir vor ihren Hhlen, bis sich ihr kleiner
Kopf zeigte und wir sie durch den Sand hetzen konnten.
Bei einem meiner Streifzge fand ich ein Strauenei. Ich
beschlo, es mitzunehmen, denn ich wollte mit ansehen, wie

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der kleine Strau schlpfte, und ihn dann als Haustier behal
ten. Das Ei hat die Gre einer Bowlingkugel, und gerade als
ich es aus seinem als Nest dienenden Sandloch nehmen und
forttragen wollte, kam die Strauenmutter und heftete sich an
meine Fersen. Straue sind verflixt schnell, sie schaffen bis zu
sechzig Stundenkilometer. Sie hatte mich bald eingeholt und
begann - Ka-Ka-Ka -, nach meinem Kopf zu hacken. Ich hatte
Angst, sie wrde mir die Schdeldecke einschlagen wie eine
Eierschale. Rasch legte ich ihr Baby auf den Boden, und dann
rannte ich um mein Leben.
An Waldgebiete stieen wir nur selten, aber wenn es doch
einmal geschah, taten wir nichts lieber, als die Elefanten zu
beobachten. Sobald wir in der Ferne ihr schmetterndes Trom
peten hrten, kletterten wir in die Bume, um sie ausfindig zu
machen. Wie Lwen, Affen und Menschen leben die Elefanten
in greren Gemeinschaften. Wenn sie ein Baby in ihrer Mitte
haben, sorgen alle ausgewachsenen Tiere - Cousine und
Cousin, Tante, Onkel, Schwester, Mutter und Groeltern - da
fr, da ihm keiner zu nahe kommt. Wir Kinder standen oben
im Baum und freuten uns. Den Elefanten konnten wir stun
denlang zusehen.
Doch mit der Zeit wurden diese glcklichen Tage im Kreise
der Familie immer seltener. Meine Schwester lief fort, mein
Bruder ging auf die Schule in der Stadt. Ich erfuhr traurige
Dinge ber meine Angehrigen und ber das Leben. Der Re
gen blieb aus, und es fiel uns immer schwerer, die Tiere zu
versorgen. Das Leben wurde hrter. Und auch ich wurde hr
ter.
Zum Teil rhrte das daher, da ich Brder und Schwestern
von mir sterben sah. Ursprnglich hatten meine Eltern zwlf
Kinder, aber nur sechs sind davon heute noch am Leben. Zwei
Zwillinge starben gleich nach der Geburt. Dann bekam meine
Mutter eine wunderhbsche Tochter. Mit etwa sechs Monaten

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war die Kleine gesund und krftig. Doch irgendwann rief mich
meine Mutter aus heiterem Himmel zu sich. Waris! Ich
strzte zu ihr und sah, da sie sich ber das Baby beugte. Ich
war selbst noch ein kleines Mdchen, wute jedoch sofort,
da mit der Kleinen etwas nicht stimmte; sie sah nicht normal
aus. Lauf und hol mir ein wenig Kamelmilch, herrschte mich
meine Mutter an. Ich war unfhig, mich zu rhren. Lauf, beeil
dich! Wie in Trance und voller Furcht blickte ich meine kleine
Schwester an. Worauf wartest du noch? schrie meine Mut
ter.
Schlielich ri ich mich zusammen. Mir war klar, was mich
bei meiner Rckkehr erwarten wrde. Als ich mit der Milch
wiederkam, lag das Baby reglos da. Ich wute, da die Kleine
tot war. Whrend ich sie so betrachtete, schlug mir meine
Mutter pltzlich ins Gesicht. Noch lange Zeit spter gab sie mir
die Schuld am Tod des Babys; sie meinte, ich htte Zauber
krfte und den Tod meiner Schwester herbeigerufen, als ich
sie so in Trance anstarrte.
Von derartigen Krften konnte bei mir keine Rede sein; es
war mein kleiner Bruder, der bernatrliche Fhigkeiten be
sa. Allen war klar, da er kein gewhnliches Kind war. Wir
nannten ihn Alter Mann, weil er schon im Alter von knapp
sechs Jahren vollkommen ergraute. Er war auergewhnlich
klug, und die Leute um uns herum suchten seinen Rat. Sie
kamen zu uns und fragten: Wo ist der Alte Mann? Dann
nahmen sie den kleinen grauhaarigen Jungen auf den Scho.
Wie wird es dieses Jahr mit dem Regen? wollten sie bei
spielsweise wissen. Obwohl er den Jahren nach noch ein Kind
war, verhielt er sich niemals wie ein Kind. Er dachte, sprach,
sa da und benahm sich wie ein weiser lterer Mann. Zwar
achteten ihn alle, doch gleichzeitig frchteten sie ihn, denn
ganz offensichtlich war er keiner von uns. Noch jung an Jah
ren, starb der Alte Mann, als habe er ein ganzes Menschenle
ben in einige wenige Jahre zusammengefat. Niemand wute,

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was seinen frhen Tod verursacht hatte, und doch ergab es fr


uns einen Sinn. Denn eines stand fest: Der Alte Mann war
nicht von dieser Welt.
Wie in allen groen Familien wuchs jedem von uns eine
ganz bestimmte Rolle zu. Ich war die Aufbegehrende - ein Ruf,
den ich mir durch eine Reihe von Taten erworben hatte, die
mir selbst vllig vernnftig und berechtigt erschienen, die von
den lteren in meiner Familie, besonders von meinem Vater,
jedoch als ungezogen verstanden wurden. Eines Tages saen
mein jngerer Bruder Ali und ich unter einem Baum und aen
weien Reis mit Kamelmilch. Whrend er seine Portion hastig
hinunterschlang, lffelte ich meine Bissen fr Bissen, denn
diese Kstlichkeit gab es nicht oft bei uns. Da wir satt wur
den, war nicht selbstverstndlich; aus diesem Grunde geno
ich stets jeden einzelnen Happen. Bald war nur noch ein klei
ner Rest Milch und Reis in meiner Schssel, den ich mir als
besonderen Genu aufgehoben hatte. Pltzlich langte All in
meine Schssel und lffelte sie bis aufs letzte Reiskorn leer.
Ohne weiteres Zgern griff ich nach dem Messer, das neben
mir lag, und stach es Ali zu Vergeltung in den Oberschenkel.
Er schrie auf, aber dann zog er es heraus und rammte es mir
in den Oberschenkel, und zwar an der gleichen Stelle wie ich
zuvor ihm. Nun saen wir beide da mit einer blutenden Wun
de. Doch weil ich zuerst zugestochen hatte, bekam ich die
Schuld an dem Vorfall. Seit dieser Mahlzeit haben Ali und ich
eine hnliche Narbe am Bein.
Einer der frhesten Ausbrche meiner rebellischen Natur
ereignete sich, als ich meinen Wunsch nach einem Paar
Schuhen uerte. Seit ich denken kann, bin ich versessen auf
Schuhe. Obwohl ich inzwischen Model bin, besitze ich nicht
viele Kleidungsstcke - Jeans und ein paar T-Shirts -, dafr
aber einen ganzen Schrank voller Schuhe - Pumps, Sandalen,

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Tennisschuhe, Halbschuhe und Stiefel -, paradoxerweise e


j
doch nichts, wozu ich sie anziehen knnte.
Als Kind war mein sehnlichster Wunsch ein Paar Schuhe;
aber da nicht mal alle Kinder der Familie richtige Kleider ha t
ten, kamen Schuhe schon gar nicht in Frage. Trotzdem
trumte ich von schnen Ledersandalen, wie meine Mutter sie
besa. Ich sehnte mich danach, bequeme Schuhe zu haben,
damit ich nicht mehr auf spitze Steine, Dornen, Schlangen und
Skorpione achten mute, wenn ich die Herde trieb. Meine F
e waren immer voller Wunden und Male; einige der schwar
zen Narben habe ich bis heute behalten. Einmal trat ich mir
einen Dorn in den Fu, und der Dorn kam oben wieder heraus,
andere hingegen brachen ab, wenn sie im Fu steckten. In der
Wste gab es weder rzte noch Medikamente zur Wundbe
handlung. Und auch mit den Wunden muten wir losziehen
und uns um die Tiere kmmern. Niemand sagte: Ich kann
nicht! Ohne zu klagen, machten wir uns jeden Morgen wieder
auf den Weg und humpelten dahin, so gut es eben ging.
Einer der Brder meines Vaters war uerst wohlhabend.
Onkel Ahmed lebte in der Stadt, in Galcaio, und wir versorgten
seine Kamele und sein briges Vieh. Er hatte mich dazu aus
erkoren, da ich mich um seine Ziegen kmmerte, denn ich tat
meine Arbeit gut, achtete stets darauf, da sie sich satt ge
fressen und getrunken hatten und gab mir Mhe, da keine
einem Raubtier zum Opfer fiel. Eines Tages, als ich etwa sie
ben war, kam Onkel Ahmed zu uns zu Besuch. Hr mal, ich
mchte, da du mir Schuhe kaufst, sagte ich zu ihm.
Er sah mich an und lachte. Ja, ja, schon gut. Du sollst dei
ne Schuhe kriegen. Ich wute, da er sich wunderte, denn es
kam uerst selten vor, da ein Mdchen um etwas bat, ge
schweige denn um etwas so Ausgefallenes wie Schuhe.
Als mein Vater das nchste Mal zu Onkel Ahmed ging,
nahm er mich mit. Ich war aufgeregt, denn endlich sollte ich

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ein Paar Sandalen bekommen. Hast du die Schuhe mitge


bracht? fragte ich ihn bei der erstbesten Gelegenheit.
Ja, hier sind sie, sagte er und gab mir ein Pckchen. Ich
nahm die Schuhe in die Hand und betrachtete sie. Es waren
Gummisandalen; nicht die wunderschnen Ledersandalen
meiner Mutter, sondern billige gelbe Schlappen. Ich konnte es
nicht glauben.
Das sollen die Schuhe fr mich sein? brllte ich und warf
sie nach ihm. Als die Schlappen seinem Bruder ins Gesicht
flogen, wollte mein Vater erst schimpfen, doch diesmal konnte
er nicht anders - er hielt sich den Bauch vor Lachen.
Das darf doch nicht wahr sein! Wie hast du dieses Kind
nur erzogen? fragte ihn mein Onkel.
Ich war so enttuscht, da ich voller Wut auf meinen Onkel
einschlug und nach ihm trat. Habe ich mich fr diesen Mist so
abgeplagt? schrie ich. Ich habe so schwer fr dich gearbei
tet, und damit soll es dann gut sein? Ein Paar billiger Gummis
andalen! Pahhh! Lieber gehe ich barfu, barfu, bis meine
Fe bluten, als diesen Mll anzuziehen! Dabei zeigte ich auf
sein Geschenk.
Onkel Ahmed sah mich einfach nur an und verdrehte die
Augen. O Allah! sthnte er. Seufzend beugte er sich nach
unten, las die Sandalen auf und nahm sie wieder mit nach
Hause.
Ich war jedoch nicht bereit, so rasch aufzugeben. Nach die
sem Tag schickte ich meinem Onkel durch jeden Verwandten,
Freund oder Fremden, der nach Galcaio ging, eine Botschaft:
Waris mchte Schuhe! Aber ich mute viele Jahre warten,
bis ich das ertrumte Paar endlich bekam. In der Zwischenzeit
betreute ich weiterhin Onkel Ahmeds Ziegen, half meiner Fa
milie bei der Sorge um unsere Herden und legte Tausende
von Meilen barfu zurck.

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Mehrere Jahre vor dem Vorfall mit den Schuhen, als ich
noch ein kleines Mdchen war, hatten wir eines Tages Be
such. Guban war ein guter Freund meines Vaters und kam
hufig vorbei. In der Abenddmmerung stand er bei meinen
Eltern und unterhielt sich mit ihnen, bis meine Mutter zum
Himmel sah. Als sie den helleuchtenden maqal hidhid ent
deckte, meinte sie, es sei Zeit, die Schafe hereinzubringen.
Oh, das kann ich doch fr euch tun, sagte Guban. Waris
soll mir helfen.
Ich kam mir wichtig vor, als Vaters Freund mich den Jungen
vorzog, um gemeinsam mit ihm die Tiere zu versorgen. Er
nahm mich bei der Hand, und wir gingen von der Htte zur
Herde, um sie zusammenzutreiben. Normalerweise wre ich
selbst wie ein junges Tier herumgerannt, doch weil es schon
dunkel wurde, bekam ich Angst und blieb in Gubans Nhe.
Pltzlich zog er seine Jacke aus, breitete sie auf den Sand und
setzte sich darauf. Ich starrte ihn verwundert an. Warum setzt
du dich hin? Es wird Nacht; wir mssen die Tiere hereinbri n
gen, protestierte ich.
Wir haben Zeit. Das ist im Handumdrehen erledigt. Er
sa auf der einen Hlfte der Jacke und klopfte auf den Platz
neben sich. Komm, setz dich. Zgernd ging ich zu ihm hin.
Da ich als Kind fr mein Leben gern Geschichten hrte, wollte
ich die gnstige Gelegenheit beim Schopfe packen. Erzhlst
du mir eine Geschichte?
Guban klopfte wieder auf den Mantel. ja, wenn du dich
hinsetzt, erzhle ich dir eine. Kaum hatte ich neben ihm Platz
genommen, da versuchte er, mich nach hinten zu drcken.
Ich will nicht liegen. Ich will, da du mir eine Geschichte er
zhlst, beharrte ich trotzig und wand mich nach oben.
Nun komm schon, komm. Er drckte meine Schultern
nach unten. Leg dich hin, sieh dir die Sterne an, und ich er
zhle dir eine Geschichte. Daraufhin lie ich den Kopf auf die
Jacke sinken, grub meine Zehen in den kalten Sand und be

34

trachtete die schimmernde Milchstrae. Whrend das Indigo


blau des Himmels langsam in Schwarz berging und die
Lmmer mhend um uns herumrannten, wartete ich gespannt,
da er mit seiner Geschichte begann. Doch unvermittelt schob
sich Gubans Gesicht vor die Milchstrae. Er drckte mir die
Beine auseinander und zerrte an dem kleinen Schal, den ich
mir um die Taille gebunden hatte. Als nchstes fhlte ich et
was Hartes und Feuchtes an meiner Scheide. Zuerst erstarrte
ich, denn ich verstand nicht, was geschah, doch ich wute,
da es etwas ganz Schlimmes war. Der Druck wurde immer
strker, und schlielich sprte ich einen stechenden Schmerz.
Ich will zu Mama! Pltzlich sprte ich eine warme Fls
sigkeit auf meiner Haut, und ein bler, suerlicher Geruch lag
in der Luft. Du hast mich angepinkelt! schrie ich entsetzt. Ich
sprang auf und rieb mir mit meinem Schal die Beine ab, um
die eklige Flssigkeit loszuwerden.
Ist ja schon gut, ist schon gut, flsterte er beschwichti
gend und packte meinen Arm. Ich wollte dir doch nur eine
Geschichte erzhlen. Ich ri mich los und rannte zu meiner
Mutter, whrend Guban hinter mir herhetzte, um mich einzu
fangen. Als ich Mama am Feuer stehen sah, das Gesicht in
seinem Schein orangerot schimmernd, lief ich zu ihr hin und
umschlang ihre Beine.
Was ist los, Waris? fragte Mama besorgt. Fragend sah
sie Guban an, der keuchend herankam. Was ist mit ihr ge
schehen?
Er lachte unbeeindruckt auf und wies mit der Hand auf
mich. Ach, ich wollte ihr eine Geschichte erzhlen, aber sie
hat Angst bekommen. Ich klammerte mich an meine Mutter.
Ich wollte ihr erzhlen, was Papas Freund mir angetan hatte,
doch ich hatte keine Worte dafr - ich wute nicht, was er ge
tan hatte. Beim Anblick seines lachenden Gesichts im Schein
der Flammen, eines Gesichts, das ich im Laufe der Jahre wie

35

der und wieder wrde sehen mssen, wurde mir klar, da ich
ihn hassen wrde bis an mein Lebensende.
Mutter streichelte mir ber den Kopf, als ich mein Gesicht
an ihre Hften prete. Ist schon gut, Waris, ist schon gut. Das
war doch nur eine Geschichte, Kleines, und berhaupt nicht
wahr. Und zu Guban gewandt fragte sie: Wo sind die Lm
mer?

36

3. Ein Nomadenleben

Da ich in Afrika aufgewachsen bin, fehlt mir das Bewutsein


fr Geschichte, das in anderen Teilen der Welt so bedeutsam
scheint. Unsere Sprache Somali gab es bis 1973 nicht in ge
schriebener Form, und so konnten wir weder lesen noch
schreiben. Alles Wissen wurde mndlich berliefert, sei es in
Gedichten oder Volksmrchen oder, was noch wichtiger war,
indem unsere Eltern uns alles beibrachten, was man zum
berleben brauchte. Meine Mutter lehrte mich beispielsweise,
aus getrocknetem Gras wasserdichte Gefe zu flechten, in
denen man Milch aufbewahren konnte; mein Vater erklrte
mir, wie man die Tiere versorgt und gesund erhlt. Mit der
Vergangenheit beschftigten wir uns kaum, dafr war keine
Zeit. Allein das Heute zhlte: Was werden wir heute tun? Sind
die Kinder alle heimgekommen? Sind die Tiere in Sicherheit?
Was werden wir heute essen? Wo knnen wir Wasser finden?
Wir in Somalia lebten wie unsere Vorfahren vor Tausenden
von Jahren, fr uns hatte sich nichts grundlegend verndert.
Da wir Nomaden waren, gehrten zu unserem Alltag weder
Strom, Telefon noch Autos, geschweige denn Computer,
Fernsehen oder Raumfahrt. Dadurch, und weil unser Leben
ganz auf die Gegenwart ausgerichtet war, hatten wir ein vllig
anderes Verhltnis zur Zeit als die Menschen in den Industri
enationen.

37

Wie die brigen Mitglieder meiner Familie habe ich keine


Ahnung, wie alt ich bin, ich kann es nur schtzen. Bedenkt
man allerdings, da ein Baby, das in meinem Heimatland ge
boren wird, nur selten das erste Lebensjahr bersteht, er
scheint das Geburtsdatum nicht mehr so wichtig. Als ich klein
war, gab es fr uns keine knstliche Zeiteinteilung, keine
Stundenplne, Uhren oder Kalender. Statt dessen richteten wir
uns nach dem Wechsel der Jahreszeiten und nach der Sonne;
ob wir weiterzogen, bestimmte die Suche nach Wasser, und
unseren Tagesablauf regelte die Dauer des Tageslichts. Die
Sonne sagte uns die Zeit. Wenn sich mein Schatten im We
sten befand, war es Morgen; wenn er direkt unter mir lag, Mit
tag. Und wenn er auf die gegenberliegende Seite wanderte,
war es Nachmittag. Je weiter der Tag fortschritt, desto lnger
wurde mein Schatten, und daran konnte ich ablesen, wann ich
aufbrechen mute, um noch vor Einbruch der Dunkelheit zu
Hause zu sein.
Am Morgen nach dem Aufstehen berlegten wir, was wir
den Tag ber zu tun hatten; wir erledigten dann unsere Aufga
be so gut wie mglich, bis wir fertig waren oder bis die Dun
kelheit uns zum Aufhren zwang. In der Frhe schon einen
fertigen Tagesplan zu haben kam uns nicht in den Sinn. Jetzt,
da ich in New York lebe, begegne ich oft Menschen, die mich
nach einem kurzen Blick in ihren Terminkalender fragen:
Hast du am vierzehnten Zeit, mit mir essen zu gehen? Oder
wie ist es mit dem fnfzehnten?
Auf solche Fragen antworte ich normalerweise: Warum
rufst du mich nicht einen Tag vorher an? Auch wenn ich mir
Verabredungen mittlerweile aufschreibe, kann ich mich an die
se Art nicht gewhnen. In meiner ersten Zeit in London war es
mir ein Rtsel, warum die Menschen nach einem Blick auf ihre
Handgelenke pltzlich riefen: Jetzt mu ich aber los! Mei
nem Empfinden nach waren alle stndig in Eile, alles mute in
einer bestimmten Zeit erledigt sein. In Afrika gab es keine Eile,

38

keinen Stre. Dort ging alles immer seinen langsamen, ruhi


gen Gang. Wenn jemand sagte: Ich treffe dich morgen gegen
Mittag, hie das, ungefhr um vier, fnf Uhr nachmittags. Bis
zum heutigen Tag weigere ich mich, eine Armbanduhr zu tra
gen.
Whrend meiner Kindheit in Somalia kam es mir nie in den
Sinn, Zukunftsplne zu schmieden oder mich auch nur inso
weit fr die Vergangenheit zu interessieren, da ich meine
Mutter fragte: Mama, wie bist du eigentlich aufgewachsen?
Daher wei ich sehr wenig ber meine Familiengeschichte,
zumal ich sehr frh von zu Hause weggegangen bin. Ich wn
sche mir immer, ich knnte jetzt zurckkehren und all diese
Fragen stellen, knnte meine Mutter fragen, wie sie als kleines
Mdchen gelebt hat, woher ihre Mutter stammte oder wie ihr
Vater gestorben ist. Es macht mich traurig, da ich all diese
Dinge vielleicht niemals erfahren werde.
Eines jedoch wei ich ber meine Mutter, nmlich da sie
sehr schn war. Auch wenn ich so klinge wie die typische
Tochter, die ihre Mutter vergttert - es stimmt wirklich. Ihr Ge
sicht glich einer Modigliani-Skulptur, und ihre Haut war so
dunkel und glatt, als wre sie aus schwarzem Marmor gemei
elt. Da Mamas Haut pechschwarz und ihr Gebi blendend
wei war, sah man nachts, wenn sie lchelte, nur die leuc h
tenden Zhne; man meinte, sie wrden in der Luft schweben.
Ihr Haar war lang, glatt und sehr weich, sie kmmte es mit den
Fingern, da sie keinen Kamm besa. Meine Mutter ist gro
und schlank, ein Merkmal, das alle ihre Tchter geerbt haben.
Sie hat eine sehr ruhige und stille Art. Aber wenn sie zu re
den anfngt, kann sie furchtbar komisch sein und richtig losla
chen. Sie erzhlt hufig Witze, mal lustige, mal auch richtig
schmutzige, und macht dumme kleine Bemerkungen, um uns
zum Lachen zu bringen. Manchmal sah sie mich an und fragte:
Waris, warum verschwinden deine Augen immer tiefer in dei
nem Gesicht? Aber ihr Lieblingsscherz war es, mich Avdohol

39

zu nennen, das heit kleiner Mund. He, Avdohol, warum ist


dein Mund so klein? sagte sie manchmal, wenn ich es am
wenigsten erwartete.
Mein Vater sah sehr gut aus, und dessen war er sich durch
aus bewut. Er war etwa einen Meter achtzig gro, schlank
und hellhutiger als Mama, hatte braunes Haar und hellbraune
Augen. Papa war eitel, weil er wute, wie gut er aussah. Er
neckte meine Mutter oft: Ich kann mir auch eine andere Frau
suchen, wenn du nicht dieses oder jenes tust, und dann
sagte er, was er von ihr wollte. Oder: Sieh mal, ich langweile
mich allmhlich hier, ich werde mir noch eine Frau nehmen ...
Meine Mutter antwortete dann blo: Nur zu, mal sehen, wie
weit du kommst. Sie liebten einander wirklich, aber trotzdem
wurde aus diesen Neckereien leider eines Tages Wirklichkeit.
Meine Mutter wuchs in Mogadischu, der Hauptstadt Somali
as, auf. Mein Vater hingegen war Nomade und sein Leben
lang durch die Wste gezogen. Als Mutter ihn kennenlernte,
fand sie ihn so attraktiv, da ihr auch ein Nomadenleben an
seiner Seite romantisch erschien; bald beschlossen die beiden
zu heiraten. Papa ging zu meiner Gromutter, weil mein Gro
vater schon gestorben war, und hielt um die Hand meiner
Mutter an. Meine Gromutter entgegnete: Nein, nein, nein,
niemals. Und zu meiner Mutter gewandt, fgte sie hinzu: Er
ist nur ein Schrzenjger! Gromutter war nicht einversta n
den, da ihre bildhbsche Tochter ihr Leben vergeudete, in
dem sie mit diesem Mann in der Wste Kamele zchtete.
Doch als meine Mutter ungefhr sechzehn war, lief sie weg
und heiratete Papa trotzdem.
Sie zogen zusammen in einen anderen Teil des Landes und
lebten bei seiner Familie in der Wste, was fr meine Mutter
nicht gerade einfach war. Ihre Familie besa Geld und Einflu,
und sie hatte dieses harte Nomadenleben nie kennengelernt.
Noch schwerer wog jedoch, da mein Vater zum Stamm der
Daarood gehrte und meine Mutter zum Stamm der Hawiye.

40

Wie die ursprnglichen Kulturen Amerikas leben auch die Ein


wohner Somalias in verschiedenen Stmmen, und jeder hlt
seinem Clan fanatisch die Treue. Der Stolz, zu einem be
stimmten Stamm zu gehren, hat bei uns in der Vergangenheit
immer wieder zu Kriegen gefhrt.
Zwischen den Daarood und den Hawiye besteht groe Ri
valitt. Da Vaters Familie Mutter als minderwertig ansah, weil
sie aus einem anderen Stamm kam, haben sie sie immer
schlecht behandelt. Mama fhlte sich lange Zeit sehr einsam,
aber sie mute sich anpassen. Als ich von zu Hause und mei
ner Familie fortlief, wurde mir klar, wie hart es fr sie gewesen
sein mute, ganz allein unter den Daarood zu leben.
Meine Mutter bekam Kinder, und bei ihnen fand sie jene
Zuneigung, die ihr seit der Trennung von ihrer eigenen Familie
fehlte. Aber wieder mute ich erst erwachsen werden, ehe ich
begriff, was es fr sie bedeutet haben mu, zwlf Kinder zur
Welt zu bringen. Wenn Mama schwanger war, verschwand sie
von einem Tag auf den anderen, und wir haben sie tagelang
nicht gesehen. Schlielich kam sie zurck, ein winziges Baby
im Arm. Sie ging ganz allein in die Wste, um ihr Kind zu ge
bren, und nahm einen scharfen Gegenstand zum Durchtren
nen der Nabelschnur mit. Einmal muten wir auf der endlosen
Suche nach Wasser weiterziehen, nachdem sie weggegangen
war. Erst vier Tage spter fand sie uns wieder; sie marschierte
durch die Wste mit dem neugeborenen Baby im Arm und hielt
nach ihrem Ehemann Ausschau.
Ich hatte immer das Gefhl, da ich ihr von allen Kindern
das liebste war. Zwischen uns bestand ein tiefes Einverne h
men, und noch heute denke ich jeden Tag an sie und bete zu
Allah, er mge sie beschtzen, bis ich selbst dazu in der Lage
bin. Als Kind wollte ich immer in ihrer Nhe sein, und ich freute
mich den ganzen Tag auf das Heimkommen am Abend, wenn
ich neben Mama sitzen und sie meinen Kopf streicheln wrde.

41

Meine Mutter konnte wunderschne Krbe flechten, eine


Fertigkeit, die man nur durch jahrelange bung erwirbt. Wir
verbrachten viele Stunden gemeinsam, in denen sie mir zeig
te, wie man einen kleinen Becher zum Milchtrinken herstellt.
Aber bei greren Gefen konnte ich nicht mit ihr mithalten,
meine Krbe waren immer ungleichmig und voller Lcher.
Eines Tages waren mein Wunsch, in Mamas Nhe zu sein,
und meine kindliche Neugier so stark, da ich ihr heimlich
folgte. Einmal im Monat verlie sie nmlich fr einen Nach
mittag alleine unser Lager. Ich sagte zu ihr: Jetzt will ich aber
wissen, was du machst, Mama. Was tust du da jeden Monat?
Sie entgegnete, das gehe mich nichts an; ein afrikanisches
Kind hat kein Recht, sich in die Angelegenheiten der Eltern zu
mischen. Und wie immer befahl sie mir, zu Hause zu bleiben
und auf meine kleinen Geschwister zu achten. Aber als sie
aufbrach, folgte ich ihr versteckt hinter Bschen in einiger
Entfernung. Sie traf sich mit fnf anderen Frauen, die gleich
falls von weit her gekommen waren. Gemeinsam setzten sie
sich unter einen riesigen, wunderschnen Baum und ve r
brachten dort die Mittagsstunden, in denen die Sonne zu hei
vom Himmel brannte, als da man etwas htte tun knnen. In
dieser Zeit ruhten sowohl die Tiere als auch die Menschen,
deshalb konnten sich die Frauen ein wenig Zeit fr sich ne h
men. Ihre schwarzen Kpfe, die sie dicht zusammensteckten,
wirkten aus der Ferne wie Ameisen, und ich beobachtete sie,
wie sie Popcorn aen und Tee tranken. Worber sie sprachen,
wei ich bis heute nicht, weil ich mich auer Hrweite befand.
Schlielich beschlo ich, mich zu erkennen zu geben, vor al
lem deshalb, weil ich etwas zu essen haben wollte. Schc h
tern ging ich zu ihnen hin und stellte mich neben meine Mutter.
Wo kommst du denn her? rief sie. Ich bin dir gefolgt.
Du bses, ungezogenes Mdchen, schalt sie mich. Aber
die anderen Frauen lachten und meinten beschwichtigend:
Oh, seht euch das hbsche kleine Ding an!

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Komm her, Schtzchen ... Meine Mutter lenkte ein und gab
mir von dem Popcorn.
In diesem Alter hatte ich keine Vorstellung davon, da es
noch etwas anderes geben knnte als unser Leben inmitten
der Ziegen und Kamele. Da ich keine fremden Lnder und we
der Bcher noch Fernsehen oder Kino kannte, bestand meine
Welt einfach nur aus all jenem, was ich tagtglich um mich
herum sah. Und noch weniger war mir klar, da meine Mutter
aus vllig anderen Verhltnissen stammte. Vor Somalias Un
abhngigkeit im Jahre 1960 gehrte der sdliche Teil des
Landes als Kolonie zu Italien. Daher war Mogadischus Kultur,
Architektur und Gesellschaft stark geprgt von italienischen
Einflssen, und aus diesem Grund sprach meine Mutter auch
Italienisch. Gelegentlich, wenn sie wtend war, stie sie eine
Reihe italienischer Flche aus. Mama! Ich sah sie ngstlich
an. Was redest du da?
Ach, das ist Italienisch.
Was ist Italienisch? Was bedeutet das?
Nichts - kmmere dich um deine eigenen Angelegenhei
ten, wies sie mich ab.
Spter entdeckte ich auf eigene Faust - so wie ich ent
deckte, da es Autos und Huser gab -, da Italienisch zu ei
ner Welt gehrte, die sich jenseits unserer Htte auftat. Wir
Kinder fragten unsere Mutter oft, warum sie Papa geheiratet
hatte. Warum bist du mit diesem Mann weggegangen? Sieh
doch, wo du lebst, whrend deine Brder und Schwestern als
Botschafter in allen Teilen der Welt wohnen. Und was hast du
erreicht? Warum bist du mit diesem Versager weggelaufen?
Sie antwortete dann, da sie sich eben in Papa verliebt habe
und da sie deshalb mit ihm weggelaufen sei, weil sie mit ihm
zusammenleben wollte. Meine Mutter ist dennoch eine sehr
starke Frau. Obwohl sie soviel durchmachen mute, hrte ich
nie eine Klage von ihr. Ich hrte sie niemals sagen: Ich habe
das alles satt, oder: Ich mache das nicht mehr mit. Mama

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blieb schweigsam und stahlhart. Und ohne Vorwarnung konnte


sie uns mit einein ihrer Scherze zum Lachen bringen. Mein
Ziel ist es, eines Tages so stark zu werden wie sie - dann kann
ich behaupten, da mein Leben erfolgreich war.
Wir waren eine typische somalische Familie, die ihr Leben
wie sechzig Prozent der Bevlkerung - als viehzchtende No
maden fristete. Mein Vater ging regelmig in ein Dorf und
verkaufte ein Stck Vieh, damit er einen Sack Reis oder Klei
derstoffe oder Decken mitbringen konnte. Gelegentlich
schickte er seine Waren auch mit anderen Leuten in die Stadt,
zusammen mit einer Liste der Dinge, die er dafr haben wollte.
Auerdem verdienten wir etwas dazu, indem wir Weihrauch
gewannen, jenen Duftstoff, den die drei Weisen aus der Bibel
dem Jesuskind brachten. Er ist heute noch so begehrt, wie er
es schon seit Urzeiten war. Weihrauch wird aus dem Boswe l
lia-Baum gewonnen, der in den Hochlndern im Nordosten
Somalias wchst. Der Boswellia ist ein hbscher, etwa einen
Meter fnfzig hoher Baum mit sich schirmartig ausbreitenden
sten. Mit einer Axt schlug ich eine kleine Kerbe in die Rinde,
nicht zu tief, damit der Baum keinen Schaden nahm. Aus die
ser Kerbe trat eine milchige Flssigkeit, die sich nach einem
Tag zu Gummi verfestigte. Manchmal kauten wir die Masse
sogar wie Kaugummi, weil wir den bitteren Geschmack moch
ten. Wir sammelten die Gummiklumpen in Krben, und mein
Vater verkaufte sie spter. Aber wir verbrannten Weihrauch
auch abends am Lagerfeuer unserer Familie, und jedesmal,
wenn ich heute seinen Duft rieche, fhle ich mich in jene Zeit
zurckversetzt. Manchmal wird in Manhattan etwas angebo
ten, was angeblich Weihrauch sein soll, und weil ich mich nach
Dingen sehne, die mich an zu Hause erinnern, kaufe ich ihn.
Aber jedesmal stellt sich heraus, da es sich nur um eine billi
ge Imitation handelt, deren Geruch nicht im entferntesten an

44

den intensiven, exotischen Duft unserer Lagerfeuer in der W


stennacht herankommt.
Auch die Gre unserer Familie war typisch fr Somalia,
denn dort bekommt eine Frau im Durchschnitt sieben Kinder.
Kinder sind die Altersversorgung, sie kmmern sich um ihre
Eltern, wenn diese alt sind. Die Kinder haben groen Respekt
vor ihren Eltern und wrden nie wagen, ihre Autoritt in Frage
zu stellen. Alle lteren, auch die Geschwister, werden mit Re
spekt behandelt und ihre Wnsche befolgt. Das ist einer der
Grnde, warum mein Aufbegehren als so emprend empfun
den wurde.
Die Familien haben nicht nur deswegen so viele Kinder, weil
es keine Geburtenkontrolle gibt, sondern auch, weil der Alltag
leichter wird, je mehr Menschen sich die Arbeit teilen. Selbst
so grundlegende Dinge wie die Suche nach Wasser - und da
mit meine ich nicht eine Menge Wasser oder auch nur gen
gend Wasser, sondern berhaupt ein wenig Wasser -, bedeu
tete harte Arbeit. Wenn die Gegend um uns herum
austrocknete, ging mein Vater auf Wassersuche. Er band rie
sige Beutel, die unsere Mutter aus Gras geflochten hatte, auf
die Kamele. Dann brach er auf und blieb oft tagelang fort, bis
er auf Wasser stie. Mit gefllten Beuteln kehrte er zu uns zu
rck. Zwar versuchten wir, an der gleichen Stelle zu bleiben,
bis er wiederkam, aber das wurde jeden Tag schwieriger, da
wir kilometerlange Wege zurcklegen muten, um die Herden
zu trnken. Manchmal muten wir auch ohne ihn weiterziehen,
aber er fand uns immer, obwohl es weder Straen, noch
Wegweiser oder Landkarten gab. Wenn mein Vater nicht da
war, weil er in einem Dorf Lebensmittel besorgte, hatte eines
der Kinder diese Aufgabe zu bernehmen, denn Mama mute
zu Hause bleiben und dafr sorgen, da alles seinen ge
wohnten Gang nahm.
Gelegentlich bekam ich diese Arbeit bertragen. Ich wan
derte tagelang umher, bis ich irgendwann Wasser fand, denn

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ohne Wasser durfte ich nicht zurckkehren. Wir wuten, da


wir nicht mit leeren Hnden heimkommen durften, denn dann
gab es keine Hoffnung mehr. Wir muten solange weitersu
chen, bis wir etwas fanden. Niemand htte die Entschuldigung
ich kann nicht akzeptiert. Wenn meine Mutter mir auftrug,
Wasser zu finden, hatte ich welches zu finden. Als ich nach
Europa kam, wunderte ich mich immer, wenn jemand klagte:
Ich kann nicht arbeiten, ich habe solche Kopfschmerzen.
Am liebsten htte ich ihnen geantwortet: Ich gebe dir mal ei
ne richtig schwere Arbeit, dann wirst du dich nie wieder ber
deine Aufgaben beschweren.
Die Anzahl der arbeitenden Hnde vergrerte sich in einer
Familie dadurch, da ein Mann viele Frauen und viele Kinder
hatte, was bedeutet, da die Polygamie in Afrika weit verbrei
tet ist. Da meine Eltern jahrelang nur zu zweit blieben, war
eher ungewhnlich. Nachdem meine Mutter zwlf Kinder zur
Welt gebracht hatte, sagte sie eines Tages: Ich bin schon zu
alt ... warum suchst du dir nicht eine zweite Frau und gnnst
mir eine Pause. La mich von nun an in Ruhe. Ich wei nicht,
ob sie es wirklich meinte; wahrscheinlich hatte sie sich nicht
trumen lassen, da mein Vater sie beim Wort nehmen wrde.
Aber eines Tages war mein Papa verschwunden. Zuerst
dachten wir, er wre Wasser oder Nahrung suchen gegangen,
und meine Mutter kmmerte sich alleine um Familie und Herden. Als er nach zwei Monaten immer noch nicht zurckge
kehrt war, hielten wir ihn fr tot. Schlielich tauchte mein Vater
eines Abends so pltzlich, wie er verschwunden war, wieder
auf. Wir Kinder saen vor der Htte. Er kam herbeispaziert
und fragte: Wo ist eure Mutter? Wir erklrten ihm, sie sei
noch drauen bei den Herden. Tja, Kinder, grinste er. Ich
mchte euch meine Frau vorstellen. Mit diesen Worten zog er
ein junges Mdchen von vielleicht siebzehn Jahren zu sich
heran - also nicht viel lter als ich. Wir starrten sie nur an, weil

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es uns nicht erlaubt war, unsere Meinung zu uern; auer


dem, was htten wir schon sagen sollen?
Die Heimkehr meiner Mutter war ein schrecklicher Augen
blick. Wir Kinder warteten gespannt, was passieren wrde.
Mama musterte meinen Vater zornig, ohne die andere Frau im
Dunkeln zu bemerken. Ach, du hast also beschlossen, wieder
aufzukreuzen, sagte sie.
Papa trat von einem Fu auf den anderen und blickte sich
um. Ja, ja. brigens, das ist meine Frau, entgegnete er und
legte den Arm um seine neue Braut. Das Gesicht meiner Mut
ter, das vom Schein des Feuers beleuchtet wurde, werde ich
nie vergessen. Sie fiel aus allen Wolken. Dann begriff sie.
Verdammt, ich habe ihn an dieses kleine, kleine Mdchen
verloren! Mama verging fast vor Eifersucht, obwohl sie, die
gute Seele, sich sowenig wie mglich anmerken lie.
Wir hatten keine Ahnung, wo die neue Frau meines Vaters
herkam, und wuten auch sonst nichts von ihr. Dies hielt sie
jedoch nicht davon ab, uns Kinder von Anfang an herumzu
kommandieren. Dann begann diese Siebzehnjhrige, auch
meiner Mutter Anweisungen zu geben - mach dies, hol mir
das, koch mir jenes. Die Situation spitzte sich immer mehr zu,
bis sie eines Tages einen fatalen Fehler beging: Sie schlug
meinen Bruder, den Alten Mann.
An dem Tag, als es passierte, waren wir Kinder an unserem
Lieblingsplatz (jedesmal, wenn wir weiterzogen, suchten wir
uns an der neuen Lagerstelle in der Nhe unserer Htte einen
Baum, der unser Kinderzimmer wurde). An jenem Tag sa
ich gerade mit meinen Geschwistern unter diesem Baum, als
ich den Alten Mann weinen hrte. Ich stand auf und sah ihn
auf mich zukommen. Was hast du? Was ist los? fragte ich
ihn und beugte mich herunter, um seine Trnen zu trocknen.
Sie hat mich geschlagen, ganz fest geschlagen. Wer das
getan hatte, brauchte ich nicht zu fragen, denn niemand in un
serer Familie hatte dem Alten Mann jemals weh getan. Nicht

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meine Mutter, nicht eines der lteren Geschwister, nicht ein


mal mein Vater, der uns andere regelmig verprgelte. Der
Alte Mann brauchte keine Schlge, weil er der klgste von uns
war und immer das Richtige tat. Da sie meinen Bruder ge
schlagen hatte, war mehr, als ich ertragen konnte. Also ging
ich los und suchte die dumme Gre.
Warum hast du meinen Bruder geschlagen? wollte ich
wissen.
Er hat meine Milch getrunken, erwiderte sie auf ihre
berhebliche Art, als sei sie die Knigin und als wrde die
ganze Milch unserer Herden ihr allein gehren.
Deine Milch? Ich habe die Milch in die Htte gestellt, und
wenn er sie haben will, weil er durstig ist, kann er sie haben.
Du mut ihn nicht schlagen!
Ach zum Teufel, halt die Klappe und verschwinde! brllte
sie und entlie mich mit einer Handbewegung. Ich starrte sie
an und schttelte den Kopf, denn obwohl ich erst etwa drei
zehn war, wute ich, da sie einen groen Fehler begangen
hatte.
Meine Geschwister warteten unter dem Baum und bemh
ten sich, etwas von dem Gesprch zwischen Papas Frau und
mir aufzuschnappen. Ich zeigte auf ihre fragenden Gesichter
und sagte: Morgen. Sie nickten.
Am nchsten Tag stand das Glck auf unserer Seite, denn
Papa erklrte, da er fr ein paar Tage fortgehen wrde. Als
es Zeit fr die Mittagsruhe war, brachte ich die Tiere zurck
und suchte meine Schwester und zwei meiner Brder. Papas
neue kleine Frau bernimmt hier das Kommando, fing ich an.
Das war eine bloe Feststellung. Wir mssen etwas unter
nehmen und ihr eine Lehre erteilen, denn so kann es nicht
weitergehen.
Ja, aber was sollen wir tun? fragte All.

48

Das werdet ihr schon sehen. Kommt einfach mit und helft
mir. Ich holte ein dickes, festes Seil, wie wir sie benutzten,
um unser Hab und Gut auf den Kamelen festzuschnren,
wenn wir weiterzogen. Dann fhrten wir Papas verngstigte
Frau von unserem Lager in den Busch. Dort zwangen wir sie,
sich ganz auszuziehen. Ich warf das eine Ende des Seils um
den Ast eines riesigen Baumes und band es um die Fukn
chel der kleinen Frau. Sie fluchte, schrie und schluchzte ab
wechselnd, whrend wir sie in die Luft zogen. Meine Brder
und ich probierten so lange herum, bis ihr Kopf etwa zweiein
halb Meter ber dem Erdboden baumelte. So war sie vor den
wilden Tieren sicher. Dann banden wir das Seil fest, gingen
nach Hause und lieen sie zappelnd und schreiend in der W
ste zurck.
Am Nachmittag des folgenden Tages kehrte mein Vater
heim, einen Tag zu frh. Er wollte wissen, wo seine kleine
Frau sei. Wir zuckten die Schultern und sagten, wir htten sie
nicht gesehen. Glcklicherweise hatten wir sie weit genug
weggefhrt, so da man ihre Schreie nicht hrte. Hmm,
sagte er und musterte uns argwhnisch. Bei Einbruch der
Dunkelheit hatte er noch immer keine Spur von ihr gefunden.
Papa wute, da irgend etwas nicht stimmte, und fing an, uns
auszufragen. Wann habt ihr sie zuletzt gesehen? Habt ihr sie
heute gesehen? Habt ihr sie gestern gesehen? Wir erklrten
ihm, sie sei letzte Nacht nicht heimgekommen, was natrlich
der Wahrheit entsprach.
Mein Vater geriet in Panik und suchte sie verzweifelt ber
all. Aber er fand sie erst am nchsten Morgen. Vaters Braut
hatte fast zwei Tage lang dort mit dem Kopf nach unten ge
hangen, und sie war in schlimmer Verfassung. Als er nach
Hause kam, war er auer sich vor Wut. Wer ist dafr verant
wortlich? wollte er wissen. Wir schwiegen eintrchtig und sa
hen uns an. Natrlich erzhlte sie es ihm. Sie sagte: Waris
war die Anfhrerin. Sie ist als erste ber mich hergefallen!

49

Papa ging auf mich los und wollte mich schlagen, aber die an
deren Kinder strzten sich auf ihn. Obwohl wir wuten, da es
falsch war, den eigenen Vater zu schlagen, konnten wir es
einfach nicht lnger ertragen.
Nach diesem Tag war Papas kleine Frau wie ausgewech
selt. Wir hatten vorgehabt, ihr eine Lektion zu erteilen, und sie
hatte sie gut gelernt. Da das Blut zwei Tage lang in ihren
Kopf flo, hatte wohl ihr Gehirn erfrischt, denn sie wurde lie
benswrdig und hflich. Von diesem Zeitpunkt an kte sie
meiner Mutter die Fe und bediente sie wie eine Sklavin.
Soll ich dir etwas holen? Kann ich etwas fr dich tun? Nein,
das mach ich schon. Setz du dich hin, und ruh dich aus.
Da dachte ich bei mir: Es geht doch. Du httest dich von
Anfang an so benehmen sollen, du kleines Miststck. Dann
httest du uns viel unntigen Kummer erspart. Aber das No
madenleben ist hart, und obwohl sie zwanzig Jahre jnger war
als meine Mutter, war Vaters neue Frau nicht so stark wie sie.
Mama erkannte schlielich, da sie von diesem kleinen Md
chen nichts zu befrchten hatte.
Das Nomadenleben ist hart, aber es ist in seiner engen, un
auflslichen Naturverbundenheit auch voller Schnheit. Meine
Mutter hat mich nach einem Naturwunder benannt, denn Waris
bedeutet Wstenblume. Die Wstenblume wchst in einer
kargen Umgebung, wo sonst kaum etwas gedeihen kann. In
meinem Land fllt oft lnger als ein Jahr lang kein Regen.
Aber irgendwann setzt er ein, er reinigt die staubige Land
schaft, und dann erblhen wie durch ein Wunder diese
Blumen. Ihre Blten sind von einem leuchtenden Gelborange,
und aus diesem Grund war Gelb schon immer meine Lieb
lingsfa rbe.
Wenn ein Mdchen heiratet, gehen die Frauen ihres Stam
mes in die Wste und sammeln diese Blumen. Sie trocknen
die Blten und verarbeiten sie mit Hilfe von Wasser zu einer

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Paste, die sie auf das Gesicht des Mdchens streichen, damit
es golden schimmert. Auf ihre Hnde und Fe zeichnen sie
mit Henna kunstvolle Muster. Ihre Augen umranden sie mit
Khol, so da sie tief und sinnlich wirken. All diese Dinge wer
den aus Pflanzen und Krutern hergestellt, sie sind reine Na
turprodukte. Anschlieend hllen die Frauen die Braut in
leuchtend bunte Schals, rote, rosafarbene, orange und gelbe,
je mehr, desto besser. Auch wenn die Frau nicht viel besitzt
und viele Familien sind bitterarm -, daran soll es nicht man
geln. Sie trgt einfach das Beste, was ihre Mutter, ihre Schwe
stern oder Freundinnen finden knnen, und das mit groem
Stolz - eine Eigenschaft, die allen Somalis eigen ist. Am Tag
ihrer Hochzeit tritt sie nach drauen, um als betrende Sch n
heit ihren Brutigam zu begren. Ein Aufwand, den eigentlich
kein Mann verdient hat!
Zur Hochzeit bringen die Angehrigen des Stammes Ge
schenke mit, aber wieder besteht kein Zwang, etwas Besonde
res zu kaufen oder sich zu sorgen, da man sich nichts Besse
res leisten kann. Man gibt, was man hat: eine selbstgewebte
Schlafmatte, eine Schssel oder, wenn man nichts anderes
besitzt, irgend etwas zu essen fr die Feier nach der Zeremo
nie. So etwas wie Flitterwochen gibt es in meiner Kultur nicht,
der Tag nach der Hochzeit ist ein ganz normaler Arbeitstag fr
die Neuvermhlten. Sie brauchen all die Geschenke, um ihren
Hausstand zu grnden.
Auer Hochzeiten gibt es bei uns nur wenige Feste, und wir
kennen auch keine Feiertage, die im Kalender festgelegt sind.
Der wichtigste Grund zum Feiern ist der lang ersehnte Regen.
In meinem Land ist Wasser sehr knapp, und dabei ist es der
Urquell des Lebens. Die Nomaden in der Wste empfinden
groe Achtung fr das Wasser, fr sie ist jeder Tropfen ein
wertvolles Gut, und bis heute liebe ich das Wasser. Es macht
mir groe Freude, es einfach nur zu betrachten.

51

Nach monatelanger Drre begannen wir manchmal zu ver


zweifeln. Wenn das eintrat, kamen die Menschen zusammen
und beteten zu Allah um Regen. Manchmal klappte es,
manchmal nicht. In einem Jahr htte die Regenzeit lngst be
ginnen sollen, doch es fiel kein Tropfen. Die Hlfte unserer
Tiere war bereits verendet und die andere Hlfte durch Durst
geschwcht. Meine Mutter sagte mir, da wir uns versammeln
wrden, um um Regen zu beten.
Buchstblich aus dem Nichts kamen von allen Seiten Men
schen herbei. Wir beteten und sangen und tanzten, versuchten
frhlich und guten Mutes zu sein.
Am nchsten Morgen zogen sich die Wolken zusammen,
und der Regen setzte ein. Dann begann, wie immer, wenn es
regnet, ein richtiges Fest. Jeder zieht seine Kleider aus und
luft in den Regen hinaus, spritzt und planscht und wscht
sich zum ersten Mal seit Monaten. Wir feiern den Regen mit
unseren traditionellen Tnzen: Die Frauen klatschen in die
Hnde und singen; ihre leisen, sanften Stimmen summen
durch die Wstennacht, und die Mnner machen hohe Luft
sprnge. Alle steuern etwas zum Festmahl bei, und zur Feier
des neugeschenkten Lebens speisen wir wie die Knige.
In den Tagen nach dem Regen erblht die Savanne mit
goldenen Blumen, und die Steppen werden grn. Die Tiere
knnen sich richtig satt essen, und wir drfen uns ausruhen
und das Leben genieen. Wir knnen in neu entstandenen
Seen baden und schwimmen. Die frische Luft ist erfllt von
Vogelgesang, und die Wste der Nomaden wird zum Para
dies.

52

4. Eine Frau werden


Irgendwann war es an der Zeit, da meine lteste Schwe
ster Aman beschnitten wurde. Wie alle jngeren Geschwister
war ich neidisch und eiferschtig, da sie in die Welt der Er
wachsenen aufgenommen werden sollte, die mir noch ver
schlossen blieb. Aman war schon eine Jugendliche und damit
lngst ber das Alter hinaus, in dem man die Mdchen ge
whnlich beschnitt, doch irgendwie hatte es zeitlich nie ge
klappt. Whrend wir ohne Unterla durch die afrikanische
Steppe zogen, war uns die Zigeunerin, die diesen traditionel
len Brauch ausbte, einfach nie ber den Weg gelaufen. Als
mein Vater sie endlich fand, brachte er sie mit, damit sie meine
beiden lteren Schwestern Aman und Halemo beschnitt. Aman
war jedoch gerade unterwegs auf Wassersuche, als die Zi
geunerin eintraf, und so beschnitt sie nur Halemo. Mein Vater
machte sich allmhlich Sorgen, denn Aman hatte das heirats
fhige Alter erreicht, doch ehe nicht alles bei ihr geregelt
war, konnte sie keine Ehe eingehen. In Somalia ist man davon
berzeugt, da das, was sich zwischen den Beinen der Md
chen befindet, schlecht ist, da wir mit diesen Teilen unseres
Krpers zwar geboren werden, da sie aber etwas Unreines
darstellen. Diese Teile mssen entfernt werden, und man
schneidet die Klitoris, die groen und die kleinen Schamlippen
ab und nht die Wunde zu, so da nur eine Narbe zurck
bleibt, wo zuvor unsere Genitalien gewesen sind. Die Einzel
heiten der rituellen Beschneidung sind ein Geheimnis - sie

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werden einem Mdchen nicht erklrt. Du weit nur, da mit dir


etwas Besonderes geschieht, wenn du an der Reihe bist.
So kommt es, da die jungen Mdchen in Somalia begierig
auf die Zeremonie warten, durch die sie von einem Kind zur
Frau werden. Ursprnglich fhrte man den Eingriff durch, so
bald sie in die Pubertt eintraten, sobald die Mdchen frucht
bar wurden und in der Lage waren, selbst Kinder zu bekom
men. Doch im Laufe der Zeit beschnitt man die Mdchen in
immer jngerem Alter - zum Teil auch deshalb, weil sie selbst
darauf drngten, ihren besonderen Augenblick herbeisehnten
wie ein Kind in den Industrienationen seinen Geburtstag oder
das Weihnachtsfest.
Als ich hrte, da die alte Zigeunerin kam, um Aman zu be
schneiden, bat ich, mich gleich mit an die Reihe zu nehmen.
Aman war meine schne groe Schwester, mein Vorbild, und
alles, was sie wnschte oder besa, wollte ich auch haben.
Am Tag vor dem groen Ereignis zog ich meine Mutter am
rmel. Mama, la uns beide drankommen, bettelte ich.
Bitte, Mama, la es morgen bei uns beiden machen. Meine
Mutter schob mich fort. Sei still, du dummes Ding! Aman
hingegen freute sich nicht besonders. Hoffentlich ergeht es
mir nicht wie Halemo, murmelte sie, wie ich noch wei. Ich
war in jenen Tagen noch zu klein, um die Bedeutung ihrer
Worte zu begreifen, und als ich Aman danach fragte, wech
selte sie rasch das Thema.
Am nchsten Morgen brachten meine Mutter und ihre
Freundin Aman in aller Frhe zu der Frau, die die Beschnei
dung durchfhren sollte. Wie schon zuvor bettelte ich, da sie
mich mitnahmen, doch Mama wies mich an, bei den kleineren
Kindern zu bleiben. Aber ich erinnerte mich an den Tag, als ich
meiner Mutter heimlich zu ihren Freundinnen gefolgt war, und
schlich der Gruppe Frauen, versteckt hinter Buschwerk und
Bumen, in einem sicheren Abstand nach.

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Die Zigeunerin erschien. Sie ist eine wichtige Persnlichkeit


in unserer Gesellschaft, nicht nur, weil sie ber ein besonderes
Wissen verfgt, sondern auch, weil sie mit den Beschneidun
gen viel Geld verdient. Die Kosten fr eine Beschneidung
zhlen zu den grten Ausgaben, die ein Haushalt tragen
mu. Dennoch gilt es als lohnender Einsatz, denn ohne den
Eingriff haben die Tchter auf dem Heiratsmarkt keine guten
Aussichten. Mit unversehrten Geschlechtsteilen gelten sie als
ungeeignet fr die Ehe, als unreine Schlampen, die kein Mann
ernstlich als seine Frau in Betracht ziehen wrde. Deshalb
nimmt die Zigeunerin, wie sie genannt wird, bei uns so eine
bedeutende Stellung ein. Ich jedoch nenne sie die Mrderin
wegen all der Mdchen, die durch ihre Hand gestorben sind.
Versteckt hinter einem Baum beobachtete ich das Gesche
hen. Meine Schwester setzte sich auf den Boden. Meine Mut
ter und ihre Freundin umfaten Amans Schultern und drckten
sie nach unten. Die Zigeunerin begann zwischen Amans Bei
nen zu werkeln, und pltzlich ri meine Schwester schmerz
verzerrt die Augen auf. Aman war sehr gro und krftig, und
unversehens - rums - hob sie das Bein und stie es der Zi
geunerin vor die Brust, so da sie nach hinten auf den Rcken
strzte. Aman wand sich aus den Armen der Frauen und
sprang auf die Fe. Entsetzt sah ich Blut an ihren Beinen
herabrinnen. Es tropfte auf den Sand und hinterlie eine Spur,
als sie davonrannte. Die Frauen liefen ihr nach, doch sie
konnten sie erst einholen, nachdem sie zusammengebrochen
und zu Boden gestrzt war. Die Frauen rollten sie herum und
setzten an Ort und Stelle ihre Arbeit fort. Mir war bel. Ich
konnte das nicht mehr mit ansehen und rannte zurck zum
Lager.
Jetzt wute ich etwas, das ich lieber nicht gewut htte.
Zwar verstand ich nicht wirklich, was geschehen war, doch die
Vorstellung, das ebenfalls durchmachen zu mssen, versetzte
mich in rasende Angst. Meine Mutter konnte ich jedoch nicht

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fragen, denn ich htte ja nicht zusehen drfen. Aman wurde


getrennt von uns anderen Kindern untergebracht, whrend
ihre Wunden heilen sollten. Zwei Tage spter brachte ich ihr
Wasser und kniete mich neben sie. Wie war es? fragte ich
leise.
Ach, es war schrecklich ..., setzte sie an. Doch dann
berlegte sie es sich anders. Wenn sie mir die Wahrheit sagte,
wrde ich mich vor meiner Beschneidung frchten, anstatt
mich darauf zu freuen. Du hast es sowieso bald vor dir; es
wird nicht lange dauern, und dann machen sie es mit dir
auch. Mehr sagte sie nicht.
Von dem Tag an frchtete ich das Ritual, das an mir durch
gefhrt werden mute, damit ich eine Frau wrde. Ich ve r
suchte, die furchtbaren Bilder aus meinem Kopf zu verbannen,
und im Laufe der Zeit verflchtigte sich die Erinnerung an die
Qual auch im Gesicht meiner Schwester. Schlielich redete
ich mir, tricht, wie ich war, ein, da auch ich eine Frau
werden und zur Gemeinschaft meiner lteren Schwestern ge
hren wollte.
Wir zogen stets gemeinsam mit einem Freund meines Va
ters und dessen Familie. Der Mann war ein miesepetriger Al
ter, und wann immer meine kleinere Schwester oder ich ihn
rgerten, verscheuchte er uns wie die Fliegen. Weg mit euch,
ihr unreinen Mdchen. Ihr seid schmutzig, schimpfte er. Ihr
seid ja noch nicht beschnitten. Diese Worte schleuderte er
uns entgegen, als wren wir als Unbeschnittene etwas so Ver
achtenswertes, da er unseren Anblick kaum ertragen konnte.
Seine Beleidigungen rgerten mich schrecklich, und ich
schwor mir, einen Weg zu finden, um ihm das dumme Maul zu
stopfen.
Dieser Mann hatte einen Sohn namens Jamah, und ich ver
liebte mich in den Jungen, obwohl er nie Notiz von mir nahm.
Statt dessen interessierte sich Jamah fr meine Schwester

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Aman. Im Laufe der Zeit setzte sich in mir die Vorstellung fest,
da Jamah meine ltere Schwester mir vorzog, weil sie schon
beschnitten und damit etwas Besseres war. Wie sein Vater
wollte sich Jamah offensichtlich nicht mit schmutzigen, unbe
schnittenen kleinen Mdchen abgeben. Als ich etwa fnf Jahre
alt war, ging ich zu meiner Mutter. Mama, bitte mach diese
Frau fr mich ausfindig. Bitte, wann ist es denn endlich so
weit? Ich dachte, ich mu es hinter mich bringen - mu diese
rtselhafte Sache mit mir machen lassen. Wie das Schicksal
es wollte, gingen nur wenige Tage ins Land, ehe die Zigeune
rin erneut auftauchte.
Eines Abends sagte meine Mutter: brigens, dein Vater ist
dieser Zigeunerin begegnet. Wir erwarten sie, sie kann jeden
Tag hier eintreffen.
Am Abend vor meiner Beschneidung wies Mama mich an,
nicht zuviel Wasser oder Milch zu trinken, damit ich nicht st n
dig pinkeln mute. Zwar wute ich nicht, was sie meinte, doch
ich stellte keine Fragen und nickte nur brav. Ich war nervs,
aber entschlossen, es hinter mich zu bringen. Meine Familie
machte an diesem Abend groes Aufheben um mich, und ich
bekam eine Extraportion zum Essen. Das war so blich, und
genau das war es auch, was mich zuvor neidisch auf meine
lteren Schwestern gemacht hatte. Ehe ich mich schlafen
legte, sagte mir meine Mutter: Ich wecke dich in der Frhe,
wenn es Zeit ist. Woher sie wute, wann die Frau kommen
wrde, frage ich mich noch heute, aber Mama wute eben
immer alles. Sie sprte einfach, wenn jemand auf dem Weg zu
uns war oder wenn sich abzeichnete, da etwas Bestimmtes
geschah.
Aufgeregt lag ich in jener Nacht wach, bis pltzlich Mama
ber mir stand. Es war noch dunkel; jener Zeitpunkt vor Mor
genanbruch, wenn das Schwarz des Himmels unmerklich in
Grau bergeht. Mit einem Zeichen gab sie mir zu verstehen,
leise zu sein, und nahm meine Hand. Ich griff mir meine kleine

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Decke und stolperte verschlafen hinter ihr her. Inzwischen


wei ich, warum sie die Mdchen so frh am Morgen holen.
Sie wollen sie beschneiden, ehe die anderen aufwachen, da
mit niemand ihre Schreie hrt. Aber an jenem Tag tat ich ein
fach wie befohlen, obwohl ich mir auf all das keinen Reim ma
chen konnte. Wir gingen von unserer Htte in den Busch. Wir
warten hier, sagte Mama, und wir setzten uns auf den kalten
Boden. Die Nacht wurde ein wenig heller; ich erkannte allmh
lich die ersten Umrisse. Dann hrte ich das Klatschen von den
Sandalen der Zigeunerin. Meine Mutter rief ihren Namen. Bist
du das? fgte sie noch hinzu.
Ja, hier drben, antwortete eine Stimme, obwohl ich noch
niemanden sehen konnte. Pltzlich stand sie dann neben mir.
Setz dich dorthin, sagte die Zigeunerin, whrend sie auf ei
nen flachen Felsen wies. Es gab kein Gesprch, kein: Guten
Tag. Kein: Wie geht es euch? Kein: Was heute geschieht,
wird dir sehr weh tun, du mut also tapfer sein. Nichts der
gleichen. Die Mrderin kam gleich zur Sache.
Mama brach ein Stck Wurzel von einem alten Baum ab,
dann schob sie mich auf den Felsen. Sie setzte sich hinter
mich, zog meinen Kopf an ihre Brust und umschlang meinen
Krper mit den Beinen. Ich wand die Arme um ihre Ober
schenkel. Schlielich steckte mir meine Mutter die Wurzel zwi
schen die Zhne. Du mut darauf beien.
Ich war starr vor Angst. Pltzlich sah ich wieder Amans
schmerzverzerrtes Gesicht vor mir. Das wird weh tun, mur
melte ich mit der Wurzel in meinem Mund.
Mama beugte sich vor. Du weit, da ich dich nicht halten
kann, flsterte sie. Ich bin hier ganz allein mit dir. Also sei
brav, meine Kleine. Sei tapfer, um meinetwillen, dann hast du
es bald hinter dir. Ich blickte zwischen meine Beine und sah,
da sich die Zigeunerin fertigmachte. Mit dem bunten Schal,
den sie um den Kopf geschlungen hatte, und dem farbigen
Baumwollkleid sah sie aus wie jede andere Frau in Somalia

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auch, nur da sie nicht lchelte. Sie warf mir aus ihren toten
Augen einen strengen Blick zu, dann whlte sie in einer alten
Tasche aus Teppichstoff. Ich sah ihr aufmerksam zu, denn ich
wollte wissen, womit sie mich schneiden wrde. Eigentlich
hatte ich ein groes Messer erwartet, statt dessen zog sie ei
nen kleinen Stoffbeutel aus der Tasche. Sie griff mit ihren lan
gen Fingern hinein und brachte eine zerbrochene Rasierklinge
zum Vorschein, die sie von allen Seiten prfend musterte. Die
Sonne war gerade erst aufgegangen, und man konnte zwar
schon die einzelnen Farben erkennen, jedoch noch keine Ein
zelheiten. Trotzdem fiel mir auf, da auf der schartigen
Schneide der Klinge Blut klebte. Die Frau spuckte darauf und
wischte sie an ihrem Kleid ab. Noch whrend sie das tat, ver
dunkelte sich meine Welt. Meine Mutter hatte mir ein Tuch vor
die Augen gebunden.
Dann sprte ich, wie mein Fleisch, meine Geschlechtsteile,
fortgeschnitten wurden. Ich hrte den Klang der stumpfen
Klinge, die durch meine Haut fuhr. Wenn ich heute daran zu
rckdenke, erscheint es mir schlechtweg unfabar, da mir
dies widerfahren ist, und ich habe das Gefhl, als wrde ich
von jemand anderem sprechen. Es gibt keine Worte, die den
Schmerz beschreiben knnten. Es ist, als ob dir jemand ein
Stck Fleisch aus dem Oberschenkel reit oder dir den Arm
abschneidet, nur da es sich dabei um die empfindsamsten
Teile deines Krpers handelt. Ich rhrte mich jedoch keinen
Zentimeter, denn ich dachte an Aman und wute, da es kein
Entrinnen gab. Und ich wollte, da Mama stolz auf mich war.
Wie aus Stein sa ich da und sagte mir, je weniger ich mich
bewegte, desto eher wre die Qual zu Ende. Aber leider be
gannen meine Beine einfach zu beben und unkontrolliert zu
zucken. Herr im Himmel, la es rasch vorber sein, betete
ich. Und das war es auch, denn ich verlor das Bewutsein.
Als ich aufwachte, dachte ich, ich htte es hinter mir, doch
da begann erst der schlimmste Teil. Meine Augenbinde war

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weggerutscht, und ich sah, da die Mrderin eine Sammlung


Dornen des Akazienbaums neben sich aufgehuft hatte. Mit
den Dornen stach sie mir Lcher in die Haut, durch die sie ei
nen festen, weien Zwirn schob, um mich zuzunhen. Meine
Beine waren mittlerweile vllig taub, doch der Schmerz in mei
ner Scheide war so furchtbar, da ich nur noch sterben wollte.
Pltzlich fhlte ich mich emporgehoben, schwebte ber dem
Boden, lie meine Pein zurck und sah von oben auf die Sze
ne unter mir, sah, wie diese Frau meinen Krper wieder zu
sammenflickte, whrend meine arme Mutter mich umschlun
gen hielt. In jenem Augenblick versprte ich vollkommenen
Frieden, hatte weder Sorgen noch Angst.
An diesem Punkt bricht meine Erinnerung ab. Irgendwann
ffnete ich die Augen, und die Frau war fort. Man hatte mich
zur Seite getragen; ich lag auf dem Boden neben dem Felsen.
Meine Beine waren von den Fersen bis zu Hfte mit
Stoffstreifen zusammengebunden, so da ich mich nicht mehr
bewegen konnte. Suchend blickte ich mich nach meiner Mutter
um, aber sie war gleichfalls fort. So lag ich da und fragte mich,
was als nchstes geschehen wrde. Als ich den Kopf wandte,
sah ich eine Blutlache auf dem Felsen, als ob dort ein Tier ge
schlachtet worden wre. Und auerdem lagen dort auf dem
Felsen Stcke meines Fleisches, meine Geschlechtsteile, und
trockneten in der Sonne.
Bald stand die Sonne im Zenit. Es gab keinen Schatten, und
die sengend heien Strahlen brannten auf mein Gesicht her
nieder, bis meine Mutter mit meiner Schwester zurckkehrte.
Sie zogen mich in den Schatten eines Busches, wo ich warte
te, da sie meine Htte fertigstellten. Es gehrte zur Tradition,
da unter einem Baum eine kleine Htte errichtet wurde, in der
ich in den nchsten Wochen allein ruhen und mich erholen
sollte, bis ich wieder gesund war. Als Mama und Aman ihre
Arbeit beendet hatten, legten sie mich ins Innere.

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Ich dachte, die Qual sei berstanden, bis ich pinkeln mute.
Nun verstand ich den Rat meiner Mutter, nicht zuviel Wasser
oder Milch zu trinken. Nachdem ich es stundenlang hinausge
schoben hatte, konnte ich es kaum noch aushalten, doch da
mir die Beine zusammengebunden waren, mute ich bleiben,
wo ich war. Mama hatte mich gewarnt, keinen Schritt zu tun,
damit ich nicht wieder aufri.
Wenn sich die Wunde ffnete, mute sie erneut genht
werden, und das war so ungefhr das letzte, was ich wollte.
Ich mu pinkeln, rief ich meiner Schwester zu. Ihr Gesichts
ausdruck verhie nichts Gutes. Sie kam herbei, rollte mich auf
die Seite und grub mit der Hand eine kleine Mulde in den
Sand.
Gut. Fang an.
Der erste Tropfen, der herauskam, brannte, als wrde mir
die Haut von Sure fortgefressen. Als die Zigeunerin mich zu
nhte, hatte sie fr den Urin und das Monatsblut nur ein winzi
ges Loch offengelassen, ein Loch in der Gre eines Streich
holzkopfes. Mit dieser ausgefeilten Methode sollte
sichergestellt werden, da ich vor meiner Hochzeit keinen Sex
hatte, und mein Ehemann konnte nachprfen, da er eine
Jungfrau bekam. Whrend der Urin sich in meiner blutigen
Wunde staute und, Tropfen fr Tropfen, an den Beinen entlang
in den Sand rann, begann ich zu schluchzen. Ich hatte keinen
Laut von mir gegeben, als die Mrderin mich aufschnitt. Nun
aber brannte es so sehr, da ich es anders nicht mehr aus
hielt.
Als der Abend anbrach und es dunkel wurde, kehrten Aman
und meine Mutter zur Familie zurck. Ich blieb allein in der
Htte. Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr vor der Dunkel
heit oder vor Lwen und Schlangen, obwohl ich hilflos war und
nicht fortlaufen konnte. Seit dem Augenblick, als ich meinen
Krper verlassen und zugesehen hatte, wie die alte Frau mein
Geschlecht zunhte, konnte mich nichts mehr ngstigen. Wie

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erstarrt blieb ich auf dem Boden liegen, nahm keine Furcht
mehr wahr, lag taub vor Schmerzen in der Htte, und mir war
gleich, ob ich am Leben blieb oder starb. Da die anderen
gemeinsam am Feuer saen und lachten, whrend ich allein in
der Dunkelheit lag, kmmerte mich nicht im geringsten.
Nach einigen Tagen, die ich so in der Htte verbrachte, ent
zndeten sich meine Genitalien, und ich bekam hohes Fieher.
Immer wieder verlor ich das Bewutsein. Aus Angst vor den
Schmerzen beim Urinieren hatte ich es so lange zurckgeha l
ten, bis meine Mutter schimpfte: Kleines, wenn du nicht pin
kelst, wirst du sterben. Also zwang ich mich dazu. Wenn ich
mute und niemand in der Nhe war, rutschte ich ein Stck
chen weiter, rollte mich auf die Seite und wappnete mich ge
gen den brennenden Schmerz, von dem ich wute, da er
kommen wrde. Doch irgendwann war meine Wunde so ent
zndet, da nicht einmal das mehr ging. Mama brachte mir
Essen und Wasser fr die kommenden zwei Wochen, anson
sten blieb ich allein. Mit zusammengebundenen Beinen lag ich
da und wartete, da die Wunde heilte. Unter dem Einflu des
Fiebers, verloren und matt, fragte ich mich immer wieder:
Wozu? Wozu ist das alles gut? In diesem Alter wute ich
noch nichts von Sex. Ich wute lediglich, da mit Mamas Ein
willigung an mir herumgeschnitten worden war und da ich
nicht einsehen konnte, warum.
Schlielich holte meine Mutter mich ab, und ich schlurfte mit
meinen zusammengebundenen Beinen zurck zu den ande
ren. Na, was ist das fr ein Gefhl? fragte mich mein Vater
am ersten Abend in unserer Familienhtte. Ich nehme an, das
bezog sich auf meinen neuen Status als Frau, aber ich konnte
an nichts anderes denken als an die Schmerzen zwischen
meinen Beinen. Da ich kaum mehr als fnf Jahre alt war, l
chelte ich nur und schwieg. Woher sollte ich wissen, was es
heit, eine Frau zu sein? Dabei hatte ich zu diesem Zeitpunkt

62

die wichtigsten Verhaltensregeln fr eine Afrikanerin schon


gelernt, ohne es zu merken: Du mut dich im Hintergrund
halten und dein Leid willenlos und hilflos ertragen wie ein Kind.
Damit meine Wunde heilen konnte, blieben meine Beine
mehr als einen Monat zusammengebunden. Mama ermahnte
mich stndig, nicht zu laufen oder zu springen, so da ich nur
unbeholfen dahinstolperte. Wenn man bedenkt, da ich stets
ein Energiebndel gewesen und wie ein ffchen auf Bume
geklettert oder ber Steine gesprungen war, bedeutete auch
dies eine Qual fr mich: still dazusitzen, whrend meine Ge
schwister miteinander spielten. Doch ich hatte solche Angst,
das Ganze noch einmal durchmachen zu mssen, da ich
mich kaum von der Stelle rhrte. Jede Woche untersuchte
mich Mama, ob es richtig heilte. Als man die Bnder um meine
Beine endlich lste, konnte ich mich zum ersten Mal wieder
ansehen. Auer einer Narbe, die in der Mitte entlanglief wie
ein Reiverschlu, war dort nur ein vllig glattes Stck Haut.
Und der Reiverschlu war eindeutig zugezogen. Mein Ge
schlecht war versiegelt, unzugnglich wie hinter einer Stein
mauer, und kein Mann konnte in mich eindringen, bis mich
mein Ehemann in meiner Hochzeitsnacht mit einem Messer
aufschnitt oder sich mit Gewalt Einla verschaffte.
Kaum konnte ich wieder richtig laufen, machte ich mich auf
zu einer Mission. Jeden Tag in all den Wochen, die ich dalag,
jede Minute, seit diese alte Frau an mir herumgeschnitten
hatte, hatte mich nur ein Gedanke bewegt. Meine Mission
fhrte mich zu dem Felsen, an dem ich geopfert worden war;
ich wollte nachsehen, ob meine Geschlechtsteile noch dort
lagen. Aber sie waren fort, wahrscheinlich aufgefressen von
einem Geier oder einer Hyne, jenen Aasfressern, die in Afrika
zum Kreislauf des Lebens gehren. Wie es ihre Aufgabe war,
hatten sie die Brocken weggerumt, die makabren Beweis
stcke unseres harten Wstenlebens.

63

Obwohl ich nach meiner Beschneidung groe Schmerzen


litt, zhlte ich noch zu den Glcklicheren. Es htte weitaus
schlimmer kommen knnen, wie unzhlige andere Mdchen
erfahren muten. Bei unseren Wanderungen durch Somalia
stieen wir auf viele Familien und spielten mit ihren Tchtern.
Aber wenn wir sie wiedertrafen, waren die Mdchen oft fort.
Niemand sagte ehrlich, was mit ihnen geschehen war,
manchmal sprach man einfach nicht mehr von ihnen. Sie wa
ren an der willkrlichen Verstmmelung gestorben - gestorben
am Schock, an Infektion, an Wundstarrkrampf, oder sie waren
verblutet. Wenn man betrachtet, unter welchen Bedingungen
der Eingriff durchgefhrt wird, wundert dies nicht weiter. Es
wundert vielmehr, da einige von uns ihn berlebt haben.
An meine Schwester Halemo kann ich mich kaum noch er
innern. Erst war sie da, und dann war sie pltzlich verschwun
den, doch ich mit meinen etwa drei Jahren verstand nicht, was
geschehen war. Spter erfuhr ich, da sie von der alten Zi
geunerin beschnitten wurde, als ihre Zeit gekommen war.
Sie ist verblutet.
Mit ungefhr zehn Jahren hrte ich die Geschichte einer
jngeren Cousine. Sie wurde mit sechs Jahren beschnitten.
Spter kam einer ihrer Brder zu uns zu Besuch und berich
tete, was mit ihr geschehen war. Eine Frau war gekommen,
um seine Schwester zu beschneiden. Anschlieend legte man
sie in die Htte, in der sie sich erholen sollte. Aber ihr Ding,
wie er es nannte, schwoll an, und aus ihrer Htte kam ein un
ertrglicher Gestank. Als er das damals erzhlte, glaubten wir
ihm nicht. Warum sollte sie schlecht riechen; Aman und mir
war das nicht passiert. Heute wei ich, da er die Wahrheit
sagte: Da der Eingriff unter unsauberen Bedingungen durch
gefhrt wurde, da man die Mdchen einfach im Busch auf
schlitzte, hatte sich die Wunde entzndet. Der Gestank war ein
Hinweis auf Wundbrand. Eines Morgens kam die Mutter, um

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nach ihrer Tochter zu sehen, die wie blich ber Nacht allein in
der Htte geblieben war. Sie fand ihre kleine Tochter tot, der
Krper kalt und blau. Ehe sich die Aasfresser ber sie herma
chen konnten, begrub die Familie sie in der Wste.

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5. Der Ehevertrag

Als ich eines Morgens aufwachte, hrte ich Stimmen. Ich


stand von meiner Matte auf, konnte aber niemanden sehen.
So beschlo ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Nach
dem ich einen knappen Kilometer den Stimmen nach durch die
frhmorgendliche Stille gelaufen war, sah ich meine Mutter
und meinen Vater, die gerade einer Gruppe von Menschen
nachwinkten. Wer ist das, Mama? fragte ich und deutete auf
den Rcken einer zierlichen Frau, die ein Tuch um den Kopf
geschlungen hatte.
Oh, das ist deine Freundin Shukrin. Zieht ihre Familie
von hier weg?
Nein, sie wird heiraten, war die Antwort meiner Mutter.
Fassungslos starrte ich den Gestalten nach. Ich war etwa
dreizehn und Shukrin so um die vierzehn, also nur wenig lter
als ich, und ich konnte nicht glauben, da sie heiraten wrde.
Wen? Niemand gab mir Antwort, denn so eine Frage ge
hrte sich nicht. Wen? beharrte ich, erntete aber wieder nur
Schweigen. Zieht sie fort von hier mit dem Mann, den sie hei
ratet? Das war so blich, und meine Freundin nun nie mehr
wiederzusehen war meine grte Furcht.
Mein Vater entgegnete schroff: Mach dir keine Sorgen. Du
bist die nchste. Daraufhin drehten sich meine Eltern um und
gingen zurck zu unserer Htte. Ich blieb wie angewurzelt ste
hen und versuchte, die Neuigkeit zu verdauen.

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Shukrin wrde heiraten! Heiraten! Das Wort hatte ich schon


oft gehrt, aber bis zu diesem Morgen hatte ich mir nie ber
legt, was das eigentlich bedeutete.
Wie alle Mdchen in Somalia hatte ich mir noch nie Gedan
ken ber die Ehe oder Sex gemacht. In meiner Familie, in un
serer Kultur wurde ber so etwas nicht gesprochen. Es war
kein Thema, das mich beschftigte. Jungen waren fr mich
stets Konkurrenten gewesen, mit denen ich mich im Tiereh
ten, Rennen und Raufen ma. Das einzige, was ich je in be
zug auf Sex gehrt hatte, war folgender Satz: Mach blo mit
keinem herum. Bei deiner Hochzeit mut du Jungfrau sein.
Ein Mdchen wei, da es als Jungfrau in die Ehe gehen
mu, da es nur ein einziges Mal heiratet, und das war's dann.
Das ist dein Leben.
Mein Vater sagte immer wieder zu meinen Schwestern und
mir: Ihr Mdchen seid meine Prinzessinnen, denn man hielt
ihn fr einen Glckspilz, weil er die hbschesten Tchter in der
ganzen Gegend hatte. Ihr seid meine Prinzessinnen, und
kein Mann wird mit euch herummachen. Wenn es einer ver
sucht, sagt mir blo Bescheid. Ich bin hier, um euch zu be
schtzen, ich wrde fr euch sterben.
Dazu ergab sich mehr als einmal Gelegenheit. Meine lte
ste Schwester Aman htete gerade die Herde, als sich ihr ein
Mann nherte. Hartnckig setzte er ihr zu. La mich zufrie
den. Ich interessiere mich nicht fr dich, sagte sie immer wie
der. Als er mit seinen Betrungsknsten keinen Erfolg hatte,
packte er sie und versuchte, ihr Gewalt anzutun. Aber das er
wies sich als groer Fehler, denn sie war eine Amazone, gut
ber eins achtzig gro und stark wie ein Mann. Sie schlug ihn
zusammen und kam dann nach Hause, um meinem Vater da
von zu erzhlen. Er machte sich auf, den armen Idioten zu
suchen, und dann schlug Papa ihn zusammen. Kein Mann
durfte mit seinen Tchtern herummachen.

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Eines Nachts wachte ich auf, weil eine andere meiner


Schwestern, Fauziya, einen schrillen Schrei ausgestoen
hatte. Wie gewhnlich schliefen wir drauen unter dem Ste r
nenhimmel, aber sie lag ein Stck weit weg von uns. Ich setzte
mich auf und bemerkte einen verschwommenen Schatten, der
von unserem Lager wegrannte. Fauziya schrie noch immer,
als mein Vater aufsprang, um dem Eindringling nachzujagen.
Wir gingen zu meiner Schwester, und sie strich sich ber die
Beine, die von weiem, klebrigem Samen bedeckt waren. Der
Mann konnte meinem Vater entwischen, aber am nchsten
Morgen entdeckten wir die Abdrcke seiner Sandalen neben
der Schlafstelle meiner Schwester. Papa hatte eine Vermu
tung, wer der Schuldige sein mochte, war sich jedoch nicht
sicher. Einige Zeit spter, whrend einer schweren Drre, zog
mein Vater zu einer Wasserstelle in der Gegend, um Wasser
zu holen. Als er tief unten in der feuchten Erde stand, kam ein
Mann dazu. Der Mann konnte es kaum erwarten, bis er an der
Reihe war, und schrie zu Vater hinunter: He, mach schon! Ich
brauche auch Wasser! In Somalia sind die Wasserstellen fr
jedermann zugnglich, sie entstehen dort, wo jemand so lange
grbt, bis er auf Grundwasser stt, manchmal bis zu dreiig
Meter tief. Sobald das Wasser knapper wird, nimmt auch der
Konkurrenzkampf zu; jeder mchte ausreichend Wasser fr
seine Herde bekommen. Mein Vater erklrte dem Kerl, er solle
nur kommen und sich holen, was er brauche.
Ja, das mache ich. Der Mann verschwendete keine Zeit,
er kletterte rasch in das Loch hinab, machte sich an die Arbeit
und fllte seine Beutel mit Wasser. Als er dabei herumlief, fiel
meinem Vater der Abdruck seiner Sandalen im Schlamm auf.
Du bist es gewesen, nicht wahr? fragte Papa. Er packte
den Mann an der Schulter und schttelte ihn. Du verdorbener
Mistkerl, du hast dich an meinem Mdchen vergriffen! Mein
Vater schlug auf ihn ein und verprgelte ihn wie einen Hund.
Er aber zog ein groes afrikanisches Messer, eine Mordwaffe,

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in die wie bei einem rituellen Dolch kunstvolle Muster eingra


viert waren. Den stie er meinem Vater vier- oder fnfmal in
die Rippen, bevor Papa ihm die Waffe entwinden und mit sei
nem eigenen Messer auf ihn einstechen konnte. Nun waren
beide ernstlich verwundet. Meinem Vater gelang es mit letzter
Kraft, aus dem Loch zu klettern und sich nach Hause zu
schleppen. Blutverschmiert und geschwcht, kam er bei uns
an. Nach langem Krankenlager erholte er sich wieder, aber mir
wurde klar, da er die Wahrheit gesagt hatte: Er war bereit
gewesen, fr die Ehre meiner Schwester zu sterben.
Mein Vater scherzte immer mit uns Mdchen: Ihr seid mei
ne Prinzessinnen, meine Schtze, ich schliee euch gut ein.
Und ich habe den Schlssel! Ich fragte ihn: Aber Papa, wo
ist der Schlssel? Da kicherte er albern und erwiderte: Den
habe ich weggeworfen!
Und wie sollen wir dann herauskommen? klagte ich, und
alle lachten.
Du kommst nicht heraus, Liebling. Erst, wenn ich es
sage.
Diese Scherze machte er mit einer nach der anderen, von
Aman, der ltesten, bis zur kleinsten, die noch ein Baby war.
Aber eigentlich waren es keine Scherze. Denn ohne die Er
laubnis meines Vaters hatte niemand Zugang zu seinen
Tchtern. Und dabei ging es nicht nur darum, da Papa uns
vor unerwnschten Annherungen bewahren wollte. Jungfrau
en sind auf dem afrikanischen Heiratsmarkt eine begehrte Wa
re, und das ist einer der Hauptgrnde fr die weibliche Be
schneidung, auch wenn das niemand zugeben wrde. Fr
seine schnen jungfrulichen Tchter konnte mein Vater einen
hohen Preis erzielen, aber eine, die schon einmal Sex mit ei
nem Mann gehabt hatte, wrde er nur schwerlich loswerden.
Allerdings fielen mir diese Zusammenhnge als Kind nicht auf,

69

weil ich noch zu klein war, um mir ber Sex oder die Ehe Ge
danken zu machen.
Zumindest bis ich von der Heirat meiner Freundin Shukrin
erfuhr. Ein paar Tage spter kam mein Vater eines Abends
nach Hause. He, wo ist Waris? hrte ich ihn rufen.
Hier drben, Papa, antwortete ich.
Komm her, forderte er mich mit sanfter Stimme auf. Da er
sonst immer sehr streng und schroff war, wute ich, da etwas
nicht stimmte. Ich nahm an, ich sollte morgen etwas fr ihn
erledigen, vielleicht mit den Tieren Wasser und Nahrung su
chen gehen oder eine hnliche Aufgabe. Also blieb ich, wo ich
war, musterte meinen Vater aus den Augenwinkeln und ver
suchte herauszufinden, was er mit mir vorhatte. Komm,
komm, komm, komm, rief er ungeduldig.
Schlielich ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, sah ihn
mitrauisch an, sagte aber nichts. Papa packte mich und
setzte mich auf sein Knie. Weit du, begann er, du bist
immer ein gutes Kind gewesen. Nun wute ich, da es um
etwas Ernstes ging. Du warst ein gutes Kind, mehr wie ein
Junge, ein Sohn fr mich. Dieser Satz war das hchste Lob,
das er geben konnte.
Hmm, antwortete ich nur und fragte mich, womit ich sol
che Lobeshymnen verdient hatte.
Du warst wie ein Sohn fr mich, du hast so hart gearbeitet
wie ein Mann und gut fr das Vieh gesorgt. Und ich mchte dir
sagen, da ich dich sehr vermissen werde. Bei diesen Wor
ten dachte ich, Papa htte Angst, ich wrde weglaufen wie
meine Schwester Aman. Sie war weggelaufen, als Vater sie
verheiraten wollte. Jetzt befrchtete er wohl, ich wrde auch
davonlaufen und ihn und Mama mit all der harten Arbeit allein
lassen.
Eine Woge der Zuneigung erfate mich, und ich schlang
meine Arme um ihn. Gleichzeitig hatte ich Gewissensbisse

70

wegen meines Mitrauens. O Papa, ich gehe doch nicht


weg!
Da rckte er ein Stck von mir ab und sah mich durchdrin
gend an. Dann sagte er mit sanfter Stimme: Doch, das wirst
du, mein Liebling.
Wohin sollte ich gehen? Ich gehe nirgendwohin, ich werde
dich und Mama nicht verlassen.
Doch, Waris. Ich habe einen Mann fr dich gefunden.
Nein, Papa, nein! Ich sprang auf. Er versuchte, mich festzu
halten, versuchte, meine Arme zu packen und mich an sich zu
ziehen. Ich will nicht weggehen, ich will nicht von zu Hause
fort, ich will bei dir und Mama bleiben!
Pst, ganz ruhig, es wird alles gut. Ich habe einen netten
Mann fr dich gefunden.
Wen? wollte ich, trotz allem neugierig geworden, wissen.
Du wirst ihn kennenlernen.
Mir stiegen Trnen in die Augen, obwohl ich mich bemhte,
Fassung zu bewahren. Ich begann, auf ihn einzuschlagen.
Ich will nicht heiraten! schrie ich.
In Ordnung, Waris, sieh mal ... Papa hob einen Stein vom
Boden auf, versteckte seine Hnde hinter dem Rcken und
lie den Stein von einer Hand in die andere wandern. Beide
Hnde zur Faust geballt, so da ich nicht sehen konnte, in
welcher der Stein versteckt war, streckte er dann die Arme vor
sich aus. Nimm die rechte oder die linke Hand. Such die
Hand, in der der Stein ist. Wenn du richtig rtst, wirst du tun,
was ich dir sage, und fr den Rest deines Lebens glcklich
sein. Wenn du die falsche Hand whlst, werden deine Tage
voller Kummer sein, weil deine Familie dich ausgestoen hat.
Ich starrte ihn an und fragte mich, was passieren wrde,
wenn ich mich falsch entschied. Wrde ich sterben? Ich be
rhrte seine linke Hand. Er ffnete die Faust, und die Handfl
che war leer. Ich glaube, ich werde nicht tun, was du ve r
langst, murmelte ich traurig.

71

Wir knnen es noch einmal versuchen.


Nein. Ich schttelte langsam den Kopf. Nein, Papa, ich
werde nicht heiraten.
Er ist ein guter Mann, schrie mein Vater. Du mut mir
vertrauen. Ich wei, ob ein Mann gut ist. Und du wirst tun, was
ich dir sage!
Ich stand da, mit hngenden Schultern, elend und verng
stigt, und schttelte den Kopf.
Er schleuderte den Stein in seiner rechten Hand in die Dun
kelheit hinaus und schrie: Dann wirst du dein Leben lang un
glcklich sein!
Du mut ja nicht damit leben, oder? Mein Vater gab mir
eine saftige Ohrfeige, weil er keine Widerworte zulie. Im
nachhinein wurde mir klar, da er mich nicht nur wegen der
Tradition, sondern sehr wohl auch wegen meines strrischen
Benehmens rasch verheiraten wollte. Ich hatte mich zu einer
Rebellin entwickelt, einem rotzfrechen Ding, das keine Angst
kannte, und dieser Ruf von mir verbreitete sich allmhlich. Pa
pa mute einen Mann fr mich finden, solange ich noch von
Wert fr ihn war, denn ein afrikanischer Mann duldet es nicht,
da seine Ehefrau ihm widerspricht.
Am nchsten Morgen fhrte ich wie immer meine Tiere auf
die Weide. Whrend ich ihnen beim Grasen zusah, dachte ich
ber die Ehe nach, da sie sich nun so pltzlich in mein Leben
drngte. Und ich versuchte, mir etwas einfallen zu lassen, da
mit ich zu Hause bleiben durfte. Aber tief im Innern wute ich,
da es nicht so kommen wrde. Ich fragte mich, was fr ein
Mensch mein zuknftiger Ehemann wohl war. Bis dahin hatte
ich lediglich auf kindliche Weise fr Jamah geschwrmt, den
Sohn eines Freundes meines Vaters. Ich war ihm schon hufig
begegnet, weil unsere Familien oft gemeinsam umhergezogen
waren. Jamah war viel lter als ich, und ich fand ihn uerst
gutaussehend. Papa liebte ihn wie sein eigenes Kind und fand,

72

da er seinem Vater ein guter Sohn war. Aber am meisten


reizte mich wohl an Jamah, da er sich einmal sehr fr meine
Schwester Aman interessiert hatte und von mir keinerlei Notiz
nahm. Fr ihn war ich nur ein kleines Mdchen, Aman dage
gen eine begehrenswerte Frau. Als ich ihr zuflsterte, da Ja
mah sie mochte, winkte sie nur ab und sagte: Pah. Sie wr
digte ihn keines Blickes, weil sie das Nomadenleben zur
Genge kannte und kein Verlangen hatte, einen Mann wie un
seren Vater zu heiraten. Statt dessen plante sie, in die Stadt
zu gehen und sich einen reichen Mann zu suchen. Als Papa
sie dann an einen befreundeten Nomaden verheiraten wollte,
lief sie weg, um ihre Trume von der groen Stadt zu verwirk
lichen. Wir haben nie wieder von ihr gehrt.
An diesem Tag versuchte ich, mir beim Tierehten einzure
den, da eine Ehe vielleicht doch nicht so schlecht war, und
stellte mir vor, wie ich mit Jamah zusammenleben wrde, so
wie meine Mutter und mein Vater zusammenleben wrde. Bei
Sonnenuntergang kehrte ich mit der Herde zu unserem Lager
zurck. Meine kleine Schwester lief mir entgegen und verkn
dete: Papa hat jemanden bei sich, und ich glaube, sie warten
auf dich. Sie war mitrauisch, weil man sich pltzlich so fr
mich interessierte, und argwhnte, man wolle sie vielleicht bei
einem lohnenden Geschft bergehen. Doch ich schauderte,
denn ich wute, da mein Vater seinen Plan weiterverfolgte,
als htte es meine Weigerung nicht gegeben.
Wo sind sie? Meine Schwester zeigte in die eine Rich
tung, und ich drehte mich um und lief in die entgegengesetzte.
Waris, sie warten auf dich, rief sie.
Ach, halt die Klappe! La mich in Ruhe! Ich fhrte meine
Ziegen in den Pferch und begann, sie zu melken. Als ich zur
Hlfte fertig war, hrte ich, wie mein Vater meinen Namen rief.
Ja, Papa, ich komme. Voller Furcht stand ich auf, aber ich
wute, da ich das Unvermeidliche nicht aufschieben konnte.
Ein kleines Fnkchen Hoffnung besa ich noch, nmlich, da

73

Papa vielleicht mit Jamah auf mich wartete, und ich stellte mir
sein glattes, schnes Gesicht vor. Mit geschlossenen Augen
ging ich auf sie zu. Bitte, la es Jamah sein ..., murmelte ich
vor mich hin, whrend ich mich zgernd nherte. Jamah war
zu meinem Rettungsanker geworden, jemand, der mich davor
bewahren konnte, meine Familie zu verlassen und mit einem
fremden Mann zu leben.
Schlielich ffnete ich die Augen und starrte in den blutro
ten Himmel. Die Sonne versank am Horizont, und ich konnte
nur die Umrisse zweier Mnner vor mir sehen. Mein Vater
sagte: Oh, da bist du ja. Komm her, mein Liebling. Das ist
Herr ... Mehr hrte ich nicht. Mein Blick fiel auf einen Mann,
der auf einen Stock gesttzt dasa. Er war mindestens sech
zig Jahre alt und hatte einen langen weien Bart.
Waris! Irgendwann bemerkte ich, da mein Vater zu mir
sprach. Sag guten Tag zu Herrn Galool.
Guten Tag, sagte ich so eisig, wie ich konnte. Man er
wartete Respekt von mir, aber nicht, da ich mich freute. Der
alte Narr sa da und grinste mich an, er sttzte sich fest auf
seinen Stock, erwiderte aber nichts. Wahrscheinlich wute er
nicht, was er zu diesem Mdchen, seiner zuknftigen Frau,
sagen sollte, die erschrocken den Blick auf ihn heftete. Um
den Ausdruck meiner Augen zu verbergen, senkte ich den
Kopf und starrte zu Boden.
Komm, Waris, sei nicht so schchtern, ermunterte mich
Papa. Ich blickte ihn an. Als er meinen Gesichtsausdruck sah,
entschied er, da es am klgsten war, mich wieder wegzu
schicken, damit ich meinen zuknftigen Ehemann nicht in die
Flucht jagte. Na, ist schon gut. Du gehst wohl besser zurck
an deine Arbeit und machst sie fertig. Dann erklrte er, an
Herrn Galool gewandt: Sie ist ein schchternes, ruhiges
Mdchen. Ich wartete keine Sekunde lnger, sondern lief ha
stig wieder zurck zu meinen Ziegen.

74

Den ganzen Abend ber malte ich mir mein Leben an der
Seite von Herrn Galool aus. Da ich noch nie von meinen Eltern
getrennt gewesen war, stellte ich mir vor, wie es wohl sein
wrde, mit einem vllig Fremden zusammenzuleben. Glckli
cherweise beschftigte ich mich nicht mit der Vorstellung, mit
einem widerlichen alten Mann Sex zu haben, was mein Elend
sicherlich noch vergrert htte. Denn im zarten Alter von
dreizehn Jahren war mir dieser Teil der Abmachung unbe
kannt. Um mich von meinem Kummer ber die bevorstehende
Eheschlieung abzulenken, schlug ich meinen kleinen Bruder.
Am nchsten Morgen in aller Frhe rief mich mein Vater zu
sich. Du weit, wer das gestern abend war?
Ich kann es mir vorstellen.
Das ist dein zuknftiger Ehemann.
Aber Papa, er ist so alt! Ich konnte es nicht fassen, da
ich meinem Vater nicht mehr wert war. Wie konnte er mich nur
diesem alten Mann geben.
Das sind die Besten, mein Liebling! Er ist zu alt, um her
umzustreunen und anderen Frauen nachzulaufen oder sie gar
noch zu heiraten. Er wird dich nicht verlassen, wird fr dich
sorgen. Und auerdem, verkndete Papa mit stolzem Gri n
sen, weit du, wieviel er fr dich bezahlt?
Wieviel?
FNF Kamele! Er gibt mir FNF Kamele. Papa ttschelte
meinen Arm. Ich bin so stolz auf dich.
Ich wandte den Blick von meinem Vater ab und sah zu, wie
die goldene Morgensonne die Wstenlandschaft zum Leben
erweckte. Ich schlo die Augen und sprte die wrmenden
Strahlen auf meinem Gesicht. Meine Gedanken wanderten
zurck zur letzten Nacht, als ich nicht schlafen konnte. Gebor
gen im Kreis meiner Angehrigen hatte ich wach gelegen, den
Lauf der Sterne verfolgt und meine Entscheidung getroffen.
Wenn ich mich weigerte, den alten Mann zu heiraten, wre
damit nichts gewonnen, das war mir klar. Denn mein Vater

75

wrde einen anderen Mann fr mich finden, dann noch einen


und noch einen,. . . weil er mich loswerden und seine Kamele
bekommen wollte. Also nickte ich. Nun, Vater, ich mu jetzt
meine Tiere auf die Weide fhren. Papa sah mich zufrieden
an, und ich konnte seine Gedanken lesen: He, das war viel
leichter, als ich mir vorgestellt hatte.
Als ich an jenem Tag den Ziegen beim Spielen zusah,
wute ich, da ich die Herde meines Vaters zum letzten Mal
htete. Ich malte mir mein Leben an der Seite des alten Man
nes aus - er und ich an einem einsamen Ort in der Wste. Ich
wrde die ganze Arbeit erledigen, whrend er auf seinen Stock
gesttzt umherhumpelte. Ich wrde nach seinem Herzinfarkt
allein zurckbleiben oder, noch schlimmer, nach seinem Tod
fnf kleine Kinder alleine groziehen, denn in Somalia heiraten
Witwen nicht noch einmal. Mein Entschlu stand fest: Das war
kein Leben fr mich. Als ich am Abend nach Hause kam,
fragte mich meine Mutter, was mit mir los sei. Hast du den
Mann gesehen? schnaubte ich.
Sie brauchte mich nicht zu fragen, welchen Mann. Ja, ich
habe ihn gestern gesehen.
Da flsterte ich ihr verzweifelt zu, damit mein Vater nichts
hrte: Mama, ich will diesen Mann nicht heiraten! Sie zuckte
die Schultern. Nun, mein Liebling, das liegt nicht in meiner
Macht. Was kann ich schon tun? Dein Vater entscheidet dar
ber. Ich wute, da mein zuknftiger Ehemann morgen oder
bermorgen, seine fnf Kamele im Schlepptau, kommen wr
de, um mich zu holen. Deshalb mute ich weglaufen, bevor es
zu spt war.
In dieser Nacht lauschte ich, nachdem wir uns zum Schla
fen hingelegt hatten, auf Papas vertrautes Schnarchen. Dann
stand ich auf und ging zu meiner Mutter, die noch immer am
Feuer sa. Mama, flsterte ich, ich kann diesen Mann
nicht heiraten. Ich werde weglaufen.
Pscht, ruhig! Wohin, mein Kind? Wohin willst du gehen?

76

Ich gehe zu meiner Tante nach Mogadischu. Weit du


denn, wo sie wohnt? Ich nicht! Mach dir keine Sorgen, ich
finde sie schon.
Aber jetzt ist es schon dunkel, wandte sie ein, als knne
sie den Lauf des Schicksals aufhalten.
Nicht jetzt, am Morgen, flsterte ich. Weck mich vor
Sonnenaufgang. Ich wute, da ich ihre Hilfe brauchte, denn
ich konnte mir nicht einfach den Wecker stellen. Und ich
brauchte ein wenig Ruhe vor meiner langen Reise. Allerdings
brauchte ich auch einen Vorsprung, bevor mein Vater auf
wachte.
Nein. Sie schttelte den Kopf. Das ist zu gefhrlich.
Bitte, Mama! Ich kann diesen Mann nicht heiraten, ich kann
nicht seine Ehefrau werden! Bitte, bitte. Ich werde zurck
kommen und dich holen. Ganz bestimmt.
Geh zu Bett. Sie hatte jenen strengen Gesichtsausdruck,
der bedeutete, da das Thema damit erledigt war. Ich lie
meine mde Mutter am Feuer sitzen und kuschelte mich zwi
schen meine Geschwister, in dieses Knuel aus Armen und
Beinen, um mich aufzuwrmen.
Ich erwachte davon, da meine Mutter mich leicht am Arm
zupfte. Sie kniete neben mir am Boden. Geh jetzt. Sofort
war ich hellwach, und als mir bewut wurde, was ich vorhatte,
wurde mir flau im Magen. Ich wand mich vorsichtig aus den
ineinander verschlungenen Krpern und vergewisserte mich,
da mein Vater noch immer an seinem blichen Platz als
Wchter der Familie schlief. Er lag da und schnarchte.
Frstelnd ging ich mit meiner Mutter ein Stck von der Htte
weg. Danke, Mama, da du mich aufgeweckt hast. Im
schwachen Lichtschein bemhte ich mich, ihr Gesicht zu se
hen, versuchte, mir jede Einzelheit davon einzuprgen, weil
ich dieses Gesicht lange Zeit nicht mehr sehen wrde. Ich

77

hatte mir vorgenommen, stark zu sein, aber nun erstickte ich


fast an meinen Trnen. Fest drckte ich sie an mich.
Geh, bevor er aufwacht, flsterte sie mir zrtlich ins Ohr.
Ich sprte, wie sich ihre Arme um mich schlossen. Es wird dir
nichts passieren, mach dir keine Sorgen. Du mut nur sehr
vorsichtig sein. Vorsichtig! Sie lie mich los. Und Waris ...
eines noch. Bitte vergi mich nicht.
Das werde ich nicht, Mama ... Ich drehte mich weg von
ihr und rannte in die Dunkelheit hinaus.

78

6. Unterwegs

Wir hatten erst ein paar Kilometer zurckgelegt, da fuhr der


elegant gekleidete Mann mit seinem Mercedes an die Seite.
Hier ist leider Endstation. Ich lasse dich heraus, dann kannst
du mit jemand anderem mitfahren.
Oh ... Das war wirklich eine enttuschende Nachricht,
denn dieser Mann im Mercedes war die erste angenehme Er
fahrung, seit ich von zu Hause weggelaufen war. Ich hatte die
Wste durchquert, tagelang gehungert, war von einem Lwen
verfolgt, von einem Hirten ausgepeitscht und von einen Last
wagenfahrer angegriffen worden.
Viel Glck auf deiner Reise, rief er mir durch das offene
Fenster nach und zeigte wieder seine weien Zhne. Ich blieb
am Rande der staubigen Strae in der Sonne stehen und
winkte ihm matt nach. Als das Auto am flirrenden Horizont ve r
schwunden war, machte ich mich wieder auf den Weg. Mitt
lerweile fragte ich mich, ob ich es je bis nach Mogadischu
schaffen wrde.
An diesem Tag wurde ich noch ein paarmal mitgenommen,
aber immer nur kurze Strecken; zwischendurch ging ich zu
Fu weiter. Als der Abend kam, hielt wieder ein Lastwagen am
Straenrand.
Reglos vor Angst starrte ich auf seine Bremslichter, denn
meine letzte Erfahrung mit einem Lastwagenfahrer hatte ich
noch gut im Gedchtnis. Whrend ich dastand und berlegte,

79

drehte sich der Fahrer im Fhrerhaus um und sah mich an.


Wenn ich mich nicht rasch entschied, wrde er ohne mich
weiterfahren, daher lief ich schnell vor zum Fhrerhaus. Es
handelte sich um einen groen Sattelschlepper, und es ko
stete mich Mhe, hinaufzuklettern, als der Fahrer die Tre ff
nete. Wohin willst du? fragte er. Ich fahre nur bis Galcaio.
Als der Fahrer Galcaio sagte, kam mir eine groartige Idee.
Ich hatte nicht gewut, da ich mich in der Nhe der Stadt
befand, wo mein reicher Onkel Ahmed wohnte. Anstatt ganz
Somalia zu durchqueren, um nach Mogadischu zu gelangen,
konnte ich bei Onkel Ahmed bleiben. In meinen Augen hatten
wir ohnehin noch eine Rechnung offen, weil er mir nie das ver
sprochene Paar Schuhe gebracht hatte, obwohl ich sein Vieh
gehtet hatte. Ich malte mir aus, wie ich am Abend in seinem
schnen Haus ein ppiges Mahl essen und anschlieend dort
schlafen wrde, anstatt unter einem Baum zu kampieren. Ja,
da mu ich hin. Ich lchelte, die Idee gefiel mir. Ich mu
auch nach Galcaio. Der Lastwagen hatte Lebensmittel gela
den, Berge von gelbem Getreide, Scke voller Reis und Zuk
ker. Ihr Anblick erinnerte mich daran, wie hungrig ich war.
Der Lastwagenfahrer war um die Vierzig und ein groer
Charmeur. Die ganze Zeit versuchte er, ein Gesprch in Gang
zu bringen. Ich wollte nicht unfreundlich sein, aber ich hatte
schreckliche Angst. Er sollte nur nicht den Eindruck bekom
men, da ich auf einen Flirt aus war. Whrend ich aus dem
Fenster sah, berlegte ich, wie ich das Haus meines Onkels
finden konnte, denn ich hatte keine Ahnung, wo er wohnte.
Aber dann ri mich eine Bemerkung des Fahrers aus meinen
Gedanken: Du bist von zu Hause ausgerissen, stimmt's?
Warum sagen Sie das? fragte ich berrascht. Ich wei
es eben. Ich werde dich melden.
Was? NEIN! Bitte, bitte ... ich bin unterwegs. Ich habe et
was zu erledigen. Ich mchte nur, da Sie mich nach ... nach
Galcaio bringen. Mein Onkel erwartet mich, ich soll ihn dort

80

besuchen. Der Blick des Mannes sagte mir, da er mir nicht


glaubte, aber er fuhr trotzdem weiter. Meine Gedanken eilten
voraus. Wo sollte er mich herauslassen, was sollte ich ihm
sagen? Nachdem ich ihm diese Geschichte von meinem On
kel, der mich angeblich erwartete, aufgetischt hatte, konnte ich
kaum zugeben, da ich nicht wute, wo er wohnte. Als wir die
Stadt erreichten, versuchte ich, mich in dem Gedrnge von
Straen, Gebuden, Autos und Menschen zu orientieren. Die
Ansiedlung war viel grer als das Dorf, in dem ich zuvor ge
wesen war, und zum ersten Mal wurde mir klar, welche Aufga
be ich vor mir hatte, wenn ich meinen Onkel finden wollte.
Von meinem Sitz oben im Fhrerhaus des Sattelschleppers
blickte ich nervs auf dieses Gewirr, das Galcaio hie. Fr
mich war diese Stadt ein einziges Durcheinander, und ich war
hin- und hergerissen, weil ich am liebsten in dem Lastwagen
geblieben wre, meinem Gefhl nach aber so schnell wie
mglich von dort verschwinden mute, bevor mich dieser Kerl
als Ausreierin melden konnte. Als er an einem Marktplatz
anhielt und ich die Stnde voller Lebensmittel sah, beschlo
ich zu gehen. He, hm, mein Freund, hier steige ich aus.
Mein Onkel wohnt dort drben, sagte ich und deutete auf ei
ne Nebenstrae. Bevor er mich abhalten konnte, sprang ich
aus dem Wagen. Danke, da Sie mich mitgenommen ha
ben, rief ich ihm noch zu und schlo knallend die Tr.
Erstaunt schlenderte ich ber den Markt. Noch nie in mei
nem Leben hatte ich so viele Lebensmittel gesehen. Ich wei
noch, wie beeindruckt ich war! Stapel von Kartoffeln, Berge
von Getreide, Stnder voller getrockneter Nudeln. Und mein
Gott, all diese Farben! Tonnen, in denen leuchtend gelbe Ba
nanen aufgestapelt waren, grne und goldene Melonen und
Tausende, Abertausende roter Tomaten. Weil ich all diese
Frchte noch nie gesehen hatte, blieb ich vor einem Stand mit
Tomaten stehen. Das war der Augenblick, in dem meine Liebe
zu saftigen, reifen Tomaten erwachte, und bis heute kann ich

81

nicht genug davon bekommen. Ich starrte die Lebensmittel an,


und die Leute auf dem Markt starrten mich an. Die Frau, der
der Tomatenstand gehrte, kam stirnrunzelnd auf mich zu. Sie
war eine richtige Mama. In Afrika ist der Ausdruck Mama
eine respektvolle Bezeichnung fr eine Frau. Er bedeutet, da
man reif ist, erwachsen, und um diesen Titel zu verdienen,
mu man wirklich Kinder zur Welt gebracht haben. Ihre bunten
Tcher leuchteten hell. Was willst du? fragte diese Mama.
Bitte, kann ich davon etwas haben? erwiderte ich und
deutete auf die Tomaten.
Hast du Geld?
Nein, aber ich habe solchen Hunger.
Verschwinde von hier, GEH WEG! Mit einer Handbewe
gung verscheuchte sie mich von ihrem Stand.
Bei einem anderen Stand versuchte ich es noch einmal.
Diese Frau sagte: Ich kann keine Bettler gebrauchen, die vor
meinem Stand herumlungern. Ich will hier Geschfte machen.
Sieh zu, da du wegkommst.
Ich erzhlte ihr meine Geschichte, da ich meinen Onkel
Ahmed finden mute, und fragte sie, ob sie wisse, wo er
wohnte. Da mein Onkel ein wohlhabender Geschftsmann
war, nahm ich an, da er in Galcaio bekannt war. Sei still
jetzt. Du kannst nicht aus dem Busch hierherkommen und an
fangen, dermaen herumzuschreien. Pst. Du mut ein wenig
Respekt haben, Mdchen. Du mut ruhig sein. Ruhig. Und
verknde deinen Familiennamen nicht stndig in aller ffent
lichkeit. Ich starrte sie an und dachte, o Gott, wovon spricht
diese Frau eigentlich, und werde ich mich mit diesen Leuten
irgendwann einmal richtig verstndigen knnen?
An der Seite lehnte ein Mann an einer Mauer. Er rief mir zu:
Mdchen, komm her. Aufgeregt ging ich zu ihm hin und er
klrte ihm meine Notlage. Der Mann war etwa dreiig; er sah
aus wie ein ganz gewhnlicher Afrikaner, war nichts Besonde
res, hatte jedoch ein freundliches Gesicht.

82

Sei ruhig. Ich kann dir helfen, aber du mut vorsichtig


sein, sagte er geduldig. Du kannst nicht herumlaufen und
den Namen deines Stammes rufen. Zu welchem Stamm ge
hrst du? Ich erzhlte ihm alles, was ich ber meine Familie
und Onkel Ahmed wute. In Ordnung, ich glaube ich wei,
wo er wohnt. Gehen wir, ich helfe dir.
O bitte, bitte. Kannst du mich zu ihm bringen?
Ja, komm mit. Mach dir keine Sorgen, wir finden ihn
schon. Wir gingen von dem geschftigen Marktplatz weg und
bogen in eine dstere Seitenstrae ein. Vor einem Haus blieb
der Mann stehen. Hast du Hunger? Das war allerdings nur
allzu offensichtlich, wenn man Augen im Kopf hatte.
Ja.
Das ist mein Haus. Warum kommst du nicht herein, ich
gebe dir etwas zu essen, und danach suchen wir deinen On
kel? Ich nahm sein Angebot dankbar an.
Als wir das Haus betraten, schlug mir ein merkwrdiger Duft
entgegen, den ich noch nie zuvor gerochen hatte. Der Mann
forderte mich auf, mich zu setzen, und brachte mir etwas zu
essen. Sobald ich den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte,
schlug er vor: Komm, leg dich ein wenig mit mir hin und mach
ein Nickerchen.
Ein Nickerchen?
Ja, ruh dich ein bichen aus.
Nein, bitte, ich mchte meinen Onkel finden.
Ich wei, ich wei. Aber erst legen wir uns ein bichen hin.
Es ist Zeit fr die Siesta. Dann suchen wir ihn, keine Sorge.
Nein, bitte. Schlaf nur, ich warte hier auf dich.
Zwar war es Zeit fr die Siesta, doch ich hatte nicht die Ab
sicht, mich mit diesem Mann hinzulegen. Ich ahnte bereits,
da etwas nicht stimmte. Aber ich war noch ein dummes klei
nes Mdchen und wute nicht, was ich unternehmen konnte.
Hr zu, kleines Mdchen, sagte er rgerlich. Wenn ich
dich zu deinem Onkel bringen soll, legst du dich besser hin

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und machst mit mir ein Nickerchen. Ich wute, da ich seine
Hilfe brauchte, um Onkel Ahmed zu finden. Und als er immer
aggressiver und aufdringlicher wurde, bekam ich Angst und tat
schlielich das Schlimmste, was ich tun konnte: Ich ging auf
seinen Vorschlag ein. Natrlich war von einem Nickerchen
nicht mehr die Rede, kaum da wir im Bett lagen. In Sekun
denschnelle strzte sich dieser Kerl auf mich. Als ich mich
wehrte und von ihm wegdrehte, schlug er mir auf den Hinter
kopf. Sag kein Wort, dachte ich mir; aber bei der ersten Gele
genheit wand ich mich aus seinen Armen und strzte aus dem
Zimmer. Whrend ich davonrannte, hrte ich ihn vom Bett aus
rufen: He, kleines Mdchen, komm zurck ... Dann hrte ich
ein leises Lachen.
Geschttelt von Weinkrmpfen, strzte ich auf die dunkle
Strae und floh zum Marktplatz, um bei anderen Menschen
Schutz zu suchen. Eine alte, etwa sechzigjhrige Mama kam
auf mich zu. Kind, was ist mit dir? Sie packte mich fest am
Arm und hie mich hinsetzen. Komm, komm. Sprich mit mir
sag mir, was dir fehlt. Ich brachte es nicht fertig, ihr zu er
zhlen, was mir gerade zugestoen war. Es war mir peinlich,
und ich schmte mich zu sehr. Denn ich war eine dumme
Gans, eine kleine dumme Gans gewesen, weil ich in das Haus
des Mannes gegangen war und diese Geschichte dadurch erst
mglich gemacht hatte. Unterbrochen von Schluchzern er
klrte ich ihr, da ich auf der Suche nach meinem Onkel war
und ihn nicht finden konnte.
Wer ist dein Onkel? Wie heit er?
Ahmed Dirie.
Die alte Mama hob ihre knochigen Finger und zeigte auf ein
leuchtend blaues Haus schrg gegenber. Er wohnt da dr
ben, sagte sie. Siehst du es? Da ist das Haus. Es war dort
drben. Die ganze Zeit war es dort drben gewesen, auf der
anderen Straenseite, als ich diesen Mistkerl gebeten hatte,
mir bei der Suche nach meinem Onkel zu helfen. Spter wurde

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mir klar, da er die ganze Zeit gewut hatte, wer ich war und
wen ich suchte. Die alte Frau fragte mich, ob sie mich beglei
ten sollte. Ich sah sie scharf an, weil ich niemandem mehr
vertraute. Aber in ihrem Gesicht las ich, da sie eine richtige
Mama war.
Ja, bitte entgegnete ich matt.
Wir gingen zu dem blauen Haus hinber, und sie klopfte an
die Tr. Meine Tante ffnete und starrte mich erschrokken an.
Was machst du denn hier? Die alte Frau drehte sich um und
ging fort.
Tante, ich bin hier! erwiderte ich einfltig. Was in Allahs
Namen machst du hier? Du bist weggelaufen, nicht wahr!?
Nun...
Ich werde dich zurckbringen, sagte sie entschlossen.
Onkel Ahmed, der Bruder meines Vaters, war gleichfalls er
staunt, mich zu sehen, aber am meisten wunderte es ihn, da
ich sein Haus gefunden hatte. Als ich ihm meine Geschichte
erzhlte, verschwieg ich, da ich einen Lastwagenfahrer mit
einem Stein niedergeschlagen hatte und von seinem Nach
barn beinahe vergewaltigt worden war. Zwar gab er sich be
eindruckt, da ich es geschafft hatte, die Wste zu durchque
ren und ihn aufzuspren, er hatte jedoch nicht die Absicht,
mich aufzunehmen. Er machte sich Sorgen, wer jetzt auf seine
Tiere aufpate, eine Aufgabe, die ich jahrelang erledigt hatte.
(Als Dank fr meine Mhe hatte er mir damals das Paar
Gummischlappen gekauft.) Die lteren Kinder meines Vaters
waren jetzt alle aus dem Haus. Ich war als einzige von den
lteren noch brig, ich war ausdauernd und zuverlssiger als
die Kleinen. Nein, du mut wieder nach Hause. Wer soll dei
ner Mutter und deinem Vater bei all der Arbeit helfen? Und
was willst du hier anfangen? Dumchen drehen? Leider hatte
ich auf diese Fragen keine guten Antworten parat. Ich konnte
ihm nicht erzhlen, da ich weggelaufen war, weil Papa mich
mit einem alten, weibrtigen Mann verheiraten wollte. Mein

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Onkel htte mich angesehen, als ob ich verrckt geworden


wre, und gesagt: Ach ja? Waris, du mut heiraten. Dein
Vater braucht die Kamele ... Er htte nicht verstanden, da
ich anders war als der Rest meiner Familie. Ich liebte meine
Eltern, aber was sie fr mich im Sinn hatten, gengte mir nicht.
Ich wute, da es im Leben mehr geben mute, obwohl ich
keine genaue Vorstellung davon hatte, was. Nach ein paar
Tagen fand ich heraus, da Onkel Ahmed meinem Vater eine
Nachricht geschickt hatte und da Papa auf dem Weg hierher
war.
Onkel Ahmeds zwei Shne kannte ich gut, weil sie in den
Schulferien bei uns gelebt hatten. Sie halfen uns, ihre Tiere zu
versorgen, und lehrten uns einige Worte Somali. Damals war
das Tradition: Die Kinder, die in der Stadt zur Schule gingen,
kamen in den Ferien in die Wste, um die Nomadenkinder zu
unterrichten. Whrend ich bei ihnen in Galcaio wohnte, er
zhlten meine Cousins, da sie wten, wo meine lteste
Schwester Aman wohnte: Als sie von zu Hause weggelaufen
war, ging sie nach Mogadischu und heiratete. Diese Neuigkeit
machte mich berglcklich. Weil ich nie wieder etwas von ihr
gehrt hatte, htte sie ebensogut tot sein knnen. In diesem
Gesprch erfuhr ich auch, da meine Eltern die ganze Zeit
gewut hatten, wo Aman war, doch weil sie sie verstoen
hatten, wurde von ihr nicht mehr gesprochen. Als ich hrte,
da mein Vater kam, um_ mich zu holen, heckten wir einen
Plan aus. Die jungen erklrten mir, wie ich meine Schwester in
der Hauptstadt finden konnte. Eines Morgens fhrten sie mich
zur Fernverkehrsstrae und gaben mir das wenige Geld, das
sie besaen. Du mut hier entlang, Waris, sagten sie und
zeigten mit dem Finger in die Richtung. Hier geht es nach
Mogadischu.
Versprecht mir, da ihr niemandem erzhlt, wohin ich ge
gangen bin. Denkt daran, wenn mein Vater herkommt, wit ihr
nicht, was mit mir passiert ist. Heute morgen im Haus habt ihr

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mich das letzte Mal gesehen, klar? Sie nickten und winkten
mir zum Abschied. Ich machte mich auf den Weg.
Die Reise nach Mogadischu dauerte schrecklich lange. Ich
brauchte Tage, aber wenigstens konnte ich mir jetzt, da ich ein
wenig Geld besa, unterwegs etwas zu essen kaufen. Nur
gelegentlich wurde ich mitgenommen, zwischendurch ging ich
weite Strecken zu Fu. Enttuscht, da ich so langsam voran
kam, leistete ich mir schlielich eine Fahrt in einem afrikani
schen Buschtaxi, einem groen Lastwagen mit etwa vierzig
Personen an Bord. Diese Buschtaxis findet man in Afrika
berall. Nachdem sie ihre Ladung Getreide oder Zuckerrohr
abgeliefert haben, nehmen sie auf dem leeren Anhnger Rei
sende mit. Die Ladeflche ist mit einem zaunartigen Holzgitter
eingefat, und die Menschen, die darauf sitzen oder stehen,
sehen aus wie Kinder in einem riesigen Laufstall. Das Bu
schtaxi transportiert Babys, Gepck, Haushaltsgegenstnde,
Mbel, lebende Ziegen und Hhnerkfige, und der Fahrer
nimmt so viele zahlende Passagiere wie mglich mit. Aber
nach meinen Erfahrungen in der letzten Zeit wollte ich lieber
eingezwngt in einer groen Gruppe reisen als allein mit frem
den Mnnern. Als wir in den Randbezirken Mogadischus an
kamen, bremste der Lastwagen und lie uns an einem Brun
nen heraus, an dem Menschen ihre Tiere trnkten. Ich
schpfte mit meinen hohlen Hnden Wasser und trank davon,
dann bespritzte ich mir damit das Gesicht. Mittlerweile war mir
aufgefallen, da es hier ziemlich viele Straen gab, immerhin
ist Mogadischu mit 700 000 Einwohnern die grte Stadt So
malias. Deshalb fragte ich zwei Nomaden, die bei ihren Ka
melen standen: Wit ihr, welche dieser Straen in die Haupt
stadt fhrt?
Ja, die da sagte einer der Mnner. Ich schlug die ange
gebene Richtung ein und machte mich auf den Weg zur
Stadtmitte. Mogadischu ist eine Hafenstadt am Indischen

87

Ozean, und damals war es wunderschn. Auf meinem Weg


verrenkte ich mir fast den Hals, um die prchtigen weien
Huser inmitten von Palmen und leuchtend bunten Blumen zu
betrachten. Ein Groteil der Gebude ist von den Italienern
errichtet worden, als Somalia italienische Kolonie war, was der
Stadt ihr mediterranes Flair gab. Die Frauen, die an mir vor
beigingen, trugen bunte Tcher mit gelben, roten und blauen
Mustern. Die langen Schals umrahmten ihre Gesichter, und
wenn die Meeresbrise sie an den Enden aufwirbelte, hielten
die Frauen sie unter dem Kinn zusammen. Das zarte Gewebe
wehte anmutig hinter ihnen her, whrend sie durch die Stra
en schritten. Es waren auch viele moslemische Frauen zu
sehen. Sie hatten sich den Kopf verhllt, trugen schwarze
Schleier, die ihr Gesicht vollstndig bedeckten. Ich fragte mich,
wie sie es schafften, den Weg zu finden. Die Stadt funkelte in
der hellen Sonne, und die Farben schienen aus eigener Kraft
zu leuc hten.
Auf meinem Weg hielt ich Leute an und fragte sie nach der
Gegend, in der meine Schwester lebte. Ich hatte zwar keine
genaue Adresse, wollte aber hnlich vorgehen wie in Galcaio
auf der Suche nach Onkel Ahmed; sobald ich das richtige
Viertel gefunden hatte, wollte ich auf dem Marktplatz nach
Aman fragen. Dieses Mal wrde ich allerdings nicht so leicht
glubig sein und auf die Hilfe fremder Mnner verzichten.
Als ich in dem gesuchten Viertel ankam, fand ich ohne M
he den Marktplatz. Ich schlenderte dort herum und berlegte
mir, was ich mir von den letzten wertvollen somalischen Schil
lingen leisten wollte. Schlielich kaufte ich mir an einem Stand,
der von zwei Frauen betrieben wurde, Milch. Ich hatte diesen
Stand ausgewhlt, weil die Milch dort am billigsten war, aber
als ich den ersten Schluck davon nahm, kam mir etwas ver
dchtig vor. Die Milch schmeckte irgendwie anders. Was ist
mit der Milch los? fragte ich.
Nichts! Mit unserer Milch ist gar nichts los!

88

Ach, hrt auf. Mit Milch kenne ich mich aus. Diese hier
schmeckt nicht richtig. Habt ihr sie mit Wasser oder etwas an
derem vermischt? Schlielich gestanden sie, da sie die
Milch mit Wasser verdnnt hatten, damit sie sie billiger ver
kaufen konnten. Ihren Kunden machte es nichts aus. Wir ka
men ins Gesprch, und ich erzhlte ihnen, da ich in die
Hauptstadt gekommen war, um meine Schwester zu suchen.
Dann fragte ich sie, ob sie Aman vielleicht kannten.
Ja, du kamst mir schon gleich bekannt vor! rief eine der
Frauen. Ich lachte, weil wir Schwestern uns als Kinder zum
Verwechseln hnlich gesehen hatten. Sie kannten Aman, weil
sie jeden Tag auf diesen Markt ging. Die Milchfrau rief ihren
kleinen Sohn und trug ihm auf, mir den Weg zu meiner
Schwester zu zeigen. Bring sie zu Amans Haus, und dann
kommst du gleich wieder zurck, befahl sie dem Jungen.
Die Straen, durch die wir gingen, waren still geworden; in
zwischen war es Mittag, und die Menschen hielten Siesta. Der
Junge zeigte auf eine winzige Htte. Als ich hineinging, fand
ich meine Schwester schlafend vor. Ich schttelte sie am Arm,
um sie aufzuwecken. Was machst du denn hier ...; sagte sie
schlfrig und sah mich an, als wre ich ein Traumbild. Da
setzte ich mich zur ihr aufs Bett und erzhlte ihr, da ich von
zu Hause weggelaufen war wie sie vor vielen Jahren. Wenig
stens hatte ich jetzt jemanden zum Reden, der mich verstand.
Sie wrde verstehen, da ich es mit meinen dreizehn Jahren
nicht fertigbrachte, nur Papa zuliebe diesen dummen alten
Mann zu heiraten.
Aman berichtete, wie sie nach Mogadischu gekommen war
und ihren Mann gefunden hatte. Er war ein guter, ruhiger
Mann, der hart arbeitete. Sie erwartete ihr erstes Kind, das in
etwa einem Monat zur Welt kommen sollte. Als sie aufstand,
merkte man jedoch nichts von ihrer Schwangerschaft. Mit ih
ren eins achtundachtzig war sie einfach eine groe, vornehme
Erscheinung, und in ihrem weiten afrikanischen Kleid sah sie

89

kein bichen schwanger aus. Ich wei noch, wie schn ich sie
fand und da ich hoffte, auch einmal so hbsch zu sein, wenn
ich schwanger war. Nachdem wir uns eine Weile unterhalten
hatten, brachte ich schlielich den Mut auf, sie das zu fragen,
was mir schon die ganze Zeit auf dem Herzen lag:
Aman, bitte. Ich mchte nicht wieder zurckgehen. Kann
ich hier bei dir bleiben?
Du bist also weggelaufen und hast Mama mit all der Arbeit
allein gelassen, erwiderte sie traurig. Doch sie erlaubte mir,
so lange zu bleiben, bis ich etwas anderes fand. Ihre kleine
Htte bestand aus zwei Zimmern: ein kleines, in dem ich
schlief, und ein zweites, das sie mit ihrem Mann teilte. Aller
dings sahen wir ihn nicht oft; er verlie das Haus am Morgen
und ging zur Arbeit, kam mittags zum Essen zurck und brach
nach dem Mittagsschlaf wieder auf. Am Abend kam er erst
spt nach Hause. Und da er wenig sprach, wenn er zu Hause
war, wei ich kaum noch etwas von ihm, nicht einmal seinen
Namen oder was er arbeitete.
Aman bekam ein wunderschnes kleines Mdchen, und ich
half ihr, es zu versorgen. Auerdem putzte ich das Haus,
wusch die Wsche im Freien und hngte sie zum Trocknen
auf.
Ich ging auch auf den Markt, um die Einkufe zu erledigen,
und dort lernte ich die groe Kunst des Feilschens. Dabei
ahmte ich die Einheimischen nach, ging auf einen Stand zu
und fragte sofort: Wieviel? Das Ritual lief wie nach einem
Drehbuch ab, es wiederholte sich jeden Tag auf die gleiche
Weise: Die Mama legte drei Tomaten vor mich hin, eine gre
re und zwei kleinere, und nannte mir einen Preis, fr den ich
drei Kamele bekommen konnte.
Ach, das ist zuviel, winkte ich mit gelangweilter Miene ab.
Also, sag schon, wieviel willst du zahlen? Zwei fnfzig.
O nein, nein, nein! Also bitte ... An diesem Punkt ging ich
zu anderen Hndlern und tat so, als wrde ich mich brennend

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fr ihre Waren interessieren, wobei ich mich nie aus dem


Blickfeld der Mama entfernte. Schlielich kehrte ich wieder zu
ihr zurck und feilschte mit ihr, bis eine von uns mde wurde
und aufgab.
Meine Schwester kam immer wieder darauf zurck, da sie
sich groe Sorgen um unsere Mutter machte; seit ich wegge
laufen sei, msse diese die ganze Arbeit alleine erledigen. je
desmal, wenn sie dieses Thema ansprach, brdete sie mir die
gesamte Schuld auf. Auch ich sorgte mich um Mama, aber
Aman verga zu erwhnen, da sie ebenfalls weggelaufen
war. Mir kamen jetzt viele Erlebnisse aus der Kindheit wieder
ins Gedchtnis, die ich lngst vergessen hatte. In den unge
fhr fnf Jahren, seit ich Aman zuletzt gesehen hatte, hatte
sich viel verndert, aber fr Aman war ich immer noch die klei
ne, dumme Schwester; sie wrde immer, immer die grere
und klgere bleiben. Ich erkannte, da unsere Gemeinsam
keiten sich nur auf unser Aussehen bezogen, charakterlich
waren wir grundverschieden. Ihre stndige Bevormundung
ging mir auf die Nerven. Als Vater mich an diesen alten Mann
verheiraten wollte, war ich weggelaufen, weil ich mehr vom
Leben haben wollte. Und dabei schwebte mir nicht gerade Ko
chen, Waschen und Kinderhten vor, davon hatte ich schon
genug mit meinen kleinen Geschwistern gehabt.
Eines Tages verlie ich Aman, weil ich herausfinden wollte,
was das Schicksal sonst noch fr mich vorgesehen hatte. Ich
besprach es nicht mit ihr; ich erzhlte ihr nichts von meinem
Plan, ich ging einfach eines Morgens weg und kam nicht mehr
zurck. Damals hielt ich das fr eine gute Idee, aber ich wute
noch nicht, da ich sie niemals Wiedersehen wrde.

91

7. Mogadischu

Whrend ich bei Aman lebte, besuchte sie mit mir zusam
men einige Verwandte, die in Mogadischu wohnten. Und so
lernte ich erstmals Familienangehrige meiner Mutter kennen.
Sie war in der Hauptstadt aufgewachsen, zusammen mit ihrer
Mutter, vier Brdern und vier Schwestern.
Ich bin dankbar dafr, da ich whrend meiner Zeit in Mo
gadischu meine Gromutter kennenlernen durfte. Mittlerweile
ist sie etwa neunzig Jahre alt, aber damals war sie erst um die
Siebzig. Gromama ist eine richtige Mama. Ihr Gesicht ist von
heller Farbe, und man kann an ihren Zgen erkennen, da sie
eine zhe Person ist, charakter- und willensstark. Ihre Hnde
sehen aus, als htte sie damit so lange in der Erde gegraben,
bis eine Krokodilhaut darbergewachsen ist. Sie ist in einem
arabischen Land gro geworden, aber ich wei nicht, in we l
chem. Sie ist eine fromme Moslime und betet fnfmal am Tag
nach Mekka gewandt. Wenn sie das Haus verlt, bedeckt sie
ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier; sie ist dann von
Kopf bis Fu verhllt. Ich habe sie immer geneckt: Groma
ma, ist mit dir alles in Ordnung? Weit du denn, wo du hin
mut? Kannst du durch dieses Ding berhaupt etwas sehen?
Ach, komm schon, komm, schimpfte sie. Durch dieses
Ding kann man alles sehen.
Gut, dann kannst du also auch atmen und all das? lachte
ich.

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Durch den Aufenthalt im Haus meiner Gromutter begriff


ich, was Mama so stark gemacht hatte. Mein Grovater war
schon vor Jahren gestorben, und Gromutter kmmerte sich
ganz alleine um alles. Wenn ich zu Besuch war, machte sie
mich fix und fertig. Kaum war ich am Morgen aufgestanden,
ging es los. Sie strzte sich sofort auf mich: Mach schon, Wa
ris. Los, gehen wir.
Gromama lebte in einem Viertel Mogadischus, das ein
gutes Stck vom Markt entfernt lag. Aber wir kauften dort tg
lich Lebensmittel ein, und ich sagte zu ihr: Komm schon,
Gromama, gehen wir es gemtlich an und nehmen wir den
Bus. Es ist hei, und der Marktplatz ist zu weit weg fr einen
Fumarsch.
Was!? Den Bus? Na, also wirklich. Komm, gehen wir. Ein
junges Mdchen wie du will den Bus nehmen? Worber jam
merst du denn eigentlich? Du wirst ganz schn faul, Waris. Ihr
Kinder seid heutzutage alle so, ich wei nicht, was mit euch
los ist. Als ich so alt war wie ihr, oh, da bin ich meilenweit ge
laufen ... was ist jetzt, Mdchen, kommst du mit oder nicht?
Also machte ich mich mit ihr zusammen auf, denn wenn ich
trdelte, wrde sie ganz offensichtlich ohne mich losgehen.
Auf dem Heimweg trottete ich dann, beladen mit den Ein
kaufstaschen, hinter ihr her.
Nachdem ich Mogadischu verlassen hatte, starb eine
Schwester meiner Mutter und hinterlie neun Kinder. Meine
Gromutter kmmerte sich um diese Kinder, sie zog sie gro
wie ihre eigenen. Sie ist eben eine Mama und tat, was zu tun
war.
Ich lernte auch noch einen ihrer Shne kennen, Mamas
Bruder Wolde'ab. Eines Tages war ich zum Markt gegangen,
und als ich heimkam, sa er bei meiner Gromutter und hatte
einen meiner Cousins auf dem Scho. Obwohl ich ihn noch
nie zuvor gesehen hatte, lief ich auf ihn zu, weil dieser Mann
da genauso wie meine Mutter aussah und ich mich nach etwas

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sehnte, das mich an Mama erinnerte. Ich rannte zu ihm, und


da ich meiner Mutter ebenfalls sehr hnlich sehe, erlebte ich
einen wundervollen, aber eigenartigen Augenblick: Es war, als
wrde ich in einen verrckten Zerrspiegel blicken. Wolde'ab
hatte schon davon gehrt, da ich weggelaufen war und mich
in Mogadischu aufhielt. Als ich auf ihn zutrat, sagte er: Bist du
diejenige, fr die ich dich halte? An diesem Nachmittag lachte
ich soviel, wie ich nicht mehr gelacht hatte, seit ich von zu
Hause fortgelaufen war, denn Onkel Wolde'ab sah nicht nur
wie meine Mutter aus, sondern er hatte auch ihren schrgen
Sinn fr Humor. Die beiden mssen als Kinder ein gutes Paar
abgegeben haben, bestimmt hat die ganze Familie Trnen
ber sie gelacht. Ich wnschte, ich htte sie einmal zusammen
erlebt.
Doch an dem Morgen, an dem ich Aman verlie, ging ich zu
Tante L'uul, der wir kurz nach meiner Ankunft in Mogadischu
einen Besuch abgestattet hatten. Als ich von Aman wegging,
beschlo ich, Tante L'uul zu fragen, ob ich nicht bei ihr woh
nen knnte. Sie war mit einem Bruder meiner Mutter verhei
ratet, mit Onkel Sayyid. Aber da er in Saudi-Arabien lebte, zog
sie ihre drei gemeinsamen Kinder alleine gro. Wegen der
schlechten Wirtschaftslage in Somalia arbeitete mein Onkel in
Saudi-Arabien und schickte seiner Familie Geld nach Hause.
Leider war er die ganze Zeit, die ich in Mogadischu verbrachte,
im Ausland, deshalb lernte ich ihn nie kennen.
Tante L'uul war erstaunt, als ich bei ihr vor der Tr stand,
aber sie schien ehrlich erfreut, mich zu sehen. Tante, zwi
schen mir und Aman luft es nicht so gut, da wollte ich dich
fragen, ob ich eine Weile bei dir bleiben knnte.
Ja, natrlich. Du weit ja, da ich mit den Kindern ganz
alleine bin. Sayyid ist die meiste Zeit weg, und eine Hilfe
knnte ich schon gebrauchen. Doch, das wre schn. Mir fiel
ein Stein vom Herzen; Aman hatte mich nur ungern bei sich
aufgenommen, ich wute, da ihr die Situation mifiel. Ihre

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Wohnung war zu klein fr uns alle, auerdem war sie immer


noch relativ jung verheiratet. Und im Grunde wre es ihr auch
lieber gewesen, ich wre wieder zu Mama zurckgegangen;
das htte ihr das schlechte Gewissen darber erleichtert, da
sie selbst einst fortgelaufen war.
Durch meinen Aufenthalt bei Aman und dann bei Tante
L'uul hatte ich mich allmhlich daran gewhnt, in geschlosse
nen Rumen zu wohnen. Am Anfang war es mir seltsam er
schienen, in einem engen Haus zu leben, in dem die Aussicht
auf den Himmel durch die Zimmerdecke versperrt und der
Raum, in dem ich mich bewegen konnte, durch Mauern be
grenzt war und wo ich statt Wstentieren und -struchern die
Abwasser- und Abgasdnste einer Grostadt roch. Die Woh
nung meiner Tante war zwar etwas grer als die von Aman,
aber trotzdem keineswegs gerumig. Und obwohl sie mir ei
nen neuartigen Luxus bot, da ich es nachts warm hatte und bei
Regen nicht na wurde, war sie, verglichen mit dem Standard
der Industrienationen, primitiv. Meine Achtung vor Wasser lie
nicht nach, da es auch hier ein wertvolles Gut blieb. Wir kauf
ten es von einem Hndler, der seine Waren auf einem Esel
durch unser Viertel transportierte, und bewahrten es auerhalb
des Hauses in einer Tonne auf. Zum Baden, Putzen, Tee ko
chen und Essen machen schpften wir kleine Mengen heraus.
Meine Tante bereitete die Mahlzeiten in der kleinen Kche auf
einem Campingkocher zu, der mit Gasflaschen befeuert wur
de. Am Abend saen wir im Schein von Petroleumlampen zu
sammen und unterhielten uns; es gab keinen elektrischen
Strom. Auch die Toilette war fr diesen Teil der Welt typisch,
sie bestand aus einem Loch im Boden, in das die Exkremente
fielen und stinkend in der Hitze liegenblieben. Mit baden
meinte man, da man sich einen Eimer Wasser aus der Tonne
vor dem Haus holte, sich mit einem Schwamm abwusch und
das Abwasser in das Loch der Toilette flieen lie.

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Schon bald nach meiner Ankunft begriff ich, da ich mir


mehr eingehandelt hatte als beabsichtigt. Ich bekam neben
einer Unterkunft noch eine Vollzeitstelle als Babysitter fr drei
verzogene Kinder. Nun, das kleine Baby kann ich wohl noch
nicht als verzogen bezeichnen, aber sein Verhalten trieb mich
trotzdem zur Verzweiflung.
Meine Tante stand jeden Morgen gegen neun Uhr auf und
verlie gleich nach dem Frhstck frhlich das Haus, um ihre
Freundinnen zu besuchen. Sie verbrachte den ganzen Tag mit
diesen Frauen und tratschte endlos ber ihre gemeinsamen
Freunde, Feinde, Bekannten und Nachbarn. Irgendwann am
Abend kam sie dann endlich wieder nach Hause. Whrend
ihrer Abwesenheit schrie das drei Monate alte Baby unaufhr
lich, weil es Hunger hatte. Immer wenn ich es in die Arme
nahm, begann es, an mir zu saugen. Und jeden Tag sagte ich:
Sieh mal, Tante, du mut um Himmels willen etwas unte r
nehmen. Das Baby saugt jedesmal an mir, wenn ich es hoch
nehme, und ich habe keine Milch. Ich habe nicht einmal Br
ste!
Ach, mach dir keine Sorgen. Gib ihm einfach etwas Milch,
erwiderte sie freundlich.
Neben dem Putzen und dem Baby gab es noch zwei andere
Kinder, eines neun und eines sechs Jahre alt, die versorgt
werden muten. Und diese beiden waren wie wilde Tiere. Sie
hatten keinerlei Benehmen, weil ihre Mutter ihnen offenbar
noch nie etwas beigebracht hatte. Ich versuchte gutzumachen,
was ich konnte, indem ich ihnen bei jeder passenden Gele
genheit den Hintern versohlte. Aber nachdem sie jahrelang wie
Hynen herumgestreunt waren, wrden sie sich nicht ber
Nacht in kleine Engel verwandeln.
Die Tage verstrichen, und ich wurde immer frustrierter. Ich
fragte mich, wie oft ich noch in solchen aussichtslosen Situa
tionen stecken wrde, bevor etwas Positives passierte. St n
dig suchte ich nach einer Mglichkeit, wie ich meine Lage ver

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bessern und mich weiterentwickeln konnte, bis sich mir endlich


jene geheimnisvolle, von mir mit Gewiheit erwartete Gele
genheit bieten wrde. Jeden Tag fragte ich mich: Wann wird
es endlich passieren? Heute? Morgen? Wohin werde ich ge
hen? Was werde ich tun? Warum mir so etwas im Kopf her
umspukte, wei ich nicht. Ich glaube, damals war ich der
berzeugung, da jeder Mensch so eine innere Stimme hat.
Und soweit ich zurckdenken kann, war ich mir stets sicher,
da mein Leben anders verlaufen wrde als das derjenigen,
die um mich waren; nur wute ich nicht, wie anders.
Mein Aufenthalt bei Tante L'uul steuerte nach etwa einem
Monat auf eine Krise zu. Eines Tages verschwand am spten
Nachmittag, whrend meine Tante gerade auf ihrer Klatsch
tour war, ihr ltestes Kind, ein neunjhriges Mdchen. Zu
nchst ging ich nach drauen und rief nach ihr. Als die Kleine
nicht antwortete, suchte ich die Umgebung nach ihr ab.
Schlielich entdeckte ich sie zusammen mit einem kleinen
jungen in einem Tunnel. Sie war ein eigensinniges, wibegie
riges Kind, und als ich sie fand, stillte sie gerade ihre Neugier
bezglich der Anatomie des kleinen jungen. Ich marschierte in
den Tunnel, packte sie am Arm und zog sie hoch; der junge
rannte weg wie ein verngstigtes Tier. Den ganzen Heimweg
schlug ich meine Cousine mit einer Rute; noch nie hatte ich
vor einem Kind solche Abscheu empfunden.
Als ihre Mutter an diesem Abend nach Hause kam, weinte
das Mdchen, weil ich es verhauen hatte. Tante Uuul
schumte vor Wut. Warum schlgst du dieses Kind? wollte
sie wissen. Du rhrst mein Baby nicht an. Ich werde dich ver
prgeln, und dann schau mal, ob dir das gefllt, schrie sie
und kam drohend auf mich zu.
Glaub mir, du solltest lieber nicht wissen, warum ich das
getan habe, du willst bestimmt nicht wissen, was ich wei!
Wenn du gesehen httest, was sie heute getan hat, wrdest
du sagen, sie ist nicht mehr deine Tochter. Dieses Kind ist au

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er Rand und Band, sie ist wie ein Tier. Diese Erklrung trug
allerdings nicht dazu bei, die Situation zu entschrfen. Nach
dem sie mich, ein dreizehnjhriges Mdchen, die ganze Zeit
ber mit der Sorge fr ihre drei kleinen Kinder allein gelassen
hatte, ging meiner Tante das Wohlergehen ihrer Tochter mit
einem Mal ber alles. Mit erhobener Faust drohte sie, mich zu
verprgeln fr das, was ich ihrem kleinen Engel angetan hatte.
Aber ich hatte genug, nicht nur von ihr, sondern von der gan
zen Welt. O nein, du wirst mich nicht schlagen. Versuche es
doch, dann reie ich dir smtliche Haare aus, schrie ich. Das
lie sie in ihrer Drohgebrde innehalten, aber mir war klar, da
ich nun gehen mute. Nur, wo sollte ich diesmal Zuflucht su
chen?
Als ich die Hand hob, um an Tante Sahrus Tr zu klopfen,
dachte ich: Auf ein neues, Waris. Ich sagte verlegen ha l
lo, als sie die Tr ffnete. Tante Sahru war Mamas Schwe
ster. Und sie hatte fnf Kinder. Diese Tatsache lie nichts
Gutes erahnen, was meine Aussichten auf einen angenehmen
Aufenthalt in diesem Haus betraf, aber welche Wahl hatte ich
schon? Taschendieb oder Bettler zu werden? Ohne auf die
Grnde fr meinen Abschied von Tante L'uul einzugehen,
fragte ich, ob ich eine Zeitlang bei ihr wohnen drfe.
Du hast hier eine Freundin, antwortete sie zu meiner
berraschung. Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst.
Und wenn du mit jemandem reden willst, bin ich fr dich da.
Das fing besser an, als ich gedacht hatte. Wie zu erwarten
war, half ich bei der Hausarbeit mit. Doch Tante Sahrus lteste
Tochter Fatima war schon neunzehn, und hauptschlich war
sie fr den Haushalt verantwortlich.
Meine arme Cousine Fatima schuftete wie eine Sklavin. Sie
stand tglich frhmorgens auf und ging zum College, kam
mittags nach Hause, um das Essen zu kochen, ging dann wie
der zur Schule und kehrte gegen sechs Uhr abends heim,

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woraufhin sie gleich das Abendessen machte. Danach putzte


sie und lernte bis spt in die Nacht. Aus irgendeinem Grund
behandelte ihre Mutter sie anders als ihre anderen Kinder, sie
verlangte viel mehr von ihr. Aber Fatima war gut zu mir; sie
war mir eine Freundin, und zu dieser Zeit meines Lebens hatte
ich eine Freundin dringend ntig. Allerdings erschien es mir
ungerecht, wie ihre Mutter sie behandelte, deshalb versuchte
ich, meiner Cousine abends in der Kche zu helfen. Ich konnte
nicht kochen, aber ich gab mir Mhe, es zu lernen, indem ich
ihr zusah. Die ersten Nudeln, die ich jemals a, waren von
Fatima gekocht, und als ich sie kostete, fhlte ich mich wie im
Himmel.
Meine Aufgabe war hauptschlich das Putzen, und bis
heute behauptet Tante Sahru, ich sei die beste Putzfrau ge
wesen, die sie jemals hatte. Ich schrubbte und polierte das
Haus, das war harte Arbeit. Aber es war mir bedeutend lieber,
als auf Kinder aufzupassen, besonders nach meinen Erfa h
rungen der letzten Monate.
Wie Aman machte sich auch Tante Sahru Sorgen um meine
Mutter, weil sie nun keine groe Tochter mehr hatte, die ihr bei
der Arbeit helfen konnte. Mein Vater untersttzte sie vielleicht
bei den Tieren, aber beim Kochen, bei der Kleider- und Korb
herstellung und bei der Kinderpflege wrde er keinen Finger
rhren. Das war Frauenarbeit und daher Mamas Aufgabe. Au
erdem, hatte er seinen Beitrag nicht schon geleistet, indem er
zu ihrer Untersttzung eine zweite Frau mitgebracht hatte? Ja,
das hatte er zweifellos. Aber seit jenem dmmerdunklen Mor
gen, als ich meine Mutter zuletzt gesehen hatte, machte auch
ich mir ihretwegen Sorgen. Immer wenn ich an sie dachte,
hatte ich meinen letzten Abend bei meiner Familie vor Augen
sah ihr Gesicht im schwachen Feuerschein und wie mde es
gewirkt hatte. Whrend ich durch die Wste lief, um nach Mo
gadischu zu gelangen, konnte ich an nichts anderes denken,

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die Reise erschien mir ebenso endlos wie mein Dilemma: Was
war mir wichtiger? Mein Wunsch, meiner Mutter zu helfen,
oder mein Bedrfnis, der Ehe mit dem alten Mann zu entkom
men? Ich wei noch, wie ich einmal in der Abenddmmerung
unter einem Baum zusammenbrach und dachte: Wer kmmert
sich jetzt um Mama? Sie kmmert sich um alle anderen, aber
wer kmmert sich um sie?
Nun zurckzugehen wre allerdings sinnlos gewesen; das
htte nur bedeutet, da ich die Mhen der letzten Monate ver
gebens auf mich genommen hatte. Wenn ich jetzt wieder zu
meiner Familie ginge, wrde mein Vater nach sptestens ei
nem Monat jeden lahmen, klapprigen Trottel aus der Wste,
der ein Kamel besa, anschleppen, um mich mit ihm zu ver
heiraten. Dann htte ich einen Ehemann am Hals und knnte
meiner Mutter auch nicht helfen. Eines Tages fiel mir ein, da
ich meine Missetat wenigstens teilweise wiedergutmachen
konnte, wenn ich etwas Geld verdiente und es ihr schickte.
Dann knnte sie nmlich einige der Dinge, die meine Familie
brauchte, kaufen und mte nicht so hart arbeiten.
Ich nahm mir vor, Arbeit zu finden, und fragte berall in der
Stadt danach. Eines Tages schickte mich meine Tante zum
Markt, um ihre Einkufe zu erledigen, und auf dem Heimweg
kam ich an einer Baustelle vorbei. Ich blieb kurz stehen und
sah den Mnnern zu, die Ziegel schleppten und Mrtel an
rhrten, indem sie schaufelweise Sand hinzugeben und mit
Wasser verrhrten. He, schrie ich hinber, gibt es hier Ar
beit?
Der Kerl, der gerade Ziegel legte, hielt inne und lachte mich
an. Wer will das wissen?
Ich. Ich brauche Arbeit.
Nee. Wir haben keine Arbeit fr einen dnnen Hering wie
dich. Irgendwie habe ich nicht den Eindruck, als wrst du ein
Maurer. Er lachte wieder.

100

Hey, du tuschst dich, versicherte ich ihm. Ich kann das,


ich bin sehr stark. Wirklich. Ich zeigte auf die Mnner, die den
Mrtel anrhrten; sie standen da, und die Hosen hingen ihnen
fast bis zu den Kniekehlen herunter. Dabei knnte ich helfen.
Ich hole den Sand und rhre um, so gut wie sie.
Gut, in Ordnung. Wann kannst du anfangen?
Morgen frh.
Komm um sechs Uhr, dann werden wir sehen, was du tun
kannst. Ich schwebte wie auf Wolken zu Tante Sahrus Haus
zurck. Ich hatte Arbeit! Ich wrde Geld verdienen, richtiges
Geld! Und ich wrde jeden Penny davon sparen und Mama
schicken. Wie berrascht sie sein wrde.
Als ich zu Hause ankam, erzhlte ich Tante Sahru die Ne u
igkeit. Sie konnte es nicht glauben. Du hast wo Arbeit gefun
den? Zum einen hielt sie es nicht fr mglich, da ein Md
chen bereit sein knnte, solche Arbeit zu tun. Und was genau
mut du fr diese Mnner machen? wollte sie wissen. Zum
anderen konnte sie nicht glauben, da der Chef eine Frau ein
stellen wrde, noch dazu mich, die ich immer noch halb ver
hungert aussah. Aber als ich ihr wieder und wieder versicher
te, da es stimmte, hatte sie keine andere Wahl, als mir zu
glauben.
Nachdem sie eingesehen hatte, da ich die Wahrheit sagte,
wurde sie rgerlich, weil ich zwar bei ihr wohnen wollte, aber
anstatt ihr im Haushalt zu helfen fr jemand anderen arbeitete.
Schau, sagte ich erschpft. Ich mu Mama Geld schicken,
und das kann ich nur, wenn ich eine Stelle annehme. Entwe
der diese oder eine andere, aber irgendwo mu ich arbeiten.
In Ordnung?
In Ordnung.
Am nchsten Morgen begann meine Laufbahn als Bauar
beiterin. Und es war entsetzlich. Ich plagte mich den ganzen
langen Tag damit, bleischwere Ladungen Sand zu schleppen;
da ich keine Handschuhe hatte, schnitt mir der Eimergriff in die

101

Hnde, und ich bekam riesige Blasen auf den Handflchen.


Am Ende des Tages waren die Blasen aufgeplatzt, und meine
Hnde bluteten. Alle dachten, nun htte ich genug, aber ich
war entschlossen, am nchsten Tag wiederzukommen.
Ich hielt einen Monat lang durch, danach waren meine H n
de so wund und aufgerissen, da ich meine Finger kaum noch
krmmen konnte. Bis dahin hatte ich umgerechnet sechzig
Dollar auf die Seite gelegt, und ich erzhlte meiner Tante stolz,
ich htte nun Geld gespart, das ich Mama schicken wollte. Erst
krzlich hatten wir einen Bekannten zu Besuch gehabt, der
bald mit seiner Familie in die Wste aufbrechen wrde und
anbot, das Geld fr meine Mutter mitzunehmen. Tante Sahru
sagte: Ja, ich kenne diese Leute, sie sind in Ordnung. Du
kannst ihnen das Geld anvertrauen. Es erbrigt sich zu er
whnen, da meine sechzig Dollar damit verloren waren. Nach
all der Schinderei mute ich spter erfahren, da meine Mutter
nie einen Penny davon gesehen hat.
Sobald ich mit der Arbeit auf dem Bau aufgehrt hatte,
putzte ich wieder fr meine Tante. Und kurze Zeit danach, ich
machte gerade wie blich im Haus sauber, kam ein hoher
Gast zu Besuch: der somalische Botschafter in London. Mo
hammed Chama Farah war mit einer anderen Tante verheira
tet, mit Maruim, einer Schwester meiner Mutter. Whrend ich
im Nebenzimmer grndlich Staub wischte, hrte ich das Ge
sprch zwischen dem Botschafter und Tante Sahru mit. Er war
nach Mogadischu gekommen, um sich ein Dienstmdchen zu
suchen, bevor er seine vierjhrige Amtszeit in London antrat.
Das war es, wurde mir sofort klar! Das war die Gelegenheit,
auf die ich so lange gewartet hatte.
Ich strzte ins Zimmer und rief Tante Sahru zu: Tante,
Tante, ich mu dich sprechen.
Sie sah mich rgerlich an. Was ist los, Waris?
Bitte, hier drin. Kaum hatte sie die Tr durchschritten und
war auer Sichtweite des Botschafters, klammerte ich mich an

102

ihren Arm. Bitte. Bitte sag ihm, da er mich nehmen soll. Ich
kann sein Hausmdchen sein. Als sie mich anblickte, konnte
ich sehen, wie verletzt sie war. Aber ich war ein willensstarkes
Kind, das nur an seine eigenen Wnsche dachte und nicht
daran, was sie alles fr mich getan hatte.
Dich! Du hast von nichts eine Ahnung. Was willst du in
London?
Ich kann putzen! Sag ihm, da er mich nehmen soll, Ta n
te! Ich will mitgehen, ich will!
Das finde ich keine gute Idee. Jetzt str mich nicht lnger,
und mach dich wieder an die Arbeit. Sie ging zurck in das
andere Zimmer und setzte sich neben ihren Schwager. Ich
hrte sie leise sagen: Warum nimmst du nicht sie? Weit du,
sie ist wirklich gut. Sie ist eine gute Putzfrau.
Die Tante rief mich zu sich ins Zimmer, und ich strmte
durch die Tr. Da stand ich, mit meinem Staubwedel in der
Hand, und kaute auf meinem Kaugummi herum. Ich heie
Waris. Und du bist mit meiner Tante verheiratet, nicht wahr?
Der Botschafter blickte mich stirnrunzelnd an. Wrdest du
bitte den Kaugummi aus dem Mund nehmen? Ich spuckte
den Kaugummi in die Ecke. Der Botschafter sah Tante Sahru
an. Ist das das Mdchen? Oh, nein, nein.
Ich bin ausgezeichnet. Ich kann putzen, kochen ... und ich
kann gut mit Kindern umgehen!
Oh, da bin ich mir sicher.
Ich wandte mich an die Tante. Sag du es ihm. Waris,
das gengt. Geh wieder an die Arbeit. Sag ihm, da ich die
Beste bin!
Waris! Pscht! An meinen Onkel gewandt, meinte sie: Sie
ist noch jung, aber sie arbeitet wirklich hart. Glaub mir, sie w
re die Richtige ...
Onkel Mohammed schwieg einen Moment und musterte
mich voller Abscheu. Gut, hr zu. Ich hole dich morgen ab. In

103

Ordnung? Ich komme am Nachmittag mit deinem Reisepa,


und dann fliegen wir nach London.

104

8. Unterwegs nach London

London! Ich wute nichts darber, aber mir gefiel der Klang
des Namens. Ich wute nicht, wo es lag, nur, da es sehr weit
weg war. Und sehr weit weg, da wollte ich sein. Offenbar wa
ren meine Gebete erhrt worden, gleichzeitig schien es mir
aber auch zu schn, um wahr zu sein. Tante, quengelte ich,
werde ich wirklich fahren?
Streng drohte sie mir mit dem Finger. Sei ruhig. Fang nicht
wieder davon an. Doch als sie die Angst in meinem Gesicht
sah, lchelte sie. Schon gut. Ja, du wirst wirklich fahren.
In heller Aufregung rannte ich zu meiner Cousine Fatima,
die gerade das Abendessen kochen wollte. Ich fahre nach
London! Ich fahre nach London! rief ich und fing an, in der
Kche im Kreis herumzutanzen.
Was? Nach London! Sie packte mich mitten in einer Dre
hung am Arm und verlangte eine Erklrung. Dann wirst du
wei werden, verkndete Fatima trocken.
Was sagst du?
Du wirst wei werden, na, du weit schon ... wei. Ich
wute es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach,
denn ich hatte noch nie in meinem Leben einen Weien gese
hen. Ja, ich wute nicht einmal, da es solche Menschen gab.
Dennoch beunruhigte mich ihre Ankndigung nicht im gering
sten. Ach, sei still, sagte ich so hochnsig, wie ich nur
konnte. Du bist doch nur neidisch, weil ich nach London fahre

105

und du nicht. Ich tanzte weiter, wiegte mich in den Hften und
klatschte in die Hnde, als feierte ich den Regen. Dazu sang
ich: Ich fahre nach London! Oohaajeeh! Ich fahre nach Lon
don!
Waris! rief Tante Sahru warnend.
Am Abend stattete mich meine Tante fr die Reise aus. Ich
bekam mein erstes Paar Schuhe - wunderschne Ledersan
dalen. Frs Flugzeug gab sie mir ein langes, bunt gemustertes
Kleid, darber sollte ich eine afrikanische Djellabah tragen. Ich
hatte kein Gepck, aber das machte nichts. Denn auer den
Kleidern, die ich am Leibe trug, besa ich nichts, was ich htte
mitnehmen knnen, als mich Onkel Mohammed am nchsten
Tag abholte.
Bevor wir zum Flughafen aufbrachen, umarmte und kte
ich Tante Sahru, die liebe Fatima und all meine kleinen Cou
sins und Cousinen. Fatima war so nett zu mir gewesen, da
ich sie am liebsten mitgenommen htte. Aber wie ich wute,
gab es dort nur fr eine von uns Arbeit, und deshalb war ich
froh, da ich mich durchgesetzt hatte. Onkel Mohammed gab
mir meinen Reisepa, den ich staunend betrachtete. Ich hatte
noch nie eine Geburtsurkunde oder ein anderes Dokument mit
meinem Namen darauf gehabt. Als ich ins Auto kletterte und
der Familie zum Abschied zuwinkte, kam ich mir sehr wichtig
vor.
Bis zu diesem Tag hatte ich Flugzeuge nur von unten gese
hen; sie zogen hin und wieder ber mich hinweg, wenn ich in
der Wste die Ziegen htete. Ich wute also, da es so etwas
gab. Doch noch nie war ich einem so nah gekommen wie an
jenem Nachmittag, als ich Mogadischu verlie. Onkel Mo
hammed fhrte mich durch das Flughafengebude, und wir
blieben an der Tr stehen, die hinaus auf die Rollbahn fhrte.
Auf der geteerten Startbahn sah ich einen riesigen britischen
Jet in der afrikanischen Sonne glnzen. Mein Onkel plapperte

106

gerade etwas wie: ... und in London erwartet dich dann Tante
Maruim; ich komme in einigen Tagen nach. Ich mu erst noch
ein paar geschftliche Angelegenheiten erledigen, ehe ich
fortkann.
Mir blieb der Mund offenstehen. Ich drehte mich um und
starrte ihn an. Doch er drckte mir ungerhrt das Flugticket in
die Hand. Also, Waris, pa gut auf dein Ticket und deinen
Reisepa auf. Das sind wichtige Dokumente, verlier sie nicht.
Du kommst nicht mit? Nur mhsam brachte ich diese
Worte heraus.
Nein, erwiderte er ungeduldig. Ich mu noch ein paar
Tage hierbleiben. Auf der Stelle brach ich in Trnen aus. Ich
hatte Angst, alleine zu fliegen. Und da ich Somalia jetzt tat
schlich verlassen sollte, kamen mir Zweifel, ob das Ganze
wirklich eine gute Idee war. Trotz aller Probleme hier war es
schlielich meine Heimat, die ich kannte, whrend das, was
vor mir lag, nichts als ein groes Geheimnis war.
Stell dich nicht an, alles wird gutgehen. In London holt dich
jemand ab, und man wird dir erklren, was du zu tun hast. Ich
schniefte und wimmerte leise. Doch mein Onkel schob mich
sacht zur Tr. Na, geh schon, das Flugzeug fliegt gleich los.
Vorwrts ... INS FLUGZEUG, WARIS!
Stocksteif vor Angst, berquerte ich die glhendheie Teer
flche. Das Bodenpersonal lief um die Maschine herum und
machte sie startklar. Ich beobachtete die Mnner, die das Ge
pck einluden, und die Crew, die den Jet kontrollierte; dann
schaute ich die Gangway hoch. Und ich fragte mich, wie ich in
dieses Ding hineinkommen sollte. Schlielich entschied ich
mich fr die Treppe. Doch in den ungewohnten Schuhen fiel
es mir schwer, die glatten Aluminiumstufen hochzusteigen,
ohne ber mein langes Kleid zu stolpern. An Bord der Maschi
ne hatte ich keine Ahnung, wohin - ich mu gewirkt haben wie
der letzte Idiot. Die anderen Passagiere saen bereits alle auf
ihren Pltzen und schauten mich fragend an. Ich konnte ihnen

107

an den Gesichtern ablesen, was sie dachten: Wer um Him


mels willen ist dieses blde Mdchen vom Land, das nicht
einmal wei, wie man sich im Flugzeug benimmt? Noch an
der Tr drehte ich mich deshalb einfach um und setzte mich
auf den erstbesten freien Platz.
Und da sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen
Weien. Der hellhutige Mann neben mir sagte: Das ist nicht
Ihr Platz. Zumindest glaube ich, da er das gesagt hat, denn
ich sprach damals noch kein Wort Englisch. Angsterfllt starrte
ich ihn an. Allah hilf! Was sagt dieser Mann zu mir? Und wa r
um sieht er so komisch aus? Er wiederholte seine Worte, und
ich geriet allmhlich in Panik. Doch dann kam, dem Himmel
sei Dank, eine Stewarde und nahm mir das Ticket aus der
Hand. Die Frau merkte offenbar gleich, da ich mich nicht
auskannte. Sie fate mich am Arm und fhrte mich den Gang
entlang zu meinem Platz - der selbstverstndlich nicht in der
ersten Klasse war, wo ich mich vorher hingesetzt hatte. Als ich
durchs Flugzeug ging, wandte ausnahmslos jeder den Kopf
und starrte mich an. Lchelnd wies die Stewarde auf meinen
Sitz. Froh, nicht mehr im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerk
samkeit zu stehen, lie ich mich hineinfallen und nickte der
Frau mit einem einfltigen Lcheln dankbar zu.
Kurz nach dem Start kam dieselbe Stewarde wieder.
Diesmal trug sie einen Korb mit Sigkeiten, den sie mir
strahlend entgegenstreckte. Ich hob mein Kleid an, formte im
Scho einen Beutel, als ob ich Obst ernten wollte, und nahm
mir eine ganze Handvoll Bonbons. Ich war am Verhungern,
deshalb wollte ich zusehen, da ich etwas in den Magen be
kam. Wer wute schon, wann es wieder etwas zu essen ge
ben wrde? Doch als ich ein zweites Mal zulangen wollte, hielt
die Stewarde die Sigkeiten weit weg. Ich streckte mich und
griff nach dem Korb. Ach, du liebe Gte, was soll ich nur mit
der anfangen? stand ihr ins Gesicht geschrieben.

108

Whrend ich meine Bonbons auswickelte und vertilgte, be


trachtete ich die weien Menschen um mich herum. Sie ka
men mir verfroren und krank vor - ein, wie ich glaubte, vor
bergehender Zustand. Sie konnten schlielich nicht immer so
aussehen, oder? Bestimmt waren diese Leute wei geworden,
weil sie zu lange nicht mehr in der Sonne gewesen waren.
Ihr braucht Sonne, htte ich ihnen gerne gesagt, wenn
ich Englisch gekonnt htte. Und ich fate den Entschlu, einen
von ihnen sobald wie mglich anzufassen. Vielleicht ging das
Wei ja ab, vielleicht waren sie untendrunter richtig schwarz.
Nach etwa neun oder zehn Stunden im Flugzeug mute ich
so dringend pinkeln, da ich beinahe platzte. Aber ich wute
nicht, wohin. Mach schon, Waris, das kannst du herausfinden,
sagte ich mir. Ich beobachtete aufmerksam, wie all die Leute
um mich herum, wenn sie aufstanden, zu dieser einen Tr
gingen. Dort mute es sein, berlegte ich, und ging zu der Tr,
als gerade jemand herauskam. Drinnen zog ich die Tr hinter
mir zu und sah mich um. Es war bestimmt der richtige Raum,
aber wo war die richtige Stelle? Ich untersuchte das Wasch
becken und verwarf es. Ich musterte den Sitz, schnffelte und
entschied, da dies der richtige Ort fr mein Bedrfnis war.
Froh setzte ich mich hin und - puh!
Erleichtert stand ich auf, stellte dann aber fest, da mein
Urin noch da war. Was sollte ich tun? Ich wollte keinesfalls,
da der nchste hereinkam und ihn sah. Aber wie sollte ich ihn
da wegbringen? Da ich kein Englisch sprach, geschweige
denn lesen konnte, sagte mir das Wort Flush ber dem Knopf
berhaupt nichts. Und selbst wenn ich das Wort verstanden
htte - ich hatte doch noch nie in meinem Leben eine Toilette
mit Wassersplung gesehen! Whrend ich jeden Hebel, jeden
Knopf und jede einzelne Schraube in dem Raum einer genau
en Untersuchung unterzog, fragte ich mich immer wieder, ob
wohl dieser der richtige war, um meinen Urin verschwinden zu

109

lassen. Der Knopf schien ganz offensichtlich dafr gedacht.


Aber was, wenn ich ihn drckte und daraufhin das Flugzeug
explodierte? Ich hatte in Mogadischu gehrt, da so etwas
passieren konnte. Aufgrund der stndigen politischen Kmpfe
unterhielten sich die Menschen dort oft ber Explosionen und
Bomben, die dieses oder jenes in die Luft gejagt hatten. Wenn
ich diesen Knopf drckte, wrde vielleicht das Flugzeug aus
einanderbersten, und wir alle mten sterben. Vielleicht stand
ja genau das darber: NICHT DRCKEN! BRINGT FLUG
ZEUG ZUR EXPLOSION. Darauf wollte ich es wegen ein
bichen Urin nun doch nicht ankommen lassen. Aber ich
wollte dem nchsten den Platz sauber bergeben. Auerdem
wrde man genau wissen, von wem die Hinterlassenschaft
stammte, denn inzwischen hmmerte es von drauen an die
Tr.
Da hatte ich einen Geistesblitz. Ich nahm einen benutzten
Pappbecher, fllte ihn mit Wasser und go es in die Toilette.
Wenn ich meinen Urin genug verdnnte, wrde der nchste
denken, die Toilettenschssel sei voll mit Wasser, berlegte
ich. Und so machte ich mich ans Werk, fllte Becher um Be
cher und kippte ihn in die Toilettenschssel. Inzwischen hm
merten die Leute nicht mehr nur gegen die Tr, sie fingen
auch an zu rufen. Und ich konnte nicht einfach antworten:
Nur noch eine Minute bitte ... Also fhrte ich meinen Plan
schweigend zu Ende. Immer wieder fllte ich den durch
weichten Becher mit dem Rinnsal aus dem Wasserhahn und
schttete den Inhalt in die Toilettenschssel. Als das Wasser
schlielich bis an den Sitz reichte, hrte ich auf. Ich wute, nur
noch ein Tropfen, und die Schssel wrde berlaufen. Doch
zumindest sah der Schsselinhalt jetzt wie klares Wasser aus,
also stand ich auf, glttete mein Kleid und ffnete die Tr. Mit
gesenktem Kopf hastete ich die Warteschlange entlang und
war froh, da ich kein greres Geschft hatte erledigen ms
sen.

110

Als wir ber Heathrow zur Landung ansetzten, war ich so


erleichtert, endlich aus diesem Flugzeug herauszukommen,
da ich kaum noch Angst vor dem fremden Land versprte.
Zumindest wrde meine Tante dasein und mich abholen, wo
fr ich ihr zutiefst dankbar war. Whrend das Flugzeug he r
unterging, vernderte sich drauen der Himmel, die weien
Schfchenwolken verdichteten sich zu einem unbestimmten
Grau. Dann standen die anderen Passagiere auf. Ich erhob
mich ebenfalls von meinem Sitz und lie mich, ohne zu wis
sen, warum oder wohin, mit dem Menschenstrom ins Freie
treiben. Die Menge drngte vorwrts, bis wir an mehrere Trep
pen kamen. Es gab nur ein Problem: Die Treppen bewegten
sich. Wie angewurzelt blieb ich stehen und sah den anderen
zu. Die Menschenwoge teilte sich hinter mir, und ich beob
achtete, da die Leute einfach auf eine der sich bewegenden
Stufen traten und darauf nach oben fuhren. Ich wollte es ihnen
gleichtun, also machte ich einen groen Schritt und stieg auf
die Rolltreppe. Doch dabei verlor ich eine meiner neuen San
dalen, die unten auf dem Boden liegenblieb. Mein Schuh!
Mein Schuh! rief ich in Somali und versuchte zurckzulaufen,
um ihn zu holen. Doch die dichtgedrngten Menschen hinter
mir lieen mich nicht durch.
Als wir von der Rolltreppe stiegen, humpelte ich, nur an ei
nem Fu beschuht, mit den anderen mit. Wir kamen zum Zoll.
Ich musterte die weien Mnner in ihren adretten britischen
Uniformen, wute aber beim besten Willen nicht, wer diese
Leute waren. Einer der Zllner sagte etwas auf englisch zu
mir, und ich probierte, ob ich vielleicht von ihm Hilfe erwarten
konnte. Mit einer Handbewegung zur Rolltreppe hin rief ich
nochmals in Somali: Mein Schuh! Mein Schuh!
Doch er funkelte mich nur unfreundlich an und wiederholte
mit gelangweilter, leidender Miene seine Frage. Ich kicherte
nervs und verga meinen Schuh vorbergehend. Der Be
amte deutete auf meinen Reisepa, den ich ihm reichte.

111

Nachdem er ihn genau studiert hatte, machte er einen Stempel


hinein und winkte mich durch.
Vor dem Zoll trat ein Mann in Chauffeurslivree auf mich zu
und fragte in Somali: Sollst du fr Mr. Farah arbeiten? Er
leichtert, da jemand meine Sprache sprach, rief ich begei
stert: Ja! ja! Ich bin Waris! Der Fahrer wollte mich fortfhren,
aber ich blieb stehen. Mein Schuh. Wir mssen zuerst hin
untergehen und meinen Schuh holen.
Deinen Schuh?
Ja, ja, er ist dort unten.
Wo ist er?
Da unter der Treppe, die sich bewegt. Ich zeigte nach
hinten. Ich habe ihn verloren, als ich da draufgestiegen bin.
Er sah auf meine Fe, der eine nackt, der andere mit einer
Sandale bekleidet.
Glcklicherweise konnte der Fahrer Englisch und bekam die
Erlaubnis, noch einmal mit mir durch die Sperre zu gehen und
meine fehlende Sandale zu holen. Aber als wir an die Stelle
kamen, wo ich den Schuh verloren hatte, war nichts davon zu
entdecken. Ich konnte mein Pech nicht fassen. Mit der ande
ren Sandale in der Hand suchte ich jeden Zentimeter Boden
ab, dann fuhren wir wieder hoch. Doch nun mute ich noch
einmal durch den Zoll. Und diesmal nutzte der Beamte den
Chauffeur als Dolmetscher und stellte mir all die Fragen, die er
mir vorher schon hatte stellen wollen.
Wie lange bleiben Sie? fragte der Zollbeamte. Ich zuckte
die Achseln. Wo fahren Sie jetzt hin?
Ich wohne bei meinem Onkel, dem Botschafter, erwiderte
ich stolz.
In Ihrem Reisepa steht, da Sie achtzehn Jahre alt sind,
stimmt das?
Achtzehn? Nein, nein! widersprach ich heftig. Der Fahrer
bersetzte.

112

Haben Sie etwas zu verzollen? Diese Frage verstand ich


nicht.
Der Fahrer erklrte: Er will wissen, was du ins Land mit
bringst. Ich hielt meine eine Sandale hoch. Der Zollbeamte
starrte einen Augenblick lang den Schuh an, dann schttelte er
den Kopf, gab mir den Reisepa zurck und winkte uns durch
die Schranke.
Whrend der Fahrer mich durch das Flughafengebude
fhrte, in dem es vor Menschen wimmelte, sagte er: Schau,
in deinem Pa steht, da du achtzehn Jahre alt bist, deshalb
habe ich gesagt, da das so ist. Wenn dich also jemand nach
deinem Alter fragt, antworte, da du achtzehn bist.
Aber ich bin nicht achtzehn, entgegnete ich wtend. Das
ist alt!
Und wie alt bist du?
Ich wei nicht genau, vierzehn vielleicht, auf jeden Fall
nicht so alt!
Hr mal, wenn es in deinem Pa steht, dann ist es auch
so.
Wovon redest du? Mir ist egal, was da drinsteht. Warum
hat man das reingeschrieben, wenn es doch nicht stimmt?
Weil Mr. Farah es so angegeben hat.
Er ist verrckt. Der hat doch keine Ahnung! Kaum am
Ausgang angekommen, schrien wir uns bereits an. Onkel Mo
hammeds Chauffeur und ich hatten eine tiefe Abneigung ge
geneinander entwickelt.
Als ich barfu zum Auto ging, fiel in London Schnee. Zit
ternd zog ich die eine Sandale wieder an und wickelte mich
fester in meine dnne Baumwoll-Djellabah. Ein solches Wetter
hatte ich noch nie erlebt und erst recht keinen Schnee gese
hen. Herr im Himmel, ist das kalt hier!
Man gewhnt sich dran.
Der Fahrer steuerte den Wagen aus dem Flughafengelnde
und mitten hinein in den Londoner Vormittagsverkehr. Ich

113

fhlte mich unsagbar traurig und einsam an diesem mir voll


stndig fremden Ort, wo ich nur von weien, krnklichen Ge
sichtern umgeben war. Allah! Himmel! Mama! Wo bin ich? In
diesem Moment sehnte ich mich aus tiefstem Herzen nach
meiner Mutter. Nicht einmal das einzige schwarze Gesicht hier
weit und breit spendete mir Trost, denn Onkel Mohammeds
Chauffeur hielt sich offensichtlich fr etwas Besseres.
Whrend der Fahrt setzte er mich ber den Haushalt ins
Bild, in dem ich knftig leben wrde: Er bestand aus meinem
Onkel und meiner Tante; Onkel Mohammeds Mutter, einem
anderen Onkel, den ich noch nicht kannte - er war einer der
Brder von meiner Mutter und Tante Maruim -, und dazu noch
sieben Kindern, meinen Cousins und Cousinen. Dann erklrte
er mir, wann ich aufstehen mute, was ich zu tun hatte, was
ich kochen sollte und wo ich schlafen wrde. Und wann ich
allabendlich vllig erschpft ins Bett fallen wrde.
Denn deine Tante, die Herrin, fhrt den Haushalt mit ei
serner Faust, meinte er ungerhrt. Ich warne dich, man
kann es ihr nie recht machen.
Na, du vielleicht nicht, aber ich bin ihre Nichte. Immerhin
ist sie eine Frau und die Schwester meiner Mutter, berlegte
ich. Mir fiel wieder ein, wie sehr ich meine Mama vermite und
wie lieb Tante Sahru und Fatima zu mir gewesen waren.
Selbst Aman hatte es gut mit mir gemeint, wir kamen eben nur
nicht miteinander aus. Die Frauen in unserer Familie waren
liebevoll und kmmerten sich umeinander. Ich lehnte mich zu
rck. Pltzlich fhlte ich mich nach meiner langen Reise sehr
mde.
Doch immer wieder schielte ich aus dem Autofenster und
versuchte herauszufinden, woher die weien Flocken kamen.
Wir fuhren durch die vornehme Harley Street, wo der Schnee
die Gehsteige langsam wei frbte. Dann hielten wir vor dem
Haus meines Onkels. Verwundert starrte ich es an, whrend
mir allmhlich klar wurde, da ich in diesem Palast wohnen

114

wrde. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Die drei
stckige Botschafterresidenz war gelb, meine Lieblingsfarbe.
Wir gingen zum Haupteingang, ein beeindruckendes Portal mit
einem Oberlicht. Drinnen warf ein groer vergoldeter Spiegel
die Bcherwand der gegenberliegenden Bibliothek zurck.
Tante Maruim trat ins Foyer, um mich zu begren. Ta n
te! rief ich.
Die Frau war nur wenig jnger als meine Mutter und trug
elegante westliche Kleidung. Sie blieb in der Mitte der Halle
stehen. Komm herein, sagte sie khl. Und mach die Tr
zu. Eigentlich hatte ich zu ihr laufen und sie umarmen wollen,
aber etwas an der Art, wie sie mit zusammengepreten H n
den dort stand, hielt mich zurck. Zuerst mchte ich dir alles
zeigen und dir deine Pflichten erklren.
Oh, sagte ich leise und sprte, wie mich der letzte Fun
ken Energie verlie. Ich bin sehr mde, Tante. Ich mchte
mich einfach nur hinlegen. Darf ich bitte schlafen gehen?
Ja, schon gut. Komm mit. Sie fhrte mich ins Wohnzim
mer, und als wir die Treppe hochstiegen, fiel mir die elegante
Einrichtung auf: der Kronleuchter; ein weies Sofa mit Dut
zenden von Kissen; lgemlde ber dem Kaminsims, ab
strakte Kunst, wie ich spter lernte; groe Scheite, die im Ka
min prasselten. Tante Maruim brachte mich in ihr Zimmer und
erlaubte mir, in ihrem Bett zu schlafen. Das Himmelbett hatte
die Ausmae der Htte meiner Familie, darauf lag eine wun
derschne Daunensteppdecke. Ich strich mit der Hand ber
den seidenen Stoff und geno seine Gltte. Wenn du auf
wachst, zeige ich dir das Haus.
Weckst du mich?
Nein. Bleib liegen, bis du ausgeschlafen bist und von
selbst aufwachst. Ich schlpfte unter die Laken und war
berzeugt, noch nie in meinem Leben etwas so berirdisch
Weiches gefhlt zu haben. Meine Tante schlo leise die Tr,

115

und ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf - fiel in einen


langen, schwarzen Tunnel.

116

9. Das Dienstmdchen

Als ich in dem riesigen Bett in diesem herrlichen Zimmer die


Augen wieder aufschlug, meinte ich immer noch, einen wun
derschnen Traum zu trumen. Zuerst konnte ich kaum gla u
ben, da dies Wirklichkeit sein sollte. Tante Maruim mute in
dieser Nacht bei einem der Kinder geschlafen haben, denn ich
hatte bis zum nchsten Morgen in tiefstem Schlaf in ihrem Bett
gelegen. Doch sobald ich aufgestanden war, wurde ich unsanft
aus den Wolken zurck auf die Erde geholt.
Ich trat aus dem Zimmer meiner Tante im ersten Stock und
wanderte durchs Haus, als sie mich aufstberte. Du bist auf.
Gut. Dann la uns in die Kche gehen, und ich zeige dir, was
du zu tun hast. Benommen folgte ich ihr in den Raum, den
sie Kche nannte, obwohl er ganz und gar nicht der Kche
meiner Tante in Mogadischu hnelte. Glnzende blaue Kera
mikkacheln zierten Boden und Wnde, ringsum standen
cremefarbene Schrnke, der gewaltige Herd in der Mitte hatte
sechs Platten. Meine Tante ffnete und schlo verschiedene
Schubladen und rief: ... hier die Kchengerte, hier das Be
steck, die Geschirrtcher ... Ich hatte keine Ahnung, wovon
diese Frau sprach, keine Vorstellung, wozu man die Dinge
brauchte, die sie mir zeigte, geschweige denn von ihrer Hand
habung. Deinem Onkel servierst du das Frhstck jeden
Morgen um halb sieben, denn er geht schon frh in die Bot
schaft. Er ist Diabetiker, wir mssen peinlich genau darauf

117

achten, da er Dit hlt. Er bekommt immer dasselbe: Kru


tertee und zwei pochierte Eier. Ich nehme den Kaffee um halb
sieben Uhr in meinem Zimmer, danach machst du Pfannk u
chen fr die Kinder. Sie essen Punkt acht, denn sie mssen
um neun Uhr in der Schule sein. Nach dem Frhstck ...
Tante, woher soll ich wissen, wie man das alles macht?
Wer bringt es mir bei? Ich wei nicht, wie man Pfannkuchen
macht. Was sind Pfannkuchen?
Tante Maruim hatte gerade tief Luft geholt und mit dem Arm
auf eine Tr gezeigt, als ich sie unterbrach. Nun hielt sie die
Luft an und starrte mich mit immer noch ausgestreckter Hand
fassungslos an. Dann atmete sie langsam aus und lie den
Arm sinken, bevor sie die Hnde zusammenprete wie ge
stern in der Eingangshalle. Ich zeige es dir, Waris. Aber du
mut mir aufmerksam zusehen. Pa gut auf, hr genau zu und
lerne. Ich nickte, und sie holte wieder tief Luft, um fortzufa h
ren.
Nach der ersten Woche und ein paar kleineren Katastro
phen kannte ich mein Tagespensum in- und auswendig. Und
diesen Tagesablauf behielt ich bei fr die nchsten vier Jahre,
an jedem einzelnen Tag dieser vier Jahre. Whrend Zeit fr
mich bisher keine Bedeutung gehabt hatte, lernte ich jetzt,
nach der Uhr zu leben. Um sechs Uhr Frhstck fr den On
kel, um halb sieben Kaffee fr die Tante, Frhstck fr die
Kinder um acht. Danach machte ich die Kche sauber, w h
rend der Chauffeur mit dem Auto von der Botschaft zurck
kam, wohin er meinen Onkel gefahren hatte, und die Kinder
zur Schule brachte. Dann putzte ich das Zimmer meiner Tante,
ihr Badezimmer, anschlieend jeden anderen Raum im Haus.
Mit Staubwedel, Wischlappen, Scheuerbrste und Politur be
waffnet, kmpfte ich mich durch smtliche vier Stockwerke.
Und wenn ich irgend etwas nicht zur vollsten Zufriedenheit
erledigte, hielt man es mir sofort vor. Mir gefllt nicht, wie das

118

Bad aussieht. Putz es das nchste Mal grndlicher. Diese


weien Kacheln mssen blitzen vor Sauberkeit.
Abgesehen vom Koch und dem Chauffeur war ich die einzi
ge Hausangestellte; meine Tante fand, fr ein kleines Haus
wie ihres wrde eine Kraft vllig reichen. Der Koch bereitete
nur sechsmal in der Woche das Abendessen zu, am Sonntag,
seinem freien Tag, kochte ich. In den vier Jahren dort hatte ich
nicht einen einzigen Tag frei. Die wenigen Male, die ich darum
bat, bekam meine Tante einen solchen Tobsuchtsanfall, da
ich es aufgab.
Ich a nicht mit der Familie zusammen, sondern nahm mir
einfach etwas, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, und
arbeitete durch, bis ich um Mitternacht todmde ins Bett fiel.
Allerdings empfand ich es als keinen groen Verlust, nicht mit
der Familie zu Abend zu essen, denn meiner Meinung nach
waren die vom Koch zubereiteten Speisen kaum geniebar. Er
war zwar auch ein Somali, gehrte aber einem anderen
Stamm an. Und er war ein fauler, verschlagener Wichtigtuer,
der mich gerne qulte. Wann immer meine Tante in die Kche
kam, fing er aus heiterem Himmel an, mit mir zu schimpfen:
Waris, als ich am Montag morgen in die Kche gekommen
bin, war sie ein einziger Saustall. Ich habe Stunden gebraucht,
um aufzurumen. Das war natrlich gelogen. Doch er wollte
vor meiner Tante und meinem Onkel unbedingt gut dastehen,
und er wute, da ihm das mit seinen Kochknsten kaum ge
lingen konnte. Als ich meiner Tante sagte, da mir das Essen
ihres Kochs nicht schmeckte, meinte sie nur: Dann mach dir
einfach was anderes. Wie war ich froh, da ich meiner Cou
sine Fatima in Mogadischu beim Kochen zugesehen hatte.
Aber offenbar war ich in dieser Hinsicht auch ein Naturtalent,
denn neben den verschiedensten Nudelgerichten erfand ich
alle mglichen anderen Speisen. Als die Familienmitglieder
sahen, was ich a, wollten sie etwas davon abhaben. Und
schon bald fragten sie mich, was ich kochen wollte, welche

119

Zutaten vom Markt ich bruchte und so weiter. Das machte


mich beim Koch nicht gerade beliebter. Am Ende meiner er
sten Woche in London war mir auch klar, da mein Onkel und
meine Tante eine ganz andere Vorstellung davon hatten, we l
che Rolle ich in ihrem Haushalt spielen sollte, als ich. Fast
berall in Afrika ist es blich, da reichere Familien die Kinder
ihrer rmeren Verwandten aufnehmen und diese Kinder als
Gegenleistung fr ihren Unterhalt arbeiten. Manchmal sorgen
die Verwandten fr ihre Ausbildung und behandeln sie wie ihre
eigenen Kinder. In anderen Fllen nicht. Offensichtlich hatte
ich gehofft, zur ersten Gruppe zu zhlen, mute jedoch bald
erfahren, da meine Tante und mein Onkel Wichtigeres im
Kopf hatten als die Bildung dieses unwissenden Kindes, das
aus der Wste gekommen war, um als Dienstmdchen bei
ihnen zu arbeiten. Mein Onkel war so von seinem Beruf in An
spruch genommen, da er den huslichen Angelegenheiten
nur wenig Beachtung schenkte. Und meine Tante, die ich in
meiner Phantasie bereits als Mutterersatz gesehen hatte,
trumte offenbar ganz und gar nicht davon, mich als dritte
Tochter anzunehmen. Ich war fr sie nichts weiter als eine Be
dienstete. Nachdem mir diese Tatsache unerbittlich bewut
geworden war, schwand meine Freude, nach London gekom
men zu sein. Die Plackerei meiner langen Arbeitstage tat ein
briges. Ich entdeckte, da meine Tante von Regeln und Vor
schriften geradezu besessen war; alles mute immer genau so
getan werden, wie sie es angeordnet hatte, und zwar genau zu
dem Zeitpunkt, da sie es wnschte, und das Tag fr Tag. Aus
nahmen gab es nicht. Vielleicht hatte sie das Gefhl, in dieser
fremden Kultur, die sich so grundlegend von der unserer Hei
mat unterschied, nach einem festen Regelwerk leben zu ms
sen, um bestehen zu knnen. Doch ich hatte Glck im Unglck
und fand in meiner Cousine Basma in diesem Haus eine
Freundin.

120

Basma, die lteste Tochter meines Onkel und meiner Tante,


war genauso alt wie ich. Sie sah umwerfend aus, und alle
Jungen waren hinter ihr her, doch das kmmerte sie nicht.
Tagsber besuchte sie die Schule, und abends interessierte
sie sich fr nichts anderes als ihre Bcher. Meine Cousine
ging dann in ihr Zimmer, legte sich aufs Bett und las stunden
lang. Hufig war sie von einem Buch so gefesselt, da sie die
Mahlzeiten versumte, und manchmal vergrub sie sich den
ganzen Tag in ihrem Zimmer, bis jemand kam und sie heraus
zerrte.
Wenn ich mich einsam fhlte und langweilte, besuchte ich
sie manchmal in ihrem Zimmer. Ich setzte mich auf die Bett
kante und fragte: Was liest du da? Ohne aufzuschauen,
murmelte sie: La mich in Ruhe. Ich lese ...
Aber ich wrde mich gern mit dir unterhalten.
Ohne den Blick vom Buch zu heben, antwortete sie aus
druckslos und undeutlich wie im Halbschlaf: Worber denn?
Was liest du da?
Hmmmh?
Was du da liest! Wovon handelt es? Wenn ich ihre Auf
merksamkeit endlich errungen hatte, unterbrach sie ihre Lekt
re und erzhlte mir, worum es in dem Buch ging. Meistens wa
ren es Liebesromane, in denen sich - nach den
verschiedensten Irrungen und Wirrungen - der Mann und die
Frau zum krnenden Abschlu endlich kten. Da ich Ge
schichten schon immer sehr geliebt hatte, geno ich diese Mi
nuten mit ihr auerordentlich. Wie gebannt sa ich da, wenn
sie die Handlung mit leuchtenden Augen und lebhaften Gesten
in allen Einzelheiten schilderte, und ich wnschte mir, lesen zu
knnen, denn dann, so malte ich mir aus, knnte ich mich in
Geschichten vertiefen, wann immer ich wollte.
Mamas Bruder, Onkel Abdullah, der auch bei uns im Haus
wohnte, war mit seiner Schwester nach London gekommen,
um die Universitt zu besuchen. Er fragte mich, ob ich nicht

121

zur Schule gehen wollte. Du solltest unbedingt lesen lernen,


Waris. Wenn du willst, helfe ich dir dabei. Er erzhlte mir, wo
die Schule lag, wann der Unterricht stattfand und - am wichtig
sten - da der Besuch kostenlos war. Mir wre von allein nie
der Gedanke gekommen, da ich vielleicht auf eine Schule
gehen knnte. Zwar zahlte mir der Botschafter jeden Monat
ein winziges Taschengeld, das aber ganz sicher nicht fr
Schulgebhren gereicht htte. Aufgeregt ging ich zu Tante
Maruim und sagte ihr, da ich die Schule besuchen und Eng
lisch lesen, schreiben und sprechen lernen wollte. Wir lebten
zwar in London, doch zu Hause unterhielten wir uns in Somali,
und da ich keinen Kontakt zur Auenwelt hatte, kannte ich nur
wenige Wrter Englisch.
Meine Tante antwortete: Ich werde darber nachdenken.
Doch als sie die Angelegenheit mit meinem Onkel besprach,
sagte er nein. Immer wieder bettelte ich, mich doch zur Schule
gehen zu lassen, aber meine Tante wollte sich nicht mit mei
nem Onkel anlegen. Schlielich entschied ich mich, ohne ihre
Erlaubnis hinzugeben. Der Unterricht fand an drei Abenden in
der Woche statt, jeweils von neun bis elf Uhr. Onkel Abdullah
willigte ein, mir zu zeigen, wie ich hinkam, und mich beim er
sten Mal zu begleiten. Inzwischen war ich etwa fnfzehn Jahre
alt, doch ich hatte noch niemals ein Klassenzimmer von innen
gesehen. In dem Raum waren Menschen aller Altersgruppen
und aus allen Teilen der Welt versammelt. Nach dem ersten
Abend holte mich immer ein alter Italiener ab, wenn ich mich
aus dem Haus meines Onkels schlich, und brachte mich nach
dem Unterricht wieder heim. Ich war so eifrig bei der Sache,
da die Lehrerin sagte: Du bist eine gute Schlerin, Waris,
aber immer mit der Ruhe. Doch nachdem ich das Alphabet
gelernt und gerade die ersten Grundkenntnisse der englischen
Sprache erworben hatte, kam mein Onkel dahinter, da ich
abends das Haus verlie. Wtend, da ich mich seiner Anord
nung widersetzt hatte, machte er meinen Schulbesuchen

122

schon nach wenigen Wochen ein Ende. Mir war es nun zwar
nicht mehr mglich, am Unterricht teilzunehmen, doch ich
borgte mir die Bcher meiner Cousine und versuchte, mir das
Lesen selbst beizubringen. Ich durfte auch nicht mit der Fami
lie fernsehen, aber manchmal lungerte ich vor der Tr herum
und versuchte, mir die englische Satzmelodie einzuprgen.
Alles ging weiter seinen normalen Gang, bis mich Tante Ma
ruim eines Tages, als ich beim Putzen war, zu sich rief: Wa
ris, wenn du oben fertig bist, komm doch bitte mal zu mir. Ich
habe dir etwas zu sagen. Ich war gerade in den Schlafzim
mern, und als ich die Betten gemacht hatte, ging ich zu ihr ins
Wohnzimmer hinunter. Meine Tante stand am Kamin.
Ja?
Ich habe heute einen Anruf von zu Hause bekommen.
hm ... wie hie noch mal dein kleiner Bruder?
All?
Nein, der jngste, der Kleine mit den grauen Haaren?
Der Alte Mann? Du meinst den Alten Mann?
Ja. Der Alte Mann und deine groe Schwester Aman. Es
tut mir leid. Sie sind beide gestorben. Ich konnte nicht gla u
ben, was ich da hrte. Bestrzt starrte ich meine Tante an.
Bestimmt scherzte sie. Oder sie war wegen irgend etwas bse
auf mich und wollte mich mit dieser schrecklichen Nachricht
bestrafen. Doch ihre Miene blieb ausdruckslos und gab keinen
Aufschlu. Offensichtlich meint sie es ernst, warum sonst
sollte sie das sagen? Aber wie war das mglich? Wie verstei
nert blieb ich stehen, dann gaben meine Beine unter mir nach,
und ich sank auf das weie Sofa. Ich dachte nicht einmal dar
an, zu fragen, was geschehen war. Meine Tante htte es mir
vielleicht erzhlt, htte mir das furchtbare Geschehen vielleicht
erklren knnen, aber in meinem Kopf herrschte eine drh
nende Leere. Benommen stand ich wieder auf und ging mit
steifen Beinen in mein winziges Zimmer im dritten Stock, das
ich mit meiner kleinen Cousine teilte.

123

Fassungslos blieb ich den Rest des Tages auf meinem Bett
unter der Dachtraufe liegen. Der Alte Mann und Aman tot! Wie
war das nur mglich? Ich war aus Somalia fortgegangen und
hatte mich damit der Mglichkeit beraubt, mehr Zeit mit mei
nem Bruder und meiner Schwester zu verbringen. Und jetzt
wrde ich die beiden nie wiedersehen! Aman, die doch immer
so stark gewesen war! Und der weise Alte Mann! Nie wre mir
in den Sinn gekommen, da die beiden sterben knnten
doch wenn sie tot waren, wie ging es dann dem Rest der Fa
milie, denen mit weniger Kraft und Wissen?
An diesem Abend entschlo ich mich, nicht mehr lnger zu
leiden. Seit ich an jenem Morgen von meinem Vater wegge
laufen war, hatte sich in meinem Leben nichts so entwickelt
wie ursprnglich erhofft. Das war inzwischen zwei Jahre her,
und ich vermite schmerzlich das Gefhl von Nhe, das mir
meine Familie gegeben hatte. Da nun zwei meiner engsten
Angehrigen aus dieser Welt geschieden waren, war mehr, als
ich ertragen konnte. Ich ging hinunter in die Kche, ffnete
eine Schublade und nahm ein Fleischermesser heraus. Mit
dem Messer in der Hand schlich ich mich wieder nach oben in
mein Zimmer. Doch whrend ich dalag und versuchte, genug
Mut zu sammeln, um mich umzubringen, dachte ich an meine
Mutter. Die arme Mama. Ich hatte in dieser Woche zwei liebe
Menschen verloren, fr sie jedoch wren es drei. Das erschien
mir so ungerecht, da ich das Messer auf den Nachttisch legte
und an die Decke starrte. Als meine Cousine Basma spter
hereinkam, um nach mir zu sehen, hatte ich das Messer be
reits vergessen. Sie jedoch sah es entsetzt an. Was zum
Teufel ist denn das? Wozu brauchst du hier ein Messer? Ich
versuchte erst gar nicht zu antworten, sondern blickte nur
weiter zur Decke hoch. Basma nahm das Messer und verlie
das Zimmer.
Ein paar Tage spter rief mich meine Tante erneut: Waris!
Komm herunter! Ich blieb liegen, als htte ich sie nicht ge

124

hrt. Waris! Komm herunter! Ich ging nach unten und sah
sie am Fu der Treppe stehen. Beeil dich! Telefon! Das
verblffte mich, denn ich bekam niemals Anrufe. Ja, ich hatte
noch nie in meinem Leben telefoniert.
Fr mich? fragte ich leise.
Ja, ja. Sie zeigte auf den Hrer, der auf dem Tischchen
lag. Nimm ihn, nimm den Hrer in die Hand!
Ich hob den Hrer auf und betrachtete ihn, als wollte er
mich beien. Aus etwa dreiig Zentimetern Entfernung fl
sterte ich: Ja?
Tante Maruim blickte zur Decke. Sprich! Sag etwas ... in
den Apparat hinein! Sie drehte den Hrer richtig herum und
drckte ihn mir ans Ohr.
Hallo? Da hrte ich eine Stimme, mit der ich nun ber
haupt nicht gerechnet hatte: Es war meine Mutter. Mama,
Mama! O Gott, bist du es wirklich? Zum ersten Mal seit Ta
gen konnte ich wieder lcheln. Mama, wie geht es dir? Bist
du gesund?
Nein. Ich habe unter dem Baum gewohnt. Sie erzhlte
mir, da sie nach dem Tod meiner beiden Geschwister vllig
von Sinnen gewesen war. Ich war zutiefst dankbar, da ich
mich nicht umgebracht und dadurch ihren Kummer noch ver
grert hatte. Meine Mutter war in die Wste gerannt, um al
lein zu sein; sie hatte keine Menschenseele sehen und mit
niemandem sprechen wollen. Dann hatte sie sich allein nach
Mogadischu aufgemacht und ihre Familie besucht. Sie wohnte
bei Tante Sahru, von dort aus rief sie auch an.
Mama versuchte, mir zu erklren, was geschehen war, aber
fr mich ergab das alles keinen Sinn. Der Alte Mann war krank
geworden. Wie bei den meisten Nomaden in Afrika gab es
auch bei uns keine medizinische Versorgung; niemand wute,
was ihm fehlte und was man dagegen htte tun knnen. In
dieser Gesellschaft hatte man nur zwei Mglichkeiten: Man
blieb am Leben oder man starb - ein Dazwischen gab es nicht.

125

Solange jemand lebte, war alles bestens. Wir zerbrachen uns


nicht den Kopf wegen irgendwelchen Krankheiten, denn ohne
rzte und ohne Medizin waren unsere Mglichkeiten sowieso
beschrnkt. Und wenn jemand starb, nun, dann war das
ebenfalls in Ordnung, fr die anderen wrde das Leben wei
tergehen. Bei uns galt das Prinzip In'schallah: So Gott will ...
Das Leben war ein Geschenk, und der Zeitpunkt des Todes
lag in Gottes Hand.
Doch als der Alte Mann krank wurde, bekamen meine Eltern
Angst, denn er war immer anders gewesen als die anderen.
Weil ihr nichts Besseres einfallen wollte, schickte Mama einen
Boten zu Aman nach Mogadischu und bat sie um Hilfe. Aman,
die Starke, wrde wissen, was zu tun war. Was auch stimmte.
Zu Fu brach Aman aus Mogadischu auf, um den Alten Mann
zu holen und zu einem Arzt zu bringen. Wo meine Familie da
mals lagerte und wie weit das von der Hauptstadt entfernt war,
wei ich nicht. Mama hatte allerdings nicht ahnen knnen, da
Aman im achten Monat schwanger war. Der Alte Mann starb in
Amans Armen, whrend sie ihn ins Krankenhaus trug. Meine
Schwester erlitt einen schweren Schock, und sie starb nur we
nige Tage spter und mit ihr das ungeborene Kind. Ich wei
nicht einmal genau, wo und wann sie starben. Als Mama das
erfuhr, brach sie, die immer so unerschtterlich gewesen war,
zusammen. Da sie es war, die unsere Familie zusammenhielt,
wagte ich nicht, mir auszumalen, wie es den anderen jetzt er
ging. Mehr denn je fhlte ich mich in London gefangen. Wie
furchtbar, da ich Mama nicht helfen konnte, obwohl sie mich
doch dringend brauchte.
Aber das Leben ging weiter, und ich versuchte, es in vollen
Zgen zu genieen. Wenn ich nicht mit der Hausarbeit be
schftigt war, alberte ich mit meinen Cousins und Cousinen
und deren Freunden herum.

126

Eines Abends bat ich Basma, mir bei meinem ersten Auftritt
als Model zu assistieren. Seit meiner Ankunft in London hatte
ich eine groe Schwche fr Kleider entwickelt. Nicht da ich
sie besitzen wollte, nein, ich probierte sie einfach nur gerne
an. Es war wie Theaterspielen, ich konnte dann sozusagen in
eine andere Haut schlpfen. Whrend die Familie vor dem
Fernsehapparat sa, ging ich in Onkel Mohammeds Zimmer
und schlo die Tr hinter mir. Dann ffnete ich seinen Wand
schrank und nahm einen seiner guten Anzge aus marine
blauer Schurwolle mit Nadelstreifen heraus. Ich legte ihn zu
sammen mit einem weien Hemd, einer Seidenkrawatte,
dunklen Socken, eleganten schwarzen englischen Schuhen
und einem Filzhut aufs Bett, dann zog ich die Sachen Stck fr
Stck an. Zum Schlu nestelte ich an der Krawatte, um einen
Knoten zu binden, wie ich ihn bei meinem Onkel gesehen
hatte. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, zog ich los und suchte
Basma, die sich vor Lachen kugelte.
Geh und sag deinem Vater, da ihn ein Mann sprechen
mchte.
Sind das seine Sachen? O Gott, er wird dich umbringen...
Geh schon.
Ich wartete in der Eingangshalle und spitzte die Ohren, um
den richtigen Augenblick fr meinen groen Auftritt abzupas
sen. Vater, sagte Basma, drauen ist ein Mann und will
dich sprechen.
So spt am Abend? Onkel Mohammed klang ungehalten.
Wie heit er? Und was will er? Kennst du ihn? hm, ich
wei nicht, stammelte Basma. Ja, ich glaube, ich habe ihn
schon mal gesehen.
Nun, dann sag ihm ...
Warum gehst du nicht kurz raus? unterbrach sie ihren
Vater. Er steht direkt vor der Tr.
Na gut, sagte mein Onkel lustlos. Das war mein Stich
wort. Ich zog den Hut so weit ber die Augen, da ich kaum

127

noch etwas sehen konnte, steckte die Hnde in die Jacketta


schen und stolzierte ins Zimmer.
Erinnerst du dich nicht mehr an mich? fragte ich mit tiefer
Stimme. Meinem Onkel traten fast die Augen aus dem Kopf,
und er bckte sich, um unter den Hut zu linsen. Als er ent
deckte, um wen es sich handelte, brach er in schallendes Ge
lchter aus. Auch meine Tante und die brigen Familienmit
glieder brllten vor Lachen.
Onkel Mohammed drohte mir mit dem Finger: Habe ich dir
etwa erlaubt ... ?
Ich mute es einfach anprobieren, Onkel. Sieht das nicht
lustig aus?
Bei Allah, ja.
Ich wiederholte diesen Auftritt noch ein paarmal, lie dazwi
schen jedoch immer so viel Zeit verstreichen, da mein Onkel
stets aufs neue berrascht war. Jetzt reicht es aber, Waris.
Hr auf, meine Sachen anzuziehen. La die Finger davon,
verstanden? schimpfte er jedesmal. Zwar meinte er das
ernst, doch ich wute, da er das Ganze im Grunde auch sehr
lustig fand. Spter hrte ich, wie er es lachend seinen Freun
den erzhlte: Da geht doch dieses Mdchen in mein Zimmer
und probiert meine Sachen an. Und Basma kommt zu mir und
sagt: >Vater, da ist ein Mann, der dich sprechen will.< Dann
spaziert sie hier herein, von Kopf bis Fu in meinen Sachen.
So etwas habt ihr noch nicht gesehen...
Die Freundinnen meiner Tante schlugen ihr vor, ich sollte es
doch mal als Model probieren. Doch sie hielt ihnen entgegen:
Mmmmh. Wit ihr, wir Somalis sind Moslems und tun so et
was nicht. Andererseits hatte Tante Maruim aber anschei
nend nichts gegen die Model-Karriere von Iman, der Tochter
einer guten Freundin, einzuwenden. Sie kannte Imans Mutter
schon seit vielen Jahren, und wann immer sie oder ihre Toch
ter in London waren, bestand meine Tante darauf, da sie bei
uns wohnten. Die Gesprche ber Iman brachten mich zum

128

ersten Mal auf den Gedanken, selbst als Model zu arbeiten.


Aus den Zeitschriften meiner Cousine schnitt ich Imans Bilder
aus und tapezierte damit die Wnde in meinem kleinen Zim
mer. Wenn sie als Somali-Frau das konnte, berlegte ich,
warum dann nicht auch ich?
Und so suchte ich, wann immer Iman zu Besuch kam, die
Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Ich wollte sie fragen, wie ich
Model werden konnte, denn bisher wute ich ja nur, da es so
etwas gab. Davon, wie man es wurde, hatte ich keine Ahnung.
Aber Iman verbrachte bei ihren Besuchen die Abende im Ge
sprch mit den Erwachsenen, und ich wute, da meine Tante
und mein Onkel sehr unwirsch reagieren wrden, sollte ich es
wagen, mich in ihre Unterhaltung einzumischen und solchen
Unsinn zu fragen. Aber schlielich fand sich eines Abends
doch noch ein gnstiger Moment. Iman war in ihrem Zimmer
und las, als ich an die Tr klopfte: Kann ich dir vor dem Zu
bettgehen noch etwas bringen?
Ja, ich htte gern eine Tasse Krutertee. Ich ging hinun
ter in die Kche und kehrte mit einem Tablett zurck. Whrend
ich es auf den Nachttisch stellte, nahm ich all meinen Mut zu
sammen. Ich habe viele Bilder von dir in meinem Zimmer
aufgehngt. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte, und ich kam
mir vor wie der letzte Idiot. Ich wrde auch gern als Model
arbeiten. Ist es ein schwerer Beruf ... was tut man da ... wie
hast du damit angefangen?
Was ich als Antwort von ihr erwartete, wei ich nicht; viel
leicht hoffte ich, sie wrde einen Zauberstab zur Hand nehmen
und mich armes Aschenbrdel in eine Prinzessin verwandeln.
Doch in jenen Tagen war der Modelberuf fr mich nichts ande
res als ein ferner Wunschtraum, und ich beschftigte mich
nicht weiter damit. Statt dessen ging ich Tag fr Tag weiter
meinen Pflichten im Haushalt nach, ich machte Frhstck,
kochte Mittagessen, splte Geschirr und saugte Staub.

129

Inzwischen war ich etwa sechzehn und lebte nun schon seit
zwei Jahren in London. Und ich hatte mich soweit an die Ge
pflogenheiten der westlichen Welt angepat, da ich wute,
welches Jahr wir schrieben: 1983.
Im Sommer diesen Jahres starb Onkel Mohammeds
Schwester in Deutschland und hinterlie eine kleine Tochter.
Sophie kam zu uns, und mein Onkel meldete sie in der All
Souls Church School an. Nun mute ich morgens neben allem
anderen auch noch Sophie in die ein paar Straen entfernt
liegende Schule bringen.
Ich hatte sie erst ein paarmal zu dem alten Backsteinge
bude begleitet, als mir eines Morgens ein merkwrdiger
Mann auffiel, der mich unverhohlen musterte. Er war ein Wei
er, etwa vierzig Jahre alt, und trug einen Pferdeschwanz. Der
Mann gab sich gar keine Mhe zu verbergen, da er mich an
starrte, sondern musterte mich im Gegenteil ziemlich unverfro
ren. Sobald Sophie durch die Tr verschwunden war, trat er
auf mich zu und sprach mich an. Natrlich konnte ich noch
immer kaum Englisch und hatte daher keine Ahnung, was er
sagte. Ich wich seinem Blick aus und rannte verngstigt nach
Hause. Aber so ging es nun Tag fr Tag: Ich brachte Sophie
zum Eingang, der weie Mann wartete auf mich und versuc h
te, mit mir zu sprechen, und ich rannte weg.
Nachmittags erzhlte mir Sophie auf dem Heimweg von der
Schule oft von ihrer neuen Freundin, die in die gleiche Klasse
ging. Ja, mmmh, murmelte ich desinteressiert. Doch eines
Tages versptete ich mich ein bichen, und als ich endlich
kam, um Sophie abzuholen, spielte sie vor dem Schulgebude
mit einem kleinen Mdchen. Waris, das ist meine Freundin,
sagte Sophie stolz. Neben den beiden Mdchen stand der
Perverse mit dem Pferdeschwanz, der mich jetzt schon seit
fast einem Jahr nervte.
Komm, la uns gehen, meinte ich nervs und schielte
mitrauisch zu dem Mann hinber. Doch er bckte sich und

130

sagte etwas zu Sophie, die Englisch, Deutsch und Somali


sprach. Komm endlich, Sophie, geh weg von dem Mann,
ermahnte ich sie und nahm ihre Hand.
Sie drehte sich zu mir und sagte frhlich: Er will wissen, ob
du Englisch sprichst. Dann wandte sie sich wieder an den
Mann und schttelte den Kopf. Er sagte noch etwas, und So
phie bersetzte: Er mchte dich etwas fragen.
Sag ihm, da ich nicht antworten werde, erwiderte ich
hochnsig und sah in die entgegengesetzte Richtung. Er soll
verschwinden. Er soll ... Ich beschlo, diesen Satz in Ge
genwart des anderen Mdchens lieber unvollendet zu lassen,
denn Sophie wrde ihn sicher sofort bersetzen. Ach, schon
gut. Jetzt komm endlich. Und ich packte sie an der Hand und
zog sie fort.
Kurz nach dieser Begegnung lieferte ich Sophie wie immer
morgens am Schultor ab und ging dann nach Hause zurck.
Als ich gerade oben putzte, klingelte es an der Tr. Rasch lief
ich die Treppe hinunter, doch Tante Maruim war schneller als
ich und hatte die Tr schon geffnet, als ich erst am oberen
Treppenabsatz war. Ich lugte durch die Ritzen im Gelnder
und traute meinen Augen nicht: Vor der Tr stand Mr. Pferde
schwanz. Er mute mir gefolgt sein. Zunchst frchtete ich,
da er sich irgendwelche Lgengeschichten ausgedacht hatte,
um mich bei meiner Tante anzuschwrzen: da ich mit ihm
geschkert oder mit ihm geschlafen htte oder da er mich
beim Stehlen erwischt htte, etwas in der Art. In ihrem fliee n
den Englisch fragte ihn meine Tante: Sie wnschen?
Mein Name ist Malcolm Fairchild. Entschuldigen Sie die
Strung, aber drfte ich bitte kurz mit Ihnen sprechen?
Worum geht es? Ich sah, wie berrascht meine Tante
war. Mir wurde ganz schlecht, als ich wieder nach oben ging
und mir berlegte, was er ihr sagen wrde. Doch schon zwei
Sekunden spter hrte ich die Tr ins Schlo fallen. Ich rannte
ins Wohnzimmer, als Tante Maruim in die Kche strmte.

131

Tante, wer war das?


Ich wei nicht. Irgendein Mann, der behauptet hat, er wre
dir nachgegangen, weil er mit dir sprechen wollte. Er hat ir
gendwelchen Unfug davon erzhlt, da er dich fotografieren
will. Sie funkelte mich bse an.
Tante, ich kann nichts dafr. Ich habe nie ein Wort mit ihm
gewechselt.
DAS WEISS ICH! Deshalb ist er ja hergekommen! Sie
ging an mir vorbei. Geh wieder an deine Arbeit, und zerbrich
dir nicht den Kopf darber. Ich werde mich darum kmmern.
Da mir Tante Maruim partout nicht mehr erzhlen wollte und
zugleich so wtend und angeekelt reagierte, nahm ich an, da
der Mann irgendwelche unanstndigen Fotos machen wollte.
Entsetzt brachte ich den Vorfall nie wieder zur Sprache.
Zwar sah ich den Mann auch weiterhin allmorgendlich an
der All Souls Church School, doch er sprach mich nicht mehr
an und lchelte nur hflich, ohne sich weiter um mich zu km
mern. Bis er zu meinem groen Schrecken eines Tages auf
mich zukam, als ich Sophie abholte, und mir eine Karte gab.
Ich starrte ihn an, whrend ich die Karte nahm und in die Ta
sche steckte. Als er kehrtmachte und fortging, schickte ich ihm
in Somali einen Fluch hinterher: Hau ab, du Mistkerl - du
dreckiges Schwein!
Zu Hause rannte ich nach oben; die Kinder schliefen alle in
den obersten Stockwerken, hier strten uns keine Erwachse
nen. Ich ging ins Zimmer meiner Cousine und unterbrach sie
wie immer beim Lesen. Basma, schau mal, sagte ich und
angelte die Karte aus meiner Tasche. Die ist von dem Mann,
von dem ich dir erzhlt habe. Erinnerst du dich? Der mir nach
gestellt hat und einmal sogar hierhergekommen ist. Er hat mir
vorhin diese Karte gegeben. Was steht da drauf?
Da er Fotograf ist.
Was fr ein Fotograf?
Na, einer, der Bilder macht.

132

Ja, aber was fr Bilder?


Hier steht: Modefotograf.
Modefotograf, wiederholte ich langsam. Du meinst, er
fotografiert Kleider? Er will mich in Kleidern fotografieren?
Keine Ahnung, Waris, seufzte sie. Ich wei es wirklich
nicht. Es war nicht zu bersehen, da ich ihr auf die Nerven
ging und sie endlich weiterlesen wollte. Also stand ich auf,
nahm die Karte und ging.
Aber ich versteckte die Karte des Modefotografen in mei
nem Zimmer. Eine innere Stimme sagte mir, da ich sie viel
leicht noch einmal brauchen knnte.
Meine Cousine Basma war die einzige, die mir Ratschlge
gab und immer fr mich da war. Und als ich wegen ihres Bru
ders Haji Hilfe brauchte, war ich ihr dafr dankbarer denn je.
Haji war mit seinen vierundzwanzig Jahren der lteste Sohn
meines Onkels. Er galt als sehr intelligent, und wie mein Onkel
Abdullah besuchte er in London die Universitt. Seit meinem
ersten Tag hier im Haus war Haji immer freundlich zu mir ge
wesen. Als ich einmal oben putzte, fragte er mich: He, Waris,
bist du mit dem Bad fertig?
Nein, antwortete ich, aber geh ruhig rein. Ich putz es
dann spter.
Nein, nein ... ich hab mir nur berlegt, ob du vielleicht Hilfe
brauchst. Oder er sagte: Ich hole mir etwas zu trinken.
Mchtest du auch etwas? Mir gefiel es, da sich mein Cousin
ein bichen um mich kmmerte. Wir unterhielten uns oft und
alberten herum.
Manchmal stand er vor der Tr, wenn ich aus dem Bade
zimmer kam, und versperrte mir den Weg. Ich versuchte, mich
unter ihm durchzuducken, aber er reagierte schnell und lie
mich nicht vorbei. Wenn ich ihn dann wegschubsen wollte und
schimpfte: La mich durch, du Schuft, lachte er nur. Diese
Neckereien hrten nicht auf, und ich war verwirrt, obwohl ich

133

versuchte, sie als alberne Spe abzutun. Etwas an Hajis


Verhalten beunruhigte mich: Er sah mich oft merkwrdig ver
trumt an, und er stand manchmal auch zu dicht neben mir.
Doch obwohl mir dies unangenehm war, ermahnte ich mich
stets: Stell dich nicht so an, Waris. Haji ist mehr oder weniger
dein Bruder. Du bildest dir da etwas ein.
Eines Tages kam ich wieder einmal mit meinem Putzeimer
und den Wischlappen aus dem Bad, und Haji stand vor mir.
Doch diesmal packte er mich am Arm und drckte sich an
mich. Sein Gesicht war nur Millimeter von meinem entfernt.
Was soll das?
Nervs lachte ich auf.
Ach, nichts, gar nichts. Rasch lie er mich los, und ich
ging mit dem Eimer in der Hand ins nchste Zimmer, als sei
nichts geschehen. Doch meine Gedanken berschlugen sich.
Nach diesem Zwischenfall fragte ich mich nicht mehr, ob ir
gend etwas nicht stimmte. Ich wute es. Ich wute, da hier
etwas ganz gewaltig stank.
In der nchsten Nacht lag ich wie immer in meinem Zimmer
und schlief, und auch meine Cousine Shukree, Basmas kleine
Schwester, schlummerte schon lange in ihrem Bett. Doch ich
habe einen sehr leichten Schlaf, und so hrte ich gegen drei
Uhr morgens jemanden die Treppe heraufstolpern. Ich nahm
gleich an, da es Haji war, denn sein Zimmer lag schrg ge
genber von meinem. Er kam erst jetzt nach Hause, und an
seinem unsicheren Gang hrte ich, da er wohl getrunken
hatte. Ein solches Betragen war im Haus meines Onkels ver
pnt, niemand durfte um diese Uhrzeit nach Hause kommen,
und betrunken schon gar nicht. Sie waren strengglubige
Moslems, und Alkohol zu trinken war strikt verboten. Aber Haji
wollte wohl zeigen, da er alt genug und sein eigener Herr
war.
Leise ffnete sich die Tr zu meinem Zimmer, und ich
spannte alle Muskeln an. Unsere beiden Betten standen ein

134

paar Schritte von der Tr entfernt auf einem Podest. Ich


konnte sehen, wie Haji auf Zehenspitzen die Stufen her
aufschlich, um meine kleine Cousine nicht zu wecken, die n
her an der Tr schlief. Aber er verfehlte eine Stufe und sto l
perte, dann krabbelte er auf allen vieren zu meinem Bett
hinber. In dem schwachen Licht, das durch das Fenster hin
ter ihm ins Zimmer drang, sah ich, wie er mit langem Hals in
der Dunkelheit mein Gesicht suchte. He, Waris, flsterte er.
Waris ... Er hatte eine Schnapsfahne, was meinen Verdacht,
da er betrunken war, besttigte. Reglos blieb ich in der Dun
kelheit liegen und tat, als ob ich schliefe. Er streckte die Hand
aus und tastete auf meinem Kissen nach meinem Gesicht. Oh,
mein Gott, dachte ich, bitte la es nicht wahr sein. Ich
schnaubte laut und warf mich auf die Seite, als ob ich trumte;
dabei versuchte ich, so viel Lrm zu machen, da Shukree
aufwachte. Haji verlie der Mut, und er huschte leise in sein
Zimmer hinber.
Am nchsten Tag ging ich zu Basma. Ich mu mit dir re
den. Ein Blick in mein verngstigtes Gesicht gengte ihr, um
zu wissen, da dies keiner meiner blichen Besuche nur zum
Zeitvertreib war.
Komm rein, und mach die Tr zu.
Es geht um deinen Bruder, fing ich an und holte tief Luft.
Aber ich wute nicht, wie ich es ihr sagen sollte, und konnte
nur beten, da sie mir glaubte.
Was ist mit ihm? fragte Basma erschrocken. Er ist heute
nacht in mein Zimmer gekommen. Um drei Uhr, es war noch
stockfinster.
Was hat er da getan?
Er wollte mein Gesicht berhren. Und er hat meinen Na
men geflstert.
O nein! Bist du sicher? Du hast es nicht nur getrumt?
Basma! Ich seh doch, wie er mich anschaut, vor allem, wenn
ich allein mit ihm bin. Aber ich wei nicht, was ich tun soll.

135

Scheie ... SCHEISSE! Leg dir 'neu verdammten Kricket


schlger unters Bett. Oder einen Besen. Nein. Hol dir das Nu
delholz aus der Kche, und zieh es ihm ber den Schdel,
wenn er noch mal nachts in dein Zimmer kommt. Und weit
du, was du noch tun solltest, fgte sie hinzu. Schrei! Schrei,
so laut du kannst, damit dich alle hren. Dem Himmel sei
Dank, das Mdchen war auf meiner Seite.
Den ganzen Tag ber betete ich: Bitte, la nicht zu, da
ich so etwas Schreckliches tun mu. Bitte, er soll es einfach
nie wieder machen. Ich wollte niemanden in Schwierigkeiten
bringen. Und ich hatte auch Angst, da Haji seinen Eltern ir
gendwelche Lgen auftischen wrde, um sich reinzuwaschen,
und da sie mich dann aus dem Haus werfen wrden. Ich
wnschte mir einfach, da er mit all dem aufhrte - keine
Spielchen mehr, keine nchtlichen Besuche, kein Grapschen.
Denn mir schwante, worauf das hinauslief, und mir wurde ganz
schlecht dabei. Mein Gefhl riet mir allerdings, mich fr den
Kampf zu wappnen, falls meine Gebete nicht erhrt wurden.
Also ging ich abends in die Kche, holte das Nudelholz und
schmuggelte es in mein Zimmer, wo ich es unter dem Bett
versteckte. Nachdem meine kleine Cousine eingeschlafen war,
zog ich es heraus und legte es neben mich. Den Griff behielt
ich in der Hand. Es wiederholte sich, was die Nacht zuvor ge
schehen war: Haji kam gegen drei Uhr morgens herein. Er
blieb in der Tr stehen, und in seinen Brillenglsern spiegelte
sich das Licht der Dielenlampe. Ich beobachtete ihn aus den
Augenwinkeln. Er schlich zu meinem Kopfende und tippte mir
dann auf den Arm. Sein Atem stank so stark nach Whisky, da
ich beinahe wrgen mute, aber ich blieb ganz still liegen. Haji
kniete sich neben mein Bett und tastete nach einem Zipfel der
Decke, lie seine Hand daruntergleiten und wanderte an mei
nem Bein den Schenkel entlang bis hinauf zu meinem
Schlpfer.

136

Ich mu ihm die Brille kaputtmachen, berlegte ich, dann


habe ich zumindest einen Beweis, da er im Zimmer war. Fest
umschlo ich den Griff des Nudelholzes, dann schlug ich es
ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Ein dumpfes Krachen, und ich
schrie: VERSCHWINDE AUS MEINEM ZIMMER, DU VER
DAMMTER ...
Shukree fuhr auf. Was ist los? kreischte sie. Sekunden
spter hrte man im ganzen Haus Schritte, die rasch nher
kamen. Weil ich Haji die Brille zerbrochen hatte, konnte er
kaum etwas sehen und krabbelte deshalb auf allen vieren in
sein Zimmer zurck. Angezogen legte er sich ins Bett und
stellte sich schlafend.
Basma kam herein und knipste das Licht an. Obwohl sie
eingeweiht war, spielte sie die berraschte: Was ist denn hier
los?
Shukree erklrte: Haji war hier. Er ist auf dem Boden her
umgekrochen.
Als Tante Maruim im Morgenmantel ins Zimmer rauschte,
schrie ich: Tante, Haji war hier im Zimmer. Er war in meinem
Zimmer, gestern nacht auch schon! Und ich habe ihn geschla
gen. Dabei zeigte ich auf Hajis zerbrochene Brille, die neben
meinem Bett auf dem Boden lag.
Pscht, sagte sie streng. Davon will ich jetzt nichts hren.
Ihr alle geht wieder in eure Zimmer. Los, marsch ins Bett.

137

10. Endlich frei

Nach der Nacht, in der ich Haji das Nudelholz ins Gesicht
geschlagen hatte, erwhnte niemand im Haus jemals wieder
diesen Vorfall. Ich htte glauben knnen, seine nchtlichen
Besuche seien nur ein Alptraum gewesen, wre da nicht eine
groe Vernderung eingetreten. Denn von nun an starrte mich
Haji, wenn wir uns auf dem Gang begegneten, nicht mehr
schmachtend an. Statt dessen sprach jetzt blanker Ha aus
seinen Augen. Ich war dankbar, da mein Gebet erhrt wor
den war und dieses unangenehme Kapitel in meinem Leben
ein Ende gefunden hatte. Doch schon bald stand mir eine
neue Sorge bevor.
Onkel Mohammed kndigte an, die Familie werde in einigen
Wochen nach Somalia zurckkehren. Seine vierjhrige Amts
zeit als somalischer Botschafter war abgelaufen, und wir wr
den nun wieder nach Hause fahren. Bei meiner Ankunft da
mals waren mir vier Jahre wie eine Ewigkeit vorgekommen,
aber nun konnte ich nicht fassen, da diese Zeit schon vorbei
sein sollte. Leider konnte ich mich ber die baldige Rckkehr
nach Somalia nicht recht freuen. Ich wollte nmlich als wohl
habende und erfolgreiche Frau heimkehren, eben so, wie es
sich jeder Afrikaner ertrumt, der aus einem reichen Land wie
Grobritannien in seine Heimat zurckkehrt. In einem armen
Land wie meinem suchen die Menschen stndig nach einem
Ausweg aus ihrer Misere und tun alles dafr, um nach Saudi

138

Arabien oder Europa oder in die USA zu kommen, damit sie


dort Geld verdienen und so ihre notleidenden Familien unter
sttzen knnen.
Nun stand ich kurz davor, nach vier Jahren im Ausland
heimzukehren - mit leeren Hnden. Was sollte ich erwidern,
wenn sie mich zu Hause fragten, was ich erreicht hatte? Sollte
ich denn zu meiner Mutter sagen, ich htte gelernt, wie man
Pasta zubereitet? Wenn ich erst wieder zu Hause war und mit
den Kamelen umherzog, wrde ich wahrscheinlich nie wieder
Pasta zu Gesicht bekommen. Und sollte ich meinem Vater
etwa erzhlen, ich htte gelernt, wie man eine Toilette
schrubbt? Wie bitte? Was ist denn eine Toilette? wrde er
fragen. Ja, aber Geld, Bares - damit konnte er etwas anfan
gen, das verstand jeder. Und davon hatte meine Familie nie
viel besessen.
Zwar hatte ich bis zu der Zeit, als meine Tante und mein
Onkel nach Somalia zurckkehren wollten, von meinem Lohn
als Hausmdchen ein wenig zur Seite gelegt, was bei der mi
serablen Bezahlung nicht einfach gewesen war. Ich trumte
jedoch davon, so viel zu verdienen, da ich meiner Mutter ein
Haus kaufen konnte - dann mte sie nicht mehr stndig um
herziehen und sich so abplagen, um berleben zu knnen.
Das ist kein Hirngespinst, auch wenn es vielleicht so klingt,
denn aufgrund des Wechselkurses htte ich in Somalia schon
fr ein paar Tausend Dollar ein Haus erwerben knnen. Das
war mein Ziel, und deshalb hatte ich mir von Anfang an vorge
nommen, so lange in England zu bleiben, bis ich gengend
Geld zusammen htte. Denn wenn ich dieses Land erst einmal
verlie, wrde ich bestimmt nie mehr zurckkommen. Wie ich
das allerdings schaffen sollte, wute ich nicht. Aber ich war
zuversichtlich, da sich irgendwie auf glckliche Weise eine
Mglichkeit ergeben wrde, sobald ich nicht mehr wie eine
Sklavin fr meine Tante und meinen Onkel schuften mute.
Die beiden waren mit meinem Vorhaben jedoch nicht einve r

139

standen. Was um alles in der Welt willst du denn hier tun?


schimpfte meine Tante. Ein achtzehnjhriges Mdchen, ohne
ein Dach ber dem Kopf, ohne Geld, ohne Stellung, ohne Ar
beitserlaubnis und Englischkenntnisse. Das sind doch Flau
sen. Du kommst mit uns nach Hause!
Schon lange vor dem geplanten Termin schrfte uns Onkel
Mohammed zwei Dinge ein: das Datum unserer Abreise und
da wir dafr sorgen sollten, da unsere Psse in Ordnung
seien. Gesagt, getan. Umgehend holte ich meinen Pa,
steckte ihn in der Kche in einen Plastikbeutel und vergrub ihn
im Garten.
Dann wartete ich ab und verkndete einen Tag vor unserem
Abflug nach Mogadischu, da ich meinen Pa nicht finden
knne. Mein Plan war ziemlich simpel: Ohne Pa konnten sie
mich nicht mit zurcknehmen. Doch mein Onkel schpfte ir
gendwie Verdacht und lie nicht locker: Also, Waris, wo
knnte denn dein Pa sein? Wo hast du ihn dabeigehabt und
ihn vielleicht liegenlassen? Natrlich kannte er die Antwort
auf diese Frage, denn in den vergangenen vier Jahren war ich
kaum jemals aus dem Haus gekommen.
Ich wei nicht. Mglicherweise habe ich ihn beim Putzen
versehentlich weggeworfen, erwiderte ich mit unbewegter
Miene. Er war immer noch der Botschafter und htte mir helfen
knnen, wenn er gewollt htte. Ich gab die Hoffnung nicht auf,
da mich mein Onkel, wenn er erst begriff, wie ernst es mir
war, nicht nach Hause schicken, sondern mir bei der Be
schaffung eines Visums helfen wrde.
Also, was sollen wir nun tun, Waris? Wir knnen dich doch
nicht hierlassen! Er war fuchsteufelswild, da ich ihn in diese
Lage gebracht hatte. In den darauffolgenden vierundzwanzig
Stunden fand ein Nervenkrieg zwischen uns statt mit dem Ziel,
den anderen zum Nachgeben zu zwingen. So wie ich steif und
fest dabei blieb, da mein Pa nirgends zu finden sei, beharrte

140

Onkel Mohammed darauf, da er nichts tun knne, um mir zu


helfen.
Und Tante Maruim entwickelte ganz eigene Ideen: Wir
fesseln dich einfach, stecken dich in eine groe Reisetasche
und schmuggeln dich an Bord des Flugzeugs. So etwas
kommt ja fast jeden Tag vor.
Diese Drohung nahm ich ernst: Wenn ihr das tut, sagte
ich betont ruhig, werde ich es euch niemals, aber auch wirk
lich niemals verzeihen. Ach Tante, lat mich doch einfach hier.
Ich finde mich schon zurecht.
Ja, ja, du findest dich bestimmt zurecht, erwiderte sie
sarkastisch. Nein, du wirst dich nicht zurechtfinden. Aus ih
rem Gesichtsausdruck konnte ich lesen, da sie sehr besorgt
war, aber war sie auch besorgt genug, um mir zu helfen? In
London hatte sie eine Menge Freunde, und mein Onkel ver
fgte durch die Botschaft ber zahllose Kontakte. Mit einem
einzigen Telefonanruf htten sie mir eine Mglichkeit ver
schaffen knnen, hier zu berleben. Aber ich wute, solange
sie auch nur den Schimmer einer Hoffnung hatten, da sie
mich zur Rckkehr nach Somalia berreden konnten, wrden
sie keinen Finger fr mich rhren.
Am nchsten Morgen herrschte im ganzen Haus auf smtli
chen vier Etagen ein heilloses Durcheinander. Alle waren beim
Packen, stndig klingelte das Telefon, und unentwegt gingen
Scharen von Leuten im Haus ein und aus. Oben im Dachge
scho machte ich mich daran, meine kleine Kammer zu ru
men, und packte meine schbige Tasche mit den paar Habse
ligkeiten, die sich whrend meines Aufenthalts in England
angesammelt hatten. Aber schlielich warf ich die meisten der
abgelegten Kleider in den Mlleimer, weil sie mir zu hlich
und zu altjngferlich vorkamen. Warum ein Bndel Lumpen mit
herumschleppen? Ich war immer noch eine Nomadin und wr
de deshalb mit leichtem Gepck reisen.

141

Um elf Uhr versammelten sich alle im Wohnzimmer, w h


rend der Chauffeur die Koffer im Wagen verstaute. Mir kam
pltzlich in den Sinn, wie ich vor so vielen Jahren hier ange
kommen war - der Chauffeur war dagewesen mit dem Auto,
ich hatte dieses Zimmer mit dem weien Sofa und dem offe
nen Kamin betreten und zum ersten Mal meiner Tante gegen
bergestanden. An jenem grauen Morgen hatte ich auch zum
ersten Mal Schnee gesehen. Alles in diesem Land war mir
damals so befremdlich erschienen. Ich begleitete meine Tante
Maruim nach drauen zum Wagen. Bedrckt meinte sie: Was
soll ich nur deiner Mutter sagen?
Sag ihr, da es mir gutgeht und sie bald von mir hren
wird. Sie schttelte nur den Kopf und stieg ein. Vom Brger
steig aus winkte ich allen zum Abschied, dann trat ich auf die
Fahrbahn und blickte dem Auto hinterher, bis es auer Sicht
weite war.
Ich will nicht lgen - ich hatte Angst. Bis zu diesem Augen
blick hatte ich nicht geglaubt, da sie mich wirklich allein hier
zurcklassen wrden. Aber als ich nun auf der Harley Street
stand, war ich genau das - allein. Dennoch hege ich keine b
sen Gefhle gegenber meiner Tante und meinem Onkel; sie
sind immer noch meine Familie. Sie gaben mir eine Chance,
indem sie mich nach London brachten, und dafr werde ich
ihnen immer dankbar sein. Als sie abfuhren, haben sie wahr
scheinlich gedacht: Du wolltest ja unbedingt hierbleiben; jetzt
nutze die Gelegenheit. Mach schon, tu, was dir gefllt. Aber
erwarte nicht, da wir dich dabei untersttzen. Wir sind nm
lich der Ansicht, da du besser daran ttest, mit uns nach
Hause zurckzukehren. Bestimmt empfanden sie es als eine
Schande, da ich ohne Begleitung in England zurckblieb.
Aber schlielich war es meine eigene Entscheidung gewesen,
und da ich beschlossen hatte, hierzubleiben, war ich von nun
an fr mein Schicksal selbst verantwortlich.

142

Ein schreckliches Gefhl der Panik stieg in mir hoch, als ich
wieder ins Haus trat. Ich schlo die Eingangstr und ging in
die Kche, um mit dem einzigen Menschen zu reden, der au
er mir dageblieben war, meinem speziellen Freund, dem
Koch. Er begrte mich mit den Worten: Nun, du weit ja,
da du heute von hier fortmut. Ich bin der einzige, der hier
bleibt. Also verschwinde. Und damit deutete er zur Ein
gangstr. O ja, er hatte es kaum erwarten knnen, da mein
Onkel aus dem Haus war, um es mir richtig geben zu knnen.
Der selbstgefllige Ausdruck auf seinem dummen Gesicht
zeigte, da es ihm groen Spa machte, mir Befehle zu ertei
len. Ich lehnte am Trstock und sinnierte darber nach, wie
still das Haus nun schien, nachdem alle abgefahren waren.
Waris, du gehst jetzt. Ich will dich hier nicht mehr sehen ...
Ach, halt doch den Mund! Er war wie ein widerlicher,
klffender Kter. Ich gehe ja. Ich brauche nur noch meine
Tasche.
Dann hol sie geflligst, aber schnell. Schnell. Beeil dich,
ich mu nmlich ... Aber da war ich schon halb die Treppe
hinauf und schenkte seinem Gekeife keine Beachtung mehr.
Der Herr und Meister war fort, und in der kurzen Zwischenzeit,
bis der neue Botschafter eintraf, hatte nun der Koch das Sa
gen. Beim Durchqueren der leeren Rume dachte ich an all
die guten und schlechten Zeiten hier zurck und berlegte, wo
wohl mein nchstes Zuhause sein wrde.
Ich nahm meinen kleinen Beutel vom Bett, schwang ihn
ber die Schulter, stieg die vier Treppen hinunter und trat
durch die Vordertr ins Freie. Anders als an dem Tag, an dem
ich angekommen war, herrschte heute prchtiges, sonniges
Wetter. Der Himmel war blau und die Luft frisch wie im Frh
ling. In dem winzigen Garten grub ich mit Hilfe eines Steins
meinen Pa aus, nahm ihn aus der Plastiktte und verstaute
ihn in meinem Beutel. Dann putzte ich mir die Erde von den
Hnden und machte mich auf den Weg, die Strae hinunter.

143

Unwillkrlich mute ich dabei lcheln - endlich war ich frei.


Mein ganzes Leben lag nun vor mir, ich mute nirgendwohin
gehen und war niemandem Rechenschaft schuldig. Und ir
gendwie wute ich, da sich alles zum Guten wenden wrde.
Nicht weit vom Haus meines Onkels entfernt machte ich
zum ersten Mal halt, und zwar bei der somalischen Botschaft.
Ich klopfte an die Tr. Der Pfrtner, der mir ffnete, kannte
meine Familie gut, denn er hatte manchmal meinen Onkel
chauffiert. Hallo, Miss. Was machen Sie denn hier? Ist Mr.
Farah noch in der Stadt?
Nein, er ist schon abgereist. Ich wollte mit Anna sprechen,
um herauszufinden, ob ich vielleicht eine Stelle in der Bot
schaft bekommen kann. Er lachte, ging zu seinem Stuhl zu
rck und setzte sich. Dann verschrnkte er die Hnde hinter
dem Kopf. Ich stand mitten in der Eingangshalle, und er
machte keinerlei Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Sein
Benehmen verunsicherte mich, weil er frher immer hflich zu
mir gewesen war. Dann begriff ich, da sein verndertes Ver
halten - genau wie das des Kochs - mit der Abreise des Bot
schafters zusammenhing. Mein Onkel war nun fort, und ohne
meinen Onkel war ich ein Nichts. Ich war sogar noch weniger
als ein Nichts, und diese Dummkpfe genossen es, nun die
Oberhand zu haben.
Oh, Anna ist viel zu beschftigt, um Sie empfangen zu
knnen, meinte der Pfrtner grinsend.
Hren Sie zu, sagte ich entschlossen, ich mu sie spre
chen. Anna war die Sekretrin meines Onkels und immer
freundlich zu mir gewesen. Zum Glck hrte sie meine Stimme
in der Eingangshalle und kam aus ihrem Bro, um nachzuse
hen, was dort vor sich ging.
Waris! Was machst du denn hier?
Ach, ich wollte auf keinen Fall mit meinem Onkel zurck
nach Somalia, erklrte ich. Ich wollte einfach nicht zurck.
Und jetzt kann ich nicht mehr in dem Haus bleiben, weit du.

144

Deshalb habe ich berlegt, ob du vielleicht jemanden kennst,


irgendwen, fr den ich arbeiten knnte, irgendeine Arbeit. Es
ist mir gleich, welche. Ich mache alles.
Nun, mein Kind, und dabei zog sie die Augenbrauen
hoch, das kommt ein bichen pltzlich. Wo wohnst du denn
jetzt?
Ach, das wei ich noch nicht. Aber mach dir darber keine
Gedanken.
Tja, hast du eine Telefonnummer, unter der ich dich errei
chen kann?
Nein, weil ich noch nicht wei, wo ich unterkommen we r
de. Ich nehme mir heute abend ein billiges Hotelzimmer. Ich
wute, da sie mich eingeladen htte, zu ihr zu kommen,
wenn ihre Wohnung nicht so winzig klein gewesen wre.
Aber ich kann ja wieder herkommen und dir dann die Telefo
nummer geben, damit du mich anrufen kannst, wenn du etwas
hrst.
In Ordnung, Waris. Pa auf dich auf. Bist du sicher, da
du es schaffst?
Ja, ja, ich komme schon zurecht. Aus den Augenwinkeln
sah ich, da der Pfrtner immer noch dmlich grinste. Also,
danke. Und bis spter.
Erleichtert trat ich wieder hinaus ins Sonnenlicht und be
schlo, erst einmal einkaufen zu gehen. Bis ich eine Arbeit
finden wrde, hatte ich zum Leben nicht mehr als den kleinen
Geldbetrag, den ich mir von meinem Lohn als Dienstmdchen
mhsam zurckgelegt hatte. Trotzdem mute ich mir jetzt, als
Frau auf eigenen Beinen, etwas Schickes zum Anziehen kau
fen, ein neues Kleid, das mich aufmunterte. So ging ich von
der Botschaft zu einem der groen Kaufhuser am Oxford Cir
cus. Nach meiner Ankunft in London war ich dort schon einmal
mit meiner Cousine Basma gewesen. Tante Maruim hatte uns
hingeschickt, damit ich mir ein paar Sachen besorgte, denn bei

145

meiner Ankunft hatte ich keinerlei Winterkleidung besessen.


Genaugenommen hatte ich berhaupt nichts zum Anziehen
gehabt, abgesehen von dem, was ich whrend des Flugs am
Leibe getragen hatte, und einer einzelnen schnen Sandale
aus Leder.
Als ich an den Stndern im Selfridges entlangschlenderte,
war ich ganz benommen von der Vielfalt des Angebots. Der
Gedanke, da ich hier so lange bleiben konnte, wie ich wollte,
und all die Kleider in den verschiedenen Farben, Stilen und
Gren anprobieren durfte, war berauschend. Auch die Vor
stellung, zum ersten Mal in meinem Leben mein eigener Herr
zu sein, machte mich ganz schwindlig. Niemand wrde mich
mehr anschreien, ich solle die Ziegen melken, die Babys ft
tern, den Tee kochen, die Bden schrubben oder die Toiletten
putzen.
In den folgenden Stunden probierte ich, untersttzt von zwei
Verkuferinnen, immer wieder neue Kleider an. Mit meinen
paar Brocken Englisch und mit Hnden und Fen vermittelte
ich ihnen, da ich etwas Lngeres, Krzeres, Engeres oder
Helleres wollte. Am Ende dieser Marathon-Anprobe, als sich
Dutzende von abgelegten Kleidungsstcken vor meiner Um
kleidekabine stapelten, lchelte mich eine der Verkuferinnen
an und meinte: Nun, meine Liebe, wofr haben Sie sich ent
schieden?
Die bloe Menge der Auswahl berwltigte mich, aber zu
gleich machte mich die Vorstellung nervs, ich knnte viel
leicht nebenan, im nchsten Geschft, noch etwas Besseres
finden. Bevor ich etwas von meinem wertvollen englischen
Geld ausgab, mute ich das erst einmal herausfinden. Es ist
heute nichts Passendes fr mich dabei, sagte ich freundlich,
aber ich danke Ihnen. Die Arme voll mit Kleidern, schauten
die bedauernswerten Verkuferinnen mich zuerst unglubig
an, dann warfen sie einander Blicke der Emprung zu. Ich
aber stolzierte an ihnen vorbei, um mich weiter meiner Aufga

146

be zu widmen, nmlich jeden einzelnen Zentimeter der Oxford


Street genauestens zu begutachten.
Auch nach dem Stbern in mehreren Geschften hatte ich
noch nichts gekauft; wie immer lag das eigentliche Vergngen
fr mich darin, die Sachen anzuprobieren. Als ich gerade wie
der einen Laden verlie, merkte ich, da der Tag allmhlich zu
Ende ging und der winterliche Abend heranrckte, ohne da
ich ein Zimmer zum bernachten hatte. Mit diesem Gedanken
betrat ich den nchsten Laden und sah dort an einem Stand
mit Pullovern eine hochgewachsene, attraktive Afrikanerin. Sie
sah aus wie eine Somali, und ich beobachtete sie, um heraus
zufinden, wie ich sie ansprechen knnte. Ich nahm einen Pull
over, lchelte sie an und sagte auf somali: Eigentlich mchte
ich mir etwas kaufen, aber ich wei nicht genau, was ich will.
Und ich habe heute schon eine Menge Kleider probiert.
So kamen wir ins Gesprch, und die Frau sagte, sie heie
Halwu. Sie war sehr freundlich und lachte viel. Wo wohnst
du, Waris? Was machst du?
Oh, du wirst es nicht glauben. Bestimmt hltst du mich fr
verrckt, aber ich wohne nirgendwo. Ich habe keine Wohnung
mehr, weil meine Familie mich heute verlassen hat. Sie sind
nach Somalia zurckgegangen. Ich sah Mitgefhl in ihren
Augen; spter erfuhr ich, da diese Frau selbst schon viel
durchgemacht hatte.
Du wolltest also nicht nach Somalia zurck? Ohne es
auszusprechen, wuten wir beide: Wir vermiten unser Zu
hause und unsere Familien, aber welche Chancen hatten wir
dort schon? Fr den Gegenwert von Kamelen verkauft zu wer
den? Das Eigentum von irgendeinem Mann zu werden? Jeden
Tag ums bloe berleben zu kmpfen?
Nein, aber ich habe auch hier nichts, antwortete ich.
Mein Onkel war der Botschafter, aber jetzt ist er fort, und es
kommt jemand Neuer. So haben sie mich heute morgen raus

147

geschmissen, und bis jetzt habe ich keine blasse Ahnung, wo


hin ich gehen soll, sagte ich lachend.
Mit einer winkenden Handbewegung unterbrach sie meinen
Redeflu, als knne sie damit alle meine Probleme wegwi
schen. Hr zu, ich wohne gleich hier um die Ecke, im YMCA.
Meine Unterkunft ist nicht sehr gro, aber du kannst bei mir
bernachten. Ich habe allerdings nur ein Zimmer, wenn du
also kochen willst, mut du dir auf einem anderen Stockwerk
etwas zu essen machen.
Ach, das wre wunderbar, aber meinst du das wirklich?
Ja, das meine ich so. Also komm. Was willst du denn
sonst tun?
Gemeinsam gingen wir zu ihr ins YMCA. Das Gebude war
ein modernes Ziegelhochhaus. Normalerweise wohnten hier
Studenten. In Halwus winzigem Zimmer war lediglich Platz fr
ein Doppelbett, ein Bcherregal und ihren riesigen, wunder
schnen, Fernseher.
Oh! Ich warf die Arme hoch. Darf ich hier fernsehen?
Die Frau sah mich an, als kme ich von einem anderen
Stern. Na klar doch. Schalt ihn ruhig ein. Ich hockte mich
auf den Boden vor das Gert und starrte gierig auf den Bild
schirm. Nach vier Jahren durfte ich endlich fernsehen, ohne
da mich jemand wie eine streunende Katze aus dem Zimmer
vertrieb.
Hast du denn bei deinem Onkel nie ferngesehen? fragte
sie neugierig.
Willst du mich auf den Arm nehmen? Manchmal habe ich
mich hineingeschlichen, aber sie haben mich immer erwischt.
Na, schon wieder vor dem Fernseher, Waris? ffte ich den
hochnsigen Tonfall meiner Tante nach und schnappte wie sie
mit den Fingern. Mach dich wieder an die Arbeit, los jetzt. Wir
haben dich nicht hierhergeholt, damit du fernsiehst.

148

Meine echte Schule frs Leben in London begann mit Ha l


wu als meiner Lehrerin; wir schlossen enge Freundschaft. Ich
verbrachte diese erste Nacht in ihrem Zimmer und auch die
folgende und noch die dritte. Dann schlug sie vor: Warum
mietest du dir hier nicht selbst ein Zimmer?
Nun, vor allem, weil ich mir keins leisten kann, und aue r
dem mu ich auf die Schule gehen. Das bedeutet, da ich
keine Zeit habe, um zu arbeiten. Schchtern fragte ich sie:
Kannst du denn lesen und schreiben?
Aber sicher.
Und Englisch sprechen?
Auch.
Siehst du, ich kann das alles nicht, deshalb mu ich es
lernen. Das steht fr mich an erster Stelle. Und wenn ich wie
der zu arbeiten anfange, habe ich dafr keine Zeit.
Weshalb gehst du nicht halbtags zur Schule und arbeitest
halbtags? berleg nicht lange, welche Art von Arbeit das ist,
nimm einfach die erstbeste, bis du Englisch kannst.
Hilfst du mir dabei?
Natrlich helfe ich dir.
Ich versuchte, im YWCA ein Zimmer zu bekommen, aber es
war keines frei, und es gab eine lange Warteliste. Viele junge
Leute wollten hier wohnen, weil es billig und das Leben hier
sehr gesellig war. Das Haus hatte ein Schwimmbad von olym
pischen Ausmaen und einen Fitneraum. Ich lie meinen
Namen auf der Warteliste eintragen, aber mir war klar, da ich
etwas unternehmen mute, weil ich nicht auf Dauer das Zim
mer der armen Halwu in Anspruch nehmen konnte. Dem YM
CA direkt gegenber lag der YWCA; hier lebten mehr ltere
Leute, und es sah ziemlich deprimierend aus, aber ich nahm
mir trotzdem vorbergehend ein Zimmer dort und machte mich
daran, eine Arbeit zu suchen. Meine Freundin schlug in ihrer
praktischen Art vor: Warum beginnst du mit deiner Suche
nicht gleich hier?

149

Was meinst du damit? Gleich wo?


Na, hier eben. In unserer Gegend, erwiderte sie und
deutete mit dem Finger vor sich. Direkt nebenan ist ein
McDonald's.
Aber dort kann ich doch nicht arbeiten. Wie sollte ich die
Leute bedienen? Du weit doch, ich spreche kein Englisch
und kann auch nicht lesen. Auerdem habe ich keine Arbeits
erlaubnis. Aber Halwu kannte sich aus, und ihrem Vorschlag
folgend bewarb ich mich als Putzkraft in der Kche.
Als ich bei McDonald's anfing, stellte ich ziemlich bald fest,
wie recht sie hatte: Alle, die hinten arbeiteten, waren genau in
der gleichen Situation wie ich. Die Geschftsleitung nutzte un
seren Status als illegale Arbeitskrfte aus und verweigerte uns
die Lhne und Leistungen, die uns normalerweise zugesta n
den htten. Sie wute, da wir uns bestimmt nicht als illegal
hier lebende Auslnder zu erkennen geben und bei den Be
hrden gegen die miserable Bezahlung klagen wrden. Sola n
ge man tchtig schuftete, kmmerte sich die Geschftsleitung
nicht darum, wer man war; alles wurde vertuscht.
In meinem Job als Kchenhilfe bei McDonald's kamen mir
die Fhigkeiten zugute, die ich mir als Hausmdchen angeeig
net hatte: Ich splte das Geschirr, putzte den Tresen,
schrubbte den Grill, wischte die Bden und beseitigte unabls
sig den Fettfilm, der sich auf alles legte. Wenn ich abends
nach Hause ging, sah ich aus wie in Fett gebadet und roch
entsprechend. Obwohl wir in der Kche stndig unterbesetzt
waren, traute ich mich nicht, mich deswegen zu beschweren.
Das alles spielte auch keine groe Rolle fr mich, weil ich
mich nun endlich selbst durchbringen konnte. Ich war einfach
dankbar, berhaupt eine Stelle zu haben, auerdem wute
ich, da ich dort nicht lange bleiben wrde. Und in der Zwi
schenzeit wrde ich alles tun, was ntig war, um zu berleben.
So fing ich an, nebenbei die kostenlose Sprachenschule fr
Auslnder zu besuchen. Das verbesserte meine Eng

150

lischkenntnisse, und ich lernte allmhlich lesen und schreiben.


Doch zum ersten Mal in all den Jahren drehte sich mein Leben
nicht allein um die Arbeit: Manchmal nahm mich Halwu in
Nachtclubs mit, wo alle Leute sie zu kennen schienen. Sie
unterhielt sich, lachte und war ganz berdreht lustig - so leb
haft, da alle sich um sie scharten. Eines Nachts, nachdem wir
schon einige Stunden getanzt hatten, sah ich mich pltzlich
um und merkte, da wir von Mnnern umringt waren. Ver
dammt! flsterte ich meiner Freundin zu, meinst du, diese
Mnner meinen es gut mit uns?
Sie grinste nur. O ja. Sie meinen es sogar sehr gut mit
uns. Diese Bemerkung erstaunte mich. Ich sah mir ihre Ge
sichter an und stellte fest, da sie recht hatte. Nie zuvor hatte
ich einen Freund gehabt, und kein mnnliches Wesen hatte
sich je fr mich interessiert, ausgenommen irre Typen wie
mein Cousin Haji, was mir nicht besonders geschmeichelt
hatte. In den zurckliegenden vier Jahren hatte ich mich selbst
als Mauerblmchen betrachtet, eben als das Dienstmdchen.
Nun standen die Kerle Schlange, um mit uns zu tanzen. Ich
dachte blo, Waris, Mdchen, jetzt bist du endlich angekom
men!
Es war auffllig, da ich zwar immer schwarzhutige Mn
ner mochte, die weien aber am meisten an mir interessiert
waren. Ich berwand meine strenge afrikanische Erziehung
und fing an, mit jedermann zu plaudern; ich zwang mich, mit
jedem Menschen zu reden, ganz gleich, ob er nun schwarz,
wei, mnnlich oder weiblich war. Wenn ich schon dabei war,
auf eigenen Fen zu stehen, so berlegte ich, sollte ich mir
die Fhigkeiten aneignen, die ntig waren, um in dieser neuen
Welt zu bestehen, auch wenn sie sich von jenen unterschie
den, mit denen ich in der Wste aufgewachsen war. Hier
mute ich lernen, Englisch zu sprechen und mich mit allen
Arten von Menschen zu unterhalten. Zu wissen, wie man mit

151

Kamelen und Ziegen umgeht, gengte nicht, um in London zu


berleben.
Halwu ergnzte diese nchtlichen Lehrstunden im Nacht
club mit weiteren Instruktionen am Morgen danach. Dabei ging
sie noch einmal das ganze Spektrum von Leuten durch, die wir
in der Nacht zuvor getroffen hatten, erklrte mir deren Ab
sichten und Charaktere. Im Grunde genommen gab sie mir
einen Schnellkurs ber die menschliche Natur. Sie sprach
ber Sex und darber, was diese Typen im Sinn htten, wovor
man sich in acht nehmen msse und welche besonderen Pro
bleme sich fr afrikanische Frauen wie uns ergeben wrden.
Niemand hatte jemals mit mir ber solche Dinge gesprochen.
Amsier dich mit diesen Typen, unterhalte dich, lach und tanz
mit ihnen. Danach aber geh nach Hause, Waris. La dich nicht
berreden, mit ihnen zu schlafen. Sie wissen nicht, da du
anders bist als eine englische Frau; sie verstehen nicht, da
du beschnitten wurdest.
Nachdem ich einige Monate lang auf ein Zimmer im YMCA
gewartet hatte, erfuhr ich von einer Frau, die eine Mitbewohne
rin suchte. Sie studierte und konnte sich das Zimmer alleine
nicht leisten. Da es mir ebenso ging und das Zimmer zudem
ziemlich gro war, pate das prima. In Halwu hatte ich bereits
eine wunderbare Freundin gefunden, und da es im YMCA von
jungen Menschen nur so wimmelte, kamen bald neue Freunde
dazu. Dank meines Schulbesuchs verbesserte sich langsam
mein Englisch, und mein Geld verdiente ich weiterhin bei
McDonald's. Mein Leben verlief in vllig geordneten Bahnen,
und ich hatte keine Ahnung, wie schnell sich alles ndern
sollte.
Eines Nachmittags, als mein Dienst bei McDonald's zu En
de und ich noch ganz voller Fett war, beschlo ich, durch die
Vordertr hinauszugehen, wobei ich am Tresen vorbei mute,

152

wo die Kunden ihre Bestellungen aufgaben. Und dort standen,


auf einen Big Mac wartend, der Mann von der All Souls
Church School und seine kleine Tochter. Hallo, sagte ich im
Vorbergehen.
He, das bist ja du! Offenbar htte er hier bei McDonald's
jeden anderen Menschen eher erwartet als mich. Wie geht es
dir? erkundigte er sich.
Gut, gut. Und wie geht es dir? fragte ich Sophies Freun
din. Es machte mir Spa, meine Englischkenntnisse zu de
monstrieren.
Es geht ihr gut, erwiderte ihr Vater.
Sie wchst schnell, nicht wahr? Also, ich mu jetzt los.
Tschs.
Warte. Wo wohnst du denn?
Tschs, erwiderte ich lchelnd. Ich wollte die Unterha l
tung mit ihm abbrechen, weil ich ihm immer noch nicht ber
den Weg traute. Als nchstes, das wute ich, wrde er sonst
vor meiner Tr stehen.
Auf dem Nachhauseweg beschlo ich, die allwissende Ha l
wu ber diesen rtselhaften Mann zu befragen. Ich holte mei
nen Pa aus der Schublade, bltterte ihn durch und nahm
Malcolm Fairchilds Karte heraus, die ich an dem Tag hinein
gesteckt hatte, als ich den kleinen Plastikbeutel im Garten
meines Onkels vergrub.
Dann ging ich zu Halwu: Kannst du mir etwas erklren?
Ich habe schon seit einiger Zeit diese Karte hier. Was macht
dieser Mann? Ich wei, hier steht Modefotograf, aber was be
deutet das?
Meine Freundin nahm mir die Karte aus der Hand. Es be
deutet, da dich jemand Kleider anziehen lt und dich darin
fotografiert.
Weit du, das wrde mir wirklich Spa machen. Wer ist
dieser Mann? Woher hast du seine Karte? Ach, das ist ei
ner, den ich mal kennengelernt habe, aber ich traue ihm nicht

153

ganz. Er gab mir seine Karte, dann verfolgte er mich einmal


bis nach Hause und sagte etwas zu meiner Tante. Darauf
wurde sie furchtbar wtend und schrie ihn an. Aber ich habe
nie herausgefunden, was er eigentlich wollte.
Nun, warum rufst du ihn nicht einfach an und fragst ihn?
Meinst du das im Ernst? erwiderte ich und verzog dabei
das Gesicht. Soll ich wirklich? He, komm doch mit, dann
kannst du mit ihm sprechen und herausfinden, was er will.
Mein Englisch ist immer noch nicht besonders.
Gut, ruf ihn an.
Es dauerte bis zum nchsten Tag, ehe ich den Mut dazu
aufbrachte. Als Halwu und ich zum Mnztelefon runtergingen,
pochte mir das Herz wie eine Trommel in den Ohren. Sie warf
ein Geldstck in den Schlitz, und ich horchte darauf, wie es in
den Schacht fiel. Die Karte in der einen Hand, versuchte Hal
wu im Dmmerlicht des sprlich beleuchteten Gangs die
Nummer zu entziffern, whrend sie whlte. Dann trat eine
Pause ein. Ja, knnte ich bitte mit Malcolm Fairchild spre
chen? Nach dem Austausch einiger Hflichkeitsfloskeln kam
sie sofort zum Kern der Sache: Sie sind doch wohl nicht einer
dieser Perversen, oder? Und Sie wollen meine Freundin nicht
umbringen? ... ja, ich will nur sagen, da wir ja berhaupt
nichts von Ihnen wissen, wo Sie wohnen und berhaupt ... hm,
hm ... ja. Halwu kritzelte etwas auf einen Fetzen Papier, und
ich versuchte angestrengt, ihr dabei ber die Schulter zu
schauen.
Was sagt er denn? zischte ich. Sie winkte mit der Hand,
ich solle ruhig sein.
Also gut. Klingt nicht schlecht ... das machen wir.
Halwu hngte den Hrer ein und atmete tief durch. >Nun<,
hat er gesagt, >warum kommen Sie beide nicht in mein Studio
und sehen sich an, was hier vor sich geht, wenn Sie mir nicht
trauen? Wenn Sie nicht wollen ... nun, dann ist es auch in
Ordnung.<

154

Ich hielt mir beide Fuste vor den Mund. Ja, und? Fahren
wir hin?
Na klar doch, meine Kleine. Wir sehen uns die Sache mal
an, dann werden wir schon herausfinden, wer dieser Kerl ist,
der hinter dir hergeschlichen ist.

155

Waris bei einem Fotooshooting in Mali, 1994

Waris und Herb Ritts bei einem

Fotoshooting in der Wste

von Arizona, 1995

156

Waris, von Koto Bolofo fr die italienische

Marie Claire fotografiert, Frhjahr 1997

Waris und ihre Mutter, wiedervereint in Galadi, thiopien

(nahe der somalischen Grenze), 1995

157

Waris und Dana im Urlaub

in Gabun, 1996

Dana und Sohn Aleeke, zu Hause in Brooklyn, Januar 1998

158

Waris, im neunten

Monat schwanger mit Aleeke

Fotos: Sharon Schuster

159

11. Das Model

Einen Tag, nachdem Halwu mit Malcom Fairchild telefoniert


hatte, machten wir uns auf den Weg, um uns sein Studio an
zusehen. Ich hatte keinerlei Vorstellung, was mich dort erwa r
ten wrde, und als wir die Tr ffneten, stolperte ich in eine
andere Welt. berall hingen riesige Plakate und Reklametafeln
mit Bildern wunderschner Frauen. Oh ..., staunte ich leise,
whrend ich mich umschaute und die beeindruckenden Ge
sichter bewunderte. Und wie schon damals, als ich Onkel Mo
hammed zu Tante Sahru in Mogadischu sagen hrte, da er
ein Mdchen fr seinen Haushalt in London brauche, wute
ich auch jetzt: Das ist es. Dies ist meine groe Chance - hier
gehre ich hin - das ist es, was ich will.
Malcolm kam herbei und begrte uns. Wir sollten es uns
bei einer Tasse Tee gemtlich machen. Als er sich setzte,
meinte er zu Halwu: Ich mchte Ihnen gleich sagen, da ich
von ihr nichts anderes will als Aufnahmen machen. Dabei
deutete er auf mich. Ich bin seit ber zwei Jahren hinter die
sem Mdchen her, und noch nie hat es mir jemand so schwer
gemacht, einfach nur ein Foto zu schieen.
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Das ist alles? Das ist
wirklich alles? Sie wollen mich einfach nur fotografieren. So
wie all die hier? Ich zeigte auf die Poster an den Wnden.
Er nickte nachdrcklich. Genau. Du kannst mir glauben,
das ist in der Tat alles, was ich will. Mit der Hand zog er eine

160

imaginre Linie ber sein Gesicht. Ich mchte nur diese


Hlfte deines Gesichts aufnehmen, und indem er sich an
Halwu wandte, fuhr er fort, sie hat das schnste Profil, das
ich je gesehen habe.
Ich war wie vor den Kopf gestoen: all die vergeudete Zeit.
Zwei Jahre hatte er mich verfolgt, und jetzt brauchte es nur
zwei Sekunden, bis er mir erklrt hatte, da er mich einfach
fotografieren wollte. Gut, das knnen wir gerne machen.
Kaum hatte ich das gesagt, wurde ich auch schon wieder mi
trauisch. Nur zu gut waren mir einige meiner Erlebnisse mit
Mnnern noch in Erinnerung. Aber sie mu dabeisein. Ich
legte meine Hand auf Halwus Arm, und sie nickte. Sie soll
dabeisein, whrend Sie die Aufnahme von mir machen.
Er blickte mich ziemlich berrascht an. Als er dann sagte:
Gut, okay. Sie kann auch kommen ... Kommt bermorgen
frh um zehn Uhr. Dann ist auch jemand da, der dich schmi n
ken kann, konnte ich vor Aufregung kaum noch still sitzen
bleiben.
Zwei Tage spter gingen wir wieder hin. Das Mdchen, das
mir das Make-up machen sollte, schob mich in einen Sessel
und begann umgehend mit Wattepads, Brstchen,
Schwmmchen, Cremes, Farben und Puder an mir herumzu
fuhrwerken, sie bearbeitete meine Haut mit ihren Fingerkup
pen und zupfte hier und da an meinem Gesicht herum. Ich
hatte nicht die geringste Vorstellung, was sie da tat, aber ich
hielt brav still und beobachtete sie bei all ihren merkwrdigen
Verrichtungen mit diesen seltsamen Gertschaften. Halwu sa
grinsend in ihrem Sessel. Ab und an schaute ich zu ihr rber
und zuckte mit den Schultern oder schnitt eine Grimasse.
Stillhalten, befahl mir dann die Make-up-Artistin.
Jetzt - sie trat einen Schritt zurck, stemmte ihre Hnde
in die Hften und sah mich zufrieden an Jetzt kannst du in
den Spiegel schauen. Ich stand auf und betrachtete mich. Die

161

eine Hlfte meines Gesichts war wie verwandelt, das Make-up


hatte einen goldenen und zugleich samtigen Schimmer dar
bergelegt. Die zweite Gesichtshlfte hingegen sah genauso
aus wie immer: die gute alte Waris.
Wow. Seht mich nur an! Aber dann fragte ich, doch ein
wenig beunruhigt: Warum haben Sie nur eine Seite herge
richtet?
Weil er dich nur im Profil haben mchte.
Oh...
Sie begleitete mich hinber ins Studio, wo Malcolm mich auf
einem Hocker plazierte. Ich drehte mich hin und her und be
trachtete den dunklen Raum voller Gegenstnde, die ich noch
nie zuvor gesehen hatte: die Breitbildkamera, die Scheinwer
fer, die Akkus und die Kabel, die berall wie Schlangen herab
hingen. Malcolm korrigierte meine Position so lange, bis ich im
rechten Winkel zum Kameraobjektiv sa. Okay, Waris.
Schlie die Lippen und schau geradeaus. Kinn hoch. Gut so ...
wunderbar. Dann hrte ich ein Klicken, auf das ein lauter
Knall folgte. Ich zuckte zusammen. Die Blitzlichter flammten
auf, und fr den Bruchteil einer Sekunde war alles grell er
leuchtet. Irgendwie gab mir dieses Blitzlichtgewitter das Ge
fhl, ein anderer Mensch zu sein; in dieser Sekunde stellte ich
mir vor, ich sei einer dieser Filmstars, die ich aus dem Fernse
hen kannte, die in die Kameras lchelten, wenn sie bei der
Premierenfeier aus ihrer Limousine stiegen. Malcolm zog ein
Stck Papier aus der Kamera, setzte sich hin und sah auf sei
ne Uhr.
Was machen Sie da? fragte ich.
Die Zeit stoppen. Malcolm winkte mir, ins Licht herber
zukommen, und entfernte die obere Schicht von dem Papier.
Whrend ich daraufstarrte, erschien gleichsam durch Zauber
hand allmhlich das Bild einer Frau. Ich erkannte mich auf
dem Polaroidbild kaum wieder: Die Aufnahme zeigte meine
rechte Gesichtshlfte, aber statt wie Waris, das Dienstmd

162

chen, sah diese Frau aus wie Waris, das Model. Man hatte
mich in eines dieser bezaubernden Wesen verwandelt, wie sie
im Eingang zu Malcolm Fairchilds Studio ausgestellt waren.
Nachdem Malcolm den Film entwickelt hatte, zeigte er mir
einige Tage spter das Resultat. Er legte die Diapositive auf
einen Leuchttisch, und sie gefielen mir sehr gut. Auf meine
Frage, ob er noch mehr Aufnahmen von mir machen wrde,
meinte er, das sei zu teuer, und leider knne er sich das nicht
leisten. Aber er knne Abzge von der Aufnahme anfertigen,
die er gemacht hatte.
Einige Monate nach dieser Session rief Malcolm mich im
YMCA an. Hr mal, ich wei nicht, ob du an der Arbeit als
Model interessiert bist, aber es gibt da einige Leute, die dich
kennenlernen wollen. Eine der Modelagenturen hat dein Foto
in meinem Buch gesehen und gemeint, du solltest dich doch
bei ihnen melden. Wenn du willst, kannst du bei ihnen unte r
schreiben, dann werden sie dir Auftrge vermitteln.
Okay ... aber Sie mssen mich dorthin bringen ... weil, Sie
wissen ja, es ist mir unangenehm, so etwas allein zu machen.
Knnen Sie mich begleiten und mich dort vorstellen?
Nein, das geht nicht, aber ich gebe dir die Adresse, bot er
mir an.
Sorgfltig whlte ich die Kleidung aus, die ich bei diesem
wichtigen Treffen mit der Modelagentur Crawford tragen woll
te. Weil es Sommer und hei war, zog ich ein kurzrmeliges
rotes Kleid mit V-Ausschnitt an. Es war weder kurz noch lang,
sondern reichte mir etwa bis zum Knie und war furchtbar h
lich.
Mit diesem billigen roten Kleid und in weien Turnschuhen
betrat ich die Agentur und dachte dabei: Das ist es. Ich mache
Eindruck! In Wirklichkeit sah ich bescheuert aus. Noch heute
schaudert es mich, wenn ich an jenen Tag zurckdenke. Aber
vielleicht war es auch gar nicht schlecht, da ich nicht merkte,
wie falsch ich angezogen war, obwohl ich mein bestes Kleid

163

trug. Ich htte ohnehin kein Geld gehabt, mir ein anderes zu
kaufen.
In der Agentur angekommen, fragte mich die Empfangsda
me, ob ich Fotos mitgebracht htte. Ich gab ihr das eine, das
ich hatte. Daraufhin fhrte sie mich zu einer klassisch schnen
und elegant gekleideten Frau namens Veronica. Diese bat
mich in ihr Bro und bot mir gegenber ihrem Schreibtisch ei
nen Stuhl an. Wie alt bist du, Waris?
Ich bin noch jung! Das waren die ersten Worte, die mir in
den Sinn kamen und aus mir herausplatzten. Ehrlich, ich bin
jung. Diese Falten - ich deutete auf meine Augen -, die habe
ich schon von Geburt an.
Sie lchelte mich an. Ist gut. Veronica notierte meine
Antworten in irgendwelche Formulare. Wo wohnst du? Oh,
ich wohne im Y.
Wie bitte? ... Sie runzelte die Stirn. Wo wohnst du? Ich
wohne im YMCA.
Hast du eine Arbeit?
Ja.
Wo arbeitest du?
McDonald's.
Gut ... Weit du etwas ber die Arbeit als Model?
Ja.
Was weit du darber - kennst du dich gut aus?
Nein. Aber ich wei, da ich es machen mchte. Um das
zu unterstreichen, wiederholte ich diesen Satz mehrere Male.
Gut. Hast du ein Buch ... ich meine Aufnahmen?
Nein.
Lebt jemand von deiner Familie hier?
Nein.
Wo ist deine Familie?
Afrika.
Stammst du von dort?
Ja, Somalia.

164

Gut, also niemand hier.


Nein, keiner aus meiner Familie hier.
Gut. Gleich anschlieend findet ein Casting statt, und dort
mut du hin.
Ich bemhte mich, sie zu verstehen, und schwieg eine
Weile, um zu berlegen, was sie mit ihrem letzten Satz ge
meint haben knnte. Tut mir leid, ich verstehe nicht.
Ein C-a-s-t-i-n-g. Sie sprach das Wort betont langsam
aus.
Was ist ein Casting?
Das ist so eine Art Bewerbungsgesprch. Wenn du dich
um eine Stelle bewirbst, wirst du zu einem Gesprch eingela
den. Ja? Bewerbungsgesprch? Verstehst du das?
Ja, ja, log ich. Ich hatte nicht die blasseste Ahnung, wo
von sie sprach. Sie gab mir die Adresse und sagte mir, ich
solle mich gleich auf den Weg machen.
Ich rufe dort an und sage Bescheid, da du schon unter
wegs bist. Hast du Geld fr ein Taxi?
Nein. Ich kann zu Fu gehen.
Nein, nein. Das ist zu weit. Zu weit. Du mut ein Taxi
nehmen. Taxi, verstanden? Hier, hier sind zehn Pfund. Ruf
mich an, wenn du fertig bist, ja?
Auf der Fahrt im Taxi quer durch die Stadt war ich ganz aus
dem Huschen. Oh, oh, oh, jetzt bin ich auf denn richtigen
Weg. Ich werde Model. Dann fiel mir ein, da ich etwas ver
gessen hatte: zu fragen, was fr ein Job das war. Ach was,
das spielt doch keine Rolle. Ich kriege das schon hin, weil ich
wahnsinnig scharf aussehe!
In dem Fotostudio, wo das Casting stattfand, drngten sich
Berufsmodels - berall Frauen mit unglaublich langen Beinen.
Sie stolzierten umher wie Lwinnen, die ihre Beute umkreisen,
machten sich vor den Spiegeln zurecht, beugten sich nach
unten, um ihr Haar auszuschtteln und schmierten sich Make

165

up auf die Beine, damit sie dunkler wirkten. Ich lie mich auf
einen Stuhl fallen und sagte zu dem Mdchen, das neben mir
sa, hallo. Hm, was ist das fr ein Job?
Fr den Pirelli-Kalender.
Hmmm. Weise nickte ich. Prulli-Kalender. Danke. Was
zum Teufel ist das - der Prulli-Kalender? Meine Nerven lagen
blo, ich konnte nicht mehr stillsitzen, schlug stndig die Beine
bereinander, einmal links, dann wieder rechts, rutschte auf
meinem Stuhl herum, bis schlielich eine Assistentin herein
kam und mir mitteilte, ich sei als nchste dran. Vor Schreck
blieb ich eine Minute wie erstarrt sitzen.
Dann wandte ich mich an das Mdchen neben mir und
schob sie der Assistentin zu. Geh du. Ich mu noch auf mei
ne Freundin warten. jedesmal, wenn die Assistentin auf
tauchte, wiederholte ich dieses Spiel, bis der Raum leer war.
Alle auer mir waren gegangen.
Schlielich kam die Frau wieder heraus, lehnte sich mde
an die Wand und meinte: Komm. Du bist jetzt dran. Ich
starrte sie eine Zeitlang an und sagte dann zu mir selbst: Jetzt
reicht's, Waris. Machst du diese Sache jetzt oder nicht? Los,
steh auf, und geh mit.
Ich folgte der Assistentin in den Aufnahmeraum.
Ein Mann, der sich ber eine Kamera beugte, rief mir zu:
Dort hinber. Da ist die Markierung.- Mit der Hand zeigte er
mir die Richtung.
Markierung?
Ja, stell dich auf die Markierung.
Ach ja, gut. Stehe da.
Okay. Zieh dich obenrum aus.
Ich dachte: Bestimmt habe ich mich verhrt. Inzwischen war
mir so schlecht, da ich mich am liebsten bergeben htte.
Oben ausziehen? Sie meinen meine Bluse?
Er kam mit dem Kopf unter dem Tuch hervor und blickte
mich an wie eine arme Irre. Klar doch. Zieh deine Bluse aus,

166

du weit doch wohl, wofr du hier bist? sagte er entnervt.


Aber ich habe keinen BH an.
So soll's ja sein, wir wollen schlielich deinen Busen se
hen.
NEIN! Was soll diese Scheie - meinen Busen! Auer
dem trug ich berhaupt keine Bluse. Alles, was ich anhatte,
war mein rotes Kleid. Was glaubt denn dieser Wichser? Etwa,
da ich mich ausziehe und hier in meiner blden Unterhose
und den Tennisschuhen herumstehe?
Nein. Nein? Alle reien sich darum, zu diesem Casting zu
kommen, und du sagst nein?
Nein, nein, tut mir leid. Irrtum, Irrtum. Ich habe Irrtum ge
macht. Voller Panik steuerte ich auf den Ausgang zu. Da sah
ich auf dem Boden eine Reihe von Polaroids herumliegen. Ich
bckte mich, um sie mir anzuschauen.
Der Fotograf starrte mich einige Sekunden lang mit offenem
Mund an. Dann drehte er sich um und rief ber die Schulter:
O Herr im Himmel, was hast du uns denn da geschickt? Te
rence, wir haben hier ein kleines Problem.
Ein stmmiger, robuster Mann mit grauem Haarschopf und
rosigen Wangen kam herein und blickte mich neugierig an. Er
lchelte sanft. Aha. Wen haben wir denn hier?
Ich richtete mich auf, und die Trnen schossen mir in die
Augen. Nein. Das kann ich nicht tun. Ich mache das nicht.
Dabei deutete ich auf das Foto einer Frau mit bloem Ober
krper. Zuerst war ich einfach nur enttuscht, weil mein groer
Traum, Model zu werden, mit einem Schlag zerplatzt war. Der
erste Job, den ich bekomme, und sie wollen, da ich mich
ausziehe. Dann stieg die Wut in mir hoch. Voller Zorn be
schimpfte ich sie auf.somali. Ihr Saukerle! Ihr Arschlcher!
Steckt euch den Job doch sonstwohin, ihr Schweine!
Was sagst du? Hr zu, ich habe fr solche Mtzchen keine
Zeit. Aber da rannte ich schon hinaus und schlug die Tr so
heftig zu, da sie fast aus den Angeln sprang. Den ganzen

167

Rckweg zum YMCA ber heulte ich und dachte: Ich hab's
doch gewut - an dieser Arbeit als Model ist etwas Trauriges,
etwas ganz Abstoendes.
Abends, als ich krank vor Elend im Bett lag, kam meine Mit
bewohnerin herein. Waris, Anruf fr dich.
Es war Veronica von der Modelagentur. Sie sind das!
schrie ich. Ich will mit Leuten wie Ihnen nicht mehr sprechen!
Sie haben mich in eine peinig ... peinlig ... - ich wollte peinli
che Situation sagen, brachte es aber nicht heraus. Es war
schrecklich. Es war sehr schlimm; ich will so etwas nicht tun.
Ich will es nicht. Ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben!
Okay, aber beruhige dich erst einmal, Waris. Weit du,
wer das heute war, dieser Fotograf?
Nein.
Weit du, wer Terence Donovan ist?
Nein.
Hast du eine Freundin, die Englisch spricht?
Ja.
Nun, jeder, der Englisch spricht, wei, wer dieser Mann ist.
Frag sie nachher mal. Er macht Aufnahmen von Angehrigen
des Knigshauses, von Prinzessin Di und von allen groen
Models. Jedenfalls mchte er dich wiedersehen, er ist daran
interessiert, dich zu fotografieren.
Er wollte, da ich mich ausziehe! Das haben Sie mir nicht
gesagt, bevor ich hingefahren bin!
Das stimmt-tja, wir hatten es sehr eilig. Ich dachte einfach,
du seist genau die Richtige fr diesen Job. Ich habe ihm er
klrt, da du kein Englisch kannst und diese Aufnahmen dei
ner Kultur widersprechen. Aber das ist der Pirelli-Kalender,
und nach diesem Job wirst du jede Menge Auftrge bekom
men. Liest du Modemagazine, Vogue oder Elle?
Nein, die kann ich mir nicht leisten. Ich sehe sie mir am
Zeitungsstand an, lege sie dann aber wieder zurck. Okay,
dann kennst du sie also? Das ist die Art von Arbeit, die du ma

168

chen wirst. Terence Donovan ist der beste; wenn du Model


werden willst, mut du diesen Job machen. Danach wirst du
einen Haufen Geld verdienen und tun und lassen knnen, was
du willst.
Ich ziehe mich aber obenrum nicht aus.
Ich hrte sie aufseufzen. Waris, wo sagtest du, da du ar
beitest?
McDonald's.
Wieviel bezahlen sie dir da? Ich sagte es ihr.
Nun, er zahlt dir 1500 Pfund fr einen Tag.
Ganz fr mich allein? Alles fr mich?
Ja, und du kannst auch reisen. Der Job ist in Bath. Ich
wei nicht, ob du schon einmal dort gewesen bist, aber es ist
ein wunderschner Ort. Du wirst im Royalton wohnen, fgte
sie noch hinzu, als ob ich gewut htte, was das bedeutete.
Nun, willst du es tun oder nicht?
Damit hatte sie mich berzeugt. Wenn ich so viel Geld ver
diente, hatte ich bald genug gespart, um meiner Mutter zu
helfen. Okay, okay. Wann kann ich wieder zu ihm? Wie
wr's mit morgen vormittag?
Und ich mu mich blo ausziehen - das ist wirklich alles?
Ich meine, sind Sie sicher, da ich nicht mit diesem Mann
schlafen mu?
Nein, nein. Das ist kein Trick. Nichts in der Art.
Oder ... da er vielleicht will, ich solle die Beine spreizen
oder etwas hnlich Widerliches. Wenn das so ist, sagen Sie es
mir lieber gleich.
Du mut dich nur obenrum ausziehen. Aber denk daran,
morgen macht er nur ein Polaroid von dir. Danach wird er dir
sagen, ob du den Job bekommst. Dann alles Gute ...
Als ich am nchsten Tag ins Studio kam und Terence Do
novan mich sah, fing er an zu lachen. Ach. Du schon wieder.
Komm nher. Wie heit du denn? Von da an hatte er sehr

169

viel Geduld mit mir. Terence war wie ein Vater, er merkte, da
ich einfach nur ein verngstigtes Kind war, das Hilfe brauchte.
Er brachte mir Tee und zeigte mir Beispiele seiner Arbeit, Auf
nahmen, die er von den schnsten Frauen der Welt gemacht
hatte. Okay. Ich will dir jetzt ein paar Bilder zeigen. Komm
mit. Wir gingen in einen anderen Raum voller Regale und
Schubksten. Auf einem Tisch lag ein Kalender. Er bltterte
durch die Seiten, und auf jeder war das Foto einer anderen
atemberaubend schnen Frau zu sehen. Siehst du? Das ist
der Pirelli-Kalender vom letzten Jahr. Ich mache ihn jedes
Jahr. Aber der nchste wird anders aussehen - nur mit afrika
nischen Frauen. Auf einigen Bildern wirst du etwas anhaben,
auf anderen nicht. Er sprach mit mir alles durch und erklrte
mir den gesamten Ablauf. So bekam ich das sichere Gefhl,
da er nicht einer dieser schmierigen alten Dreckskerle war.
Schlielich sagte er: Okay, und jetzt machen wir das Polaro
id. Bist du bereit?
Ich war bereit gewesen, seit Veronica mir gesagt hatte, wie
viel ich verdienen wrde, aber nun war ich auch vllig ent
spannt. Ja, ich bin bereit. Und von diesem Augenblick an
war ich voll und ganz Profi. Ich stellte mich auf die Markierung,
weg war die Bluse, und blickte vertrauensvoll in die Kamera.
Perfekt! Als Terence mir das Polaroid zeigte, war mir, als she
ich mich in meiner Heimat Afrika. Eine Aufnahme in Schwarz
wei, sehr einfach gemacht und anstndig - nichts Kitschiges
oder Schlpfriges, nichts Pornographisches. Statt dessen
zeigte sie Waris, wie sie in der Wste aufgewachsen war - ein
junges Mdchen, das in der Hitze seine kleinen Brste ent
blt hat.
Als ich abends nach Hause kam, erhielt ich einen Anruf von
der Agentur, die mir mitteilte, ich htte den Job bekommen und
wrde nchste Woche nach Bath fahren. Veronica hatte mir
ihre Privatnummer hinterlassen. So rief ich sie an, um ihr zu
erklren, da ich es mir nicht leisten knne, von meiner Arbeit

170

bei McDonald's fernzubleiben, weil ich nicht wte, wann ich


denn meine Gage fr das Modeling bekommen wrde. Aber
sie beruhigte mich und meinte, wenn ich Geld brauche, wrde
sie mir einen Vorschu zahlen.
Seit diesem Tag habe ich nie wieder den Fu in eine
McDonald's-Filiale gesetzt. Nach dem Telefonat mit Veronica
rannte ich durch den ganzen YMCA und erzhlte nicht nur
meinen alten Freundinnen von meinem neuen Job, sondern
jedem, der es hren wollte. Woraufhin Halwu meinte: Rei
dich zusammen, und gib um Himmels willen nicht so an! Du
zeigst doch blo deine Titten her, oder?
Ja, aber fr 1500 Pfund!
So viel fr diese kleinen Dinger? Du solltest dich sch
men, lachte sie.
Es ist nicht, wie du denkst. Es ist wirklich in Ordnung,
nichts Schmutziges ... wir werden nach Bath fahren und in ei
nem Hotel wohnen!
Ich will nichts davon hren, und hr bitte auf damit, es
berall herumzuposaunen, ja?
In der Nacht vor der Abfahrt fand ich keinen Schlaf. Ich
wnschte mir, es wre schon Morgen. Meine Tasche stand
gepackt neben der Tr. Ich konnte es immer noch nicht gla u
ben - bisher war ich noch nie woanders gewesen, und diese
Leute zahlten mir sogar Geld dafr! Terence Donovan lie
mich mit einem Wagen abholen und zur Victoria Station brin
gen. Dort sollte sich die ganze Gruppe - die Fotografen und
Assistenten, der Art-director, vier weitere Models, die Visagi
stin, der Hairstylist und ich - treffen, um gemeinsam mit dem
Zug nach Bath zu fahren. Ich war als erste am Bahnhof, weil
ich frchtete, ich knnte den Zug verpassen. Die nchste, die
eintraf, war Naomi Campbell.
Nachdem wir in Bath angekommen waren, bezogen wir un
sere Zimmer im Royalton, das wie ein Palast aussah. Ich be

171

kam ganz fr mich allein ein riesiges Zimmer. Aber in der er


sten Nacht kam Naomi zu mir und fragte mich, ob sie bei mir
schlafen drfe. Sie war noch sehr jung und mdchenhaft, etwa
sechzehn oder siebzehn Jahre alt, und frchtete sich allein in
ihrem Zimmer. Sicher, sagte ich, denn ich hatte gerne Ge
sellschaft.
Aber verrate es niemandem, ja? Sie werden sonst viel
leicht bse, wenn sie merken, da sie einen Haufen Geld fr
mein Zimmer ausgegeben haben, und ich schlafe gar nicht
darin.
Mach dir keine Sorgen - bleib einfach hier. Nach all den
Jahren der bung war es fr mich die selbstverstndlichste
Sache der Welt, die Mutter zu spielen. Meine Freundinnen
nannten mich schon Mama, weil ich immer alle bemuttern
wollte. Ich werde keinem etwas sagen, Naomi.
Am nchsten Morgen ging die Arbeit los. Jeweils zwei der
Mdchen bekamen das Haar und das Make-up gemacht, dann
begann Terence Donovan mit den Aufnahmen. In der Zwi
schenzeit bereiteten sich die nchsten beiden Mdchen vor
und so weiter. Als ich an diesem Morgen zum Hairstylisten
kam, sagte ich zu ihm, er solle alles abschneiden. Damals war
ich fr ein Model ziemlich stmmig; ich hatte reichlich McDo
nald's-Speck auf den Rippen. Ich wollte kurzes Haar, damit ich
etwas modischer aussah. Der Friseur schnippelte und schnip
pelte, bis fast nichts mehr brig war. Als die anderen mich sa
hen, meinten sie: Oh, du bist ja kaum wiederzuerkennen.
Aber ich hatte mir vorgenommen, die Leute wirklich zu schok
kieren, und sagte zu dem Haarstylisten: Weit du, was ich
will? Blond gefrbte Haare.
O Gott. Nein, das werde ich nicht tun. Du wrdest grlich
aussehen - wie durchgeknallt!
Naomi Campbell lachte und meinte: Waris, weit du was?
Eines Tages wirst du berhmt sein. Aber vergi mich dann

172

nicht, ja? Natrlich wurde genau das Gegenteil wahr, und


jetzt ist sie von uns beiden die Berhmtheit.
So arbeiteten wir sechs Tage lang, und ich konnte nicht
glauben, da ich dafr bezahlt wurde. Wenn wir abends
Schlu machten und die anderen mich fragten, was ich heute
abend noch vorhtte, kam von mir immer die gleiche Antwort:
einkaufen gehen. Sie berlieen mir das Auto, und der
Chauffeur setzte mich ab, wo ich wollte; spter holte er mich
dort wieder ab. Nach der Session whlten sie berrasche n
derweise mein Foto fr das Titelbild aus. Ich empfand das als
besondere Ehre, und zudem verschaffte es mir groe Publici
ty.
Wir nahmen den Zug zurck nach London. Am Bahnhof
hpfte ich in die Limousine und lie mich zur Agentur bringen.
Kaum dort angekommen, riefen sie schon: Rate mal, was wir
fr dich haben! Ein neues Casting, es ist gleich hier in der N
he. Aber Beeilung, du mut sofort los.
Ich protestierte, denn ich war mde. Ich gehe morgen hin,
sagte ich.
Nein, nein. Morgen ist zu spt, dann ist es schon vorbei.
Sie suchen nach Bond-Girls fr den neuen James-Bond-Film
Der Hauch des Todes mit Timothy Dalton. La deine Tasche
hier, und dann los. Wir gehen mit und zeigen dir, wo es ist.
Einer der Jungs aus der Agentur fhrte mich um den H u
serblock und deutete auf ein Gebude: Siehst du den Ein
gang dort drben, wo alle Leute hineinlaufen? Da ist es. Ich
ging hinber, und es wiederholte sich, was ich schon im Studio
von Terence Donovan erlebt hatte, nur schlimmer. Drinnen
war eine ganze Armee von Mdchen, die herumstanden, an
den Wnden lehnten, dasaen, schwatzten, herumstolzierten
und posierten.
Der Assistent sagte: Wir mchten, da jede von euch ein
paar Stze spricht. Das beunruhigte mich ein wenig, aber ich

173

redete mir selbst gut zu, da ich nun ja Berufsmodel war, oder
etwa nicht? Schlielich hatte ich mit Terence Donovan fr den
Pirelli-Kalender gearbeitet. Also gab es nichts, mit dem ich
nicht fertig werden konnte. Als ich an die Reihe kam, fhrten
sie mich ins Studio und zeigten mir die Markierung, auf die ich
mich stellen sollte.
Ich will euch Jungs nur sagen, da ich nicht sehr gut Eng
lisch spreche, begann ich.
Sie hielten eine Texttafel hoch und sagten: Ist schon in
Ordnung, du mut das nur ablesen. O mein Gott, was mache
ich jetzt? Zugeben, da ich kaum lesen kann? Nein, das ist
zuviel, das ist zu erniedrigend. Das kann ich nicht.
Statt dessen sagte ich: Entschuldigung. Ich mu mal
schnell, bin gleich zurck. Und ich rannte aus dem Gebude
hinber zur Agentur, um meine Tasche zu holen. Der Himmel
wei, wie lange die Casting-Leute auf meine Rckkehr ge
wartet haben, bis jemand merkte, da ich fort war. In der
Agentur behauptete ich, ich sei noch nicht an der Reihe und
wolle zuerst einmal meine Tasche holen, weil es nach einer
langen Warterei aussehe. Das war gegen ein oder zwei Uhr,
aber ich ging nach Hause, warf meine Tasche in die Ecke und
machte mich dann auf den Weg zu einem Friseur. Ganz in der
Nhe des YMCA fand ich einen Frisierladen. Der freundliche
Herr, der ihn fhrte, fragte nach meinen Wnschen.
Frben Sie mein Haar blond, erwiderte ich.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. Tja, das knnen wir
machen, aber Sie mssen wissen, da das ziemlich lange
dauert. Und wir schlieen um acht.
Gut. Dann haben wir ja Zeit bis um acht.
Ja schon. Aber es sind noch andere Kundinnen vor Ihnen
dran. Ich bettelte so lange, bis er schlielich nachgab. Beim
Auftragen des Peroxids bereute ich meinen Entschlu beinahe
schon wieder. Mein Haar war so kurz, da das Mittel auf der
Kopfhaut brannte; mir war, als wrden sich ganze Hautfetzen

174

vom Schdel lsen. Doch ich bi die Zhne zusammen und


lie es ber mich ergehen. Als der Friseur mein Haar wusch,
hatte es eine orange Farbe. Er fhrte also die ganze Prozedur
noch einmal durch, denn das Peroxid mute lnger einwirken,
um meine natrliche Haarfarbe wegzubleichen. Nach dem
zweiten Mal hatte ich gelbes Haar. Erst beim dritten Mal war
ich schlielich blond.
Mir gefiel es, aber auf dem Weg zur U-Bahn begegneten
mir kleine Kinder, die schnell ihre Mutter an der Hand faten,
als sie mich sahen, und aufgeregt riefen: Mami, Mami, was
ist denn das? Ist das ein Mann oder eine Frau? Ich dachte
nur: Verdammt. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich
jage den Kindern Angst ein. Aber zu Hause angekommen, be
schlo ich, mich nicht darum zu scheren, denn schlielich
hatte ich mein Haar ja nicht wegen irgendwelcher Kinder ge
frbt. Blond zu sein war etwas, das ich fr mich ausprobieren
wollte, und ich fand, da es ganz toll aussah.
Ein Stapel Nachrichten von der Agentur wartete zu Hause
auf mich. Wo steckst du? Die ganze Mannschaft vom Casting
wartet auf dich. Kommst du zurck? Sie wollen dich nach wie
vor sehen ... Weil die Agentur schon Feierabend hatte, rief ich
Veronica zu Hause an. Waris, wo bist du denn gewesen? Sie
dachten, du wolltest nur schnell auf die Toilette. Versprich mir,
da du morgen wieder hingehst. Ich versprach es ihr.
Natrlich stach das, was ich Veronica verschwiegen hatte,
den Casting-Leuten sofort ins Auge: Gestern war ich eine ganz
normale Schwarze gewesen, heute war ich eine Somali mit
blondem Haar. Alle blieben stehen und starrten mich an.
Mensch! Das ist ja irre! Hast du das gestern abend machen
lassen?
Ja.
Unglaublich. Phantastisch. Phantastisch! La das so, ja?
Glaubt mir, erwiderte ich, so schnell bringt mich nie
mand mehr zu dieser Tortur. Erst mal bleibt mein Haar blond.

175

Wir fuhren mit den Probeaufnahmen an dem Punkt fort, an


dem wir tags zuvor aufgehrt hatten. Machst du dir Gedan
ken wegen deinem Englisch? Ist das das Problem?
Ja. Noch immer fehlte mir der Mut zuzugeben, da ich
kaum lesen konnte.
Okay. Also stell dich einfach hin, sieh nach rechts, dann
nach links. Sag deinen Namen, erzhl uns, woher du kommst,
was das fr eine Agentur ist, fr die du arbeitest, und das wr's
dann schon. Soviel brachte ich noch fertig. Da meine Agentur
ganz in der Nhe lag, beschlo ich nach dem Casting, einfach
dort vorbeizuschauen und ihnen mein neues Aussehen zu
prsentieren. Sie waren auf hundertachtzig. Was zum Teufel
hast du mit deinem Haar gemacht
Ist doch schn, oder?
O mein Gott, nein, es ist nicht schn! So knnen wir dich
nicht vermitteln. Du mut dich mit uns absprechen, bevor du
etwas an deiner Erscheinung nderst, Waris. Die Kunden
mssen wissen, was sie bekommen. Das ist nicht mehr nur
dein Haar, und du kannst nicht einfach damit machen, was dir
gefllt. Den Casting- Leuten jedoch hatte mein Haar sehr
wohl gefallen, und ich bekam den Job als Bond-Girl. Aber in
der Agentur hatten die Leute von diesem Tag an einen Spitz
namen fr mich: Guinness. Weil ich schwarz war mit einer
weien Krone obendrauf.
Ich freute mich riesig ber meine neue Filmkarriere, bis ich
eines Tages in die Agentur kam und Veronica zu mir sagte:
Ich habe groe Neuigkeiten fr dich, Waris. Der Hauch des
Todes wird in Marokko gedreht.
Mir fuhr der Schreck in alle Glieder. Leider mu ich dir et
was sagen, was ich dir lieber nicht wrde erzhlen mssen.
Erinnerst du dich noch, als du mich in die Agentur aufgenom
men und gefragt hast, ob ich einen Pa habe? Nun, ich besit
ze zwar einen, aber ohne gltiges Visum. Wenn ich also Eng
land verlasse, kann ich nicht mehr einreisen.

176

Waris, du hast mich angelogen! Du mut einen gltigen


Pa besitzen, um Model zu sein, oder wir knnen dich nicht
gebrauchen; du mut doch stndig reisen. Mein Gott! Du
kannst diesen Auftrag nicht annehmen. Wir mssen absagen.
Nein, nein. Mach das nicht. Ich denke mir etwas aus. Ich
finde schon eine Lsung. Veronica sah mich unglubig an,
meinte aber, das sei meine Sache. In den folgenden Tagen
hockte ich in meinem Zimmer und grbelte ber mein Problem
nach. Aber mir fiel nichts ein. Ich zog alle meine Freundinnen
zu Rate, doch die einzig denkbare Mglichkeit war zu heiraten.
Was daran scheiterte, da ich niemanden kannte, der dafr in
Frage kam. Ich war am Boden zerstrt, nicht nur, weil meine
Karriere jetzt im Eimer war, sondern auch, weil ich Veronica
angelogen und die Agentur in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Mitten in diesem Schlamassel ging ich eines Abends hi n
unter ins Schwimmbad. Meine Freundin Marilyn, eine Schwar
ze, die in London geboren war, arbeitete dort als Bademeiste
rin. Als ich das erste Mal dort gewesen war, hatte ich mich nur
einfach an den Rand gesetzt und auf das Becken geschaut,
weil ich Wasser so gerne mag. Schlielich fragte mich Marilyn
eines Abends, warum ich nie ins Wasser steigen wrde, und
ich erzhlte ihr, ich knne nicht schwimmen. Das kann ich dir
doch beibringen, meinte sie.
Gut. Ich ging zur tiefen Seite des Beckens, holte tief Luft
und sprang hinein. Da sie ja Bademeisterin war, so stellte ich
mir vor, wrde sie mich retten. Aber statt dessen schwamm ich
wie ein Fisch unter Wasser die ganze Strecke bis zum ande
ren Ende des Beckens.
Breit grinsend tauchte ich auf. Ich hab's geschafft! Ich
kann's kaum glauben, aber ich hab's geschafft! Marilyn war
jedoch ziemlich sauer. Wieso hast du behauptet, du knntest
nicht schwimmen?
Ich bin noch nie in meinem Leben geschwommen! Wir
wurden enge Freundinnen. Sie wohnte bei ihrer Mutter am

177

anderen Ende der Stadt, und manchmal, wenn sie erst spt
abends Dienstschlu hatte und zu mde fr die lange Fahrt
nach Hause war, bernachtete sie bei mir im Zimmer.
Marilyn war ein grozgiger, liebenswerter Mensch, und als
ich an jenem Abend im Becken meine Runden drehte und da
bei meine Probleme mit dem Pa zu vergessen suchte, kam
mir pltzlich die rettende Idee. Ich steuerte auf den Becken
rand zu und nahm meine Schwimmbrille ab. Marilyn, japste
ich, ich brauche deinen Pa.
Was? Wovon sprichst du? Ich erklrte ihr mein Dilemma.
Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank, Waris! Weit du,
was passieren wird? Sie werden dich schnappen und fr im
mer ausweisen, und mich stecken sie in den Knast. Und wofr
soll ich das alles riskieren? Damit du in einem blden JamesBond-Film mitspielen kannst! Ich denke gar nicht daran.
Ach, Marilyn, komm schon. Das ist doch nur ein Spa, ein
Abenteuer! Riskier's einfach. Wir gehen zusammen zum Post
amt, und ich beantrage in deinem Namen einen Pa. Ich f l
sche deine Unterschrift und klebe mein Bild hinein. Zwar ist
nicht mehr viel Zeit, aber einen vorlufigen Pa kann ich in
nerhalb von ein paar Tagen bekommen. Bitte, Marilyn. Das ist
meine groe Chance, zum Film zu kommen!
Nach stundenlangem Bitten und Betteln gab sie schlielich
am Tag vor meiner geplanten Abreise nach Marokko nach. Ich
lie ein Foto von mir machen, dann gingen wir gemeinsam
zum Postamt; eine Stunde spter hatte ich einen britischen
Pa. Marilyn jedoch war den ganzen Nachhauseweg ber
krank vor Sorge. Ich versuchte stndig, sie aufzumuntern.
Kopf hoch, Marilyn. Komm schon, es wird bestimmt gutge
hen. Du mut nur daran glauben.
Da ich nicht lache. Ich glaube nur eins, nmlich da die
ser Bldsinn mein ganzes Leben zerstren kann. Wir fuhren
zu ihrer Mutter, um dort den Abend zu verbringen. Ich schlug
vor, uns ein paar Videofilme auszuleihen, beim Chinesen et

178

was zum Essen zu holen und es uns dann gemtlich zu ma


chen. Aber als wir bei ihr waren, jammerte Marilyn: Waris
ich kann's einfach nicht. Es ist zu gefhrlich. Gib mir den Pa
zurck. Traurig reichte ich ihn ihr. Damit hatte sich meine
Filmkarriere ins Reich der Trume verflchtigt. Du bleibst
hier. Ich will ihn oben in meinem Zimmer verstecken, sagte
sie.
Okay, Mdchen, erwiderte ich. Wenn es dir solche
Bauchschmerzen bereitet und du glaubst, da es schiefgehen
wird, dann lassen wir es bleiben. Aber sobald sie schlafen
gegangen war, begann ich, ihr Zimmer zu durchstbern. Sie
hatte Hunderte von Bchern, und ich wute, da der Pa in
einem von ihnen versteckt sein mute. Eines nach dem ande
ren zog ich sie aus dem Regal und schttelte jedes aus. Ich
mute mich beeilen, weil mich am nchsten Morgen ein Auto
bei ihr abholen wrde. Und tatschlich - pltzlich fiel mir der
Pa vor die Fe. Ich hob ihn schnell auf, steckte ihn in meine
Tasche und schlpfte dann ins Bett. Morgens schlich ich mich
gleich nach dem Aufwachen hinunter, damit der Fahrer nie
manden aufweckte, wenn er an der Tr klingelte. Es war kalt
drauen. Zitternd wartete ich auf dem Brgersteig, bis der
Wagen kam, der mich nach Heathrow brachte.
Aus England auszureisen war kein Problem. In Marokko
bestand meine Filmkarriere aus ein paar Szenen, in denen ich
eine junge Schnheit mimte, die sich am Pool rkelt. Au
erdem wirkte ich noch in einer anderen Einstellung mit, in der
wir in diesem phantastischen Haus in Casablanca sitzen und
Tee trinken, wobei smtliche Frauen aus irgendeinem Grund
nackt sind. James Bond fliegt durch das blde Dach, und wir
schlagen uns die Hnde vors Gesicht und kreischen: Ahhh, o
mein Gott! Aber ich dachte mir blo: Ich will mich nicht bekla
gen. Da ich keine Sprechrolle habe, mu ich mir wenigstens
keine Sorgen machen, da ich nicht lesen kann.

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Wenn nicht gedreht wurde, hingen wir im Haus herum, ver


gngten uns am Pool, aen unentwegt und schlugen die Zeit
tot. Ich setzte mich immer in die Sonne, berglcklich, sie
nach meinem Leben im nebligen London endlich wiederzuse
hen. Da ich keinen rechten Kontakt zu den Filmleuten fand,
blieb ich meist fr mich allein. Es waren alles sehr gutausse
hende und beeindruckende Menschen, sie sprachen perfekt
Englisch und schienen einander zu kennen; stndig schwatz
ten sie ber diesen oder jenen Job. Ich war einfach nur begei
stert, wieder in Afrika zu sein; abends ging ich immer nach
drauen zu den Mamas, die fr ihre Familien prchtige Mahl
zeiten zubereiteten. Ich konnte zwar ihre Sprache nicht, aber
wir lchelten uns an, und wenn ich ein Wort auf arabisch sag
te, antworteten sie mit einem englischen Ausdruck, und dann
lachten wir.
Eines Tages meinte jemand aus der Filmcrew: Will jemand
zu den Kamelrennen? Kommt, wir fahren hin. Nachdem wir
uns einige Rennen angesehen hatten, fragte ich einen der
arabischen Jockeys, ob ich auch einmal reiten drfe. Wir ver
stndigten uns in einem Mischmasch aus verstmmeltem Ara
bisch und Englisch. Er wehrte ab - o nein, Frauen seien als
Jockeys nicht zugelassen.
Ich wette, ich schlage dich, erwiderte ich. Komm schon,
ich zeig's dir. Du willst mich blo nicht reiten lassen, weil du
Angst hast, da ich gewinne! Da dieses kleine Mdchen ihn
herausforderte, rgerte ihn sehr, und deshalb gab er schlie
lich nach. In der Filmcrew sprach sich schnell herum, da Wa
ris am nchsten Rennen teilnehmen wrde; sie umringten
mich, und ein paar Leute versuchten, es mir auszureden. Ich
aber erwiderte nur, sie sollten ihr Geld auf Waris setzen, denn
ich htte vor, diesen marokkanischen Kerlen eine Lektion zu
erteilen. An den Start kamen etwa zehn arabische Jockeys auf
ihren Kamelen - und ich. Das Rennen begann, die Tiere
schossen los. Fr mich war es ein schrecklicher Ritt, weil mir

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dieses Kamel nicht vertraut war und ich es nicht recht im Griff
hatte. Kamele laufen nicht nur ziemlich schnell, sondern be
wegen sich dabei auf und ab und schwanken noch dazu, des
halb klammerte ich mich mit aller Kraft fest. Mir war klar, wenn
ich hinunterfiel, wrden mich die Tiere zu Tode trampeln.
Am Ende belegte ich den zweiten Platz. Die James-BondLeute waren verblfft, und obwohl sie mich etwas sonderbar
musterten, hatte ich mir bei ihnen Respekt verschafft, vor al
lem, als sie ihre Wettgewinne abholten. Wieso kannst du so
etwas? wollte eines der Mdchen wissen. Das war leicht.
Wenn du auf einem Kamel geboren bist, weit du auch, wie
man ein Kamel reitet, lachte ich.
Das Kamelrennen erforderte jedoch weniger Mut als das,
was mich erwartete, als wir wieder in Heathrow eintrafen. Wir
stiegen aus dem Flugzeug und reihten uns in die Schlange vor
der Zollabfertigung ein. Whrend wir langsam vorrckten, hol
ten wir unsere Psse heraus. jedesmal wenn die Beamten am
Schalter Der nchste! riefen, litt ich Hllenqualen, denn da
durch nherte ich mich Schritt fr Schritt der Gefahr, verhaftet
zu werden.
Die britischen Grenzbeamten sind sowieso schon sehr
schroff, wenn man nach England einreisen will; aber bei einer
Afrikanerin mit schwarzer Hautfarbe sind sie doppelt streng.
Sie mustern die Psse mit Rntgenblicken. Ich fhlte mich so
elend, da ich am liebsten ohnmchtig geworden wre, und
wnschte mir, ich knnte mich auf den Boden legen und ster
ben, so da diese Qual ein Ende htte. Lieber Gott, betete ich,
bitte hilf mir. Wenn ich das durchstehe, verspreche ich, nie
wieder etwas so Bldes zu tun.
Mir durften nur die Knie nicht versagen, dann htte ich es
geschafft. Pltzlich ri mir eines der mnnlichen Models, ein
widerlicher Kerl namens Geoffrey, meinen Pa aus der Hand.
Dieser Geoffrey war bekannt als ekliger Klugscheier, der sich

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gern einen Spa daraus machte, andere Leute in Verlegenheit


zu bringen. Und diesmal htte er kein besseres Opfer finden
knnen. Oh, bitte, bitte ... Ich versuchte, ihm den Pa wie
der wegzunehmen, aber er war viel grer als ich und hielt ihn
so hoch, da ich ihn nicht zu fassen bekam.
Die ganze Crew kannte mich unter meinem Namen Waris;
jeder wute, da ich Waris Dirie hie. Nun schlug Geoffrey
den Pa auf und brllte los: O mein Gott. Hrt mal zu, hrt
alle zu! Ratet mal, wie sie heit! MARILYN MONROE.
Bitte, gib ihn mir wieder ... Ich zitterte vor Angst.
Er lief im Kreis herum, bog sich vor Lachen und hielt dann
jedem in der Schlange meinen Pa unter die Nase. Sie heit
Marilyn Monroe! Stellt euch das mal vor! Was soll dieser
Quatsch? Was verheimlichst du eigentlich, Mdchen? Jetzt ist
klar, warum du dir die Haare blond gefrbt hast!
Ich hatte keine Ahnung, da es noch eine andere Marilyn
Monroe gab. Fr mich war das einfach meine Freundin, die
Bademeisterin im YMCA. Zum Glck war mir das zustzliche
Risiko, da ich mit einem Pa herumlief, in dem mein Bild
klebte und daneben der Name eines berhmten Filmstars
stand, nicht bewut gewesen. Meine einzige Sorge bestand in
diesem Augenblick darin, da ich laut meinem Pa Marilyn
Monroe hie, in London geboren war, aber kaum einen kor
rekten englischen Satz herausbrachte. Ich bin tot ... es ist aus
... ich bin tot ... es ist aus ... hallte es mir stndig durch den
Kopf, whrend mir der Schwei in Strmen den Krper hinun
terlief.
Die anderen James-Bond-Leute beteiligten sich an dem
grausamen Spiel: He, wie heit du denn nun wirklich? Also
mal ehrlich, woher kommst du? Wutest du, da Leute, die
mitten in London geboren sind, kein Englisch sprechen? Es
war eine grliche Stichelei. Schlielich gab mir dieser Wich
ser Geoffrey den Pa zurck. Ich stellte mich wieder ans Ende
der Schlange und lie sie alle vor mir durchgehen. Meine

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Hoffnung war, da sie verschwunden wren, wenn ich an die


Reihe kam.
DIE NCHSTE!
Nachdem die brige Filmcrew die Pakontrolle hinter sich
gebracht hatte, ging keiner von ihnen gleich seines Weges
oder sprintete zum Auto, wie sie es normalerweise nach einer
langen Reise getan htten. Nein. Sie warteten, standen gleich
hinter dem Paschalter in Gruppen zusammen, um zu beob
achten, wie ich wohl aus diesem Schlamassel herauskme.
Rei dich zusammen, Waris. Du kannst es schaffen. Ich trat
an den Schalter und reichte dem Grenzbeamten mit einem
strahlendem Lcheln meinen Pa. Hallo! rief ich, dann hielt
ich den Atem an. Mir war klar, da ich kein weiteres Wort sa
gen durfte, denn dann htte er gemerkt, da mein Englisch ein
Witz war.
Herrliches Wetter heute, nicht?
Hmm. Ich nickte und lchelte. Schlielich gab er mir mei
nen Pa zurck, und ich rauschte an ihm vorbei. Die JamesBond-Crew stand nur da und starrte mich verblfft an. Am
liebsten htte ich jetzt erst mal verschnauft, eine Pause ein
gelegt, aber ich hastete an ihnen vorbei, denn ich wute, da
ich erst auerhalb des Flughafens in Sicherheit war. Geh ein
fach weiter, Waris. Sieh zu, da du lebend aus Heathrow her
auskommst.

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12. Die rzte

Zu der Zeit, als ich noch im YMCA wohnte, verbrachte ich


einmal einen Nachmittag unten im Schwimmbad und drehte
dort meine Runden. Danach zog ich mich in der Umkleideka
bine um und war schon wieder auf dem Weg in mein Zimmer,
als jemand aus dem kleinen Cafe im YMCA meinen Namen
rief. Es war William, ein Typ, der ebenfalls hier wohnte. Er
winkte mir, ich solle hereinkommen. Waris, setz dich doch.
Mchtest du vielleicht etwas essen?
William verdrckte gerade ein Ksesandwich, und ich erwi
derte: Ja, ich nehme auch so eins, bitte. Meine Eng
lischkenntnisse waren immer noch ziemlich bescheiden, aber
ich konnte mir zusammenreimen, was er sagte. Whrend wir
aen, lud er mich ein, mit ihm ins Kino zu gehen. Es war nicht
seine erste Einladung. William war ein junger Weier, sah gut
aus und war stets sehr nett. Aber als er mit mir sprach, achtete
ich mit einem Mal nicht mehr auf das, was er sagte. Statt des
sen beobachtete ich nur, wie sich seine Lippen bewegten, und
mein Gehirn begann wie ein Computer zu arbeiten:
Geh mit ihm ins Kino.
Wenn er doch nur wte, was mit mir los ist.
Ach, stell dir vor, wie es wre, einen Freund zu haben.
Es wre wahrscheinlich sehr schn. Jemanden zu haben,
mit dem man reden kann. Jemanden, der mich liebt.

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Aber wenn ich mit ihm ins Kino gehe,


Wird er mich kssen wollen.
Dann wird er mit mir schlafen wollen.
Und wenn ich einwillige,
Wird er herausfinden, da ich nicht wie andere Mdchen
bin.
Ich bin beschdigt.
Wenn ich aber nein sage,
Wird er wtend werden, und wir werden streiten. Geh nicht.
Es ist den Kummer nicht wert. Sag nein.
Wenn er blo wte, was mit mir los ist, wrde er begreifen,
da es nichts mit ihm zu tun hat.
Ich lchelte und schttelte den Kopf. Nein, danke. Ich habe
zuviel zu tun. Der verletzte Blick, den ich erwartet hatte, kam
auch prompt; ich zuckte die Achseln, eine Geste, die an uns
beide gerichtet war: Ich kann's nicht ndern.
Dieses Problem war erst aufgetaucht, nachdem ich in den
YMCA gezogen war. Als ich noch bei meiner Familie lebte, traf
ich normalerweise nie ohne Begleitperson mit fremden Mn
nern zusammen. Ein Mann, der zu meinen Eltern oder zu
Tante Sahru oder Onkel Mohammed kam, kannte entweder
unsere Kultur und versuchte daher erst gar nicht, sich mit mir
zu verabreden, oder er wre von meinen Familienangehrigen
entsprechend instruiert waren. Aber seit ich das Haus meines
Onkels verlassen hatte, lebte ich allein. Und zum ersten Mal
mute ich nun mit Situationen wie dieser selbst zurechtkom
men. Im YMCA wohnten eine Menge junger, alleinstehender
Mnner. Wenn ich mit Halwu durch die Clubs zog, lernte ich
weitere Mnner kennen, und durch die Arbeit als Model noch
mehr.
Doch ich war an keinem nher interessiert. Der Gedanke,
mit einem Mann zu schlafen, kam mir nie in den Sinn, aber
leider wute ich durch einige meiner leidvollen Erfahrungen,

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da sie hingegen sehr wohl daran dachten. Obwohl ich mich


immer wieder gefragt habe, wie wohl mein Leben ausgesehen
htte, wre ich nicht beschnitten worden, kann ich es mir nicht
vorstellen. Ich mag Mnner, und ich bin ein sehr gefhlsbe
tonter, liebebedrftiger Mensch. Damals lag es sechs Jahre
zurck, da ich meinem Vater davongelaufen war, und ich er
trug das Alleinsein nur schwer; mir fehlte meine Familie. Und
ich hoffte auch, eines Tages einen Ehemann und eine eigene
Familie zu haben. Aber solange ich zugenht war, sperrte sich
alles in mir gegen eine Beziehung, ruhte dieser Wunsch tief
verschlossen in meinem Inneren. Es war, als wrde die Naht
es jedem Mann unmglich machen, auf irgendeine Weise in
mich einzudringen - physisch und emotional.
Das andere Problem, das mich von einer Beziehung mit ei
nem Mann abhielt, tauchte auf, als ich begriff, da ich anders
war als die brigen Frauen, vor allem die Englnderinnen.
Nachdem ich in London angekommen war, dmmerte mir all
mhlich, da nicht mit allen Mdchen das gemacht worden
war, was man mir zugefgt hatte. Als ich zusammen mit mei
nen Cousinen in Onkel Mohammeds Haus wohnte, war ich
manchmal gemeinsam mit den anderen Mdchen im Bade
zimmer. Ich war vllig erstaunt, wenn sie mit starkem Strahl
pinkelten, whrend ich an die zehn Minuten dazu brauchte.
Durch die winzige ffnung, die die Beschneiderin gelassen
hatte, konnte der Urin nur tropfenweise heraus. Waris, warum
pinkelst du denn so komisch? Was ist mir dir los? Ich wollte
es ihnen nicht sagen, weil ich vermutete, da man sie nach
ihrer Rckkehr nach Somalia ebenfalls beschneiden wrde,
deshalb lachte ich zur Antwort nur.
Meine Menstruation jedoch war keineswegs zum Lachen.
Von Anfang an - ich war damals etwa elf oder zwlf Jahre alt
war sie ein einziger Alptraum. Eines Tages, als ich gerade al
lein meine Schafe und Ziegen htete, setzte sie ein. An die

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sem Tag war es unertrglich hei, und ich hockte matt unter
einem Baum und fhlte mich zusehends unwohler, weil mir der
Bauch weh tat. Zuerst berlegte ich: Was ist das fr ein
Schmerz? Bin ich etwa schwanger? Vielleicht bekomme ich
ein Baby? Aber ich bin doch mit keinem Mann zusammenge
wesen, wie knnte ich da schwanger sein? Der Druck wurde
immer strker und ebenso meine Angst. Etwa eine Stunde
spter ging ich pinkeln, und da sah ich das Blut. Ich dachte,
jetzt msse ich sterben.
Ich lie die Tiere im Busch grasen und lief, so schnell ich
konnte, zu meiner Mutter. Ich sterbe! O Mama, ich sterbe!
schrie ich.
Was redest du da?
Ich verblute, Mama, ich werde sterben!
Sie blickte mich streng an. Nein, du wirst nicht sterben.
Das ist schon in Ordnung. Es ist nur deine Periode. Ich hatte
noch nie davon gehrt und wute berhaupt nichts darber.
Kannst du mir das bitte erklren und mir sagen, was das
heit? Whrend ich mich vor Schmerzen krmmte und mir
den Unterleib hielt, beschrieb mir meine Mutter den Vorgang.
Aber was kann man gegen diese Schmerzen tun? Weil ...
weit du, es fhlt sich an, als wrde ich sterben!
Waris, da kann man nichts dagegen machen. Du mut es
halt ertragen. Warte, bis es von selbst wieder aufhrt. Aber
ich war nicht bereit, das einfach so hinzunehmen. Auf der Su
che nach irgend etwas, das mir Erleichterung verschaffen
knnte, ging ich zurck in die Wste und fing an, unter einem
Baum ein Loch zu graben. Die Bewegung tat mir gut und
lenkte mich ein wenig von den Schmerzen ab. Mit einem Stock
grub ich und grub, bis das Loch so tief war, da ich bis zur
Hfte hineinpate. Dann stieg ich hinein und fllte es um mich
herum wieder mit Erde; auf diese Weise verschaffte ich mir
etwas Khlung, es war wie eine Art Eispackung. Und dort blieb
ich, solange die Hitze des Tages anhielt.

187

Ein Loch in die Erde zu graben wurde meine Methode, all


monatlich mit meiner Periode fertig zu werden. Zu meiner
berraschung fand ich spter heraus, da meine Schwester
Aman das gleiche gemacht hatte. Aber diese Behandlung
hatte auch ihre Schattenseiten. Eines Tages kam mein Vater
vorbei und sah, da ich halb eingegraben unter einem Baum
in der Erde steckte. Aus der Entfernung sah es aus, als sei ich
an der Hfte entzweigeschnitten und auf den Boden gesetzt
worden. Was zum Teufel tust du da? Als ich seine Stimme
hrte, versuchte ich automatisch, aus dem Loch herauszu
springen, aber weil ich fest in die Erde eingepackt war, blieb
ich stecken. Ich schaufelte wild mit den Hnden, um meine
Beine freizubekommen. Papa lachte wie verrckt. Da ich zu
schchtern war, um zu erklren, warum ich das gemacht hatte,
ri er anschlieend immer wieder Witze darber. Wenn du
dich lebendig begraben willst, dann mach es aber auch richtig.
Ich meine, was sollen denn diese halben Sachen? Spter
fragte er meine Mutter, was mein seltsames Verhalten zu be
deuten habe. Er befrchtete, seine Tochter knnte sich in eine
Art Hhlentier verwandeln - in einen Maulwurf, der ganz wild
darauf ist, sich in die Erde zu whlen. Aber Mama erklrte ihm,
was dahintersteckte.
Doch wie meine Mutter vorhergesagt hatte, gab es nichts,
womit ich den Schmerz wirklich htte lindern knnen. Damals
wute ich noch nicht, was in mir vorging - da das Menstruati
onsblut sich in meinem Krper staute, genau wie der Urin. Und
da es mehrere Tage lang flo - oder zumindest zu flieen ver
suchte -, war der durch den Stau verursachte Druck eine ein
zige Tortur. Das Blut konnte nur tropfenweise austreten; das
fhrte dazu, da meine Periode meist mindestens zehn Tage
dauerte.
Ganz schlimm wurde es, als ich bei meinem Onkel Mo
hammed wohnte. Eines Morgens machte ich ihm wie gewhn
lich sein Frhstck. Doch als ich mit dem Tablett auf dem Weg

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von der Kche ins Ezimmer war, wo er wartete, fiel ich pltz
lich in Ohnmacht. Das ganze Geschirr rutschte mir aus der
Hand und zerbrach. Mein Onkel kam gleich herbeigelaufen
und schlug mir ins Gesicht, um mich wieder zu Bewutsein zu
bringen. Ganz langsam kam ich zu mir, und wie aus weiter
Ferne hrte ich ihn rufen: Maruim! Maruim! Sie ist ohnmch
tig geworden!
Als ich wieder bei Sinnen war, fragte mich Tante Maruim,
was mit mir los sei, und ich erzhlte ihr, da an diesem Mor
gen meine Periode eingesetzt hatte. Nun, das ist nicht in
Ordnung, wir mssen dich zu einem Arzt bringen. Ich verein
bare fr heute nachmittag einen Termin.
Dem Arzt meiner Tante erzhlte ich, da meine Perioden
sehr schlimm seien und ich anfangs immer ganz benommen
sei. Der Schmerz lhme mich, und ich wisse nicht, was ich
dagegen tun knne. Knnen Sie mir helfen? Bitte. Gibt es
etwas, was Sie dagegen machen knnen? Ich halte das nicht
mehr aus. Nicht erwhnt hatte ich allerdings, da ich be
schnitten war. Ich htte nicht einmal gewut, wie ich dieses
Thema htte anschneiden sollen. Damals war ich noch ein
junges Mdchen, und alles, was mit meinen Krperfunktionen
zusammenhing, war verbunden mit Unwissenheit, Verwirrung
und Scham. Auch war ich mir gar nicht sicher, ob meine Be
schneidung die Ursache des Problems war, weil ich damals
noch dachte, da mit allen Mdchen das gleiche gemacht
werde wie mit mir. In den Augen meiner Mutter waren meine
Schmerzen ganz normal gewesen, denn alle Frauen, die sie
kannte, waren beschnitten, alle durchlitten die gleichen Qua
len. Sie werden einfach als Teil der Brde angesehen, eine
Frau zu sein.
Da der Arzt mich nicht untersuchte, entdeckte er mein Ge
heimnis auch nicht. Das einzige, was ich Ihnen gegen die
Schmerzen verschreiben kann, ist die Anti-Baby-Pille. Sie wird

189

Ihre Schmerzen beenden, weil sie verhindert, da Sie eine


Periode bekommen.
Hallelujah! Ich nahm also die Pille, auch wenn ich nicht
restlos begeistert davon war. Von meiner Cousine Basma
hatte ich nmlich gehrt, da sie schdlich sei. Aber noch im
gleichen Monat hrten die Schmerzen auf, ebenso wie die
monatliche Blutung. Weil das Mittel meinem Krper jedoch
vortuschte, er sei schwanger, traten noch andere unerwartete
Dinge ein. Meine Brste und auch mein Hinterteil nahmen ge
waltig an Umfang zu. Auerdem bekam ich ein Vollmondge
sicht, und mein Krpergewicht ging steil nach oben. Diese
drastischen Vernderungen meines Krpers erschienen mir
uerst befremdlich und unnatrlich. Deshalb beschlo ich,
doch lieber wieder den Schmerz zu ertragen, und setzte die
Pille ab. Und den Schmerz mute ich in der Tat ertragen, denn
er setzte sofort wieder ein und war schlimmer als je zuvor.
Spter suchte ich noch einen zweiten Arzt auf, weil ich die
Hoffnung auf Hilfe noch nicht ganz aufgegeben hatte. Aber bei
ihm wiederholte sich nur, was ich schon einmal erlebt hatte: Er
wollte mir ebenfalls die Pile verschreiben. Ich erklrte im, da
ich diese Mglichkeit bereits ausprobiert htte, aber mit den
Nebenwirkungen nicht zurechtkme. Ohne die Pille jedoch sei
ich jeden Monat mehrere Tage lang vllig lahmgelegt; ich
msse im Bett bleiben und wolle nichts anderes mehr als ster
ben, damit die Schmerzen endlich aufhrten. Ob es denn nicht
noch eine andere Lsung gebe? Darauf erwiderte der Arzt:
Nun, was erwarten Sie denn? Wenn Frauen die Anti-BabyPille nehmen, bleibt in den meisten Fllen ihre Periode aus.
Und wenn Frauen ihre Periode haben, haben sie auch
Schmerzen. Sie mssen sich entscheiden. Als ein dritter Arzt
mir dasselbe sagte, begriff ich, da ich etwas anderes versu
chen mute, als immer nur neue rzte zu konsultieren.
Zu meiner Tante sagte ich: Vielleicht brauche ich ja einen
Spezialisten?

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Daraufhin blickte sie mich streng an: Nein, meinte sie be


stimmt. Und berhaupt: Was erzhlst du diesen Mnnern
eigentlich?
Nichts. Nur, da ich die Schmerzen loswerden will, das ist
alles. Ich wute, was in ihrer Frage unausgesprochen mit
schwang: Die Beschneidung ist unser afrikanischer Brauch
und darber spricht man nicht mit diesen weien Mnnern.
Allmhlich dmmerte mir jedoch, da es genau das war,
was ich tun mute, wenn ich nicht weiterhin leiden und ein
Drittel jedes Monats wie eine Invalide verbringen wollte. Ich
wute aber auch, da mein Vorhaben niemals von meiner
Familie gebilligt werden wrde. So nahm mein nchster Schritt
allmhlich Gestalt an: Ich mute heimlich einen Arzt aufsu
chen und ihm sagen, da ich beschnitten war. Vielleicht
konnte mir ja dann einer helfen.
Meine Wahl fiel auf Dr. Macnea, den Arzt, bei dem ich zu
erst gewesen war. Er hatte seine Praxis in einer groen Klinik,
und meine berlegung war, da dann im Falle einer Operation
die notwendigen Einrichtungen gleich vorhanden wren. Einen
ganzen qualvollen Monat lang mute ich warten, bis ich einen
Termin bei ihm bekam. Als es endlich soweit war, erfand ich
gegenber meiner Tante eine Ausrede fr mein Verschwinden
und ging zu Dr. Macneas Praxis. Es gibt da etwas, was ich
Ihnen nicht erzhlt habe, sagte ich zu ihm. Ich stamme aus
Somalia, und ich ... ich ... Es war schrecklich, ihm dieses
furchtbare Geheimnis in meinem gebrochenen Englisch
beichten zu mssen. Man hat mich beschnitten ... Er lie
mich nicht einmal ausreden. Gehen Sie sich bitte umziehen.
Ich mchte Sie untersuchen. Er bemerkte mein angstver
zerrtes Gesicht. Machen Sie sich keine Sorgen. Dann rief er
seine Sprechstundenhilfe herein, und sie zeigte mir, wo ich
mich umkleiden konnte und wie man den Patientenkittel ber
zog.

191

Wieder im Behandlungszimmer, fragte ich mich, was blo in


mich gefahren war. Die Vorstellung, da ein Mdchen aus
meinem Land hier in diesem seltsamen Raum sa, die Beine
spreizte und einen weien Mann in sich hineinschauen lie ...
nun, das war das Beschmendste, was ich mir ausmalen
konnte. Whrenddessen redete mir der Arzt gut zu, damit ich
die Knie auseinandernahm. Entspannen Sie sich. Keine Sor
ge - ich bin doch Arzt. Die Schwester ist auch hier, sie steht
gleich neben Ihnen. Krampfhaft bog ich den Hals, um in die
Richtung zu schauen, in die er mit dem Finger deutete. Sie
lchelte mich aufmunternd an, und schlielich gab ich nach.
Dabei zwang ich mich, an etwas anderes zu denken, redete
mir ein, gar nicht hier zu sein, sondern in meiner Heimat an
einem strahlend schnen Tag mit meinen Ziegen durch die
Wste zu streifen.
Als er mich fertig untersucht hatte, fragte er die Schwester,
ob es jemanden in der Klinik gebe, der Somali sprach; sie
sagte, ja, in einem der unteren Stockwerke arbeite eine Frau
aus Somalia. Aber als sie zurckkam, brachte sie statt dessen
einen somalischen Mann mit, weil sie die Frau nicht hatte fin
den knnen. Das ist ja groartig, dachte ich. Jetzt also auch
noch das Pech, diese schreckliche Sache mit einem somali
schen Mann als Dolmetscher bereden zu mssen! Schlimmer
htte es gar nicht kommen knnen.
Dr. Macnea sagte: Erklren Sie ihr, da sie zu eng zuge
nht ist. Ich wei gar nicht, wie sie das bisher ausgehalten hat.
Wir mssen sie so rasch wie mglich operieren. Ich konnte
sehen, da der Somali darber nicht gerade erfreut war. Er
schrzte die Lippen und warf dem Arzt wtende Blicke zu. Da
ich ja etwas Englisch verstand und sehen konnte, wie sich der
Somali verhielt, wurde mir klar, da etwas nicht stimmte.
Er sagte zu mir: Also, wenn du das wirklich willst, knnen
sie dich aufschneiden. Ich starrte ihn nur an. Aber weit du

192

auch, da das deiner Kultur widerspricht? Wei deine Familie,


was du da vorhast?
Nein. Ehrlich gesagt, nein. Bei wem wohnst du?
Bei meiner Tante und meinem Onkel. Wissen sie, was
du vorhast?
Nein.
Nun, ich an deiner Stelle wrde zuerst einmal mit ihnen
darber reden. Ich nickte und dachte dabei: Du bist typisch
fr die afrikanischen Mnner. Danke fr deinen guten Rat,
Bruder Damit ist die Sache bestimmt gestorben.
Dr. Macnea fgte hinzu, da er die Operation nicht sofort
durchfuhren knne; ich msse mir einen Termin geben lassen.
Da begriff ich, da ich es nicht machen lassen konnte, weil
meine Tante es herausfinden wrde. Ja, das tue ich. Ich rufe
Sie wegen eines Termins an. Natrlich verging ber ein Jahr,
ohne da ich mich meldete.
Gleich nachdem meine Angehrigen nach Somalia zurck
gekehrt waren, vereinbarte ich schlielich einen Termin, aber
der frheste, den ich bekommen konnte, war zwei Monate
spter. Whrend dieser achtwchigen Wartezeit kam mir die
Erinnerung an das furchtbare Erlebnis meiner Beschneidung
immer strker ins Gedchtnis. Ich frchtete, die Operation sei
eine Neuauflage dieser Tortur, und je mehr ich darber nach
dachte, um so deutlicher wurde mir, da ich das nicht noch
einmal durchstehen konnte. Am vereinbarten Tag der Operati
on erschien ich daher einfach nicht in der Klinik und sagte dort
auch nicht ab.
Damals wohnte ich bereits im YMCA. Die Probleme mit
meiner Periode waren nicht geringer geworden, aber nun
mute ich mir meinen Lebensunterhalt auer Haus verdienen.
Und man konnte in der Arbeit nicht einfach jeden Monat eine
Woche lang fehlen und hoffen, die Stelle dennoch zu behalten.
Ich bi also die Zhne zusammen, aber meine Freundinnen im
YMCA sahen, da ich in schlechter Verfassung war: Marilyn

193

fragte mich stndig, was denn mit mir nicht stimme. Schlielich
erzhlte ich ihr, da man mich als kleines Mdchen in Somalia
beschnitten hatte.
Marilyn aber war in London aufgewachsen, und deshalb
hatte sie keine Ahnung, wovon ich sprach. Zeig es mir doch
einmal, Waris. Ich wei wirklich nicht, was du damit meinst.
Haben sie dir was weggeschnitten? Und wo denn genau? Was
haben sie mit dir gemacht?
Schlielich zog ich eines Tages meine Hose herunter und
zeigte es ihr. Nie werde ich ihren Gesichtsausdruck verges
sen. Trnen liefen ihr ber die Wangen, und sie wandte sich
ab. Ich war vollkommen verzweifelt, weil ich dachte: O mein
Gott, sieht es wirklich so schlimm aus? Die ersten Worte, die
aus ihrem Mund kamen, waren: Waris, kannst du denn ir
gendwas fhlen?
Was meinst du damit?
Sie schttelte blo den Kopf. Ich meine, weit du denn
noch, wie das ausgesehen hat, als du ein kleines Mdchen
warst? Bevor sie das gemacht haben?
Ja.
Also - so sieht es bei mir aus. Du bist nicht so wie ich.
Jetzt wute ich es mit Bestimmtheit. Ich mute nicht mehr
darber nachgrbeln, ob alle Frauen auf die gleiche Weise
verstmmelt waren wie ich - oder hatte ich es vielleicht sogar
gehofft? Nun wute ich jedenfalls, da ich anders war. Ich
wnschte mein Leiden keiner anderen, aber ich wollte auch
nicht ganz allein damit sein.
Mit dir hat man das also nicht gemacht, weder mit dir noch
mit deiner Mutter?
Sie schttelte den Kopf und fing wieder an zu weinen. Es
ist schrecklich, Waris. Ich kann nicht fassen, da jemand dir so
etwas angetan hat.
Ach komm, mach mich bitte nicht traurig.

194

Ich bin traurig. Traurig und wtend. Ich heule, weil ich nicht
glauben kann, da es auf der Welt Menschen gibt, die einem
kleinen Mdchen so etwas antun.
Wir saen eine Weile schweigend da. Marilyn schluchzte
leise vor sich hin; ich konnte sie nicht ansehen. Dann beschlo
ich, da es jetzt genug sei. Nun, was soll's. Ich lasse mich
operieren. Morgen rufe ich diesen Arzt an. Dann kann ich we
nigstens mit Genu aufs Klo gehen. Vielleicht ist das alles,
was ich genieen kann, aber wenigstens das.
Ich begleite dich, Waris. Ich werde dir beistehen. Das ver
spreche ich dir.
Marilyn rief in der Praxis des Arztes an und vereinbarte ei
nen Termin fr mich; diesmal dauerte die Wartezeit einen Mo
nat. Whrend dieser Wochen fragte ich Marilyn immer wieder:
Mdchen, kommst du auch ganz bestimmt mit?
Keine Sorge. Ich begleite dich. Ich werde zur Stelle sein.
An dem Tag, fr den die Operation angesetzt war, weckte sie
mich schon frh, und wir fuhren in die Klinik. Die Schwester
fhrte mich in den Behandlungsraum. Da stand er, der Opera
tionstisch. Als ich diesen Tisch sah, htte ich fast kehrtge
macht und wre aus dem Gebude gelaufen. Der Tisch war
zwar besser als ein Felsen im Busch, aber ich hegte wenig
Hoffnung, da der Eingriff fr mich viel angenehmer sein wr
de. Dr. Macnea gab mir ein Mittel gegen den Schmerz - solch
ein Mittel htte ich auch gerne gehabt, als die Mrderin damals
an mir herumgemetzgert hatte. Und Marilyn hielt mir die Hand,
whrend ich langsam wegdmmerte.
Als ich wieder erwachte, hatten sie mich in ein Doppelzim
mer geschoben, in dem eine Frau lag, die gerade ein Baby
bekommen hatte. Diese Dame und auch alle anderen, die ich
mittags in der Cafeteria traf, wollten von mir wissen: Weshalb
sind Sie denn hier?
Was konnte ich darauf antworten? Sollte ich es zugeben:
Ach, ich habe mich hier an der Vagina operieren lassen. Mei

195

ne Muschi war ein bichen zu eng! Ich habe niemandem die


Wahrheit verraten. Statt dessen behauptete ich, ich htte Pro
bleme mit dem Magen. Und obwohl der Genesungsproze
wesentlich problemloser verlief als damals nach meiner Be
schneidung, wiederholten sich einige meiner schlimmsten Er
fahrungen aus jener Zeit. jedesmal, wenn ich pinkeln mute,
das gleiche: Salz und heies Wasser. Schlielich lieen mich
die Schwestern ein Bad nehmen, und ich glitt ins warme Na.
Au! Sie gaben mir Schmerzmittel, deshalb war es nicht ganz
so schlimm, aber ich war wirklich froh, als es vorbei war.
Dr. Macnea hat gute Arbeit geleistet, und ich werde ihm
immer dankbar sein. Am Schlu sagte er zu mir: Sie mssen
wissen, da Sie nicht die einzige sind. Es kommen immer wie
der Frauen zu mir, die das gleiche Problem haben. Viele da
von stammen aus dem Sudan, aus gypten und Somalia.
Manche von ihnen sind schwanger und haben schreckliche
Angst, denn es ist gefhrlich, mit einer zu engen ffnung zu
gebren. Es knnen dabei viele Komplikationen eintreten: Das
Baby kann ersticken, wenn es versucht, durch die schmale
ffnung zu kommen, oder die Mutter kann verbluten. Und so
kommen sie zu mir, ohne die Erlaubnis ihrer Ehemnner oder
Familien, und ich tue, was ich kann. Ich tue mein Bestes.
Nach zwei oder drei Wochen war ich wieder normal. Nein,
nicht wirklich normal im gngigen Sinn, aber doch etwas mehr
so wie eine Frau, die nicht beschnitten war. Waris war zu einer
neuen Frau geworden. Ich konnte mich auf die Toilette setzen
und pinkeln - wusch! Ich kann gar nicht beschreiben, was fr
ein Gefhl der Befreiung das war.

196

13. Paprobleme

Nach meinem Filmdebt als Bond-Girl lie ich mich von


dem Fahrer gleich von Heathrow aus zu Marilyn Monroe bri n
gen. Feige hatte ich mich bei meiner Freundin seit meiner Ab
reise nach Marokko nicht mehr gemeldet; ich hatte abwarten
wollen, bis ich wieder in England war, weil ich hoffte, sie wrde
sich inzwischen beruhigt haben. Und so stand ich nervs mit
einem Haufen Geschenke vor ihrem Haus und klingelte. Sie
ffnete die Tr und grinste ber das ganze Gesicht, dann
strzte sie auf mich zu und umarmte mich. Du hast es wirk
lich getan! Du verrcktes Biest, du hast es tatschlich ge
macht! Schwer beeindruckt, da ich genug Mumm gehabt
hatte, den Schwindel durchzuziehen, hatte Marilyn mir nicht
lange bse sein knnen und den Diebstahl des geflschten
Passes schnell verziehen. Allerdings war ich mit ihr einer Mei
nung, da dies eine einmalige Sache gewesen sein mute;
nach den Hllenngsten, die ich am Zoll von Heathrow ausge
standen hatte, wollte ich uns nie wieder in Gefahr bringen, in
dem ich ihren Pa benutzte.
Ich war froh, da Marilyn mir nichts nachtrug, denn sie war
wirklich eine wichtige Freundin fr mich. Und wieder einmal
war ich auf eine solche Freundschaft angewiesen. Denn nach
den beiden aufeinanderfolgenden Engagements bei Terence
Donovan und in dem James-Bond-Film hatte ich bei meiner
Rckkehr nach London geglaubt, mit meiner Modelkarriere

197

gerade erst am Anfang zu stehen. Doch wie durch Zauber


hand lste sich meine Karriere, unvermittelt und rtselhaft, wie
sie begonnen hatte, wieder in Luft auf. Da ich nicht mehr bei
McDonald's arbeitete, konnte ich nicht weiter im YMCA wo h
nen bleiben, denn ohne Arbeit hatte ich kein Geld fr die Mie
te. Und so war ich gezwungen, bei Marilyn und ihrer Mutter
einzuziehen, was mir in vielerlei Hinsicht aber sogar noch lie
ber war. Denn hier lebte ich in einem wirklichen Zuhause und
gehrte praktisch mit zur Familie. Schlielich wohnte ich sie
ben Monate lang dort, und auch wenn sich keiner beklagte,
wute ich doch, da ich lnger blieb als erwnscht. Ab und an
hatte ich zwar Model-Jobs, doch damit verdiente ich immer
noch nicht genug Geld fr meinen Lebensunterhalt. Ich zog zu
einem anderen Freund, einem Chinesen namens Frankie, der
mit meinem Friseur befreundet war. Frankie besa ein groes
Haus, zumindest in meinen Augen, denn es hatte zwei Schlaf
zimmer; und grozgig bot er mir an, zu bleiben, bis ich wieder
etwas Schwung in meine Karriere gebracht htte.
1987, kurz nachdem ich bei Frankie eingezogen wag lief
Der Hauch des Todes im Kino an. Ein paar Wochen darauf
war Weihnachten, und ein Bekannter fhrte mich an Heilig
abend aus. Jeder in London war in Feierstimmung, und ich
lie mich anstecken und kam erst sehr spt nach Hause.
Kaum hatte ich mich ins Bett gelegt, war ich auch schon ein
geschlafen. Doch ein dauerndes Klopfen an meinem Schlaf
zimmerfenster weckte mich. Ich sah hinaus - drauen stand
mein Bekannter, der mich doch gerade erst heimgebracht
hatte, und hielt eine Zeitung hoch. Er wollte mir etwas sagen,
und so ffnete ich das Fenster, um ihn besser zu verstehen.
Waris! Du bist auf dem Titelblatt der Sunday Times! Oh
... Ich rieb mir die Augen. Wirklich ich?
Ja, schau doch. Er streckte mir die Zeitung entgegen,
und tatschlich, auf der Titelseite prangte eine berlebensgro

198

e Aufnahme von mir im Dreiviertelprofil, mit hell leuchtendem


Blondschopf und entschlossener Miene.
Wie schn ... ich geh jetzt wieder ins Bett ... schlafen,
murmelte ich und taumelte zurck auf mein Nachtlager. Doch
am nchsten Mittag wurde mir klar, welche Mglichkeiten die
se Publicity barg. Dieses Titelblatt der Sunday Times mute
Folgen haben. Und so arbeitete ich unter Hochdruck, ich nahm
in London an jedem Casting teil, von dem ich erfuhr, fiel mei
ner Agentin auf die Nerven und wechselte schlielich zu einer
anderen Agentur. Aber meine Lage besserte sich nicht.
Weit du, Waris, in London gibt es eben nicht viel Nach
frage fr schwarze Models, erklrte meine neue Agentin. Du
mut reisen, um gebucht zu werden - Paris, Mailand, New
York. Ich hatte ganz und gar nichts gegen das Reisen einzu
wenden, doch da gab es immer noch das alte Dilemma mit
meinem Pa. In der Agentur erzhlte man mir von einem An
walt, Harold Wheeler, der schon mehreren Immigranten mit
Paproblemen hatte helfen knnen. Vielleicht sollte ich mich
einmal an ihn wenden?
Ich suchte Harold Wheeler in seiner Kanzlei auf und stellte
fest, da er eine exorbitante Summe fr seine Hilfe verlangte:
zweitausend Pfund! Doch ich berlegte, da ich dieses Geld
blitzschnell verdient htte, sobald ich erst einmal arbeiten und
reisen durfte. Und so wie die Dinge lagen, kam ich anders
einfach nicht weiter. Also kratzte ich das Geld aus jeder nur
mglichen Quelle zusammen und hatte mir schlielich die
zweitausend Pfund zusammengepumpt. Doch ich zgerte,
dem Mann das viele geliehene Geld zu geben. Was, wenn
sich herausstellte, da er ein Betrger war?
Und so vereinbarte ich einen zweiten Termin, bei dem ich
Marilyn mitnahm, um ihre Meinung zu hren. Das Geld lie ich
sicherheitshalber zu Hause. Als ich an der Haussprechanlage
klingelte, lie uns Wheelers Sekretrin ein, und ich ging zu

199

Wheeler ins Bro, whrend meine Freundin im Vorzimmer


wartete.
Ohne Umschweife verlangte ich: Sagen Sie mir die Wahr
heit. Ich will einfach wissen, ob der Pa, den ich mit Ihrer Hilfe
bekomme, seine zweitausend Pfund wert ist. Kann ich damit
legal in jedes Land der Welt reisen? Ich habe keine Lust, ir
gendwann an irgendeinem gottverlassenen Ort festzusitzen
und abgeschoben zu werden. Und wo bekommen Sie dieses
Ding berhaupt her?
O nein, tut mir leid, aber ber meine Mittel und Wege kann
ich nichts sagen. Das mssen Sie schon mir berlassen.
Wenn Sie einen Pa wollen, meine Liebe, besorge ich ihn.
Und ich verspreche Ihnen, damit ist rechtlich alles in Ordnung.
Nach Beginn meiner Bemhungen dauert es zwei Wochen, bis
alles fertig ist, meine Sekretrin ruft Sie dann an. Groartig!
Das hie, schon in zwei Wochen konnte ich jederzeit abbauen,
wohin ich wollte.
Nun, das klingt gut, erwiderte ich. Was ist also zu tun?
Wheeler erklrte mir, da ich einen Iren heiraten wrde, den er
zuflligerweise in petto hatte. Dieser Ire wrde als Gegenlei
stung fr seine Dienste meine zweitausend Pfund erhalten,
Wheeler selbst beanspruche davon nur eine geringe Bearbei
tungsgebhr. Er notierte Datum und Uhrzeit meiner Ehe
schlieung. Ich wrde meinen zuknftigen Gatten auf dem
Standesamt treffen und sollte einhundertfnfzig Pfund in bar
fr zustzliche Ausgaben mitbringen.
Es handelt sich um einen gewissen Mr. O'Sullivan, infor
mierte mich Wheeler in seinem sehr britischen Englisch und
redete dann weiter, whrend er noch schrieb: Das ist der
Gentleman, den Sie heiraten werden. Ach, brigens, herzli
chen Glckwunsch. Dabei sah er mit einem dnnen Lcheln
auf.
Als ich Marilyn spter fragte, ob ich diesem Kerl wohl trauen
knne, antwortete sie: Nun, er hat eine schicke Kanzlei in

200

einem schicken Gebude in einer schicken Gegend. Sein Na


mensschild ist an der Tr. Und er beschftigt eine richtige Se
kretrin. Fr mich sieht es aus, als ob mit ihm alles in Ordnung
wre.
Meine treue Freundin Marilyn begleitete mich auch an mei
nem Hochzeitstag. Vor dem Standesamt beobachteten wir
einen rotgesichtigen alten Mann voller Falten mit struppigem
Haar, der zerlumpt den Brgersteig entlangtaumelte. Anfangs
lachten wir noch ber ihn, doch dann ging er die Treppe zum
Standesamt hinauf, und Marilyn und ich schauten zuerst uns,
dann ihn erschrocken an. Sind Sie Mr. O'Sullivan? wagte ich
schlielich zu fragen.
Hchstpersnlich. Er senkte die Stimme. Und du bist
diejenige, welche? Ich nickte. Du hast das Geld, Mdchen
... hast du das Geld mitgebracht?
Ja.
Hundertfnfzig Pfund?
Ja.
Braves Kind. Na denn, los, Beeilung. Bringen wir's hinter
uns. Keine Trdelei. Mein zuknftiger Ehemann stank nach
Whisky und war ganz offensichtlich sturzbetrunken.
Whrend wir ihm ins Standesamt folgten, raunte ich Marilyn
zu: Ob er wohl noch lange genug lebt, da ich meinen Pa
kriege?
Die Standesbeamtin erffnete die Trauzeremonie, aber es
fiel mir schwer, aufzupassen. Die ganze Zeit lenkte mich Mr.
O'Sullivans unsicheres Schwanken ab, und als sie fragte:
Nehmen Sie, Waris, diesen Mann ..., knallte er laut der Ln
ge nach auf den Boden. Zuerst dachte ich, er wre tot, aber
dann merkte ich, da er durch den offenstehenden Mund
schnaufte. Ich kniete mich neben ihn und schttelte ihn, dabei
rief ich: Aufwachen, Mr. O'Sullivan! Aber nichts dergleichen
geschah.

201

Mit einem Blick der Verzweiflung heulte ich Marilyn an:


Was fr ein toller Hochzeitstag! Doch sie lehnte an der
Wand und hielt sich den Bauch vor Lachen. Da fand ich, da
wir angesichts der absurden Szene ruhig etwas Spa haben
konnten, und setzte noch eins drauf. Glck mu man haben!
Mein lieber Brutigam fllt vor dem Altar in Ohnmacht.
Beide Hnde auf die Knie gesttzt, beugte sich die Sta n
desbeamtin zu meinem Brutigam herunter und musterte ihn
ber den Rand ihrer schmalen Lesebrille hinweg. Kommt er
wieder zu sich?
Woher zum Teufel soll ich denn das wissen? htte ich sie
am liebsten angebrllt, aber ich merkte noch rechtzeitig, da
ich damit alles verraten htte. Wach auf, mach schon, WACH
ENDLICH AUF! Inzwischen war ich dazu bergegangen, ihm
klatschende Ohrfeigen zu versetzen. Bitte, kann mir jemand
etwas Wasser bringen? So tut doch was! bat ich, ohne mir
das Lachen verkneifen zu knnen. Die Standesbeamtin reichte
mir ein Glas Wasser, und ich kippte es dem alten Mann ins
Gesicht.
Uahh ..., er prustete und grunzte, bis er schlielich die
Augen ffnete. Mit Ziehen und Zerren halfen wir ihm auf die
Beine.
Himmel, machen wir weiter, murmelte ich, weil ich Angst
hatte, da er gleich wieder umkippen wrde. Ich hielt den Arm
meines Liebsten mit eisernem Griff, bis die Zeremonie zu En
de war. Drauen auf dem Gehsteig fragte mich Mr. O'Sullivan
dann nach den hundertfnfzig Pfund und gab mir seine Adres
se, falls ich irgendwelche Probleme bekommen sollte. Ein
Liedchen auf den Lippen und mein letztes Geld in der Tasche
schwankte er unsicheren Schrittes davon.
Eine Woche spter rief Harold Wheeler hchstpersnlich
an, um mich zu informieren, da mein Reisepa jetzt vorliege;
frhlich lief ich zu seiner Kanzlei, um ihn abzuholen. Er ber
reichte mir das Dokument, einen irischen Reisepa auf den

202

Namen Waris O'Sullivan mit meinem schwarzen Konterfei. Ich


war zwar keine Expertin fr Reisedokumente, doch in meinen
Augen wirkte das Ding ein bichen sonderbar. Nein, nicht nur
ein bichen, es wirkte sehr merkwrdig. Irgendwie schbig, als
htte es jemand heimlich im Keller gedruckt. Das soll er sein?
Ich meine, das ist ein echter Reisepa? Ich kann damit rei
sen?
O ja. Wheeler nickte nachdrcklich. Irisch, wie Sie se
hen. Ein irischer Reisepa.
Mmmh. Ich drehte ihn um und musterte die Rckseite,
dann bltterte ich ihn durch. Na ja, wen kmmert's, wie er
aussieht, solange er seinen Zweck erfllt?
Ich mute nicht lange rtseln, ob mein Pa wohl einer
berprfung standhalten wrde. Meine Agentur hatte Termine
in Paris und Mailand fr mich vereinbart, und ich beantragte
die ntigen Visa. Doch schon ein paar Tage spter erhielt ich
einen Brief. Als mein Blick auf den Absender fiel, wurde mir
ganz flau im Magen. Der Brief kam von der Einwanderungsbe
hrde und enthielt eine Vorladung. Nachdem ich im Geist kurz
die verrcktesten Mglichkeiten durchgespielt hatte, war mir
klar, da mir nichts anderes brigblieb, als der Aufforderung
nachzukommen. Ich wute durchaus, da die Leute dort be
fugt waren, mich auf der Stelle abzuschieben oder ins Ge
fngnis zu schicken. Goodbye London, adieu Paris, arrivederci
Mailand. Tschs, Modelkarriere. Hallo, Kamele.
Am Tag nachdem ich den Brief erhalten hatte, fuhr ich mit
der U-Bahn von Frankies Haus zur Einwanderungsbehrde,
und whrend ich in dem riesigen Verwaltungsgebude umher
irrte, hatte ich das Gefhl, als ob ich zu meiner eigenen Beer
digung ginge. Als ich schlielich das richtige Bro gefunden
hatte, blickte ich in so strenge Gesichter, wie ich sie noch nie
gesehen hatte. Setzen Sie sich, befahl ein Mann mit stei
nerner Miene. In einem vllig abgeschotteten Raum wurde ich

203

dann in die Zange genommen. Wie heien Sie? Wie lautete


Ihr Name vor Ihrer Heirat? Woher stammen Sie? Wie sind Sie
an diesen Reisepa gekommen? Wie heit der Vermittler?
Wieviel haben Sie ihm bezahlt? Ich wute - die kleinste fa l
sche Antwort, und die gute alte Waris wrde in Handschellen
abgefhrt. Bis dahin notierten die Beamten der Behrde jedes
Wort, das ich sagte. Also vertraute ich meinem Gefhl und gab
so wenig wie mglich preis. Wenn ich Zeit schinden wollte, um
mir eine Antwort auszudenken, verlie ich mich auf mein
schauspielerisches Talent und gab vor, aufgrund der Sprach
barriere nur Bruchteile verstanden zu haben.
Die Einwanderungsbehrde zog meinen Reisepa ein und
teilte mir mit, da ich ihn wiederbekme, wenn ich zusammen
mit meinem Ehemann zu einer neuerlichen Befragung er
schienen sei - nicht gerade das, was ich zu hren wnschte.
Doch letztlich schaffte ich es, das Bro zu verlassen, ohne den
Namen Harold Wheelers genannt zu haben. Denn wenn ich
mein Geld von diesem Dieb zurckhaben wollte, mute ich ihn
in die Finger kriegen, bevor die Behrde ihn erwischte, oder
meine zweitausend Pfund wren futsch.
Gleich von der Einwanderungsbehrde aus marschierte ich
schnurstracks zu Wheelers piekfeiner Kanzlei und klingelte.
Der Sekretrin sagte ich ber die Haussprechanlage, da Wa
ris Dirie dringend Mr. Wheeler zu sprechen wnsche. Doch
berraschenderweise war Mr. Wheeler nicht im Haus, und sie
weigerte sich, mir aufzumachen. Tag fr Tag stand ich nun vor
seiner Kanzlei und brllte durch den Hrer, aber die treu erge
bene Sekretrin schtzte den Mistkerl. Nun verlegte ich mich
aufs Detektivspielen; den ganzen Tag beobachtete ich aus
einem Versteck seine Kanzlei, um mich bei seinem Erscheinen
sofort auf ihn zu strzen. Aber Harold Wheeler war und blieb
verschwunden.
Mittlerweile wurde es Zeit, der Einwanderungsbehrde Mr.
O'Sullivan vorzustellen. Er lebte in Croydon, sdlich von Lon

204

don, in einem Viertel, in dem auch viele Somalis wohnten. Ich


fuhr so weit wie mglich mit dem Zug, mute aber den Rest
der Strecke mit dem Taxi zurcklegen, weil Croydon nicht an
das Bahnnetz angebunden war. Whrend ich allein die Strae
entlangging, schielte ich immer wieder ber die Schulter, mir
war es hier ganz und gar nicht geheuer. Endlich hatte ich die
Adresse gefunden, ein schbiges Mietshaus. Ich klopfte. Keine
Antwort. Ich ging um das Haus herum und versuchte, durchs
Fenster zu sphen, konnte aber nichts erkennen. Wo steckte
er nur, wo hielt er sich wohl tagsber auf, berlegte ich. Klar
die Kneipe. Ich marschierte wieder los und steuerte den nch
sten Pub an, wo ich Mr. O'Sullivan tatschlich an der Theke
sitzen sah. Erinnern Sie sich an mich? fragte ich. Der alte
Mann linste ber die Schulter, drehte sich aber gleich wieder
weg und starrte die Schnapsflaschen hinter der Theke an.
Schnell, Waris, denk nach. Ich mute ihm die Nachricht ber
bringen und ihn bitten, mich zur Einwanderungsbehrde zu
begleiten, worauf er sicher nicht scharf war. Die Geschichte
ist die, Mr. O'Sullivan: Die Einwanderungsbehrde hat mir
meinen Reisepa abgenommen. Die Leute dort wollen mit Ih
nen sprechen, Ihnen einfach ein paar Fragen stellen, ehe sie
ihn mir wiedergeben. Die wollen sich vergewissern, da wir
wirklich verheiratet sind, verstehen Sie? Ich kann diesen ver
dammten Anwalt nicht auftreiben - er ist wie vom Erdboden
verschluckt, und sonst kann mir niemand helfen. Er stierte
immer noch geradeaus, trank einen Schluck Whisky und
schttelte den Kopf. Hren Sie, ich habe Ihnen zweitausend
Pfund gegeben, damit ich diesen Reisepa kriege!
Das lie ihn aufhorchen. Er drehte sich um und starrte mich
mit offenem Mund an. Du hast mir hundertfnfzig gegeben,
Schtzchen, sagte er, ba erstaunt. Ich habe noch nie in
meinem Leben zweitausend Pfund in der Tasche gehabt, oder
glaubst du, ich wrde sonst in Croydon rumhngen?

205

Ich habe aber Harold Wheeler zweitausend Pfund fr Sie


gegeben, damit Sie mich heiraten!
Na, davon hat er mir nichts abgegeben. Wenn du bld ge
nug warst, dem Kerl zweitausend Pfund in den Rachen zu
schmeien, bist du selber schuld - das ist nicht mein Bier. Ich
hrte nicht auf zu betteln, ich flehte ihn an, mir zu helfen, aber
er blieb ungerhrt. Obwohl ich ihm versprach, mit ihm in einem
Taxi zur Einwanderungsbehrde zu fahren, so da er nicht
einmal den Zug nehmen mute, blieb er weiter auf seinem
Barhocker kleben.
Ich berlegte fieberhaft, wie ich ihn wohl anspornen konnte,
und bot an: Hren Sie, ich bezahle Sie dafr. Ich gebe Ihnen
noch mehr Geld. Wenn wir in der Einwanderungsbehrde wa
ren, fahren wir in den Pub, und Sie knnen auf meine Kosten
trinken, soviel Sie wollen. Das weckte skeptisches Interesse,
er drehte sich zu mir um und hob zweifelnd die Augenbrauen.
Du hast ihn gleich soweit, Waris. Whisky ohne Ende - so
viele Glser, wie der Lnge nach auf die Theke passen. In
Ordnung? Ich hole Sie morgen zu Hause ab, und wir fahren
mit dem Taxi nach London. Es dauert nur ein paar Minuten,
ein paar kurze Fragen - und dann geht's schnurstracks in den
Pub. Okay? Er nickte und starrte wieder die Bourbon- Fla
schen hinter der Theke an.
Am nchsten Vormittag machte ich mich erneut auf den
Weg nach Croydon und klopfte an die Tr des alten Mannes.
Wieder keine Antwort. Und so ging ich die menschenleere
Strae hinunter und in den Pub, doch dort war nur der Bar
keeper, der mit einer weien Schrze bekleidet eine Tasse
Kaffee trank und die Zeitung las. Haben Sie heute schon Mr.
O'Sullivan gesehen?
Er schttelte den Kopf. Noch zu frh fr ihn, Kleine. Also
ging ich rasch zu dem Haus des Pennbruders zurck und
hmmerte gegen die Tr. Doch auch jetzt ffnete niemand,
und so setzte ich mich auf die Vordertreppe, die nach Urin

206

stank, und hielt mir die Nase zu. Whrend ich dort sa und
ber meine nchsten Schritte nachdachte, kamen zwei nicht
sehr freundlich aussehende Typen Mitte Zwanzig auf mich zu
und bauten sich vor mir auf.
Wer bist denn du? knurrte mich der eine an. Und warum
hockst du auf der Treppe von meinem Alten? Oh, hallo,
erwiderte ich freundlich. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber
ich bin mit Ihrem Vater verheiratet.
Die beiden starrten mich an, und der grere brllte: Was?
Wovon zum Teufel quatschst du da?
Hren Sie, ich stecke in der Klemme und brauche die Hilfe
Ihres Vaters. Er soll mich lediglich in die Stadt in dieses Amt
begleiten und dort ein paar Fragen beantworten. Man hat mir
meinen Pa abgenommen, und ich mu ihn wiederhaben,
deshalb ...
Verpi dich, du Schlampe.
Moment mal! Ich habe dem alten Herrn mein ganzes Geld
gegeben, sagte ich und zeigte auf die Tr, und ich werde
nicht ohne ihn gehen. Doch sein Sohn war anderer Meinung.
Er zog einen Prgel aus der Jacke und schwang ihn drohend,
als ob er mir den Schdel einschlagen wollte.
Ach ja? Na, das wollen wir mal sehen. Uns hier zu verar
schen, das Maul aufreien und Lgen verbreiten ... Sein Bru
der lachte breit grinsend und gab dabei den Blick auf etliche
Zahnlcken frei. Das reichte mir. Diese Kerle hatten nichts zu
verlieren. Sie konnten mich hier auf der Treppe totschlagen,
und keine Menschenseele wrde es sehen, geschweige denn
kmmern. Also sprang ich schnell auf und rannte los. Sie
hetzten mich ein paar Huserblocks weit, blieben dann aber
stehen, zufrieden, da sie mich verjagt hatten.
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, beschlo ich, trotz
allem wieder nach Croydon zu fahren, und zwar so lange, bis
ich den alten Mann aufgetrieben hatte. Mir blieb ja keine ande
re Wahl. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich nicht nur mietfrei bei

207

Frankie, er bezahlte auch smtliche Lebensmittel. Auerdem


borgte ich mir von meinen anderen Freunden immer wieder
Geld fr die verschiedensten Ausgaben, das konnte so nicht
weitergehen. Ich hatte all meine Ersparnisse diesem Betrger
in den Rachen geworfen, der sich als Fachanwalt fr Einwa n
derungsfragen ausgab, und ohne Pa konnte ich nicht arbei
ten. Was hatte ich also zu verlieren? Ein paar Zhne vielleicht,
wenn ich nicht aufpate, aber ich sagte mir, da ich einfach
cleverer sein mute als diese Schlgertypen, das konnte doch
nicht allzu schwer sein.
Am nchsten Nachmittag fuhr ich also wieder nach Croydon
und streifte unauffllig durch das Viertel, wobei ich darauf
achtete, nicht vor dem Haus des alten Mannes stehenzublei
ben. Gerade als ich in einem kleinen Park eine Verschnauf
pause einlegte, kam mit einem Mal Mr. O'Sullivan hchstper
snlich vorbei. Aus mir unbekanntem Grund war er bester
Laune und freute sich, mich zu sehen. Er zeigte sich sogleich
bereit, mit mir in ein Taxi zu steigen und nach London zu fa h
ren. Du zahlst fr mich, Mdchen? Ich nickte. Und dann
spendierst du uns ein Glschen, ja?
Ich spendier Ihnen so viele Glschen, wie Sie wollen, so
bald wir alles hinter uns haben. Aber zuerst mssen Sie sich
einigermaen normal verhalten, wenn Sie mit den Leuten von
der Einwanderungsbehrde sprechen. Das sind echte
Mistkerle, mssen Sie wissen. Danach gehen wir dann in den
Pub ...
In der Einwanderungsbehrde warf der Beamte nur einen
kurzen Blick auf Mr. O'Sullivan und meinte dann mit grimmiger
Miene: Das ist Ihr Ehemann?
Ja.
Okay, Mrs. O'Sullivan, Schlu mit den Spielchen. Rcken
Sie heraus mit Ihrer Geschichte. Ich seufzte, aber mir war
klar, da es keinen Sinn hatte, diese schlechte Komdie wei

208

terzufhren. Und so schttete ich ihm mein Herz aus und er


zhlte ihm alles - ber meine Modelkarriere, Harold Wheeler,
meine angebliche Ehe. Die Beamten waren sehr an Mr.
Wheeler interessiert, und ich gab ihnen alle Informationen ber
ihn, die ich besa, einschlielich seiner Adresse. Wir melden
uns wegen Ihres Reisepasses, sobald wir unsere Untersu
chung abgeschlossen haben, das wird in ein paar Tagen der
Fall sein. Damit waren wir entlassen.
Drauen auf der Strae wollte Mr. O'Sullivan sofort in den
Pub. Sie wollen Geld? Okay. Hier ...
Ich zog meine letzten zwanzig Pfund aus der Tasche. Und
jetzt verschwinden Sie. Ich kann Ihren Anblick nicht mehr er
tragen.
Das ist alles? Mr. O'Sullivan wedelte mit dem Geldschein
vor mir herum. Mehr kriege ich nicht? Ich machte auf dem
Absatz kehrt und lie ihn einfach stehen. Hure! brllte er mir
nach und machte einige obszne Gesten. Du verdammte
Hure! Passanten drehten sich um und starrten mich an.
Wahrscheinlich wunderten sie sich, warum ich die Hure sein
sollte, schlielich hatte doch ich ihn bezahlt.
Ein paar Tage spter rief die Einwanderungsbehrde an
und forderte mich auf, erneut bei ihnen zu erscheinen. Sie
wrden zwar gegen Harold Wheeler ermitteln, sagten sie, aber
bisher htten sie noch nicht viel gegen ihn in der Hand. Der
Aussage seiner Sekretrin nach halte er sich in Indien auf, und
es sei ungewi, wann er zurckkomme. Bis dahin wrde man
mir jedoch einen auf zwei Monate befristeten Reisepa aus
stellen. Das war mein erster Erfolg in diesem ganzen Schla
massel, und ich schwor mir, das Beste aus diesen zwei Mo
naten zu machen.
Zuerst wollte ich nach Italien reisen, berlegte ich mir, weil
ich ein bichen Italienisch konnte, ich hatte schlielich in einer
ehemaligen italienischen Kolonie gelebt. Zwar bestanden mei
ne Sprachkenntnisse, ehrlich gesagt, vor allem aus Mamas

209

Flchen, aber die konnten mir durchaus zupa kommen. Ich


fuhr also nach Mailand, eine herrliche Stadt, und arbeitete bei
den Modeschauen auf dem Laufsteg. Dabei lernte ich Julie
kennen, die ebenfalls als Model arbeitete. Sie war gro, hatte
blondes, schulterlanges Haar und eine traumhafte Figur;
hauptschlich fhrte sie Dessous vor. Als wir zusammen Mai
land erkundeten, hatten wir so viel Spa miteinander, da wir
uns nach dem Ende der Modeschauen entschlossen, weiter
zureisen und in Paris unser Glck zu versuchen.
Diese zwei Monate waren eine wundervolle Zeit fr mich,
ich lernte neue Orte und neue Menschen kennen und a viele
mir bis dahin unbekannte Gerichte. Auch wenn ich dabei nicht
das groe Geld verdiente, reichte es doch, um durch Europa
zu reisen. Als dann auch in Paris die Prsentationen zu Ende
gingen, kehrten Julie und ich gemeinsam nach London zurck.
Kaum dort angekommen, traf ich einen New Yorker Agen
ten, der in England neue Gesichter suchte. Er drngte mich, in
die Staaten zu kommen, und versicherte mir, da er mir dort
jede Menge Arbeit beschaffen knne. Natrlich war ich ziem
lich scharf darauf, weil ich schon oft gehrt hatte, da New
York als das lukrativste Pflaster galt - vor allem fr schwarze
Models. Whrend meine Agentur die Vereinbarungen traf, be
antragte ich ein Visum fr die Vereinigten Staaten.
Doch nach einer kurzen Durchsicht meiner Papiere nahm
die amerikanische Botschaft unverzglich Kontakt zur briti
schen Einwanderungsbehrde auf. Der Briefwechsel gipfelte in
der Ankndigung, da ich binnen dreiig Tagen aus England
nach Somalia abgeschoben wrde. Trnenberstrmt rief ich
meine Freundin Julie an, die bei ihrem Bruder in Cheltenham
wohnte.
Ich stecke in der Patsche ... und zwar bis zum Hals. Fr
mich ist es aus und vorbei. Ich mu zurck nach Somalia.
Oh, Waris, nein! Hr mal, komm doch ein paar Tage her
und ruh dich bei uns aus. Du kannst den Zug nehmen, Chel

210

tenham liegt nur ein paar Stunden von London entfernt, und es
ist wunderschn hier. Es wird dir guttun, mal eine Weile auf
dem Land zu leben, und vielleicht fllt uns ja etwas ein. Julie
holte mich vom Bahnhof ab, und wir fuhren durch das samtene
Grn der englischen Landschaft zu ihr nach Hause. Als wir im
Wohnzimmer saen, kam ihr Bruder Nigel herein, ein groer
und sehr blasser junger Mann mit langem, feinem blonden
Haar, die Vorderzhne und Fingerspitzen vom Nikotin gelb
verfrbt. Er brachte uns Tee und sa dann kettenrauchend mit
uns zusammen, whrend ich die alptraumhafte Geschichte
von meinen Paschwierigkeiten samt ihrem traurigen Ende
erzhlte.
Mit verschrnkten Armen lehnte sich Nigel in seinem Sessel
zurck und sagte: Mach dir keine Sorgen, ich werde dir hel
fen.
Verblfft von diesem Angebot eines jungen Mannes, den ich
kaum eine halbe Stunde kannte, fragte ich: Wie willst du das
anstellen? Wie knntest du mir helfen?
Ich werde dich heiraten.
Doch ich schttelte den Kopf. O nein, das habe ich schon
hinter mir. Das hat mir die Suppe ja erst eingebrockt. Nein, das
mache ich nicht noch einmal durch, davon habe ich die Nase
voll. Ich pack' das nicht. Ich will zurck nach Afrika, zu meiner
Familie, wo ich mich auskenne, und glcklich und zufrieden
leben. Hier in diesem verrckten Land kapiere ich berhaupt
nichts. Alles hier ist Chaos und Wahnsinn. Ich geh' zurck.
Nigel sprang auf und rannte nach oben. Als er zurckkam,
hatte er die Sunday Times mit meinem Bild auf der Titelseite in
der Hand - dabei war die Ausgabe doch schon vor ber einem
Jahr erschienen, also lange bevor ich Julie berhaupt kannte.
Wo hast du denn die her? fragte ich.
Ich habe sie aufgehoben, weil ich gewut habe, da ich
dich eines Tages kennenlerne. Er zeigte auf das Portrt, auf
mein Auge. An dem Tag, als ich dieses Bild zum ersten Mal

211

sah, hattest du hier eine Trne im Auge, andere liefen dir ber
die Wangen. Ich habe dein Gesicht gesehen und gewut, da
du weinst und Hilfe brauchst. Allah hat mir gesagt ... Allah hat
gesagt, es sei meine Pflicht, dich zu retten. Auweia. Mit gro
en Augen starrte ich ihn an und dachte: So ein hirnrissiger
Idiot. Er ist es, der von uns beiden Hilfe braucht. Doch natr
lich gelang es Nigel und Julie im Lauf des Wochenendes, mich
davon zu berzeugen, da ich Nigels Angebot annehmen
sollte. Warum denn nicht?
Was fr eine Zukunft hatte ich denn schon in Somalia? Was
erwartete mich dort? Meine Ziegen und Kamele? Und so
stellte ich Nigel schlielich die Frage, die stndig in meinem
Kopf herumgeisterte: Was verlangst du denn als Gegenlei
stung? Was hast du davon, wenn du mich heiratest und dich
diesen ganzen Schwierigkeiten aussetzt?
Ich habe es dir schon gesagt, ich will nichts dafr. Allah
hat mich dir gesandt. Nun versuchte ich, ihm klarzumachen,
da es nicht ganz einfach war, mich zu heiraten. Es reichte
nicht, einfach zum Standesamt zu gehen und das Jawort zu
geben. Ich war schlielich bereits verheiratet.
Na, du kannst dich doch scheiden lassen, und wir erzhlen
diesen Behrdentypen, da wir heiraten wollen, berlegte
Nigel. Dann werden sie dich nicht abschieben. Ich werde dich
begleiten. Schlielich bin ich britischer Staatsbrger, da kn
nen sie nicht einfach >nein< sagen. Weit du, du tust mir halt
leid, deshalb will ich dir helfen. Ich werde tun, was in meinen
Krften steht.
Julie setzte hinzu: Wenn er dir helfen kann, Waris, warum
es dann nicht probieren? Du hast doch nichts zu verlieren, al
so ist es einen Versuch wert. Nachdem sie mehrere Tage auf
mich eingeredet hatten, sagte ich mir, da sie immerhin meine
Freundin war und Nigel ihr Bruder. Ich wute, wo er wohnte,
und konnte ihm trauen. Julie hatte recht: Es war einen Versuch
wert.

212

Und so heckten wir einen Plan aus: Da ich keine Lust hatte,
nochmals allein Mr. O'Sullivans Nachwuchs zu begegnen,
wrde mich Nigel begleiten und ihn von einer Scheidung ber
zeugen. Vermutlich wrde der Alte - wie immer - Geld haben
wollen, berlegte ich, bevor er in irgend etwas einwilligte. Ich
seufzte, schon der bloe Gedanke raubte mir alle Kraft. Aber
meine Freundin und ihr Bruder drangen weiter in mich, und
schlielich sah ich die ganze Sache in rosigerem Licht. Los,
gehen wir, meinte Nigel. Wir setzen uns in meinen Wagen
und fahren gleich runter nach Croydon.
In dem Viertel, in dem der alte Mann wohnte, erklrte ich
Nigel den Weg zu der Wohnung. Pa auf dich auf, warnte
ich ihn whrend der Fahrt. Diese Typen, seine Shne, das
sind Wahnsinnige. Ich habe wirklich Angst, aus dem Auto zu
steigen. Doch Nigel lachte nur. Ich meine es ernst. Sie ha
ben mich verfolgt und versucht zu schlagen, sie sind nicht
richtig im Kopf. Wir mssen vorsichtig sein.
Ach, Waris, stell dich nicht so an. Wir sagen dem alten
Mann einfach nur, da du dich scheiden lassen willst. Das ist
doch keine groe Sache.
Als wir bei Mr. O'Sullivans Haus eintrafen, war es bereits
spter Nachmittag. Wir parkten direkt davor, und whrend
Nigel an die Tr klopfte, sah ich die ganze Zeit hinter mich und
lie die Strae nicht aus dem Auge. Niemand ffnete, aber ich
hatte bereits damit gerechnet, da wir in dem Pub an der Ecke
suchen muten.
Nigel jedoch meinte: La uns mal ums Haus herumgehen
und durchs Fenster schauen, vielleicht ist er ja doch daheim.
Im Gegensatz zu mir war er gro genug dazu. Doch nachdem
er erfolglos in mehrere Fenster gespht hatte, sah er mich
verwirrt an. Irgend etwas stimmt da nicht. Oh, Junge, scho
es mir durch den Kopf, jetzt begreifst du's endlich. Ich habe
dieses Gefhl jedesmal, wenn ich mit dem alten Widerling zu
tun habe.

213

Was meinst du damit: >Etwas stimmt da nicht<?


Ich wei auch nicht genau ... nur so ein Gefhl ... vielleicht,
wenn ich hier durchs Fenster steige ... Mit der Handflche
versuchte er, eins der Fenster zu ffnen.
Da kam eine Frau aus dem Nachbarhaus und rief: Wenn
Sie zu Mr. O'Sullivan wollen, den haben wir schon seit Wo
chen nicht mehr gesehen. Sie verschrnkte die Arme ber
der Schrze und beobachtete unsere Bemhungen. Schlie
lich gelang es Nigel, das Fenster einen Spalt aufzudrcken,
und ein entsetzlicher Gestank drang heraus. Ich hielt mir Mund
und Nase zu und wandte mich ab, whrend Nigel durch den
Spalt hineinsphte. Er ist tot ... ich kann ihn da am Boden
liegen sehen ...
Wir baten die Nachbarin, einen Krankenwagen zu rufen,
sprangen ins Auto und brausten los. Ich sage es nicht gerne,
aber ich war ungeheuer erleichtert.
Kurz nachdem wir den verwesenden Leichnam von Mr.
O'Sullivan in der Kche entdeckt hatte, waren Nigel und ich
auch schon verheiratet. Die britischen Behrden hatte ihre Be
strebungen, mich abzuschieben, aufgegeben, machten aber
keinen Hehl daraus, da sie meine Ehe fr eine Scheinehe
hielten. Was sie natrlich auch war. Daher kamen Nigel und
ich berein, es wre das beste, wenn ich bis zur Ausstellung
meines Passes bei ihm in Cheltenham, in den Cotswold Hills
westlich von London, wohnen wrde.
Nachdem ich inzwischen sieben Jahre in Stdten gelebt
hatte, zuerst in Mogadischu, dann in London, hatte ich beinahe
vergessen, wie sehr ich die Natur liebte. Auch wenn sich die
grasgrne, von ckern und Seen durchsetzte Landschaft
grundlegend von der Wste Somalias unterschied, geno ich
es sehr, ins Freie zu knnen, anstatt in Hochhusern und fen
sterlosen Ateliers eingesperrt zu sein. Endlich konnte ich wie
der einigen meiner Lieblingsbeschftigungen aus meiner No

214

madenzeit nachgehen: Laufen, Umherstreifen, Sammeln wil


der Pflanzen und Pinkeln im Gebsch. Hin und wieder sah
man meinen schwarzen Po hinter einem Busch hervorlugen.
Nigel und ich hatten getrennte Schlafzimmer, wir lebten zu
sammen wie in einer Wohngemeinschaft und nicht wie Mann
und Frau. Unsere Abmachung lautete, da er mich heiraten
wrde, damit ich einen Reisepa bekam, und obwohl ich ihm
finanzielle Untersttzung anbot, als ich endlich Geld verdiente,
lehnte er jede Gegenleistung beharrlich ab. Es sei ihm Lohn
genug, da er Allahs Weisung folgen knne und einem Men
schen in Not helfen drfe.
Eines Morgens stand ich schon gegen sechs Uhr auf, weil
ich nach London zu einem Casting mute. Ich ging hinunter in
die Kche und setzte Kaffeewasser auf, whrend Nigel noch in
seinem Zimmer schlief. Gerade als ich mir die gelben Gummi
handschuhe bergezogen und angefangen hatte, das Geschirr
zu splen, klingelte es an der Tr.
Mit tropfnassen Handschuhen ffnete ich und stand zwei
Mnnern mit ernsten, grauen Gesichtern in grauen Anzgen
gegenber. Unterm Arm trugen sie schwarze Aktentaschen.
Mrs. Richards?
Ja?
Ist Ihr Mann da?
Ja, er ist oben.
Lassen Sie uns bitte herein. Wir kommen im Auftrag der
Einwanderungsbehrde. Als ob sonst noch irgend jemand mit
so verbiesterter Miene herumlaufen wrde.
Nur herein, treten Sie ein ... mchten Sie vielleicht einen
Kaffee? Setzen Sie sich, ich rufe ihn. Die Mnner nahmen in
Nigels bequemen Wohnzimmersesseln Platz, vermieden es
aber, sich zurckzulehnen. Liebling, rief ich zuckers.
Komm doch bitte mal runter. Wir haben Besuch.

215

Verschlafen und mit zerzaustem Haar stieg Nigel die Trep


pe herunter. Hallo. Ein Blick gengte, und er wute, wen er
vor sich hatte. Was kann ich fr Sie tun?
Nun, wir mchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Zuerst
wollen wir uns vergewissern, da Sie mit Ihrer Frau zusam
menleben. Leben Sie denn zusammen?
An Nigels angeekeltem Gesichtsausdruck konnte ich erken
nen, da die Sache spannend zu werden begann, und lehnte
mich abwartend an die Wand. Er fauchte: Wie sieht es denn
in Ihren Augen aus? Die beiden Beamten blickten sich nervs
im Zimmer um. Mmmh. Ja, Sir, Wir glauben Ihnen, aber wir
mssen uns noch im Haus umschauen.
Da verdsterte sich Nigels Miene, hinter seiner gerunzelten
Stirn braute sich etwas zusammen. O nein. Sie werden nicht
bei mir im Haus herumschnffeln. Mir ist egal, wer Sie sind.
Das ist meine Frau, wir leben zusammen, das ist offensicht
lich. Sie schneien hier unangemeldet herein, wir haben nicht
mit Ihnen gerechnet und uns etwa vorbereitet oder so, also
verschwinden Sie wieder!
Mr. Richards, es besteht kein Grund, wtend zu werden.
Das Gesetz verlangt ...
Treibt mich nicht zum Wahnsinn!!! Haut ab, Jungs, so
schnell ihr knnt. Statt dessen blieben sie wie angewurzelt in
ihren Sesseln sitzen, auf ihren teigigen Gesichtern machte
sich Erstaunen breit. Raus aus meinem Haus! Falls Sie je
mals wieder hier auftauchen sollten, hole ich mein Gewehr und
schiee Sie ber den Haufen. Ich wrde ... wrde sterben fr
sie, sagte er und zeigte dabei auf mich.
Ich schttelte nur den Kopf und dachte, der Kerl spinnt ja.
Er ist wirklich total verknallt in mich, da habe ich mir was
Schnes aufgehalst. Was zum Teufel tue ich hier eigentlich?
Ich htte nach Afrika zurckgehen sollen, das wre besser
gewesen. Nachdem ich ein paar Monate in seinem Haus ge
wohnt hatte, schlug ich einmal vor: Nigel, warum machst du

216

dich nicht zurecht, kaufst dir ein paar anstndige Schuhe und
legst dir eine Freundin zu? La mich dir helfen.
Und er antwortete. Eine Freundin? Ich will keine Freundin.
Um Himmels willen, ich habe schlielich eine Frau, was soll
ich da mit einer Freundin?
Als er das sagte, wurde ich fuchsteufelswild. Steck deinen
verdammten Schdel in die Kloschssel und spl ihn runter,
du Irrer! Mann, wach endlich auf und verschwinde aus meinem
Leben! Ich liebe dich nicht! Wir haben eine Abmachung ge
troffen, du wolltest mir helfen, gut. Aber ich kann fr dich nicht
sein, was du ihn mir siehst. Ich kann nicht so tun, als ob ich
dich liebe, nur damit du glcklich bist. Doch Nigel hatte sich
aus unserer gemeinsamen Abmachung seine eigene Version
zurechtgebastelt. Als er mit knallrotem Kopf die Beamten be
schimpfte, die uns zu Hause berprfen wollten, hatte er die
Wahrheit herausgeschrien. Fr ihn stimmte jedes Wort. Und
da ich von ihm abhngig war, machte die Sache noch kom
plizierter. Auerdem schtzte ich ihn als Freund und war ihm
dankbar fr seine Hilfe. Trotzdem schwrmte ich kein bichen
fr ihn und htte ihn wirklich am liebsten erwrgt, als er anfing,
mich als liebendes Eheweib und persnliches Eigentum zu
behandeln. Ich merkte rasch, da ich mich verdrcken sollte,
und zwar je schneller, desto besser. Sonst bekme ich noch
genauso einen Schlag wie Nigel.
Aber mein Dilemma mit dem Reisepa war noch immer
nicht gelst. Und kaum merkte Nigel, da ich von ihm abh n
gig war, stellte er Forderungen und schraubte sie immer h
her. Er wurde geradezu besessen von meiner Person - wo ich
gewesen sei, mit wem zusammen, was ich dort getan habe?
Stndig bettelte er um meine Liebe, doch je mehr er mich an
flehte, um so mehr verabscheute ich ihn. Hin und wieder hatte
ich einen Auftrag in London oder besuchte Freunde. Ich nutzte
jede Gelegenheit, Nigel zu entfliehen, damit ich nicht auch
noch verrckt wurde.

217

Doch das Zusammenwohnen mit einem so offensichtlich Ir


ren machte es mir schwer, einen klaren Kopf zu behalten. Es
zerrte an meinen Nerven, da ich immer noch keinen Reise
pa besa - meinen Fahrschein in die Freiheit. Eines Tages
auf dem Weg nach London stand ich am Bahnsteig und sprte
pltzlich das berwltigende Bedrfnis, mich vor die einfah
rende Lok zu werfen. Whrend der Zug immer lauter wurde
und mir die khle B des Fahrtwinds durchs Haar fuhr, ber
legte ich, wie es sich wohl anfhlen wrde, wenn diese vielen
Tonnen Stahl meine Knochen zermalmten. Der Gedanke, mit
einem Schlag all meine Sorgen los zu sein, war verfhrerisch,
aber schlielich sagte ich mir: Warum wegen diesem armseli
gen Wurm mein Leben wegwerfen?
Man mu Nigel allerdings zugute halten, da er nach einem
Jahr geduldigen Wartens in die Einwanderungsbehrde mar
schierte und dort eine spektakulre Szene hinlegte, an deren
Ende ich einen befristeten Reisepa ausgestellt bekam. Mei
ne Frau ist ein international gefragtes Model, brllte er. Sie
braucht zumindest einen befristeten Pa, um ihre Termine im
Ausland wahrzunehmen. Bumm! Er knallte meine Mappe mit
den Probeaufnahmen auf den Schreibtisch. Ich als Brger
dieses Landes bin bestrzt, wie Sie meine Frau behandeln ...
ja, ich schme mich zu sagen, da dies mein Land ist. Und ich
verlange, da Sie die Angelegenheit auf der Stelle regeln!
Kurz nach diesem Auftritt wurde mein alter somalischer Pa
eingezogen, und ich bekam ein befristetes Dokument zur Ausund Einreise, das aber regelmig verlngert werden mute.
Darin stand: Gltig fr jedes Land, auer Somalia. Etwas
Niederschmetternderes hatte ich noch nie gelesen. In Somalia
herrschte Krieg, und die britische Regierung wollte verhindern,
da ich, nun britische Staatsbrgerin, ein Land besuchte, das
sich im Kriegszustand befand, whrend ich unter ihren Fitti
chen war. Sie waren fr mein Wohlergehen verantwortlich.
Doch als ich las: Gltig fr jedes Land, auer Somalia, fl

218

sterte ich leise: O Gott, was habe ich getan? Ich kann nicht
einmal mehr in meine Heimat zurck. Nun stand ich wirklich
allein in der Fremde.
Htte man mir vorher gesagt, da meine Entscheidung sol
che Konsequenzen haben wrde, ich htte erwidert: Verget
es, gebt mir meinen somalischen Pa wieder. Doch keiner
hatte mit mir darber gesprochen. Und nun war es fr einen
Rckzieher zu spt. Da ich nicht mehr nach Somalia konnte,
blieb mir nur die Flucht nach vorn. Ich beantragte ein Visum fr
Amerika und buchte einen Flug nach New York - allein.

219

14. Der Durchbruch

Nigel beharrte darauf, da er unbedingt mit mir nach New


York kommen msse. Er war zwar noch nie dort gewesen,
wute aber alles ber die Stadt: Da geht es vllig verrckt zu.
Und du, Waris, weit doch gar nicht, was du zu tun hast, wo
du hingehen mut - ohne mich bist du vllig aufgeschmissen.
Auerdem bist du dort nicht sicher, so allein, ich werde dich
beschtzen. Tja, aber wer beschtzte mich vor Nigel? Eine
seiner liebenswerteren Eigenschaften war es, da er in einer
Auseinandersetzung seine abstrusen Argumente endlos wie
derholte. Egal, was man einwandte, er plapperte in einem fort
immer wieder das gleiche, wie ein Papagei, bis man nachgab.
Man konnte mit ihm nicht vernnftig reden. Aber diesmal
lenkte ich nicht ein. Fr mich war diese Reise meine groe
Chance, meine Zukunft. Und dabei ging es mir nicht nur um
meine Karriere, sondern auch um einen persnlichen Neua n
fang, weit weg von England, von Nigel und unserer verkork
sten Beziehung.
Also traf ich 1991 allein in den Vereinigten Staaten ein, wo
ich bei meinem New Yorker Agenten wohnte, der whrend
dessen bei Freunden unterkam. Sein Apartment lag im Village,
im Herzen der aufregendsten Ecke von Manhattan. Auer ei
nem groen Bett stand nicht viel drin, aber gerade diese Ein
fachheit gefiel mir.

220

Meine Agentur hatte bereits eine Menge Termine fr mich


arrangiert, ich war von der ersten Minute an gefragt wie nie
zuvor - und verdiente Geld wie nie zuvor. Schon in der ersten
Woche nach meiner Ankunft arbeitete ich jeden Tag, und ich
beklagte mich nicht darber, nachdem ich vier Jahre lang
kaum einen Auftrag bekommen hatte.
Alles lief einfach groartig, bis ich eines Nachmittags bei ei
ner Fotosession in der Pause die Agentur anrief, um die Ter
mine fr den nchsten Tag abzuklren. brigens hat Ihr
Mann angerufen sagte mein Agent. Er ist bereits unterwegs
und kommt heute abend zu Ihnen in die Wohnung.
Mein Mann ... haben Sie ihm etwa erzhlt, wo ich wohne?
Mmmh, ja. Er hat gesagt, Sie wren vor Ihrer Abreise so
hektisch gewesen, da Sie ganz vergessen htten, ihm Ihre
Adresse zu geben. Ach, er war richtig s. >Ich will mich nur
vergewissern, da es ihr gutgeht<, hat er gesagt. Sie ist doch
zum ersten Mal in New York.< Ich knallte den Hrer auf die
Gabel und holte erst einmal tief Luft. Es war doch nicht zu fas
sen! Diesmal war Nigel eindeutig zu weit gegangen. Der arme
Kerl in der Agentur konnte nichts dafr, er wute ja nicht, da
Nigel kein richtiger Ehemann war. Wie htte ich ihm das auch
erklren sollen? Wissen Sie, wir sind zwar verheiratet und all
das, aber es handelt sich um einen vllig Verrckten - ich habe
ihn nur geheiratet, damit ich einen Reisepa kriege, schlielich
war ich illegal im Land, und man wollte mich schon nach So
malia abschieben. Kapiert? Und nun wegen meiner Termine
morgen ... Wirklich beunruhigend daran war nur, da ich ta t
schlich rechtmig mit einem Verrckten verheiratet war.
Als ich an diesem Abend nach der Arbeit in die Wohnung
ging, hatte ich einen Entschlu gefat. Wie angekndigt
tauchte Nigel auf und klopfte an die Tr. Ich lie ihn ein, doch
noch bevor er seine Jacke ausziehen konnte, sagte ich ernst
und sachlich: La uns gehen. Ich fhre dich zum Essen aus.
Sobald wir sicher unter Leuten waren, legte ich ihm die Sach

221

lage dar: Hr mal zu, Nigel. Ich kann dich nicht ausstehen.
Ich kann dich nicht ausstehen. Du machst mich krank. Wenn
du in der Nhe bist, kann ich nicht arbeiten, ja nicht einmal
nachdenken. Ich bin gehemmt, angespannt und will einfach
nur, da du abbaust. Mir war bewut, da meine Worte
furchtbar fr ihn waren, und es machte mir keinen Spa, ihn
zu qulen. Aber ich war verzweifelt. Wenn ich nur grausam
und gemein genug zu ihm war, vielleicht begriff er dann end
lich.
Nigel sah so traurig und jmmerlich aus, da ich mich
schuldig fhlte. Okay, du hast deinen Standpunkt klarge
macht. Ich htte nicht kommen sollen. Morgen nehme ich den
ersten Flug zurck.
Gut! Verschwinde! Wenn ich morgen von der Arbeit heim
komme, will ich dich nicht mehr in der Wohnung sehen.
Schlielich bin ich ja nicht zum Vergngen hier, ich arbeite. Da
bleibt mir keine Zeit fr solchen Unfug. Aber als ich am nch
sten Abend nach Hause kam, war er immer noch da. Teil
nahmslos, einsam, elend sa er in der dunklen Wohnung und
starrte aus dem Fenster - und machte keine Anstalten zu ge
hen. Als ich ihn anzuschreien begann, willigte er ein, am nch
sten Tag zurckzufliegen. Doch am nchsten Tag war es das
gleiche. Schlielich flog er tatschlich nach London zurck,
und ich dachte, dem Himmel sei Dank, endlich habe ich ein
bichen Ruhe. Weil ich kontinuierlich Auftrge bekam, blieb
ich lnger als geplant in New York. Nigel jedoch lie mich nicht
in Frieden. Ohne mein Wissen hatte er sich meine Kreditkar
tennummern besorgt und buchte auf meine Kosten noch
zweimal einen Flug nach New York. Insgesamt kam er also
dreimal - jedesmal eine unangenehme berraschung.
Abgesehen von den absurden Szenen mit Nigel war alles
andere in meinem Leben einfach himmlisch. Ich hatte viel
Spa in New York, lernte wichtige Leute kennen, und mit mei
ner Karriere ging es steil nach oben. Neben Werbeaufnahmen

222

fr Benetton und Levi's trat ich auch in einer Reihe von Wer
bespots fr einen Juwelier, Pomellato, auf - in weien afrikani
schen Gewndern. Auerdem warb ich fr Revlon und pr
sentierte spter deren neues Parfm Ajee. Der Slogan lautete:
Aus dem Herzen Afrikas kommt ein Duft, der das Herz einer
jeden Frau erobert. Alle diese Firmen bauten auf mein exoti
sches Aussehen, durch das ich mich von den anderen Models
unterschied - und das in London ein Hindernis fr meine Kar
riere gewesen war. Anllich der Oscar-Verleihung drehte Re
vlon einen speziellen Werbespot, in dem ich neben Cindy
Crawford, Claudia Schiffer und Lauren Hutton auftrat. Darin
stellte und beantwortete jede von uns dieselbe Frage, was fr
sie als Frau revolutionr sei. Meine Antwort fate meine bizar
re Lebenserfahrung zusammen: Ein Nomadenmdchen aus
Somalia wird Revlon-Model.
Spter erschien ich als erstes schwarzes Model berhaupt
in Anzeigen fr Oil of Olaz. Ich trat in Musikvideos fr Robert
Palmer und Meat Loaf auf. Bald wurde ich von solchen Auftr
gen frmlich berschttet, und binnen kurzem war ich in den
groen Modezeitschriften - Elle, Allure und Glamour - zu be
wundern, auerdem in der italienischen und der franzsischen
Vogue. Dabei arbeitete ich mit den besten Fotografen der
Branche zusammen, auch mit dem legendren Richard Ave
don. Trotz der Tatsache, da er berhmter ist als die Models,
die er fotografiert, ist Richard ein frhlicher und bodenstndi
ger Mann, und ich mag ihn sehr gern. Obwohl er ber eine
jahrzehntelange Berufserfahrung verfgt, fragte er mich stets
nach meiner Meinung zu den Bildern. Was hltst du davon,
Waris? Da er mich nicht einfach berging, bedeutete mir
sehr viel. Richard zhlt ebenso wie mein erster berhmter Fo
tograf Terence Donovan zu den Mnnern, die ich hoch sch t
ze.
Im Lauf der Jahre entwickelte ich eine Vorliebe fr die Zu
sammenarbeit mit einigen bestimmten Fotografen.

223

Es klingt vielleicht wie ein Kinderspiel, den ganzen Tag nur


zu fotografieren, doch je mehr Erfahrung ich sammelte, um so
grere Qualittsunterschiede nahm ich bei den Fotografen
wahr - gerade aus meiner Perspektive des Objekts heraus.
Einem guten Modefotografen gelingt es, die individuellen Zge
seines Models zu unterstreichen, anstatt ihr ein vorgefertigtes
Image berzustlpen. Das schtze ich vielleicht jetzt, da ich
lter geworden bin, um so mehr, weil ich nun mehr Wertscht
zung fr mich aufbringe und fr das, was mich von meinen
Kolleginnen unterscheidet. Wenn man als Schwarze in einer
Branche arbeitet, in der fast alle einen Meter achtzig messen,
seidiges Haar bis zu den Knien und eine porzellanweie Haut
haben, nimmt man eine Ausnahmestellung ein. Und ich habe
mit Fotografen gearbeitet, die mittels Ausleuchtung, Make-up
und mit Hilfe von Hairstylisten aus mir zu machen versuchten,
was ich eben nicht bin. Das hat mir keinen Spa gemacht, und
ich war mit den Ergebnissen auch nie zufrieden. Wenn man
Cindy Crawford haben will, soll man Cindy buchen, anstatt
einer Schwarzen eine Langhaarpercke aufzusetzen und sie
mit hellem Make-up zuzuschmieren, um dann einen merkwr
dig dunklen Cindy-Crawford-Verschnitt posieren zu lassen.
Viel Freude hat mir die Arbeit mit Fotografen immer dann ge
macht, wenn diese die natrliche Schnheit der Frau heraus
zuarbeiten versuchten. Da hatten sie bei mir zweifellos ihre
liebe Not, und ich bin ihnen dankbar fr ihre Mhe.
Je grer meine Popularitt wurde, desto mehr Auftrge
bekam ich, und mein Terminkalender platzte beinahe, so viele
Castings, Modeschauen und Fotosessions standen darin. Bei
meiner Abneigung gegen das Tragen einer Uhr war es schwie
rig fr mich, nicht den berblick zu verlieren. Zwischen den
Wolkenkratzern von Manhattan konnte man die Zeit ja nicht
mittels Sonnenstand und Schattenwurf bestimmen wie frher
in der Wste. Folglich bekam ich eine Menge Schwierigkeiten,
weil ich zu spt zu meinen Terminen erschien. Nachdem ich

224

mich auerdem immer wieder am falschen Ort einstellte,


merkte ich schlielich, da ich an Dyslexie litt: Ich verdrehte
stndig die Hausnummern der Adressen, die mir meine
Agentur aufgeschrieben hatte. So stand ich dann anstatt vor
Nummer 725 Broadway vor dem Haus 527 Broadway und
wunderte mich, wo denn all die anderen steckten. Das war mir
in London auch schon passiert, aber da ich in New York viel
mehr Termine hatte, wurde mir erst dort klar, da ich ein ech
tes Problem hatte.
Mit wachsender Erfahrung und grerem Selbstbewutsein
kristallisierte sich fr mich allmhlich heraus, da ich am lieb
sten auf dem Laufsteg arbeitete. Zweimal im Jahr prsentieren
die Modeschpfer ihre neuen Kollektionen bei eigenen Mode
schauen, zuerst zwei Wochen in Mailand, dann in Paris, es
folgen London und New York. Meine Kindheit als Nomadin
hatte mich auf dieses Leben bestens vorbereitet: Ich reiste mit
leichtem Gepck, fuhr der Arbeit hinterher, nahm, was mir das
Leben zu bieten hatte, und machte das Beste daraus.
Sobald die Saison in Mailand erffnet wird, macht sich jede
Frau und jedes Mdchen aus der Modelbranche dorthin auf,
und auch jedes weibliche Wesen, das von einer Karriere als
Model trumt. Pltzlich wimmelt es in der Stadt von auffallend
groen Frauen, es geht zu wie in einem Ameisenhaufen. An
jeder Straenecke, an jeder Bushaltestelle, in jedem Cafe
berall Models. Ah, da ist ja eine. Oha, dort drben die nch
ste. Und hier schon wieder eine. Irrtum ausgeschlossen. Man
che sind freundlich: Hallo! Andere wieder mustern sich von
oben bis unten: Mmmmh. Einige kennen sich. Andere wie
derum sind vllig fremd hier, zum ersten Mal allein und ngsti
gen sich zu Tode. Verschiedene kommen ganz gut miteinan
der aus. Etliche berhaupt nicht. Die ganze Palette ist
vertreten. Und wenn jemand behauptet, hier gbe es keine

225

Eifersucht, nun, das ist kompletter Bldsinn. Natrlich gibt es


auch hier jede Menge Neid und Migunst.
Die Agentur macht Termine fr dich aus, und dann rennst
du wie all die anderen Models quer durch Mailand, gehst zu
Castings und versuchst, dir einen Auftritt in einer der Schauen
zu sichern. An dem Punkt wird auch noch der letzten klar, da
Modeln nur wenig mit Glamour zu tun hat. Eigentlich gar
nichts. Du hast sieben, zehn, elf Termine an einem einzigen
Tag. Das ist wirklich harte Arbeit, denn du rennst den ganzen
Tag herum und hast keine Zeit, etwas zu essen, weil du gera
de einen Termin hast und fr zwei weitere schon sehr spt
dran bist. Endlich hast du es zum nchsten Casting geschafft,
und da warten schon dreiig Mdchen, von denen jede einze lne vor dir drankommt. Wenn du endlich an der Reihe bist,
zeigst du deine Sedcard mit deinen Fotografien und persnli
chen Angaben. Interessierst du den Kunden, wirst du aufge
fordert, ein paar Schritte zu gehen. Und findet er wirklich Ge
fallen an dir, bittet man dich, etwas anzuprobieren. Das war's
dann. Danke. Die nchste.
Du hast keine Ahnung, ob sie dich nehmen oder nicht, aber
auch gar keine Zeit, dir darber den Kopf zu zerbrechen, denn
du bist schon unterwegs zum nchsten Termin. Wenn sie dich
haben wollen, rufen sie deine Agentur an und buchen dich.
Inzwischen hast du hoffentlich gelernt, nicht stndig darber
nachzugrbeln, ob sie dich wohl nehmen werden, oder dich zu
grmen, weil du einen Auftritt nicht bekommen hast, an dem
dein Herz hing. Sei blo nicht verletzt, weil einer deiner Lieb
lingsdesigner dich abgelehnt hat. Wenn du erst einmal an
fngst zu berlegen, habe ich es wohl geschafft? Kriege ich
den Job? Warum wollten sie mich nicht? machst du dich vllig
verrckt. Vor allem darfst du nicht zulassen, da es dich per
snlich trifft, wenn du bestimmte Auftrge nicht bekommst,
denn sonst gehst du kaputt. Irgendwann hast du dann kapiert,
da die ganze Casting-Prozedur vor allem aus Enttuschun

226

gen besteht. Anfangs habe ich mich auch noch gefragt, ver
dammt, warum habe ich den Auftrag nicht gekriegt? Ich habe
ihn doch unbedingt haben wollen! Doch spter habe ich dann
gelernt, in dieser Branche gem dem Motto zu leben: C'est la
vie. Scheie, es hat eben nicht geklappt. Du hast ihnen nicht
gefallen, so einfach ist das. Und das ist nicht deine Schuld.
Wenn sie nach jemandem Ausschau halten, der ber zwei
Meter gro ist, keine vierzig Kilo wiegt und langes blondes
Haar hat, dann interessieren sie sich eben nicht fr Waris,
Punkt. Nichts wie weiter, Mdchen.
Wenn man von einem Kunden gebucht wird, hat man dort
weitere Termine zur Anprobe der Sachen, die man auf dem
Laufsteg tragen soll. All dieses hektische Hin und Her passiert
im Vorfeld, die Modeschauen sind noch gar nicht angelaufen.
Du bist abgehetzt und erschpft und unausgeschlafen und
hast keine Zeit, ordentlich zu essen. Du wirkst ausgemergelt
und mde. Und whrend du tagtglich darum kmpfst, so gut
wie nur mglich auszusehen, weil deine Karriere davon ab
hngt, wirst du immer magerer. Du fragst dich, warum tue ich
mir das an? Was habe ich hier berhaupt verloren?
Dann werden die groen Schauen erffnet, zeitgleich geht
aber das Casting weiter, denn die ganze Sache dauert ja nur
zwei Wochen. Am Tag der Vorfhrung mu man ungefhr fnf
Stunden vor Beginn dasein. Die Mdchen drngen sich, du
wirst geschminkt, dann sitzt du herum, irgendwann werden
deine Haare frisiert, und du sitzt wieder herum und wartest,
da die Schau endlich losgeht. Schlielich ziehst du das erste
Outfit an, jetzt stehst du herum, weil du dich nicht mehr hinset
zen darfst, es knnte ja etwas zerknittern! Die Modeschau wird
erffnet, und pltzlich herrscht vlliges Chaos, der absolute
Wahnsinn. Whoa! Wo steckst du? Was machst du da? Wo ist
Waris? Naomi, komm. Hier nach vorne, Beeilung. Du bist
Nummer neun, du bist die nchste. Man streift sich vor all
diesen wildfremden Menschen die Kleider ber. Ja, ja, ich

227

komme ja, Moment. Jeder schubst jeden. Was soll das?


Aus dem Weg, ich bin dran!
Und dann der Lohn fr all die Mhe: der Auftritt. Du bist die
nchste, stehst neben der Bhne. Schon betrittst du den Lauf
steg, die Scheinwerfer blenden dich, ohrenbetubende Musik,
alle starren dich gebannt an, und du schreitest selbstbewut
den Laufsteg entlang, und dir schiet durch den Kopf: Ich bin
es! Schaut mich alle an! Du bist von den Besten der Branche
frisiert und geschminkt worden, und deine Klamotten sind so
teuer, da du sie dir niemals leisten knntest. Aber fr wenige
Sekunden gehren sie dir, und du weit, da du aussiehst wie
eine Multimillionrin. Das Adrenalin schiet dir durch die
Adern, und wenn du abtrittst, kannst du es kaum erwarten,
dich umzuziehen und wieder rauszugehen. Nach all der lang
wierigen Vorbereitung dauert die komplette Schau nur zwanzig
oder dreiig Minuten, aber du bist an diesem Tag vielleicht von
drei, vier, fnf Modeschpfern gebucht, also reit du dir nach
deinem letzten Auftritt die Sachen vom Leib und rast zum
nchsten.
Nach den zwei Wochen Irrsinn in Mailand zieht die ganze
Heerschar von Designern, Visagisten, Hairstylisten und Mo
dels weiter nach Paris. Dort wiederholt sich das Geschehen,
ebenso wie dann in London und in New York. Am Ende der
Tournee bist du restlos fertig, nach den Modeschauen in New
York nimmst dir am besten einige Zeit frei. Denn wenn du ver
suchst weiterzuarbeiten, anstatt dich auf eine kleine Insel ohne
Telefon zurckziehen und zu entspannen, lufst du Gefahr,
vor Erschpfung vllig durchzudrehen.
Obwohl das Modeln Spa macht und ich zugegebenerma
en den glitzernden Glamour schtze, hat es auch seine
Schattenseiten: Gerade eine junge, unsichere Frau kann in
dem Metier leicht zugrunde gehen. Ich bin schon zu Terminen
erschienen, wo der Visagist und der Fotograf entsetzt auf
kreischten: Du lieber Himmel! Was ist denn mit deinen Fen

228

los? Wo hast du nur all diese hlichen dunklen Flecke her?


Was soll ich ihnen antworten? Sie meinen damit die Narben
von den Hunderten von Dornen und spitzen Steinen in der
somalischen Wste, auf die ich getreten bin. Ein Andenken an
meine Kindheit, schlielich bin ich dreizehn Jahre lang barfu
herumgelaufen. Aber wie soll ich das einem Pariser Mode
schpfer erklren?
Mir wurde auch ganz schlecht, als man mich bei einem
Casting aufforderte, einen Minirock anzuziehen. Ich ging ein
paar Schritte, verlagerte das Gewicht auf ein Bein und drehte
mich herum, dabei hoffte ich die ganze Zeit, da niemand et
was merken wrde. Denn ich habe O-Beine - eine bleibende
Erinnerung an eine Kindheit in einer Nomadenfamilie mit unzu
reichender Ernhrung. Und ich bin wegen dieses krperlichen
Gebrechens, wegen dieser O-Beine, fr die ich nun wirklich
nichts kann, mehr als einmal nicht gebucht oder wieder gefe u
ert worden.
Weil ich mich meiner Beine so sehr schmte, suchte ich so
gar einmal einen Arzt auf und lie untersuchen, ob er sie rich
ten knne. Brechen Sie mir die Beine, forderte ich ihn auf,
damit ich mich deswegen nie wieder schmen mu. Doch
Gott sei Dank sagte er, da ich schon zu alt dafr sei, meine
Knochen wren bereits zu hart, als da man noch etwas ma
chen knne. Als ich dann lter wurde, sagte ich mir, gut, das
sind also meine Beine, sie verweisen auf meine Herkunft und
gehren zu mir. Und nachdem ich meinen Krper besser ken
nengelernt hatte, begann ich, meine Beine sogar zu mgen.
Htte ich sie brechen lassen, nur um ein paar fnfmintige
Laufstegauftritte einzuheimsen, wre ich heute bitterbse auf
mich. Ich htte mir die Knochen brechen lassen und wofr?
Damit die Klamotten von irgendwelchen Typen besser an mir
aussehen! Heute bin ich stolz auf diese Beine, denn sie haben
eine Geschichte, sie sind Teil meiner Vergangenheit. Diese OBeine haben mich Tausende von Meilen durch die Wste ge

229

tragen, und mein langsamer, wiegender Gang ist der einer


Afrikanerin - ein Vermchtnis meiner Heimat.
Ein weiteres Problem beim Modeln ist, da es in der Mode
branche, wie in jeder anderen Branche auch, etliche unange
nehme Menschen gibt. Vielleicht liegt es daran, da von man
chen Entscheidungen oft sehr viel abhngt, da die Leute
leicht gestret sind. Ich erinnere mich an die Zusammenarbeit
mit der Art-directrice einer der groen Modezeitschriften, die
zumindest in meinen Augen einen besonders scharfen, ge
hssigen Ton pflegte und damit berall Grabesstimmung ver
breitete. Wir waren auf einer wunderhbschen kleinen Insel in
der Karibik und machten dort Fotos. Der Ort war paradiesisch
schn, und jeder von uns htte diese Zeit in vollen Zgen ge
nieen sollen, schlielich wurden wir fr den Aufenthalt in ei
ner Umgebung bezahlt, fr die andere Menschen in ihrem Ur
laub viel Geld hinblttern. Doch diese Frau konnte das einfach
nicht und sa mir von der ersten Minute an im Nacken. Wa
ris, du mut dich wirklich zusammenreien. Steh auf, und be
weg dich, du bist so etwas von faul. Ich kann mit Leuten wie
dir einfach nicht arbeiten. Als sie meine Agentur in New York
anrief und sich beschwerte, da ich wie ein Idiot den ganzen
Tag herumhngen wrde, ohne auch nur den Finger zu rh
ren, verstanden sie dort die Welt nicht mehr. Mir ging es nicht
anders.
Diese Art-directrice war eine herzzerreiend traurige Er
scheinung und ganz offenkundig zutiefst frustriert - sie hatte
keinen Mann, keine Freunde, keinen Geliebten. Ihr Beruf war
ihr ganzer Lebensinhalt, all ihre Liebe und Leidenschaft flos
sen in ihre Arbeit. Fr sie war ich ein dankbares Opfer, an dem
sie ihre Enttuschung auslassen konnte - ich bin sicher, da
ich nicht die erste und auch nicht die letzte in dieser Rolle war.
Trotzdem verging mir nach ein paar Tagen mein Mitleid. Ich
betrachtete sie und berlegte, Waris, es gibt zwei Mglichkei

230

ten: Entweder du klebst ihr eine, oder du lchelst sie an und


hltst den Mund. Ich entschied mich, den Mund zu halten.
Eine der traurigsten Erfahrungen ist es, junge Mdchen, die
gerade erst am Anfang ihrer Karriere stehen, in den Klauen
von Frauen wie dieser Art-directrice zu sehen. Noch halbe
Kinder, lassen sie Oklahoma oder Georgia oder North Dakota
hinter sich und fliegen allein nach New York, Frankreich oder
Italien, um dort den Durchbruch zu wagen. Hufig kennen sie
weder das Land, in das sie kommen, noch die Landessprache.
Sie sind naiv und werden ausgenutzt. Weil sie mit der Zurck
weisung nicht klarkommen, gehen sie innerlich kaputt. Ihnen
fehlt die Erfahrung, die Gelassenheit und die innere Strke, zu
erkennen, da es nicht an ihnen liegt, wenn es nicht klappt.
Viele kehren schlielich schluchzend, zerbrochen und verbit
tert wieder nach Hause zurck.
Auerdem tummeln sich in dem Metier Lgner und Betr
ger. Viele junge Mdchen wollen unbedingt Model werden und
fallen auf die Masche herein, da ihnen in sogenannten
Agenturen eine Sedcard zusammengestellt und dafr ein
Vermgen abgeknpft wird. Da ich selbst einmal Opfer eines
Gauners geworden bin, als ich damals auf Harold Wheeler
hereinfiel, treibt mich das zur Weiglut. Beim Modeln soll man
Geld verdienen und nicht draufzahlen. Wenn eine junge Frau
als Model arbeiten will, braucht sie nur genug Geld, um die
Busfahrten zu den Agenturen zu bezahlen. Sie kann in den
Gelben Seiten Agentur-Adressen heraussuchen, dort anrufen
und einen Termin vereinbaren. Sobald die Agentur jedoch von
Bearbeitungsgebhren oder hnlichem zu sprechen beginnt
nichts wie weg! Eine serise Agentur, die der berzeugung ist,
da jemand das richtige Gesicht hat und den zeitgemen
Look verkrpert, hilft dem zuknftigen Model dabei, eine
Sedcard zusammenzustellen. Dann vereinbart sie Termine
und Castings, und schon ist man im Geschft.

231

Ebenso wie es in der Modelbranche unangenehme Men


schen gibt, arbeitet man auch nicht immer unter den ange
nehmsten Bedingungen. Ich habe einmal einen Auftrag ange
nommen, bei dem ein Stier eine Rolle spielte, soviel wute ich
im voraus. Doch erst als ich von New York nach Los Angeles
und mit dem Hubschrauber weiter in die Wste geflogen war,
merkte ich, was das hie.
Wir waren mitten in der kalifornischen Wste - nur ich, die
Crew und ein riesiger schwarzer Stier mit langen, spitzen Hr
nern. Ich lie mich in dem kleinen Wohnwagen schminken und
frisieren, dann kam der Fotograf und fhrte mich hinaus zu
dem Tier, das von seinem Besitzer festgehalten wurde. Sag
hallo zu Satan, forderte er mich auf.
Oh, hallo, Satan. Er gefiel mir auf den ersten Blick. Was
fr ein schnes Tier. Prachtvoll. Aber ist er nicht gefhrlich?
Nein, nein, kein bichen. Das ist der Besitzer. Der Foto
graf zeigte auf den Mann, der Satans Kette hielt. Er kann mit
ihm umgehen. Der Fotograf erklrte mir, was er vorhatte. Es
ging um ein Foto fr das Etikett einer Schnapsflasche. Ich
sollte mich auf den Stier setzen, und zwar nackt! Das er
schtterte mich, denn davon hatte ich keine Ahnung gehabt.
Aber weil ich vor all den Leuten keine Szene machen wollte,
hielt ich es fr das beste, einfach den Anweisungen zu folgen.
Mir tat der Stier leid, denn es war elend hei, und seine Na
se tropfte. Man hatte ihm alle viere festgebunden, so da er
sich nicht von der Stelle rhren konnte; jmmerlich stand das
riesige Tier in der Wste. Der Fotograf formte mit seinen H n
den eine Steighilfe, damit ich mich auf den Stierrcken
schwingen konnte. Leg dich hin, befahl er und wedelte mit
den Armen. Streck dich aus - den Oberkrper tiefer und die
Beine ganz lang. Whrend ich seinen Anordnungen Folge
leistete und versuchte, schn, entspannt, verspielt und sexy
auszusehen, ging mir durch den Kopf, wenn dich dieses Vieh
abwirft, bist du mausetot. Da fhlte ich pltzlich an meinem

232

nackten Bauch, wie Satans Fell sich strubte, und schon flog
ich durch die Lfte, die Mohave-Wste sauste an mir vorbei,
und ich fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den gebackenen
Sand.
Alles in Ordnung?
Ja, ja. Da ich nicht wollte, da irgend jemand Waris Dirie
eine Memme schalt, die sich vor einem alten Stier frchtete,
spielte ich jetzt die Knallharte und lie mir den Schreck nicht
anmerken. Also, auf ein neues. Helft mir hoch. Die Crew
zog mich auf die Beine, klopfte mir den Sand ab, und wir ver
suchten es wieder. Offensichtlich machte dem Stier die Hitze
ziemlich zu schaffen, denn er warf mich noch zwei weitere
Male ab. Bei meinem dritten Sturz verstauchte ich mir den
Knchel, der sofort anschwoll und zu pochen begann. Hast
du das Bild im Kasten? fragte ich, whrend ich am Boden lag.
Es wre prima, wenn wir noch einen Film verschieen
knnten ...
Zum Glck ist das Foto mit dem Stier nie erschienen. Aus
irgendeinem Grund hatte sich die Schnapsfirma dagegen ent
schieden, worber ich sehr erleichtert war. Denn der Gedanke,
da eine Gruppe alter Kerle zusammensitzt und sich besuft,
whrend sie meinen nackten Hintern anglotzen, ist nicht gera
de erfreulich. Nach diesem Erlebnis beschlo ich, nicht mehr
nackt zu posieren, denn das machte mir einfach keinen Spa.
Man fhlt sich so verletzlich, wenn man gehemmt und hilflos
vor den Leuten steht und auf eine Pause hofft, in der man sich
in sein Handtuch wickeln kann - es ist das Geld nicht wert.
Doch dieses Erlebnis zhlt sicher zu den schlimmsten, und
im groen und ganzen macht mir das Modeln sehr viel Spa.
Es ist der schnste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Ich
kann es heute ebensowenig fassen wie damals, als mich Te
rence Donovan nach Bath brachte und vor eine Kamera stell
te, da irgend jemand mich einfach nur fr mein Aussehen

233

bezahlt. Niemals htte ich gedacht, da ich meinen Lebens


unterhalt tatschlich mit etwas bestreiten kann, das in meinen
Augen keine richtige Arbeit ist. Mir erschien diese ganze Bran
che als eine alberne Spielerei, aber ich bin froh und glcklich,
da ich mich darauf eingelassen habe. Und ich werde immer
dankbar dafr sein, da ich die Gelegenheit bekam, mich in
diesem Metier zu beweisen, denn nicht jedes Mdchen schafft
den groen Durchbruch. Leider strengen sich sehr viele junge
Frauen vergeblich an.
Ich wei noch, wie ich als junges Mdchen bei Onkel Mo
hammed als Hausmdchen arbeitete und davon trumte, ein
Model zu werden. Und wie ich schlielich all meinen Mut zu
sammennahm und eines Abends Iman fragte, wie man das
denn anstellen msse. Zehn Jahre spter wurde ich gerade in
einem New Yorker Atelier fr Revlon fotografiert, als die Visa
gistin hereinkam und mir erzhlte, da Iman nebenan fr ihre
eigene Kosmetikserie posiere. Ich rannte aus dem Studio und
zu ihr hinber. Oh, du prsentierst inzwischen deine eigenen
Produkte. Warum hast du nicht mich gebucht, eine somalische
Frau, um fr dein Make-up zu werben?
Leise murmelte sie: Na ja, ich kann mir dich nicht leisten.
In Somali antwortete ich: Fr dich htte ich es umsonst
gemacht. Merkwrdigerweise hatte sie nicht gemerkt, da ich
das Mdchen war, das ihr damals den Tee gebracht hatte.
Das Ungewhnliche an meinem Erfolg ist, da ich niemals
von mir aus Anstrengungen unternommen habe, Model zu
werden, es flog mir einfach zu. Vielleicht habe ich die Sache
deshalb nie allzu ernst genommen. Auch lag mir nichts daran,
ein Supermodel oder Star zu werden - und ich kann im
mer noch nicht verstehen, warum Models derartige Berhmt
heit erlangen. Die gesamte Modebranche gert Tag fr Tag
immer mehr auer sich und feiert in Zeitschriften und Fern

234

sehshows ihre Supermodels, whrend ich mich frage, was soll


denn das eigentlich?
Nur weil wir als Models arbeiten, behandeln uns manche
Menschen wie Gttinnen - und andere wie Vollidioten. Auch
diesem Verhalten bin ich oft begegnet, als msse ich, nur weil
ich meinen Lebensunterhalt mit meinem ueren bestreite,
dmlich sein. Mit selbstgeflliger Miene sagen sie: Ach, Sie
sind Model? Schade - ein Dummchen also. Stehen den gan
zen Tag nur blde herum und lcheln in die Kamera.
Nun, ich bin allen mglichen Models begegnet, und ja, ich
habe auch welche kennengelernt, die nicht besonders klug
waren. Aber die Mehrheit ist intelligent, gebildet und weit ge
reist und versteht von den meisten Themen genausoviel oder
wenig wie jeder andere Mensch auch. Sie haben sich selbst
und ihre Arbeit im Griff und sind echte Profis. Doch manche
Leute - wie beispielsweise diese verunsicherte, biestige Art
directrice - knnen nicht damit umgehen, da es Frauen gibt,
die schn und klug sind. Sie haben das Bedrfnis, uns zu zei
gen, wo wir hingehren, indem sie uns von oben herab wie
eine Herde dummer Pppchen behandeln.
Meiner Meinung nach wirft die Werbung und damit auch das
Modeln unglaublich komplexe moralische Fragen auf. Fr mich
sind die wichtigsten Dinge auf der Welt die Natur, menschliche
Gte, Familie und Freundschaft. Doch ich lebe davon, da ich
den Leuten sage: Kauft das, denn es sieht einfach hinreiend
aus. Mit breitem Lcheln verkaufe ich ein Produkt. Natrlich
knnte ich zynisch fragen: Warum tue ich das? Ich helfe mit,
die Welt zu zerstren. Aber ich glaube, das trifft im weitesten
Sinne auf beinahe jeden in fast jedem Beruf zu. Und meine
Arbeit hat eben auch ihre guten Seiten: Ich lerne schne Men
schen, zauberhafte Orte und fremde Kulturen kennen. Das hat
mich letztlich motiviert, etwas fr den Erhalt der Erde und ge
gen ihre Zerstrung tun zu wollen. Und im Gegensatz zu den

235

in Armut lebenden Somalifrauen in meiner Heimat bin ich in


der glcklichen Lage, auch etwas tun zu knnen.
Mehr als der Starrummel hat mir bei meiner Arbeit immer
gefallen, da ich mich als eine Weltbrgerin fhlen konnte und
in der Lage war, zu den atemberaubendsten Pltzen auf die
sem Planeten zu reisen. Wenn wir dann auf einer wunder
schnen Insel arbeiteten, was hufig der Fall war, nutzte ich
jede Gelegenheit, dort in meiner freien Zeit den Strand ent
langzurennen. Es war so schn, wieder in der Natur, in der
Sonne zu sein. Anschlieend lief ich oft in ein Wldchen und
lauschte still dem Vogelgezwitscher. Aahh! Mit geschlossenen
Augen atmetete ich den sen Bltenduft ein, fhlte die Sonne
auf meinem Gesicht, hrte dem Gesang der Vgel zu und
stellte mir vor, wieder in Afrika zu sein. Eine friedvolle Heiter
keit, an die ich mich aus Somalia erinnerte, berkam mich, und
ich fhlte mich nach Hause zurckversetzt.

236

15. Wieder in Somalia

1995 flchtete ich nach einer langen Serie von Fotosessi


ons und Modeschauen zum Ausspannen nach Trinidad. Es
war gerade Karneval, und die Leute trugen Kostme, tanzten,
hatten Spa und genossen das Leben in vollen Zgen. Ich
wohnte im Haus von Bekannten. Einige Tage nach meiner An
kunft kam ein Mann an die Tr, und Tante Monica - wie wir
das weibliche Familienoberhaupt nannten - ffnete ihm. Es
war spter Nachmittag und drauen sehr hei, aber wir saen
in einem khlen, schattigen Zimmer. An der Tr stand ein
Mann, von dem vor dem hellen Hintergrund nur die Umrisse zu
erkennen waren. Ich hrte ihn nach jemanden namens Wa
ris fragen, dann rief mich Tante Monica. Waris, da ist ein
Anruf fr dich!
Ein Anruf? Gibt es hier ein Telefon?
Du mut diesen Mann begleiten. Er fhrt dich hin. Ich
folgte Tante Monicas Nachbarn, der als einziger in der Gegend
ein Telefon besa, zu ihm nach Hause. Wir gingen durch sein
Wohnzimmer in den Flur, und er wies auf einen Apparat, des
sen Hrer abgenommen war. Hallo? Es war meine Agentur
in London.
Oh, hallo, Waris. Tut mir leid, dich zu stren. Aber die BBc
hat sich mit uns in Verbindung gesetzt. Du sollst dich so
schnell wie mglich bei ihnen melden; es ist dringend. Sie
mchten einen Dokumentarfilm ber dich drehen.

237

Einen Dokumentarfilm? ber was?


ber dich, das Topmodel. Woher du stammst und wie du
mit deinem neuen Leben zurechtkommst, du weit schon.
Daraus kann man doch keine Geschichte machen. Warum
um Himmels willen suchen sie sich nichts anderes?
Ach, sprich selbst mit ihnen. Wann knnen sie mit deinem
Anruf rechnen?
Hr zu, ich werde mit niemandem sprechen. Aber sie
wollen mit dir reden, und zwar sofort!
Das ist mir egal, Mensch. Sag ihnen, ich melde mich,
wenn ich nach London komme. Von hier aus fliege ich erst
nach New York und dann nach London. Sobald ich da bin, rufe
ich sie an.
Doch am nchsten Tag, als ich mich gerade auf einem
Stadtbummel befand, kam der Mann erneut zu Tante Monica,
weil er einen Anruf fr mich hatte. Ich nahm das nicht weiter
zur Kenntnis. Am darauffolgenden Tag kam der nchste.
Diesmal begleitete ich den Mann zu seinem Telefon, denn of
fensichtlich nahm niemand Rcksicht darauf, da er stndig zu
uns hinberlaufen mute. Natrlich war es erneut meine
Agentur. Ja, was gibt's?
Waris, es geht wieder um die BBC Sie wollen ganz drin
gend mit dir sprechen. Morgen um diese Zeit rufen sie bei dir
an.
Hr mal, ich habe Urlaub, und ich spreche mit niemandem.
Ich brauche Abstand zu allem, also la mich zufrieden. Und
hr auf, diesen armen Mann zu belstigen!
Sie wollen dich doch nur was fragen.
Ich seufzte. In Gottes Namen, gut. Sag ihnen, sie sollen
mich morgen unter dieser Nummer anrufen. Am nchsten
Tag sprach ich mit dem BBC-Regisseur Gerry Pomeroy. Er
wollte mich ber mein Leben ausfragen.

238

Darber rede ich jetzt nicht, erwiderte ich kurz angebun


den. Ich bin hier im Urlaub. Knnen wir das alles nicht spter
besprechen?
Tut mir leid, aber wir mssen eine Entscheidung treffen,
und dazu brauche ich ein paar Informationen. Und so stand
ich im Hausflur eines Fremden in Trinidad und erzhlte einem
anderen Fremden in London meine Lebensgeschichte. Gut,
prima, Waris. Wir melden uns bei Ihnen.
Zwei Tage spter erschien der Mann erneut bei Tante Mo
nica. Anruf fr Waris. Ich zuckte die Schultern und folgte
ihm kopfschttelnd zu seinem Haus. Es war wieder Gerry von
der BBC. Also, Waris, wir mchten gern eine Dokumentation
ber Ihr Leben drehen. Einen halbstndigen Film in der Reihe
>Der Tag, der mein Leben vernderte.
Zwischen den beiden Anrufen von meiner Agentur und die
sem zweiten von der BBc hatte ich ber das Filmprojekt nach
gedacht. Hren Sie, Gerry, ich kann Ihnen ein Geschft vor
schlagen. Ich bin mit der Sache einverstanden, wenn Sie mit
mir zurck nach Somalia fahren und mir helfen, meine Mutter
zu suchen. Gerry, der sich derartige Aufnahmen als guten
Abschlu der Dokumentation vorstellen konnte, war dazu be
reit. Er bat mich, ihn nach meiner Rckkehr nach London
gleich anzurufen, damit wir das Projekt gemeinsam durchspre
chen knnten.
Die BBC gab mir zum ersten Mal seit meiner Abreise aus
Somalia die Gelegenheit, meine alte Heimat wiederzusehen,
denn wegen der endlosen Schwierigkeiten mit meinen Papie
ren, der Stammesfehden und weil ich meine Familie nicht
hatte ausfindig machen knnen, hatte ich diesen Schritt bisher
gescheut. Zwar htte ich durchaus die Mglichkeit gehabt,
nach Mogadischu zu fliegen, aber es war ja nicht so, da ich
meine Mutter nur anzurufen brauchte, damit sie mich dann am
Flughafen abholte. Seit der Abmachung mit der BBC konnte
ich an nichts anderes mehr denken. Auf den unzhligen Tref

239

fen, die dann folgten, erzhlte ich Gerry und seinem Assisten
ten Colm meine Lebensgeschichte in allen Einzelheiten, und
wir planten das Projekt.
In London begannen wir dann auch gleich zu filmen. Ich sah
all die Sttten meiner Erinnerung wieder, angefangen mit On
kel Mohammeds Haus, der Residenz des somalischen Bot
schafters, die das Team von der BBC sogar betreten durfte.
Dann filmten sie die All Souls Church School, wo Malcolm
Fairchild mich entdeckt hatte. In einem Interview fragten sie
ihn vor laufender Kamera, warum er so hartnckig versucht
hatte, dieses unbekannte Hausmdchen zu fotografieren. Au
erdem filmte die Mannschaft bei einer meiner Fotosessions
mit Terence Donovan. Schlielich sprachen sie mit meiner
guten Freundin Sarah Doukas, der Leiterin der Londoner Mo
delagentur Storm.
Richtig hektisch wurde es, als die BBC meinen Auftritt als
Gastmoderatorin der Fernsehsendung Soul Train aufzeich
nen wollte. Da ich etwas Derartiges noch nie zuvor gemacht
hatte, lagen meine Nerven blo. Hinzu kam, da ich in Los
Angeles eine schreckliche Erkltung bekommen hatte und
kaum noch einen Ton herausbrachte. Und die ganze Zeit ber
- wenn ich mich schneuzte, mein Script las, mich auf die Show
vorbereitete oder im Auto sa -, immer folgte mir mein Scha t
ten, die Filmcrew der BBC. Der Wahnsinn steigerte sich noch,
als wir ins Studio kamen und die BBC-Leute das Team von
Soul Train dabei filmten, wie sie mich filmten. Wenn es et
was gab, das ich nicht im Bild festgehalten haben wollte, dann
diese Stunden. Eine schlechtere Moderatorin als mich hat es
bei Soul Train sicher nie gegeben, aber Don Cornelius und
die Produktionsmannschaft waren sehr geduldig mit mir. Wir
fingen um zehn Uhr morgens an und arbeiteten durch bis neun
Uhr abends. Wahrscheinlich haben sie fr die Aufzeichnung
der Show noch nie so lange gebraucht wie mit mir. Wie schon
bei meinem Filmdebt in dem James-Bond-Streifen machte

240

mir zu schaffen, da ich nicht richtig lesen konnte. Zwar hatte


ich einiges hinzugelernt, aber laut vorzulesen fiel mir noch im
mer schwer. Und vor zwei Filmcrews, einem Dutzend Tnzern
und etlichen international bekannten Sngern in blendendem
Schweinwerferlicht von Textkarten abzulesen, war als Her
ausforderung zwei Nummern zu gro fr mich. jedesmal, wenn
die Musik einsetzte, die Tnzer loslegten und smtliche Kame
ras liefen, verhaspelte ich mich wieder im Text. Aufnahme
26 ... Aus! Aufnahme 76 ... Aus! - Aufnahme 96 ... Aus!
Dann erstarrten die Tnzer in der Bewegung, lieen die Arme
sinken und funkelten mich wtend an. Wahrscheinlich dachten
sie: Was ist das denn fr eine dumme Kuh? Wo haben sie
die blo aufgetrieben? Wir wollen nach Hause!
Unter anderem mute ich Donna Summer ansagen, und da
sie von jeher zu meinen grten Lieblingssngerinnen gehr
te, empfand ich das als groe Ehre. Meine Damen und Her
ren, ich bitte um Applaus. Heien wir die >Lady des Soul<
willkommen: Donna Summer!
AUS!
Was ist denn jetzt schon wieder falsch?
Sie haben ihre Plattenfirma nicht genannt. Lesen Sie die
Textkarten, Waris!
Oh, verdammt noch mal! Halten Sie die blden Dinger h
her, ja hher. Ich kann sie nicht sehen. Nicht so tief. Und ge
rade halten. Die Scheinwerfer blenden mich. Ich kann ber
haupt nichts sehen.
Don Cornelius zog mich in eine Ecke. Holen Sie erst mal
tief Luft, und dann sagen Sie mir, was mit Ihnen los ist. Ich
erklrte ihm, ich wrde mit dem Text nicht zurechtkommen; es
entsprach nicht meiner Person und der Art, wie ich redete.
Wie wollen Sie ihn denn haben? Nur zu. ndern Sie ihn
ndern Sie alles! Erstaunlicherweise hatten Don und seine
Leute eine unendlich groe Geduld. Sie richteten sich voll und
ganz nach meinen Vorstellungen und halfen mir, nachdem ich

241

alles durcheinandergebracht hatte, es wieder zu einem Ga n


zen zusammenzufgen. Das Beste an der Sendung war fr
mich die Zusammenarbeit mit ihnen und mit Donna Summer,
die mir eine signierte CD ihrer grten Hits schenkte.
Anschlieend fuhr ich mit den Leuten von der BBc nach
New York. Sie begleiteten mich zu Aufnahmen in Manhattau,
wo man mich fotografierte, wie ich, bekleidet mit schwarzem
Unterrock, Regenmantel und einem Schirm in der Hand, durch
die verregneten Straen ging. An einem anderen Abend sa
der Kameramann still der Ecke und filmte mich mit einer Grup
pe von Freunden in einer Wohnung in Harlem beim Essenko
chen. Wir amsierten uns so gut, da wir ihn irgendwann ve r
gessen hatten.
Als nchstes sollte ich mich mit der ganzen Crew in London
treffen, von wo aus wir gemeinsam nach Afrika fliegen wollten.
Zum ersten Mal, seit ich fortgelaufen war, wrde ich dort mei
ne Familie wiedersehen. Whrend wir in London, Los Angeles
und New York filmten, hatten Mitarbeiter der BBC begonnen,
in Afrika nach meiner Mutter zu suchen. Zu diesem Zweck
hatten wir Karten studiert und Gebiete eingekreist, in denen
meine Familie gewhnlich unterwegs war. Auerdem mute
ich ihnen alle Stammes- und Nachnamen meiner Familie auf
zhlen, was gerade fr Menschen aus der westlichen Welt
uerst verwirrend sein kann. Die Leute von der BBC hatten
bereits drei Monate lang gesucht, bisher jedoch noch keinen
Erfolg gehabt.
Ursprnglich sollte ich in New York bleiben und arbeiten, bis
die Crew Mama aufgestbert hatte, dann nach London kom
men und gemeinsam mit dem Team nach Afrika fliegen, wo
wir das Ende des Films drehen wollten. Kurz nachdem die Su
che begonnen hatte, rief Gerry mich an. Wir haben deine
Mutter gefunden, sagte er.
Das ist ja wunderbar.

242

Nun, wir glauben es zumindest.


Was soll das heien, ihr glaubt es?
Tja, wir haben eine Frau ausfindig gemacht, die angeblich
eine Tochter namens Waris hat. Und ihre Waris lebe in Lon
don. Aber sobald man Einzelheiten wissen will, antwortet sie
ausweichend. Unsere Leute in Somalia sind sich also nicht
sicher - vielleicht handelt es sich ja um eine andere Waris.
Nach weiteren Gesprchen wurde klar, da diese Frau nicht
meine Mutter sein konnte. Aber das war erst der Anfang.
Pltzlich wimmelte die Wste von Frauen, die vorgaben, mei
ne Mutter zu sein. Sie alle hatten Tchter, die in London
wohnten und Waris hieen, ein seltsames Phnomen, wenn
man bedenkt, da ich noch nie einen anderen Menschen die
ses Namens getroffen hatte. Ich erklrte den Filmleuten, was
dort ablief. Versteht doch, diese Menschen sind so arm, da
sie in ihrer Verzweiflung alles tun wrden. Sie hoffen, da ihr
mit der Crew in ihr kleines Dorf kommt und sie ein bichen
Geld verdienen, um sich was zu essen zu kaufen. Diese Frauen versprechen sich etwas davon, wenn sie sagen, sie wren
meine Mutter. Wie sie das beweisen wollen, wei ich nicht,
aber sie haben es zumindest versucht.
Leider besa ich kein Foto von meiner Mutter, doch Gerry
hatte eine andere Idee. Wir mssen uns auf irgendwas stt
zen, was nur deine Mutter wei.
Meine Mutter rief mich manchmal mit dem Kosenamen
Avdohol. Das heit kleiner Mund<.
Meinst du, sie erinnert sich noch daran?
Ganz bestimmt.
Von da an war Avdohol unser geheimes Codewort. Wenn
die BBC sich mit den Frauen traf, konnten sie die ersten Fra
gen oft noch beantworten, doch sobald sie auf den Kosena
men zu sprechen kamen, fielen die Frauen regelmig durch.
Auf Wiedersehen. Eines Tages aber kam ein Anruf: Wir gla u
ben, wir haben sie. Diese Frau kann sich zwar an den Kose

243

namen nicht mehr erinnern, aber sie sagt, sie hat eine Tochter
namens Waris, die beim Botschafter in London gearbeitet
hat.
Gleich am nchsten Tag flog ich von New York nach Lon
don, wo sich die Filmcrew schon auf die Abreise vorbereitete.
Wir wollten zuerst in die thiopische Stadt Addis Abeba und
von dort mit einer kleinen Chartermaschine bis zur somali
schen Grenze fliegen. Die Reise wrde sehr gefhrlich wer
den. Wegen des Krieges konnten wir nicht nach Somalia ein
reisen, deshalb sollte meine Familie ber die Grenze zu uns
kommen. Landen wollten wir mitten in der Wste, in einem
Gebiet voller Felsen und Gestrpp und ohne jede Landebahn.
Whrend die Leute von der BBC die letzten Vorbereitungen
trafen, nahm ich mir ein Zimmer in einem Hotel. Dort besuchte
mich Nigel. Da mein Status noch immer nicht ganz geklrt war,
versuchte ich, ein freundschaftliches Verhltnis zu ihm zu be
halten. Ich bezahlte zu dieser Zeit die Raten fr sein Haus,
denn er hatte keine Arbeit und suchte auch keine. ber Be
kannte besorgte ich ihm sogar eine Stelle bei Greenpeace,
aber er war so durchgeknallt, da sie ihn nach drei Wochen
vor die Tr setzten und ihm deutlich machten, sich besser
nicht wieder blicken zu lassen. Seit Nigel von dem Fernsehfilm
erfahren hatte, setzte er mir zu, uns nach Afrika begleiten zu
drfen. Ich mchte mitkommen. Ich mu dafr sorgen, da
du keine Probleme hast.
Nein, sagte ich, du kommst nicht mit. Wie soll ich meiner
Mutter erklren, wer du bist?
Ist doch klar. Ich bin dein Mann!
Nein, das bist du nicht. Vergi es, ist das klar? Schmink dir
das ab. Eins war sicher; er war niemand, den ich meiner
Mutter vorstellen wollte. Und schon gar nicht als meinen Ehe
mann.
Schon als ich mich mit den Leuten von der BBC zu den er
sten Besprechungen traf, bestand Nigel darauf, mich zu be

244

gleiten. Aber nach kurzer Zeit hatte Gerry genug von ihm.
Normalerweise gingen wir abends essen. Gerry rief tagsber
mehrmals an. Aber Nigel ist heute abend nicht dabei, oder?
Bitte, Waris, sorg dafr, da er wegbleibt.
Als ich wieder in London war, kam Nigel zu mir ins Hotel
und nervte wegen der Afrikareise, aber ich erteilte ihm eine
Abfuhr. Daraufhin stahl er mir den Pa. Natrlich wute er,
da wir in wenigen Tagen das Land verlassen wollten. Auch
meine besten berredungsknste konnten ihn nicht dazu be
wegen, da er ihn mir zurckgab. Verzweifelt verabredete ich
mich schlielich mit Gerry fr den Abend. Gerry, du wirst mir
nicht glauben, was passiert ist, sagte ich. Nigel hat mir den
Pa weggenommen und rckt ihn nicht mehr raus.
Gerry schlo die Augen und lie den Kopf auf die Hnde
sinken. Du meine Gte, Waris! jetzt habe ich aber die Nase
voll. Ich habe es satt, mich mit diesem Mist abzugeben, wirk
lich satt! Gerry und die anderen von der BBC versuchten es
bei Nigel mit guten Worten. Jetzt seien Sie nicht kindisch. Wir
haben dieses Projekt beinahe abgeschlossen; das knnen Sie
uns doch nicht antun. Den letzten Teil mssen wir in Afrika
drehen, und dazu brauchen wir Waris. Also, um Himmels wil
len, bitte! Doch Nigel lie sich nicht erweichen. Er nahm mei
nen Pa mit, als er nach Cheltenham zurckfuhr.
Allein machte ich mich auf die zweistndige Fahrt nach
Cheltenham. Ich bettelte und flehte, doch Nigel erklrte, er
wrde mir den Pa erst dann geben, wenn er nach Afrika mit
fahren drfe. So steckte ich in der Zwickmhle. Meine Mutter
nach fnfzehn Jahren wiederzusehen war mein sehnlichster
Wunsch. Doch mit Nigel im Schlepptau wre mir aller Spa
verdorben - dafr htte er schon gesorgt. Aber wenn ich ihn
nicht mitnahm, hatte ich keine Mglichkeit, meine Mutter zu
treffen, denn ohne Pa konnte ich die Reise nicht antreten.
Nigel, es geht einfach nicht, da du hinter uns herlufst und
uns allen auf den Geist gehst. Versteht du das denn nicht?

245

Dies ist die einzige Chance, nach all der Zeit endlich meine
Mutter wiederzusehen.
Nigel konnte es nicht verwinden, da wir nach Afrika reisten
und er in England zurckbleiben sollte. Wirklich, du bist ver
dammt ungerecht, schrie er. Schlielich konnte ich ihn um
stimmen, indem ich ihm versprach, irgendwann mit ihm nach
Afrika zu fliegen, wenn die Aufnahmen abgeschlossen waren,
und dann wir beide ganz allein. Das war ein billiger Trick, auf
den ich nicht gerade stolz bin, denn ich wute, da ich mein
Versprechen nicht einhalten wrde. Aber gegen Nigel konnte
man mit Vernunft einfach nicht ankommen.
Die zweimotorige Buschmaschine landete bei Galadi, einem
kleinen thiopischen Dorf an der Grenze zu Somalia, in das
sich einige meiner Landsleute vor den Kmpfen in ihrer Hei
mat geflchtet hatten. Holpernd setzte das Flugzeug auf dem
roten, mit Steinen bersten Wstenstreifen auf. Anscheinend
war der dabei aufgewirbelte Staub kilometerweit zu sehen,
denn das ganze Dorf kam herbeigerannt. So etwas Aufregendes hatten die Menschen hier noch nie erlebt. Nachdem die
BBC-Mannschaft und ich ausgestiegen waren, sprach ich die
Leute in Somali an. Die Unterhaltung gestaltete sich nicht ge
rade einfach, denn einige waren thiopier und andere Soma
lis, die jedoch alle einen mir fremden Dialekt sprachen. Nach
einigen Minuten gab ich es auf.
Ich roch die heie staubige Luft, und mit einem Schlag
strmten die Kindheitserinnerungen auf mich ein. Pltzlich war
alles wieder lebendig, und ich lief einfach los. Waris! Wo
willst du denn hin? riefen die Filmleute.
Geht nur ... geht schon mal voraus ... ich komme nach.
Mit den Hnden berhrte ich den Boden, zerrieb die Erde zwi
schen meinen Fingern und streichelte die Bume. Sie waren
staubig und trocken, doch ich wute, bald wrde der Regen
kommen und alles zum Blhen bringen. Tief sog ich die Luft in

246

die Lungen. Sie war erfllt von den Gerchen meiner Kindheit,
all der Jahre, in denen ich im Freien gelebt hatte und diese
Wstenpflanzen und dieser rote Sand meine Welt gewesen
waren. O Gott, das war meine Heimat. Trnen liefen mir ber
die Wangen, so sehr freute ich mich, wieder zu Hause zu sein.
Ich setzte mich unter einen Baum und geno das wunderbare
Gefhl, dort zu sein, wo ich hingehrte. Gleichzeitig berkam
mich Trauer, da ich solange darauf hatte verzichten mssen.
Whrend ich mich umsah, fragte ich mich, wie ich es so lange
in der Fremde ausgehalten hatte. Es war, als htte ich eine
Tr aufgestoen, vor der ich bis zu diesem Tag zurckge
scheut war, als htte ich einen Teil von mir wiedergefunden,
den ich vergessen hatte. Als ich zum Dorf ging, scharten sich
die Bewohner um mich und schttelten mir die Hand. Will
kommen, Schwester.
Aber dann muten wir feststellen, da es sich nicht so ge
staltete wie erwartet. Die Frau war nicht meine Mutter, und
ratlos berlegten wir, wie wir meine Familie ausfindig machen
sollten. Die Filmleute waren verzweifelt; ihr Etat reichte nicht
aus, um ein zweites Mal nach Afrika zu kommen. O nein, oh
ne diese Sequenz hat der Film kein Ende, sthnte Gerry im
mer wieder. Und ohne Ende hat der Film keine Geschichte.
Alles umsonst. Was sollen wir nur tun?
Wir durchstberten das Dorf, fragten jeden, der uns begeg
nete, ob er von meiner Familie gehrt hatte. Die Leute htten
uns nur allzugern geholfen, und rasch wurde berall bekannt,
was wir vorhatten. Spt nachmittags kam ein alter Mann auf
mich zu. Kennst du mich noch? fragte er. Nein.
Ich bin Ismael, vom gleichen Stamm wie dein Vater und
ein guter Freund von ihm. - Pltzlich fiel mir wieder ein, wer er
war, und ich schmte mich, da ich ihn nicht gleich erkannt
hatte, doch ich war ihm seit meiner Kindheit nicht mehr be
gegnet. Ich glaube, ich wei, wo deine Familie ist, und ich
denke, ich kann deine Mutter finden. Aber ich brauche Geld fr

247

Benzin. Mein erster Gedanke war: Nein! Wieso sollte ich die
sem Kerl trauen? Diese Leute wollen uns doch nur ausnutzen.
Wenn ich ihm Geld gebe, wird er sich einfach aus dem Staub
machen, und wir sehen ihn wahrscheinlich nie wieder. Ich
habe zwar diesen Laster, aber nicht mehr viel ..., fuhr er der
weil fort.
Ismael deutete auf einen Kleinlaster in einem so erbrmli
chen Zustand, wie man ihn in den USA nur auf einem Schrott
platz sehen wrde. Die Windschutzscheibe auf der Beifahrer
seite war zersplittert, auf der Fahrerseite fehlte sie ganz, so
da dem Fahrer Sand und Fliegen ins Gesicht hagelten. Von
den steinigen Pisten waren die Felgen verbogen und zerbeult,
und die Karosserie sah aus, als habe man sie mit einem Vor
schlaghammer bearbeitet. Ich schttelte den Kopf. Warte, ich
mu erst mit den anderen sprechen.
Ich suchte Gerry. Der Mann dort drben behauptet, er
wei, wo meine Familie ist. Aber er sagt, er braucht Benzin
geld, um sie zu suchen, erklrte ich ihm.
Knnen wir ihm trauen?
Die Frage ist berechtigt, aber wir mssen es riskieren. Uns
bleibt nichts anderes brig. Die Filmleute waren einverstan
den und gaben ihm ein wenig Geld. Auf der Stelle stieg der
Mann in seinen Kleinlaster und preschte in einer dicken
Staubwolke davon. Gerry, der ihm traurig nachstarrte, konnte
man ansehen, was er dachte: Schon wieder Geld umsonst
rausgeworfen.
Ich klopfte ihm auf die Schulter. Keine Sorge, wir werden
meine Mutter schon finden, das verspreche ich dir. In drei Ta
gen ist sie da. Aber meine Prophezeihung beruhigte die
Filmmannschaft berhaupt nicht. Nach acht Tagen wrde das
Flugzeug kommen, um uns wieder abzuholen, mehr Zeit blieb
uns nicht. Wir konnten zu den Piloten ja kaum sagen: Wir
sind noch nicht ganz fertig; versucht es nchste Woche noch
einmal. Die Pltze fr den Rckflug von Addis Abeba waren

248

bereits gebucht; die Sache wre damit abgeschlossen, Mama


hin oder her.
Ich geno die Zeit, denn ich besuchte die Dorfbewohner in
ihren Htten und wurde zum Essen eingeladen. Die Englnder
hingegen kamen nicht so gut zurecht. Sie suchten sich ein
leerstehendes Haus, in dem sie in ihren Schlafskken auf dem
Boden bernachteten. Zwar hatten sie Bcher und einige Ta
schenlampen dabei, aber sie konnten nicht schlafen, denn die
Fensterscheiben waren zerbrochen, und die Mcken trieben
sie zum Wahnsinn. Die ganze Crew ernhrte sich von Bohnen
aus der Dose. Sie jammerten zwar, da sie dieses Zeug nicht
mehr sehen konnten, aber sie hatten nichts anderes.
Eines Nachmittags beschlo ein Somali, ihnen eine Mahl
zeit zu spendieren; er brachte ihnen ein hbsches kleines
Zicklein, das sie alle streichelten. Spter kam er zurck und
berreichte ihnen stolz das gehutete Tier. Hier, zum Abend
essen! Die Filmleute sahen ihn entsetzt an, sagten aber
nichts. Ich lieh mir einen Topf, entfachte ein Feuer und kochte
das Zicklein mit Reis. Nachdem der Somali gegangen war,
fragten sie: Du meinst doch nicht etwa, da wir das essen?
Doch, natrlich. Warum denn nicht?
Vllig ausgeschlossen, Waris!
Warum habt ihr denn nichts gesagt? Sie erklrten, das
wre ihnen unhflich vorgekommen, denn schlielich htte
ihnen der Mann eine Freude machen wollen. Aber nachdem
sie die kleine Ziege gestreichelt htten, knnten sie nichts da
von essen. Und tatschlich rhrten sie keinen Bissen an.
Die Dreitagefrist, die ich bis zu Mamas Erscheinen berech
net hatte, verstrich, ohne da sie auftauchte. Gerry wurde im
mer nervser. Ich versuchte, den Mnnern klarzumachen, da
meine Mutter kommen wrde, aber sie hielten mich allmhlich
fr eine Spinnerin. Hrt zu, ich verspreche euch, meine Mut
ter ist morgen abend um sechs hier, erklrte ich. Ich wei

249

nicht, wie ich darauf kam, aber ich glaubte einfach daran, und
so sprach ich es auch aus.
Gerry und die anderen zogen mich auf: Nein, wirklich?
Woher weit du denn das? Ach so, Waris wei natrlich alles.
Sie kann es vorhersehen. Sie sagt ja auch Regen voraus! Sie
lachten, weil ich behauptet hatte, ich knne riechen, da sich
Regen ankndigte.
Aber es hat doch geregnet, oder? erwiderte ich.
Also, Waris, ich bitte dich! Das war doch reiner Zufall.
Mit Zufall hat das nichts zu tun. Ich bin hier wieder in mei
ner vertrauten Umgebung, hier kenne ich mich aus. Bei uns
berlebt man nur, wenn man seinen Instinkten traut, meine
Freunde. Sie warfen sich verstohlene Blicke zu. Gut. Dann
glaubt ihr mir eben nicht. Ihr werdet schon sehen, um sechs.
Am kommenden Tag sa ich bei einer lteren Frau. Etwa zehn
Minuten vor sechs kam Gerry herbeigerannt. Du wirst es
nicht glauben!
Was?
Deine Mutter, ich glaube, deine Mutter ist hier! Lchelnd
stand ich auf. Aber wir sind nicht sicher. Dieser Mann ist wie
der da und hat eine Frau mitgebracht. Er sagt, sie sei deine
Mama. Komm, sieh sie dir an.
Die Nachricht verbreitete sich im Dorf wie ein Lauffeuer.
Unser kleines Schauspiel war zweifellos das grte Ereignis,
das sie seit Menschengedenken erlebten. Ein jeder wollte wis
sen, ist das nun Waris' Mutter oder wieder nur eine Schwindle
rin? Inzwischen war es schon fast dunkel geworden, und es
hatten sich um mich so viele Menschen geschart, da ich
kaum noch vorankam. Gerry fhrte mich einen baumgesum
ten Weg entlang. Vor uns stand der Kleinlaster mit der kaput
ten Windschutzscheibe. Eine Frau kletterte heraus. Zwar
konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, doch an der Art, wie sie
ihren Schal trug, wute ich gleich, da es meine Mutter war.
Ich lief zu ihr hin und packte sie am Arm. Oh, Mama!

250

Da fahre ich Meilen ber Meilen in diesem schrecklichen


Laster. Ach, bei Allah, was war das fr eine Reise! Zwei Tage
und Nchte ohne Pause, und wozu das Ganze? Ist das al
les?
Lachend wandte ich mich zu Gerry um. Das ist sie!
Ich bat Gerry, uns fr die nchsten Tage allein zu lassen,
und netterweise war er einverstanden. Anfangs verlief mein
Gesprch mit Mama etwas unbeholfen, denn mein Somali war,
wie ich merkte, ziemlich eingerostet. Schlimmer jedoch, wir
waren uns fremd geworden. Zunchst sprachen wir ber all
tgliche Dinge. Doch weil ich mich ber das Wiedersehen so
freute, konnten wir die Kluft bald berbrcken. Ich geno es,
einfach nur neben Mama zu sitzen. Meine Mutter und Ismael
waren zwei Tage und Nchte durchgefahren, und ich merkte,
wie sehr es sie erschpft hatte. Sie war in den fnfzehn Jahren
stark gealtert - eine Folge des unerbittlich harten Lebens in der
Wste.
Papa hatte sie nicht begleitet. Als der Wagen bei meiner
Familie eintraf, befand er sich gerade auf Wassersuche. Meine
Mutter sagte, auch Papa werde langsam alt. Zwar jage er im
mer noch den Wolken nach, um Wasser zu suchen, doch er
brauche unbedingt eine Brille, weil er immer schlechter sehe.
Als Mama aufbrach, war er seit acht Tagen fort, und sie hoffte,
da er sich nicht verlaufen hatte. Ich rief mir mein Bild von Pa
pa in Erinnerung und merkte, da er sich wohl sehr verndert
hatte. Als ich fortlief, hatte es ihm keinerlei Schwierigkeiten
bereitet, uns zu finden, wenn wir ohne ihn weiterzogen, selbst
in der schwrzesten Nacht ohne Mondlicht.
Mama hatte meinen jngeren Bruder Ali mitgebracht, und
auerdem einen meiner Cousins, der zufllig gerade zu Be
such war, als Ismael auftauchte. Ali konnte man jetzt allerdings
nicht mehr als meinen kleinen Bruder bezeichnen. Mit seinen
eins neunzig berragte er mich ein ganzes Stck, was ihm
ungeheuren Spa bereitete. Immer wieder wollte ich ihn in den

251

Arm nehmen. La mich los, rief er. Ich bin kein kleines
Kind mehr. Ich will bald heiraten!
Heiraten? Wie alt bist du?
Wei ich nicht. Aber alt genug, um zu heiraten.
Das ist mir gleich. Fr mich bist du immer noch mein klei
ner Bruder. Komm her! Ich zog ihn heran und wuschelte ihm
durchs Haar. Mein Cousin lachte uns aus. Dir habe ich frher
immer den Hintern versohlt, sagte ich zu ihm. Ich hatte ihn
fter hten mssen, als er noch klein war und seine Familie
uns besuchte.
Ach ja? Das solltest du jetzt noch mal versuchen. Er
schubste mich und tnzelte um mich herum.
La das! schimpfte ich. Wag es blo nicht! Sonst kriegst
du eine Abreibung. Auch mein Cousin wollte bald heiraten.
Wenn du deinen Hochzeitstag noch erleben willst, leg dich
nicht mit mir an.
Mama bernachtete in der Htte einer der Familien aus
Galadi, die uns aufgenommen hatten. Ali und ich schliefen
drauen, so wie frher. Als wir dort so lagen, versprte ich
einen unendlichen Frieden und vollkommenes Glck. Wir be
trachteten die Sterne und unterhielten uns bis tief in die Nacht.
Weit du noch, wie wir Papas kleine Frau an den Baum ge
bunden haben? Und dann bogen wir uns vor Lachen.
Zunchst war Ali recht verschlossen, aber irgendwann ge
stand er mir: Du fehlst mir wirklich sehr. Du bist schon so
lange weg. Es ist so seltsam, da du jetzt eine Frau bist, und
ich bin ein Mann. Ich geno das wunderbare Gefhl, wieder
bei meiner Familie zu sein und in meiner Muttersprache wie
frher mit ihnen zu reden, zu scherzen und zu streiten.
Die Dorfbewohner verhielten sich unglaublich grozgig.
Jeden Mittag und Abend wurden wir in ein anderes Haus ein
geladen. Die Leute verwhnten uns; sie wollten mit uns ange
ben und sich von den fremden Orten erzhlen lassen, an de
nen wir schon gewesen waren. Kommt nur, kommt, ihr mt

252

meine Tochter kennenlernen, und hier, meine Gromutter!


Sie schleiften uns mit und machten uns mit ihren Angehrigen
bekannt. Von meiner Arbeit als Topmodel wurde dabei nicht
gesprochen, denn darunter konnten sie sich nichts vorstellen.
Ich war eine der Ihren, eine Nomadin, die zu ihnen zurckge
kehrt war.
Meine Mutter, die gute Seele, verstand nicht, wie ich mei
nen Lebensunterhalt verdiente, sooft ich es ihr auch erklrte.
Was ist das? Was macht ein Model? Du arbeitest als was?
Was bedeutet das genau?
Irgendwann hatte ihr ein Reisender die Ausgabe der Sun
day Times mit meinem Bild auf der Titelseite gezeigt. Die So
malis sind ungeheuer stolz, und es freute sie, da eine der
Ihren auf einer englischen Zeitung abgebildet war. Als Mama
mein Foto sah, rief sie aufgeregt: Das ist ja Waris! Meine
Tochter! Sie nahm die Zeitung und lief damit von einem Dorf
bewohner zum anderen.
Nach dem ersten Abend legte sich ihre Scheu, und bald war
sie bereits wieder so weit, da sie mich herumkommandierte.
So kocht man das doch nicht, Waris! Tss, tss, aber, aber! Ich
zeige es dir. Kocht man denn nicht bei euch, da, wo du jetzt
wohnst?
Mein Bruder fragte mich zu allem mglichen nach meiner
Meinung. Ach, halt den Mund, All! Du bist doch blo ein
dummer, unwissender Viehhirte, neckte ich ihn. Du hast nie
etwas anderes gesehen als dieses Land und weit nicht, wo
von du redest.
So? Und du bist berhmt und benimmst dich wie eine die
ser dmlichen Europerinnen. Du meinst wohl, jetzt, wo du im
Westen lebst, weit du alles? Stundenlang ging es so hin und
her. Ich wollte ihre Gefhle nicht verletzten, aber wenn nicht
ich sie ber bestimmte Dinge aufklrte, wer dann? Ich glaube
nicht, da ich alles wei, aber seit ich weggegangen bin, habe

253

ich viel gesehen und gelernt. Das Leben besteht nicht nur aus
Rindern und Kamelen. Ich knnte euch eine Menge erzhlen.
Und was wre das?
Beispielsweise, da ihr eure Umwelt zerstrt, indem ihr die
Bume beschneidet. Ihr gebt den jungen Pflanzen keine Mg
lichkeit zu wachsen, wenn ihr alle Zweige abschneidet, nur
weil ihr Pferche fr die dummen Tiere braucht. Dabei zeigte
ich auf eine Ziege, die in der Nhe herumstand. Das ist
falsch.
Was soll das heien?
Nun, unser Land ist eine Wste, weil wir smtliche Bume
kaputtgemacht haben.
Das Land ist eine Wste, weil es nicht regnet, Waris! Im
Norden, da regnet es, und da gibt es auch Bume. Deshalb
regnet es dort ja gerade. Es regnet, weil es dort Bume gibt.
Tag fr Tag schneidet ihr noch die kleinsten Zweige ab, so
da hier nie ein Wald wachsen kann. Sie wuten nicht, was
sie von dieser seltsamen Theorie halten sollten, und wechsel
ten zu einem Thema, bei dem mir, wie sie glaubten, Wider
spruch schwerfallen wrde.
Meine Mutter machte den Anfang. Warum bist du nicht
verheiratet? Selbst nach all den Jahren ri dieser Satz eine
alte Wunde in mir auf. Schlielich war es der Punkt gewesen,
der mich Heimat und Familie gekostet hatte. Ich wei, da es
mein Vater gut mit mir gemeint hatte, doch die Wahl, vor die er
mich gestellt hatte, war schrecklich gewesen: Entweder ich tat,
was er wollte, und zerstrte mein Leben, indem ich diesen alten Mann heiratete, oder ich lief fort und gab alles auf, was ich
kannte und liebte. Ich zahlte fr meine Freiheit einen uner
melich hohen Preis und hoffe nur, da ich mein Kind nie
zwingen werde, eine so schmerzliche Entscheidung zu treffen.
Warum sollte ich heiraten, Mama? Mu ich denn ber
haupt heiraten? Wnschst du mir nicht, da ich Erfolg habe
und stark und unabhngig bin? Was ich sagen will: Ich bin

254

deshalb nicht verheiratet, weil ich noch nicht den Richtigen


gefunden habe. Wenn ich ihn finde, dann werde ich auch hei
raten.
Ich wnsche mir aber Enkelkinder.
An diesem Punkt kamen die anderen ihr zu Hilfe. Du bist
zu alt. Wer wrde dich noch haben wollen? Viel zu alt, er
klrte mir mein Cousin. Er schttelte den Kopf; die Vorstellung,
eine achtundzwanzigjhrige Frau zu heiraten, schien ihm ent
setzlich.
Ich hob entnervt die Hnde. Und wer mchte schon ge
zwungen werden, zu heiraten? Warum heiratet ihr beide? Ich
zeigte auf All und meinen Cousin. Bestimmt, weil es von euch
verlangt wird.
Nein, nein, protestierten sie beide einhellig.
Gut, aber nur weil ihr Jungen seid. Als Mdchen jedoch
hast du kein Mitspracherecht. Als Mdchen mut du heiraten,
wenn man es dir sagt, und den Mann, den man dir vorsetzt.
Was soll dieser Mist? Wer hat sich das berhaupt einfallen
lassen?
Ach, halt doch den Mund, Waris, sthnte mein Bruder.
Dann halt du auch die Klappe.
Zwei Tage vor unserer Abreise erklrte uns Gerry, wir
mten jetzt mit dem Drehen anfangen. Er machte mehrere
Aufnahmen von mir und meiner Mutter. Aber Mama, die noch
nie eine Kamera gesehen hatte, gefiel das ganz und gar nicht.
Nimm das Ding von meinem Gesicht weg, schimpfte sie und
schlug nach dem Kameramann. Waris, sag ihm, er soll das
wegnehmen! Ich erklrte ihr, es sei alles in Ordnung. Sieht
er mich an, oder sieht er dich an? Uns beide.
Gut, dann sag ihm, da ich ihn nicht ansehen werde. Er
hrt doch nicht etwa, was wir reden, oder? Ich versuchte, ihr
zu erklren, was wir hier taten, obwohl ich wute, da es
sinnlos war.

255

Doch, Mama, er hrt jedes deiner Worte, antwortete ich


lachend. Der Kameramann erkundigte sich, worber wir uns
amsierten. Weil das alles so absurd ist, erwiderte ich.
Am nchsten Tag filmte mich das Team, wie ich allein durch
die Wste ging. Dort stie ich auf einen kleinen Jungen, der
sein Kamel trnkte, und fragte ihn, ob ich es fttern drfe. Ich
hielt dem Tier den Eimer vors Maul, so da die Crew es auf
nehmen konnte. Die ganze Zeit kmpfte ich dabei mit den
Trnen.
Am Tag vor unserer Abreise bemalte mir eine der Frauen
aus dem Dorf die Fingerngel mit Henna, und ich hielt die
Hand vor die Kamera. Zwar sah es aus, als htte ich mir wei
chen Kuhfladen auf die Fingerngel geschmiert, doch ich
fhlte mich wie eine Knigin. Dies war ein alter Brauch meines
Volkes, ein Schnheitsritual, das eigentlich nur Bruten vorbe
halten ist. Am Abend feierten wir ein Fest, und die Dorfbewo h
ner sangen, klatschten in die Hnde und tanzten. Es war wie
damals in meinen Kindertagen, wenn wir zusammenkamen
und den Regen feierten - ein unbndiges Gefhl von Freiheit
und Freude.
Am nchsten Morgen stand ich zeitig auf, um noch mit mei
ner Mutter zu frhstcken, ehe uns das Flugzeug abholte. Ich
fragte sie, ob sie mitkommen und bei mir in England oder den
Vereinigten Staaten leben wollte.
Aber was soll ich dort machen? erwiderte sie.
Das ist es ja gerade - gar nichts. Du hast in deinem Leben
genug gearbeitet. Du sollst dich ausruhen und die Fe hoch
legen. Ich will dich umsorgen.
Nein, das geht nicht. Zum einen wegen deinem Vater. Er
wird langsam alt und braucht mich. Ich mu bei ihm bleiben.
Und dann noch wegen der Kinder.
Was soll das heien, Kinder? Wir sind doch alle erwach
sen.

256

Ja, die Kinder deines Vaters. Erinnerst du dich an - wie


hie sie noch - das kleine Mdchen, das dein Vater geheiratet
hat?
Ja, erwiderte ich zgernd.
Sie hat fnf Kinder bekommen, konnte es bei uns aber
nicht mehr aushalten. Wahrscheinlich fand sie unser Leben zu
schwer, oder sie kam mit deinem Vater nicht zurecht. Jeden
falls ist sie weggelaufen, von einem Tag auf den anderen ve r
schwunden.
Mama! Das ist doch nicht dein Ernst! Du bist zu alt fr die
se Aufgabe. Du darfst nicht mehr so schwer arbeiten - Kinder
hten, in deinem Alter!
Aber dein Vater ist auch alt, und er braucht mich. Auer
dem kann ich nicht einfach nur herumsitzen. Wenn ich mich
hinsetzte, holt mich das Alter ein. Nach all den Jahren nur da
zuhocken wrde mich verrckt machen. Ich mu in Bewegung
bleiben. Nein. Wenn du etwas fr mich tun willst, dann sorge
dafr, da ich hier in Afrika, in Somalia, einen Platz habe, an
dem ich mich ausruhen kann, wenn ich mde bin. Dies ist
meine Heimat, etwas anderes kenne ich nicht.
Ich nahm sie fest in den Arm. Ich habe dich lieb, Mama.
Und ich komme zurck zu dir. Du kannst dich darauf verlas
sen, ich komme wieder ... Sie lchelte und winkte mir zum
Abschied zu.
An Bord des Flugzeuges brach ich zusammen. Ich hatte
keine Ahnung, wann und ob berhaupt ich meine Mutter wie
dersehen wrde. Als ich trnenberstrmt aus dem Fenster
blickte und wir erst das Dorf und dann die Wste hinter uns
lieen, schossen die Filmleute von mir eine Nahaufnahme.

257

16. New York, New York

Im Frhjahr 1996 beendeten wir die Arbeit an der BBCDokumentation. Sie bekam den Titel: Eine Nomadin in New
York. Und eine Nomadin war ich wirklich, denn nach all den
Jahren hatte ich noch immer keinen festen Wohnsitz. Ich zog
durch die Welt, meiner Arbeit nach: New York, London, Paris,
Mailand. Dabei wohnte ich bei Freunden oder in Hotels. Meine
wenigen Besitztmer - ein paar Fotos, Bcher und CD's - hatte
ich bei Nigel in Cheltenham verstaut. Da ich einen Groteil
meiner Auftrge in New York bekam, hielt ich mich in dieser
Stadt auch lnger auf als anderswo. Und irgendwann mietete
ich mir dort dann meine erste Wohnung, ein Apartment in SoHo. Spter hatte ich eine Wohnung im Village und schlielich
ein Haus am West Broadway. Aber nirgendwo fhlte ich mich
so richtig wohl. Besonders das Haus am Broadway trieb mich
fast in den Wahnsinn. Wenn drauen ein Auto vorbeifuhr,
hatte ich das Gefhl, es wrde durch mein Wohnzimmer brau
sen. An der Straenecke befand sich eine Feuerwache, und
die ganze Nacht heulten die Sirenen. Weil ich mich dort nicht
entspannen konnte, kndigte ich nach zehn Monaten und
nahm mein Nomadenleben wieder auf.
In jenem Herbst arbeitete ich auf den Modenschauen in Pa
ris, entschlo mich jedoch dann, die in London auszulassen
und direkt nach New York zurckzufliegen. Ich hatte Lust, mir
eine feste Bleibe zu suchen, um ein wenig zur Ruhe zu kom

258

men. Whrend ich mich auf Wohnungssuche befand, lebte ich


im Village bei George, einem meiner besten Freunde. Eines
Tages feierte Lucy, eine seiner Freundinnen, ihren Geburtstag.
Sie wollte abends ausgehen und sich amsieren, aber Geor
ge, der am nchsten Morgen wegen seiner Arbeit frh aufste
hen mute, meinte, er sei zu mde. Ich erklrte mich bereit,
mich mit Lucy ins Nachtleben zu strzen.
Wir verlieen das Haus, ohne zu wissen, wohin. An der
Eighth Avenue blieb ich stehen und zeigte ihr meine frhere
Wohnung. Da habe ich mal gewohnt, direkt ber dem Jazzlo
kal. Sie spielen dort gute Musik, aber ich war noch nie dri n
nen. Wir lauschten den Klngen, die auf die Strae drangen.
He, komm! Wir gehen rein. Willst du?
Nee. Ich mchte lieber ins Nell's.
Ach, bitte! Wir gehen rein und schauen uns mal um. Mir
gefllt die Musik, die sie spielen. Ich htte Lust zu tanzen.
Widerstrebend willigte Lucy ein. Ich stieg die Stufen zu dem
kleinen Club hinunter und sah schon vom Eingang aus die
Band. Doch ich ging vor bis zur Bhne. Zuerst fiel mir der
Schlagzeuger auf, denn in dem ansonsten schummrigen
Raum wurde er als einziger von Scheinwerfern beleuchtet. Er
trommelte gerade ein Solo. Ich stand da und starrte ihn an.
Der Mann trug eine irre Afro-Frisur, wie sie in den Siebzigern
modern gewesen war. Als Lucy sich neben mich stellte, sagte
ich zu ihr: Keine Diskussion. Wir bleiben. Setz dich, bestell dir
was zu trinken. Hier bleiben wir noch ein bichen. Die Band
jamte so richtig los, und ich tanzte wie wild. Lucy gesellte sich
zu mir, und bald tanzten auch all die anderen Leute, die bis
dahin dagehockt und nur zugehrt hatten.
Erhitzt und durstig, holte ich etwas zu trinken und stellte
mich neben eine Frau aus dem Publikum. Einfach toll, die
Musik, sagte ich. Wer spielt denn da?
Keine Ahnung, antwortete sie. Das ist keine feste Grup
pe. Mein Mann spielt das Saxophon.

259

Aha. Und wer ist das am Schlagzeug? Sie lchelte leise.


Tut mir leid, das wei ich nicht. Nach einigen Minuten kn
digte die Band eine Pause an. Als der Schlagzeuger an uns
vorbeikam, packte ihn die Frau am rmel. Entschuldigung,
sagte sie, aber meine Freundin mchte dich kennenlernen.
Ach ja? Und wer ist das?
Sie. Im gleichen Augenblick schob sie mich nach vorn.
Mir war das so peinlich, da ich nicht wute, was ich sagen
sollte.
Nachdem ich einen Moment wie versteinert dagestanden
hatte, stammelte ich schlielich: HI! Ruhe bewahren, Waris.
Eure Musik gefllt mir.
Danke.
Wie heit du?
Dana, erwiderte er, whrend er sich scheu umsah. Oh.
Dann drehte er sich um und ging einfach weg. Mist! Aber so
leicht sollte er mir nicht davonkommen. Ich folgte ihm in die
Ecke, wo er mit seinen Freunden von der Band sa,
schnappte mir einen Stuhl und setzte mich neben ihn. Als er
sich umdrehte und mich sah, fuhr er zusammen. Habe ich
nicht gerade mit dir geredet? schimpfte ich. Das war uerst
unhflich. Du hast mich einfach stehenlassen. Dana sah mich
verstrt an, dann verzog sich sein Gesicht, und er lachte, bis
er sich den Bauch halten mute.
Wie heit du, fragte er, als er sich wieder aufgerichtet
hatte.
Das ist doch egal, erwiderte ich so herablassend wie nur
mglich und reckte die Nase in die Luft. Aber dann unterhiel
ten wir uns ber alles mgliche, bis er zurck auf die Bhne
mute.
Bleibst du noch? Mit wem bist du hier? fragte er. Mit ei
ner Freundin. Sie steht dort drben, bei den Leuten da. In der
nchsten Pause erklrte er mir, sie wrden nur noch ein paar
Stcke spielen. Ob ich Lust htte, mit ihm irgendwo hinzuge

260

hen, wenn sie fertig wren? Als er wiederkam, setzten wir uns
zusammen und unterhielten uns ber Gott und die Welt.
Schlielich meinte ich: Hier drinnen ist es zu verqualmt. Ich
kriege kaum noch Luft. Kommst du mit nach drauen?
Gut. Gehen wir raus und setzen wir uns auf die Stufen.
Aber auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. Ich mchte
dich was fragen. Darf ich dich in den Arm nehmen?
Ich sah ihn an, als wre das die selbstverstndlichste Bitte
von der Welt. Es kam mir vor, als wrde ich ihn schon ewig
kennen. Also umarmte ich ihn innig, und ich wute, das war es
- genauso wie damals, als es um meine Reise nach London
und um meine Arbeit als Model gegangen war. Ich wute, die
ser schchterne Schlagzeuger mit dem wirren Afrokopf war
mein Mann. Es war inzwischen schon zu spt, um noch woan
ders hinzugeben, aber ich bat ihn, mich am nchsten Tag an
zurufen, und gab ihm Georges Telefonnummer. Am Vormit
tag habe ich noch ein paar Termine. Ruf mich bitte Punkt drei
Uhr an. In Ordnung? Ich wollte sehen, ob er sich an die Zeit
halten wrde, die ich ihm gesagt hatte.
Spter erzhlte er mir, da er an jenem Abend auf dem
Heimweg nach Harlem zur U-Bahn gegangen war und dort am
Eingang eine riesige Reklametafel mit meinem Gesicht gese
hen hatte, das auf ihn herabblickte. Das Plakat war ihm noch
nie zuvor aufgefallen, und er war berrascht, da ich Model
war.
Am nchsten Tag klingelte das Telefon um zwanzig nach
drei. Ich ri den Hrer von der Gabel. Du hast dich versp
tet!
Tut mir leid. Mchtest du heute abend mit mir essen ge
hen? Wir trafen uns in einem kleinen Cafe im Village, und
wieder redeten wir und redeten. Jetzt, da ich ihn besser kenne,
wei ich, wie untypisch das fr ihn war, denn Leuten gegen
ber, die er nicht kennt, bleibt er fr gewhnlich recht

261

schweigsam. Irgendwann fing ich an zu lachen. Dana sah ver


dutzt auf. Worber lachst du?
Wenn ich das verrate, hltst du mich wahrscheinlich fr
verrckt.
Das tue ich jetzt schon. Nur zu.
Ich werde ein Kind von dir bekommen. Da er der Vater
meines zuknftigen Babys werden sollte, schien ihn nicht be
sonders zu freuen. Er bedachte mich mit einem Blick, der
fragte: Ist diese Frau wirklich verrckt, oder will sie mich nur
auf den Arm nehmen? Ich wei, du hltst das fr seltsam,
doch ich wollte es dir gern sagen. Aber lassen wir das Thema.
Sprechen wir von was anderem.
Er schwieg und starrte mich an. Ich merkte, da er einen
riesigen Schrecken bekommen hatte. Kein Wunder, ich kannte
ja noch nicht einmal seinen Nachnamen. Spter sagte er mir,
da er damals gedacht hatte: Ich will sie nicht wiedersehen.
Ich mu diese Frau loswerden. Sie ist wie diese verrckte Auf
reierin in Eine verhngnisvolle Affre.
Dana brachte mich an diesem Abend zwar nach Hause,
aber er war sehr schweigsam. Am nchsten Tag mochte ich
mich selbst nicht leiden. Ich konnte nicht glauben, da ich so
etwas Dmliches zu ihm gesagt hatte. Aber am Abend vorher
schien es mir das Normalste von der Welt zu sein, etwa wie:
Oh, heute wird es noch regnen. Und es wunderte mich
nicht, da ich eine Woche lang nichts mehr von ihm hrte.
Schlielich tat ich den ersten Schritt und rief ihn an. Wo bist
du? fragte er.
In der Wohnung meines Freundes. Wollen wir uns tref
fen?
O mein Gott! Ja, in Ordnung. La uns zusammen Mittag
essen.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch. Entsetzt legte ich den Hrer auf. Da
hatte ich mir gerade vorgenommen, keine Dummheiten mehr

262

zu machen, und dann erzhlte ich dem Mann, ich wrde ihn
lieben. Keine Sprche mehr ber Babys oder so etwas hnli
ches - und dann platze ich mit einer Liebeserklrung heraus! O
Waris, was ist nur mit dir los? Wenn ein Mann Interesse an mir
zeigte, ergriff ich gewhnlich die Flucht, und zwar so rasch,
da man nur noch eine Staubwolke von mir sah. Und jetzt
stellte ich einem Mann nach, den ich kaum kannte. Als ich
mich abends mit Dana traf, trug ich einen grnen Pullover und
hatte mein Haar zu einer wilden Afro-Frisur gekmmt. Dana
erzhlte mir, da er sich den ganzen Abend drehen und we n
den konnte, wohin er wollte, er htte nichts anderes gesehen
als grnen Pullover mit Afro. Ich erklrte ihm, da ich nicht
lockerliee, wenn ich etwas wollte, und aus unerfindlichen
Grnden wollte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen
Mann. Nur eines blieb mir unklar: Warum es mir vorkam, als
wrde ich ihn schon seit Ewigkeiten kennen.
Dana und ich trafen uns zum Mittagessen, und wieder re
deten wir Stunde um Stunde ber alles und jedes. Zwei Wo
chen spter zog ich zu ihm in seine Wohnung nach Harlern.
Und nach sechs Monaten beschlossen wir zu heiraten. Als wir
etwa ein Jahr zusammenlebten, sagte Dana pltzlich unver
mittelt: Ich glaube, du bist schwanger.
Um Himmels willen, was sagst du da! schrie ich. Komm,
wir gehen in die Apotheke. Ich protestierte, doch er lie nicht
locker. Wir kauften einen Schwangerschaftstest. Er war posi
tiv.
Du glaubst diesen Mist doch nicht etwa? fragte ich und
zeigte auf die Packung.
Er nahm die Schachtel und zog ein neues Rhrchen her
aus. Dann mach es noch mal! Der zweite Test war ebenfalls
positiv. Mir war schon vorher bel gewesen, aber ich litt immer
unter belkeit, wenn meine Periode einsetzte. Doch dieses
Mal war es anders, es ging mir schlechter als sonst, und ich
hatte strkere Schmerzen. Trotzdem glaubte ich nicht, da ich

263

schwanger war. Ich war berzeugt, da irgend etwas Grundle


gendes mit mir nicht stimmte. Vielleicht mute ich ja sterben.
Ich ging zum Arzt und erklrte ihm, was los war. Er machte
eine Blutuntersuchung, und ich wartete drei qulende Tage auf
seinen Anruf, in dem er mir das Ergebnis mitteilen wollte. Was
zum Teufel geht da vor? Leide ich an einer schrecklichen
Krankheit, und er traut sich nicht, es mir zu sagen?
Als ich eines Nachmittags nach Hause kam, sagte Dana:
Ach brigens, der Arzt hat angerufen.
Ich fuhr mir mit der Hand an die Kehle. O Gott! Was hat er
gesagt?
Er will mit dir persnlich sprechen. Hast du ihn nicht ge
fragt, was los ist?
Ganz ruhig. Er will morgen gegen elf oder zwlf wieder an
rufen.
Diese Nacht wurde zur lngsten meines Lebens. Ich lag da
und grbelte darber nach, was die Zukunft mir wohl bringen
wrde. Kaum klingelte am nchsten Morgen das Telefon, ri
ich den Hrer von der Gabel. Ich habe Neuigkeiten fr Sie,
sagte der Arzt. Sie sind nicht mehr allein. Da haben wir's.
Also doch. Nicht allein. Mein ganzer Krper voller Tumoren.
O nein! Was soll das heien?
Sie sind schwanger. Im zweiten Monat. Als ich diese
Worte hrte, schwebte ich im siebten Himmel. Dana freute
sich ebenfalls, denn er hatte sich schon immer Kinder ge
wnscht. Wir beide wuten sofort, da es ein junge werden
wrde. Doch meine erste Sorge galt der Gesundheit des Kin
des. Unverzglich suchte ich eine rztin fr Geburtshilfe auf.
Als sie die Ultraschalluntersuchung durchfhrte, bat ich sie,
mir das Geschlecht des Kindes zu verschweigen. Sagen Sie
mir bitte nur eins: Ist das Baby gesund?
Es gedeiht prchtig, antwortete sie. Alles bestens. Das
war es, was ich hren wollte.

264

Natrlich stand einer glcklichen Hochzeit von Dana und


mir noch eines im Wege: Nigel. Als ich im vierten Monat war,
beschlossen wir, gemeinsam nach Cheltenham zu fahren und
die Sache mit Nigel ein fr allemal zu klren. Doch bei meiner
Ankunft in London litt ich unter der morgendlichen belkeit und
hatte eine schlimme Erkltung. Wir kamen bei Freunden unter,
und als ich mich wieder ein wenig erholt hatte, fand ich den
Mut, Nigel anzurufen. Er erwiderte jedoch, auch er habe eine
Erkltung, und so mute ich meinen Besuch noch aufschie
ben.
Dana und ich warteten ber eine Woche, bis Nigel sich in
der Lage fhlte, mich zu sehen. Ich rief ihn an und erklrte
ihm, wann der Zug ankam, damit er uns vom Bahnhof abholte.
Du sollst auch wissen, da Dana mich begleitet, erklrte ich
ihm. Und ich mchte keine Schwierigkeiten. Verstanden?
Ich will ihn nicht sehen, das sage ich dir gleich. Die Sache
betrifft nur dich und mich.
Nigel ...
Ist mir egal. Ist mir egal! Er hat nichts damit zu tun. Er hat
sehr viel damit zu tun. Ich bin mit ihm verlobt. Er ist der Mann,
den ich heiraten will. Verstanden? Und deshalb ist er bei al
lem, was ich hier unternehme, dabei. Ich will ihn nicht se
hen, und damit basta. Nigel hatte sich nach diesem Gesprch
offensichtlich eingebildet, ich wrde allein mit dem Zug in
Cheltenham eintreffen. Als ich ausstieg, wartete er an einen
Pfosten gelehnt auf dem Parkplatz und hielt wie blich eine
Zigarette in der Hand. Er sah noch schlechter aus als beim
letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte, sein Haar war lnger,
und er hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Ich wandte mich zu Dana um. Also, da steht er. Bleib ru
hig.
Wir gingen zu Nigel hinber. Noch ehe ich ein Wort sagen
konnte, schimpfte Nigel los: Ich habe dir doch gesagt, da ich

265

ihn nicht sehen will. Das habe ich dir klipp und klar gesagt, und
es war wohl deutlich genug. Ich will dich allein sprechen.
Dana stellte unsere Taschen auf den Brgersteig. Hren
Sie, sprechen Sie nicht so mit ihr! Und mir gegenber schla
gen Sie auch einen anderen Ton an. Warum wollen Sie mit ihr
allein sprechen? Was haben Sie vor? Sie wollen sie unter vier
Augen sprechen? Dagegen habe ich aber etwas einzuwenden.
Und wenn Sie das noch mal verlangen, dann trete ich Ihnen in
Ihren verdammten Arsch.
Nigel wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Tja ...
ich habe keinen Platz mehr im Auto frei.
Das interessiert mich einen Scheidreck. Wir knnen ein
Taxi nehmen. Bringen wir die Sache endlich hinter uns.
Doch Nigel hastete mittlerweile zu seinem Auto. Nein,
nein. So luft das nicht bei mir, rief er uns ber die Schulter
zu. Er sprang in den Wagen, startete den Motor und rauschte
an uns vorbei. Dana und ich standen neben unseren Taschen
und starrten ihm nach.
Wir beschlossen, uns eine Unterkunft zu suchen. Glckli
cherweise gab es gleich am Bahnhof ein Bed-and-Breakfast,
eine deprimierende kleine Absteige, aber angesichts der Um
stnde war das die geringste unserer Sorgen. Wir gingen in
ein indisches Lokal essen, aber weil wir keinen Appetit hatten,
hockten wir nur da und blickten dumpf vor uns hin, bis wir be
schlossen, zurck auf unser Zimmer zu gehen.
Am nchsten Morgen rief ich Nigel wieder an. Ich mchte
nur meine Sachen abholen. Wenn du ber das andere nicht
reden willst, dann vergi es. Aber gib mir mein Zeug. Keine
Chance. Dana und ich muten in ein Hotel umziehen, weil das
Bed-and-Breakfast, in dem wir bernachtet hatten, fr den
nchsten Tag ausgebucht war. Auerdem sah es so aus, als
mten wir uns fr lnger einrichten. Wenn man mit Nigel et
was aushandeln wollte, wute Gott allein, wie lange man
brauchen wrde. Nachdem wir ein neues Zimmer gefunden

266

hatten und umgezogen waren, rief ich Nigel erneut an. War
um verhltst du dich eigentlich wie ein Arschloch? Warum tust
du das? Seit wie vielen Jahren geht das nun schon so? Seit
sieben? Seit acht? Bitte, komm zur Besinnung.
In Ordnung. Du willst mich sehen? Gut. Aber nur du allein.
Ich hole dich vom Hotel ab. Doch wenn er mitkommt, dann
vergi es. Dann fahre ich wieder ab. Also, du allein! Ich
seufzte, aber da ich keinen anderen Ausweg aus dem Dilem
ma sah, gab ich nach.
Nachdem ich eingehngt hatte, erklrte ich Dana die Situa
tion. Dana, bitte! La mich allein hingehen und sehen, ob er
mit sich reden lt. Ich mu es versuchen.
Wenn du meinst, da du damit Erfolg hast, einverstanden.
Aber wenn er dich auch nur mit dem kleinen Finger anrhrt,
dann kann er sich auf was gefat machen. Ich sage dir, die
Sache gefllt mir nicht. Doch wenn du es so willst, werde ich
dich nicht aufhalten. Ich bat Dana, in der Nhe des Hotels zu
bleiben. Ich wrde ihn anrufen, wenn ich ihn brauchte.
Nigel holte mich ab, und wir fuhren zu dem Cottage, das er
gemietet hatte. Drinnen kochte er mir Tee. Sieh mal, Nigel,
sagte ich. Ich will diesen Mann heiraten. Ich bekomme ein
Kind von ihm. Also schmink dir endlich ab, da ich deine klei
ne brave Ehefrau bin und wir zusammenleben. Du machst dir
was vor. Es ist vorbei, verstehst du? Komm, bringen wir es
hinter uns. Ich mchte die Scheidung, noch diese Woche. Und
ich fahre nicht eher nach New York zurck, als bis wir diesen
ganzen Mist geklrt haben.
Bevor ich mich scheiden lasse, mut du mir das Geld ge
ben, das du mir schuldest.
Was? Ich schulde dir Geld? Wieviel? Wer arbeitet denn
hier die ganze Zeit und finanziert dich seit Jahren?
Das ist fr unsere Lebensmittel draufgegangen.

267

Ach so, ich verstehe. Auch wenn ich gar nicht da war. Aber
da dir das Geld so wichtig ist, um wieviel handelt es sich
denn?
Mindestens vierzigtausend Pfund.
Pah! Wo soll ich das denn hernehmen? Soviel habe ich
nicht!
Das ist mir egal. Vllig egal. Schnuppe. Ich meine, so ist
das nun mal. Du schuldest mir Geld, und vorher kriegst du von
mir nichts, und schon gar keine Scheidung. Ich gebe dich nicht
frei, ehe du nicht das Geld rausrckst, das du mir schuldest.
Wegen dir mute ich mein Haus verkaufen.
Du mutest dein Haus verkaufen, weil du die Raten nicht
zahlen konntest und ich die Nase voll davon hatte, immer fr
dich einzuspringen. Du httest dir einfach nur eine Arbeit su
chen mssen. Aber nicht mal das hast du fertiggebracht.
Was denn? Welche Arbeit? Wo htte ich arbeiten sollen?
Etwa bei McDonald's?
Wenn du damit die Raten httest zahlen knnen, warum
nicht?
So was liegt mir nicht.
Verdammt noch mal, was liegt dir dann?
Ich bin Umweltschtzer!
Ach ja? Ich habe dir die Stelle bei Greenpeace besorgt,
und man hat dich rausgeworfen. Du hast dort Hausverbot. Es
ist also allein deine Schuld, und ich werde mir dieses Gejam
mere nicht lnger anhren. Von mir kriegst du keinen ver
dammten Penny. Weit du was? Behalte den blden Pa und
steck ihn dir in den Hintern. Anscheinend gibt es zwischen uns
nichts mehr zu bereden. Wir waren nie richtig verheiratet, und
da die Ehe nie vollzogen wurde, ist sie vor dem Gesetz ungl
tig.
Das stimmt nicht. Inzwischen hat sich das Gesetz gen
dert. Du bist mit mir verheiratet, Waris, und ich werde dich

268

nicht freigeben. Dein Baby wird sein Leben lang ein Bastard
sein.
Ich sa da und starrte ihn an. Alles Mitleid, das ich je fr ihn
empfunden hatte, verwandelte sich in Ha. Mir wurde bewut,
wie absurd die Situation war. Ich hatte Nigel geheiratet, weil er
mir unbedingt hatte helfen wollen. Es war Allahs Wille ge
wesen, wie er damals behauptete. Da seine Schwester eine
gute Freundin war, ging ich davon aus, da sie eingreifen
wrde, wenn Probleme auftauchten. Doch als ich Julie das
letzte Mal sah, befand sie sich in der geschlossenen Abteilung
einer Anstalt, wo ich sie mehrfach besuchte. Sie hatte Wahn
anflle, sah sich mit irrem Blick um, erzhlte mir die wildesten
Geschichten, da sie verfolgt werde, da man ihr nach dem
Leben trachte. Es brach mir beinahe das Herz, sie so zu se
hen, aber anscheinend lag geistige Verwirrtheit bei ihr in der
Familie. Ich kriege meine Scheidung, Nigel, mit oder ohne
deine Einwilligung. Es gibt nichts mehr zu besprechen.
Finster blickte er mich einen Moment lang an. Dann sagte
er leise: Na gut. Wenn ich dich verliere, habe ich nichts mehr
auf der Welt. Ich bringe dich um, und dann tte ich mich.
Ich erstarrte. Hastig berlegte ich mir meinen nchsten
Schritt, dann versuchte ich es mit einem Bluff. Dana kommt
gleich, um mich abzuholen. Wenn ich du wre, wrde ich
nichts Unberlegtes tun. Mir war klar, da ich so schnell wie
mglich hier wegkommen mute, denn dieses Mal drehte er
wirklich ab. Ich bckte mich, um meine Tasche vom Boden
aufzuheben. Da gab er mir von hinten einen Sto. Ich knallte
gegen die Stereoanlage, dann fiel ich rcklings auf das Par
kett. Zunchst blieb ich einfach nur liegen, ich hatte Angst,
mich zu bewegen. O Gott, das Baby! Ich konnte an nichts an
ders denken. Womglich war dem Baby etwas zugestoen.
Langsam rappelte ich mich auf.
Oh, Scheie. Ist alles in Ordnung mit dir? fragte Nigel.
Ja. Es geht schon, erwiderte ich leise. Mir wurde klar, wie

269

dumm es gewesen war, allein hierherzukommen. Jetzt wollte


ich nur noch unversehrt hier raus. Ist schon gut. Mir ist nichts
passiert. Er half mir auf die Beine. Mit gespielter Gelassen
heit zog ich mir meine Jacke ber.
Ich fahre dich zurck. Sieh zu, da du ins Auto kommst.
Er war schon wieder wtend. Unterwegs dachte ich: Er hat
mein Baby, und wenn es tot wre, wrde er sich freuen. Viel
leicht steuert er das Auto ber den Rand einer Klippe. Ich legte
den Sicherheitsgurt an. Er hingegen brllte, kreischte, fluchte
und warf mir jede Beleidigung an den Kopf, die ihm nur einfiel.
Ich rhrte mich nicht und sah schweigend geradeaus, denn ich
frchtete, er wrde mich schlagen, wenn, ich auch nur ein
Wort sagte. Inzwischen war ich wie betubt; mein Leben war
mir gleichgltig, fr mich zhlte nur noch das Leben meines
Kindes. Ich bin eine Kmpfernatur, und wre ich nicht
schwanger gewesen, htte ich ihm die Eier abgerissen.
Als wir bei dem Hotel vorfuhren, schimpfte er: Und ist das
alles? Du sitzt einfach nur da und schweigst, nach allem, was
ich fr dich getan habe? Kaum war der Wagen zum Stehen
gekommen, griff er ber mich hinweg, ffnete die Beifahrertr
und stie mich nach drauen. Eines meiner Beine war noch im
Auto, es hatte sich unter dem Sitz verklemmt, und ich stram
pelte mich frei. Dann rannte ich ins Hotel und flchtete mich in
unser Zimmer.
Als Dana mir ffnete, liefen mir die Trnen bers Gesicht.
Was war los? Hat er dir was getan?
Eins war mir klar: Wenn ich Dana die Wahrheit sagte, wrde
er Nigel umbringen. Man wrde ihn ins Gefngnis stecken,
und ich mte unser Kind alleine groziehen. Nein, nichts. Er
hat sich nur wie ein Arschloch verhalten, wie blich. Er wollte
meine Sachen nicht rausrcken. Ich putzte mir die Nase.
Ist das alles? Ach Waris, vergi diesen Mist. Es lohnt sich
nicht, deswegen zu weinen. Dana und ich nahmen die erste
Maschine zurck nach New York, die wir kriegen konnten.

270

Als ich im achten Monat war, erfuhr ein afrikanischer Foto


graf von meiner Schwangerschaft. Er erkundigte sich, ob er
mich fotografieren drfe, und zwar in Spanien, wo er lebte und
arbeitete. Zu der Zeit fhlte ich mich so prchtig, da ich vor
dem Flug keine Angst hatte. Zwar sollte ich nach dem sech
sten Monat nicht mehr fliegen, so der rztliche Ratschlag,
doch ich zog einen weiten Pullover an und huschte an Bord
der Maschine. Der Fotograf machte ein paar ausgezeichnete
Aufnahmen, die in der Marie Claire erschienen.
Dann mute ich noch einmal fliegen, bevor mein Baby ge
boren wurde. Zwanzig Tage vor dem errechneten Termin rei
ste ich nach Nebraska zu Danas Familie, damit sie mir nach
der Geburt helfen konnten. Ich wohnte bei Danas Eltern in
Omaha. Dana hatte allerdings noch Auftritte in New Yorker
Clubs zugesagt und wollte erst in der darauffolgenden Woche
kommen. Doch schon kurz nach meiner Ankunft hatte ich am
Morgen nach dem Aufstehen ein komisches Gefhl im Magen.
Ich fragte mich, was ich wohl Falsches gegessen hatte, da
ich solche Verdauungsbeschwerden bekam. Dieser Zustand
hielt den Tag ber an, und am nchsten Morgen hatte ich rich
tig schlimme Bauchschmerzen. Allmhlich dmmerte mir, da
es vielleicht gar nicht der Magen war. Vielleicht wollte das Ba
by heraus.
Ich rief Danas Mutter in der Arbeit an. Ich habe so komi
sche Schmerzen, sagte ich. Sie kommen und gehen, und
zwar schon seit gestern, den ganzen Tag und die ganze
Nacht. Und jetzt werden sie schlimmer. Ich wei nicht, was ich
Falsches gegessen haben knnte, und es kommt mir seltsam
vor.
Waris, um Himmels willen! Das sind Wehen! Ach so. Ich
war wahnsinnig glcklich, denn allmhlich hatte ich lange ge
nug auf unser Kind gewartet. Und so rief ich Dana in New York
an. Ich glaube, das Baby kommt, erklrte ich ihm.

271

Nein, nein! Du darfst es nicht kriegen, bevor ich da bin.


Halt es auf! Ich beeile mich, ich nehme das nchste Flug
zeug.
Dann komm doch, und halt du es auf! Wie verdammt noch
mal soll ich das denn anstellen, das Baby aufhalten? Was
waren Mnner doch dumm. Allerdings wnschte auch ich mir,
da Dana bei der Geburt unseres ersten Kindes dabei war,
und wre sehr enttuscht gewesen, htte er sie nicht miterle
ben knnen. Seine Mutter hatte nach meinem Anruf mit dem
Krankenhaus telefoniert, und jetzt meldete sich die Schwester,
um nachzufragen, wie es mir ging. Sie sagte, wenn ich das
Baby haben wolle, solle ich auf und ab gehen. Daraus schlo
ich, ich msse das Gegenteil tun, wenn ich es noch nicht ha
ben wollte, also vllig bewegungslos liegenbleiben.
Dana traf erst am folgenden Abend ein. Zu diesem Zeit
punkt hatte ich bereits seit drei Tagen Wehen. Als sein Vater
zum Flughafen fuhr, um ihn abzuholen, japste ich schwer.
Ohhh, ahhh! Mist, verdammter! O mein Gott!
Du mut zhlen, Waris, zhlen, rief Danas Mutter. Wir
merkten, da es hchste Zeit war, zum Krankenhaus zu fa h
ren, doch wir konnten nicht aufbrechen, weil Danas Vater das
Auto hatte. Als er am Haus vorfuhr, lieen wir ihn gar nicht erst
hinein, sondern riefen ihm zu: Zurck ins Auto, wir mssen
sofort in die Klinik.
Dort trafen wir um zehn Uhr abends ein. Um zehn Uhr am
nchsten Morgen lag ich immer noch in den Wehen. Ich will
mich kopfunter an einen Baum hngen, rief ich ein ums ande
re Mal. Dies war, wie ich wute, ein animalischer Instinkt, denn
hnlich bekommen auch die Affen ihre Jungen. Sie sind st n
dig in Bewegung, sie setzen und hocken sich hin, sie rennen
und lassen sich von einem Ast herabhngen, bis das Junge
zur Welt kommt. Sie liegen nicht einfach nur da. Seit jenem
Tag nennt mich Dana ffchen und ruft immer wieder mit Fi

272

stelstimme: Ahh, ich will mich kopfunter an einen Baum h n


gen.
Als wir endlich im Kreisaal waren, untersttzte mich der
werdende Vater nach Krften. Tief durchatmen, Kleine, ein
fach nur atmen.
Verdammt! Scher dich zum Teufel! Ich bringe dich um, du
Idiot. O mein Gott, am liebsten htte ich ihn erschossen. Ich
wollte sterben, aber ehe ich starb, wollte ich sichergehen, da
ich ihn um die Ecke gebracht hatte.
Gegen Mittag war der Augenblick endlich da. Ich erinnerte
mich mit Dankbarkeit an den Arzt, der mich in London operiert
hatte, denn wie die Geburt htte vonstatten gehen sollen, w h
rend ich noch zugenht war, konnte ich mir nicht vorstellen.
Nach neun Monaten des Wartens und drei Tagen voller
Schmerzen kam mein Kind dann wundersamerweise endlich
zur Welt. Ohhh! Nach all der Zeit war ich so froh, ihn endlich
zu sehen, diesen winzigen, kleinen Kerl. Er war wunder
hbsch, hatte seidiges schwarzes Haar, einen winzigen Mund
und unglaublich lange Zehen und Finger. Er war mehr als 50
cm gro, wog jedoch nur 3184 Gramm. Mein Sohn sagte:
Ah, dann blickte er sich neugierig im Raum um. So sieht es
hier also aus! Ist es das? Ist dies das Licht? Es mu schn fr
ihn gewesen sein, nach den neun Monaten Dunkelheit.
Ich hatte die Angestellten des Krankenhauses gebeten, mir
meinen Sohn direkt nach der Geburt auf den Bauch zu legen,
noch mit der Kseschmiere und allem. Das taten sie, und als
ich ihn auf mir sprte, merkte ich sofort, da der Spruch, den
alle Mtter erzhlen, wahr ist: Wenn du dein Kind im Arm
hltst, ist die Qual vergessen. In diesem Moment denkst du
nicht mehr an die Schmerzen. Du empfindest nur noch Freu
de.
Ich nannte den Jungen Aleeke; das ist Somali und heit
starker Lwe. Doch im Augenblick hnelt er mit seinem klei
nen Schmollmund, seinen Pausbckchen und seinem Locken

273

kranz eher einem Engel. Seine breite Stirn wlbt sich genauso
hoch wie meine. Wenn ich mit ihm spreche, schrzt er die Lip
pen und sieht aus wie ein kleiner Vogel, der gleich Ioszwit
schern mchte. Vom ersten Moment an war er uerst auf
merksam, er sieht sich alles ruhig an und entdeckt seine neue
Welt.
Als kleines Mdchen freute ich mich immer ganz besonders
auf den Augenblick, wenn ich die Tiere versorgt hatte, nach
Hause kam und mich in Mamas Scho legen durfte. Sie strei
chelte mir dann ber den Kopf und gab mir damit ein ungehe u
res Gefhl des Friedens und der Geborgenheit. Nun mache
ich das mit Aleeke, und er liebt es genauso wie ich damals. Ich
massiere ihm den Kopf, und er schlft auf meinem Scho ein.
Mit seiner Geburt hat sich mein Leben von Grund auf ver
ndert. Das Glck, das er mir schenkt, bedeutet mir alles. All
die Dinge, ber die ich mich frher beklagt oder mir Sorgen
gemacht habe, sind unwichtig geworden. Darauf kommt es
nicht an. Einzig das Leben - das Geschenk des Lebens - zhlt,
das hat mir die Geburt meines Sohnes vor Augen gefhrt.

274

17. Die Botschafterin

Durch die Mutterschaft erwirbt sich eine Frau in meiner


Kultur besondere Achtung. Sie hat einen Menschen zur Welt
gebracht und damit den Kreislauf des Lebens erhalten. Mit
Aleekes Geburt wurde auch ich eine Mama und erst damit ei
ne erwachsene Frau. Nachdem nun dieser Proze, der mit
meiner Beschneidung im Alter von fnf Jahren verfrht begon
nen hat, durch die Geburt meines Kindes, als ich etwa dreiig
war, abgeschlossen ist, empfinde ich fr meine Mutter grere
Achtung denn je. Ich habe begriffen, wie unglaublich stark die
Frauen in Somalia sein muten, allein um die Brde zu tragen,
dort eine Frau zu sein. In England und spter in Amerika be
mhte ich mich, meine Pflichten so gut wie mglich zu erledi
gen, auch wenn ich an manchen Tagen glaubte, es nicht zu
schaffen: Wenn ich Bden bei McDonald's scheuerte, obwohl
meine Periode so schmerzhaft war, da ich dachte, ich wrde
in Ohnmacht fallen. Als ich die grobe Naht an meiner Scheide
aufschneiden lie, damit ich wenigstens richtig urinieren
konnte. Als ich im neunten Monat schwanger mit der U-Bahn
nach Harlem fuhr und mich die Treppen hinaufschleppte,
nachdem ich die Einkufe erledigt hatte. Als ich drei Tage lang
in den Wehen lag und dachte, ich wrde vor den Augen der
rzte im Kreisaal sterben.
In Wahrheit habe ich groes Glck. Denn was ist mit den
Mdchen drauen im Busch, die kilometerweit laufen mssen,

275

whrend sie sich vor Menstruationsschmerzen kaum aufrecht


halten knnen? Wie steht es mit den Ehefrauen, die nach der
Geburt wieder mit Nadel und Faden zugenht werden, damit
nur eine enge ffnung fr den Ehemann bleibt? Oder mit der
Frau im neunten Monat, die in der Wste nach Nahrung sucht,
damit ihre anderen elf Kinder nicht verhungern mssen? Und
was mu die junge Frau durchmachen, die kurz vor der Geburt
ihres ersten Kindes steht, aber immer noch zugenht ist? Wie
ist das, wenn man in die Wste hinausgeht, so wie meine
Mutter, und versucht, sein Baby ohne fremde Hilfe zur Welt zu
bringen? Leider wei ich die Antwort auf diese Frage: Viele
verbluten dort drauen, und wenn sie Glck haben, finden ihre
Ehemnner sie vor den Geiern und Hynen.
Mit zunehmendem Alter und Wissen erkannte ich, da ich
nicht allein war. Millionen von Mdchen und Frauen auf der
ganzen Welt qulen die gleichen gesundheitlichen Probleme
wie mich seit meiner Beschneidung. Nur wegen einer Traditi
on, die aus Unwissenheit fortgefhrt wird, mu ein Groteil der
Frauen in Afrika ein Leben unter Schmerzen fhren. Wer hilft
diesen Frauen in der Wste, die wie meine Mutter weder Geld
noch Macht besitzen? Jemand mu fr das kleine, stumme
Mdchen die Stimme erheben. Und weil auch ich einmal eine
Nomadin war, fhle ich mich berufen, ihnen zu helfen.
Ich habe nie eine Erklrung dafr gefunden, warum mein
Leben so viele scheinbar zufllige Wendungen nahm. Aber
eigentlich glaube ich nicht an den Zufall; meiner berzeugung
nach steckt mehr dahinter. Allah hat mich in der Wste vor
einem Lwen gerettet, nachdem ich von daheim fortgelaufen
war, und seit diesem Erlebnis wute ich, da er etwas mit mir
vorhatte, da es einen Grund gab, warum ich weiterleben
durfte. Aber welchen?
Eine Journalistin, die fr das Modemagazin Marie Claire ar
beitete, vereinbarte einen Interviewtermin mit mir. Vor unserer

276

Begegnung berlegte ich mir sehr genau, was ich in dem Arti
kel sagen wollte. Als ich Laura Ziv dann zum Mittagessen traf,
war sie mir auf Anhieb sympathisch. Wissen Sie, ich habe
keine Ahnung, was Sie von mir hren wollen, aber diese typi
schen Berichte ber das Leben eines Models sind doch schon
tausendmal gebracht worden. Wenn Sie mir die Verffentli
chung garantieren, bekommen Sie von mir eine richtige Ge
schichte, schlug ich ihr vor.
Wirklich? Nun, ich werde mein Bestes tun, erwiderte sie
und schaltete den Kassettenrecorder ein. Dann begann ich ihr
zu schildern, wie ich als Kind beschnitten wurde. Ich war noch
lngst nicht fertig mit meinem Bericht, da begann die Frau zu
weinen und schaltete den Recorder ab.
Oh, was haben Sie denn?
Ach, es ist schrecklich ... einfach frchterlich. Ich htte nie
gedacht, da so etwas heute noch passiert.
Eben, das ist es ja. Die Menschen in den Industrienationen
wissen nichts davon. Glauben Sie, Sie knnen es in Ihrer Zeit
schrift verffentlichen, in Ihrem berhmten Hochglanzmagazin,
das ausschlielich weibliche Leser hat?
Ich verspreche Ihnen, da ich alles versuchen werde, aber
die Entscheidung liegt bei meiner Chefin.
Am Tag darauf konnte ich nicht fassen, was ich getan hatte,
und schmte mich schrecklich. Alle wuten jetzt ber mich
Bescheid, waren in mein persnlichstes Geheimnis einge
weiht. Dabei hatte ich bisher nicht einmal meinen engsten
Freunden erzhlt, was mir als kleines Mdchen zugefgt wo r
den war. Da ich einer Kultur entstamme, in der nichts nach
auen getragen wird, hatte ich schlicht nie genug Mut gehabt,
ber so etwas zu sprechen. Und nun schilderte ich es Millio
nen von Fremden. Aber irgendwann sagte ich mir: Schlu
jetzt. Wenn es ntig ist, da du dich dafr deiner Wrde be
raubst, dann nichts wie weg damit. Und so geschah es. Ich
legte meine Wrde ab, als wrde ich die Kleider ausziehen,

277

und lebte ohne sie weiter. Doch eines bereitete mir Sorgen:
Wie wrden andere Somalis darauf reagieren? Ich hrte schon
ihre Schimpftiraden: Wie kannst du es wagen, unsere uralten
Traditionen zu kritisieren? Sie wrden reden wie meine Fami
lie, als ich sie in thiopien wiedersah: Du meinst wohl, jetzt
wo du im Westen lebst, wtest du alles besser.
Nachdem ich lange darber nachgedacht hatte, kam ich zu
dem Schlu, da ich aus zwei Grnden ber meine Beschnei
dung sprechen mute: Zum einen beeintrchtigt sie mich sehr
stark. Neben den gesundheitlichen Problemen, mit denen ich
noch immer zu kmpfen habe, werde ich niemals eine lustvolle
Sexualitt erleben. Ich fhle mich unvollstndig, behindert, und
ich wei, da ich nichts dagegen tun kann; das gibt mir ein
Gefhl der Ohnmacht. Als ich Dana kennenlernte und mich in
ihn verliebte, wollte ich ein erflltes Sexualleben mit ihm ha
ben. Aber wenn mich heute jemand fragt: Gefllt dir Sex?,
mu ich antworten: Nicht so wie anderen Menschen. Es ge
fllt mir, da ich Dana krperlich nahe bin, weil ich ihn liebe.
Mein ganzes Leben lang habe ich nach einem Grund fr
meine Beschneidung gesucht. Vielleicht knnte ich akzeptie
ren, was mir angetan wurde, wenn mir ein einleuchtender
Grund dafr einfallen wrde. Doch ich wei keinen. Je lnger
ich erfolglos darber nachdachte, desto wtender wurde ich.
Ich mute ber mein Geheimnis sprechen, weil ich es mein
ganzes Leben lang versteckt mit mir herumgetragen hatte. Da
ich keine Familie um mich hatte, keine Mutter und keine
Schwestern, konnte ich meinen Kummer mit niemandem tei
len. Ich bezeichne mich nicht gern als Opfer, denn das klingt
so hilflos. Doch als die Zigeunerin ihr blutiges Werk an mir ve r
richtete, war ich genau das - hilflos. Spter allerdings, als er
wachsene Frau, war ich kein Opfer mehr, denn ich konnte
handeln. Als ich das Interview fr Marie Claire gab, wollte ich,
da diejenigen, die diese qualvollen Praktiken befrworten,

278

von wenigstens einer Frau erfahren, wie das ist - denn die
Frauen in meinem Land sind zum Schweigen verurteilt.
Nachdem ich mein Geheimnis preisgegeben hatte, pas
sierte es mir gelegentlich, da die Leute mich auf der Strae
komisch ansahen. Ich beschlo, sie zu ignorieren. Denn es
gab einen zweiten Grund, warum ich den Artikel machen
wollte: Die Menschen sollten erfahren, da diese Praktiken
auch heute noch verbreitet sind. Ich mute an die ffentlich
keit gehen, nicht nur fr mich, sondern fr all die kleinen Md
chen auf der Welt, die in diesem Augenblick diese Tortur erlei
den. Es sind nicht Hunderte, nicht Tausende, sondern
Millionen von Mdchen, die damit leben mssen und daran
sterben. Fr mich ist es bereits zu spt, der Schaden ist nicht
wiedergutzumachen; aber vielleicht kann ich dazu beitragen,
da eine andere davor bewahrt wird.
Auf mein Interview mit dem Titel The Tragedy of Female
Circumcision gab es bewegende Reaktionen. Laura hatte
phantastische Arbeit geleistet, und mit der Verffentlichung
des Artikels bewies Marie Claire groen Mut. Das Magazin
und Equality Now, eine Organisation, die fr die Rechte der
Frauen kmpft, wurden mit positiven Zuschriften berhuft.
Wie Laura an dem Tag, als ich ihr meine Geschichte erzhlte,
zeigten sich auch die Leserinnen entsetzt:
Vor genau einem Monat las ich in der Mrz-Nummer der
Marie Claire entgeistert aber die Beschneidung von
Frauen, und seither geht mir das Thema nicht mehr aus
dem Sinn. Mir fllt es schwer zu glauben, da irgend je
mand, ob Mann oder Frau, jemals etwas so Grausames und
Unmenschliches vergessen oder abtun kann wie die Mi
handlung des Geschlechts, das Gott dem Mann als Freun
din und Kameradin, als Gefhrtin zur Seite gestellt hat. In
der Bibel steht, Mnner sollen ihre Frauen lieben. Aber

279

selbst in einer Kultur, die von der Existenz Gottes nichts


wei, mssen die Menschen doch sehen, da sie falsch
handeln, wenn sie ihren Frauen solche Schmerzen, solch
tiefe Traumata zufgen und sie sogar in Lebensgefahr brin
gen! Wie knnen sie nur zulassen, da ihre Frauen, Tchter
und Schwestern dies weiterhin erleiden mssen? Ist ihnen
denn nicht klar, da sie ihre Frauen damit in vielerlei Hin
sicht zerstren ?
Gott helfe uns, aber wir mssen etwas tun! Es ist mein er
ster Gedanke am Morgen und mein letzter am Abend, und
tagsber breche ich immer wieder in Trnen deswegen aus.
Man mu diese Menschen mit Hilfe von World Vision oder
einer hnlichen Organisation aufklren und ihnen zeigen,
wieviel schner die Ehe und die Sexualitt fr Mnner und
Frauen sein kann, so wie es ja auch im Schpfungsplan
vorgesehen ist, und da Frauen aus gutem Grund mit be
stimmten Krperteilen geboren werden, ebenso wie die
Mnner!

Eine andere Zuschrift lautete:


Soeben habe ich den Artikel ber Waris Dirie zu Ende gele
sen, und es tut mir in der Seele weh, da kleine Mdchen
nach wie vor derart qualvoll verstmmelt werden. Ich kann
es kaum glauben, da solche sadistischen Praktiken heute
noch blich sind. Die Frauen, die dies durchgemacht haben,
mssen ihr ganzes Leben mit unglaublichen Problemen
kmpfen. Tradition hin oder her, dieser weltweite Frevel ge
genber Frauen mu aufhren. Wenn man die Genitalien
eines Mannes aufschlitzen und dann wieder zunhen wu rde, htte es mit dieser Praxis schnell ein Ende, das garan
tiere ich. Wie kann man berhaupt mit einer Frau zusam
mensein, wenn sie dabei stndig schreckliche Schmerzen

280

leidet? Der Artikel hat mir die Trnen in die Augen getrie
ben, und ich schreibe jetzt gleich an Equality Now, um zu
fragen, wie ich helfen kann.

In einem an mich adressierten Brief stand:


Wir haben schon viele tragische Geschichten gehrt, und
auch knftig werden wir viel Schreckliches erfahren, aber,
liebe Waris, man kann keine schlimmere Geschichte als
diese ber eine Kultur erzhlen, in der die Menschen ihren
Kindern so etwas antun. Als ich diesen Artikel las, habe ich
geweint und war zutiefst niedergeschlagen. Ich mchte so
gern etwas tun, damit es anders wird, aber ich wei nicht,
was ein einzelner ausrichten knnte.
Ich war sehr erleichtert ber die vielen positiven Reaktio
nen; in lediglich zwei Briefen wurde ich kritisiert, und es ist kei
ne berraschung, da diese aus Somalia kamen.
Nun begann ich, weitere Interviews zu geben und Vortrge
zu halten, wo immer es nur mglich war, an Schulen und fr
gemeinntzige Organisationen.
Da kam es zu einer weiteren schicksalhaften Fgung. An
Bord einer Maschine von Europa nach New York befand sich
eine Visagistin, die mein Interview in der Marie Claire las.
Noch whrend des Fluges zeigte sie es ihrer Chefin mit den
Worten:
Das mssen Sie unbedingt lesen. Ihre Chefin war nie
mand anderer als Barbara Walters. Wie Barbara mir spter
erzhlte, konnte sie den Artikel nicht zu Ende lesen, weil er sie
so aufwhlte. Doch sie hatte das Gefhl, da man auf dieses
Problem aufmerksam machen sollte, und beschlo, eine ihrer
Sendungen meiner Geschichte zu widmen, damit die Zu
schauer von diesen Praktiken erfuhren. Ethel Bass Weintraub

281

produzierte den Beitrag mit dem Titel A Healing Journey,


der spter sogar mit einem Preis ausgezeichnet wurde.
Als Barbara mich interviewte, htte ich am liebsten geweint,
so nackt fhlte ich mich. Bei einem Zeitungsinterview hat man
grere Distanz zum Publikum; ich mute lediglich Laura mei
ne Geschichte erzhlen, wir waren nur zwei Frauen in einem
Restaurant. Aber als ich frs Fernsehen gefilmt wurde, wute
ich, da die Kameras Nahaufnahmen von meinem Gesicht
machten, whrend ich Geheimnisse preisgab, die ich mein
Leben lang fr mich behalten hatte. Es war, als wrden sie
mein Innerstes freilegen.
A Healing Journey wurde im Sommer 1997 ausgestrahlt.
Bald darauf erhielt ich einen Anruf meiner Agentur. Die UNo
habe den Beitrag gesehen und wolle mit mir Kontakt aufneh
men.
Die Ereignisse hatten sich wieder einmal auf erstaunliche
Weise entwickelt. Der United Nations Population Fund bat
mich um meine Untersttzung im Kampf gegen die weibliche
Beschneidung. In Zusammenarbeit mit der Weltgesundheits
organisation hatte man dort statistisches Material zusammen
getragen, das das Ausma des Problems in erschreckender
Weise verdeutlichte. Nachdem ich diese Zahlen gesehen ha t
te, wurde mir erst richtig klar, da dies nicht allein mein Pro
blem war. Die weibliche Beschneidung, oder die Genitalver
stmmelung an Frauen, wie man es heute richtiger
bezeichnet, kommt hauptschlich in achtundzwanzig Lndern
Afrikas vor. Nach Schtzungen der Vereinten Nationen ist die
se Praktik bisher bereits bei hundertdreiig Millionen Mdchen
und Frauen angewendet worden. Zwei Millionen Mdchen
laufen jedes Jahr Gefahr, die nchsten Opfer zu sein - das
sind sechstausend tglich. Die Beschneidung wird normale r
weise unter primitiven Bedingungen von einer Hebamme oder
einer Frau aus dem Ort durchgefhrt; es wird kein Betu
bungsmittel verabreicht. Die Frauen benutzen zum Schneiden

282

alle mglichen Gerte, von Rasierklingen, Messern, Scheren,


Glasscherben bis zu scharfen Steinen - in manchen Regionen
sogar die Zhne. Die Schwere der Verstmmelung ist je nach
geographischer Lage und kultureller Tradition unterschiedlich.
Der geringste Schaden entsteht, wenn nur die Spitze der Klito
ris entfernt wird, was zur Folge hat, da das Mdchen niemals
Lust beim Sex empfinden wird. Das andere Extrem ist die
pharaonische Beschneidung, die an achtzig Prozent der
Frauen in Somalia durchgefhrt wird und die auch ich erlitt.
Infolge dieses Eingriffs kommt es hufig zu Komplikationen,
unter anderem zu Schockzustnden, Infektionen, Schdigun
gen an Harnrhre und After, Vernarbungen, Tetanus, Bla
senentzndungen, Blutvergiftungen, Aids und Hepatitis B. An
Langzeitschden sind zu nennen: chronische und wiederkeh
rende Harnrhren-, Blasen- und Beckenentzndungen, die zu
Sterilitt, Zysten und Abszessen an der Vulva fhren knnen,
schmerzhafte Neurome, Probleme beim Urinieren, Dysmenor
rh, Stauung von Menstruationsblut in der Bauchhhle, Frigi
ditt, Depressionen und Tod.
Die Vorstellung, da dieses Jahr wieder zwei Millionen klei
ne Mdchen dasselbe erleiden mssen, was ich einst durch
gemacht habe, bricht mir das Herz. Aus diesen Mdchen, das
wei ich inzwischen aus eigener Erfahrung, werden zornige
Frauen wie ich, denen ein Schaden zugefgt wurde, der nicht
wiedergutzumachen ist.
Und die Zahl der verstmmelten Mdchen vergrert sich
eher, als da sie abnimmt. Die vielen tausend Afrikaner, die
nach Europa und in die Vereinigten Staaten emigriert sind,
haben diesen grausamen Brauch dorthin mitgenommen. Nach
Schtzungen des Federal Center for Disease Control and Pre
vention haben sich im Staat New York bereits 27.000 Frauen
der Prozedur unterzogen oder werden dies noch tun. Aus die
sem Grund verabschiedet man in vielen Bundesstaaten Ge
setze, die die Genitalverstmmelung an Frauen verbieten. Die

283

Behrden erachten es als notwendig, die gefhrdeten Kinder


mit Hilfe von eigenen Gesetzen zu schtzen, denn deren Fa
milien behaupten hufig, die Verstmmelung ihrer Tchter ge
hre zur freien Religionsausbung. Nicht selten spart eine
afrikanische Gemeinde in Amerika so lange, bis sie es sich
leisten kann, eine Frau aus Afrika zu holen, die Beschneidun
gen durchfhrt, eine Frau wie die Zigeunerin bei mir. Diese
beschneidet dann eine ganze Schar von kleinen Mdchen auf
einmal. Ist das nicht mglich, nimmt die Familie die Sache oft
selbst in die Hand. Ein Vater in New York City drehte die Ste
reoanlage so laut auf, da die Nachbarn die Schreie nicht h
ren konnten. Dann schnitt er seinen Tchtern die Genitalien
mit einem Steakmesser ab.
Voller Stolz nahm ich das Angebot der UNo an, Sonderbot
schafterin zu werden und sie in ihrem Kampf zu untersttzen.
Und ich betrachte es als besondere Ehre, mit Frauen wie Dr.
Nafis Sadik zusammenarbeiten zu drfen, der Exekutivdirekto
rin des UN Population Fund. Sie war eine der ersten Frauen,
die den Kampf gegen die Genitalverstmmelung an Frauen
aufnahm, indem sie das Problem auf der Internationalen Kon
ferenz ber Bevlkerung und Entwicklung 1994 in Kairo auf
die Tagesordnung setzte. Ich werde demnchst nach Afrika
reisen, um dort meine Geschichte zu erzhlen und die Ver
einten Nationen vor Ort zu untersttzen.
ber viertausend Jahre lang hat man in afrikanischen Kultu
ren Frauen verstmmelt. Viele sind der Ansicht, der Koran
wrde das vorschreiben, da dieser Brauch hauptschlich in
moslemischen Lndern verbreitet ist. Doch weder im Koran
noch in der Bibel steht, da die Beschneidung der Frau ein
gottgeflliges Werk sei. Vielmehr wird diese Praktik schlicht
von Mnnern untersttzt und gefordert, von unwissenden,
egoistischen Mnnern, die sich damit ihr alleiniges Anrecht auf
die sexuellen Dienste ihrer Frauen sichern wollen. Deshalb
verlangen sie, da ihre Frauen beschnitten sind. Die Mtter

284

fgen sich und lassen die eigenen Tchter beschneiden, aus


Angst, diese knnten sonst keinen Ehemann finden. Denn ei
ne Frau, die nicht beschnitten wurde, gilt als schmutzig und
mannstoll und kann daher nicht verheiratet werden. In einer
Nomadenkultur wie der, in der ich gro wurde, ist jedoch kein
Platz fr eine unverheiratete Frau. Deshalb betrachten es die
Mtter als ihre Pflicht, ihren Tchtern mglichst gute Start
chancen zu verschaffen, hnlich wie Mtter in den Industri
enationen es fr ntig erachten, da ihre Tchter eine gute
Schule besuchen. Fr die Verstmmelung von Millionen von
Mdchen jedes Jahr gibt es keinen Grund - auer Unwissen
heit und Aberglaube. Aber die Schmerzen, das Leid und die
Todesflle aufgrund von Beschneidungen sind mehr als genug
Grnde, schnellstens damit aufzuhren.
Da ich als Botschafterin fr die Vereinten Nationen ttig
sein darf, bedeutet fr mich die Erfllung eines Traumes, der
so vermessen war, da ich ihn mir kaum vorzustellen wagte.
Obwohl ich schon als Kind das Gefhl hatte, mich von meiner
Familie und den anderen Nomaden zu unterscheiden, htte
ich mir nie ausgemalt, da ich einmal Sonderbotschafterin fr
eine Organisation werden wrde, die es sich zur Aufgabe ge
macht hat, die Probleme der Welt zu lsen. Die UNo erfllt auf
internationaler Ebene die Pflichten, die eine Mutter innerhalb
ihrer Familie bernimmt: Sie spendet Trost und schenkt Si
cherheit. Ich glaube, dieses Verhalten ist das einzige, was in
meiner Vergangenheit auf meine zuknftige Rolle verwies: Als
ich erst kurz in Amerika war, nannten mich meine Freunde oft
Mama. Sie neckten mich damit, weil ich sie immer bemuttern
und mich um alle kmmern wollte.
Viele dieser Freunde frchten nun, da mich religise Fa
natiker umbringen knnten, wenn ich nach Afrika gehe. Im
merhin kmpfe ich gegen ein Verbrechen, das viele Funda
mentalisten als heiliges Ritual betrachten. Ich wei, da meine
Arbeit gefhrlich ist, und ich gebe zu, da ich Angst habe

285

besonders deshalb, weil ich einen kleinen Jungen habe, um


den ich mich kmmern mu. Doch mein Glaube sagt mir, da
ich stark sein mu, da Allah mich aus gutem Grund auf die
sen Weg geschickt hat. Er hat mir eine Aufgabe gestellt. Dies
ist meine Mission. Und ich glaube daran, da Allah schon lan
ge, bevor ich geboren wurde, meinen Todestag bestimmt hat,
daran ist also nichts mehr zu ndern. In der Zwischenzeit
sollte ich die mir gebotene Chance nutzen, so wie ich es mein
Leben lang getan habe.

286

18. Gedanken an zu Hause

Weil ich mich gegen die Genitalverstmmelung von Frauen


engagiere, meinen manche Leute, ich wrde meine Herkunft
verleugnen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ich danke Gott
jeden Tag, da ich aus Afrika stamme. Wirklich jeden Tag. Ich
bin sehr stolz, eine Somali zu sein, und stolz auf mein Land.
Wahrscheinlich halten Menschen aus anderen Kulturkreisen
das fr eine sehr afrikanische Art des Denkens - grundlos stolz
zu sein. Das wird, glaube ich, als arrogant bezeichnet.
Abgesehen von meiner Beschneidung wrde ich mit nie
mandem auf der Welt meine Kindheit tauschen wollen. In New
York, wo ich jetzt lebe, ist zwar berall vom Wert der Familie
die Rede, doch ich habe hier kaum etwas davon entdeckt. Ich
kenne keine einzige Familie, die so zusammenlebt, wie wir es
taten, die gemeinsam singt, sich freut und lacht. Die Menschen
hier leben vereinzelt, sie empfinden sich nicht als Angehrige
einer Gemeinschaft.
Ein weiterer Vorzug, in Afrika gro zu werden, bestand
darin, da wir Teil der Natur, des unmittelbaren Lebens waren.
Ich habe dieses Leben kennengelernt und war nicht abge
schirmt davon. Es war das wirkliche Leben, nicht irgendein
knstlicher Ersatz aus dem Fernsehen, wo ich anderen Men
schen dabei zusehe, wie sie ihr Leben leben. Vom ersten
Atemzug an besa ich den Instinkt, der zum berleben not
wendig ist. Und ich lernte die Freude ebenso schnell kennen

287

wie den Schmerz. Ich merkte, da Glcklichsein nicht an Be


sitz gebunden ist, weil ich nie etwas besa, aber dennoch sehr
glcklich war. Die schnste Zeit in meinem Leben war, als wir
alle, meine Familie und ich, zusammen waren. Ich wei noch,
wie wir an manchen Abenden nach dem Essen um das Feuer
saen und ber jede Kleinigkeit lachen konnten. Und wenn der
Regen kam und das Leben neu geboren wurde, feierten wir
das als Fest.
Als ich in Somalia aufwuchs, schtzten wir die einfachen
Dinge des Lebens sehr hoch. Wir feierten den Regen, weil er
bedeutete, da wir Wasser hatten. Wen in New York kmmert
schon das Wasser? Man lt es einfach aus dem Hahn laufen,
whrend man sich in der Kche mit etwas anderem beschf
tigt. Es ist immer vorhanden, wenn man es braucht. Man mu
nur an einem Griff drehen, und schon fliet es heraus. Erst
wenn man etwas nicht hat, lernt man, es zu schtzen, und da
wir berhaupt nichts hatten, schtzten wir alles hoch.
Meine Familie mute jeden Tag darum kmpfen, gengend
Nahrung aufzutreiben. Einen Sack Reis zu erstehen bedeutete
fr uns ein riesiges Glck. Wer aus einem Land der Dritten
Welt hierher, in die Vereinigten Staaten, kommt, kann nur
staunen ber die Menge und Vielfalt an Nahrungsmitteln. Wie
traurig, da hier so viele Menschen vor allem damit beschftigt
sind, mglichst nicht zu essen. Auf der einen Seite des Globus
kmpfen wir darum, die Menschen mit Nahrung zu versorgen.
Auf der anderen Seite zahlen Leute Geld dafr, da sie ab
nehmen. Wenn ich Fernsehwerbung fr Schlankmacher sehe,
mchte ich am liebsten schreien: Ihr wollt also abnehmen
dann geht doch nach Afrika! Wie wr's denn damit? Wie wre
es, abzunehmen, indem ihr anderen Menschen helft? Habt ihr
darber schon einmal nachgedacht? Ihr werdet euch dabei gut
und als ganz neue Menschen fhlen. Ihr leistet damit gleich
zweierlei. Und ich verspreche euch: Wenn ihr dann wieder zu
rckkehrt, habt ihr eine Menge gelernt. Euer Kopf wird sehr

288

viel klarer sein als zuvor. Heute lerne ich wieder, den Wert
der einfachen Dinge zu schtzen. Immer wieder begegne ich
Menschen, die ein wunderschnes Haus oder sogar mehrere
besitzen, dazu Autos, Jachten und Juwelen, aber nur an eines
denken: noch mehr zu besitzen. Als wrde ihnen das nchste
Ding, das sie kaufen, endlich Glck und Zufriedenheit sche n
ken. Ich brauche keinen Diamantring, um glcklich zu sein. Die
Leute sagen: Das kannst du jetzt leicht behaupten, nach dem
du es dir leisten kannst, alles zu kaufen, was du dir wnschst.
Aber ich mchte gar nichts. Das wertvollste Gut im Leben
auer dem Leben selbst - ist die Gesundheit. Doch die Men
schen ruinieren ihre kostbare Gesundheit, indem sie sich um
Nichtigkeiten Sorgen machen: Oh, hier kommt eine Rech
nung, und noch eine, aus allen Ecken kommen Rechnungen ...
wie soll ich das nur bezahlen? Die Vereinigten Staaten sind
das reichste Land der Erde, aber seine Brger empfinden sich
als arm.
Und noch knapper als Geld ist Zeit. Keiner hat Zeit. ber
haupt keine. Geh mir aus dem Weg, Mann, ich hab's eilig!
Die Straen sind voller Leute, die hin und her hetzen und hi n
ter Gott wei was herjagen.
Ich bin wirklich dankbar, da ich beide Lebensformen ken
nenlernen durfte, den einfachen und den eiligen Weg. Aber ich
wte nicht, ob ich ohne meine afrikanische Herkunft das ein
fache Leben genieen gelernt htte. Meine Kindheit in Soma
lia hat meine Persnlichkeit geprgt und mich davor bewahrt,
Banalitten wie Erfolg und Ruhm - denen so viele Leute nach
zujagen scheinen - allzu ernst zu nehmen. Hufig werde ich
gefragt: Wie fhlt man sich, wenn man berhmt ist? Dann
mu ich immer lachen. Was bedeutet das, berhmt zu sein?
Ich wei es nicht. Ich wei nur, da meine Art zu denken afri
kanisch ist, und daran wird sich nie etwas ndern.

289

Einer der grten Vorzge des Lebens im Westen ist der


hier herrschende Friede, doch ich bin nicht sicher, ob viele
Leute tatschlich begreifen, was fr ein Segen er ist. Natrlich,
es gibt Verbrechen, aber das ist nicht das gleiche wie ein
Krieg, der um einen herum tobt. Ich bin dankbar, da ich hier
Schutz gefunden habe und mein Baby in Sicherheit grozie
hen kann, weil in Somalia seit 1991, als Siad Barre von Re
bellen aus dem Amt gejagt wurde, ununterbrochen gekmpft
wird. Seither streiten rivalisierende Stmme um die Macht, und
niemand kann sagen, wie viele Menschen dabei schon ums
Leben kamen. Mogadischu, die wunderbare Stadt mit ihren
weien Gebuden, die italienische Kolonialherren gebaut ha
ben, ist zerstrt. Fast jedes Bauwerk dort trgt die Spuren des
seit sieben Jahren tobenden Krieges, die Huser wurden
bombardiert oder sind voller Einschulcher. In der Stadt zeigt
sich nicht einmal mehr die Spur einer ordnenden Kraft - es gibt
weder eine Regierung noch Polizei oder Schulen.
Mich bedrckt, da meine Familie diesen Kmpfen nicht
entfliehen konnte. Mein Onkel Wolde'ab, der Bruder meiner
Mutter, der immer so frhlich war und meiner Mutter so h
nelte, starb in Mogadischu. Er stand gerade am Fenster, als
sein Haus unter Beschu genommen wurde. Das ganze Ge
bude wurde zerschossen, und eine Kugel flog durchs Fenster
und ttete ihn.
Selbst die Nomaden sind jetzt von den Kmpfen betroffen.
Als ich meinen jngeren Bruder All in thiopien wiedersah,
erfuhr ich, da auch er angeschossen worden war und nur
knapp mit dem Leben davonkam. Er war gerade allein mit sei
nen Kamelen unterwegs, als Wilderer ihm auflauerten und ihm
in den Arm schossen. All strzte zu Boden und stellte sich tot,
und die Wilderer machten sich mit seiner ganzen Herde da
von.
Als ich meine Mutter in thiopien wiedertraf, erzhlte sie
mir, da sie einmal in ein Kreuzfeuer geriet und seither eine

290

Kugel in ihrer Brust steckt. Meine Schwester hat sie ins Kran
kenhaus nach Saudi gebracht, aber dort meinten die rzte, sie
sei zu alt fr eine Operation. Ein Eingriff wre zu gefhrlich, sie
wrde ihn vielleicht nicht berleben. Doch als wir uns wieder
sahen, sah sie stark aus wie ein Kamel. Sie war ganz meine
Mama, zh wie eh und je, und scherzte ber ihre Schuverlet
zung. Als ich sie nmlich fragte, ob die Kugel immer noch in
ihrem Krper sei, erwiderte sie: Ja doch, ja, sie steckt noch in
mir. Aber das kmmert mich nicht. Vielleicht habe ich sie in
zwischen ja schon eingeschmolzen.
Diese Stammeskriege sind ebenso wie die Beschneidungs
prozedur ein Ausdruck fr die Selbstsucht, den Eigendnkel
und die Aggressivitt der Mnner. Ich sage das ungern, aber
es ist wahr. Beides rhrt daher, da Mnner zwanghaft an ih
rem Territorium, ihren Besitztmern, festhalten; Frauen fallen
kulturell und rechtlich gesehen ja ebenfalls in die Kategorie
des Besitzes. Vielleicht sollten wir den Mnnern die Eier ab
schneiden, damit aus meinem Land ein Paradies wird. Die
Mnner wrden ruhiger werden und sensibler mit ihrer Umwelt
umgehen. Ohne diesen stndigen Aussto von Testosteron
gbe es keinen Krieg, kein Tten, kein Rauben, keine Verge
waltigungen. Und wenn wir ihnen ihre Weichteile abhackten
und es ihnen dann freistellten, ob sie herumlaufen und ver
bluten oder berleben wollen, wrden sie vielleicht endlich
verstehen, was sie ihren Frauen antun.
Mein Ziel ist es, den Frauen in Afrika zu helfen. Ich mchte,
da sie strker werden, nicht schwcher. Die Verstmmelung
ihrer Genitalien schwcht sie krperlich und seelisch. Da
Frauen aber das Rckgrat Afrikas sind und die meiste Arbeit
verrichten, male ich mir gern aus, wieviel sie erreichen knn
ten, wenn man sie als Kinder unversehrt liee und nicht fr
den Rest ihres Lebens verstmmelte.
Trotz meines Zorns darber, was man mir angetan hat, ge
be ich nicht meinen Eltern die Schuld daran. Ich liebe meine

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Mutter und meinen Vater. Meine Mutter hatte ber meine Be


schneidung nicht zu bestimmen, denn als Frau verfgt sie ber
keinerlei Mitspracherecht. Sie machte mit mir einfach das glei
che, was man mit ihr gemacht hatte und was vorher schon
ihrer Mutter und wiederum deren Mutter widerfahren war. Und
mein Vater hatte keinerlei Vorstellung von dem Leiden, das er
mir damit zufgte; er wute nur, da in unserer somalischen
Gesellschaft seine Tochter beschnitten sein mute, wenn sie
heiraten wollte, andernfalls htte kein Mann sie haben wollen.
Meine Eltern waren beide Opfer ihrer Erziehung, eingebunden
in eine Kultur, die diese Praktiken seit Tausenden von Jahren
unverndert fortfhrt. Doch ebenso wie wir heute wissen, da
man mit Impfungen Krankheiten vermeiden und dem Tod ent
rinnen kann, wissen wir, da Frauen keine brnftigen Tiere
sind und ihre Bindung an die Familie mit Vertrauen und Zunei
gung erworben werden mu und nicht durch barbarische Ri
ten. Es ist an der Zeit, mit der Tradition des Leidens zu bre
chen.
Ich wei, da Gott mir bei meiner Geburt einen vollkomme
nen Krper geschenkt hat. Dann aber deklarierte mich der
Mann als seinen Besitz, raubte mir meine Kraft und lie mich
als Krppel zurck. Meine Weiblichkeit wurde mir gestohlen.
Wenn Gott die Teile meines Krpers, die mir heute fehlen,
nicht gewollt htte, warum hat er sie dann erschaffen?
Ich bete darum, da eines Tages keine Frau mehr diese
Qual erleiden mu. Sie soll zu etwas lngst Vergangenem
werden. Die Menschen sollen sagen: Hast du schon gehrt,
die Genitalverstmmelung von Frauen ist in Somalia gesetz
lich verboten und unter Strafe gestellt worden? Und dann
dasselbe auch im nchsten Land und im nchsten, und so
weiter, bis die ganze Welt fr alle Frauen sicher ist. Was fr
ein glcklicher Tag wird das sein - und darauf arbeite ich hin.
In'schallah, so Gott will, wird dieser Tag kommen.

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Beteiligen Sie sich am Kampf

gegen die Genitalverstmmelung von Frauen (FGM)

Die UNo hat einen Sonderfonds eingerichtet, um die Genitalverstmmelung


von Frauen zu beenden. Die eingezahlten Gelder werden zu Frderung
von Erziehungsprogrammen und weiterfhrenden Manahmen in dreiund
zwanzig Lndern verwendet. Mehr ber diese Programme erfahren Sie
unter der Adresse:
The Campaign to Elimmate FGM

UNFPA (United Nations Population Fund)

220 E. 42nd Street

New York, NY 10017

USA

Telefon: 001-212-2975 011

Telefax: 001-212-557 6416

E-Mail: hp @ unfpa.org

Fr den Schutz in Deutschland lebender afrikanischer Mdchen und Frauen gegen die Genitalverstmmelung setzen sich u. a. die Organisationen
Terre des femmes und Intact ein. ber die Initiativen der Organisation in
Deutschland und Afrika informieren Sie sich bitte unter folgender Anschrift:
TERRE DES FEMMES E.V.

Menschenrechte fr die Frau

Konrad-Adenauer-Str. 40

72072 Tbingen

Telefon: 7 70 71-79 73-0

Telefax: 0 70 71-79 73-22

INTACT

Internationale Aktion gegen die Beschneidung

von Mdchen und Frauen

Johannisstrae 4

66111 Saarbrcken

Telefon/Telefax: 06 81-3 24 00

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