Die dritte Hälfte: Roman
Von Sabine Peters
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Über dieses E-Book
Manchmal sitzt Doc, der eigentlich Hermann Dik heißt, nach seiner Arbeit in der Praxis abgekämpft zu Hause und schwänzt sogar die Sportgruppe; es hapert mit seiner Work-Life-Balance. Dabei ist sein Job kurzweilig: Tür auf, einer raus, einer rein – und dann noch Hausbesuche. Seine Angestellte Christine hat sechs Beine und Arme, sie hält den Laden am Laufen. Doc hört die Geschichten der Patienten; Herr Viersen hat keine Zeit für den Bandscheibenvorfall, während Frau Glüsing sich extra schick für für den Arzt anzieht und Frau Bültjer im Altenheim an ihr Ende geht. Am Feierabend erwartet Doc keine liebende Frau, denn die ist tot; aber seine Schwester meint es gut mit ihm und bestellt ihn zum Familienfest. Die Welt ist bunt, sagt sich Doc, wenn seine Nachbarin Mechthild und ihr Sohn, ein junger Aktivist, bei ihm vorbeischneien. Und es gibt schließlich auch den Studienfreund Brummer, mit dem Doc über das Älterwerden, über Niederlagen und Aussichten quatscht.
Sabine Peters skizziert vier Generationen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Arbeit einen je eigenen Blick auf die Zustände haben.
Doc, mittendrin, ist ein melancholischer Held, aber er ist nicht allein. Ein behutsames, menschenfreundliches Buch.
Sabine Peters
Sabine Peters, geb. 1961, studierte Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie in Hamburg. Nach einigen Jahren im Rheiderland lebt sie seit 2004 wieder in Hamburg. Neben Romanen, Erzählungen, Hörspielen schreibt Sabine Peters auch Essays und Kritiken. Sie wurde ausgezeichnet u.a. mit dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, dem Clemens-Brentano-Preis, dem Evangelischen Buchpreis und dem Georg-K.-Glaser-Preis. 2016 erhielt sie den Italo-Svevo-Preis.
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Die dritte Hälfte - Sabine Peters
Abends in Hamburg Windstille und feiner Regen. Licht in den Fenstern der Nachbarn. Doc zog die Vorhänge zu und glättete eine Falte. Er fütterte seine Katze, aß Reste vom Vortag, spülte und wischte den Tisch ab: Ordnung ist das halbe Leben. Er fragte sich nach der anderen Hälfte und räumte auf. Als Fliege wäre er unfassbar, würde mit großen Augen durchs Zimmer streifen; aber auch Fliegen lebten nach einer Ordnung. Doc fand, er brauchte keine Flügel. Er würde bloß nachts gern schlafen.
Seine Schwester schickte eine E-Mail: Hier siehst Du eine Rentnerin in ihrem neuen Fummel! Kerstins Augen leuchteten auf dem Selfie; ihre Bluse ließ ihn kalt. Er schrieb: Well done. Ihre Antwort kam sofort zurück: Nimm Dir ein Beispiel, wenn Du so weit bist!
Wäre er eine betagte Fliege, täten ihm alle sechs Beine weh, aber er könnte mit ihnen schmecken. Erholsamer Sekundenschlaf, wann immer er wollte. Er hätte Fühler, große rote Facettenaugen und wäre komplett behaart. Dazu zwei immer noch kräftige Flügel und selbstverständlich ein Herz. Er würde aus dem Zimmer fliegen und sich zwischen Mond und Sonne tummeln, bis ein Vogel käme.
*
Mechthild Stepper stand auf einem Stuhl vor dem Wohnzimmerschrank und versuchte, die Chips zu erreichen. Der Tag war gegessen; gegen den fetten Kuchen im Büro half nach Dienstschluss nur Grillwurst. Auf der Straße trommelte ein Trupp Umweltfreunde für Schmuddelwetter und Tierwohl. Doch ihr Sohn Kilian rettete anderswo die Welt, und für sie selbst war für heute nun alles zu spät. Das war ein Vorteil. So frei wie Fliegen und Vögel. Sie griff nach den Chips, stand auf den Zehenspitzen, schwankte, fiel. Stand auf, rieb sich die Hüfte. Du bist keine fünfzig mehr, nimm dich in Acht. Anscheinend war aber alles heil geblieben. Zur Not gab es Doc nebenan in der Wohnung, doch den wollte sie am Feierabend nicht stören.
*
Christine Ohlerson war auf dem Sofa eingeschlafen und schrak auf, sie war im Traum in der Praxis gewesen. Ihr Arbeitsplatz sah fremd aus, überall standen Feuerkörbe. Sie maß den Blutdruck eines Patienten, als aus dem Sprechzimmer von Doc ein Winseln drang, das in ein Kreischen überging. Christine wusste gleich Bescheid: Einer von den Verseuchten hatte sich eingeschlichen, um seinen Fluch weiterzugeben. Sie sagte scharf zu dem Patienten: Wir können Doc nicht alleinlassen. Der Patient riss die Manschette vom Arm, dann war sie mit ihm im Schrebergarten. Sie musste etwas vergraben für spätere Zeiten, für die Großeltern. Der Patient kniete neben ihr in der Erde und sagte: Vorfahren haben in der Zukunft nichts verloren! Der Feuerkorb im Garten stand in Flammen.
*
Der Brummer hieß Dr. phil. Bruno Brumlik und lebte schon lange in Bonn. Seit seiner Studienzeit war er mit Doc befreundet. Gelernter Kunsthistoriker, Dozent. Seit Jahren plagte er sich mit Arthrose, Impingement, Bandscheibenvorfällen und Tinnitus. Nun war er vorzeitig in Ruhestand getreten und nahm die Abschläge hin; Hauptsache, raus aus der Uni. Der Brummer wollte zurück nach Hamburg, ohne den Absprung zu finden. Manchmal schrieb er noch Bildbetrachtungen für kleine Fachzeitschriften; das hielt ihn senkrecht, doch er nannte sich einen Zeitvertreiber. Seine Scheidung lag jahrzehntelang zurück; aber er wünschte sich noch immer eine anschmiegsame Brummerin. Er besuchte im Internet Partnerschaftsforen, suchte nach Frauen in seinem Alter und fragte sich, wen die Frauen dort suchten. In einem Brief an Doc erklärte er die Vorzüge der neuen Bekanntschaft, äußerte alte Zweifel. Denn er war nicht nur chronisch krank, sondern auch hypochondrisch veranlagt; Schwerpunkte Prostatasorgen, Demenzangst, Sterblichkeit. Soll ich nicht besser allein bleiben?
Doc schrieb zurück: Rasier Deinen Dreitagebart und triff die Frau, Kopf hoch!
*
Doc. Eines Tages war der einsilbige Name da. Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht. Auf zwei Beinen stehe, oben sei ein Kopf.
Doc hängte den Hut an den Nagel.
Dies hier war sein Hut; der Nagel war ein Haken an der Garderobe in der Praxis. Er warf einen Blick in den Spiegel. Dies hier war eine Halbglatze, ein Gesicht mit Brille, Tränensäcken, Hamsterbäckchen, Schnurrbart. Er hörte ein Gewirr von Stimmen. Dies hier war sein Arbeitsplatz, die Eingangstür stand offen, im Spiegel sah er das Türschild mit dem symbolischen Stethoskop.
Hermann Dik hörte schon seit langem auf den Namen Doc. Er wollte sein Werkzeug nicht gleich an den Nagel hängen und auch nicht bald, sondern irgendwann später.
Die Kollegin Ulrike, mit der er die Praxis in St. Georg teilte, residierte in dem großen, hellen Zimmer; sein Sprechzimmer war dunkel, schmal und lang und hieß der Schlauch. Tür auf, einer raus, einer rein, Tag, Herr Doktor.
Manchmal war es wie früher als Kind; er war wieder Krämer im eigenen Kaufmannsladen. Der kleine Manni schob ein paar Dinge von einer Seite zur anderen, schepperte mit der Kasse und rief ins Nichts: Was darf es heute sein? Sein Laden war gut sortiert, es gab in kleinen Schachteln Reis und Reißzwecken, Salmiakpastillen und Murmeln; unter der Theke auch Zeichnungen nackter Menschen, die er nur schwarz und teuer verkaufte. Die große Schwester sah sich seine Waren naserümpfend an und verlangte fangfrischen Butt oder, als Einbrecher und bewaffnet, wirkliches Geld in wirklichen Münzen. Nur seine Großmutter war eine gute Kundin. Was darf es sein? Selbstverständlich haben wir hier 1-a-Schmerztropfen für Sie!
Doc konzentrierte sich bei der Arbeit aufs Hier und Jetzt. Sein Laden brummte und summte jahrzehntelang. Er war kein netter Arzt aus einer Fernsehserie, aber er galt als gut. Seine Tage waren eng getaktet und er spurte. Sah Patienten genesen und welken, klopfte sie ab, säuberte Wunden, füllte großzügig Krankenscheine aus. Er hatte nie Zeit, doch manchmal nahm er sie sich, schiente das Bein eines Dackels und führte lange Gespräche, bis die Sprechstundenhilfe Christine von draußen rief: Weitermachen, Doc!
*
Die Zeit floss unsichtbar und lautlos. Doc, Jahrgang 1957, lernte als Kind von Katholiken in der Kirche: Der Leib war sündig und musste zum Tempel Gottes werden oder verderben. Er faltete die Hände so wie alle anderen und sagte Amen.
Er wollte nicht mehr in die harte, alte Zeit mit ihren Drohungen zurück.
Inzwischen galt der Körper als ein Schatz, den man behütete und hegte. Unsere Gesundheitskasse bietet Spitzenmedizin mit Hightech und mit Herz. Wir werden regelmäßig durchgecheckt und sammeln Bonuspunkte. Wir gehen abertausend Schritte täglich. Beim Arzt bin ich Klient und König Kunde. Mein Körper gehört mir und Eigentum verpflichtet.
Die Menschen in Docs Praxis waren sterbliche Leiber, Körper, bodies oder Datensammlungen. Er verbrachte viel Zeit am Rechner beim Dokumentieren. Gott zählte jedes Haar auf jedem Kopf, blickte in jedes Herz und konnte restlos alles sehen. Menschen dagegen strampelten sich damit ab, die Technik nachzurüsten. Der pharmazeutische Vertreter öffnete die Schatzkiste und pries den neuen Betablocker. Docs Assistentinnen beherrschten Arbeiten, die früher in sein Revier gefallen waren. Er sagte sich, du bist kein Wildhüter; er litt unter dem Zwang, sich selbst beim Denken zuzuhören.
*
Was der Mensch den lieben langen Tag daherfaselt. Wer sagte Doc, dass seine Tage lieb waren? Sie waren kurzweilig, weil sie vielfach gegliedert waren. Frühstück, der Fußweg zur Praxis als erster Spaziergang, Sprechstunde, Mittagspause, Sprechstunde, Hausbesuche, Altenheimbesuche, Fußweg nach Hause als zweiter Spaziergang. Seine Frau Lucy war schon lange tot, und nach vergeblichen Liebesmühen kam er allein zurecht: In der Freizeit gab es Freundschaften und Fachlektüre; er hatte sogar eine Katze.
Seine Eltern waren auch nach der Arbeit immer beschäftigt gewesen: Der Garten brauchte sie, die Feuerwehr war Ehrensache, und im Chor sang man zum Lob des Höchsten. Katholiken in der Diaspora in Hamburg, Anfang der Sechzigerjahre, Hardcore-Erziehung. Doc selbst hasste Gartenarbeit, hatte die Jugendfeuerwehr beizeiten verlassen und auch der Kirche den Rücken gedreht.
Hobby, das war ein Ausdruck für Briefmarkensammler aus alten Zeiten. Die schwungvolle Work-Life-Balance klang nicht viel besser. Work war das eine, in seinem Fall die Praxis. Sie sollte sich ins life einschmiegen. Life wie Vogel Greif, wie Sternenschweif, wie wife. Doch es gab kein Weib und kein Kind, keinen Kegel, die Liebe war tot, sein life war steif, es reimte sich nicht.
Wörter konnten ihm den Buckel runterrutschen. Er war kein armes, buckliges Männlein, er und seinesgleichen waren gesuchte Leute.
Freuden der Pflicht. Eng bemessene freie Zeit. Beim Frühstück hatte er gelesen: Die Volkshochschule bot für Männer Whiskey-Kurse an und Grundlagen des Motorsägens. Er sah schon, wie sie in seine Praxis torkelten, stinkend und blutüberströmt. Er sagte sich: Du bist ein heiteres Gemüt. Du ergreifst jeden Vorwand, um deine sonnige Seele zu kitzeln. Er beschwor sich, das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Sein Leben mochte steif sein oder reif, oft überreif und sicherlich begrenzt, aber wenn ein Gedankenblitz ihn amüsierte, lächelte er in sich rein.
Dann breitete ein Schatten seine Flügel aus und flog über ihn hin.
*
Doc war ein Anhänger der Häubchentheorie, die er als kleiner Junge von der Großmutter gehört hatte: Im Teich stand Vogel Storch und spähte. Stakste voran, stach mit dem Schnabel zu, fischte ein Kind aus dem Wasser. Die Teichkinder trugen auf ihren haarlosen kleinen Schädeln Häubchen aus Stoff, die waren dunkel oder hell gefärbt und mehr oder weniger reich bestickt. Kein Mensch hatte sie je gesehen, doch jeder trug seit der Teichzeit sein eigenes Häubchen, war mit einem eigenen Wesen ausgestattet, an dem sich im Grunde nichts ändern ließ. Daher gab es Schattenexistenzen, leuchtende Gemüter und dazwischen allerhand Gemischtes. Der Vogel fischte Menschenwesen aus dem Teich und setzte sie in irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort bei irgendwelchen Leuten ab. Nun ging es los. Man konnte allerhand versuchen und sich öffnen. Man konnte lernen, man konnte Freundschaft und Liebe finden, man konnte zur Decke oder zur Sonne fahren. Man kämpfte gegen Widerstände und fand Beistand, man erlebte Überraschungen und wurde überhaupt nicht fertig mit der Welt, aber das Häubchen saß fest. Da halfen kein Gewese und Getue. So viel zur Freiheit.
Die Welt war eine Kugel. Die Erde bestand aus Schichten. Überall lagen menschliche Überreste aus allen Zeiten. Archäologen knieten in der Erde und pinselten Staub. Manchmal fanden sie auf den Totenschädeln Fetzen von Stoff, deren Herkunft kein Wissenschaftler erklären konnte. Die Häubchentheorie war unbewiesen. Doc nannte sie als Schüler einen Aberglauben, aber sie holte ihn im weiteren Verlauf des Lebens immer wieder ein. Er war kein Fan von ihr, doch er kam auch nicht von ihr los.
*
Sein Tag begann mit Ritualen: Nach dem Rasieren wünschte er seinem Spiegelbild einen guten Tag. Er rührte einen Löffel Leinsamen in den Joghurt und aß danach ein Schwarzbrot mit Quark, exakt in sechs Stückchen geschnitten: Schon gab es eine Struktur. Jeden Tag trug er der Katze auf, lass keine fremden Männer ein. Und jeden Tag fürchtete er sich vor der Nacht.
In der Praxis drängte er sich am kundenumlagerten Tresen vorbei, sah im Spiegel sein altes Gesicht und hörte das alte Lied: GemeinschaftspraxisDoktorUlrikeBaumgartenundDoktorHermannDikmeinNameistChristineOhlersonwaskannichfürSietun.
Christine Ohlerson hatte vier Augen, vier Ohren, sechs Arme und Flügel. Sie konnte besser Blut abnehmen als Doc und Ulrike. Aber sie mochte keine vollbesetzten Wartezimmer: Wenn beide Ärzte schon hofften, die Luft sei rein, sahen sie die Patienten im Labor und im EKG-Raum schmoren. Christine stellte das lästige Telefon zehn Minuten vor Schließung der Sprechstunde ab und den Anrufbeantworter an. Sie trug seit ihrer Brustkrebs-Operation ein Tattoo auf dem Arm: Cthulhu war ein interstellares Wesen, das keinem Naturgesetz unterlag. Es hatte einen humanoiden Körper und Tentakel auf dem Kopf. Christine trug diese finstere Gottheit als Beistand gegen den Krebs, denn Gift wird mit Gift bekämpft. Sie schwärmte für Sci-Fi und Horror. Wenn sie von mythischen alten Welten, wahnsinnigen Wissenschaftlern und zeitreisenden Gehirnen sprach, besah Ulrike Baumgarten sich ihre Fingernägel.
Wieder hatte die neue Azubi vergessen, das Ultraschallgerät anzustellen; so kam auch heute der erste Stau von Patienten zustande. Hatice sprach fließend Deutsch und Spanisch; sie übersetzte auch Türkisch, wenn die Ärzte nur Bahnhof verstanden. Kafan patliyor, warte, ich weiß: Mein Kopf explodiert. Herr Yildirim hat Migräne.
Doc trug bei der Arbeit schon lange keinen weißen Kittel mehr und hatte sich auch das Stethoskop um den Hals abgewöhnt. Sein Schreibtisch war penibel aufgeräumt, die wenigen Gegenstände lagen in Reihe und Glied. In seinem blauen Heft aber herrschte das Chaos: hingeschmierte Notizen, holprige Verse, wilde Kritzeleien. Dafür nie ein Fussel an der Kleidung und die Brille immer frisch geputzt.
Das blaue Heft
Der Hinker aus Hamburg ist frohen Mutes,
er will im Gemüte immer nur Gutes.
Doch dann jagt sein Herz,
er fühlt großen Schmerz.
Er schlägt seine Frau, er schlägt seinen Hund,
er schlägt sich den eigenen Schädel wund.
*
Die alte Frau Glüsing war Stammgast in seiner Praxis. Sie trug den Sonntagsstaat, den es längst nicht mehr gab; sie trug den Arztbesuchsstaat: scharf gebügelte Bluse, ehrbare Brosche, Hose mit praktischem Dehnbund für die Senioren. Sie nahm auf der Stuhlkante Platz. Er fragte, wie geht es Ihnen? Sie fand, ihr Terrier gab Grund zur Sorge: Schagan war immer wild auf Wurst, jetzt macht er lange Zähne. Vielleicht liegt es am Alter. Sein Bauch ist manchmal hart, obwohl mit der Verdauung alles stimmt; er frisst auch die Möhren, die ich ihm in sein Futter menge, aber der Bauch macht mir Sorgen. Andererseits, Schagan benimmt sich auf der Hundewiese so gesellig wie sonst auch: Er zeigt Interesse an den anderen und läuft mit ihnen nach Stöckchen. Nur den Dobermann kann er nicht riechen, da macht er sich schleunigst davon.
Frau Glüsing setzte sich bequem zurecht. Doc schob die leidige Frage so lang wie möglich auf, doch schließlich unterbrach er: Jetzt zu Ihnen; wie geht es Ihnen?
*
Er saß abends zu Haus im Wohnzimmer, die Beine hochgelegt, und sah an den Gardinen auf und ab. Die Nackenwirbel knirschten. Frau Glüsing glich seiner Mutter; auch sie zerfranste mit den Jahren wie ein mürbes, altes Gewebe: Wenn er die Mutter fragte, wie geht’s, ließ sie verlässlich einen Schwall von Nachbarschaftsgeschichten los. Es brauchte Zeit, bis er verstand: Der Tratsch war ihre Art, sich auszudrücken und ihm zu zeigen, was sie bewegte.
Früher, noch in seiner Schulzeit, war sie ein Panzer gewesen; sie walzte direkt auf ihn zu und feuerte los: Du schlägst mir auf den Magen! Was gehen dich Atomkraftwerke an? Ich will sie nicht in meiner Küche, halt den Mund! Wenn du es gerne sauber hast, dann räum dein Zimmer auf!
Der Klatsch der alten Mutter über ihre Nachbarn klang verständnisvoll und milde: Herr Schulze, den musst du noch kennen, seine Frau hat mit mir im Chor gesungen, er wohnte gleich gegenüber vom Bäcker, also wo der früher war; der Schulze ist mitten im Gottesdienst aus der Kirche gestolpert; der Pastor sagt, er hat einen Darmkrebs. Schulze ist erst unlängst umgezogen, gleich vier Straßen weiter der schicke Neubau mit allen Schikanen, was hat er jetzt noch davon? Ein Neubau ist auch nicht das Gelbe vom Ei. Der Aufzug streikt, sagte der Pastor, er musste drei Stockwerke hochkrauchen, als er den Schulze besuchte.
Die Mutter war als Demente versteinert. Vorher breitete sie schwatzhaft ihren Krimskrams vor ihm aus und führte ihren Kaufmannsladen vor, ein gut sortierter Laden mit sehr schönen Funkelsteinen in den Schubladen. Sie war ein reicher Kaufherr aus dem Orient in ausgelatschten Pantoffeln. Eine morgenländische Mutter, eine Frühmorgenfrohnatur, die nie verstanden hatte, dass es auch Nachteulen gab. In den Schulferien platzte sie in sein Zimmer, riss die Vorhänge auf und sagte: Hier ist ein neues Unterhemd, dein altes habe ich weggeworfen. Du meinst vielleicht, man sieht es nicht, aber wenn du im Krankenhaus liegst, wundern sich die Schwestern, und es fällt auf mich zurück.
Seine Mutter war nach Lucy gestorben, aber noch vor Corona. Er hatte das Jahr ihres Todes vergessen. Die Mutter hatte sich mit Lucy gut verstanden.
Es gab die allgemeine Zeitrechnung und die persönliche.
Vor Lucys Tod, nach Lucys Tod.
Jedes Wort verlor den Sinn, wenn man es endlos wiederholte.
Die Katze strich durchs Zimmer. Sie machte einen Buckel und streckte sich. Mit der Vorderpfote wusch sie das Gesicht, sie kratzte mit dem Hinterbein das Ohr. Sie war die Beschützerin des Hauses, hütete das Feuer. Sie hatte neun Leben. Doc wusste nicht mehr, waren es neun Leben oder sieben? Lucy hatte sie nach der ägyptischen Göttin Bastet benannt, doch kein Mensch wusste, ob sie diesen Namen akzeptierte. Sie bewegte sich wie die erste und einzige Katze des Universums. Sie sprang Doc auf den Schoß.
Er drehte den Kopf von links nach rechts und wieder zurück und hörte es knacken. Gelenkverschleiß und Knorpelabrieb. Neben ihm stand das Kissen mit einem exakt geschlagenen Knick in der Mitte. Die Putzfrau hinterließ es immer so, als wollte sie beweisen, dass sie da gewesen war. Er nahm es und stopfte es in den Nacken.
Später