Frostmond: Kriminalroman
Von Frauke Buchholz
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Über dieses E-Book
Seit Jahren verschwinden junge Frauen indigener Herkunft spurlos entlang des Transcanada-Highways. Für die Polizei scheinen diese Verbrechen keine Priorität zu haben. Doch als die 15-jährige Jeanette Maskisin in Montreal tot aufgefunden wird und die Medien darüber groß berichten, werden die Ermittler LeRoux und Garner auf den Fall angesetzt. Ihre erste Anlaufstelle ist ein Cree-Reservat im hohen Norden Quebecs, aus dem Jeanette stammt. Dort stoßen die Polizisten auf Ablehnung, denn aus Sicht der First-Nation-Familien hat sich die Polizei nie für die vermissten Frauen interessiert. Die Ermittler kommen immer mehr in Bedrängnis, denn es werden weitere Opfer befürchtet und auch der Täter wird zur Zielscheibe - jemand hat blutige Rache geschworen.
Frauke Buchholz
Frauke Buchholz studierte Anglistik und Romanistik und promovierte über zeitgenössische indianische Literatur. Sie liebt das Reisen und fremde Kulturen, hat viele Indianerreservate in Kanada und den USA besucht und einige Zeit in einem Cree-Reservat verbracht. Heute lebt sie in Aachen. Bei Pendragon bereits erschienen: »Frostmond« (2021) und »Blutrodeo« (2022).
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Frostmond - Frauke Buchholz
Jean-Baptiste LeRoux
15. Oktober
Das Klingeln drang wie durch Watte an sein Ohr. Es war schrill und durchdringend, ein altmodisches amerikanisches Telefonklingeln, und es dauerte lange, bis er begriff, dass es sein eigenes Handy war. Er öffnete vorsichtig die Augen und erschrak. Der riesige Spiegel an der Decke reflektierte seinen nackten Körper mit dem zerknautschten Gesicht und das zerwühlte Bett. Von Céline sah er nur das linke Bein und einen Teil der linken Brust. Was ihn in der Nacht erregt hatte, warf im trüben Licht des Morgens Fragen auf: Wer und was hatte sich hier schon alles gespiegelt? Er spürte ihren warmen Körper neben sich und hatte eine leichte Erektion. Er beugte sich über sie und leckte über ihre Brustwarze. Sie seufzte im Halbschlaf und drehte sich zur Seite.
Er blinzelte gegen die Helligkeit an und fluchte. Merde! Das Klingeln hörte nicht auf. Sein Kopf schmerzte. Als er dranging, meldete sich Bruno.
„Wo steckst du? Du musst sofort kommen. Unten am Urban Beach ist eine Leiche gefunden worden."
Er murmelte etwas, ließ sich die genaue Stelle beschreiben, drückte Bruno weg und zündete eine Zigarette an. Merde, merde, merde. Er scheuchte Flaubert, Célines fetten Perserkater, der sich am Fußende zusammengerollt hatte, aus dem Bett und empfand Genugtuung, als dieser die bösen grünen Augen zu Schlitzen verengte, die Nackenhaare sträubte und ihn anfauchte. Er hasste Katzen. Das Zimmer sah aus wie ein Bordell. Leere Gläser und Flaschen, überquellende Aschenbecher, Strümpfe, Schuhe, Célines Slip und BH, verstreute Kleidungsstücke. Es war heiß hergegangen. Er hatte einen Mordskater. Hoffentlich hatte Bruno nicht bei ihm zu Hause angerufen. Er hatte Sophie gesagt, dass er eine nächtliche Ermittlung durchführen müsste, ein Mordfall im Clubmilieu, blablabla. Sophies Blick war kalt gewesen. Er musste die Sache in den Griff bekommen. Nicht die Sache, sondern seinen Schwanz. Es war Zeit, das Ganze zu beenden. Bevor es aus dem Ruder lief.
Er suchte seine Kleidungsstücke zusammen und zog sich an. Das Hemd war zerknittert und roch nach Schweiß. Er ging ins Bad, pinkelte, warf die Zigarettenkippe ins Klo, spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht und strich die Haare glatt. Er sah aus wie ein Penner. Es war Montagmorgen, 9:23 Uhr. Er hätte vor einer knappen Stunde im Büro sein müssen. Scheiß drauf, dachte er. Er hätte dringend einen Kaffee und eine Dusche gebraucht, aber das musste er sich verkneifen. Céline war anscheinend wieder eingeschlafen, und er zog leise die Tür hinter sich zu.
Sein Auto stand unten vor dem Haus. Die Luft war kühl und ihm schwindelte ein wenig. Er hatte noch ordentlich Restalkohol im Blut, doch falls ihn jemand anhielt, würde sein Ausweis ihn retten. Jean-Baptiste LeRoux. Sergeant. Sûreté du Québec. Eine Krähe hackte der anderen kein Auge aus.
Der Urban Beach lag in der Nähe des Jacques Cartier Pier, keine 13 Kilometer von hier, doch der Verkehr in der City war dicht und er kam nur langsam voran. Er zündete noch eine Zigarette an und kurbelte die Scheibe herunter. Er hätte Céline einen Zettel schreiben sollen. „Danke für alles. Mach’s gut." Vielleicht würde er sie anrufen. Sie würde ihm die Augen auskratzen. Er hasste Szenen.
Der St. Lawrence führte Hochwasser. Die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten den Strom anschwellen lassen und die Schiffe im Vieux Port schaukelten im Wellengang. Die Uhr am Tour de l’Horloge zeigte 10:13 Uhr. Was für eine Scheißzeit für eine Leiche. Hoffentlich war Morel nicht vor Ort. Bruno war ganz okay. Der Urban Beach, an dem sich im Sommer die Touristen tummelten, lag verlassen da, die bunten Deckchairs und Sonnenschirme waren verschwunden, der künstlich aufgeschüttete Sand grau und feucht. Am Straßenrand stand ein Polizeiwagen mit Blaulicht, daneben ein Krankenwagen. Er parkte vor dem Absperrband, das irgendjemand bereits befestigt hatte. Es flatterte leise im Wind. Ein Gefühl von Trostlosigkeit überfiel ihn. Er hoffte, dass es nicht allzu schlimm werden würde. Bruno hatte ihn bereits erspäht und winkte wie ein Irrer. Neben ihm hantierten zwei Typen in weißen Plastikanzügen. SpuSi-Leute. Jemand machte Fotos. Auf einem Klappstuhl saß ein junger Mann, der in Decken eingewickelt war. Ein Sanitäter reichte ihm eine Tasse Tee, doch seine Hände zitterten so stark, dass er die Hälfte verschüttete.
„Ah, Jean-Baptiste. Ça va?"
Die Lamartine. Zuckersüße Stimme. Einladendes Lächeln. Harter Blick. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. Küsschen links, Küsschen rechts. Teures Parfum, wahrscheinlich Chanel. War mindestens 50, die alte Schachtel.
Staatlich geprüfte Leichenfledderin. Machte ihm jedes Mal schöne Augen. Ekelhaft. Morel war nicht in Sicht.
„Bonjour, LeRoux! Ausgeschlafen? Bruno grinste breit. „Hoffentlich hast du gut gefrühstückt. Wir haben eine angeschwemmte Pocahontas. Schön durchweicht.
Wenn Bruno blöde Witze riss, würde es schlimm sein. In letzter Zeit hasste LeRoux seinen Job. Die Leiche lag auf einer schwarzen Plastikfolie. Sie sah aus wie aus einem Zombie-Film. Es war eine Frau. Wahrscheinlich Indianerin. Viel mehr konnte man nicht erkennen. Lange schwarze Haare, die wie krautige Algen ein grotesk aufgedunsenes Gesicht umrahmten. Die Augen waren von Vögeln ausgepickt worden, sodass man nur die Höhlen sah. Der Kieferknochen der linken Wange lag frei, die obere Zahnreihe grinste ihn an wie bei einem Skelett. Sie trug einen Minirock, Stiefeletten und ein Shirt. Die Kleidung war zerfetzt, die Haut verschrumpelt wie eine faulige Apfelsine, Arme und Beine so aufgequollen, dass man die Gelenke nicht mehr erkennen konnte. Sie stank nach verwestem Fisch.
Die Übelkeit überwältigte ihn und ein Kotzeschwall schoss in einer bröckeligen bräunlichen Flut über seine Jacke und Lamartines Lederpumps.
„Mon Dieu!" Die Lamartine sprang zur Seite, zog ein Taschentuch hervor und wischte an ihren Schuhen herum. Während er versuchte, seine Jacke ein wenig zu säubern, entschuldigte er sich bei ihr.
„Hätte gar nicht gedacht, dass Sie so zart besaitet sind, Jean-Baptiste. Ich glaube, Sie schulden mir einen Kaffee. Wenn nicht mehr." Sie lächelte vielsagend.
Er musste aufstoßen. Außerdem hatte er einen Höllendurst. „Wir sind fertig", sagte einer der beiden Typen von der SpuSi.
„Dann bringt die Kleine mal ins Bettchen. Ziemlich frisch hier draußen. Erkältet sich sonst." Bruno wieherte wie ein Pferd. Er hasste Brunos Witze. Der Fotograf packte sein Stativ zusammen.
„Können Sie schon etwas sagen, Bernadette?" LeRoux sah der Lamartine in die Augen und bemühte sich, geschäftsmäßig zu klingen.
„Todeszeitpunkt? Todesursache?"
„Geben Sie mir etwas Zeit, Jean-Baptiste, flötete sie. „Wenn Sie morgen ins Labor kommen, weiß ich sicherlich schon mehr.
Das klang wie ein erotisches Versprechen. Er kramte die Schachtel Zigaretten aus der Jackentasche und zündete sich eine an.
„Meinen Sie, es war ein Unfall?, fragte er. „Nein
, sagte sie. „Mit Sicherheit nicht."
Sie zeigte mit der Schuhspitze auf den offenen Kieferknochen. Er musste sich zwingen hinzuschauen. „Sehen Sie den kleinen dunklen Fleck an der Schläfe?"
Er nickte und spürte wieder ein Würgen im Hals.
„Das ist eine Einschussstelle. Ich muss die Haare abrasieren und den Schädel aufsägen. Wenn wir Glück haben, steckt die Kugel noch im Kopf."
„Okay", sagte er und wandte sich zur Seite. Diesmal kam nur grünlicher Schleim.
Die SpuSi-Leute wickelten die Leiche in die Plastikfolie, hoben sie in einen Zinksarg und trugen sie zu ihrem Wagen. Auch die Lamartine setzte Segel. Er wischte die Mundwinkel ab und nahm einen tiefen Atemzug. Ihm war noch immer übel. Das Wasser des St. Lawrence roch faulig. Herbstlaub hatte sich unter dem Holzsteg gesammelt und moderte vor sich hin. Er warf die nur halb gerauchte Zigarette ins Wasser. Bruno hatte den Studenten, der die Leiche entdeckt hatte, bereits interviewt und seine Personalien aufgenommen. Bekifft, aber ansonsten ein unbeschriebenes Blatt. Hatte brav die Polizei gerufen. Stand noch unter Schock. Die Sanitäter würden sich um ihn kümmern.
Jean-Baptiste fror. Er gab Bruno das Zeichen zum Aufbruch. Wenn er nicht bald einen Kaffee bekam, würde er sterben. Er beschloss, sein Auto besser hier stehen zu lassen und mit dem Polizeiwagen ins Büro zu fahren. Es war noch keine 11:00 Uhr. Was für ein beschissener Tag.
„Wo warst du eigentlich heute Morgen? Sophie meinte, du würdest Nachtschicht machen."
Bruno grinste schief. Scheiße. Also hatte er bei ihm zu Hause angerufen.
„Hab ich auch", sagte er. Bruno grinste noch breiter.
„Standst aber nicht auf dem Einsatzplan, sagte er. „War bestimmt undercover.
„Genau", sagte er und schoss Bruno seinen Don’t-fuck-with-me-Blick zu. Es wirkte. Bruno runzelte die Stirn und schwieg den Rest der Fahrt.
Der große graue Kasten der Sûreté du Québec in der Rue de Parthenais trug nichts dazu bei, seine Stimmung zu heben. Das Morddezernat lag in der fünften Etage. Im Aufzug spürte er wieder das flaue Gefühl im Magen. Er würde Marie bitten, ihm einen Kaffee zu machen und ein Sandwich zu kaufen. Bevor die Lamartine fertig war, konnten sie eh nicht viel machen. Protokoll anfertigen, Vermisstenanzeigen sichten, den üblichen Papierkram erledigen. Er würde früh Feierabend machen und dann ab nach Hause, duschen und ins Bett. Er wollte lieber nicht an Sophie denken. Bloß keine Szene heute. Doch kaum waren sie im Büro, tauchte Morel auf. Er blickte ihn an wie ein verfetteter Basset-Hound, der Witterung aufnimmt.
„Sind Sie krank, LeRoux?"
Typisch Morel, dem Alten entging nichts. „Magenverstimmung, sagte er. „Nicht so wild.
Schon wieder Brunos dämliches Grinsen. Die trägen Augen des Alten durchdrangen ihn wie Röntgenstrahlen. Gleichgültig. Gnadenlos.
„Waren Sie deshalb nicht im Büro, als die Meldung kam?" LeRoux nickte.
„Rufen Sie gefälligst an, wenn Sie krank sind, sagte Morel. „Oder später kommen.
Morel war ein Pedant. „Okay", sagte LeRoux.
Er fühlte sich wie ein gescholtener Pennäler. Er stank nach Kotze und Schweiß. Er brauchte einen Kaffee.
„Kommen Sie mit in mein Büro. Ich brauche ein genaues Briefing."
Bruno und er folgten dem Alten. Scheißtage sind Scheißtage. Und sie sind endlos. Morel löcherte sie mit Fragen. LeRoux überließ die Antworten Bruno und konzentrierte sich darauf, nicht einzunicken.
„Eine Indianerin? Sind Sie sicher?"
Morels Stirnfalten waren noch tiefer als gewöhnlich.
„Wie alt?"
„Schwer zu sagen, sagte Bruno. „Der Kleidung nach eher jung.
„Kennen Sie schon die Todesursache?", fragte Morel.
„Wahrscheinlich erschossen."
„Gibt es eine Vermisstenanzeige?"
„Keine Ahnung."
„Wer macht die Obduktion?"
„Docteur Lamartine."
Morel schwieg. LeRoux unterdrückte ein Gähnen.
„Morgen wissen wir mehr", fügte Bruno beschwichtigend hinzu. LeRoux hoffte, dass sie jetzt endlich gehen konnten, doch Morel hüllte sich weiter in brütendes Schweigen. Die Zeit schien stillzustehen. Wenn er nicht sofort einen Kaffee bekäme, würde sein Schädel platzen. Endlich hob Morel den Blick und sah sie aus traurigen Hundeaugen an.
„Sie kennen die Fälle verschwundener Indianerinnen entlang des Transcanada-Highways?"
Bruno und Jean-Baptiste nickten.
„18 Frauen spurlos verschwunden in den letzten fünf Jahren, 17 davon indianischer Herkunft. Und kein einziger Fall aufgeklärt." Morels Augen sahen jetzt vorwurfsvoll aus.
„Interessenverbände der First Nations nennen einen Abschnitt des Highways bereits ‚Highway of Tears‘ und werfen den Behörden schlampige Ermittlungen vor."
LeRoux verstand nicht, was das mit ihnen zu tun haben sollte. Soweit er wusste, waren alle Fälle im Westen passiert. Angloland. Royal Canadian Mounted Police-Gebiet. Er war weiß Gott kein Anhänger der Separatisten, doch Québec war anders. Friedlicher. Kultivierter. Keine Roughnecks, keine Cowboys.
„Es gab auch zwei Fälle in Ontario, fuhr Morel fort. „Einen in Deep River und einen in der Nähe von Sault Ste. Marie. Und jetzt eine tote Indianerin hier bei uns.
Seine Stimme klang aufgekratzt und er hatte Schweißränder unter den Achseln. Obwohl sein Kopf nur auf zwei Zylindern arbeitete, dachte LeRoux, dass es viel zu früh für voreilige Schlüsse war, doch er hatte keine Lust, sich mit Morel anzulegen. Schon gar nicht heute.
„Der CNG, die nationale Regierung der Cree in Nemaska, macht ordentlich Druck, sagte Morel. „Wenn wir Pech haben, wird uns der Grand Chief persönlich auf die Zehen treten. Von der linken Presse ganz zu schweigen. Und die Royal Canadian Mounted Police wünscht ausdrücklich eine stärkere Zusammenarbeit mit der Sûreté du Québec.
LeRoux stöhnte innerlich. Es gab nichts Schlimmeres als Kompetenzgerangel.
„Sagen Sie sofort Bescheid, wenn der Obduktionsbericht da ist, sagte Morel. „Und erscheinen Sie morgen pünktlich zum Dienst, LeRoux.
Arschloch, dachte Jean-Baptiste. Er schaute auf die Uhr.
12:23 Uhr. Zeit für die Mittagspause. Gott sei Dank. Sein Handy beepte. Zwei neue Nachrichten.
Wo steckst du? Sophie.
Bis bald? Céline.
Ted Garner
21. Oktober
„Jesus Christ", fluchte Ted Garner und trat scharf auf die Bremse. Der silberfarbene BMW schlitterte und kam dann zum Stillstand. Ted war wie immer mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, auf dem einsamen Highway 17 und einer Gesamtstrecke von knapp 3000 Kilometern war es einfach lächerlich, sich an das Speedlimit von 80 km / h zu halten. Ted war in Eile. Wenn alles nach Plan ging, könnte er vor Mitternacht in Montreal sein. Fuck. Dieses Scheißgesetz, das jeden Autofahrer in Kanada verpflichtete, bei einer Panne oder einem Unfall anzuhalten und Hilfe zu leisten. Ted stieg aus und ging zurück zu dem Wagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite halb im Graben lag. Es war ein uralter, zerbeulter Dodge mit abgefahrenen Reifen und einem Nummernschild aus Ontario. An der hinteren Ladefläche war ein Aufkleber mit dem Schriftzug nehiyawake und zwei Federn. Ted beugte sich zu der Fahrertür hinunter und klopfte gegen die Scheibe. Am Steuer saß ein junger Mann, der wie weggetreten vor sich hinstarrte. Dunkelhaarig. Langhaarig. Ungepflegt. Wahrscheinlich Indianer.
Wahrscheinlich betrunken. Oder stoned. Ted stöhnte innerlich.
„Alles okay, Chief?", fragte er, während er die Tür öffnete.
„Ich bin kein Chief ", sagte der Bursche.
Er war höchstens 18, und als er seine schwarzen Augen auf ihn heftete, fühlte Ted eine vage Bedrohung. Bestimmt hatte der Kerl eine Waffe, Rothäute hatten immer eine Waffe, eine Jagdflinte, einen Revolver, auf jeden Fall ein Messer. Sie hatten ja ganzjährig Jagdrechte. Ted spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Er war selbst ein leidenschaftlicher Jäger, doch er musste seine Jagdlizenz jedes Jahr für teuer Geld erneuern lassen und sich natürlich an die Schonzeiten für das Wild halten, während die Rothäute …
„Der Motor streikt. Können Sie mich abschleppen?", fragte der Indianer.
Natürlich konnte er, er hatte ein Abschleppseil im Kofferraum, wie es sich gehörte, und der nagelneue BMW, den er noch ein paar Jährchen würde abstottern müssen, hatte schließlich ordentlich PS.
„Wie weit?"
„Whitefish", sagte der Indianer.
Ted hatte keine Ahnung, wie weit das war, doch er sagte okay. Der Indianer stieg aus. Klein, schmächtig, abgetragene Blue Jeans, Cowboystiefel, kariertes Holzfällerhemd. Etwas pockennarbige Gesichtshaut, stumpfer Ausdruck. Keine Waffe. Zumindest keine, die er sehen konnte. Ted wendete seinen Wagen und stellte ihn an den Straßenrand direkt vor den Dodge. Er holte das Abschleppseil aus dem Kofferraum, und schweigend machten sie sich daran, den Dodge zu vertäuen.
„Schönes Auto, sagte der Indianer. „Kostet bestimmt ’ne Stange Geld.
Ted brummte etwas. Steuern zahlten die Rothäute auch nicht. Wenn sie überhaupt jemals einen Job hatten.
„Sind Sie allein unterwegs?" Der Bursche war ja richtig gesprächig.
„Nee, meine Oma liegt im Kofferraum", sagte Ted.
Der Indianer lachte. Er hatte schiefe Zähne und eine Zahnlücke im Oberkiefer. Sollte besser nicht den Mund aufreißen. Hoffentlich schaffte er es, den Dodge einigermaßen sicher zu lenken, ohne ihm hinten drauf zu fahren.
„Nett, dass Sie mir helfen", sagte der Indianer.
„Schon okay", sagte Ted.
„Macht nicht jeder. Manche haben Vorurteile", sagte der Indianer.
„Tatsächlich?", sagte Ted. Er war überzeugt, dass es kein einziges Vorurteil gab, das nicht zu 90 Prozent stimmte. Wenn nicht 100.
„Sind Sie aus Saskatchewan?", fragte der Indianer.
„Yep", sagte Ted. Stand schließlich auf dem Nummernschild des BMW.
„Aus Regina?"
„Nein", log Ted. Zum Glück waren sie fertig, sonst würde der Indsman ihm noch Löcher in den Bauch fragen. Ging niemanden was an, woher er kam und wohin er wollte. Er stieg in den BMW, der Indianer setzte sich ans Steuer des Dodge, Ted gab Gas und mit einem Ruck, bei dem er fast auf den Kofferraum des BMW geknallt wäre, landete der Dodge auf der Straße. Ted fuhr langsam den Highway entlang, den Indianer im Schlepptau. Hin und wieder schaute er in den Rückspiegel. Er hoffte, dass der Indsman keine Mätzchen machen würde.
Vorsichtshalber hatte er seinen Revolver aus dem Handschuhfach geholt, entsichert und griffbereit neben sich. Whitefish 27 Kilometer, zeigte das GPS an. Gott sei Dank. Wenn er ordentlich auf die Tube drücken und auf eine Pause verzichten würde, könnte er die verlorene Zeit wieder aufholen. Während er auf dem Highway dahinzockelte, dachte Ted an das tote Indianermädchen. Er versuchte, das Bild wegzudrängen, doch das entstellte Gesicht mit den leeren Augenhöhlen, der geschundene, aufgedunsene Körper und das verfilzte schwarze Haar verfolgten ihn wie ein böser Geist. Seit er die offene Prärie Saskatchewans und Manitobas hinter sich gelassen hatte, säumte ein undurchdringlicher Föhrenwald den Transcanada-Highway. Der Himmel war grau und verhangen, ein leichter Schneeregen hatte eingesetzt, und obgleich es erst früher Nachmittag war, lauerte bereits die Dunkelheit der Spätherbstnächte in dem dichten Gehölz. Das schmale Asphaltband war das einzige Bindeglied zur Zivilisation. Seit er auf den Indianer gestoßen war, war ihnen kein einziges Auto begegnet. Ted schaute wieder in den Rückspiegel. Alles ruhig. Das Ortseingangsschild Whitefish war zerbeult und hatte mehrere Einschusslöcher. Es war eins dieser gottverlassenen Nester, die aus einem Supermarkt, einer Tankstelle, einem Waschsalon und einem Burger-Restaurant bestanden. Ted bremste vor der Tankstelle, die auch eine Mini-Werkstatt zu sein schien, und stieg aus. Der Indianer kletterte aus dem Dodge, Ted löste das Abschleppseil, warf es in den Kofferraum, stieg wortlos wieder ein und preschte los. Aus den Augenwinkeln sah er den Indianer, der ihm hinterherstarrte. Er hatte seine Pflicht getan. Good-bye, Whitefish. Das Fleisch des Indianermädchens hatte ausgesehen wie kranker weißer Fisch. Um sich abzulenken, legte Ted eine CD ein. Französisch für Anfänger mit Vorkenntnissen. Bonjour, je m’appelle Marie-Christine.
Comment allez-vous? Vous êtes d’ici? Ted versuchte, die Dialoge mitzusprechen, doch er hatte das Gefühl, sich dabei die Zunge zu verrenken. Sein Schulfranzösisch lag seit über 20 Jahren brach. Marie-Christine hatte eine sexy Stimme. Voulez-vous coucher avec moi?
Ted grinste. Das hatte er behalten. Stammte aber nicht aus dem Unterricht. Er war gespannt, wie es ihm bei den Froschfressern ergehen würde.
Er hatte Patty und den Kindern gesagt, dass er in spätestens zwei Wochen zurück wäre. Dieser Scheißwald nahm einfach kein Ende. Ted hatte Hunger. Vielleicht hätte er in dem Kaff doch einen Burger essen sollen. Er beschloss, in North Bay eine kurze Rast einzulegen. Danach würde er dem Ottawa River folgen, weiter und weiter durch endlose Wälder, bis der Strom sich in Montreal in den St. Lawrence ergoss. Jenseits des Flusses lag die Wildnis Québecs, eine