Jägerin der Schattenwesen: Das Erwachen
Von Kerstin Panthel
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Über dieses E-Book
"Und doch bin ich zu einem Teil all das, was in den Genen deiner Familie seit Jahrhunderten eure Fähigkeiten hervorgerufen hat. So wie jetzt bei dir, nicht wahr? Du spürst es ..."
Phoebe Forester ist 19, als sie Dorian Pollos kennenlernt. Was sie nicht weiß: Er und seine Schwester Germaine sind die Letzten einer vermutlich uralten Blutlinie – einer Vampirlinie, deren letzte Jägerin sie ist. Noch schlummern ihre Fähigkeiten irgendwo tief in ihr. Doch einmal erwacht würden sie sie in die Lage versetzen, Vampire wie ihn zu töten – eine Aufgabe, an die schon zahllose Generationen vor ihr unausweichlich gebunden waren.
Unterzeichnet Dorian sein eigenes Todesurteil, indem er als erster Vampir nicht nur Phoebes Nähe sucht, sondern ihr nach und nach sogar ihre Begabungen eröffnet?
Und wie wird Phoebes Grandpa Franklin reagieren? Er ist der Eingeweihte ihrer Linie und seine Aufgabe ist es, die Jägerin zu instruieren!
Kerstin Panthel
Kerstin Panthel wurde 1964 im Westerwald geboren, wo sie bis heute lebt. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und als staatlich anerkannte Erzieherin in einer Tagesstätteneinrichtung tätig; ihre Freizeit wird fast ausschließlich durch die Schriftstellerei ausgefüllt. Als überzeugter Selfpublisherin gehört u. a. auch das Gestalten ihrer Buchcover zu ihren Aufgaben - etwas, dem sie begeistert nachkommt! Lesen ist ebenfalls und schon seit ihrer Kindheit eines ihrer größten Hobbys, die Bandbreite ihrer Lektüre erstreckt sich über die verschiedensten Genres. Schreiben allerdings ist zu einer inzwischen unverzichtbaren Leidenschaft geworden. Unter ihrem bürgerlichen Namen erschienen bereits etliche Fantasy-Bücher, die nach Vampiren und Vampirjägern auch Phönixe und Drachen sowie, zuletzt, eine Hexe als Handlungsträger beinhalteten. Mit dem vorliegenden Band führt sie eine weitere Buchreihe fort. Unter ihrem Pseudonym Mary E. Marten veröffentlichte die Autorin bislang mit "Sherea - Das gestern der Steine" und "Shereata - Das Gestern der Ahnen" die Steinkreis-Dilogie - Belletristik, die sich ausschließlich an Erwachsene bzw. "Beinahe-Erwachsene" wendet.
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Buchvorschau
Jägerin der Schattenwesen - Kerstin Panthel
Handlung, Namen und Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden;
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Handlungen
sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
Meiner Tochter Anna-Lena…
…ganz einfach dafür, dass du so bist wie du bist!
„SOLANGE ES DIE SCHATTENWESEN GIBT,
SOLANGE WIRD ES DIE SCHATTENJÄGER GEBEN.
SIE SIND ES, DIE DIE MENSCHEN VOR IHREM
TÖDLICHSTEN, GRAUSAMSTEN UND GLEICHZEITIG
UNBEKANNTEN FEIND SCHÜTZEN.
UND EBENSO LANGE WERDEN
DIE EINGEWEIHTEN, DIE WISSENSTRÄGER,
VON GENERATION ZU GENERATION SORGE TRAGEN,
DASS DAS WISSEN UM DIE EXISTENZ DER
SCHATTENWESEN UND SCHATTENJÄGER
NICHT AUS DER WELT VERSCHWINDET.
…
DIE SCHATTENWESEN SIND VON IHRER INNERSTEN
NATUR HER IHREM SELBSTERHALT DERART
AUSGELIEFERT, DASS SIE IHRE INSTINKTE,
UNTERSTÜTZT VON IHREN DEN OPFERN
WEIT ÜBERLEGENEN KRÄFTEN, AUSLEBEN MÜSSEN:
SIE MÜSSEN BLUT TRINKEN, UM ZU ÜBERLEBEN!
…
SCHONUNG IHRES OPFERS, BARMHERZIGKEIT UND
GNADE SIND IHNEN UNBEKANNT!"
Inhaltsverzeichnis
Teil Eins: Fragen
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Teil Zwei: Antworten
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
TEIL EINS
FRAGEN
„JEDER SIEHT, WAS DU SCHEINST.
NUR WENIGE FÜHLEN, WIE DU BIST."
MACHIAVELLI
„WENN IHR UNS STECHT, BLUTEN WIR NICHT?
WENN IHR UNS KITZELT, LACHEN WIR NICHT?
WENN IHR UNS VERGIFTET, STERBEN WIR NICHT? …"
W. SHAKESPEARE, AUS: DER KAUFMANN VON VENEDIG
Prolog
Manche Tage meines Lebens verbrachte ich schon immer in der inneren Gewissheit, dass dies nicht mein Leben sein konnte! Entweder, weil ich mich in bereits tief ausgefahrenen Spuren bewegte, aus denen ich nicht ausbrechen konnte, oder aber weil ich – krasses Gegenteil – mich völlig neben der Spur befand und genau wusste, dass ich fehlgeleitet war. An solchen Tagen erkannte ich deutlich, dass ich besser eine andere Richtung einschlagen sollte – ich wusste nur nicht, wohin. Also beließ ich es jedes Mal einfach dabei, wartete ab und machte weiter. Doch das änderte nichts daran, dass ich mir im Innersten wünschte, etwas ändern zu können.
Nichts ließ darauf schließen, dass es bald einen Auftakt zu einer kompletten Hundertachtziggradwende in meinem Leben geben würde: Kein Trommelwirbel beim Betreten der Küche, keine göttliche Offenbarung, kein Bote mit der Nachricht, dass wir den Jackpot im Lotto gewonnen hätten. Ein normaler Sommertag, normales Frühstück, normale Mom in normaler morgendlicher Hetze. Normale Selbstzweifel – ‚normale’ Phoebe!
Und doch war es der Tag, an dem ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnen sollte.
Kapitel 1
Während meine Mutter hektisch nach ihrem Autoschlüssel suchte, unterdessen erst ihre Bluse in den Rock stopfte, dann ihre schulterlangen Haare zu bändigen versuchte und sich zwischendurch am heißen Kaffee den Mund verbrannte, saß ich in Jogginghose und T-Shirt am Küchentisch und sah ihr kopfschüttelnd zu.
„Mom, deine Schlüssel hängen am Haken neben der Haustür. Ian hat sie gestern dort deponiert; er dachte wohl, dass sie sich dort leichter auffinden lassen würden."
Ian war Moms Lebensgefährte, der auch nach bald einem Jahr noch nicht verstand, dass Autoschlüssel – sofern sie Mom gehörten – am sichersten in der Obstschale oder im Wäschekorb aufgehoben waren, weil sie dort zuallererst danach suchte.
Ich rührte ein wenig lustlos in meinen Cornflakes und schob dann das nur halb geleerte Schälchen von mir.
„Danke, Liebes!" Sie schloss die Haarspange und drehte sich einmal um sich selbst, um mir ihr Bürooutfit zu präsentieren.
„Perfekt!", murmelte ich und fügte in Gedanken hinzu: ‚So wie immer’.
Der Genpool, aus dem ich zusammengesetzt worden war, hatte bei mir aus unerfindlichen Gründen nicht so tief und großzügig wie bei ihr und den meisten meiner Verwandten in die Tasche gegriffen. Während in meiner Familie alle groß, dunkelhaarig und nach gängiger Meinung anziehend bis attraktiv waren, war ich eher unauffällig mit meinen blondgesträhnten Haaren, meinen eher zierlichen Einsachtundfünfzig, der blassen Haut und meiner Schüchternheit. Ich fristete ein durchweg eher stilles und unbemerktes Dasein, mit dem ich jedoch ausgesprochen gut zurechtkam – wenn man mich denn ließ! Denn nur allzu oft versuchte meine Mutter, mich gewaltsam aus meinem Einsiedlerkrebsdasein zu holen. Dann schleifte sie mich mit zum Shoppen oder zum Frisör, kaufte Modezeitschriften, die sie scheinbar absichtslos herumliegen ließ – selbst in meinem Zimmer! Wie unauffällig! – und rang mindestens einmal wöchentlich die Hände, wenn ich mich wieder einmal weigerte, ihren Vorstellungen einer modernen jungen Frau zu entsprechen. Nicht, dass sie es böse meinte. Sie liebte mich innig, aber mit ihrem Temperament und ihrem eher extrovertierten Wesen konnte sie sich schon seit jeher nur schwer damit abfinden, dass ich in allem das genaue Gegenteil von ihr war.
Während sie einen letzten Schluck Kaffee nahm, bevor sie ins Auto steigen und zur Arbeit fahren würde, fuhr ich mit den Fingern durch meine Haare, die sich jedem Versuch, sie zu einer Kurzhaarfrisur stylen zu lassen, erfolgreich widersetzten. Hätten sie wenigstens so gewollt ungebändigt ausgesehen wie bei Meg Ryan in ihrer Kurzhaarzeit! In ‚French Kiss’ hatte sie meiner unmaßgeblichen Meinung nach einfach großartig ausgesehen. Doch meine Haare standen stets eher ein wenig seltsam in alle Richtungen, die gefühlt täglich wechselten, wozu die leichten Naturwellen das Ihre beitrugen. Aber es war praktisch, denn ich sah immer leicht ‚verwirrt‘ aus – so wie ich mir vorkam!
Nachdem Mom ihre Tasche genommen hatte und aufhörte, durch die Küche zu rennen wie ein aufgescheuchtes Huhn, erhob ich mich und leerte mein restliches Frühstück in den Abfluss. Dann warf ich einen Blick aus der Terrassentür zu den umstehenden Bäumen des angrenzenden Waldes. Ich liebte dieses Haus, ich liebte diese Landschaft, ich liebte die Natur und die Veränderungen, die die verschiedenen Jahreszeiten hier auf Nova Scotia mit sich brachten. Nicht, dass ich ein Naturfreak war, der jede freie Minute draußen herumhing und zum Campen ging oder so. Ich konnte das alles aber schon immer bewundernd in mich aufsaugen, ohne dessen jemals müde zu werden. Und ich mied so gut es ging alles, was das Gegenteil darstellte: Großstädte, Menschenrummel, Betriebsamkeit, Hektik.
Mit ihrem „Bis heute Abend!", riss Mom mich aus meinen Gedanken. Sie wollte mir einen Kuss auf die Wange drücken, der jedoch auf halbem Weg in der Luft zerplatzte.
„Ian wird heute wahrscheinlich wieder früher als ich da sein; er ruft an, falls es später wird."
„Mom, ich werde nicht mit Herd und Steckdosen spielen, ich bin erwachsen!", erinnerte ich sie in leiser Verzweiflung, aber sie bekam schon nichts mehr mit.
Erneut schüttelte ich den Kopf. Manchmal war es echt zweifelhaft, dass ich überhaupt mit dieser Frau verwandt war!
Kurz darauf schlug draußen die Wagentür zu und dann sprang der Motor ihres Seat an. Die Reifen quietschten leicht, als sie eilig Gas gab.
Seufzend machte ich mich auf den Weg ins Bad, um unter der Dusche zu überlegen, was heute zuerst erledigt werden sollte. Vorrangig waren wohl alle anstehenden Hausarbeiten. Ich hatte meinen Highschool-Abschluss in der Tasche und seit Kurzem Ferien, weshalb ich bereitwillig alles übernahm, was zu Hause an Arbeit anfiel, um meinen Beitrag zu leisten.
Ich verzog das Gesicht – nicht, weil ich meine Aufgaben hasste. In wenigen Wochen würde ich mein Studium antreten – das war es, was mir Sorge bereitete! Ich war mit viel Glück an einer Universität in Halifax angenommen worden – ein Katzensprung entfernt von hier! – und im Grunde hätte ich mich freuen sollen. Das Problem jedoch war, dass ich eigentlich nicht studieren wollte. Ich wollte … jedenfalls nicht studieren! Fakt war: Ich wusste nicht, was ich wollte. Immer noch nicht!
‚Worauf wartest du nur immerzu? Manchmal scheint es, als ob du permanent neben dir stehst!’, hätte Mom jetzt wieder gesagt.
Und ich hätte ihr – wie immer – keine Erwiderung darauf geben können.
Mit einem Seufzen drehte ich das Wasser ab und angelte nach dem Badetuch. Und natürlich musste es ausgerechnet jetzt an der Haustür läuten. Ein vorsichtiger Blick durch das Badezimmerfenster nach draußen zeigte mir, dass der Wagen eines Paketdienstes mit aufgeschobener Fahrertür auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. Ich würde kaum schnell genug fertig werden und zuckte die Schultern, beeilte mich aber dennoch und rubbelte mich nur notdürftig ab, bevor ich in Unterwäsche, Jeansshorts und T-Shirt schlüpfte. Als ich wieder nach draußen sah, stieg der Paketbote jedoch offenbar gerade wieder in seinen Wagen. Mit der Wäsche unter dem Arm rannte ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter und erkannte durch den Vorhang und das Fenster in der Haustür überrascht, dass wohl doch noch jemand mit einem Paket in der Hand wartend davorstand. Schnell rief ich: „Ich komme!", pfefferte den Wäschestapel auf den Boden vor der Waschmaschine und schlug die Tür hinter mir zu.
Der Ruck, mit dem ich die Haustür aufriss, bevor erneut geklingelt wurde, ließ mich leicht torkeln. Im nächsten Moment hielt ich jedoch den Atem an. Nicht der uniformierte Typ vom Paketservice stand vor mir, sondern einer unserer Nachbarn vom entgegengesetzten Ende der Straße, den ich bisher nur ein paar Mal und allenfalls von Weitem gesehen hatte. Er war, gemeinsam mit einer Frau etwa meines Alters, erst vor ein paar Wochen in ein seit geraumer Zeit leer stehendes Haus gezogen. Ein auffallendes Pärchen, auch wenn ich auf eine genauere Nachfrage hin nicht hätte definieren können, was an ihnen so auffällig war.
Mehr als einen Kopf größer als ich sah er jetzt durch seine dunkel getönte Sonnenbrille mit einem reglosen Gesichtsausdruck auf mich herunter. Sofort überkam mich ein seltsames Gefühl; ich mochte es nicht, wenn ich meinem Gegenüber nicht in die Augen sehen konnte und fand es fast schon unhöflich, dass er seine Brille nicht absetzte.
„Hi! Möchten Sie mir das Paket nur zeigen oder ist es für mich bestimmt?", brachte ich freundlich hervor, als sein Schweigen und Starren mir zu lange dauerten.
„Miss Forester?"
Offenbar konnte er lesen, was auf dem Türschild stand.
„Richtig.", erwiderte ich, was er mit dem leichten Heben einer Augenbraue quittierte.
Erstaunen? Trotz des Namensschildes? Wer hätte sonst die Tür öffnen sollen?
„Der Bote vom Paketservice hat mich gerade auf dem Gehweg vor Ihrem Haus angehalten. Und da er weiß, dass ich ein Nachbar bin, hat er mich gebeten, das hier für Sie entgegenzunehmen. Sie waren offenbar … nicht da. Ich habe unterschrieben – ich hoffe, es ist Ihnen recht."
„Ja…Nein … Ich war … oben und konnte nicht zur Haustür gehen., fuhr ich mit den Fingern durch meine noch feuchten Haare, dann nahm ich das Paket, das an Mom adressiert war, entgegen. „Danke, das war nett von Ihnen.
„Keine Ursache."
Er sah mich für den Bruchteil einer Sekunde noch einmal ‚von oben herab’ an, nickte mir dann kurz zu und drehte sich um, um mit federnden und weit ausgreifenden Schritten zu verschwinden. Ein leichter, angenehmer Rasierwasserduft blieb einen Moment in der Luft stehen, bevor ihn eine Brise verwehte.
Was für ein komischer Kauz! Das seltsame Gefühl verflüchtigte sich und ich sah ihm nach, wie er den Gehweg entlangging. Vorhin, aus der Nähe betrachtet, schätzte ich ihn ebenfalls nicht wesentlich älter als mich, vielleicht Mitte Zwanzig. Er und die Frau hielten sich stets für sich, man bekam sie kaum einmal zu sehen. Und wenn man den Erzählungen der Nachbarn Glauben schenken durfte, waren sie Geschwister. Sagte jedenfalls Mom. Für sie war das Ganze etwas suspekt, doch das waren für sie alle Menschen, die das Alleinsein bevorzugten. So wie ich. Welch ein netter Umkehrschluss: Meine Mom fand mich suspekt!
Ich musste grinsen, trug das Paket in die Küche und machte mich dann daran, die Waschmaschine zu beladen. Die Lebensgewohnheiten der alten und neuen Nachbarn konnten warten.
Den restlichen Vormittag verbrachte ich damit, das Haus zu putzen. Mom war nicht wirklich eine begeisterte Hausfrau, doch anstatt sich darüber zu freuen, dass wir uns hier durch unsere Gegensätze zumindest ein wenig ergänzten, drängte sie mich ständig, meine Zeit doch lieber mit Freundinnen zu verbringen statt hier herumzuhocken oder den Staubsauger zu malträtieren.
Herumhocken! Schnaubend polierte ich den Spiegel in meinem Bad und blickte dann hinein. Durchschnitt. Bestenfalls. Meine Augen waren vermutlich das Einzige, das wirklich auffällig an mir war. Für meine helle Haarfarbe und meinen zu hellen Teint wirkten sie in meinem Gesicht zu groß und das nach meinem Farbempfinden stellenweise ins Kupfer gehende Braun zu dunkel. Als kleines Kind war ich oft damit aufgezogen worden, wie eine Eule zu schauen. Es hatte eine Zeit gedauert, bis ich das Abschätzige hinter solchen Bemerkungen begriff, denn ich fand Eulenaugen schon immer wunderschön. Aber davon abgesehen hatte ich auch schon immer das eigentümliche Gefühl, dass ich tatsächlich mehr sah als andere. Nicht, weil ich schärfere Augen hätte oder so. Irgendwie nahm ich scheinbar besser als andere auch das wahr, was sich ganz allgemein um mich herum oder am Rande meines Blickfeldes abspielte. Ich konnte es nicht richtig erklären … und wollte es auch gar nicht genauer wissen!
Erneut schnaubend löste ich mich von meinem Spiegelbild, marschierte wieder nach unten, stopfte die restliche Wäsche in die Waschmaschine und belud den Trockner. Dann holte ich aus der Küche eine Kleinigkeit zu Essen und setzte mich in die offene Hintertür, um ein paar Sonnenstrahlen zu erhaschen und frische Luft zu tanken.
Obwohl ein leichter Wind wehte, war es heute wieder angenehm warm und ich lehnte mich mit dem Rücken an den Türrahmen, um mit geschlossenen Augen auf die Geräusche um mich herum zu lauschen: dem Wind, der die Blätter in den Bäumen bewegte, dem Vogelgezwitscher in der Nähe und den passenden Antworten aus der Ferne.
Müde geworden streifte ich irgendwann meine Schuhe ab und ging barfuß über die kleine Wiese zu den nah beim Haus wachsenden Bäumen. Wie die meisten unserer Nachbarn hatten auch wir auf eine Umzäunung im hinteren Teil unseres kleinen Gartens verzichtet und da unser Grundstück ohnehin am Kopfende der Straße lag, begrenzten rechts und links nur ein paar hohe Büsche unsere Wiese.
Der Boden war warm und federte leicht unter meinen Schritten, als ich zuletzt in den Schatten des angrenzenden Waldes – oder besser Wäldchens – eintauchte und mich unter einem der Bäume niederließ. Hier huschten die kleinen Lichtflecken, die die Sonne durch das noch dichte Blätterdach schickte, hin und her. In wenigen Wochen würde der Indian Summer die Belaubung in eine leuchtend bunte Farbenpracht verwandeln – für mich die schönste Jahreszeit überhaupt, vor allem, wenn an sonnigen Tagen alles in einer wahren Farbexplosion aufflammte! In diesen Farben konnte ich, wenn ich für mich alleine war, stundenlang schwelgen. Für Mom wieder eine suspekte Seite meines Wesens: Wer legte sich schon in seiner Freizeit alleine unter einen Baum, starrte nach oben und träumte offensichtlich vor sich hin!
Ich wollte eben die Augen wieder schließen, als ich im äußersten Augenwinkel eine Bewegung ausmachte, die mir auffiel: Zu groß für ein kleines Tier, zu schnell selbst für einen Vogel. Hastig drehte ich den Kopf in diese Richtung, doch es war nichts zu sehen. Mein Herz schlug heftig und, unsicher geworden, fasste ich mir an den Hals, während ich aufmerksam die Gegend unter den Bäumen absuchte. Dann beschloss ich, es nicht unnötig darauf ankommen zu lassen, ob ich etwas entdecken würde, stand auf und lief eilig wieder zurück. Erst als ich die Terrassentür hinter mir zuschob, verlangsamte sich mein Herzschlag wieder und ich holte tief Luft.
„Weichei!, murmelte ich. „Da war nichts, du hättest es sonst entdeckt!
Bestimmt hatte ich mir wieder mal etwas eingebildet. Dieser Ansicht war auch Mom immer gewesen, wenn ich ihr von solchen oder ähnlichen mehr oder weniger flüchtigen Eindrücken erzählt hatte.
„Engel, du bekommst noch Angst vor deinem eigenen Schatten wenn du so weitermachst! Hier ist nichts und niemand will dich mit irgendwas aufregen oder erschrecken!"
So oder ähnlich hatte es immer geheißen. Irgendwann hatte ich es dann auch selbst geglaubt und es aufgegeben, ihr mit meiner blühenden Phantasie auf die Nerven zu gehen. Dennoch musterte ich noch einmal eingehend den Waldrand, bevor ich mich daran gab, einen Auflauf für heute Abend vorzubereiten.
Als Ian am späten Nachmittag heimkam, brutzelte das Essen bereits im Backofen vor sich hin und verbreitete einen appetitanregenden Geruch. Ich hob rasch einen Salat unter, als ich ihn an der Haustür hörte.
„Reggie? Phoebe? Ich bin da!"
„Ich bin in der Küche, Ian. Mom kommt auch gleich, dann können wir essen.", rief ich zurück.
Die tiefstehende Sonne sandte ihre Strahlen durch eines der Küchenfenster, als ich die Salatschüssel auf die Terrasse trug. Erneut streifte ich den Waldrand mit einem raschen Blick, beschimpfte mich innerlich selbst dafür und schnaubte kopfschüttelnd. Ian steckte seinen Kopf mit den dunklen Haaren aus der Tür.
„Hallo Phoebe! Hmm, das riecht köstlich! Ich frage mich immer wieder, woher du dein Talent zum Kochen hast. Von Regina bestimmt nicht!"
Ich grinste ihn an, enthielt mich jedoch weise einer Antwort. Meine Kochkenntnisse erschöpften sich vorwiegend in Aufläufen und Gerichten, die man nur in die Pfanne zu werfen brauchte. Womit er hingegen recht hatte, war, dass Mom in der Küche meist völlig versagte. Lediglich unsere Backkünste ließen sich sehen.
Die beiden hatten sich vor gut einem Jahr bei einem Seminar kennengelernt und laut Mom hatte es direkt gefunkt. Nachdem sie beinahe acht Jahre alleine gewesen war – Dad hatte uns verlassen, als ich zehn war – freute ich mich, dass sie endlich wieder jemanden gefunden hatte. Angenehmer Nebeneffekt für mich: In Moms Welt drehte sich seither nicht mehr alles nur um mich! Ich mochte Ian und als er dann bei uns einzog, atmete ich auf. Er machte sie glücklich und sie ihn. Und das machte mich glücklich.
„Habe ich noch Zeit zum Duschen?", rief er vom Spülbecken aus, wo er durstig ein Glas Wasser geleert hatte.
„Klar."
„Kann ich dir vorher noch bei irgendwas helfen?"
„Nö, schon alles vorbereitet, geh nur."
Er lächelte mich an und um seine Augen bildeten sich feine Fältchen.
„Kann ich dich adoptieren?", fragte er.
Ich grinste breit und hob die Augenbrauen. Es war leicht, mit ihm auszukommen, er war herrlich unkompliziert und immer für uns da. Jetzt stellte er augenzwinkernd sein Glas ab und verschwand nach oben. Wenig später rauschte die Dusche ihres gemeinsamen Badezimmers und keine Viertelstunde später hörte ich ihn schon wieder die Treppe herunterkommen. Mit noch feuchten Haaren, jetzt in alten Jeans und Poloshirt, trat er in die Küche und lehnte sich an den Kühlschrank.
„Nächsten Monat fangen deine Vorlesungen an, nicht wahr? Aufgeregt?"
Ich verzog das Gesicht, was ihm nicht entging.
„Nicht wirklich.", beeilte ich mich zu sagen.
Er musterte mich. „Aber irgendetwas stimmt nicht!" Es war mehr Feststellung als Mutmaßung.
Ich zuckte wortlos die Schulter und trocknete das Schneidbrett ab.
„Was ist es? Mir kannst du es sagen, ich bin nicht deine Mom."
Ich streifte ihn mit einem Seitenblick, um herauszufinden, ob seine Miene zu dem ernsthaften Ton dieser Bemerkung passte. Sein Gesicht war unbewegt, aber seine Augen zeigten echtes Interesse. Wieder zuckte ich die Schultern.
„Nichts weiter. Ich bin alt genug und komme schon klar.", murmelte ich.
„Auch mit Neunzehn muss man noch nicht alles alleine durchstehen.", erwiderte er.
Er war nicht beleidigt; neben seiner Unkompliziertheit eine seiner positivsten Eigenschaften.
„Ich weiß."
„Wo liegt also das Problem?"
Ich trocknete meine Hände ab und nahm ein frisches Glas aus dem Schrank.
„Kein Problem!", log ich, goss Wasser ein und setzte in Gedanken hinzu: ‚Abgesehen von der Tatsache, dass ich nicht weiß, was ich will!’
„Du musst nicht mit mir darüber reden, Phoebe. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich da bin und du mit mir reden kannst. Okay?"
Ich nickte und trank einen weiteren Schluck. „Ich weiß das echt zu schätzen, Ian, danke! Aber es ist nichts."
Bei meiner Zukunftsplanung konnte er mir nun wahrhaftig nicht helfen. Solange ich nicht mit mir selbst im Reinen war, konnte ich nichts anderes tun, als das Beste aus dem Status quo zu machen. Wieso nur fielen mir alle diesbezüglichen Entscheidungen so schwer? Warum musste ich im Leben alles so genau nehmen?
Claire, meine beste … nein, meine einzige Freundin, pflegte immer leicht theatralisch zu sagen: „Entdecke das Unbekannte! Du denkst zu viel, schaffst dir selbst zu viele Regeln und brichst niemals daraus aus! Was das angeht, stehst du ständig unter Strom. Wenn du irgendwann merkst, dass du dich für das Falsche entschieden hast, dann ändere deine Pläne einfach, aber lass dich doch erst mal auf etwas ein!"
Nur, dass ich nicht anders konnte! Ich wog ewig das Für und Wider ab, hinterfragte und überdachte … Nicht selten hatte ich darüber tatsächlich schon selbst den Eindruck, mich im Kreis zu bewegen und nicht vorwärtszukommen. Und oben lagen alle Infos, Unterlagen, Vorlesungspläne, Campuspläne … unangetastet! Ich sollte endlich mal einen Blick hineinwerfen! Aber es war tatsächlich, als ob ich auf irgendetwas wartete. Einen äußeren Anstoß, ein zündendes Ereignis – einen Tritt in den Hintern oder vors Schienbein vermutlich! Und gleichzeitig schrie meine Vernunft mich an, ob ich inzwischen vollkommen verblödet sei und gefälligst mal so erwachsen zu werden wie ich immer zu sein behaupte!
Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als draußen der Seat vorfuhr. Ian legte in einer tröstenden Geste kurz seine Hand auf meine Schulter und ging dann, die Haustür zu öffnen. Ich nutzte die kurze Frist, um hinaus auf die Terrasse zu huschen und mir meinen Platz im Schatten des Sonnenschirms zu sichern. Heute würde dieses Thema sicher nicht noch einmal zur Sprache kommen, aber für gewöhnlich ließ Ian nicht wirklich locker wenn er merkte, dass ich etwas mit mir herumtrug und nicht mit der Sprache herauswollte. Er ging dann allerdings ein wenig behutsamer vor als Mom, bei der so etwas auch schon einmal in einen Belagerungszustand ausarten konnte!
Wenig später betrat diese hinter Ian, der den Auflauf vorsichtig vor sich her balancierte, die Terrasse und drückte mir einen Kuss auf den nicht existenten Scheitel.
„Hallo Liebes! Wie war dein Tag? Ich habe in der Küche das Paket gesehen. Warum hast du es nicht aufgemacht?"
„Weil es an dich adressiert ist, Mom? Wer weiß ob das, was da drin ist, jugendfrei ist!"
Sie verpasste mir einen Klaps auf die Schulter und ich grinste.
„Es ist heute Vormittag geliefert worden. Der neue Nachbar vom anderen Ende der Straße – wie heißt er noch mal? Pollos? – hat es gebracht …"
„Er arbeitet für einen Paketservice? Verdient man da so gut? Er fährt einen riesigen Geländewagen!" Sie hatte ernsthaft erstaunt beide Augen weit aufgerissen, rückte ihren Stuhl zurecht und setzte sich mir gegenüber hin.
„Nein, er hat es in Empfang genommen, weil ich die Tür nicht öffnen konnte. Ich kam gerade aus der Dusche."
„Woher wusste er das denn?"
Ich verdrehte die Augen. Mom!
„Er wusste nichts davon! Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort, hat das Paket für uns entgegengenommen und wohl einfach einen Moment gewartet, bevor er noch einmal geläutet hat!"
„Wie nett!"
Sie tat jedem von dem Auflauf und dem Salat auf. Dann begann sie, von ihrem Arbeitstag zu erzählen, und verwickelte Ian in ein Gespräch. Meine Aufmerksamkeit erlahmte und ich konzentrierte mich auf das Essen. Irgendwann schrak ich jedoch hoch.
„Erde an Phoebe! Bist du noch auf Empfang? Ich fragte gerade, was du davon hältst, wenn wir nächste Woche mal einkaufen gehen. Ein paar neue Klamotten zum Studienbeginn würden nicht schaden, meinst du nicht?"
Ich stöhnte und legte meine Gabel auf den Teller. „Mom, bitte! Ich habe genug zum Anziehen und könnte sogar noch ein paar Kommilitonen mitversorgen!"
„Aber nur, weil du dich von deinen alten, abgewetzten Sachen nicht trennen kannst! Wir sollten wirklich mal ein wenig aussortieren und deine Garderobe auf den neuesten Stand bringen!"
Ich verdrehte erneut die Augen und erhob mich, um meinen Teller hineinzutragen.
„Lass mal, das mach ich, du hast schon gekocht. Nimm dir ein wenig Zeit für dich!"
„Danke. Ich würde tatsächlich gerne Claire eine E-Mail schreiben. Sie ist schon sauer, weil ich mich so lange nicht gemeldet habe."
Claire und zwei weitere Mädchen aus meinem Jahrgang hatten zur Feier des Abschlusses einen Last-Minute-Kurzurlaub in Florida gebucht. Ich hatte dankend verzichtet, zumal auch mein Auto kürzlich plötzlich seinen Geist aufgegeben hatte und jetzt in der Werkstatt auf Ersatzteile wartete. Beides konnte ich mir finanziell nicht erlauben. So standen wir zurzeit nur über das Internet in Verbindung. Gestern war die dritte Nachricht in Folge gekommen und ich musste mich schleunigst mal darauf melden, wenn ich es mir nicht völlig mit ihr verderben wollte.
„Tu das und richte ihr einen schönen Gruß aus! Wie gefällt es ihr?"
„Sie hat offenbar ihren Spaß! Und anscheinend auch schon einen Bewunderer, der ihr überallhin nachläuft!"
Kaum hatte ich das gesagt, biss ich mir auch schon auf die Lippe und verzog hinter ihrem Rücken das Gesicht! Das war ein weiteres Thema, auf dem sie gerne herumritt: Ich war immer noch Single. Bevor sie auch nur Luft holen konnte, um diese Materie aufzugreifen, genüsslich breitzutreten und zweimal vorwärts und rückwärts durchzukauen, huschte ich schon in die Küche und rief ihnen über die Schulter ein ‚Gute Nacht!’ zu. Hastig stellte ich mein Geschirr in die Spüle und rannte die Treppe hinauf. Ihre nachgerufenen Antworten hörte ich kaum, dann war ich oben und schob aufatmend die Tür zu meinem Zimmer zu.
Ich liebte meine Mom von Herzen, aber ihre Welt war nun mal nicht meine Welt! Ian hatte unsere Gegensätzlichkeit sehr rasch erfasst und ließ mir die Freiheit, ich selbst zu sein – vermutlich, weil er eine eher objektive Haltung einnehmen konnte. Mom hingegen konnte das nicht. Ich nahm ihr ihre Bemühungen nie wirklich übel, aber nerven konnte sie mich damit schon …
Erleichtert aufseufzend schaltete ich mein Laptop ein. Ian hatte damals fassungslos die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen beim Anblick unseres vorsintflutlichen Equipments. Als eine der ersten Maßnahmen nach seinem Einzug hier dafür gesorgt, dass wir einen schnelleren Internetzugang bekamen sowie WLAN-fähige Geräte. Er war Computerfachmann, also kein Wunder! Und ich war ihm echt dankbar: Er hatte mir zum Schulabschluss sogar noch ein nagelneues Notebook geschenkt, mit dem ich mich nun im Schneidersitz auf meinem Bett niederließ, Claires letzte E-Mails erneut aufrief und durchlas. Rasch tippte ich eine kurze Antwort, berichtete über die hiesige Ereignislosigkeit, fragte pflichtschuldigst nach ihrem Verehrer und bat sie darum, mir eine Tüte Sand von einem Strand in Florida mitzubringen. Dann löschte ich drei weitere Mails, die alle nur Werbung enthielten, und fuhr den Laptop wieder herunter, bevor ich ihn unter mein Bett schob.
Draußen war es immer noch hell, aber die Sonne berührte schon fast den Horizont. Ich seufzte wohlig und legte mich so, dass ich den sich immer mehr rötenden Himmel von meinem Platz aus sehen konnte. Ians und Moms Stimmen draußen waren nur als leises Gemurmel zu hören, hin und wieder unterbrochen von einem gedämpften Lachen.
Er tat Mom gut. Nachdem Dad damals praktisch über Nacht verschwunden war, hatte sie es nicht leicht gehabt. Vor allem die Zeit unmittelbar vor und nach der offiziellen Scheidung war mir in lebhafter Erinnerung. Die meisten Gedanken hatte sie sich damals um mich gemacht, obwohl ich erstaunlich gelassen darüber dachte. Dad war zu diesem Zeitpunkt einfach schon zu lange nicht mehr wirklich Teil unseres Lebens gewesen, als dass ich ihn überhaupt noch vermisste. Und Mom hatte uns über Wasser gehalten.
Jetzt endlich war das Leben für sie wesentlich einfacher geworden und sie konnte wieder befreit lachen. Ian verdiente gut und wenn auch unsere Geldsorgen schon vor ihrer gemeinsamen Zeit weniger geworden waren, war es doch ein beruhigendes Gefühl für sie, wieder jemanden an ihrer Seite zu haben. Und für mich, jemanden wie ihn an ihrer Seite zu wissen!
Ihre einzige Sorge war nun noch ihre Tochter. Und deshalb fiel es mir so schwer, mit ihr über meine Abneigung gegen ein Studium zu sprechen. Sie hatte sich all die Jahre krummgelegt, um mir eine gute Schulbildung zu ermöglichen, und ich konnte sie einfach nicht derart enttäuschen. Weit weniger wohlig seufzend drehte ich mich auf die Seite und schlang meine Arme um eines der Kissen. Die Sonne versank jetzt als glutroter Feuerball hinter den Bäumen. Das Farbenspiel am Himmel, der heute nur wenige Wolken zeigte, war wie immer atemberaubend schön und ich blinzelte gegen das langsam weniger werdende Licht an…
Ich musste irgendwann eingeschlafen sein, denn als ich verschlafen die Augen das nächste Mal öffnete, war es draußen schon stockdunkel. Müde richtete ich mich auf und hätte bei dem Versuch, meinen Wecker zu finden, diesen beinahe vom Nachttisch gefegt. Halb drei Uhr nachts. Na prima!
Gähnend torkelte ich ins Bad, schälte mich aus meinen Klamotten und schlüpfte in ein übergroßes T-Shirt. Nachdem ich mir notdürftig die Zähne geputzt hatte, wankte ich wieder zurück in mein Zimmer, um das sperrangelweit geöffnete Fenster ein gutes Stück weiter zuzuschieben. Obwohl ich in der oberen Etage schlief und frische Luft mochte, war ich doch ein Feigling! In einer Stellung, in der die verbliebene Öffnung klein genug war, dass niemand mehr hindurchpassen würde, schob ich einen großen Riegel vor, den ich eigenhändig schon vor Jahren in passender Position weiter oben am Fenster angeschraubt hatte – noch etwas, das Mom damals kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen hatte. Wenn jetzt jemand versuchte, es weiter aufzuschieben, würde er zwangsläufig einen ziemlichen Lärm verursachen. Oh, ich war wirklich ein Feigling!
Erneut wollte ich den Mund zu einem ausgiebigen Gähnen öffnen, als ich vor den grauschwarzen Silhouetten der Bäume, die sich gegen den sternenübersäten Himmel abhoben, einen sich schnell bewegenden schwarzen Schatten registrierte. Schlagartig hellwach blickte ich angestrengt nach draußen. Diesmal war ich sicher, etwas gesehen zu haben! Mein Herz schlug bis zum Hals. Ein Tier? Ich starrte reglos hinaus und hielt den Atem an. Wieder bewegte sich etwas, ganz am Rande meines Blickfeldes, aber als ich den Kopf in diese Richtung drehte, war es fort. Und ein Tier war es bestimmt nicht, dafür war der Schatten zu groß und schmal gewesen.
Atemlos biss ich auf die Unterlippe und verdrängte das hohle Gefühl in meinem Magen, doch so angestrengt ich auch zwischen die Bäume zu spähen versuchte, ich konnte nichts mehr erkennen, alles blieb ruhig. Mein Herz schlug immer noch im Stakkato und beruhigte sich nur ganz allmählich. Als meine Augen vor Anstrengung schon zu tränen begannen, traute ich mich zum ersten Mal wieder, tief Luft zu holen. Zweifelnd blickte ich den geöffneten Spalt des Fensters an, dann wieder hinaus in die Dunkelheit. Nichts rührte sich mehr. Noch einmal kontrollierte ich den Riegel, bevor ich leise zurück zu meinem Bett schlich und mich darauf zusammenrollte, den Blick auf das matt erleuchtete Viereck gerichtet.
Ich konnte lange nicht wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen erschien mir mein nächtliches Erlebnis wie immer albern und unwirklich. Ich entriegelte das Fenster und schob es ganz auf, um die noch kühle Luft hereinzulassen. Und ich verbot mir, erst noch wieder prüfendsuchende Blicke nach draußen zu werfen.
Ian war wie meist schon fort und Mom rumorte in der Küche, wo ich sie in einen verzweifelten Zweikampf mit dem Toaster verwickelt vorfand. Offenbar weigerte dieser sich vehement, ihre Toasts auszuwerfen. Jedenfalls schien sie kurz davor, ihn auf den Kopf zu stellen, damit sie hoffentlich vor der Schwerkraft kapitulierten und herausfielen. Ich trat entsprechend rasch an die Theke und griff um sie herum, um die Cancel-Taste zu drücken.
„Wenn du den Vorgang unterbrechen willst, dann drück hier drauf. Daher das Wort ‚Cancel‘, verstehst du? Du könntest die Dauer aber auch einfach am Regler reduzieren, bevor du die Toasts versenkst! Morgen, Mom."
„Morgen, Liebes! Danke. Ich komm mit dem Ding nicht klar, er mag mich nicht! Egal, wie ich ihn einstelle: Entweder sind die Scheiben nur lauwarm oder total verbrannt. Da kann ich mir auch direkt Kohle in den Mund schieben.", strich sie etwas Marmelade auf und biss genüsslich hinein.
Ich angelte mir ebenfalls zwei Scheiben und bestückte den Toaster neu.
„Morgen ist Samstag.", nuschelte sie und goss sich Milch in den Kaffee.
„Stimmt."
„Und? Schon Pläne?"
„Keine. Claire kommt erst nächste Woche wieder."
Ich nahm einen Kaffeebecher aus dem Schrank und ergatterte tatsächlich noch eine halbe Tasse. Während ich Milch für meinen Kaffee in der Mikrowelle erhitzte, lief meine Mutter wieder einmal kauend durch die Gegend und fummelte an ihrer Frisur, dem Verschluss ihrer Kette, die ich ihr schließlich aus der Hand nahm und umlegte, dem Riemchen an ihrer Sandalette …
Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich jemals in meinem Leben während der Woche sitzend und in Ruhe mit ihr gefrühstückt hätte, das war allenfalls den Wochenenden vorbehalten. Dann brachte sie es in seltenen Fällen auch schon einmal fertig, im Pyjama in der Küche aufzutauchen, ungeschminkt und mit vom Schlaf noch zerzausten Haaren. Diese Ausnahmen waren, seit Ian bei uns lebte, sogar häufiger geworden. Er war so etwas wie ein Ruhepol für sie, der ihr Quecksilbertemperament durch bloße Anwesenheit bezähmen konnte. Aber heute wirkte sie besonders zappelig.
„Mom, ist alles in Ordnung?"
Sie schrak kurz zusammen und blieb ruckartig stehen. Dann schenkte sie mir ein liebevolles Lächeln. „Aber natürlich, Phoebe, ich bin nur mal wieder spät dran! Also, wie ist es: Hast du morgen schon was vor?"
„Nein, Mom, wie ich vorhin schon sagte!"
„Ach ja, richtig. Gut, dann könntest du mich ja begleiten. Ich möchte shoppen