Rehabilitation
Von Annika Grote und Heike Thiele
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Über dieses E-Book
Der zweite Teil beinhaltet sechs Fallkonstruktionen aus der Praxis mit drei unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zu Themen wie z. B. Hüftfraktur nach Sturz, Querschnitt, Hirnstamminfarkt und Polytrauma. Sie dienen als Lernhilfe dazu, das erworbene Wissen anzuwenden zu können.
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Buchvorschau
Rehabilitation - Annika Grote
I Basics
1 Grundlagen und Selbstverständnis der Rehabilitation
1.1 Entwicklung der Rehabilitation
Die Geschichte der Krankenpflege ist zugleich auch eine Geschichte der Rehabilitation. Denn zunächst ist doch das Ziel jeder Pflege die Gesundung des Kranken, die Wiederherstellung seines vormaligen Zustands.
Das 19. Jahrhundert veränderte den Umgang mit Versehrten; die Medizin begann, systematisch und analytisch nach Ursachen zu forschen. 1844 führte Ritter von Buss, ein badischer Staatsgelehrter, den Rehabilitationsbegriff ein:
»Vielmehr soll der heilbar Kranke vollkommen rehabilitiert werden; er soll sich zu der Stellung wieder erheben, von welcher er herabgestiegen war. Er soll das Gefühl seiner persönlichen Würde wiedergewinnen und mit ihm ein neues Leben.« (Heckl, Ade, Schell, Thieme, 1991)
Ansätze für rehabilitative Einrichtungen in Deutschland findet man z. B. bei der 1840 in Reutlingen gegründeten Gustav-Werner-Stiftung sowie der 1832 eröffneten »Erziehungs-, Unterrichts- und Bildungsanstalt für krüppelhafte Knaben«. In diesen Institutionen bemühte man sich, den Betroffenen eine berufliche Ausbildung zu gewähren und sie damit zu rehabilitieren, wobei der Begriff nicht benutzt wurde. 1845 wurde in Stuttgart das orthopädische Institut »Paulinenhilfe« gegründet, in welchem man mittels Apparaten versuchte, behinderten Kindern zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurde die Verbindung zur Medizin, insbesondere zur Orthopädie hergestellt. Konrad Biesalski bspw. ebnete den Weg in der Rehabilitation durch eigens gegründete Einrichtungen für körperbehinderte Kinder und Jugendliche (»Krüppelfürsorge«). Er zog Ärzte zur orthopädischen Behandlung hinzu in Verbindung mit pädagogischen Maßnahmen. Sein Bestreben lag in einem ganzheitlichen Behandlungsansatz mit dem Grundsatz: »Nicht ein einzelner Fuß soll behandelt werden, sondern ein ganzer Mensch!«
Nach dem Ersten Weltkrieg behandelten Ärzte die Kriegsinvaliden, Rehabilitation und Nachsorge blieben minimal (Heckl, Ade, Schell, Thieme, 1991). Nach dem Zweiten Weltkrieg stand neben der Versorgung der »Kriegsbeschädigten« die Bekämpfung der Lungentuberkulose im Vordergrund. Hierfür wurden für gut situierte Menschen Kur- und Bäderbetriebe sowie Sanatorien errichtet. Der Pflege oblag neben der originären Pflege die ärztlich delegierte heilmedizinische Behandlung.
In Deutschland entwickelte sich seit dem 19. Jahrhundert das im sozialpolitischen Kontext verstandene Rehabilitationssystem letztendlich aus dem Kurwesen. Die später überwiegend für Patienten mit chronischen Krankheiten etablierten stationären Heilverfahren sind Fortentwicklungen der klassischen klinischen Kuren und zeichneten den Begriff der Rehabilitation, wie er heute in der deutschen Sozialgesetzgebung verankert ist. Mit Einführung der Sozialversicherung wurden die Einrichtungen für die breite Bevölkerung zugänglich.
Im 21. Jahrhundert spezialisierten sich Kliniken auf die fachspezifische Behandlung, z. B. auf Neurologie, Unfallchirurgie, Orthopädie, Psychiatrie oder Kardiologie. Weitere Entwicklungen wie die Frührehabilitation, die ambulante/mobile Rehabilitation oder auch die Flexibilisierung der Behandlung folgten.
arrow BAR arrow
Ein wesentliches Organ, welches Empfehlungen für die Rehabilitation in Deutschland gibt, ist die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), sie ist die gemeinsame Repräsentanz aller Verbände der gesetzlichen Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung, Kriegsopferfürsorge und Sozialhilfe, der Bundesanstalt für Arbeit, sämtlicher Bundesländer, des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Deutschen Angestelltengewerkschaft, der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände sowie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Das Ziel und Anliegen der BAR ist, darauf hinzuwirken, dass die Leistungen der medizinischen, schulischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation nach gleichen Grundsätzen zum Wohle der behinderten und chronisch kranken Menschen durchgeführt werden. Die BAR hat den Anspruch die Kooperation und Koordination beteiligter Leistungsträger anhand des interdisziplinären Ansatzes zu fördern und durch das Zusammenspiel der Fachdisziplinen, Berufsgruppen und Betroffenen eine lückenlose und zielgenaue Rehabilitation zu gewährleisten (www.bar-frankfurt.de).
Im Laufe der Jahre haben sich darüber hinaus verschiedene Arbeitsgruppen und Zusammenschlüsse gegründet, die sich explizit mit dem Thema Pflege und Rehabilitation auf konzeptioneller und berufspolitischer Ebene befassen.
1.2 Begriffsbestimmung »Rehabilitation«
Rehabilitation bedeutet primär Wiederherstellung, wieder teilnehmen können am beruflichen, sozialen und gesellschaftlichen Leben. Aber es bedeutet auch, Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern um Teilhabe und eine bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten.
Der Begriff »Rehabilitation« leitet sich vom lateinischen Wort rehabilitare ab. Es setzt sich aus den Wörtern »re« (wieder) und »habilitare« (fähig machen) zusammen. Die weltweit gültige Definition des Begriffes Rehabilitation findet sich im Technical Report 668/1981 der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dort heißt es:
»Rehabilitation umfasst den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, pädagogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität zur weitest gehenden Partizipation in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird.« (WHO, 1981, S. 9)
Der Mediziner Christoph Gutenbrunner versteht »Rehabilitation heute als ein multi- und interdisziplinäres Management der funktionalen Gesundheit einer Person. Sie zielt auf die Beseitigung negativer Krankheitsfolgen und eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität« (Gutenbrunner, 2011, S. 114). Der DBfK (Deutscher Verband für Pflegeberufe) beschreibt Rehabilitation mit den folgenden Worten: »Maßnahmen der rehabilitativen Behandlung sollen dem akut oder chronisch kranken oder davon bedrohten Menschen möglichst ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben mit Teilnahme an allen relevanten Lebensaktivitäten ermöglichen«. (DBfK, 2013, S. 6)
1.3 Formen der Rehabilitation
Der Begriff der Rehabilitation wird in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet (vgl. Betz, Schmidt, 2012, S. 18):
• medizinische Rehabilitation (Heilung von akutem Leiden bzw. des Gesundheitsschadens, Herstellung optimaler Gesundheit zur Gewährleistung beruflicher, alltagsrelevanter und gesellschaftlicher Teilhabe)
• schulisch-pädagogische Rehabilitation (Ermöglichung der üblicherweise erreichbaren Bildung auch für behinderte Kinder und Jugendliche im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht oder weiterführenden Schulen)
• berufliche Rehabilitation (Möglichst dauerhafte Re-Integration in Arbeit und Beruf, u. a. auch durch begleitende Hilfen)
• psychosoziale Rehabilitation (Gewährleistung eines angemessenen Platzes in der Gesellschaft).
Übergeordnete Ziele der Rehabilitation :
• Teilhabe und Partizipation, Selbstbestimmung
• Gewährleistung eines angemessenen Platzes in der Gesellschaft
• Erhalt/Steigerung der (alltags-/berufsrelevanten) Funktionsfähigkeit
• Verbesserung/Erhalt des Gesundheitszustands und der Lebensqualität
• Verbleib und Teilnahme am/im Schul-/Berufsleben
• Vorbeugung, Verringerung von Pflegebedürftigkeit
• Verringerung von gesundheitsbezogenen Ausgaben
1.4 Das biopsychosoziale Modell
Die in der Akutmedizin gebräuchliche biomedizinische (krankheitsorientierte) Betrachtung (Befund und Diagnose), d. h. der Blick allein auf die Krankheit selbst und die Klassifikation von Diagnosen und Gesundheitsproblemen als Einheiten und Normen gleicher Ätiologie, Pathogenese und Manifestation gemäß der ICD (International Classification of Diseases), reicht für die Rehabilitation nicht aus.
Vielmehr geht es darum, was der Mensch kann (also die Aktivitäten und Fähigkeiten), wie er seine Fähigkeiten und Möglichkeiten positiv verstärkt und bestmöglich im persönlichen Alltag nutzt. Das in der Rehabilitation angewandte biopsychosoziale Modell geht von der funktionalen Gesundheit aus und erfasst auch die personale Ebene, d. h. die subjektive Sicht des Menschen unter Beachtung seines gesamten Lebenshintergrundes. Es hat das lineare Krankheitsfolgenmodell (Krankheit – Behinderung – soziale Beeinträchtigung) abgelöst, indem positive und negative Einflüsse der Umwelt auf die Erkrankung mit eingeschlossen werden (Gutenbrunner, 2007, S. 114).
Die Rehabilitation stellt die funktionale Gesundheit (nicht die Gesundheitsstörung) in das Zentrum ihrer Betrachtungen und bildet damit den Ausgangspunkt in der Behandlung.
Funktionale Gesundheit
Der Begriff der funktionalen Gesundheit ergänzt die diagnoseorientierte biomedizinische Perspektive um eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen. Die Krankheit oder die Behinderung stehen nicht ausschließlich im Fokus, sondern der Blick richtet sich darauf, wie jemand mit einer Beeinträchtigung sein Leben gestaltet, seine Stärken und Fähigkeiten einsetzt, wie er an der Gesellschaft teilnimmt und vorhandene Ressourcen nutzt.
Dieses Verständnis von Gesundheit umfasst dabei sowohl die körperlichen Voraussetzungen (Körperfunktionen und -strukturen) als auch kontextbezogene Faktoren, d. h. die Fähigkeiten, Handlungen auszuführen (Aktivitäten) und am sozialen Leben teilzunehmen (Partizipation, Teilhabe).
»Dieser Gesundheitsbegriff geht davon aus, dass der Mensch nicht auf seine körperlichen und psychischen Dimensionen beschränkt ist, sondern sich vielmehr auch durch seine Handlungen und sozialen Interaktionen definiert. Die funktionale Gesundheit beschreibt also nicht nur den körperlichen Funktionszustand aus biologischer Sicht, sondern schließt die Aktivitäten und die soziale Integration der psychologischen und individuellen Sichtweise mit ein. Die einzelnen Bereiche der funktionalen Gesundheit stehen zwar in einer Wechselwirkung, sind aber dennoch auch einzeln zu beeinflussen und bedürfen daher auch einer getrennten Betrachtung.« (Gutenbrunner, 2007, S. 114)
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – kurz ICF – stellt dabei das theoretische Gerüst der Rehabilitation dar.
1.5 ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit
Die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) gehört zu der »Familie« von Klassifikationen ( Abb. 1) und ist die Nachfolgerin der »International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)« von 1980. Sie wurde nach einem mehrjährigen Entwicklungsprozess von der 54. Vollversammlung der WHO im Mai 2001 verabschiedet. In Deutschland wurden mit dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – wesentliche Aspekte der ICF unter Berücksichtigung der historisch gewachsenen und anerkannten Besonderheiten aufgenommen.
Abb. 1: Das ICF-Modell mit den Interaktionen der Komponenten (WHO 2001)
»Die ›Philosophie‹ der ICF markiert einen Paradigmenwechsel, weg von einer diagnose- und defizitorientierten Sicht hin zu einer umfassenden Betrachtung des ganzen Menschen. Sie stellt damit eine Systematik und eine gemeinsame Sprache zur Verfügung.« (BAR: ICF-Praxisleitfaden, 2006, S. 24)
Unter Anwendung der Begrifflichkeiten des biopsychosozialen Modells lässt sich jeder Gesundheits- und Krankheitszustand eines Menschen in dessen Lebensumständen sowie die (Wechsel-)Wirkungen beschreiben.
Der ICF nach ist eine Person dann funktional gesund, wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren):
• die körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),
• die Person all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und
• die Person ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigungen der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen; BAR: ICF-Praxisleitfaden, 2-2008, S. 10).
arrow Begriffe und Komponenten der ICF arrow
Körperfunktionen sind physiologische Funktionen von Körpersystemen, wobei die psychischen Funktionen mit eingeschlossen werden.
Als Körperstrukturen werden anatomische Teile/Strukturen wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile definiert.
Unter Aktivität wird die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen (bezogen auf Standardsituationen) verstanden.
Als Beeinträchtigung der Aktivität wird eine Schwierigkeit verstanden, eine bestimmte Aufgabe oder Aktivität durchzuführen.
Eine Schädigung ist in der ICF-Definition eine Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur wie eine wesentliche Abweichung oder ein wesentlicher Verlust.
Partizipation bzw. Teilhabe beschreibt das Einbezogensein in eine Lebenssituation, wobei sowohl soziale, kulturelle als auch berufliche Bereiche inbegriffen sind.
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe (Partizipation) ist im ICF-Modell ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in eine Lebenssituation erleben kann (sozial, kulturell, beruflich).
Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt ab, in der Menschen leben und sich entfalten. Sie können einerseits unterstützend wirken, z. B. hilfsbereite Nachbarn (Förderfaktoren), oder auch hinderlich sein, z. B. Treppenstufen (Barrieren).
Personenbezogene Faktoren bilden den besonderen Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen ab. Sie sind Merkmale einer Person, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustands sind. Diese Faktoren können Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, andere Gesundheitsprobleme, Fitness, Lebensstil und Gewohnheiten, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung, Beruf sowie vergangene und gegenwärtige Erfahrungen, allgemeine Verhaltensmuster und Art des Charakters, das individuelle psychische Leistungsvermögen etc. umfassen. Personenbezogene Faktoren sind in der ICF bisher nicht klassifiziert (MDS, GKV, 2012, S. 12 f.).
Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff für Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe. Er bezeichnet die positiven Aspekte der Interaktion zwischen einer Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand und deren individuellen umwelt- und personenbezogenen Kontextfaktoren.
Behinderung ist ein Oberbegriff für Schädigungen sowie Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe. Er bezeichnet die negativen Aspekte der Interaktion zwischen einer Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand und deren individuellen Kontextfaktoren ( Abb. 2).
Die besondere Rolle der Kontextfaktoren
arrow Kontextfaktoren arrow
Kontextfaktoren stellen die gesamten Lebensumstände einer Person dar. Sie umfassen zwei Komponenten: Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren.
Kontextfaktoren können sich positiv (Förderfaktoren) oder negativ (Barrieren) auf die funktionale Gesundheit auswirken und müssen deshalb bei der Rehabilitation unbedingt berücksichtigt werden.
»Zum Kontext eines Menschen gehören sowohl die Lebensgeschichte und Persönlichkeit als auch die physische und soziale Umwelt. Deshalb richtet sich die rehabilitative Tätigkeit nicht nur an die betroffenen Personen selbst, sondern betrifft auch die Bedingungen, welche die Beeinträchtigungen verstärken oder vermindern.« (BAR: ICF-Praxisleitfaden, 2-2008, S. 7)
Zum Beispiel ist eine Person für die Fortbewegung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Sie kann möglicherweise nur an einer Veranstaltung teilnehmen, wenn der Zugang zum Veranstaltungsraum barrierefrei ist. Nach der ICF-Systematik definiert sich ein barrierefreier Zugang als fördernder Kontextfaktor, eine Treppe als hinderlicher Kontextfaktor. Hinderliche oder fördernde Kontextfaktoren können aber auch sozialer Natur sein, z. B. negative gesellschaftliche Einstellungen gegenüber der Behinderung oder die Unterstützung von Familie und Nachbarn (vgl. Gutenbrunner, 2007, S. 114).
Abb. 2: Behinderung und Funktionsfähigkeit (Quelle: Boldt, 2009)
Die Unterschiedlichkeit der Auswirkungen von Krankheitsfolgen infolge von Krankheiten und der Einfluss der Kontextfaktoren, die laut Gutenbrunner (2007, S. 115) den Gesundheitsumstand stärker prägen können als die Krankheit selbst, zeigt der folgende Vergleich:
Fall 1
Herr Baier erleidet mit 52 Jahren eine komplexe Knieverletzung, die operativ versorgt und funktionell nachbehandelt worden ist. Er behält ein Beugedefizit zurück, und die Gehstrecke ist auf 500 Meter eingeschränkt sowie schmerzhaft. Herr Baier ist vorher Auto gefahren und bewohnt eine Erdgeschosswohnung. Er treibt keinen Sport und seine berufliche Tätigkeit als Verwaltungsangestellter übt er überwiegend im Sitzen aus. Trotz seines erheblichen Funktionsdefizites sind seine persönlichen Aktivitäten und Partizipation und seine übliche Lebensführung nicht wesentlich eingeschränkt.
Fall 2
Herr Bade zieht sich eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes zu und muss operiert werden. Durch eine funktionelle Therapie wird er gut behandelt. Es besteht keine Einschränkung der Beweglichkeit. Dennoch ist die Kraft des einen Muskels auf der betroffenen Seite um ca. 20 % gemindert. Es besteht ein gelegentliches unwillkürliches »Wegknicken« des betroffenen Knies. Herr Bade ist Dachdeckermeister und spielt in seiner Freizeit Fußball. Er ist nicht mehr in der Lage, weder seinen Beruf weiter auszuführen noch seinem Freizeitsport nachzugehen. Es besteht ein erheblicher, umfassender Rehabilitationsbedarf, der mit Umschulungsmaßnahmen verbunden ist.
Bei Herrn Bade sind die funktionellen Krankheitsfolgen zwar deutlich geringer ausgeprägt als bei Herrn Baier, doch seine Einschränkungen der individuellen Aktivitäten und Teilhabe erweisen sich gemessen an der individuellen Lebensweise als deutlich gravierender (vgl. Gutenbrunner, 2007, S. 114 f.).
Gesundheitsbezogene Lebensqualität
Einher mit dem Begriff der funktionalen Gesundheit spielt die gesundheitsbezogene Lebensqualität in der Rehabilitation eine zentrale Rolle.
Unter der gesundheitsbezogenen Lebensqualität werden die Aspekte der Gesundheit verstanden, die »nicht physiologischer und biochemischer Natur sind. Sie kann nicht nur durch Krankheiten beeinträchtigt sein, sondern ist nach dem biopsychosozialen Modell auch von der Krankheitsverarbeitung sowie von einer Reihe von physikalischen und sozialen Umweltfaktoren (Kontextfaktoren) abhängig.« (Gutenbrunner, 2007, S. 118 f.).
Das Ziel der gesundheitsbezogenen Lebensqualität lässt sich durch drei unterschiedliche Strategien erreichen, die unmittelbar zusammenhängen, diagnoseübergreifend sind und letztendlich die Ansatzpunkte der Rehabilitation unter Anwendung des biopsychosozialen Modells darstellen (vgl. Gutenbrunner, 2007, S. 119; Ewert, Cieza, Stucki, 2003, S. 12, 157–162):
1. Behandlung der geschädigten Körperfunktionen und Strukturen (kurative Strategie)
2. Überwindung und/oder Kompensation von Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, der Aktivitäten und der Partizipation (rehabilitative Strategie)
3. Vermeidung weiterer Beeinträchtigungen der Körperfunktionen, Aktivitäten und der Partizipation (präventive Strategie).
1.6 Funktionen und Anwendung der ICF in der Rehabilitation
Die ICF ermöglicht, eine ressourcenorientierte Betrachtung, eine einheitliche konzeptionelle Herangehensweise in der Rehabilitation zu fördern und als berufsgruppenübergreifende »Sprache« zu dienen. Die komplexen Zusammenhänge, die jeder Mensch mit sich und seiner Umwelt verbindet, lassen sich darstellen und verschaffen dem Rehabilitationsteam Klarheit über die passende Behandlungsstrategie.
Die ICF hat zwei Funktionen: Sie ist
• eine Konzeption zum besseren Verständnis der Komponenten der Gesundheit und der theoretische Rahmen zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen diesen Komponenten und
• ein Schema zur Klassifizierung und Kodierung der Komponenten der Gesundheit und Kontextfaktoren.
Die ICF in ihrer originalen Form ist komplex und schwer umsetzbar (vgl. DIMDI). Möglichkeiten, die ICF in der Praxis einzusetzen und mit ihr zu arbeiten:
• Man wendet das biopsychosoziale Modell an und arbeitet nach den Begrifflichkeiten der ICF
• Man benutzt die Codierungen der ICF (z. B. in Form von sogenannten Core-Sets)
Abb. 3: ICF-Fallstruktur (Quelle: Boldt, 2009)
»Die entscheidende konzeptionelle Errungenschaft der ICF ist aber alleine die Verankerung der Erkenntnis, dass für eine erfolgreiche Behandlung der Patienten in allen Gliedern der medizinischen Versorgungskette, aber insbesondere in der Rehabilitation, der gesamte Lebenshintergrund der Betroffenen berücksichtigt werden soll und muss.« (Schmidt, Thiele, Leibig, 2012)
Wie die Perspektive eines Betroffenen und des Rehabilitationsteams anhand der ICF geordnet werden kann, zeigt die Fallstruktur in Abbildung 3.
arrow Die »Sprache« des Patienten in die ICF-Sprache übersetzen arrow
An den Berufsgruppen, die an der Rehabilitation eines Patienten beteiligt sind und im Sinne der ICF arbeiten, liegt es wiederum, die Sprache des Patienten in die ICF zu »übersetzen«. Denn der Patient sieht nur die durch die Krankheit entstandenen Einbußen der Aktivität und Teilhabe, für ihn ist es in erster Linie wichtig, sich allein versorgen, arbeiten und seinen Interessen nachgehen zu können.
1.7 Gesetzliche Grundlagen der Rehabilitation
arrow Die drei Säulen im deutschen Gesundheitssystem