Graz im Dunkeln
Von Robert Preis
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Über dieses E-Book
Robert Preis
Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren. Nach dem Publizistik- und Ethnologiestudium in Wien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er ist Journalist, Autor zahlreicher Romane und Sachbücher und Initiator des FINE CRIME-Krimifestivals™ in Graz. www.robertpreis.com
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Buchvorschau
Graz im Dunkeln - Robert Preis
Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Studium in Wien und einem längeren Auslandsaufenthalt in Kroatien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er arbeitet als Journalist bei einer Tageszeitung und schrieb zahlreiche Sachbücher und Romane.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © Marija Kanizaj
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-296-8
Originalausgabe
Mit Unterstützung durch das Land Steiermark
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Dieses Buch ist meinen Großeltern gewidmet.
Für ihre Erzählungen aus unsagbaren Tagen, die für alle Zeit meine Phantasie genährt haben.
»It was not a fantasy. It was a real experience.«
Betty Hill im Jahr 1961.
Sie und ihr Mann Barney gelten als
die ersten Entführungsopfer durch »die Grauen«.
Teil 1
1
1486 v. Chr.–1425 v. Chr.
In den Annalen des Pharao Thutmosis III. wird von »Kreisen aus Feuer« berichtet. Die Kreise wurden mehrere Tage lang am Himmel beobachtet.
Der Himmel über Graz ist hoch und wolkenlos. Wie eine künstliche Kuppel liegt er über der Welt. Unter ihm breitet sich ein riesiges verschachteltes Gebäude mit Leuchtschriften aus, das von Menschen umschwirrt wird wie ein Ameisenhaufen. Weitere, kleinere Gebäudeschachteln sind über das Gelände verstreut, das vor allem aus gewaltigen Asphaltflächen besteht.
Von der Autobahn kriecht der Verkehr in Kolonnen erwartungsvoll auf das krakenhafte Gebilde zu, das zweitgrößte Einkaufszentrum Österreichs. Es nennt sich Shoppingcity Seiersberg, was ein bisschen nach Hollywood und Vergnügungsviertel klingt, tatsächlich aber befindet sich das Einkaufszentrum im Süden von Graz, einer kleinen, dickluftigen Stadt, die von Weinhügeln, Maisäckern und unzähligen Einfamilienhäusern umgeben wird. Sie liegt gleich an der A 9, der Autobahn, die in den Süden führt. Richtung Meer. Richtung Urlaub. Richtung – weit weg.
Das Kind sieht den Mann im Spiegelbild einer Spielzeug-Auslage. Es dreht sich abrupt um und zerrt an der Hand der Mutter, die daraufhin mit der Zunge schnalzt, als hätte sie zum wiederholten Male erfolglos versucht einen Gedanken zu fassen.
»Ich will dahin, Mama, bitte!«
Widerwillig lässt sich die Frau von ihrem quengelnden Sohn quer über die zweite Ebene des Einkaufszentrums zerren. In der anderen Hand trägt sie einen Plastiksack, gefüllt mit Lebensmitteln.
Die Last der Einkaufstasche quetscht das Blut ihrer Finger ab. Sie löst sich von der schwitzigen kleinen Hand ihres Sohnes und stellt die Einkaufstasche zwischen ihre Beine. Als sie aufschaut, steht sie einem Streifenpolizisten gegenüber. Er hat sich gerade noch mit einem anderen Mann unterhalten, bevor er sich nun umdreht und sie mit stahlblauen Augen einschüchternd direkt anblickt.
Es scheint, als falle es ihm schwer, sich von ihr zu lösen, und so wirft er nun einen fast tadelnden Blick auf den Buben, der immer noch aufgeregt an der Seite der Mutter zappelt. Der Beamte zwingt sich zu einem Lächeln. »Na, will der Herr auch zur Polizei?«, brummt er durch seinen Schnauzbart. »Na, da muss er aber noch eine Weile zur Schule. Na, und die Frau Mama? Na, die kann derweil ja ein paar Broschüren mitnehmen. Darf ich Ihnen unsere …?«
Der Mann riecht nach Leder und Rasierwasser. Seine Fingernägel sind kurz geschnitten, seine Haut hat den gleichmäßigen Farbton dezenter Solariumbräune. Der Duft des Rasierwassers steigt ihr durch die Nase direkt ins Gehirn und löst dort eine chemische Reaktion aus.
Sie lächelt verlegen, seltsam berührt. Wie damals in der Schule, als der hübscheste Junge aus der Nachbarklasse sie zum ersten Mal ansprach. »Du-u«, sagte er, nachdem er ihr mit dem Zeigfinger auf die Schulter getippt hatte. »Sind wir Freunde?« Sie hatte mit der Schulter gezuckt und »Okay« gesagt, woraufhin der Junge ihr mit hochrotem Kopf feierlich sein Freundschaftsbuch überreichte.
Sie kommt sich tatsächlich vor wie ein kleines Mädchen. Der Polizist lächelt zurück und blickt sie wieder an.
»Na«, sagt er erneut, diesmal nach einem Räuspern, als müsse er die Worte aus dem Inneren seines Körpers pressen, »vielleicht will der Bub ja ein bisschen in die Kinderbetreuung, während die Mama sich informiert?«
Armin Trost kann das nicht mehr hören. Diese ständig gebrummten »Nas«. Der Kollege hat doch einen Tick, einen Sprachdefekt, so viel steht mal fest. Und mit diesem Defekt macht er sogar wildfremde Mütter an.
Er ist nur zufällig vorbeigekommen, weil er sich nach einem geeigneten Buch für Charlotte umsehen will, die bald Geburtstag hat – und einen Faible für skandinavische Krimis mit mehr als fünfhundert Seiten. Auf dem Weg in den Buchladen hat er den Kollegen der Inspektion Seiersberg getroffen. Er kennt ihn noch aus der Zeit vor der Umstrukturierung der Dienststellen, als er noch Gendarm am Posten war.
Graz ist klein. Man läuft sich immer wieder über den Weg. So oft jedenfalls, dass man nicht einfach aneinander vorübergehen kann, wenn man sich in einem Einkaufszentrum begegnet.
Seit ein paar Minuten sucht Trost bereits nach einem geeigneten Moment, um sich wieder zu verabschieden, doch stets hebt der Kollege an, ihm eine Geschichte zu erzählen, deren Faden er längst verloren hat. »… und dann habe ich gesagt …« Er verteilt eine Polizei-Broschüre, wechselt ein paar Worte mit einer Sandalen tragenden dürren Frau, die dünn lächelt. »… auf jeden Fall sagen die Wiener immer …« Eine Gruppe kichernder Burschen fragt, ob es noch Politessen gibt. »… und Kroatien ist sowieso viel besser als Italien …« Und dann taucht auch noch diese Frau mit dem Buben auf.
»Na, jeder braucht doch einen Freund und Helfer. Sie sicher auch«, säuselt der Polizist gerade. Die hellen Augen unter der Schirmmütze blitzen so blau wie die von Terrence Hill. Seine Mundwinkel zucken.
Trost bildet sich ein, sogar Bläschen auf seinen Lippen auszumachen und zu sehen, wie ein gelber Mitesser unter dem Nasenflügel zum Vorschein kommt. Ihm fällt auch auf, dass die Frau einen Schritt näher tritt und nervös lächelt, wobei sie eine Reihe kleiner dunkelgelber Zähne entblößt. Er glaubt, die elende Mundgeruchmischung aus kaltem Kaffee, Zigaretten und Extrawurst zu erkennen.
Der Bub mustert ihn missbilligend. Wahrscheinlich weil Trost keine Uniform trägt und stört, während seine Mutter hier gerade mit einem richtigen Polizisten anbandelt. Der Junge hat schwarze Augen wie Knöpfe und fixiert ihn wie ein Insekt. Als Trost sich entschuldigt und zwischen die Menschenmenge hindurch in Richtung Toilette schiebt, verabschiedet sich niemand von ihm.
Chefinspektor Armin Trost ist seit dem frühen Vormittag auf den Beinen. Er hat angenommen, im Einkaufszentrum am schnellsten ein geeignetes Geburtstagsgeschenk für Charlotte zu finden. Zuerst hat er in Modeboutiquen, danach in Drogerien gesucht, es aber schließlich aufgegeben und ist dann auf die Buchhandlung zugesteuert. Er ist wieder einmal dem Trugschluss zum Opfer gefallen, dass, wenn man nicht genau weiß, was man schenken soll, die Vielfalt eines Einkaufszentrums hilfreich ist. In Wahrheit ist natürlich das Gegenteil der Fall. Mehr als zweihundert Geschäfte, fünfundachtzigtausend Quadratmeter Verkaufsfläche, eine eigene Welt, die mit einem schier erdrückendenden Angebot für den Unentschlossenen aufwartet.
Irgendwann einmal hat er einen Bericht in der Zeitung gelesen über Leute, die hier ihre Freizeit verbringen. Manche Menschen spazieren durch Parks oder joggen oder sitzen in den Kaffeehäusern der Innenstadt, andere kommen hierher ins überdachte Shopping-Paradies, um den ganzen Tag auf und ab zu schlendern. Vielleicht da und dort ein Bier, eine Pizza, aber im Grunde wollen sie nur in der künstlichen Welt ohne Tageslicht und Wetter Zeit verbringen. Sie regelrecht totschlagen. Und wenn sich zigtausende Menschen durch eine klimatisierte, künstliche und auf einschläfernde Art entrückte Auslagenwelt schieben, kennt man hier immer jemanden.
Wenn Trost zu lange auf hartem Untergrund steht, breitet sich der Schmerz vom Knöchel über die Wade und das Knie bis zu den Lendenwirbeln aus. Ihm tut das Kreuz weh. Und der Kopf. Das ständige Kaufhausgedudel macht ihn wahnsinnig. Er ärgert sich jetzt, noch nicht in der Buchhandlung gewesen zu sein, der einzige Ort im gesamten Center, der nicht mit Musik berieselt wird. Sogar hier auf dem Klo gibt es Musik. Als könne man den Leuten die an einem solchen Ort unvermeidlichen Geräusche nicht zumuten. Er fühlt sich wie in einem Steven-Spielberg-Film: Jede Bewegung, jeder Dialog, einfach alles wird von Musik untermalt. Als hätte es Bedeutung. Aber – was hat in der Realität schon Bedeutung? Trost hat das Bild der zitternden Wasserlache von »Jurassic Park« vor seinem inneren Auge. Automatisch überkommt ihn das Gefühl, eine unbekannte Macht nähere sich mit schweren Schritten. Er stellt sich die Musik von »Der Weiße Hai« vor – tam tam tam tam.
Er fuchtelt so lange vor der Waschbeckenarmatur herum, bis endlich Wasser aus dem Hahn schießt. Mehrere Tropfen treffen seine Hose, weil der vom Sensor ausgelöste Strahl zu stark ist. Er flucht und wischt mit einem Papierhandtuch so lange an dem Hosenbein seiner blauen Jeans herum, bis die Hose an der Stelle kleine Fältchen schlägt. Um auch seinen Ärger wegzuschwemmen, wäscht er sich danach das Gesicht. Während die Tropfen über die langen Barthaare an seinem Kinn rinnen, betrachtet er sich im Spiegel. Sein Vollbart, dessen Farbe an den Rost alter Autos erinnert, ist länger geworden und lässt sein Gesicht rundlicher wirken. Charlotte nennt ihn oft liebevoll »mein Pirat«, seine Tochter Elsa schimpft, er schaue aus wie ein alter Mann, wie ein Opapapa. Jonas, sein Ältester, ignoriert ihn meistens, egal ob mit oder ohne Bart. Die ebenfalls rostig anmutenden Haare kräuseln sich über den Ohren, und die Augen laufen in feine Fältchen aus, sodass er wie jemand wirkt, der viel zu lachen hat. Das kostet ihn nun wirklich einen Lacher. Trost ist kein Mensch, der häufig lacht. Er ist nie so einer gewesen.
Er starrt sein Spiegelbild so lange an, bis er zu schielen beginnt. Die Farben verschwinden. Die Konturen verschwimmen. Einen Sekundenbruchteil lang kommt es ihm so vor, als würde er auf sein Skelett, seinen Totenschädel blicken. Als verfüge er über einen Röntgenblick. Er reißt sich los und reibt sich mit zusammengepressten Augen die Nasenwurzel.
Als er die Augen öffnet, hat sich etwas verändert. Er betrachtet noch einmal sein Spiegelbild, sieht seinen breiten, bulligen Körper, den man auch mit etwas weniger Wohlwollen als untersetzt bezeichnen könnte. Er trägt ein weißes, an den Ärmeln aufgekrempeltes Hemd, das weit genug geschnitten ist, um die Konturen seines Körpers nicht allzu sehr zu betonen. Es hängt lässig über den ausgewaschenen blassblauen Jeans, die Rissstellen aufweisen, was ihn, noch dazu in Kombination mit den jeansfarbenen Stoffturnschuhen, jugendlicher, ja, in einer naiven Hoffnung sogar geradezu verwegen aussehen lassen soll.
Er dreht den Kopf und schaut sich um. Er befindet sich in einem sterilen Nassbereich mit Fliesenboden, auf dem die Reste von Papierhandtüchern und Klopapier kleben. An der Wand hängt eine Tafel, auf der mit krakeliger Schrift die Putzdienste eingetragen sind. Der nächste Rundgang scheint in wenigen Minuten anzustehen und ist, wie Trost findet, auch dringend notwendig. Ein Seifenspender tropft und hinterlässt auf dem Waschbecken ein zähflüssiges gelbes Rinnsal. Auf einer Fliese steht in roter Farbe und in Großbuchstaben: FUCK THE CHURCHES.
Irgendetwas ist anders. Vor wenigen Sekunden noch war das eine ganz gewöhnliche Herrentoilette, also ein nicht wirklich appetitlicher Ort. Doch jetzt hat sich etwas verändert. Oder vielmehr: Etwas fehlt.
Dann fällt es ihm auf. Die Kaufhausmusik ist verstummt. Zum ersten Mal an diesem Tag ist es vollkommen still um ihn herum.
Er macht einen Schritt auf die Schiebetür zu, die sich mit einem Seufzen automatisch öffnet, und tritt auf den Gang hinaus. Auch hier keine Musik, wenngleich es keineswegs still ist. Eine Frau mit Einkaufswagen läuft ihm hysterisch schreiend entgegen.
»FORT! LAUFEN SIE!«, plärrt sie mit sich überschlagender Stimme. In ihrem Einkaufswagen hockt ein weinendes Kind. Die Frau hetzt an Trost vorüber, reißt ihr heulendes Bündel so heftig aus dem Wagen, dass zu befürchten ist, dass es sich dabei verletzt, und stemmt sich gegen die Notausgangstür. Sekunden später sind beide verschwunden.
Trost rührt sich keinen Millimeter. Weitere bleiche Gesichter kommen ihm entgegen. Alle kreischen, rufen und stottern durcheinander. Auch von weiter weg dringen jetzt Schreie und das Weinen von Kindern zu ihm.
Endlich reagiert er und läuft zum Info-Stand, doch vom nervenden Kollegen und seiner jüngsten Eroberung fehlt jede Spur. Ein paar Polizei-Broschüren flattern herum. Wahrscheinlich hat er die Frau mit einem »Na …?« gepackt und ist mit ihr wohin auch immer gerannt. Ob er den Buben mit den Knopfaugen auch mitgenommen hat?
Überall rennen Menschen, einige stürzen, andere stolpern über sie. Manche schauen verwirrt um sich, grinsen verstört, weil sie sich vielleicht in einem Flashmob wähnen, jenem lustigen und gerade sehr modernen Gesellschaftsspiel, das immer auch ein wenig verstören will, bei dem eine Gruppe etwas völlig Unerwartetes tut.
Schreie und Rufe überlagern sich im Echo, das sie selbst verursachen, während Trost noch immer atemlos vor dem Info-Stand steht. Er hält eine Broschüre in der Hand, obwohl er sich nicht erinnern kann, sie aufgehoben zu haben, und ist außerstande, sich zu bewegen. Er versucht zu verstehen, was hier vor sich geht. Und scheitert. Als er sich im Kreis dreht, spürt er, dass sich die Haare seiner Arme aufgerichtet haben. Etwas nähert sich.
Weitere wertvolle Sekunden vergehen, und er weiß, dass sie einer Ewigkeit entsprechen und die Möglichkeiten verringern, was oder wem auch immer zu entkommen. Doch er kann nicht reagieren, fixiert stattdessen nur die Rolltreppe, als folge er einer Intuition. Stufen, die lautlos vom Obergeschoss herabrinnen.
Erst sieht er Sandalen, dann taucht eine dunkelblaue Latzhose auf, gefolgt von einem weißen T-Shirt, unter dem sich der Oberkörper eines jungen, kräftigen, sportlichen Mannes abzeichnet. Ein blasses, kantiges Gesicht mit dem grauen Schatten eines sprießenden Bartes. Kurz geschorenes Haar. Augen, die in tiefen Höhlen nervös hin und her zucken. Rissige Lippen. Eine vor Schweiß glänzende Stirn. Und in der Hand ein Jagdgewehr.
2
11 v. Chr., Rom
Julius Obsequens behauptet in seinem Buch Prodigorium Liber (dt. »Buch der Vorzeichen«), fliegende »Dinge wie Schiffe« und »runde Schilde« am Himmel gesehen zu haben.
Der Dienst in der Einsatzzentrale Seiersberg verläuft bislang wie an fast jedem Tag. Die Anrufe kommen im Minutentakt.
Fritz Gstrein ist schon seit dreißig Jahren Polizist, seit fünf Jahren hier in der Notfallzentrale, mehr oder weniger mit einer Ausnahmegenehmigung. Denn während die Kollegen sich mit Innen- und Außendiensten abwechseln, hat er sich darauf spezialisiert, nur noch Anrufe entgegenzunehmen. Seine Dienste kosten ihn eine Menge Lebenszeit, sind zwölf, manchmal vierundzwanzig Stunden lang. Kein einziger Anruf im Plauderton, alles ist dringlich, die Nerven immer angespannt.
Natürlich gibt es auch Anrufe von Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Notrufe abzusetzen, doch die bekommen es entweder mit einer saftigen Rechnung zu tun oder Gstrein würgt sie einfach ab. Die überwiegende Mehrzahl aber leiten richtige Einsätze ein. Während Gstrein noch mit den Anrufern spricht, sie zu dem Vorfall befragt und persönliche Daten dokumentiert, läuft im Hintergrund bereits der Einsatz an. Ein eingespieltes Prozedere eines eingespielten Teams. Denn so wie die meisten seiner Kollegen hat auch Gstrein eine für diesen Job entscheidende Eigenschaft verinnerlicht: absolute Ruhe. Absolute Gelassenheit. So als wäre die Welt am anderen Ende des Telefons nicht real. Als spiele sie in seinem wirklichen Leben keine Rolle. Diese Welt kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Und Gstrein hat es schon mit vielen Szenarien zu tun gehabt. Eigentlich mit allen, die möglich sind.
Manchmal, wenn er in seine Zwei-Zimmer-Wohnung in Eggenberg heimkommt, begegnet er der Haushälterin. Sie ist eine der wenigen Menschen, die es schafft, ihm etwas aus seinem Berufsleben zu entlocken. Dann berichtet Gstrein ihr von Verkehrsunfällen, Diebstählen oder Lärmbelästigungen im Studentenviertel. Natürlich nennt er dabei niemals Namen. Niemals verrät er Interna. Eher berichtet er wie eine Zeitungsüberschrift. Wie ein Korrespondent aus einem anderen Land. Und genießt das erstaunte Gesicht der Haushälterin, die ihn für sein abenteuerliches Leben bewundert.
In Wahrheit ist sein Leben natürlich gar nicht abenteuerlich. Schon lange nicht mehr. Seit seine Frau vor mehr als zwanzig Jahren mit den Kindern und einem jungen Musiker fortgelaufen ist. Und seit er in der Notrufzentrale sitzt, ohnehin nicht mehr. Nichts, was ihn noch erschüttern könnte. Alles ist geradlinig. Eben. Ein Tag gleicht dem anderen, eine Minute der anderen. Notruf hin oder her.
»Seiersberg von Seiersberg eins, kommen«, knackt es im Kopfhörer, und dann hört Gstrein etwas, das ihn doch überrascht. Zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber doch gerade so lange, dass er geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen einsaugt. Die Kollegen, die über ein sensibles Sensorium für Abweichungen von der Norm verfügen, wenden sich ihm sofort in ihren Drehsesseln zu und wechseln einen Blick. Gstrein stellt den Lautsprecher des Telefons an und legt die Stirn in Falten.
»… ich wiederhole, Amoklauf in der Shoppingcity … Verstärkung angefordert …«
Doch nach einer Sekunde, einer seltenen Schrecksekunde, ist die Überraschung auch schon wieder vorüber, und die Routine übernimmt die Oberhand. Während Gstrein mehr in Erfahrung bringt, leitet ein Kollege bereits den Einsatz ein.
Ein Einsatzwagen ist bereits vor Ort, verständigt soeben die Zentrale und wartet auf Unterstützung. In weniger als zwei Minuten trifft die erste Sektorstreife mit eingeschaltetem Martinshorn vor dem Einkaufszentrum ein. Die Kollegen stimmen sich ab, debattieren kurz, während motorisierte Einheiten zu ihnen stoßen. Weitere Streifenwägen sichern mit quietschenden Reifen die Straßen ab, die Autobahnabfahrt wird gesperrt, die Straßen durch den lediglich aus Einfamilienhäusern und Geschwindigkeitsbeschränkungen bestehenden Ort Seiersberg werden blockiert.
Über die Karlauerstraße stadtauswärts Richtung Süden rasen bereits zwei Busse mit den besten Polizisten des Landes heran. Die Cobra-Süd-Einheiten ziehen sich schwarze Strumpfmasken über, schließen ihre Overalls, überprüfen ihre Sturmgewehre, die Scharfschützen checken die Zielfernrohre. Über den Dächern von Graz rattern die Rotorblätter des soeben gestarteten Polizeihubschraubers, dessen Insassen beobachten, wie schnell sich rund um das Einkaufszentrum ein Stau bildet. Es ist Freitagnachmittag kurz vor den Sommerferien, die halbe Stadt ist schon auf dem Weg ins Wochenende.
Keine zehn Minuten nach dem Eingehen des Notrufs wimmelt es in den Rettungsgassen von Einsatzfahrzeugen. Aus allen Himmelsrichtungen rasen Streifen in Richtung Seiersberg, Rettungswägen sind angefordert, die Verhandlungsgruppe Süd, ein psychologisch geschultes Team, trifft bereits am Parkplatz ein und verschafft sich einen Überblick über die Lage. Kartenmaterial wird auf Kühlerhauben aufgebreitet, Funkgeräte knacken, hastig fummeln nervöse Hände an Uniformen herum.
Aus den Bussen, die gerade mit quietschenden Reifen eingetroffen sind, schwärmen jetzt die Cobra-Einheiten aus und zwängen sich durch die ihnen aus dem Inneren des Gebäudes entgegenströmenden Massen. Die Leute rennen weiter, obwohl sie längst in Sicherheit sind. Auch ein Polizist ist unter ihnen, an einer Hand hält er eine Frau, an der anderen zieht er einen Buben mit sich. Der Bub schaut ihn mit großen dunklen und bewundernden Augen an. Der Polizist riecht nach Leder und Rasierwasser und trägt immer noch seine Schirmmütze. »Na, das ist einmal ein Abenteuer, was?«, ruft er.
Die Cobra-Truppe dringt so zielstrebig ins Einkaufszentrum ein, als wüsste sie längst, wo genau sich der Amokläufer aufhält. Im selben Moment setzt die Kaufhausmusik wieder zögerlich ein, langsam, als kurble jemand dafür an einem Leierkasten. »It’s not unusual …« Einige Sekunden später verstummt Tom Jones wieder, um danach neuerlich einzusetzen: »… to be loved by anyone …«, und hört schließlich abermals auf.
Statt der Musik tönt nun eine Stimme aus den Lautsprechern. Sie klingt wie eine Bahnhofsdurchsage, und Armin Trost kann sie wegen des vielmaligen Echos, das sie hinter sich herzieht, kaum verstehen. »Achtung, A-A-A-ch-ch-tu-ng-ng. Die Not-ot-ot-aus-ot-gäng-aus-not-gäng-verfü-gä-bar …« Dann hört er zum ersten Mal Schüsse. Ein kurzes, knappes Geräusch. Ein Geräusch, das an zuschlagende Türen erinnert und ihn aus seiner lähmenden Haltung reißt.
Trost rennt in Richtung Rolltreppe, biegt zuvor jedoch scharf links ab und taucht in den schmalen Gängen eines Lebensmittelmarkts unter.
»Raus hier, alles raus hier!«, ruft er, doch seine Stimme verliert sich im allgemeinen Chaos. Wieder hört er Kinder schreien, und sein Herz hämmert so laut in seinem Schädel, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen kann.
Gerade als er eine Frau mit einem Baby im Arm sieht, taucht keine dreißig Meter hinter ihr wieder der Mann mit dem Jagdgewehr auf. Er fuchtelt mit der Waffe herum, zielt in ihre Richtung, schießt und verfehlt sie nur knapp. Das Geschoss trifft ein Regal voller Bio-Lebensmittel. Flüssigkeiten spritzen durch den Raum, Scherben, Splitter und undefinierbare Verpackungsinhalte fliegen umher.
Trost stolpert über einen Korb mit Aktions-Schokolade und schlägt ein beinah lupenreines Rad. Benommen rappelt er sich auf, während unter ihm die Rippen der Schokoladentafeln knacken. Den Amokläufer sieht er nicht, doch seine Schüsse sind zu hören. Und seine Schreie. »AAAH, SCHLEICHTS EUCH!«
Als kurz Stille einsetzt, rekapituliert Trost. Vier Schüsse. Der Mann muss alle vier Schüsse nachladen.
Er packt die Frau mit dem Baby bei der Hand und zerrt sie mit sich. Mit ihr hechtet er über umgestoßene Einkaufswägen, reißt am Arm eines gestürzten Jugendlichen und nimmt auch ihn an der Hand. Hinter sich vernimmt er abermals zwei Schüsse, die nicht ihnen gelten. Das Baby schreit nicht, gibt überhaupt keinen Ton von sich. Es spürt instinktiv, dass seine Mutter Angst hat. Plötzlich geht der Jugendliche an Trosts Seite zu Boden und greift sich ans Bein. Es blutet, seine Jeans hängen in roten Lappen über sein Knie. Eine Kugel muss ihn getroffen haben. Stumm starrt er Trost aus großen Augen an. Er zittert. Trost reißt ihn unsanft hoch und zerrt ihn wieder hinter sich her. Als ein dritter Schuss fällt, spürt Trost einen Ruck an seiner Schulter. Der Bub an seiner Seite wird schwerer, entgleitet ihm, geht zu Boden und blutet aus dem Hals. Er lebt nicht mehr.
Vor dem Notausgang hat sich eine Traube gebildet. Panisch schiebt Trost die Leute vor sich her. Ein vierter Schuss fällt, und als er über seine Schulter blickt, nähert sich ihnen der Mann, während er im Gehen nachlädt. Einen Moment denkt Trost, er könnte ihn überwältigen, einfach hinrennen und mit bloßen Fäusten ums Überleben kämpfen, aber der Mann reagiert schnell. Schon wieder hebt er den Lauf. Ein freudloses Lächeln hat sich auf seine Lippen gelegt. Das Gewehr mit beiden Händen in Hüfthöhe haltend, geht er auf ein Kind zu, das weinend am Boden sitzt. Verwirrt und ängstlich starrt es den Mann an. Es versteht nicht, was vor sich geht. Was der Fremde von ihm will. Als sich die Mündung des Gewehrs in Richtung des Kindes bewegt, löst Trost sich aus der Menschentraube vor dem Notausgang und steuert auf den Fremden zu.
Der Mann schaut auf und hebt seine Waffe, sodass nun Trost seinerseits in die Mündung blickt und nur noch flach atmet.
»Ich kann Sie von hier wegbringen«, sagt er. »Fahren wir mit dem Auto davon. Einfach fort. Aus dem Gebäude kommen Sie auf eigene Faust nie mehr raus.«
Die Mündung des Gewehrs, bei dem es sich um eine schwarze Repetierbüchse mit Zielfernrohr handelt, senkt sich. Der Blick des Amokläufers wandert wieder zu dem Kind.
»Schauen Sie mich an!«, ruft Trost. Seine Stimme überschlägt sich. Er macht einen weiteren Schritt auf den Bewaffneten zu, will dessen Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken.
Der Mann ist groß wie ein Schrank. In seinen klobigen Händen wirkt das Jagdgewehr wie eine Wasserspritzpistole. Das T-Shirt, das an der Schulter Blutspritzer zieren, spannt sich um seinen Brustkorb. Seine Jeans hängt ihm tief in der Hüfte, die Zehen, die aus seinen Sandalen ragen, sind schmutzig. Der Nagel des linken großen Zehs ist blau, die Sandalen wirken ausgetreten.
Jetzt sieht der Mann Trost tatsächlich wieder an. Sein Gesichtsausdruck ist unendlich traurig, er atmet schwer, sieht aus, als würde er jeden Augenblick heulend zusammenbrechen.
»Lassen Sie das Kind gehen«, versucht es Trost mit weicherer, zitternder Stimme. »Sie haben ja jetzt mich.«
Schaufensterpuppen starren sie an. Ein Buchstabe einer Leuchtschrift hängt herab, für Trost ein Anzeichen dafür, dass der Verrückte nicht nur auf Menschen zielt oder aber kein sehr geübter Schütze ist. Von irgendwoher ertönt plötzlich das Geräusch einer Sirene, und Trost überlegt kurz, ob in dieser Situation tatsächlich jemand den Nerv gehabt haben könnte, Waren aus Geschäften mitgehen zu lassen. »Ver-ver-lassen-n-n-das-Gebäude …«, hebt die Stimme aus den Lautsprechern des Einkaufszentrums wieder an. Irgendjemand muss noch in diesem Moment vor einem Mikrofon sitzen und unnötige Kommandos durch die großteils längst leeren Gänge des Einkaufszentrums brüllen.
Der Amokläufer betrachtet Trost genauer. Amokläufer, schießt es Trost plötzlich durch den Kopf. Er liefert sich soeben einem Amokläufer aus. Einem Verrückten, der wer weiß wie viele Menschen aus welchem Grund auch immer bereits auf dem Gewissen hat. Vielleicht weil er an einen anderen Gott glaubt und davon überzeugt ist, dass nur sein Glaube der richtige ist. Möglicherweise ist er ein Extremist, der sich entschlossen hat, vor nichts zurückzuschrecken, der mit nichts zu stoppen ist, am allerwenigsten mit Argumenten. Oder aber er will sich einfach nur Gehör verschaffen.