in: Okwui Enwezor, Rein Wolfs (Hg.): Hanne Darboven. Aufklärung -Zeitgeschichten. Eine Retrospektive (Haus der Kunst München | Bundeskunsthalle Bonn), München, London, New York: Prestel,[184][185][186][187][188][189][190][191][192][193]...
morein: Okwui Enwezor, Rein Wolfs (Hg.): Hanne Darboven. Aufklärung -Zeitgeschichten. Eine Retrospektive (Haus der Kunst München | Bundeskunsthalle Bonn), München, London, New York: Prestel,[184][185][186][187][188][189][190][191][192][193] "Der Mensch schreibt absolute [sic] gut, wenn er sich schreibt", zitierte Hanne Darboven den Mathematiker und Professor für Experimentalphysik Georg Christoph Lichtenberg in einem "Happy New Telegram", das an den Fotografen und guten Freund der Künstlerin, Roy Colmer, adressiert ist und in der Kulturgeschichte 1880Kulturgeschichte -1983Kulturgeschichte (1980Kulturgeschichte -1983 ausschnitthaft wiederkehrt. 1 Lichtenberg formulierte diesen Satz in einem Aphorismus, der sich explizit gegen eine gekünstelt-nachahmende Schreibweise und ein bloßes Lernen -im Sinne der Aneignung eines reinen Faktenwissens -ausspricht. In einem betrübten, gleichwohl kritischen Ton merkte der Experimentalphysiker an, dass "wir […] nicht angehalten [werden] individua [sic] im Denken zu werden". 2 Eine adäquate Selbstbildung in seinem Verständnis wird möglich durch eine Verbindung zwischen dem Schreiben, dem Denken und der existenziellen Erfahrung. Denn es gehe nicht darum, das zu denken, "was die Alten dachten, sondern so [zu] denken wie sie dachten". Demgemäß schreibt der Mensch denn auch gut, "wenn er sich schreibt", 3 das heißt, wenn er gerade nicht einen etablierten Schreiber oder Stil kopiert oder ein anerkanntes Schema anwendet. Hanne Darboven hat sich offenbar in verschiedener Hinsicht die Feststellung Lichtenbergs zu eigen gemacht. Allerdings entspricht ihr Schreiben keinem naiven unmittelbaren Ausdruck, es folgt ebenso wenig der Polarität von natürlich versus künstlich, wie es bei Lichtenberg der Fall ist, bei dem es heißt: "Warum ergötzt der niedersächsische Bauer durch seine plattdeutschen Naivetäten so oft den Kenner des Schönen, und der junge Theolog nicht [sic!] der uns mit wehmütiger Stimme durch lautre sichtbare Finsternis nach Golgatha hinleuchten, und uns den Gekreuzigten anstaunen lassen will." 4 Hanne Darboven arbeitete an einer adäquaten Schreibpraxis, die sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, als Individuation im Denken bestimmen lässt, die das Werden als Dimension des Seins 5 erkennbar macht und die zugleich nach der Darstellbarkeit der Wirklichkeit fragt. Das Schreiben als Tätigkeit, als autobiografi sches Schreiben und als Arbeit an einer Darstellung der (Kultur-)Geschichte sind in Darbovens Werk ununterscheidbar. 6 Das Schreiben wurde zur Selbstreflexion und -bildung im Sinne Lichtenbergs: "Ich habe Sachen noch einmal von Hand geschrieben, um durch die vermittelte Erfahrung mich selbst zu vermitteln." 7 Konzeptionen von Kommunikation und Information Darboven hat ihre künstlerische Praxis des Schreibens in Relation zu zwei zentralen Fragestellungen und Problematisierungen der Minimal Art und der Conceptual Art ausgebildet. Im "Kielwasser des Minimalismus [suchte sie] eine Form […], die weder Malerei noch Skulptur wäre, und in der ihre Kunst eine Sprache der Öffentlichkeit sprechen würde". 8 Grundlegend wurde für sie auf dieser Suche die Schrift und eine "theoretische Kunst", 9 wie sie die Conceptual Art proklamierte. Im Kontext dieser Debatten und Problematisierungen entwickelte die Künstlerin eine künstlerische Praxis, 10 welche Produktion und Darstellung verklammert und die Sequenzialität der Schrift und die räumliche Struktur der Bildmedien grundlegend ineinandergreifen lässt und so neue Sicht-und Leseweisen von Bild und Schrift provoziert. 11