Alexander Carmele's Reviews > Wir sehen uns im August
Wir sehen uns im August
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Die Reichen und Schönen unter sich. Eine Telenovela in Kurzform.
Inhalt: 1/5 Sterne (allegorische Telenovela)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärische Beschreibungen)
Komposition: 2/5 Sterne (nur ein Erzählrumpf)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (zu kurz, um zu wirken)
Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:
Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.
Und der, der dort schläft, ist ein Unbekannter. Fast aus dem Unbewussten heraus begeht sie einen Seitensprung. Sie erlebte eine erfüllte Liebesnacht. Der Unbekannte verschwindet. Sie träumt weiter, hin und her gerissen, und ein Jahr später fährt sie wieder auf die Insel, setzt ihr Ritual fort und vermag nicht anders, als dem Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers nachzugeben, und wieder geschieht etwas Überraschendes:
»Sie kleiden das Kleid.« Der Satz beeindruckte sie. Unbewusst fuhr sie sich mit den Handflächen über den Körper, den makellosen Ausschnitt, die lebendigen Brüste, die nackten Arme, um sich zu vergewissern, dass ihr Körper wirklich da war, wo sie ihn spürte. Dann schaute sie erneut über die Schulter, nun nicht mehr, um den Besitzer der Stimme kennenzulernen, sondern um ihn mit den schönsten Augen, die er je sehen sollte, in Besitz zu nehmen.
Die Diktion von Gabriel García Márquez lässt überraschende Vokabeln zu, erzeugt eine atmosphärische Stimmung von Wiedersehen und Abschied und lässt vor dem inneren Auge den Nimbus eines Geheimnis um die Insel, die Veränderungen, um das Leben in maritalen Architekturen, die zu Entfremdungen führen, entstehen.
Auffällig, und etwas störend, durchziehen den Text viele Zitate, die nur in einem gewollt-allegorischen Zusammenhang mit der Erzählung in Verbindung gebracht werden können. Da wären bspw. die Bücher, die die Protagonistin liest: Bram Stokers „Dracula“, Daniel Defoes „Die Pest zu London“, Graham Greenes „Das Ministerium der Angst“, „Die Mars-Chroniken“ von Ray Bradbury, nur um nur einige zu nennen. Desweiteren werden viele Musikstücke des typischen Klassik-Kanons genannt, vom plakativen Namen der Protagonistin einmal ganz abgesehen, um eine heile Welt der Oberfläche zu illustrieren, die untergründig durch sinnliche Lust untergraben wird.
Sie staunte über die Könnerschaft eines Salonmagiers, mit der er sie Stück für Stück entblößte, als häute er eine Zwiebel, während seine Fingerspitzen sie kaum berührten. Bei dem ersten Stoß glaubte sie vor Schmerz zu vergehen und erfuhr die schreckliche Erschütterung einer Färse, die zerlegt wird.
Der Roman verdichtet das schlechte Gewissen eine Spur zu stark. Die Szenen erscheinen fragmentarisch, die Situationen nur angedeutet, die Figuren verlieren, bis auf Ana Magdalena Bach selbst jede Kontur. Insbesondere das Ende fällt abrupt in den Leseprozess und markiert also, was Gabriel García Márquez dem Vorwort zu entnehmen, selbst empfand, „Wir sehen uns im August“ ist ein Fragment. Wer die Thematik aus einem ähnlichen Horizont bearbeitet lesen möchte, erhält mit Fernando Namoras „Os Clandestinos“ ("Im Verborgenen") nachhaltigere Kost.
„Wir sehen uns im August“ bleibt eine Skizze eines Romans, der, vielleicht leider, nie das Licht der Welt erblicken durfte.
---------------------
Update: Ich ändere nach Diskussion und eingehendere Analyse meine Bewertung der
Komposition: auf 4/5 Sterne (Crescendo einer Aufgabe). García Márquez hat textgestalterisch eindeutig einen Plan der Fortschrittskritik angelegt, der mir erst im Nachhinein klar geworden ist. Daher nun: 3 Sterne. Größte Schwäche bleiben für mich die unverknüpften Allegorien und Anspielungen, die ornamentaler Zierat sind und dem Text selbst nichts als losen Verbundschmuch hinzufügen, bspw. der Bezug auf klassische Musik und Literatur.
Inhalt: 1/5 Sterne (allegorische Telenovela)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärische Beschreibungen)
Komposition: 2/5 Sterne (nur ein Erzählrumpf)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (zu kurz, um zu wirken)
Gabriel García Márquez skizziert in dem wenig umfänglichen Roman „Wir sehen uns im August“ die Suche Ana Magdalena Bachs nach Romantik, Intensität und Sinnlichkeitserfüllung. Die Protagonistin fährt einmal pro Jahr auf eine Insel in die Karibik, wo ihre Mutter begraben liegt. Dorthin bringt sie ein Strauß Gladiolen, gedenkt ihrer Mutter, verbringt eine Nacht in einem Hotel und fährt zurück in ihr vermeintlich glückliches Leben mit Ehemann, Tochter und Sohn. Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes:
Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern. Er schlief.
Und der, der dort schläft, ist ein Unbekannter. Fast aus dem Unbewussten heraus begeht sie einen Seitensprung. Sie erlebte eine erfüllte Liebesnacht. Der Unbekannte verschwindet. Sie träumt weiter, hin und her gerissen, und ein Jahr später fährt sie wieder auf die Insel, setzt ihr Ritual fort und vermag nicht anders, als dem Wunsch nach Wiederholung des Abenteuers nachzugeben, und wieder geschieht etwas Überraschendes:
»Sie kleiden das Kleid.« Der Satz beeindruckte sie. Unbewusst fuhr sie sich mit den Handflächen über den Körper, den makellosen Ausschnitt, die lebendigen Brüste, die nackten Arme, um sich zu vergewissern, dass ihr Körper wirklich da war, wo sie ihn spürte. Dann schaute sie erneut über die Schulter, nun nicht mehr, um den Besitzer der Stimme kennenzulernen, sondern um ihn mit den schönsten Augen, die er je sehen sollte, in Besitz zu nehmen.
Die Diktion von Gabriel García Márquez lässt überraschende Vokabeln zu, erzeugt eine atmosphärische Stimmung von Wiedersehen und Abschied und lässt vor dem inneren Auge den Nimbus eines Geheimnis um die Insel, die Veränderungen, um das Leben in maritalen Architekturen, die zu Entfremdungen führen, entstehen.
Auffällig, und etwas störend, durchziehen den Text viele Zitate, die nur in einem gewollt-allegorischen Zusammenhang mit der Erzählung in Verbindung gebracht werden können. Da wären bspw. die Bücher, die die Protagonistin liest: Bram Stokers „Dracula“, Daniel Defoes „Die Pest zu London“, Graham Greenes „Das Ministerium der Angst“, „Die Mars-Chroniken“ von Ray Bradbury, nur um nur einige zu nennen. Desweiteren werden viele Musikstücke des typischen Klassik-Kanons genannt, vom plakativen Namen der Protagonistin einmal ganz abgesehen, um eine heile Welt der Oberfläche zu illustrieren, die untergründig durch sinnliche Lust untergraben wird.
Sie staunte über die Könnerschaft eines Salonmagiers, mit der er sie Stück für Stück entblößte, als häute er eine Zwiebel, während seine Fingerspitzen sie kaum berührten. Bei dem ersten Stoß glaubte sie vor Schmerz zu vergehen und erfuhr die schreckliche Erschütterung einer Färse, die zerlegt wird.
Der Roman verdichtet das schlechte Gewissen eine Spur zu stark. Die Szenen erscheinen fragmentarisch, die Situationen nur angedeutet, die Figuren verlieren, bis auf Ana Magdalena Bach selbst jede Kontur. Insbesondere das Ende fällt abrupt in den Leseprozess und markiert also, was Gabriel García Márquez dem Vorwort zu entnehmen, selbst empfand, „Wir sehen uns im August“ ist ein Fragment. Wer die Thematik aus einem ähnlichen Horizont bearbeitet lesen möchte, erhält mit Fernando Namoras „Os Clandestinos“ ("Im Verborgenen") nachhaltigere Kost.
„Wir sehen uns im August“ bleibt eine Skizze eines Romans, der, vielleicht leider, nie das Licht der Welt erblicken durfte.
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Update: Ich ändere nach Diskussion und eingehendere Analyse meine Bewertung der
Komposition: auf 4/5 Sterne (Crescendo einer Aufgabe). García Márquez hat textgestalterisch eindeutig einen Plan der Fortschrittskritik angelegt, der mir erst im Nachhinein klar geworden ist. Daher nun: 3 Sterne. Größte Schwäche bleiben für mich die unverknüpften Allegorien und Anspielungen, die ornamentaler Zierat sind und dem Text selbst nichts als losen Verbundschmuch hinzufügen, bspw. der Bezug auf klassische Musik und Literatur.
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Wir sehen uns im August.
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March 22, 2024
–
Started Reading
March 22, 2024
– Shelved
March 22, 2024
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100%
"... ja seltsame Geschichte über das Ehebrechen, die Ehelügen, die Eherituale, das Wissen und Nichtwissen-Wollen.
... Höhepunkt die tief fliegenden Möwen in einer karibischen Nacht
... die Tiefschläge, das Aufzählen bekannter Werke der Weltliteratur ohne tieferen Zusammenhang
De facto zu unvollendet, zu gewollt-allegorisch. Ich lasse es mal wirken."
page
145
... Höhepunkt die tief fliegenden Möwen in einer karibischen Nacht
... die Tiefschläge, das Aufzählen bekannter Werke der Weltliteratur ohne tieferen Zusammenhang
De facto zu unvollendet, zu gewollt-allegorisch. Ich lasse es mal wirken."
March 22, 2024
–
Finished Reading
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message 1:
by
Berengaria
(new)
Mar 22, 2024 01:34PM
Mir ging es ähnlich mit F. Scott Fitzgeralds unvollendetem Roman "The Last Tycoon". Er hat was, aber davon wahrlich nicht genug. Schön geschriebene Rezi!
reply
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flag
Alexander, ich habe dieses Buch auch auf meiner Leseliste. Trotz deiner knausrigen 2 Sternen freue ich mich darauf: ein unvollendeter Roman von García-Márques ist immerhin doch García-Márques!
Peter wrote: "Alexander, ich habe dieses Buch auch auf meiner Leseliste. Trotz deiner knausrigen 2 Sternen freue ich mich darauf: ein unvollendeter Roman von García-Márques ist immerhin doch García-Márques!"
Bestimmt kann es Spaß machen - ich fand es aber tatsächlich unvollständig. Da ich nichts von ihm kenne, habe ich mich entschlossen kurzerhand "Hundert Jahre Einsamkeit" zu lesen 😁
Bestimmt kann es Spaß machen - ich fand es aber tatsächlich unvollständig. Da ich nichts von ihm kenne, habe ich mich entschlossen kurzerhand "Hundert Jahre Einsamkeit" zu lesen 😁
Berengaria wrote: "Mir ging es ähnlich mit F. Scott Fitzgeralds unvollendetem Roman "The Last Tycoon". Er hat was, aber davon wahrlich nicht genug. Schön geschriebene Rezi!"
Danke! Manche Bücher konnten nicht fertiggestellt werden - manche Fragmente stehen dennoch für sich, aber meist fehlt ihnen einfach der letzte Schliff, so dass eine gewisse Unentschlossenheit durch die Unabgeschlossenheit zurückbleibt. Denke ich darüber nach, kenne ich keine guten Fragmente 😳
Danke! Manche Bücher konnten nicht fertiggestellt werden - manche Fragmente stehen dennoch für sich, aber meist fehlt ihnen einfach der letzte Schliff, so dass eine gewisse Unentschlossenheit durch die Unabgeschlossenheit zurückbleibt. Denke ich darüber nach, kenne ich keine guten Fragmente 😳
Peter wrote: "Ich hoffe dass dir “Hundert Jahre Einsamkeit” gefällt. Das ist eines meiner allerliebsten Bücher!"
Das Buch gibt mir genügend Zeit, mich in den magischen Realismus hineinzufühlen oder zu arbeiten. Momentan stehe ich noch etwas baff und betroffen vor dem Tor ... Danke für die Aufmunterung!
Das Buch gibt mir genügend Zeit, mich in den magischen Realismus hineinzufühlen oder zu arbeiten. Momentan stehe ich noch etwas baff und betroffen vor dem Tor ... Danke für die Aufmunterung!
Nein ich widerspreche vehement: das ist KEIN Fragment. Eine in sich stimmige Geschichte.
Die restlichen Figuren dürfen untergehen, weil sie nur Prozesstreiber sind. Es geht allein um Ana Magdalena. Marquez gibt der Frau ihre Stimme und Handlungsmacht zurück.
Das ist ein Buch über die Liebe zu sich selbst.
Die restlichen Figuren dürfen untergehen, weil sie nur Prozesstreiber sind. Es geht allein um Ana Magdalena. Marquez gibt der Frau ihre Stimme und Handlungsmacht zurück.
Das ist ein Buch über die Liebe zu sich selbst.
Anna Carina wrote: "Nein ich widerspreche vehement: das ist KEIN Fragment. Eine in sich stimmige Geschichte.
Die restlichen Figuren dürfen untergehen, weil sie nur Prozesstreiber sind. Es geht allein um Ana Magdalena..."
Ich habe ob unserer Diskussion die Wertung leicht nach oben verschoben. Die Komposition ist stimmiger, als ich dachte.
Die restlichen Figuren dürfen untergehen, weil sie nur Prozesstreiber sind. Es geht allein um Ana Magdalena..."
Ich habe ob unserer Diskussion die Wertung leicht nach oben verschoben. Die Komposition ist stimmiger, als ich dachte.
Anna Carina wrote: "Hab es grinsend zur Kenntnis genommen ✌️☺️"
Habe jetzt auch ein kompletteres Gefühl dem Buch gegenüber. Ich habe da schon den absoluten Gegenstoß benötigt 🙄
Habe jetzt auch ein kompletteres Gefühl dem Buch gegenüber. Ich habe da schon den absoluten Gegenstoß benötigt 🙄
Und das lustige ist, dass ich jetzt auch ein kompletteres Gefühl habe, weshalb sich auch meine Wertung verändert hat.
Anna Carina wrote: "Und das lustige ist, dass ich jetzt auch ein kompletteres Gefühl habe, weshalb sich auch meine Wertung verändert hat."
Du hast einfach recht damit gehabt, dass das kein Fragment ist. Es wäre auch für andere irreführend gewesen. Die Basis für eine unterdurchschnittliche Bewertung ist damit flöten gegangen. Ich war vielleicht bei der Erstbewertung ein wenig emotional gegen die Stoßrichtung des Textes - da war ich etwas blind.
Du hast einfach recht damit gehabt, dass das kein Fragment ist. Es wäre auch für andere irreführend gewesen. Die Basis für eine unterdurchschnittliche Bewertung ist damit flöten gegangen. Ich war vielleicht bei der Erstbewertung ein wenig emotional gegen die Stoßrichtung des Textes - da war ich etwas blind.