Literaturauszug aus: Erwin Chargaff: Über den Wissensdurst in: Scheidewege, Jg.17, 1987/88 Gibt es ihn eigentlich, diesen Wissensdurst, als eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Menschen? Neugier wird von der...
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Erwin Chargaff: Über den Wissensdurst
in: Scheidewege, Jg.17, 1987/88
Gibt es ihn eigentlich, diesen Wissensdurst, als eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Menschen?
Neugier wird von der Volksweisheit nicht als eine besonders bewundernswerte Eigenschaft betrachtet.
Ich würde zögern, dem Kind Wissensdurst zuzuerkennen. Was da geschieht, gleicht eher einem physikalischen Adsorptionsprozeß, so wie das Löschblatt sich mit Wasser anfüllen muß, wenn es mit ihm in Berührung kommt.
Inquisitive steht für den Begriff, der sowohl für das Kind wie für den Naturforscher zutreffen würde. Beide, Kind und Forscher, stellen Fragen, aber ihre Beweggründe sind verschieden. Ich würde so ein Wort wie Fragelust den eingeführten Wörtern Neugier oder Wißbegierde vorziehen, denn es ist nicht gesagt, daß, wer Fragen zu stellen liebt, den Antworten auch zuhört.
Kann man sich jetzt einen Naturforscher vorstellen, der nicht so oft wie möglich - und manchmal öfter - Veröffentlichungen in die Welt schickt? Schweigende Grübler gehören ins Mittelalter. Schon allein der Umstand, daß das einzige wissenschaftliche Symposium, dem Faust beiwohnt, auf dem Blocksberg stattfindet, und daß nirgendwo die Rede ist von Sonderdrucken, vorläufigen Mitteilungen und Forschungskrediten, sollte Faust als Vorbild für unsere Zeit disqualifizieren.
Ob nun Neugier oder Wissensdrang die Ahnen des menschlichen Wissens sind, warum dauerte es so lange, bis es zur Errichtung der Wissenschaften in der für uns erkennbaren Form kam?