Der Gottesdienst des Gekreuzigten
Zum systematisch-theologischen Problemniveau
von Anselms »Cur deus homo«
Dr. Hans-Martin Rieger, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Theologische Fakultät,
Fürstengraben 6, D - 07743 Jena
Die nachträgliche Humanisierung eines Skandals – das kann Aufgabe
der Theologie nicht sein. Dass dies insbesondere für den Skandal des Kreuzestodes Christi gilt, ergibt sich aus dem konflikthaften Wesen des Wortes
vom Kreuz selbst. Insofern können denn auch die kritisch-polemischen Einsprüche von ihrer reflexionsreicheren Form bei F. Nietzsche bis hin zu ihrer
reflexionsärmeren Version bei F. Buggle 1 als Erinnerung daran verstanden
werden, dass eine eher zur Verharmlosung neigende neuzeitliche Theologie
sich und ihrer Rechenschaftspflicht einen Bärendienst erweist.
Anselm von Canterbury hat diesen Skandal bereits empfunden, als er
das, was Gott in den Augen der Ungläubigen Schmach zufüge, nämlich
seine Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz, in seiner inneren Rationalität
auch für Außenstehende zu demonstrieren suchte.2 Nicht nachträgliche
Humanisierung, sondern nachträglicher Notwendigkeitsaufweis dieser Erniedrigung ist das Ziel seiner Schrift »Cur deus homo«. Sie ist damit zu
einem klassischen Text geworden, der viel diskutiert wurde – in der neueren Diskussion der evangelischen Dogmatik (und der biblischen Disziplinen) jedoch vorwiegend unter dem Aspekt einer negativen Abgrenzung und
Profilierung.
Der Preis dieses Notwendigkeitsaufweises scheint teuer: Ist er nicht
erkauft durch eine fragwürdige Gotteskonzeption? Verschiebt er nicht in
unzulässiger Weise das Problem der Kreuzeslehre auf die Gotteslehre, so
dass, was zur Erhellung des Kreuzestodes beiträgt, zur Verdunklung Gottes
1
2
Im Blick auf Friedrich Nietzsche ist auf die bekannten Stellen in: F. N IETZSCHE , Der Antichrist, Nrn. 39 und 49, in: DERS., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Georgio C OLLI und
Mazzino M ONTINARI , Bd. VI/3, Berlin 1969, 209 f. und 212 f. zu verweisen. Franz Buggle kritisiert nicht nur das archaisch-inhumane Gottesbild, das hinter dem Kreuzestod Jesu stehe
und durch frühkindliche Indoktrination stabilisiert werde, sondern die modernen theologischen Versuche, »den Skandal des Kreuzestodes Jesu und seiner biblischen Interpretation auch
gegenüber einem fortschrittlichen ethisch-humanen Standard akzeptierbar erscheinen zu lassen« (F. B UGGLE , Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise
nicht mehr Christ sein kann. Eine Streitschrift, Hamburg 1997, 138).
CDH I, 3 (ed. S CHMITT II, 50, 24 ff.). Zitiert wird »Cur deus homo« (abgekürzt: CDH) wie
alle übrigen Schriften Anselms mit Band-, Seiten- und gegebenenfalls Zeilenangabe nach:
S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera Omnia, hg. v. Franciscus S. S CHMITT, 6 Bde.,
Stuttgart-Bad Cannstatt 1938ff. [Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 21984].
NZSTh, 47. Bd., S. 173–197
© Walter de Gruyter 2005
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Hans-Martin Rieger
(vor allem seiner Barmherzigkeit!) gereicht? Konzentriert wird dies in der
Frage, an der sich auch gegenwärtige Deutungen des Kreuzes, verstärkt
durch die erfahrungsgesättigten Einsprüche der feministischen Theologie,
abarbeiten: Was ist das für ein Gott, der das Kreuz nötig hat beziehungsweise braucht?
Eine beliebte Orientierungsmarke für eine diesbezügliche Kritik an
Anselms Konzeption ist das Diktum A. von Harnacks, das »Schlimmste an
Anselm’s Theorie« sei »der mythologische Begriff Gottes als des mächtigen
Privatmanns, der seiner beleidigten Ehre wegen zürnt und den Zorn nicht
eher aufgiebt, als bis er irgend ein mindestens gleich grosses Aequivalent
erhalten hat.« 3 Harnack wusste seine Kritik im Einzelnen auch ausgewogener zu formulieren – und es ist dieses Repertoire an Widersprüchen und
Einwürfen, dessen sich heutige Kritik an Anselm immer wieder bedient.
Das gilt auch dann, wenn erkannt wird, dass der Vorwurf der placatio eines
erst gnädig zu stimmenden Gottes ebenso an Anselm vorbeigeht wie der
damit verbundene Vorwurf, nicht Gott, sondern der Mensch sei Subjekt des
Versöhnungsgeschehens.
Für den neueren evangelisch-dogmatischen Umgang mit der Frage,
was das für ein Gott sei, der das Kreuz nötig habe, sollen zwei Hinweise
genügen: R. Stolina repräsentiert wohl einen mehrheitsfähigen Konsens,
wenn er dafür plädiert, Versöhnung als ein radikal einseitiges Geschehen
der bedingungslosen Liebe Gottes zur Welt zu interpretieren, so dass Gott
in keiner Weise etwas dargebracht, er also in keiner Weise zum Empfänger
wird: »Nicht Gott braucht das Kreuz, um lieben zu können, sondern wir
Menschen […]« 4. Damit sei aber nicht nur die Anselm’sche Deutung des
Kreuzes, sondern auch die Deutung des stellvertretenden Strafleidens, wie
sie exemplarisch in Luthers Galaterbriefkommentar von 1535, CA III oder
in Passionsliedern Paul Gerhards zum Ausdruck kommt, abzulehnen.5
Interessanter sind die Arbeiten von Sigrid Brandt schon insofern, als sie sich
auf den anstößigen Opferbegriff konzentrieren, ihn dabei aber nicht verabschieden, sondern einer Neuinterpretation zuführen. Die Anfragen feministischer Theologie (Stichworte: Viktimisierung menschlichen Lebens; nekrophiles Gottesbild) 6 produktiv aufnehmend bietet sie nun auf ihre Weise eine
Entlastungsstrategie Gottes: Die Tübinger Sühnekonzeption (Hartmut Gese;
3
4
5
6
Adolf VON H ARNACK , Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, Tübingen 51932, 408; aaO.,
403 ist vom »Attentat an dem Evangelium« die Rede.
Ralf S TOLINA , Tod und Heil. Zur Heilsbedeutung Jesu, in: NZSTh 44 (2002), 89–106, hier: 98.
AaO., 98f.; vgl. aber 103.
Vgl. beispielhaft: Christa M ULACK , Ist das Kreuz heilsnotwendig – hat es sündenvergebende
Kraft?, in: Eveline VALTINK (Hg.), Das Kreuz mit dem Kreuz, Hofgeismar 1990, 52–73; Elisabeth M OLTMANN -WENDEL, Zur Kreuzestheologie heute – Gibt es eine feministische Kreuzestheologie?, in: EvTh 50 (1990), 546–557; Regula S TROBEL /Brigitte K AHL /Elisabeth M OLT MANN -W ENDEL /Andrea B IELER , Art. Kreuz, in: Elisabeth G ÖSSMANN (Hg.), Wörterbuch der
feministischen Theologie, Gütersloh 22002, 347–357.
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
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Peter Stuhlmacher; Otfried Hofius) mache ebenso wie Anselm von einer
»Prügelknaben-Vorstellung« Gebrauch, ohne hinreichend zu klären, »weshalb Gott einen mit göttlicher Potenz ausgerüsteten Prügelknaben sollte
nötig gehabt haben.«7 Grundvoraussetzung eines ihrer Meinung nach angemessenen Redens von Opfer ist es, das Modell des Ausgleichs beziehungsweise Tauschs zu verlassen und sich am Modell der Heilung zu orientieren,
Sühne deshalb als Neuschöpfung (nicht als stellvertretendes Todesgericht)
zu interpretieren.8 Unter der Anwendung eines differenzierten Opferaktionsschemas und der Fokussierung auf die Opfervorstellung im Hebräerbrief
kommt es zu einer folgenreichen Unterscheidung, die Gott davon entlastet,
in erster Linie den Kreuzestod im Sinne eines Geopfertwerdens (Viktimisierung) gewollt zu haben: Der Gehorsam des Sohnes, sein Opfer (sacrificium)
bezieht sich auf seine leibliche Existenz als Verkündigungsexistenz. Wird
hingegen sein erlittener Tod als Opfer aufgefasst, dann als Viktimisierung
durch menschliche Mächte.9 Die wohl berechtigte Kritik am Sühnemodell
und an der lutherischen Dogmatik, das Opfer Jesu im Sinne der oboedientia passiva nur oder zumindest vorwiegend negativ auf das Erleiden des
Todesgerichts zu beziehen und weniger als Vollendung der oboedientia
activa zu begreifen, als Tat Christi 10, diese Kritik führt bei Brandt also zu
einer komfortablen Aufteilung, welche Jesu Viktimisierung, also sein Geopfertwerden, menschlichen Subjekten anlastet, während im Vater-SohnVerhältnis die oboedientia activa das Verhältnis strukturiert. Nicht in der
Aufhebung leiblicher Existenz für Gott besteht dabei die Pointe des Sterbens Jesu.
Wie weit sich eine solche Position von der Deutung Anselms entfernt,
ist auch ohne tiefere Kenntnis von »Cur deus homo« zu erahnen. Ebenfalls
zu erahnen ist es, dass für Anselm eine solche Konzeption, welche dazu
angetreten ist, Gott zu entlasten, nun selbst die Gotteslehre verdunkelt,
insofern sie die theozentrische Dimension der Sünde verharmlost und
darum Heilung nicht so denken lässt, dass sie mit Gottes Würde übereinstimmt.
7
8
9
10
Sigrid B RANDT, Opfer als Gedächtnis. Auf dem Weg zu einer befreienden theologischen Rede
vom Opfer, Münster 2001, 281. Mit Recht rückt sie die Tübinger Sicht näher an die Konzeption Anselms, insofern die Abgrenzung, bei Anselm sei nicht Gott das Subjekt der Versöhnung, sondern der Mensch, nicht greift (aaO., 280).
AaO., 448 f.
S. B RANDT , War Jesu Tod ein »Opfer«? Perspektivwechsel im Blick auf eine klassische theologische Frage, in: Rudolf W ETH (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 64–76, hier: 75. Auffallend ist schon auf den ersten Blick, dass die neutestamentlichen Dahingabeformeln keine Rolle spielen (dürfen).
Das haben allerdings auch schon lutherische Dogmatiker selbstkritisch gesehen; vgl. Paul
A LTHAUS , Das Kreuz Christi, in: DERS ., Theologische Aufsätze, Gütersloh 1929, 1–50, hier:
27 f.
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Hans-Martin Rieger
Im Folgenden soll keine Fortführung der Diskussion geboten, sondern
eine Relektüre von Anselms »Cur deus homo« versucht werden – eine solche, die ihn nicht von vorneherein zu verteidigen, aber auszureden lassen
gedenkt. Dieser Versuch ist von der Überzeugung getragen, dass es systematischer Theologie gerade um ihres Erkenntnisfortschritts willen gut ansteht, das theologische Potential klassischer Texte immer wieder neu wahrzunehmen, bevor kritisch oder zustimmend dazu Stellung genommen
wird.11
In einem ersten Schritt soll die Argumentationsstruktur der Schrift
untersucht werden, insofern sie interpretatorischen Entscheidungen den
Weg weisen kann. In einem zweiten Schritt wird die inhaltliche Argumentation so nachgezeichnet, dass insbesondere die Frage, ob und inwiefern
Gott das Kreuz brauche, erhellt wird. Der dritte schließlich bietet eine
Zusammenfassung in systematisch-theologischer Absicht.
I.
Ein erster Tatbestand, dem jede Untersuchung von »Cur deus homo«
Rechnung zu tragen hat, ist die Differenz von komplexer Textstruktur und
innerer Entwicklung des Argumentationsgangs. Anders als im »Proslogion«,
aber auch in Schriften wie »De veritate« oder »De libertate arbitrii« liegt
dieser Argumentationsgang nämlich nicht in einliniger Schlüssigkeit vor,
sondern gleicht eher einem Hindernislauf, dem es zwar nicht an Zielgerichtetheit mangelt, der aber seine inhaltlichen Argumente an verschiedenen
11
Im Blick auf Anselms »Cur deus homo« ist auf neuere theologiegeschichtliche Untersuchungen und Interpretationen zu verweisen: Gerhard GÄDE , Eine andere Barmherzigkeit. Zum
Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury (BDS 3), Würzburg 1989; Georg
P LASGER , Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu »Cur deus homo« von
Anselm von Canterbury (BGPhMA NF 38), Münster 1993. Beide folgen Anregungen von
Hans-Ulrich W IESE , Die Lehre Anselms von Canterbury über den Tod Jesu in der Schrift
»Cur Deus Homo“, Teil 1 und 2, in: WiWei 41 (1978), 149–179 und 42 (1979), 34–55; Gisbert G RESHAKE , Erlösung und Freiheit. Zur Neuinterpretation der Erlösungslehre Anselms
von Canterbury, in: ThQ 153 (1973), 323–345. Außerdem grundsätzlich: Klaus K IENZLER ,
Glauben und Denken bei Anselm von Canterbury, Freiburg/Basel/Wien 1981; DERS ., Gott ist
größer. Studien zu Anselm von Canterbury, Würzburg 1997; zur systematischen Aufarbeitung: Martin B IELER , Befreiung der Freiheit. Zur Theologie der stellvertretenden Sühne, Freiburg/Basel/Wien 1996, 208 ff.; zur historischen Einordnung: Richard W. S OUTHERN , Saint
Anselm. A portrait in a landscape, Cambridge 1990 (Nachdruck 2000); Gerd A LTHOFF,
Genugtuung (satisfactio). Zur Eigenart gütlicher Konfliktbeilegung im Mittelalter, in: Joachim H EINZLE (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt
am Main 1994, 247–265. Vgl. auch die Entgegnung auf die kritischen Darstellungen von Ritschl
und Harnack durch Rudolf H ERMANN , Anselms Lehre vom Werke Christi in ihrer bleibenden Bedeutung, in: ZSTh 1 (1923), 376–396; DERS ., Christi Verdienst und Vorbild. Zum
Problem der Schlusskapitel von Anselms »Cur Deus homo?«, in: ZSTh 9 (1932), 455– 472.
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Problemschwellen gewinnt.12 Das zeigt sich nicht nur an exkursartigen Einschüben, sondern auch an der sich verändernden Position, welche der
Gesprächspartner Boso einnimmt: Vor allem zu Beginn vertritt dieser mit
Beharrlichkeit die Einwände der Ungläubigen (obiectiones infideles) 13, also
gewissermaßen die zu überwindenden Hindernisse. Erst im weiteren Verlauf tritt er zunehmend in die Rolle des fragenden Schülers zurück.
Der besagte Tatbestand legt die methodische Konsequenz nahe, dass
sich die Struktur des inneren Argumentationsgangs, wie er häufig in kurzen
Darstellungen zur »Satisfaktionstheorie« Anselms zu finden ist, an der
Textstruktur zu erweisen hat und dass dem jenen Einwänden der Ungläubigen gewidmeten Eingangsteil CDH I,1–10 Aufmerksamkeit zu schenken
ist. Denn was Letzteren betrifft, macht Anselm selbst deutlich, dass sich
aus dem zentralen Einwand – formuliert in der Frage, mit welcher Notwendigkeit und mit welchem Grund der allmächtige Gott Niedrigkeit und
Schwachheit angenommen hat 14 – nichts weniger ergibt als die Frage, von
der das ganze Werk abhängt (I,1). Die Bedeutung der Einwände für die
Gesamtargumentation wird schließlich noch einmal verständlicher, wenn
man sich den historischen Kontext einer realen Auseinandersetzung mit
dem Judentum Englands und Frankreichs vor Augen führt.
Ein zweiter zu berücksichtigender Tatbestand stellt die Leseanleitung
der Praefatio dar. Diskutiert, geradezu kontrovers diskutiert wird in der
Regel die Explikation der methodischen Angabe, dass Anselm seinen Notwendigkeitserweis remoto Christo antreten wolle; kaum beachtet wird hingegen die genauere Zwecksetzung zweier Bücher. Das kann dann leicht
dazu führen, das Ziel des Argumentationsgangs mit dem ersten Buch erreicht zu sehen, allenfalls ergänzt durch eine Zusammenfassung in II,6 oder
durch die Klärung von diversen Fragen wie der Zueignungsfrage in II,18 f.
Es handelt sich aber um zwei Bücher, über deren Gemeinsamkeit und
Differenz Anselm seine Leser nicht in Unkenntnis lässt: Gemeinsamer Ausgangspunkt ist der christliche Glaube (fides christiana), der nach seiner
inneren Rationalität, nach seinen rationes necessariae verstehbar gemacht
werden soll.15 Dies erfordert nicht nur ein apologetisches Interesse, sondern
ebenfalls das Verlangen eines Glaubens, der nach seinem Verstehen (intelligere), nach der Begründung seines Glaubens (ratio fidei nostrae) fragt.16
12
13
14
15
16
Vgl. zu diesem Problem: John M C I NTYRE , Cur deus-homo: The axis of the argument, in: Helmut K. KOHLENBERGER (Hg.), Sola ratione. Anselm-Studien. FS Franciscus S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 111–118.
CDH I,3 (ed. S CHMITT II, 50,15 ff.). Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass
Anselm die alte Täuschungstheorie von Boso widerlegen lässt: CDH I,7 (ed. S CHMITT II,
55,10 ff.)!
CDH I,1 (ed. S CHMITT II, 48,22-24).
CDH Praef. (ed. S CHMITT II, 42,9ff.).
CDH I,3 (ed. S CHMITT II, 50,17); vgl. zum Schnittpunkt externer Anfragen und innerer
Erkenntnisfrage aaO., 18–20.
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Beiseite gesetzt wird nun allerdings nicht die fides christiana an sich; es
handelt sich um ein spezifisches remoto Christo, das sich präzise auf das
bezieht, was bestritten wird, nämlich die Menschwerdung Christi. Die infideles sind also keineswegs Atheisten, auch keine methodischen Atheisten,
wie spätestens die explizite Festlegung ihrer mit den Christen gemeinsamen
Voraussetzungen in I,10 deutlich macht.17
Hinsichtlich der Frage der Menschwerdung wird ein Denkweg eingeschlagen, der einerseits auf eigenes Verstehen des Geglaubten zielt und für
den Glaubenden erst am Ziel ist, wenn die Autorität der Schrift bestätigt ist
(vgl. den Abschluss in II,22) 18 – der aber gleichwohl einen solchen Denkweg darstellt, der ohne das Beweismittel der Schrift, sola ratione prozediert19 und damit von den Ungläubigen nachvollzogen werden können
muss.20 Und zwar so, dass sich auf dem Feld des Denkens ein Widersprechen als unvernünftig darstellt. Festzuhalten bleibt also, dass für beide
Argumentationsziele rationes necessariae erforderlich sind, nicht lediglich
Konvenienzgründe der internen Glaubenskommunikation, wie sie Anselm
im Eingangsteil zunächst zur Plausibilisierung des Erlösungsgeschehens
anführt.21
Auf dem Hintergrund der angedeuteten Gemeinsamkeiten ist bedeutsam, wie Anselm die Differenz markiert: Das erste Buch erweist die Unmöglichkeit (impossibilitas) einer Rettung ohne Christus, das zweite die
Notwendigkeit (necessitas) einer Rettung durch Christus (per hominemdeum).22 Auch hierzu lässt sich zunächst sagen, dass Anselm mit dieser differenzierten Anlageform den Einwänden der Ungläubigen entspricht. Denn
17
18
19
20
21
22
Zu den vielfach diskutierten Voraussetzungen von Anselms Methode vgl. Bernhard LOHSE ,
Zur theologischen Methode Anselms von Canterbury in seiner Schrift »Cur Deus Homo«, in:
Jan ROHLS/Gunther W ENZ (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und
kirchliche Lehre. FS W. Pannenberg, Göttingen 1988, 322–335.
Nicht die Glaubensgewissheit ist das Ziel, sondern das eigene intelligere des Glaubens (vgl.
CDH I,1 [ed. S CHMITT II, 48,16 ff.]). Dieses Grundverständnis kommt auch in Prosl., cap. 4
(ed. S CHMITT I, 104,5–7) zum Ausdruck.
Zu beachten ist der Zusammenhang, in welchem die Formel sola ratione in CDH I,20 (ed.
S CHMITT II, 88,5 und 8) und II,22 (ed. S CHMITT II, 133,8) auftaucht. In der Schrift »De
incarnatione verbi« wird ebenfalls deutlich, dass rationes necessariae bedeuten: ohne Autorität der Heiligen Schrift (ed. S CHMITT II, 20,19).
Mit dieser Zusammenfassung ist freilich über den Text der Praefatio hinausgegangen und das
Problem der Anselm’schen Methode angesprochen, das bekanntlich zwischen den als Fideismus und Rationalismus etikettierten Positionen vielfach diskutiert worden ist. Für »Cur deus
homo« ist die Diskussion bei P LASGER (s. o. Anm. 11), 57–71 und bei GÄDE (s. o. Anm. 11),
30–37 zusammengefasst; vgl. insgesamt zur Diskussion auch K IENZLER , Glauben (s. o. Anm.
11).
CDH I,3 (ed. S CHMITT II, 51,3); I,9 (ed. S CHMITT II, 61,32) u. ö. Die Rede von einer ›inneren
Rationalität‹, welcher auch die vorliegende Erörterung folgt, hat diesen Sachverhalt zu berücksichtigen; es handelt sich um eine innere Rationalität, welche am Erlösungsgeschehen
selbst zu entdecken gesucht wird, nicht um eine positivistische Explikation der fides christiana.
CDH Praef. (ed. S CHMITT II, 42,11–43,3).
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von ihrer Seite wird nicht nur behauptet, dass die Erniedrigung Gottes einer
Vernunft, welche einen allmächtigen Gott denkt, widerstreitet, es wird vielmehr auf andere, angemessenere Möglichkeiten verwiesen. So wird nicht
nur gesagt: Gott scheint eine solche Schmach – auch um der Errettung der
Menschen willen – nicht zu gebühren.23 Es wird darüber hinaus zugespitzt
gefragt: Ist nicht jede andere Möglichkeit der Begnadigung dem Wesen
Gottes angemessener und für die menschliche Vernunft weit tragbarer? 24
Das gilt vor allem für die Möglichkeit, dass der allmächtige Gott allein aus
Barmherzigkeit (sola misericordia) Sünde vergibt.25
Angesichts dessen also, dass die Ungläubigen selbst auf dem Gebiet
der Möglichkeiten operieren und andere Möglichkeiten vorzuziehen erklären, macht es sich Anselm im ersten Buch zur Aufgabe, die Unmöglichkeit
solcher anderer Möglichkeiten nachzuweisen; an dessen Ende (I,25) wird
daher zunächst die Unmöglichkeit einer Rettung ohne Christus behauptet.
Interessanterweise legt Anselm dann selbst einen Schluss von dieser
negativen Argumentation auf die Notwendigkeit einer Rettung durch
Christus vor: Strukturiert man die drei Möglichkeiten der Rettung nach
a) durch Christus, b) auf andere Weise, c) überhaupt nicht, dann verbleibt
nach dem Erweis der Unmöglichkeit von b nur noch die Möglichkeit a.26
Denn die Möglichkeit der Nichtrettung (c) wurde durch den gemeinsam
festgelegten Voraussetzungskanon (darunter die Voraussetzung: Der Mensch
wurde zur beatitudo geschaffen) bereits ausgeschieden.27
Doch dieses Schlussverfahren wird als nicht hinreichend erkannt, so
dass ein eigener positiver Argumentationsgang anzutreten ist, welcher mit
einem festen Ausgangspunkt beginnt (super firmum fundamentum) – eben
dem Heilsziel der Schöpfung in der beatitudo – und von da aus zur Notwendigkeit der Rettung durch Christus gelangt.28
R. W. Southern hat im Blick auf das Erfordernis eines dezidierten
Erweises der Notwendigkeit (und überdies zur Erhellung des Begriffs der
Ehre Gottes) auf die Auseinandersetzungen mit Juden in London verwiesen, wie sie sich aus dem Werk des befreundeten Abtes Gilbert Crispin
23
24
25
26
27
28
CDH I,8 (ed. S CHMITT II, 59,12–17); I,3 (ed. S CHMITT II, 50,27): »non videntur convenire«.
CDH I,5 (ed. S CHMITT II, 52,14–16).
CDH I,12 (ed. S CHMITT II, 69,6 ff.).
CDH I,25 (ed. S CHMITT II, 95,12–14).
CDH I,10 (ed. S CHMITT II, 67,12 ff.).
CDH I,25 (ed. S CHMITT II, 96,14 f.), dann II,1 (ed. S CHMITT II, 97,3). Ein entsprechendes Signal, dass der Überschritt von der Unmöglichkeit anderer Möglichkeiten auf die Notwendigkeit der Erlösung durch Christus der Strenge des erforderlichen Beweisgangs nicht genügt,
bekommt der Leser nicht erst in I,25, sondern schon in I,6 (ed. S CHMITT II, 54,16–55,2): Aus
der negativen Argumentationsstrategie ergibt sich die Notwendigkeit nur »vielleicht« (forsitan).
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erschließen lassen.29 Der vielfach kritisierte Begriff der Notwendigkeit sei
auf dem Hintergrund dessen zu verstehen, dass für jüdische Gesprächspartner die innerchristliche Begründung, Gott hätte wohl andere Möglichkeiten wählen können, aber aufgrund seines Willens die besagte gewollt,
nicht ausreicht. Denn für diese sei die so gewollte Möglichkeit eine nichtnotwendige Schändung der Göttlichkeit Gottes.
Doch unabhängig von der Frage, was eine solche äußere Texterklärung zu leisten vermag, gibt es auch einen schlichten inneren Grund dafür,
dass der Nachweis der Unmöglichkeit anderer Möglichkeiten ohne den
Notwendigkeitserweis nicht ausreicht: Das aristotelische Modalverständnis, welches in der augustinisch-neuplatonischen Tradition als bekannt gelten kann, kennt nicht nur zwei, sondern drei Modi: Neben dem Möglichen
und Notwendigen ist dies das Kontingente (ein im Gegensatz zum Notwendigen stehendes Mögliches). Die negative Argumentationsstrategie Anselms vermag zwar auf die Unmöglichkeit anderer Möglichkeiten zu führen, aber das Ausschlussverfahren muss offen lassen, ob die verbleibende
Möglichkeit (die Rettung durch Christus) kontingent oder notwendig ist.
Kontingentes ist dabei nun dadurch ausgezeichnet, dass das Gegenteil nicht
notwendig falsch ist.30 Genau dieser logische Sachverhalt lässt eine bedeutende Problemschwelle offenbar werden: Anselms Erwiderung bliebe gewissermaßen auf halbem Wege stehen, wenn sie einräumen müsste, dass
auch das wie immer beschaffene Gegenteil des kritisierten Rettungsweges
prinzipiell möglich ist. Er verwahrt sich zwar dagegen, dass unter der Berufung darauf, dass dessen positiv-inhaltliche Begründung noch nicht aufgewiesen ist, das Erreichte wieder in Frage gestellt werden kann, gleichwohl anerkennt er, dass für die gewünschte ratio certitudinis die innere
Notwendigkeit des konkret-kontingenten Glaubensgegenstands (Rettung
durch Christus, wie sie die fides catholica zu glauben aufgibt) noch darzulegen ist.31
Insofern ist ein zusätzlicher Argumentationsgang erforderlich, der aber,
da er Zwischenergebnisse aus dem ersten Buch übernehmen kann (so die
Notwendigkeit einer satisfactio zur Erreichung des Schöpfungsziels) 32, recht
schnell eine wesentliche Etappe abgeschritten hat und darum schon in II,6
die Identität des deus-homo als notwendig zu behaupten vermag.
Nach der Ausleuchtung dieser Grundentscheidungen kann die Argumentationsstruktur des Textes folgendermaßen skizziert werden:
29
30
31
32
S OUTHERN (s. o. Anm. 11), 198 ff., vgl. 199: »[…] the unbelievers whom Anselm mentions in
his Cur Deus homo were real, and of these the most formidable were Jews.«
A RISTOTELES , Met. V,12 1019b,28–33; vgl. Horst S EIDL , Art. »Möglichkeit«, in: HWP 6
(1984), 72–92, hier: 77–80.
CDH I,25 (ed. S CHMITT II, 95,24–96,15).
CDH II,4 (ed. S CHMITT II, 99,9–11).
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I. Buch: Die Unmöglichkeit anderer Möglichkeiten (sine Christo)
1–10:
Einwände der Ungläubigen und glaubensinterne Lösungsstrategie
3–5:
Die Erniedrigung Gottes widerspricht dem Wesen Gottes
6–8a:
Die redemptio widerspricht der Allmacht Gottes
8b–10a: Der Todesgehorsam Jesu widerspricht der Freiheit Gottes
10b:
Vereinbarter Voraussetzungskanon
11–19: Die theozentrische Dimension der Sünde: Vergehen gegen iustitia und honor Dei
12:
Ausschluss (a) der Möglichkeit der Sündenvergebung sola misericordia
13:
Sünde ist ein Vergehen an der rectitudo ordinis (= honor Dei)
Notwendigkeit von honorem solvere aut poena
14:
Auch poena (= privatio beatitudinis) würde honor Dei offenbaren
15:
Relationale Differenzbestimmung des Begriffes honor Dei
Erneute Behauptung der Notwendigkeit von satisfactio aut poena
16–18: Gegen poena spricht restitutio der gefallenen Engel (Exkurs)
19:
Ausschluss (b) der Möglichkeit der poena – Notwendigkeit der satisfactio
20–24: Die anthropologische Dimension der notwendigen satisfactio
20:
Haben des Menschen: Nichts (weil alles: debitum)
21–24: Soll des Menschen: Demonstration der Schwere der Schuld durch Komparationsargumentation
Ausschluss (c) der Selbstsatisfaktion des sündigen Menschen
25:
Fazit: Die Unmöglichkeit einer Barmherzigkeit extra fidem Christianam
Überschritt zur Notwendigkeit des Geglaubten
II. Buch: Die Notwendigkeit der geglaubten Rettung (per hominem-deum)
1–5:
Die Verfasstheit des Menschen zum Heil
4:
Implikation der Notwendigkeit der satisfactio durch einen Nichtsünder
5:
Zur Anwendung des Notwendigkeitsbegriffs auf Gott (a)
6–9:
Die Verfasstheit Christi als des Satisfaktionsgebers
6:
Die Notwendigkeit des deus-homo (»dass«)
7–9:
Die Eigenschaften des deus-homo (»wie«)
10–13: Die Verfasstheit seines Sterbens
10:
Die Freiwilligkeit seines Sterbens
11a:
Die Möglichkeit seines Sterbens
11b:
Die exklusive Gabe im Sterben Christi
14–17: Die Heilsbedeutung des Todes Christi
14:
Die Inkomparabilität der Lebenshingabe Christi
15–16: Die Universalität seiner Bedeutung
17:
Zur Anwendung des Notwendigkeitsbegriffs auf Gott (b)
18–21
Die Heilszueignung für den sündigen Menschen
18:
Das Verdienst der freiwilligen Lebenshingabe Christi
19:
Partizipation am Verdienst des Todes Christi
20:
Ziel: Die Größe der misericordia Dei (vgl. I,12)
22:
Schluss: Die Bestätigung der Hl. Schrift sola ratione
Nimmt man die inhaltliche Argumentation Anselms auf dem Hintergrund der ihr nicht äußerlichen Grundentscheidungen und des hiermit nur
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Hans-Martin Rieger
angedeuteten strukturellen Aufbaus des Textes wahr 33, ergeben sich, unter
der Berücksichtigung des Zusammenhangs von Anselms Denken, bereits
einige Leitgesichtspunkte für die Interpretation. Drei von ihnen sollen an
dieser Stelle genannt werden, bevor dann einige inhaltliche Grundlinien
nachgezeichnet werden.
Erstens: Die Frage, von der nach Anselm das ganze Werk abhängt (qua
totum opus pendet), ist für die Interpretation des Argumentationsgangs
grundlegend. Es ist dies eine Frage, die sich, wie bereits erwähnt, aus dem
zentralen Einwand der Ungläubigen ergibt. In sie ist darum die Anstößigkeit der Erniedrigung Gottes in der Menschwerdung und in der Erduldung
des Todes eingegangen. Wird der Tod als vom Gottessohn erlitten gedacht,
verbindet sich damit der Vorwurf eines grausamen göttlichen Vaters, der
den Tod eines Unschuldigen braucht. Diesen Grausamkeitsvorwurf lässt
Anselm – neuzeitliche Kritik an seiner Konzeption geradezu vorwegnehmend – bereits durch Boso formulieren und seiner eigenen Problembearbeitung vorgeben: Sonderbar wäre es, wenn Gott sich so sehr am Blut eines
Unschuldigen ergötzte oder seiner bedürfe, dass er nur nach dessen Tötung
den Schuldigen schonen wollte oder könnte! 34
Anselm ist in dieser Beziehung heutigen Problemstellungen also gar
nicht so fern, wie es zunächst den Anschein haben mag – erst recht nicht,
wenn der Zusammenhang eines jüdisch-christlichen Streitgesprächs zu berücksichtigen erwogen wird: Anstößig ist nicht so sehr das Leiden Christi
an sich, anstößig ist die scheinbar daraus resultierende Verdunklung des
Gottesbilds.
Das birgt für die Interpretation von »Cur deus homo« eine weitere
Konsequenz in sich: Wird die genannte Problemfokussierung Anselms auf
das Verhältnis von Gotteslehre und Christologie auch für die Teile des Werkes ernst genommen, in welchen zumindest partiell die Art und Weise des
Todes Christi und seiner Heilsbedeutung thematisiert wird (II,10–17), erklärt sich, dass eine umfassende Darstellung der Versöhnung beziehungsweise eine umfassende Darstellung des Werkes Christi gar nicht beabsichtigt ist.35 Insofern ist es kurzschlüssig zu monieren, was in »Cur deus
33
34
35
Die innere Verweisstruktur ist dabei z. B. nicht erfasst; vgl. den Versuch von K IENZLER , Gott
(s. o. Anm. 11), 162–173.
CDH I,10 (ed. S CHMITT II, 66,24–26). Die Textstruktur zeigt, dass es sich hier nach einer
mehrmaligen Wiederholung des zentralen Einwands um einen den Eingangsteil I,1–10 abschließende Kumulierung handelt, welche noch einmal genau zuspitzt, welcher Anfrage sich
Anselm im Folgenden zu stellen gedenkt. Der zentrale Einwand taucht das erste Mal in I,1
(ed. S CHMITT II, 48,22–24) auf, dann jeweils in den drei skizzierten Problemkreisen: neben
I,10 noch in I,3 (ed. S CHMITT II, 50,24–28), I,8 (ed. S CHMITT II, 59,16 f.).
Vgl. G RESHAKE (s. o. Anm. 11), 325 f. Diese Problemfokussierung wird vor allem von Georg
Plasger in seiner umfassenden Analyse des Eingangsteils I,1–10 (P LASGER [s. o. Anm. 11],
43–78) herausgearbeitet und in der weiteren Interpretation geradezu als heuristisches Kriterium angewandt. Der Eingangsteil zeigt letztlich, wieso das Werk »Cur deus homo«, nicht
»Quomodo deus homo« heißt (aaO., 44 f. 140 u. ö.).
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
183
homo« diesbezüglich alles nicht oder nicht genügend erwähnt werde, zum
Beispiel die Passivität des Leidens oder das stellvertretende Strafleiden
Christi. Dass Anselm anders vom Leiden Christi reden kann, beweist ein
Blick in seine »Meditationes« oder »Orationes«.36
Zweitens: Von ebenso grundsätzlicher Bedeutung für das gesamte
Werk und dessen Interpretation ist der am Ende des Eingangsteils vereinbarte Voraussetzungskanon. Denn auf diesen wird von Anselm immer wieder zurückgegriffen. Zu ihm gehört nicht nur die präzise Festlegung des
remoto Christo der Praefatio, sondern die Übereinkunft, dass der Mensch
zur Seligkeit geschaffen ist und dass er, weil nicht ohne Sünde, dazu des
Sündennachlasses bedarf.37 Beides wird also nicht erwiesen, sondern vorausgesetzt. Die zuerst genannte Voraussetzung des göttlichen Schöpfungs- und
Heilswillens bildet den positiven Ausgangspunkt des zweiten Buches; mit
der Vertiefung der zuletzt genannten Voraussetzung der Vergebungsbedürftigkeit des Menschen hebt der Gedankengang ab I,11 im ersten Buch an:
Durch die Ergründung der theozentrischen Dimension der Sünde wird der
Beantwortung der Frage zugearbeitet, wie der Sündennachlass beschaffen
sein muss.
Für diesen weiteren Gedankengang des ersten Buches wird dann vor
allem an zwei entscheidenden Stellen auch auf die erste Voraussetzung
zurückgegriffen: In I,19 wird zum Ausschluss der Bestrafung (poena) darauf verwiesen, dass ohne die Wiederherstellung des Menschen es so aussähe, als ob Gott das begonnene Gute nicht vollenden könnte oder wollte.38
Ähnlich noch einmal in der gewichtigen Frage Anselms in I,23: »Nahm er
Gott nicht alles, was er mit der menschlichen Natur sich zu tun vorgenommen hatte?«39
Der Rückgriff auf die beiden Voraussetzungen und ihre Kombination
sind inhaltlich nicht zu unterschätzen: Die Sünde des Menschen stellt sich
dem perficere von Gottes Schöpfungs- und Heilswillen entgegen. Mit dieser
Fassung lässt Anselm sie der auch von Ungläubigen geteilten Voraussetzung
zuwiderlaufen. Das Gleiche gilt aber auch für die Bestrafung: Sie würde
zwar die Ehre Gottes offenbaren (I,14), sein Schöpfungswerk indes unvollendet lassen. Dies wird als absurde Konsequenz festgestellt und verworfen.
36
37
38
39
Das wurde bereits in der kritischen Darstellung von Albrecht R ITSCHL , Die christliche Lehre
von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn 1882, 46 f.
eingeräumt, dort allerdings noch mit Anselm fälschlicherweise zugeschriebenen Stücken
belegt. Zu verweisen wäre insbesondere auf die Leidensmeditation in Med. 3 oder auf Or. 2
(ed. S CHMITT III, 84,22–85,29; 89,137–144; 7,32 ff.). Med. 3 ist wohl kurz nach »Cur deus
homo« entstanden und enthält einen kurzen Abriss. Zu Echtheit und Entstehung: Franciscus
S. S CHMITT, Prolegomena seu ratio editionis, 132*–150*. Andere Motive finden sich auch in
»Cur deus homo« selbst: I,3 (ed. S CHMITT II, 51,5–11).
CDH I,10 (ed. S CHMITT II, 67,12–16).
CDH I,19 (ed. S CHMITT II, 84,12 f.).
CDH I,23 (ed. S CHMITT II, 91,8).
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184
Hans-Martin Rieger
An dieser Stelle kann deutlich werden, in welchem Sinn der Ausdruck
poena in »Cur deus homo« gebraucht und darum ausgeschlossen wird. Zur
Darstellung einer oboedientia passiva des Gottessohns, selbst wenn eine
solche beabsichtigt worden wäre, muss er geradezu beiseite gestellt werden. –
Es soll an dieser Stelle nur erwähnt werden, dass dieser textimmanente
Zusammenhang auf dem historischen Hintergrund der gütlichen Konfliktbeilegung im Mittelalter verständlich gemacht werden kann: Um die Bestrafung beziehungsweise Vernichtung des Konfliktgegners zu vermeiden,
wurden anders als im früheren Fehdewesen zunehmend Vermittler (mediatores) eingeschaltet, welche einen zuvor festgelegten ordo garantierend auf
eine Beilegung des Konflikts durch Genugtuung hinarbeiteten.40
Für das zweite Buch wird wiederum mit der Positivität einer gemeinsamen Voraussetzung eingesetzt. Diese ist hinsichtlich der normativen Vernunft- und Willenstruktur des Menschen vertieft, die Anselm andernorts
als natura rationalis bereits entfaltet hatte.41 Der Bogen spannt sich dann
bis II,20: Das Lob der Barmherzigkeit ist letztlich ein Lob dessen, dass
Gottes Heilswillen mit seiner Schöpfung in Gerechtigkeit zum Ziel kommt.
Drittens: Auch ein weiterer Leitgesichtspunkt hat, auch wenn er
bereits auf die inhaltliche Analyse hinüberweist, Anhalt an der Struktur des
Textes. Er betrifft den methodischen und begrifflichen Fortgang der Argumentation.
Zu beobachten ist, dass Anselm im Eingangsteil zunächst mit der
internen Konvenienz (Angemessenheit) des christlichen Glaubens argumentiert, um den Inkonvenienzvorwürfen der Ungläubigen zu begegnen. Mit
dem vereinbarten Voraussetzungskanon einigen sich Boso und Anselm dann
aber auf eine gemeinsame Basis, die festlegen soll, wie von Gott zu denken
ist, dass von Gott angemessen gedacht ist: Jede Verdunklung durch Inkonvenienz ist sofort als unmöglich auszuscheiden.42 Als inkonvenient gilt beispielsweise, dass Gott in seiner Führung des Weltganzen versagte oder dass
er die Sünde als Störung des ordo ungeordnet ließe.43
Diese Vorgehensweise bedeutet für die weitere begriffliche Fassung von
Sünde, von Gott etc. einerseits, Denkkategorien beziehungsweise Prädikate
so zu konzipieren, dass sie dem Denken der Ungläubigen zugänglich sind
und von ihnen auf Konvenienz beziehungsweise Inkonvenienz geprüft werden können. Sie geht andererseits mit dem Bemühen Anselms einher, die
betreffenden Kategorien beziehungsweise Prädikate bei ihrer Anwendung
40
41
42
43
Vgl. die Arbeit von A LTHOFF (s. o. Anm. 11), 248 ff.
Vgl. Monol., cap. 68 f. (ed. S CHMITT I, 78,12–80,6); dazu: Bernd G OEBEL , Rectitudo, Wahrheit und Freiheit bei Anselm von Canterbury. Eine philosophische Untersuchung seines Denkansatzes (BGPhMA NF 56), Münster 2001, 250 ff.
CDH I,10 (ed. S CHMITT II,67,2 f.).
CDH I,15 (ed. S CHMITT II,73,22–74,1) und I,12 (ed. S CHMITT II,69,11–33).
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
185
auf Glaubensgegenstände theologisch zu qualifizieren.44 Dieses Verfahren
ist, das zeigt die Textstruktur, für einige »Einschübe« verantwortlich: In
I,15 wird der Begriff der Ehre Gottes, in II,5 und II,17 der Begriff der Notwendigkeit für den theologischen Gebrauch modifiziert.
Schon dieser Sachverhalt legt es nahe, bei der Interpretation die Differenz von Genese und Gebrauch zu beachten. Es ist eines, die Herkunft einer
Denkkategorie (zum Beispiel im germanischen Feudalrecht) zu bestimmen;
es ist ein anderes, ihre theologische Qualifikation zu erfassen und zu beurteilen. Dass es beider, der historisch-genetischen und der theologischen
Fragestellung bedarf, wurde in der Rezeption Anselms häufig genug missachtet.
Interessant ist auf dem Hintergrund, wie Anselm Begriffe einführen
und qualifizieren kann, die Verwendung des Begriffs Gerechtigkeit. Denn
dieser Begriff wird (wie in I,12 beim Ausschluss der Sündenvergebung sola
misericordia!) nicht nur geradezu als Kriterium dessen, was als konvenient
beziehungsweise inkonvenient zu gelten hat, verwendet, vielmehr sind auf
ihn hin beziehungsweise von ihm her die Begriffe Sünde, Ehre oder Barmherzigkeit bereits entworfen. Dieser Begriff, der mit Recht als Leitbegriff
von »Cur deus homo« bezeichnet worden ist 45, gehört damit, ohne dass
dies eigens expliziert worden wäre, zu den wichtigsten Voraussetzungen der
Argumentation. In »Cur deus homo« lässt sich erst im Zuge seiner Verwendung erschließen, dass eine rectitudo voluntatis gemeint ist, welche das
Verhältnis Gottes zum Menschen und das Verhältnis des Menschen zu Gott
strukturiert.46 Boso bringt den Begriff in I,7 schon gegen die Täuschungstheorie in Stellung.
Es ist wichtig zu sehen und kann zur Erklärung der mangelnden Explizierung dieser Denkvoraussetzung dienen, dass Anselm mit dem Begriff der
iustitia einen Begriff aus seiner philosophischen Grundlegung in »De veritate« übernimmt. Dort ist nämlich dieser Begriff bereits so konzipiert, dass
er beides erfüllt: allgemeinem Denken zugänglich und auf die summa veritas, Gott selbst, anwendbar zu sein.47 – Spätestens an dieser Stelle zeigt sich,
dass Anselm zuallererst von der Grundlegung seines Denkens her verstanden und im Kontext seines Werkes interpretiert werden muss.
44
45
46
47
Vgl. K IENZLER , Glauben (s. o. Anm. 11), 356 ff.
Vgl. Gottlieb S ÖHNGEN , Rectitudo bei Anselm von Canterbury als Oberbegriff von Wahrheit
und Gerechtigkeit, in: Helmut K. KOHLENBERGER (Hg.), Sola ratione. Anselm-Studien. FS
F. S. Schmitt, Stuttgart -Bad Cannstatt 1970, 71–77; GÄDE (s. o. Anm. 11), 107.
Vgl. CDH I,11 (ed. S CHMITT II, 68,15 f.).
De veritate, vor allem cap. 1 und 10 (ed. S CHMITT I, 176,3 ff. und 189,30 ff.).
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186
Hans-Martin Rieger
II.
Vor der Klammer dessen, was im Folgenden als Dilemma des Menschen und als Heilswerk Gottes inhaltlich nachzuzeichnen versucht werden
soll, steht das der natura rationalis des Menschen zugehörige Schöpfungsziel Gottes, sein Heilsziel für den Menschen. Diese Einsicht aus der Textstruktur, welche sowohl dem Einstieg der Argumentation auf der Grundlage des Voraussetzungskanons in I,10 als auch dem Ausgang von der
natura rationalis des Menschen in II,1 Rechnung trägt, darf nicht verspielt
werden – zumal sie in Übereinstimmung mit Anselms gesamtem Denken
steht. Schon von ihr her ist der Gedanke einer placatio Gottes, der Gedanke
also, dass dieser zu seinem Heilswillen erst umgestimmt werden müsse, so
gut wie ausgeschlossen.
Das Dilemma des Menschen besteht darin, dass er zur beatitudo geschaffen ist, ihm diese aber durch den Verstoß gegen die geforderte Unterordnung alles Geschaffenen unter Gott in unerreichbare Ferne gerückt ist.
Zur Erläuterung der geforderten Erfüllung des Gesollten führt Anselm
zunächst in I,11 den Begriff der rectitudo voluntatis ein, auf welche die Sollensverpflichtung des Menschen (debitum) bezogen gedacht wird. Anselm
selbst lässt keinen Zweifel daran, dass damit nicht nur eine präzise Fassung
der Begriffe iustitia und honor verbunden ist, sondern, wie dann II,1 zeigt,
seine Vorstellung der theonom-ethischen Vernunftstruktur des Menschen
überhaupt zum Vorschein kommt.48 Nach seiner Schrift »De veritate«
unterliegt alles Endliche einem Sollen, weil es sein Sein von Gott als seinem
Schöpfer empfängt. Die rectitudo des Feuers besteht beispielsweise darin,
dass es das tut, was es soll (facere quod debet), nämlich wärmen.49 Was sich
in diesem Fall seinsnotwendig vollzieht, ist für die vernunftbegabte Natur
ein debitum, welches freie Willensunterordnung erfordert und daher auch
verweigert werden kann: Sie ist dazu geschaffen, um das höchste Gut über
alles zu lieben und zu erwählen, nicht um eines anderen, sondern um seiner
selbst willen.50 Darin erfüllt sie die geforderte Rechtheit des Willens, wel-
48
49
50
CDH I,11 (ed. S CHMITT II, 68,15 ff.); II,1 (ed. S CHMITT II, 97,14 ff.).
De veritate, cap. 5 (ed. S CHMITT I, 182,3–9). Erhellende Erläuterungen zu dieser Schrift und
den folgenden Gedanken finden sich bei G OEBEL (s. o. Anm. 41), 217 ff. (zur Herkunft des
rectitudo-Gedankens); bei Engelbert R ECKTENWALD , Die ethische Struktur des Denkens von
Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998; in der Einleitung von Markus Enders zu: Anselm
von Canterbury, Über die Wahrheit. Lateinisch-deutsch, übersetzt und hg. v. Markus E NDERS ,
Hamburg 2001; vgl. auch dessen umfassende Habilitationsschrift: DERS ., Wahrheit und Notwendigkeit. Die Theorie der Wahrheit bei Anselm von Canterbury im Gesamtzusammenhang
seines Denkens und unter besonderer Berücksichtigung seiner antiken Quellen (Aristoteles,
Cicero, Augustinus, Boethius) (STGM 64), Leiden/Boston/Köln 1999.
CDH II,1 (ed. S CHMITT II, 97,14 f.).
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
187
che Anselms Definition von Gerechtigkeit zugrunde liegt: Gerechtigkeit ist
Rechtheit des Willens, bewahrt um ihrer selbst willen.51
Auf diesem Hintergrund ist nicht nur die vom Menschen geforderte
Gerechtigkeit und das heißt: seine Ehrerweisung Gott gegenüber zu verstehen, auch Anselms Fassung von Gottes Gerechtigkeit wird durchsichtig:
Es kann nicht geleugnet werden, dass die höchste Wahrheit in vollkommenem Sinn rectitudo ist – vom Geschaffenen dadurch unterschieden, dass sie
keinem Sollen unterliegt, sondern durch sich selbst ist, was sie ist.52 Die
höchste Wahrheit hat also ihr inneres Maß und verfährt nicht willkürlich.
Das bedeutet aber auch: Anselm kennt Dinge, die Gott nicht darf (non
debere).53 Konkret: Würde er den sündigen Menschen ohne Wiederherstellung (ohne satisfactio) in die Seligkeit aufnehmen, würde er seinem eigenen
Willensbeschluss untreu 54, ja, er würde sich selbst in die Ungerechtigkeit
hinabziehen lassen.55 Zu Gottes Identität gehört es, sich selbst treu zu bleiben – was denn auch der Grund dafür ist, dass er sein begonnenes Schöpfungswerk notwendigerweise im Erlösungswerk fortführt.56
Mit der Missachtung der rectitudo voluntatis, mit der Missachtung
seines Sollens in der Ordnung des auf Gott hin geschaffenen Endlichen
vergreift sich der Mensch an der gesamten Ordnung der endlichen Dinge,
welche die Schönheit (pulchritudo) des Universums ausmacht.57 In diesem
Zusammenhang steht nun die Behauptung, dass Gott das debitum seiner
Ehre versagt, ihm genommen, geradezu geraubt wird, was das Seine ist.58 –
Das ist Anselms Definition von Sünde in ihrer theozentrischen Bedeutung.
Wichtig zur Erfassung des menschlichen Dilemmas ist es dabei, Funktion und Bedeutung von »Ehre« zu beachten. Der rectitudo der Seinsordnung entsprechend wird in I,13 Ehre als dasjenige beschrieben, was in der
Ordnung der endlichen Dinge die höchste Gerechtigkeit am gerechtesten
wahrt, und gefolgert: »Nichts also wahrt Gott gerechter als die Ehre seiner
Würde.«59 Die differenzierte Begriffsbestimmung in I,15 stellt dann endgültig klar, inwiefern Gottes Ehre verletzt wird. Dazu werden zwei Relationen
der Ehre Gottes unterschieden: eine Gott selbst betreffende – eine den Men-
51
52
53
54
55
56
57
58
59
De veritate, cap. 12 (ed. S CHMITT I, 194,26).
De veritate, cap. 10 (ed. S CHMITT I, 190,1–4).
Ausdrücklich in CDH I,21 (ed. S CHMITT II, 89,30 f.); vgl. schon den Gedanken darüber, ob es
Gottes Würde entspricht, dass er Unwürdiges will, z. B. lügen: I,12 (ed. S CHMITT II, 70,11–18).
CDH I,19 (ed. S CHMITT II, 85,24–32).
CDH I,12 (ed. S CHMITT II, 69,28–30).
CDH II,4 (ed. S CHMITT II, 99,12 f.); vgl. auch S CHMITT (s. o. Anm. 49), LXXXI f. Auch von
dieser Seite her erklärt sich, dass Anselm alles daran setzen wird, Gottes Barmherzigkeit als
gerecht erweisen zu können: Sie entspricht der Identität des sich selbst treuen Gottes und ist
kein Willkürakt.
CDH I,15 (ed. S CHMITT II, 73,3–9).
CDH I,11 (ed. S CHMITT II, 68,19–21).
CDH I,13 (ed. S CHMITT II, 71,19).
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188
Hans-Martin Rieger
schen betreffende. Hinsichtlich der Ersten wird festgestellt, dass sie nicht
verletzt, ihr nichts hinzugefügt oder genommen werden kann.60 Hinsichtlich der Letzteren allein kann gesagt werden, dass der Mensch Gott etwas
nimmt und ihn entehrt – weil er sich nicht freiwillig unterordnet und die
Ordnung und Schönheit des Universums entstellt.61 Das in der Entehrung
Gottes vorliegende Verletzen, das »Nehmen«, zu dem sich der Sünder erdreistet, bezieht sich also auf die Ordnung des Schöpfers! Schon vorgreifend kann gesagt werden: Auch das »Geben« der satisfactio wird sich auf
sie beziehen.62
Dass die Sünde nicht die persönliche Ehre Gottes betrifft, sondern die
Ordnung der Welt, ist von einer Reihe neuerer Anselminterpretationen mit
Recht herausgestellt worden.63 Ebenso ist allerdings festzuhalten, dass Gott
die Entstellung seiner Ordnung nicht unberührt lässt, insofern die Ehre
seiner Würde mit seiner Schöpfung verbunden ist.64 Er reagiert deshalb auf
Entstellung seiner Ordnung; er muss es geradezu, weil ihr Ungeordnet-Lassen der rectitudo Gottes widerspräche beziehungsweise es so erscheinen
ließe, dass er in seiner Leitung versage. Beides ist inkonvenient und unmöglich.65
Der Erfassung des menschlichen Dilemmas ist man damit näher gekommen: Wenn der Mensch Gott die Ehre »nimmt«, entstellt er dessen
Ordnung der Schöpfung, der er selbst zugehört. Sein »Nehmen« bezieht
sich auf die Ordnung, welche für ihn selbst Heil vorsieht. Folgerichtig
schädigt er sich selbst. Gott schädigt er insofern, als er ihm die Vollendung
seines Schöpfungs- und Heilswillens zu nehmen im Begriff ist. Dass eine
solche Folgerung nicht erst Sache der Interpretation ist, bestätigt die bereits
zitierte Frage Anselms: »Nahm er Gott nicht alles, was er mit der menschlichen Natur sich zu tun vorgenommen hatte?« 66
60
61
62
63
64
65
66
CDH I,15 (ed. S CHMITT II, 72,29 f.).
CDH I,15 (ed. S CHMITT II, 73,6–9).
Vgl. schon in CDH I,11 (ed. S CHMITT II, 68,29–69,2) die Einführung von satisfactio.
Hier ist nochmals an G RESHAKE (s. o. Anm. 11), 333 f. zu erinnern, der (im Anschluss an
McIntyre) in diesem Tatbestand dann auch das die Analogie des mittelalterlichen Feudalverhältnisses Sprengende erkennt. Ihm folgen GÄDE (s. o. Anm. 11), 140 f. und P LASGER (s. o.
Anm. 11), 93–98.
Es ist augenscheinlich, dass die Differenzbestimmung in I,15 nicht nur eine theologische
Qualifikation eines weltlichen Begriffes vornimmt, sondern darüber hinaus sie in einer solchen Weise vornimmt, dass dem Apathieaxiom Rechnung getragen ist: Gott selbst kann nichts
verlieren, er kann in seiner Ehre nicht verletzt werden. Gleichwohl wird das Apathieaxiom
gewissermaßen gedehnt: Wird die Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung entstellt, wird Gottes
Glanz und Abbild entstellt – was Gott auf jeden Fall so affiziert, dass er sich aufmacht, die
verletzte Schönheit der Schöpfung wiederherzustellen.
CDH I,15 (ed. S CHMITT II, 73,22–74,1); vgl. I,12 (ed. S CHMITT II, 69,15), I,20 (ed. S CHMITT
II, 86,21 f.).
S.o. Anm. 39.
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
189
Kann eine Bestrafung im Sinne eines erneuten Nehmens Gottes als
ausgeschlossen gelten, muss sich die Erörterung darauf richten, wie die
genommene Ehre Gottes eingelöst wird, auf das »Geben« der satisfactio.
Der letzte Gedankenkomplex im ersten Buch (I,20–24) dient dem Erwägen
der anthropologischen Dimension dieser satisfactio – um sie, weil jedes
menschliche Vermögen übersteigend, als Möglichkeit des sündigen Menschen auszuschließen. Das Dilemma wird hier nun also nach seiner anderen
Seite hin – nämlich im Blick auf das von menschlicher Seite her erforderliche »Geben« – Stück für Stück in seiner Ausweglosigkeit demonstriert.
Dieses zu Gebende nämlich entspricht der Schwere der Schuld.67
Im Gefolge von Harnack wurde dies als Äquivalenzdenken verworfen,
welches Gott zum Empfänger einer der Entehrung äquivalenten Gegenleistung macht. Doch eine solche Unterstellung würde nicht nur die in I,21–24
vorgeführte Komparationsargumentation Anselms missachten, sondern
schon das zum Begriff von Gottes Ehre Gesagte: Gottes persönliche Ehre
benötigt nichts, sie kann nicht zum Objekt eines Gebens werden – sondern
allein seine geschaffene Ordnung. Diese aber benötigt nichts anderes als
das, dass ihr die Verwirklichung des Schöpfungs- und Heilswillens Gottes
gegeben wird. Genau darauf hebt denn auch die Komparationsargumentation ab: Um die unvergleichliche Schwere der Sünde zu demonstrieren,
wird diese mit einem einzigen Blick contra voluntatem dei verglichen und
dabei festgestellt, dass eine solche nicht durch die Erhaltung oder Rettung
ganzer kreatürlicher Welten aufzuwiegen ist.68 Anselm benutzt diesen
Gedanken bereits, um die Größe der erforderlichen Genugtuung hypothetisch zu veranschaulichen.69 In I,23 schließlich wird der Gedanke pointiert:
Das »Geben« der satisfactio müsste die Rechtfertigung sündiger Menschen
zum Inhalt haben! Da aber ein Sünder nicht Sünder rechtfertigen kann
(quia peccator peccatorem iustificari nequit), ist, wie Boso zugibt, diese
Möglichkeit unmöglich.70 Ihm scheint deshalb eine der Gerechtigkeit Gottes entsprechende Barmherzigkeit und damit die Schöpfungs- und Heilsvollendung des Menschen zugrunde zu gehen.71
Dass dies keinesfalls sein kann, ist nun auch Anselms Meinung: Der
Notwendigkeitsaufweis des zweiten Buches setzt in II,1 dezidiert damit ein,
dass Gott den Menschen nicht umsonst (frustra) zur Heilsvollendung in der
beatitudo geschaffen haben kann. Es wäre völlig ungeziemend, ließe Gott
von seinem begonnenen Werk ab.72 Der von Anselm anvisierte Gebrauch
des Notwendigkeitsbegriffs dient dementsprechend dazu, die freiwillige
67
68
69
70
71
72
CDH I,21 (ed. S CHMITT II, 88,18 und 89,25).
CDH I,21 (ed. S CHMITT II, 88,12–89,16).
Ebd. (ed. S CHMITT II, 89,27 f.).
CDH I,23 (ed. S CHMITT II, 91,25 f.).
Ebd. (ed. S CHMITT II, 91,27–29); vgl. I,24 (ed. S CHMITT II, 94,8 f.)!
CDH II,1 (ed. S CHMITT II, 97,20–98,5) und II,4 (ed. S CHMITT II, 99,9–13).
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190
Hans-Martin Rieger
Verpflichtung Gottes zur Vollendung seines Werks begrifflich einzuholen.
Mit seiner Hilfe wird die Gnade Gottes als in Freiheit vollzogene Selbstbindung Gottes beschrieben: Gott nimmt sich selbst beim Wort.73
Die zur Schöpfungs- und Heilsvollendung notwendige satisfactio, welche der Mensch nicht erbringen kann, obwohl er es soll, ist Aufgabe des
Gott-Menschen (II,6). Zur Erfassung des Heilswerks Christi ist im Folgenden vor allem zur Darstellung zu bringen, wie Anselm das »Geben« der
satisfactio beschreibt. Fokussiert ist damit das Sterben Christi, wie es vor
allem in II,11 expliziert wird. Die Darstellung der soteriologischen Bedeutung seines Todes, wie sie in den Abschnitten II,14–17 und II,18 f. zum Ausdruck kommt, soll aber zumindest kurze Erwähnung finden.
Im Auge zu behalten ist zunächst die Definition der satisfactio und
ihre relationale Verortung im Verhältnis von Gott und Mensch. Zwei Bestimmungsmomente sind dabei als verbunden zu denken: Satisfaktion ist
einerseits die freiwillige Einlösung beziehungsweise Bezahlung der Schuld –
zum Zweck der Wiederherstellung des Menschen.74 Im Blick auf den Menschen kann sie deshalb mit dessen Reinigung und Gerechtmachung gleichgesetzt werden.75 Satisfaktion ist andererseits zugleich Einlösung der Gott
geraubten Ehre, welche vom ohnehin geschuldeten Gehorsam des Menschen unterschieden werden muss.76 Die differenzierte Bestimmung des
Begriffs der Ehre Gottes erlaubt es ohne weiteres, beide Momente im Sinne
Anselms zusammenhalten zu können: Satisfaktion bedeutet ein Geben,
das die Wiederherstellung der gottgewollten Ordnung und Schönheit des
Universums und insofern die Wiederherstellung der Ehre Gottes zum Ziel
hat.77
Zu geben ist dabei ein gewisses maius (aliquid maius) 78: Richtet sich
die Wiederherstellung nach der Größe der Sünde und übersteigt deren
Gewicht, wie Anselm in I,21 demonstriert hatte, alles Geschaffene, dann
73
74
75
76
77
78
CDH II,5 (ed. S CHMITT II, 100,16–20). In II,17 wird der Notwendigkeitsbegriff – ähnlich wie
dies für den Begriff der Ehre festzustellen war – für den theologischen Gebrauch einer Differenzbestimmung zugeführt und zwischen zwei Necessitäten unterschieden: Im Blick auf
Gott kann nicht von einer necessitas praecedens die Rede sein, lediglich von einer necessitas
sequens: Wenn Gott sich selbst beim Wort nimmt, geht diesem Wort selbst keine Notwendigkeit voraus. Im Blick auf die Lebenshingabe Christi ist damit bereits dem Gedanken einer Viktimisierung begegnet: Christi Willen zur Lebenshingabe ging keine Notwendigkeit voraus;
ohne Berücksichtigung seiner Notwendigkeit setzenden Willensmacht lässt sich daher nicht
sagen, dass ihm jemand sein Leben »nahm«. Es sich nehmen zu lassen beziehungsweise es hinzugeben hat seinen Bestimmungsgrund in Christi Willen selbst (ed. S CHMITT II, 125,8–13;
125,28–126,2).
CDH I,19 (ed. S CHMITT II, 85,28–32).
Vgl. ebd. (ed. S CHMITT II, 85,21 f.).
CDH I,11 (ed. S CHMITT II, 68,29–69,2).
So zu Recht auch W IESE (s. o. Anm. 11), 37, gegen die einseitige Fassung der satisfactio bei
G RESHAKE (s. o. Anm. 11), 334 (bei der satisfactio gehe es allein um den Menschen).
CDH II,6 (ed. S CHMITT II, 101,4).
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
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muss auch die satisfactio alles Geschaffene übersteigen.79 Damit entspricht
sie aber dem Ziel der Wiederherstellung des Menschen überhaupt, insofern
dessen Wiederherstellung größer und wunderbarer ist als dessen Herstellung beziehungsweise Schöpfung. Denn jenes vollzog sich an einem Sünder
gegen sein Verdienst, dieses nicht an einem Sünder und auch nicht gegen
sein Verdienst.80 Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass der Mensch etwa
durch Umkehr, durch Gehorsam, durch sein Leiden oder auch sein Sterben
eine solche Genugtuung nicht erbringen kann, sondern damit immer im
Bereich seines ohnehin Geschuldeten (debitum beziehungsweise ex debito)
verbleibt.81
Erst Christus also bringt durch sein Sterben eine solche Gabe dar,
welche alles Geschaffene übersteigt, ein »unvergleichlich höheres Gut als
die Sünden schlecht sind« 82. Diese Konzentration auf den aktiven Aspekt
im Sterben des Gekreuzigten impliziert keine Verdrängung des passiven
Erleidens, sie will auch keine Isolierung des Todes Jesu von seinem Leben
befördern.83 Worauf es an dieser Stelle der Argumentation vielmehr ankommt und was Anselm sich herauszustellen bemüht, ist schlichtweg das
erforderliche maius im Sterben Christi. An anderer Stelle, in I,9, kann
Anselm den Tod Christi durchaus als ein Erleiden einer Pein beschreiben,
welches aus seinem festgehaltenen Lebensgehorsam resultiert.84 Entscheidend ist im dortigen Zusammenhang allerdings, dass Christus in diesem
konsequenten Festhalten an der Wahrheit und an der Gerechtigkeit – auch
und vor allem dann, als es ihm das Erleiden des Todes einträgt – das von
jedem Menschen Geschuldete vorlebt.85
In II,11 ist dieser Gedanke daher unerheblich: Anselm wendet sich
dem erforderlichen maius zu, das für ihn mit demjenigen Aspekt des Todes
Christi gegeben ist, welcher dessen qualitative Differenz zu jedem menschlichen Sterben ausmacht. Das ist dann auch der Grund dafür, dass er nicht
lediglich am Sterben Christi, sondern an dessen spezifischer und exklusiver
Art und Weise interessiert ist: Christi Tod ist die in Freiwilligkeit aktiv voll-
79
80
81
82
83
84
85
Vgl. die aufeinander verweisenden Stellen CDH I,21 (ed. S CHMITT II, 89,27 f.), II,6 (ed.
S CHMITT II, 101,3 f.) und II,11 (ed. S CHMITT II, 110,9 f.).
CDH II,16 (ed. S CHMITT II, 117,6–13).
CDH I,20 (ed. S CHMITT II, 86,25–87,5), II,10 (ed. S CHMITT II, 106,13–16) und II,18 (ed.
S CHMITT II, 127,27 f.).
CDH II,14 (ed. S CHMITT II, 114,22–24).
Vgl. die Kritik von A. VON H ARNACK (s. o. Anm. 3), 402.407 f.
CDH I,9 (ed. S CHMITT II, 61,12–14); vom Sterben Jesu als »festgehaltene[m] Lebensgehorsam« spricht H ERMANN , Anselms Lehre (s. o. Anm. 11), 392. In diesem Zusammenhang ist
die Verwendung des Begriffs einer poena, welche vom göttlichen Vater nicht verhindert wird,
bedeutsam: CDH I,10 (ed. S CHMITT II, 65,23–29).
CDH I,9 (ed. S CHMITT II, 61,15 f.); dieser Bezug findet sich dann in II,11 (ed. S CHMITT II,
110,25–28).
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Hans-Martin Rieger
zogene Hingabe seines Lebens für die Menschen.86 Die versöhnende beziehungsweise genugtuende Kraft ist also demnach nicht in der Quantität
und Intensität des Leidens zu suchen, sondern darin, dass dieses freiwillige,
gewollte Hingabe ist.
Die Freiwilligkeit besteht negativ schon darin, dass das Erleiden des
Todes von Christus nicht wie vom Menschen ex debito verlangt ist; die
Hingabe besteht im Äußersten, was ein Mensch Gott geben kann, nämlich
sich zu seiner Ehre dem Tod auszuliefern.87
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang der exklusiven Dimension
im Sterben Christi allerdings vor allem, wie Anselm den Begriff der Freiwilligkeit beziehungsweise der Willensfreiheit positiv fasst. Denn anders als
für diejenigen am negativen Freiheitsbegriff orientierten freiheitstheoretischen Ansätze der modernen philosophischen Ethik, welche unter Freiheit
lediglich die Abwesenheit von Zwang und die Unabhängigkeit des Individuums verstehen, gehört für Anselm der Gedanke der Freiheit und der
Gedanke des Gehorsams zusammen. Freiheit des Willens ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch sein Sollen gegenüber dem Schöpfer erfüllen,
dass er in der rectitudo voluntatis leben kann. Sie wird deshalb als »das
Vermögen, die Rechtheit des Willens um ihrer selbst willen zu bewahren«
definiert.88 Die Rechtheit des Willens ohne äußere Fremdbestimmung oder
äußeren Zwang zu bewahren heißt aber nichts anderes als: wollen, was
Gott will.89 In dieser Auffassung zeigt sich nicht nur eine monastische Einstellung zur Gehorsamspflicht, sondern Momente eines augustinischen
Freiheitsbegriffs, dem gemäß nicht die Freiheit zu sündigen oder nicht zu
sündigen, als vielmehr die Freiheit, den Willen Gottes zu bewahren, die
höchste Stufe der Freiheit darstellt.90
Ist der Gehorsam Jesu im Befolgen des göttlichen Willens ein Akt
selbstursächlichen Willens und damit frei von jedem Zwang, liegt die Vor86
87
88
89
90
Vgl. das cuiusmodi in CDH II,11 (ed. S CHMITT II, 110,18); zur Gleichsetzung von dare vitam
und accipere mortem vgl. II,14 (ed. S CHMITT II, 115,2 f.).
CDH II,11 (ed. S CHMITT II, 110,25–28 und 111,16–18). Anselm kann diese radikale Selbsthingabe auch mit dem Opferterminus ausdrücken und sagen, Jesus habe sich selbst zu seiner
eigenen Ehre (!) der ganzen Trinität dargebracht und das heiße: seine Menschheit seiner Gottheit (II,18 [ed. S CHMITT II, 129,17–20]). Zur Intention von Anselms Darstellung des Todes
Jesu formuliert GÄDE (s. o. Anm. 11), 245 treffend: »Anselm […] will zeigen, daß Jesus sich
in einer Weise hingibt, wie kein anderer Mensch sich an Gott verschenken könnte. Er will von
Gott unüberbietbar denken. Er will zeigen, daß die Hingabe Jesu nicht durch die Hingabe
eines anderen Menschen ersetzt werden könnte«. Gäde versucht in seiner Arbeit durchgehend, das maius von »Cur deus homo« vom maius des »Proslogion« her zu interpretieren.
De libertate arbitrii, cap. 13 (ed. S CHMITT I, 225,2 f.).
De libertate arbitrii, cap. 8 (ed. S CHMITT I, 221,2 f.), vgl. cap. 5 (ed. S CHMITT I, 216,8–11)
und der Gebrauch des Gedankens der selbstursächlichen Willensfreiheit für Gott in CDH
II,10 (ed. S CHMITT II, 108,6–12).
Ohne diesen Hintergrund ist CDH II,10 kaum zu verstehen. Zum Begriff der Freiheit bei
Anselm vgl. G OEBEL (s. o. Anm. 41), 363 ff.
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
193
stellung der Viktimisierung Jesu durch einen grausamen Vater fern: Christus wurde nicht gegen seinen Willen zum Sterben gezwungen, sondern erlitt
nach seinem eigenen Willen den Tod, um die Menschen zu retten.91 Sein
Gehorsam ist Willensübereinstimmung mit dem rettenden Heilswillen des
Vaters. Sein freier Wille richtet sich auf die göttliche Wiederherstellung des
Menschen, auf die Versöhnung der Welt.92 Das Kelchwort in Joh 18,11, die
Dahingabeformel in Röm 8,32 und auch Phil 2,8 werden so gedeutet, dass
der Vater nur indirekt den Tod seines Sohnes will, insofern nämlich die
Rettung der Welt das Festhalten an der Gerechtigkeit gegen alle menschliche Ungerechtigkeit erfordert und damit den Tod impliziert.93
Hinsichtlich der Heilsbedeutung des Todes Christi und der Heilszuwendung für den Menschen bleibt zu bemerken, dass diese gerade an das
geschilderte Moment der Freiwilligkeit angeschlossen wird.94 Denn eine
freiwillig dargebrachte Gabe kann nicht ohne Belohnung bleiben.95 Auch
der Sachverhalt, dass Anselm vom Begriff der Satisfaktion auf das Begriffsfeld des Verdienstes überwechselt, um das Partizipationsproblem einer
Lösung zuzuführen, ist durch den Gedanken der Freiwilligkeit bedingt:
Während die satisfactio vom Menschen geschuldet ist, ist das Werk Christi
eine in göttlicher Freiheit vollzogene ungeschuldete Tat. Mit dem Verdienstgedanken will Anselm – so unevangelisch das klingen mag – die gänzlich
ungeschuldete Hingabe und den exklusiven Charakter des Christuswerks
betonen. Zugleich aber soll dieser Gedanke es ihm gestatten, als notwendig
und mit der göttlichen Gerechtigkeit übereinstimmend zu erweisen, dass
dieses Werk von Gott als Satisfaktion für die Menschen angenommen, es
also als Heilswerk für den Menschen wirksam wird und ihm solchermaßen
Erfolg beschieden ist.96
91
92
93
94
95
96
CDH I,8 (ed. S CHMITT II, 60,12–14); vgl. I,9 (ed. S CHMITT II, 62,5–8). Zur Erhellung der in
II,11 (ed. S CHMITT II, 111,20–25) aufgegriffenen Freiwilligkeit im Sterben Christi ist auf den
Abschnitt I,8–10 zurückzukommen.
CDH I,9 (ed. S CHMITT II, 63,30; 64,1).
Ebd. (ed. S CHMITT II, 62,9 ff. und 63,23 f.). Die Argumentation Anselms bringt es dabei mit
sich, dass die Freiheit zum gerechten Willen der Gottheit Christi, der Gehorsam bzw. die sich
aufopfernde Hingabe seiner Menschheit zugeschrieben werden. Vgl. ebd. (ed. S CHMITT II,
63,21–23); II,17 (ed. S CHMITT II, 124,19–24); II,18 (ed. S CHMITT II, 129,23): cui secundum
hominem se obtulit. Hier wie an anderen Stellen (Med. 3 [ed. S CHMITT III, 86,68–71]) geht
Anselm von einer äußerst bedenklichen christologischen »Arbeitsteilung« aus; vgl. zu dieser
Problematik S CHMITT (s. o. Anm. 11), 164–167, aber auch 45 f.
Vgl. den gewagten Vergleich von debitum/indebitum mit Ehe/Virginität in CDH II,18 (ed.
S CHMITT II,128,17–26).
CDH II,19 (ed. S CHMITT II, 130,5 f.).
Vgl. CDH II,19 (ed. S CHMITT II, 130,7–9) und die Abgrenzung gegen das vanum esse bzw. das
frustra in ebd. (ed. S CHMITT II, 130,18 f.31). Der Verdienstgedanke wäre also funktional von
seinem Kontext her zu verstehen, so H ERMANN , Christi Verdienst (s. o. Anm. 11), 466–470;
GÄDE (s. o. Anm. 11), 248–260.
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194
Hans-Martin Rieger
III.
Zusammenfassend ist von dieser inhaltlichen Gesamtlage her im Blick
auf die eingangs erwähnten systematisch-theologischen Problemkreise festzuhalten:
Erstens: Auf die Frage, ob Gott das Kreuz brauche, kann Anselm differenziert antworten. Gott als das Subjekt der Versöhnung zu betrachten,
dies schließt für ihn zunächst nicht aus, dass sich im Sterben Jesu ein Geben
an Gott ereignet. Gegen eine soteriologische Reduktion und eine vorschnelle Umgehung des Skandals, dass das Kreuz Gott zur Schmach gereiche, bleibt er der Überzeugung, dass Jesus für Gott stirbt, dass seine
Hingabe zuerst Gottesdienst ist. Auf dieser Ebene, nicht durch die Unterschreitung ihrer stellt sich Anselm auf seine Weise der Herausforderung,
die Übereinstimmung von Christologie und Gotteslehre zu durchdenken.
A. Schlatter trifft diese Pointe, wenn er feststellt: »Jesu Gottesdienst hat
Anselm allem übergeordnet, was er uns dienend, uns begabend tut.«97
Allerdings: Gott braucht das Kreuz nicht für sich, für seine eigene
Ehre, sondern für die Ordnung und Schönheit seiner Schöpfung, an welcher er mit seiner ganzen Würde hängt. Anselm bestätigt diesen Sachverhalt
noch einmal nachdrücklich in seiner »Meditatio redemptionis humanae«:
»Nicht Gott nämlich bedurfte es, dass er auf diese Weise den Menschen
rettete, sondern die menschliche Natur bedurfte es, dass sie Gott auf diese
Weise Genugtuung gab. Nicht Gott bedurfte es, so Mühseliges zu erdulden,
sondern der Mensch bedurfte es, so versöhnt zu werden. Nicht Gott bedurfte es, sich so erniedrigen zu lassen, sondern der Mensch bedurfte es, so
aus der tiefsten Hölle gezogen zu werden.«98
Zweitens: Dass der Tod Jesu nicht im Sinne einer »Prügelknaben-Vorstellung« zu deuten ist, ergab Anselms konzentrierte Betrachtung der Art
und Weise, wie Christus in den Tod ging. Sein Tod kam nicht wie ein Verhängnis oder ein Zwang auf ihn. Christus unterwarf sich auch nicht einem
destruktiven Tötungswillen des himmlischen Vaters. Er lebte und starb vielmehr in der mit seinem selbstursächlichen Willen vollzogenen Übereinstimmung mit dem Heils- und Rettungswillen des Vaters.
Zur Erfassung der theologischen Kategorialität gehört es dementsprechend, den Tod Jesu Christi als Vollzug der Hingabe nicht nach einem Vik97
98
Adolf S CHLATTER , Jesu Gottheit und das Kreuz (BFChTh 5,5), Gütersloh 21913, 76. Neben
A LTHAUS (s. o. Anm. 10), 23 (»Jesus starb für Gott, ehe er für uns starb«) betont diesen
Grundsatz auch Wolfhart PANNENBERG , Systematische Theologie, Bd. II, Göttingen 1991,
422. Jürgen M OLTMANN , Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen,
München 1989, 185 nimmt ihn bekanntlich in der Weise auf, dass er nach der Bedeutung des
Kreuzes für die Gotteslehre fragt und zu einer Revision der Zwei-Naturen-Lehre und einer
trinitarischen Kenosis ausweitet. Anselm hingegen denkt ganz unter den Voraussetzungen von
Chalcedon und dem Apathieaxiom. Der Gotteslehre sind damit Fixpunkte gesetzt.
Med. 3 (ed. S CHMITT III, 86,64–68).
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
195
timisierungsschema dergestalt zu entschlüsseln, dass der Vater das aktive
Subjekt, der Sohn lediglich das passive Objekt ist.99 Der Gottesdienst des
Gekreuzigten lässt sich vielmehr als Selbsthingabe beziehungsweise als
Selbstopfer dann angemessen artikulieren, wenn die ihm nicht äußerliche
Handlungseinheit, die in den synoptischen Passionserzählungen geradezu
dramatisch geschilderte Willenskonformität zwischen Jesus und seinem
Vater in ihrer christologischen und trinitarischen Bedeutung nicht verkannt
wird. Anselm von Canterbury ist in dieser Hinsicht jedenfalls nach wie vor
vielen seinen neuzeitlichen Kritikern voraus. Das gilt vor allem, wenn gesehen wird, dass er die Willenskonformität von vornherein auf den Heilswillen Gottes für den Menschen bezieht, also die Hingabe Jesu an Gott den
Vater zugleich seine Hingabe für die gottlose Welt ist.100
Drittens: Die Erfassung des Gottesdienstes Christi und seiner Selbsthingabe setzt die Wahrnehmung einer zentralen Bedeutung seines Gehorsams voraus. Das hat Anselm und das hat in seiner zentralen Bedeutung
für den Stellvertretungsgedanken dann auch K. Barth deutlich gemacht.101
Schon die ältere lutherische Tradition hatte nicht umsonst das Lehrstück
der satisfactio vicaria unter den Vollzugsformen von oboedientia activa und
oboedientia passiva diskutiert. Gegenüber einer einseitigen Betonung des
Strafleidens heben allerdings Anselm wie Barth die satisfactio, das aktive
Geben beziehungsweise Tun im Leiden hervor, so dass die oboedientia
activa als das logisch Primäre erscheint, welches die oboedientia passiva in
sich schließt.102 Diese Betonung wiederum ist nicht unproblematisch. Gerade
sie kann aber als wirksame Kontraindikation einer Deutung des Todes Jesu
mithilfe des Schemas eines gewaltsüchtigen Gottes und seines ihm ergebenen Prügelknaben interpretiert werden. Sie erlaubt es darüber hinaus, im
Verhältnis des Sohnes zum Vater und damit auch in der Identität der Person
Christi dem Fortschreiten im Gehorsam (vgl. Hebr 5,8 f.) nicht lediglich
akzidentiellen Charakter zuzuschreiben. Mit der Vollendung seines Gottesdienstes am Kreuz, nicht ohne diesen, ist er der Sohn.103
99
100
101
102
103
So bereits M OLTMANN (s. o. Anm. 97), 198, gegen die Kritik von D. Sölle.
Vgl. E. Jüngel: »Der Tod Jesu Christi ist der Vollzug vollkommener Hingabe des mit dem
Menschen Jesus identischen Sohnes Gottes an Gott den Vater und als solcher das Ereignis
vollkommener Hingabe für die durch die Gottlosigkeit des Menschen qualifizierte Welt«
(Eberhard J ÜNGEL , Das Sein Jesu Christi als Ereignis der Versöhnung Gottes mit einer gottlosen Welt: Die Hingabe des Gekreuzigten, in: DERS ., Entsprechungen: Gott – Wahrheit –
Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 272–284, hier: 284).
Die Explikation der Versöhnung setzt in der »Kirchlichen Dogmatik« ja bekanntlich mit § 59
»Der Gehorsam des Sohnes Gottes« ein; der Gehorsam des Sohnes in der Erniedrigung wird
dabei als Moment seiner Göttlichkeit verstanden: Karl BARTH , Die kirchliche Dogmatik.
Bd. IV/1: Die Lehre von der Versöhnung, Zürich-Zollikon 1953 (Studienausgabe Bd. 21,
Zürich 1986), 210 ff.
Pointiert bei BARTH (s. o. Anm. 101), 258.262.269.280.
Vgl. dazu PANNENBERG (s. o. Anm. 97), 360.427 f.
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Hans-Martin Rieger
Viertens: Anselms Betonung der Freiwilligkeit des Sterbens Christi
offenbart freilich, das soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, theorieimmanente Denkzwänge bereits insofern, als für ihn nur ein Ungeschuldetes verdienstvoll und damit anders als ein Geschuldetes soteriologisch
von Bedeutung sein kann.104 Das entspricht seiner Gedankenentwicklung
aus einem allgemeinen Begriff des debere, führt aber dazu, das Spezifikum
des Sterbens Christi zu verfehlen.
Im Rückgang auf das Neue Testament und in differenzierter Auseinandersetzung mit Anselms Konzeption votiert der bereits erwähnte Schlatter an dieser Stelle anders: Das Besondere des Sterbens Christi besteht
darin, das Sterben Christi zu sein. Das heißt: Auch ein nach außen hin
gewandter Plausibilisierungsversuch hat anders als Anselm, welcher die
Besonderheit und die soteriologische Bedeutsamkeit von Christi Tod in dessen Ungeschuldetsein sucht, zu beachten, dass hier Christus stirbt und sein
spezifisches Lebenswerk durch den Tod gänzlich ins Nichts gesetzt wird.
Formal unterscheidet sich sein Gehorsam gerade nicht vom menschlich
geschuldeten: Er lebt ganz in der Übereinstimmung mit Gottes Gebot und
lässt in seinem Leben wie dann in seinem Sterben Gott Gott sein. Schlatter
hat vorgeführt, dass sich dies als einzigartige Konkretion des sola fide angesichts des Todes explizieren ließe.105
Unbeschadet dessen also, dass die Problemlösungskapazität von Anselms Modell nicht nur theologiegeschichtlich, sondern auch systematischtheologisch wahrgenommen zu werden verdient, und unbeschadet dessen,
dass seine Stärke in der Bearbeitung des Sachverhalts liegt, dass das Kreuz
Jesu vor die Gottesfrage stellt – seine Zusammenschau von Gottes Barmherzigkeit und Gottes Gerechtigkeit in einem Modell von Ehre und Genugtuung hat ihre, hier nicht weiter zu verfolgenden Grenzen. Gleichwohl ist es
eben genau das: ein Modell, mit welchem Anselm sein im »Proslogion« formuliertes Bekenntnis der Übereinstimmung von Gottes Barmherzigkeit und
Gottes Gerechtigkeit denkerisch Ausdruck verleiht: Gott ist mit seiner
Gnade und Barmherzigkeit im Recht.106
ZUSAMMENFASSUNG
Obwohl klärende philosophie- und theologiegeschichtliche Untersuchungen vorliegen,
dient die Kreuzeslehre Anselms von Canterbury in der protestantischen Theologie weithin als
104
105
106
Vgl. die juristische Erhellung von Hans DOMBOIS , Juristische Bemerkungen zur Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury, in: NZSTh 9 (1967), 339–355.
S CHLATTER (s. o. Anm. 97), 60 ff.
Vgl. Prosl., cap. 9 (ed. S CHMITT I, 108,2–9) mit dem Argumentationsziel von »Cur deus
homo« in II,20 (ed. S CHMITT II, 131,26 ff.)! Zur Formulierung: Eberhard J ÜNGEL , Das
Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum christlichen Glaubens. Eine
theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 64.
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Der Gottesdienst des Gekreuzigten
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negatives Beispiel, von dem man sich abzugrenzen pflegt. Der Artikel bietet eine Relektüre von
Anselms Schrift »Cur deus homo« und erhebt das systematisch-theologische Problemniveau der
in ihr beschriebenen Konzeption. Neben der Beachtung der spezifischen, aus dem Gesamtwerk
erschließbaren Begrifflichkeiten ist für die Interpretation schon die Analyse des Aufbaus und die
Beachtung der intentionalen Ausrichtung von Bedeutung. Inhaltlich ist für das Verständnis der
Passion Christi die Willensübereinstimmung und die Handlungseinheit von Vater und Sohn entscheidend. Indem Christus für seinen göttlichen Vater stirbt, dient er Gott – so dass dessen Heilswille zum Ziel kommt. In der freiwilligen Selbsthingabe an diesen Heilswillen besteht der
Gottesdienst des Gekreuzigten.
SUMMARY
In Protestant Theology scholars today, as in the past, frequently distance themselves from
Anselm of Canterbury’s conception of atonement. The article offers a fresh reading of Anselms’s
essay “Cur deus homo”. Even before a thorough examination of the work’s content, an analysis
of its structure and its intention sheds light on the work’s meaning. The work emphasizes, that
the will and actions of father and son are in accord with one another and this is of great importance for an understanding of the passion of Christ. In dying for his divine father, Christ served
God – so that God’s will (i. e. his will to save humankind) be fulfilled. Anselms’s conception
argues against the notion of a wrathful God, who has the need of a scape-goat. The ideas Anselm
posits in his work contain much that is worthy of continued discussion concerning atonement
today.
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