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VZKF
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Schriften
zur Kultur- und Mediensemiotik
Online | No. 2/2016
Hrsg. von Martin Nies!
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Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
(KDE)
Projekt( des( Virtuellen) Zentrums) für) kultursemiotische) Forschung( zum( Verhältnis(
von( Erklärung( und( Erzählung( sowie( von( natur9( und( kulturwissenschaftlicher(
Erkenntnis1(
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Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
(Flensburg / Husum)
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1.#Das#KDE)Projekt#(Matthias(Bauer)(
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Natur9( und( Kulturwissenschaftler( gehen( vergleichsweise( selten( gemeinsame(
Forschungsvorhaben(an.(Ihre(Untersuchungsgegenstände(und(Erkenntnisinteres9
sen( legen( eine( Zusammenarbeit( nicht( unbedingt( nahe( –( und( wenn( doch,( stellt(
sich( in( vielen( Fällen( heraus,( dass( es( nur( schwer( möglich( ist,( die( verschiedenen(
Begriffstraditionen( und( Methoden( in( ein( einheitliches,( für( alle( Beteiligten( auf9
schlussreiches(Forschungsdesign(zu(übersetzen.(Dabei(gibt(es(zweifellos(Gebiete,(
auf(denen(die(Zusammenarbeit(wünschenswert(und(lohnend,(vielleicht(sogar(er9
forderlich(ist,(um(zu(neuen(Erkenntnissen(zu(gelangen(oder(bereits(bestehende(
in(eine(weiterführende(Perspektive(zu(rücken.(Als(hilfreich(kann(sich(auf(diesen(
Gebieten(nicht(nur(die(wechselseitige(Orientierung(an(den(Prinzipien(der(trans9
versalen( Vernunft2(erweisen,( sondern( auch( die( strategische( Beschränkung( auf(
wenige(Disziplinen(und(Aspekte(von(exemplarischer(Bedeutung.(
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1
(Ein(Kooperationsprojekt(zwischen(der(Europa9Universität(Flensburg,(dem(Virtuellen)Zentrum)für)
kultursemiotische)Forschung(und(dem(Museumsverbund(Nordfriesland.(
2
(Vgl.(Wolfgang(Welsch,(Vernunft.)Die)zeitgenössische)Vernunftkritik)und)das)Konzept)der)transA
2
versalen)Vernunft.(Frankfurt(am(Main:(Suhrkamp( 1996.(
108 Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
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Das( im( Folgenden( skizzierte( Projekt( hält( sich( an( diese( Devise,( indem( es( ein(
regional( begrenztes( Untersuchungsgebiet( anhand( von( Fallstudien( in( den( Blick(
nimmt,(die(sowohl(auf(natur9(als(auch(auf(kulturwissenschaftlichen(Vorarbeiten(
aufbauen,(die(jeweils(auf(ein(größeres(Forschungsumfeld(verweisen.(Das(Projekt(
kann( daher( zugleich( als( methodologische( Explorationsstudie( und( als( Testfall( ei9
ner( gegebenenfalls( ausbaufähigen( Kooperation( verstanden( werden.( Seine( Leit9
frage(bezieht(sich(auf(das(operationale(Verhältnis(von(Erzählung(und(Erklärung.(
Anknüpfungspunkt( ist( die( vielfach( vertretene( Ansicht,( dass( die( Heuristik( der(
Naturwissenschaften( im( Zeichen( einer( systematischen( und( gesetzesmäßigen,(
nomologischen(Erklärung(steht,(während(die(Heuristik(der(historisch(verfahren9
den( Kulturwissenschaften( nicht( ohne( das( Erzählen( auskommt,( also( narrato9
logisch(bestimmt(ist.(
Im(Fokus(der(Fallstudien(sollen(die(Sturmfluten(an(der(nordfriesischen(Küste(
stehen.(Ihre(Untersuchung(ruft(mit(der(Physischen(Geographie(eine(Naturwissen9
schaft,( mit( der( Archäologie( eine( an( der( Schnittstelle( von( Natur9( und( Kultur9
wissenschaften( angesiedelte( Disziplin( und( mit( den( Quellen( und( Zeugnissen( der(
Geschichte,(ihrer(Auslegung(und(Deutung(die(Literaturwissenschaft(auf(den(Plan.(
Methodologisch( entscheidend( ist,( dass( Erklären( und( Erzählen( nicht( etwa( als(
einander( wechselseitig( ausschließende( Verfahren( verstanden( werden.( Ihre(
Gegenüberstellung( wird( vielmehr( zunächst( einmal( begriffsgeschichtlich,( dann(
aber(auch(von(der(Sache(her(in(Frage(gestellt.(
In( der( Begriffsgeschichte( wird( das( Erzählen( auf( das( altgriechische( Wort(
‚diegesis‘( zurückgeführt,( das( Erklären( hingegen( auf( ‚exegesis‘.( Dass( mit( einer(
Diegese( im( Altertum( neben( der( ‚Erzählung‘( auch( die( ‚Erörterung‘( gemeint( sein(
konnte,(während(dem(Begriff(der(Exegese(sowohl(der(Begriff(der(‚Erklärung‘(als(
auch( der( ‚Auslegung‘( entspricht,( liefert( einen( ersten( Hinweis( darauf,( dass( die(
Unterscheidung(nicht(so(trennscharf(ist,(wie(sie(auf(Anhieb(erscheint.(Eher(schon(
verweist(die(Begriffsgeschichte(auf(Wechselwirkungen(in(einem(Bedeutungsfeld,(
das(sich(keineswegs(statisch(auffassen(lässt,(sondern(genealogisch(zu(begreifen(
ist:(als(ein(Feld,(in(dem(sich(verschiedene(kulturelle(Praxen,(Deutungsmuster(und(
Erkenntnisverfahren(überlagern(bzw.(erst(allmählich(dergestalt(voneinander(ab9
gehoben( haben,( sodass( die( Unterscheidung( zwischen( Nomologie( und( Narrato9
logie(greifen(konnte.((
Für( den( genealogischen( Untersuchungsansatz( sprechen( auch( sachliche( Argu9
mente,( die( sich( aus( der( Beschäftigung( mit( Natur9Katastrophen( wie( den( Sturm9
fluten(an(der(nordfriesischen(Küste(ergeben,(da(diese(Katastrophen(keineswegs(
nur( eine( physikalische,( ausschließlich( auf( die( Naturgesetze( rekurrierende(
Erklärung(erfordern.(Vielmehr(muss(man(aufgrund(einer(Erklärung(auch(erzählen(
können,( wie( Sturmfluten( zustande( kommen( und( ablaufen,( ja( sogar,( wie( sie(
gegebenenfalls(zu(verhindern(oder(in(ihren(Auswirkungen(zu(beherrschen(wären.(
Vor(allem(aber(gibt(es(eine(Deutungsgeschichte(der(Sturmfluten,(in(der(man(auf(
metaphysische(oder(physiko9theologische(Erklärungen(stößt,(die(eng(mit(bestim9
mten(Narrationen(oder(Narrativen(wie(der(Erzählung(von(der(biblischen(Sündflut(
verknüpft(sind.(
Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
109
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Am( Werk( ist( hier( eine( literarische( Legendenbildung,( sodass( sich( die( weiter9
führende(Frage(erhebt,(ob(ein(tieferer(Zusammenhang(zwischen(dem(kultur9(und(
dem( naturwissenschaftlichen( Begriff( der( Legende( besteht.( Gibt( die( Legende( zu(
einer( Karte( an,( wie( die( bedeutungstragenden( Elemente( der( Zeichnung( zu(
verstehen(sind,(die(einen(Weltausschnitt(vergegenwärtigen,(liefern(die(Legenden(
der(Erzählkunst(genealogische(Erklärungen(für(diesen(oder(jenen(Welt9Zustand.(
Eine( Namenssage( ‚erklärt‘( zum( Beispiel,( wie( ein( Ort( zu( seinem( Namen( gekom9
men(ist.(Die(Gemeinsamkeit(liegt(offenbar(darin,(dass(die(Welt,(jeweils(partiell,(in(
eine(‚lesbare‘(Zeichenkonfiguration(überführt(wird,(die(im(einen(Fall(die(Gestalt(
eines(übersichtlichen(Schaubilds(und(im(anderen(Fall(die(Gestalt(eines(gedanklich(
nachvollziehbaren,( weil( kausal( geordneten( Erzählzusammenhangs( aufweist.(
Bedenkt(man(nun,(dass(Karten,(die(zum(Beispiel(den(Küstenverlauf(in(der(Art(und(
Weise( darstellen,( wie( ihn( ein( Schiffsreisender( im( doppelten( Sinn( des( Wortes(
‚erfahren‘(kann,(eine(narrative(Dimension(aufweisen,(lässt(sich(die(Leitfrage(der(
geplanten(Untersuchung(genauer(konturieren:(Wie(hängen(Erfahrung,(Erzählung(
und( Erklärung( im( Falle( der( Naturkatastrophen( an( der( nordfriesischen( Küste,(
historisch(und(systematisch(betrachtet,(zusammen(und(welche(weitergehenden(
Schlussfolgerungen( lassen( sich( aus( ihrer( exemplarischen,( interdisziplinären(
Untersuchung( für( das( übergeordnete( Verhältnis( der( nomologisch( bzw.( narrato9
logisch(verfahrenden(Wissenschaften(ableiten?(
Eine( wesentliche( Annahme( der( Untersuchung( lautet,( dass( Erfahrung,( Erzäh9
lung( und( Erklärung( nicht( auf( Daten( reduzierbar( sind.( Allein( das( Sammeln( von(
empirischen(Belegen(oder(Indizien(ergibt(noch(keinen(kausalen(Zusammenhang(
–(erst(ein(solcher(Zusammenhang(kann(aber((nach9)erzählt(werden(und(als(Erklä9
rung( verstanden( werden.( Die( Daten( müssen( also( auf( einen( Plot,( einen( Hand9
lungsplan,( bezogen( werden,( ohne( dass( mit( ‚Plot‘( oder( ‚Plan‘( in( jedem( Fall(
menschliche( Agenten( vorausgesetzt( werden.( Erforderlich( ist( lediglich( –( in( den(
Natur9( wie( in( den( Kulturwissenschaften( –,( dass( eine( Ereignisfolge( beobachtet(
werden( kann.( Geht( es( um( Naturkatastrophen,( bei( denen( sich( in( aller( Regel(
verschiedene( Ereignisketten( überlagern( –( z.B.( ein( Seebeben,( das( zu( einer( Flut9
welle(führt,(die(Landstriche(verwüstet(–(hat(man(es(einerseits(mit(einer(Vielzahl(
von( physikalischen( Basisdaten( und( andererseits( mit( einer( Ereigniskumulation,(
mit(einem(Metadrama,(zu(tun.(Es(ist(anzunehmen,(dass(die(Basisdaten(irgendwie(
arrangiert( werden( müssen,( um( das( Metadrama( erklärbar( bzw.( erzählbar( zu(
machen,( da( sie,( für( sich( betrachtet,( lediglich( eine( notwendige,( aber( keine(
hinreichende( Bedingung( für( das( Verstehen( von( Katastrophen( darstellen.( Unter(
dieser( Voraussetzung( kann( die( Untersuchung( an( die( Überlegungen( von( Paul(
Ricœur( zur( narrativen( Konfiguration( von( Inferenz9Prozessen( und( von( Hayden(
White( zur( Rolle( des( so( genannten( ‚emplotment‘( in( historiographischen( Texten(
anknüpfen.3(Da(diese(beiden(Autoren(im(Feld(der(Literatur(bzw.(der(kulturellen(
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3
(Vgl.( Paul( Ricoeur,( Zeit) und) Erzählung.) Band) I:) Zeit) und) historische) Erzählung( [1983].( Aus( dem(
Franz.(v.(Rainer(Rochlitz.(München:(Fink(2007.(Sowie:(Hayden(White,(Auch)Klio)dichtet)oder)die)
Fiktion) des) Faktischen.) Studien) zur) Tropologie) des) historischen) Diskurses.( Mit( einer( Einführung(
von(Reinhart(Koselleck.(Aus(dem(Amerik.(v.(Brigitte(Brinkmann9Siepmann(und(Thomas(Siepmann.(
Stuttgart:(Klett9Cotta(1986.(
110 Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
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Bedeutung(geblieben(sind,(steht(eine(Klärung(der(Frage(aus,(ob(und(ggf.(wie(ihre(
narratologischen( Befunde( auf( das( Gebiet( der( Naturwissenschaften( übertragen(
werden(können.(
Zur( Beantwortung( dieser( Frage( soll( die( Geschichte( der( Erklärung( von( Natur9
katastrophen( am( Beispiel( der( Sturmfluten( an( der( nordfriesischen( Küste( nach9
erzählt( werden.( Diese( Geschichte( setzt( in( der( Frühen( Neuzeit( mit( der(
moraltheologischen( ‚Erklärung‘( von( Sturmfluten( als( Strafgerichten( Gottes( ein,(
wirft( alsbald( das( Problem( der( Theodizee( auf( und( nimmt( dann( im( Zuge( der(
Aufklärung(die(Form(einer(physiko9theologischen(‚Erklärung‘(an,(die(das(Wirken(
Gottes( mit( den( Prinzipien( der( modernen( Naturphilosophie( zu( vermitteln( sucht.(
Die( Entwicklung( lässt( vermuten,( dass( es( einen( genealogischen( Zusammenhang(
zwischen( Erzählung( und( Erklärung( gibt,( der( sich( zum( einen( historisch( und( zum(
anderen( systematisch( auffächern( lässt( (was( hier( nur( kurz( angedeutet( werden(
kann).( Aus( historischen( Gründen( herrscht( das( Erzähl9( und( Deutungsmuster( der(
‚Sündflut‘,( der( Verursachung( von( Überschwemmungen( durch( lasterhaftes( Ver9
halten( vor,( bis( sich( dieses( Muster( nicht( mehr( gegen( die( Erkenntnisse( plausi9
bilisieren( lässt,( die( auf( Beobachtungen( beruhen(–(Beobachtungen( des( Naturge9
schehens( wie( Beobachtungen( des( menschlichen( Verhaltens.( Die( latente(
Unvereinbarkeit( von( Überlieferung( und( Erfahrung( wird( im( 18.( Jahrhundert( in(
faktualen(Erzählungen(manifest,(die(zu(einer(Abspaltung(der(kausalen,(naturwis9
senschaftlichen(Erklärungen(von(den(Legenden(führt,(die(zunehmend(als(fiktional(
erkannt(werden.(
Interessanterweise( wird( dieser( Entwicklungsprozess( in( der( Literatur(
reflektiert.( Die( von( Theodor( Storm( 1888( veröffentlichte( Novelle( Der) SchimmelA
reiter( besteht( aus( einer( in( der( Gegenwart( des( Autors( angesiedelten( Rahmen9
erzählung( und( einer( im( 18.( Jahrhundert( spielenden( Binnengeschichte,( die( das(
Verhältnis( von( Aberglauben( und( technischem( Fortschritt,( metaphysischer( und(
physikalischer( Erklärung( anhand( einer( Flutkatastrophe( veranschaulicht.( Storm(
selbst( war( nicht( nur( mehrmals( Zeuge( von( Sturmfluten( gewesen,( er( hatte( sich(
auch( umfassend( mit( der( Deutungsgeschichte( dieser( Metadramen( an( der( nord9
friesischen( Küste( beschäftigt( –( unter( anderem( mit( der( Rungholt9Sage,( die( sich(
auf( die( erste( ‚grote( Mandränke‘( von( 1362( bezieht.( Er( hatte( sich( aber( auch(
Kenntnisse(über(die(Entwicklung(des(Deichbaus(vom(17.(bis(zum(19.(Jahrhundert(
verschafft.( Seine( Erzählung( ist( daher( im( Kontext( einer( komplexen( Diskurs9
Geschichte( zu( sehen,( die( von( der( prämodernen( Legendenbildung( im( späten(
Mittelalter(bis(zu(der(technokratischen(Einstellung(reicht,(die(der(tragische(Held(
seiner(Novelle,(Hauke(Haien,(verkörpert.(
Indem( die( Untersuchung( einerseits( dieser( komplexen( Diskurs9Geschichte(
nachgeht( und( andererseits( analysiert,( wie( die( Basisdaten( der( Physischen( Geo9
graphie( und( der( Archäologie( mit( der( ‚tellability‘( von( Metadramen( zusam9
menhängen,(verbindet(sie(die(naturwissenschaftliche(Arealforschung(mit(kultur9
wissenschaftlichen(Fragestellungen.(
Das( Kernteam( besteht( aus( Tanja( Brümmer( (Archäologie),( Dr.( habil.( Christian(
Stolz( (Physische( Geographie)( und( Prof.( Dr.( Martin( Nies( (Kultursemiotik).( Dieses(
Team(wird(im(Rahmen(einer(Kooperation(zwischen(dem(Museumsverbund(Nord9
Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
111
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friesland,(vertreten(durch(Prof.(Dr.(Uwe(Haupenthal,(und(der(Europa(Universität(
Flensburg,( vertreten( durch( Prof.( Dr.( Matthias( Bauer( (Institut( für( Sprache,(
Literatur(und(Medien),(tätig(und(soll(die(Forschungsergebnisse(in(einer(Ausstel9
lung( und( einer( Publikation( darstellen.( Auf( dem( Wege( dorthin( sollen( zwei( Fach9
tagungen(–(einmal(in(Husum(und(einmal(in(Flensburg(–(organisiert(und(Möglich9
keiten( einer( projektübergreifenden,( institutionellen( Zusammenarbeit( erkundet(
werden.(
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(
2.#Archäologische#Perspektiven#(Tanja(Brümmer)(
#
Die(Ur9(und(Frühgeschichte(und(auch(die(Historische(Archäologie(verorten(sich(in(
Abhängigkeit( von( der( zu( untersuchenden( Zeitperiode( zu( gleichen( Teilen( in( den(
Bereichen( der( Natur9( als( auch( der( Geisteswissenschaften.( Die( frühen( Epochen(
der( Menschheit( waren( geprägt( durch( fehlende( Schriftlichkeit.( Um( Erkenntnisse(
über(diese(Zeitalter(gewinnen(zu(können,(ist(die(Archäologie(unabdingbar,(da(sie(
sich( mit( den( kulturellen( Artefakten( dieser( Periode( beschäftigt.( Verschiedene(
naturwissenschaftliche( Methoden( unterstützen( sie( bei( der( Deutung( von(
Fundkomplexen.(Mit(Einsetzen(der(Schriftlichkeit(stehen(der(Forschung(weitere(
Quellen( zur( Verfügung,( deren( Abgleich( mit( den( physikalischen( Fundstücken( er9
folgt.( ( Die( Archäologie( ist( dabei( traditionell( interdisziplinär( angelegt.( So( gehört(
die( Architektur( im( Bereich( der( Bauforschung( genauso( zur( Archäologie( wie,( je(
nach( Erkenntnisinteresse,( die( Biologie,( Anthropologie,( Genderstudies( usf.( Wie(
die( Kriminologie( arbeitet( auch( die( Archäologie( an( einem( ‚Tatort’,( dem( „Tatort(
Geschichte“,( an( dem( unterschiedliche( Indizien( und( Beweise( auf( die( sich(
zugetragene(Geschichte(schließen(lassen.((
Die(Frage(nach(den(lebensweltlichen(Folgen(von(Naturkatastrophen(ist(für(die(
Archäologie(von(besonderem(Interesse.(Im(Fall(der(historischen(Sturmfluten(er9
eigneten( sich( diese( an( der( Schnittstelle( zwischen( schriftloser( und( schriftlicher(
Kultur.(Während(es(aus(der(Zeit(der(1.(Groten(Mandränke(1362(kaum(oder(gar(
keine( schriftlichen( Nachweise( gibt,( existieren( dreihundert( Jahre( später( zur(
zweiten(größeren(Flut(1634(erste(Augenzeugenberichte(Überlebender.(In(Bezug(
auf( die( Untersuchung( der( untergegangenen( Kirchspiele( wie( Rungholt( oder(
Hersbüll( ist( die( Veränderlichkeit( des( Wattenmeeres( ein( wichtiger( Aspekt.( Die(
stetige(Meereserosion(zerstört(jeden(Tag(wichtige(Kulturspuren(im(Wattenmeer(
und( spült( zugleich( neue,( bisher( noch( verborgene,( wieder( frei.( Stetige( Neuent9
deckungen( lassen( so( die( Geschichte( der( Kirchspiele( bisweilen( in( neuem( Licht(
erscheinen,( etwa( deuten( aktuelle( Kulturspuren( auf( eine( andere( Lage( des(
Handelszentrums( Rungholt( als( bisher( angenommen.( Neue( Untersuchungs9
methoden( helfen( bei( der( Suche( und( Rekonstruktion,( so( sind( seit( kurzem(
Metalldetektoren(im(Einsatz,(die(auch(im(Salzwasser(genutzt(werden(können.(((
Die( Geschichte( der( historischen( Sturmfluten( sowie( deren( Auswirkungen( auf(
das(Leben(der(Menschen(können(in(den(erhaltenen(Kulturspuren,(Schriften(und(
Bildern( ‚nachgelesen’( werden.( Im( Fall( der( untergegangenen( Handelssiedlung(
112 Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
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Rungholt( scheint( dies( von( besonderer( Notwendigkeit.( Zur( Sturmflut( von( 1362(
sind,(wie(erwähnt,(bisher(keine(schriftlichen(Zeugnisse(bekannt.(Nur(ein(einziges(
zeitgenössisches(Dokument(belegt(überhaupt(die(Existenz(Rungholts.(Erst(ca.(350(
Jahre( später( erscheint( zum( ersten( Mal( der( Name( Rungholt( in( einer( Legende.(
Aufschlüsse( über( historische( Fakten,( die( zum( ‚Untergang’( geführt( haben,( sucht(
man( dort( freilich( vergebens,( vielmehr( beschwört( die( Legende( ein( göttliches(
Strafgericht( für( menschlichen( Hochmut( und( den( Verlust( des( Glaubens( herauf.(
Eine( konkrete( kulturelle( Transformation( resultierend( aus( einer( ‚naturwissen9
schaftlichen’( Auslegung( der( Katastrophe( findet( sich( dennoch( in( der( deutlichen(
Veränderung(der(Deichbauweise(zwischen(1362(und(1634,(wie(die(Kulturspuren(
im( Wattenmeer( aufzeigen.( Auch( die( Handelsbedeutung( der( Umgebung( verän9
derte(sich(in(der(Folge.(Mit(den(Sturmfluten(gewann(die(Stadt(Husum(nicht(nur(
einen( Zugang( zum( Meer,( sondern( übernahm( so( auch( die( kulturräumliche( und(
wirtschaftliche(Bedeutung(der(zuvor(untergegangenen(Kirchspiele.(((
#
(
(
3.#Perspektiven#der#Physischen#Geographie#(Christian(Stolz)#
(
Die( Physische( Geographie( verortet( sich( im( Bereich( der( Naturwissenschaften,(
verfügt( jedoch( als( Teildisziplin( der( Geographie( gleichzeitig( über( eine( breite(
Anschlussfähigkeit( an( die( Geistes9( und( Sozialwissenschaften. 4 (Dazu( kommen(
aktuelle( Schwerpunkte( physisch9geographischer( Forschung,( wie( die( Geoarchäo9
logie,( die( sich( im( inter9( und( multidisziplinären( Kontext( verstärkt( kultur9
wissenschaftlicher( Fragestellungen( annimmt, 5 (sowie( Themen( rund( um( den(
globalen(Wandel(und(den(globalen(Klimawandel(und(deren(Folgeerscheinungen(
(u.a.( zur( Desertifikation,( Bodenerosion,( Hochwasserschutz,( Natur9( und( Arten9
schutz,(Hazardforschung).6(
Die( historischen( Sturmfluten( an( der( nordfriesischen( Küste( waren( in( erster(
Linie( Naturkatastrophen,( deren( Auswirkungen( auf( den( Menschen( aber( teils(
durch( die( vorhergegangene( anthropogene( Umgestaltung( der( Landschaft( (Neu9
landgewinnung,( Salztorfabbau)( beeinflusst( wurden.( Dabei( spielen( aus( natur9
wissenschaftlicher( Perspektive( ganz( allgemein( die( folgenden( Einflussfaktoren(
und( 9größen( eine( Rolle:( Meeresspiegelhöhe,( Amplitude( und( Magnitude( von(
Sturmflutwetterlagen( und( deren( zeitliche( Lage( (in( Bezug( auf( Spring9( und(
Nipptiden( sowie( Jahreszeiten),( Küstenformen,( Küstenschutz( und( technische(
Entwicklung(von(Küstenschutzmaßnahmen(und(Gebäuden(sowie(Nutzungsarten(
und( Nutzungsintensitäten( in( der( Marsch.( Aus( sozial9( und( geisteswissenschaft9
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
4
(Hans( Gebhardt( /( Rüdiger( Glaser,( Ulrich( Radtke( /( Paul( Reuber( (Hgg.),( Geographie.) Physische)
Geographie)und)Humangeographie.(Heidelberg:(Spektrum(2011.(
5
(Vgl.( Helmut( Brückner( /( Andreas( Vött,( Geoarchäologie.) Eine) interdisziplinäre) Wissenschaft) par)
excellence.(In:(56.(Deutscher(Geographentag,(Bayreuth(2007,(S.(1819202.(
6
(Vgl.( Deutscher( Arbeitskreis( für( Geomorphologie( (Hg.),( Die) Erdoberfläche.) LebensA) und)
Gestaltungsraum) des) Menschen.) Beiträge) der) Geomorphologie) zur) Erforschung) des) globalen)
Wandels.(Bonn:(Univ.(Bonn(2009.(
(
Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
113
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licher( Perspektive( kommen( weitere( Faktoren( hinzu( (z.B.( die( demographische,(
politische( und( wirtschaftliche( Situation( der( Marschbewohner,( raumwirtschaft9
liche( Verbindungen,( religiöse( Vorstellungen,( Aberglaube,( Überlieferungen( u.a.).(
Im( Speziellen( ergeben( sich( daraus( raumzeitliche( Muster,( die( sich( mit( unter9
schiedlichen( historischen( Phasen( und( Entwicklungen( parallelisieren( lassen.( Bei9
spiele(dafür(sind(die(spätmittelalterliche(Wüstungsperiode,(die(Frühneuzeitliche(
Ausbauperiode(oder(auch(die(sogenannte(Kleine(Eiszeit.7((
Empirische(Fakten,(Messergebnisse(und(belastbare(Aufzeichnungen(stehen(in(
den(meisten(Fällen(erst(seit(Ende(des(20.(Jahrhunderts(zur(Verfügung,(so(dass(die(
Rekonstruktion( historischer( Umweltzustände( im( regionalen( Maßstab( von( der(
Interpretation( schriftlicher( Quellen( abhängig( ist,( wenn( andere( Proxies( fehlen.8(
An(diesem(Punkt(befindet(sich(die(Schnittstelle(zwischen(Geographie(und(Litera9
turwissenschaft,( auf( die( das( Überthema( Katastrophen9Diegese( und( Katastro9
phen9Exegese(Bezug(nimmt.(
Bei( der( Aufzeichnung( von( Faktenwissen( zu( Katastrophenereignissen( und( zur(
Ausgestaltung(einer(historischen(Umwelt,(die(z.T.(erst(Jahrzehnte(später(erfolgte,(
handelt(es(sich(zwar(meist(um(Primärquellen.(Sie(bieten(jedoch(häufig(durch(ihre(
lückenhafte( und( nicht( empirische( Form( sehr( viel( Raum( für( Dichtung( und( Inter9
pretation,( was( dazu( führt,( dass( Generationen( später( Fiktion( und( Wahrheit( in(
Bezug(auf(Fakten,(wie(naturwissenschaftlich(erklärbare(Phänomene,(nicht(mehr(
klar(zu(trennen(sind.((
Die(ehemalige(hoch9(bis(spätmittelalterliche(Marschsiedlung(Rungholt,(um(die(
sich(viele(Legenden(ranken,(ist(ein(gutes(Beispiel(dafür.(Die(zahllosen(Legenden(
darüber( können( nur( durch( die( Geisteswissenschaften( erschlossen( werden.( Der(
Naturwissenschaftler( ist( dafür( in( erster( Linie( auf( empirische( Methoden( aus( der(
Archäologie(und(Geomorphologie(sowie(auf(Proxydaten(angewiesen.((
In(aktuellen(belletristischen(Werken(mag(es(für(Autoren(nicht(von(Belang(sein,(
ob(der(Hintergrund(der(Rungholt9(oder(Nordfriesland9Darstellung(dem(aktuellen(
Forschungsstand( entspricht( oder( nicht.( Anders( sieht( es( aus( bei( musealen( Aus9
stellungen,( Fachvorträgen,( auch( im( heimathistorischen( Bereich,( und( regionaler(
Sachliteratur( zum( Thema.( Dort( sind( Fiktion( und( Legenden( klar( von( belegbaren(
Fakten( abzugrenzen,( was( jedoch( nicht( bedeutet,( dass( eine( Darstellung( der(
Fiktion( und( ihrer( Entwicklungsgeschichte( unterbleiben( soll.( Vielmehr( bietet( ge9
rade( die( Analyse( der( Legendenbildung( die( Möglichkeit,( ihren( Prozess( zu(
verstehen,( der( mit( der( Katastrophenbewältigung( der( Menschen( vor( Ort(
zusammenhängt( und( oftmals( zu( den( mündlich( überlieferten( „Lehren( aus( der(
Vergangenheit“(zählte.(
Die( Faktenlage( rund( um( die( frühere( Siedlung( Rungholt( ist( Gegenstand( zahl9
reicher( empirischer( Abhandlungen( und( Studien( und( wird( aktuell( an( anderer(
!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
7
(Rüdiger( Glaser,( Klimageschichte) Mitteleuropas.) 1000) Jahre) Wetter,) Klima,) Katastrophen.(
Darmstadt:(Primus(2002.(
8
(Hans9Rudolf(Bork,(Landschaften)der)Erde)unter)dem)Einfluss)des)Menschen.(Darmstadt:(Primus(
2006.(
114 Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
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Stelle( auch( noch( weiter( vorangetrieben.9(( Ziel( ist( häufig( die( Verifizierung( oder(
Falsifikation( von( Legendenteilen,( z.B.( zur( Größe( der( Siedlung,( zum( „Reichtum“(
der( Bewohner,( zu( Handelsbeziehungen,( zur( genauen( Lage( oder( zum( Alter.( Das(
Innovative( an( der( vorliegenden( Projektskizze( ist( jedoch( die( geographische(
Beschäftigung( mit( der( Verarbeitung( realer( Ereignisse( im( Zuge( der( Legenden9
bildung,( was( schlussendlich( wieder( die( Raumvorstellungen,( die( Raumwahr9
nehmung(und(z.T.(auch(die(Raumgestaltung(mit(beeinflusst(hat(und(noch(immer(
mit(beeinflusst.(
Für(die(Untersuchung(steht(ein(breites(Methodenspektrum(zur(Verfügung,(das(
von( der( Auswertung,( Verknüpfung( und( Interpretation( von( Klima9(proxy9)daten(
über( Methoden( der( Fernerkundung( und( Landschaftsrekonstruktion( bis( hin( zur(
GIS9gestützten(Landschaftsmodellierung(reicht.(Zweitens(besteht(eine(der(Haupt9
aufgaben(darin,(interdisziplinäre(Daten(miteinander(zu(verknüpfen(und(wechsel9
seitig(kompatibel(zu(machen.(
(
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4.#Kultursemiotische#Perspektiven#(Martin(Nies)#
(
Die( Kultursemiotik( ist( diejenige( kulturwissenschaftliche( Disziplin,( die( kulturelle(
Phänomene( auf( zeichentheoretischer( Basis( analysiert( und( in( deren( historisch9
diskursiven( Kontexten( erschließt.( Als( allgemeine( Wissenschaft( von( den( Zeichen(
liefert( die( Semiotik( medienübergreifende( Grundlagen( für( die( Analyse( von(
Textbedeutungen( sowohl( in( Alltagskommunikation,( Gebrauchs9( und( Sachtexten(
als( auch( in( den( ästhetischen( Kommunikationsformen( wie( Literatur,( Film,(
Fotografie,( Malerei,( Comic,( Architektur,( Ausstellung,( Musik,( Theateraufführung,(
Werbung(usf.(Zugleich(ermöglicht(es(der(semiotische(Ansatz,(am(konkreten(‚Text’(
(d.i.( in( semiotischer( Bestimmung( jedes( Bedeutung( tragende( ‚Gewebe( aus( Zei9
chen’)(auch(die(medien9(und(textsortenspezifischen(Besonderheiten(der(Konsti9
tuierung( von( Bedeutung( zu( berücksichtigen.( Unter( semiotischen( Gesichtspunk9
ten( können( also( sowohl( populäre( bzw.( triviale( Textformen( als( auch( die(
Höhenkammliteratur( oder( Arthaus9Produktionen( und( wissenschaftliche,( philo9
sophische,(alltagskulturelle(Texte(gleichrangig(als(mediale(kulturelle)Speicher(der(
Kultur,(die(sie(hervorgebracht(hat,(analysiert(werden.(
Damit( eignet( sich( der( kultursemiotische( Zugang( aus( interdisziplinärer( Sicht(
besonders( zur( Analyse( und( Strukturierung( heterogener( Texte( unterschiedlicher(
Provenienz(unter(einer(gemeinsamen(Fragestellung,(die(auf(je(ganz(eigene(Weise(
kulturelles( Wissen( und( Denken,( kulturspezifische( Probleme( und( Lösungsvor9
schläge,( historische( Konzeptionen( von( Welt( und( Wirklichkeit,( variable( Vorstel9
lungen( vom( Menschen( im( Allgemeinen( und( der( Person( im( Besonderen,( von(
epochentypischen( Haltungen,( Einstellungen( und( Mentalitäten( modellieren( und(
überhaupt(erst(verhandelbar(machen.((
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(Zur(fachlich(übergreifenden(Einführung(kann(der(Katalog(der(aktuellen(Rungholt9Ausstellung(im(
NordseeMuseum(Husum(dienen:(Jürgen(Newig(/(Uwe(Haupenthal,(Rungholt.)Rätselhaft)&)widerA
sprüchlich.(Husum:(Husum(Verlag(2016.(
Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
115
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Erzählungen( von( Naturkatastrophen( wie( den( Sturmfluten( lassen( sich( aus( li9
teratur9( und( medienwissenschaftlicher( Perspektive( als( Semiotisierungen( vor9
gängiger(realweltlicher(oder(ggf.(auch(gänzlich(fiktiver(Naturereignisse(beschrei9
ben.( Denn( narrative( Texte( erzeugen( mittels( primärer( (sprachlicher,( visueller,(
akustischer( usf.)( Zeichen( sekundäre( Modelle( von( Welt,( innerhalb( derer( die(
geschilderten( Transformationsprozesse( als( zeichenhaft/bedeutungstragend( auf9
zufassen(sind.(Da(eine(Erzählung(notwendigerweise(Kohärenz(etabliert((‚der(rote(
Faden’)(und(erzähltes(Geschehen(somit(in(Begründungs9(und(Bedeutungszusam9
menhänge( stellt,( sind( künstlerische( Repräsentationen( von( Katastrophen( stets(
funktional( im( Kontext( einer( übergeordneten( Sinnproduktion,( die( zugleich( kul9
turspezifische( Deutungsmuster( des( Dargestellten( bzw.( Erzählten( reproduziert,(
reflektiert( oder( genuin( erst( hervorbringt.( Katastrophen( sind( nicht( zuletzt( in( ei9
nem( narratologischen( Sinne( prototypische( Ereignisse,) Wende9( oder( Endpunkte(
des( Geschehens,( die( die( kulturelle( Ordnung( und( die( Handlungsträger( der(
erzählten(Welten(auf(eine(fundamentale(Probe(stellen.((
So( werden( über( das( textspezifische( Verhältnis( von( ‚Natur’( und( ‚Kultur’( stets(
auch( das( kulturelle( Normen9( und( Wertesystem( und( das( identitäre( kulturelle(
Selbstverständnis(verhandelt.(Theodor(Storms(Der)Schimmelreiter((1888)(ist(nur(
das(prominenteste(Beispiel(für(einen(Text,(der(die(Sturmflut9Katastrophe(funktio9
nalisiert,(um(eine(Welt(im(fundamentalen(Wandel(zu(zeigen:(Zwischen(alter(und(
neuer( Herrschaftsform,( zwischen( neuem( (naturwissenschaftlichem)( und( altem(
Wissen( (Aberglaube)( sowie( traditioneller( und( innovativer( Technologie( (Deich9
bau),(in(der(Figurenkonzeption(zwischen(‚realistischer’(Sozial9(und(frühmoderner(
Individualpsychologie,( hinsichtlich( der( eigenen( textuellen( Verfasstheit( zwischen(
realistischem( Erzählen,( Legendenbildung( und( metaliterarischer( Selbstreferenz(
konturiert(sich(die(Schimmelreiter9Erzählung(gegen(Ende(des(19.(Jahrhunderts(als(
ein( Metatext( der( Epoche,( der( die( Paradigmen( des( ausgehenden( literarischen(
Realismus( in( Deutschland( im( Übergang( zu( den( neuen( Diskursformationen( der(
Frühen(Moderne(reflektiert.(Entsprechend(setzt(der(Text(zeichenhaft(genau(den9
jenigen( Deichabschnitt( als( von( der( Naturgewalt( am( stärksten( bedroht,( in( dem(
der(vernachlässigte(Übergang(von(altem(und(neuem(Deich,(somit(metaphorisch(
von( Tradition( und( Moderne( liegt.( Während( Storms( Text( das( kulturelle( Wissen(
über( eine( dem( Küstenschutz( dienende( Technologie( nutzt,( um( am( Beispiel( ihres(
fiktiven(‚Erfinders’(Hauke(Haien(u.a.(frühmoderne(Konzepte(eines(bedingungslos(
nach(Selbstverwirklichung(strebenden(Individuums(zu(kritisieren,(funktionalisiert(
die( erste( Verfilmung( von( Curt( Oertel( und( Hans( Deppe( (1934)( den( Stoff,( um( im(
Sinne( nationalsozialistischer( Ideologie( den( Machtanspruch( eines( exzeptionellen(
und( führeräquivalenten( Individuums( zu( legitimieren( und( den( Zugewinn( neuen(
Landes(durch(Grenzverlagerung((d.i.(zeichenhaft(die(Verlegung(des(Deichs(nach(
außen)(zu(propagieren.10((
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10
(Vgl.( dazu( Hans( Krah( /( Martin( Nies,( „Adaption( in( anderen( Medien“.( In:( Christian( Demandt( /(
Philipp(Theisohn((Hgg.),(StormAHandbuch:)Leben)–)Werk)–)Wirkung.((Stuttgart:(Metzler((im(Ersch.)(
und( Martin( Nies,( „Zur( NS9ideologischen( Funktionalisierung( von( ‚Literaturverfilmungen’:( DER(
SCHIMMELREITER,( Curt( Oertel/Hans( Deppe( (D( 1934);( Mit( einer( Analyse( zentraler( Aspekte( der(
116 Matthias Bauer / Tanja Brümmer / Martin Nies / Christian Stolz
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Aufgabe( von( Seiten( der( kultursemiotischen( Literatur9( und( Medienwissen9
schaft(in(diesem(Projekt(ist(es,(derartige(spezifische(Semiotisierungen(von(Katas9
trophen( in( konkreten( Texten( in( ihren( wechselseitigen( Beziehungen( zu( den(
jeweiligen(Wissens9(und(Diskursformationen,(in(den(Kontexten(stereotyper(oder(
innovativer( kultureller( Deutungsmuster( zu( beleuchten( und( zu( erschließen.( Ein(
besonderes( Potenzial( liegt( dabei( neben( der( Möglichkeit( eines( Abgleichs( der(
erzählten) Welten) und) dargestellten) Prozesse( mit( Erklärungsmodellen( aus( der(
Geographie( und( der( Archäologie( über( die( realweltlichen( Sachverhalte( in( der(
Doppelperspektive,( die( sich( aus( einerseits( dem( regionalen( Fokus( auf( konkrete(
Ereignisse,( deren( Folgen( und( ‚heimweltliche’( Verarbeitung( im( norddeutschen(
Küstenraum11(sowie(andererseits(aus(dem(Modellcharakter(ergibt,(der(sie(durch(
ihre( Semiotisierung( in( ästhetischer( Kommunikation( für( solche( Problemkonstel9
lationen( repräsentativ( macht,( die( die( gesamte( deutschsprachige( Kultur( bzw.(
‚Kulturalität’(an(sich(betreffen.((
So( lässt( sich( etwa( eine( statistische( Häufung( von( Katastrophennarrativen( zu(
einem( bestimmten( Zeitpunkt,( wie( bspw.( in( den( rekurrent( auftretenden( dysto9
pischen( Erzählungen( des( sog.( postideologischen( Zeitalters( nach( 1989( kultur9
semiotisch( als( Indikator( für( eine( Krise( des( kulturellen( Normen9( und( Werte9
systems( deuten,( das( diese( Erzählungen( hervorbringt.( Im( Kontext( der( mit( dem(
Millennium( einhergehenden( Endzeitdiskurse( und( der( Renaissance( historischer(
Romane(wurde(auch(Rungholt(als(literarischer(Handlungsort(in(der(Gegenwarts9
literatur( erneut( produktiv.( Seinen( spezifischen( Zeichenstatus( bezieht( Rungholt(
aber( ausschließlich( aus( dem( Sachverhalt( des( historischen( Untergangs( in( der(
Folge( der( großen( Sturmflut( von( 1362;( somit( entwerfen( die( dort( angesiedelten(
Texte( eine( dargestellte( Welt,( die( auch( dann,( wenn( das( Versinken( in( den( Fluten(
nicht( mehr( eigentlicher( Gegenstand( literarischer,( filmischer( oder( bildlicher(
Darstellung(ist,(sich(am(Wissen(um(ihre(definitive(Endlichkeit(misst.((
Wie(sonst(nur(im(Falle(der(umfangreichen(und(kanonisierten(Venedigliteratur,(
die(ebenfalls(das(Narrativ(vom(‚Untergang(der(Stadt’((politisch(als(Republik(und(
geographisch(als(vom(Hochwasser(bedrohter(Raum)(zentral(funktionalisiert,(kann(
also(die(Rungholtliteratur(einen(historischen((und(eben(nicht(rein(fiktiven)(Raum(
mit(einem(einzigartigen(Zeichenpotential(nutzen,(das(dessen(Wirklichkeit(gleich9
sam( semiotisch( überlagert. 12 (Im( Unterschied( zu( Venedig( ist( aus( Sicht( der(
deutschsprachigen( Literatur( dieser( ‚besondere’( Raum( aber( nun( nicht( Teil( einer(
alteritären( südlichen( Kultur,( sondern( liegt( direkt( ‚vor( unserer( Haustür’,( ist( Teil(
der( eigenen( Kulturalität( und( doch( in( einem( historischem( Sinne( ‚fremd’( und( in(
seiner( Realität( nur( noch( archäologisch( rekonstruierbar.( Wo( die( Geographie( die(
Entstehungs9( und( Wirkungs9Zusammenhänge( der( realweltlichen( Metaereignisse(
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Novelle(von(Theodor(Storm“.(In:(Eugenio(Spedicato(/(Sven(Hanuschek((Hgg.),(Literaturverfilmung:)
Perspektiven)und)Analysen.(Würzburg:(Königshausen(&(Neumann(2008,(S.(39970.(
11
(‚Heimwelt’(bezeichnet(im(Sinne(Edmund(Husserls(eine(Welt(von(„Mitsubjekte[n](der(Erfahrung(
und( der( Praxis,( in( dieselbe( Welt( hineinlebend,( und( in( Gemeinschaft( mit( mir,( praktisch( und(
erkenntnismäßig“,(zit.(n.(Stephan(Strasser,(Welt)im)Widerspruch:)Gedanken)zu)einer)PhänomenoA
logie)als)ethischer)Fundamentalphilosophie.(Dordrecht:(Kluwer(1991,(S.(92.(
12
(Siehe( dazu( Martin( Nies,( Venedig) als) Zeichen.) Literarische) und) mediale) Bilder) der) ‚unwahrA
scheinlichsten)der)Städte’)1787A2013.(Marburg:(Schüren(2014.(
Katastrophen-Diegese und Katastrophen-Exegese
117
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zu( erklären( vermag,( die( den( Geschichten( zugrunde( liegen( und( die( Archäologie(
die(historischen(Lebensbedingungen(aus(kulturellen(Relikten(erschließt,(spürt(die(
Kultursemiotik( im( Sinne( einer( foucaultschen( „Archäologie( des( Wissens“( in(
synchroner( und( diachroner( Perspektive( den( Texten( nach,13 (mittels( derer( sich(
Kulturen(Katastrophen(diskursiv(aneignen(und(in(Sinnproduktion(überführen.(
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Weiterführende#Informationen#
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Die( Ergebnisse( der( Forschungskooperation( werden( auf( der( Webseite( des(
Virtuellen)Zentrums)für)kultursemiotische)Forschung((VZKF)(unter(der(Adresse(
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http://www.kultursemiotik.com/forschung/projekte/kde/
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veröffentlicht.( Dort( finden( sich( auch( aktuelle( Veranstaltungsankündigungen(
sowie( eine( Informationsbroschüre( zum( Download.( Interessenten( –( wir( freuen(
uns( über( kooperationsbereite( Forscherinnen( und( Forscher,( unterstützende(
Institutionen( oder( auch( öffentliche( Einrichtungen,( die( an( der( Übernahme( einer(
Ausstellung(interessiert(sind(–,(wenden(sich(bitte(an:(
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[email protected](
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(Vgl.( Michel( Foucault,( Archäologie) des) Wissens( [1969].( Aus( dem( Franz.( v.( Ulrich( Köppen.(
Frankfurt(am(Main:(Suhrkamp(1981.(
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