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Verfassungswandel als Dynamische Verfassungsinterpretation

2012

Die Hauptthese dieses Papers geht von dem Konzept der normativen Verfassung der Nachkriegzeit aus und setzt sich kritisch mit dem Konzept des 19. Jahrhunderts „Verfassungswandlung“ auseinander. Das Konzept des Verfassungswandels ist mit der Verfassungsdemokratie inkompatibel. Statt von einem Verfassungswandel zu sprechen, sollte man die Entwicklung des Sinns der Normen in der Zeit als dynamische Interpretation bezeichnen

View metadata, citation and similar papers at core.ac.uk brought to you by CORE provided by Hochschulschriftenserver - Universität Frankfurt am Main 25th IVR World Congress LAW SCIENCE AND TECHNOLOGY Frankfurt am Main 15–20 August 2011 Paper Series No. 008 / 2012 Series A Methodology, Logics, Hermeneutics, Linguistics, Law and Finance Geraldina González de la Vega Verfassungswandel als Dynamische Verfassungsinterpretation URN: urn:nbn:de:hebis:30:3-248660 This paper series has been produced using texts submitted by authors until April 2012. No responsibility is assumed for the content of abstracts. Conference Organizers: Professor Dr. Dr. h.c. Ulfrid Neumann, Goethe University, Frankfurt/Main Professor Dr. Klaus Günther, Goethe University, Frankfurt/Main; Speaker of the Cluster of Excellence “The Formation of Normative Orders” Professor Dr. Lorenz Schulz M.A., Goethe University, Frankfurt/Main Edited by: Goethe University Frankfurt am Main Department of Law Grüneburgplatz 1 60629 Frankfurt am Main Tel.: [+49] (0)69 - 798 34341 Fax: [+49] (0)69 - 798 34523 Geraldina González de la Vega / Mexiko Verfassungswandel als Dynamische Verfassungsinterpretation Abstract: Die Hauptthese dieses Papers geht von dem Konzept der normativen Verfassung der Nachkriegzeit aus und setzt sich „Verfassungswandlung“ auseinander. kritisch Das mit dem Konzept des Verfassungswandels Konzept des 19. Jahrhunderts ist mit der Verfassungsdemokratie inkompatibel. Statt von einem Verfassungswandel zu sprechen, sollte man die Entwicklung des Sinns der Normen in der Zeit als dynamische Interpretation bezeichnen. Keywords: Verfassung, Verfassungswandlung, Verfassungsinterpretation, Verfassungsgerichtsbarkeit. I. Verfassungswandlung und normative Verfassung Die Verfassungswandlung ist ein Begriff, dessen Inhalt mit der Verfassungsordnung zusammenhängt.1 Die Möglichkeiten und die Dichte der Verfassungswandlung hängen zum einen von der Normativität und Verbindlichkeit der Verfassung und zum anderen von der Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit ab. In diesem Sinne kann man zwischen zwei Auffassungen von der Verfassungswandlung unterscheiden. Die erste Auffassung geht auf Paul Labands Aufsatz „Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung“ von 1895 zurück. Die zweite Auffassung entspricht dem zeitgenössischen konstitutionellen Verständnis. Es gibt keine gesicherte Unterscheidung zwischen den Begriffen Verfassungswandel und Verfassungswandlung. Normalerweise wird Verfassungswandlung gebraucht, um die erstgenannte Auffassung zu bezeichnen und Verfassungswandel für den Wandel von Normen einer normativen Verfassung. Es gibt aber auch Autoren, die beide Begriffe als Synonyme verwenden. Wenn die Verfassungswandlung an eine Verfassungsordnung ohne normative Verfassung und ohne Verfassungsgerichtsbarkeit anknüpft, erhöhen sich ihre Möglichkeiten. Das bedeutet, dass die Verfassung auf gleicher Ebene mit dem einfachen Gesetz steht und dass es auch verfassungswidrige Änderungen der Verfassung geben kann. Diese Idee findet sich in den Arbeiten von Paul Laband, Georg Jellinek, Rudolf Smend und Hsü Dau Lin. 2 Die Verfassungswandlung ist ein Begriff, der mit dem deutschen Spätkonstitutionalismus eng verbunden ist. Der Verfassungsbegriff wurde seit dem 19. Jahrhundert und bis zur 1 Vgl. E.-W. Böckenförde. Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, in: Wege und Verfahren des Verfassungslebens. F.S. für Peter Lerche zum 65. Geburtstag. München, 1993. S. 4 ff. 2 Paul Laband. Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. 1895, Dresden. Georg Jellinek. Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Berlin, 1906. Hier wird die Auflage von 1996 hrsg. von Walter Pauly benutzt. Hsü Dau Lin. Die Verfassungswandlung. Berlin und Leipzig, 1932. 1 Nachkriegszeit durch die politischen Kräfte und das Parlament eingegrenzt. D.h., dass die Verfassung nur als politisches Instrument verstanden worden war. Da die Änderung der Verfassung die politische Einheit in Gefahr bringen könnte, wandelte der Gesetzgeber lieber die Verfassungsnormen durch die Änderung des einfachen Gesetzes. Dies wurde dadurch erklärt, dass Bismarck die politische Kontrolle anstrebte und die politischen Verhältnisse zwischen den Ländern und dem Bund während dieser Zeit in einem instabilen, zerbrechlichen Zustand waren, sowie durch die Tatsache, dass eine Änderung der Verfassung ein erschwerter Prozess war.3 Laband selbst erklärt dies mit der Notwendigkeit, diese Friedensvereinbarung, also die Verfassung, zu wahren. Sowohl bei Labands Aufsatz als auch bei Jellinek findet man eine Beschreibung der Wandlungen der Reichsverfassung (RV). Beide Arbeiten haben einen beschreibenden Charakter.4 In dieser Zeit zeichnete sich die Verfassungspraxis durch Improvisation und den Abgleich der politische Kräfte aus. Zum anderen war die Weimarer Reichsverfassung (WRV) nicht normativ; sie hatte einen nur formellen Charakter, der zu einem Misserfolg der ersten deutschen Republik geführt hat. Unter anderem war die Möglichkeit gegeben, der Verfassung widersprechende Gesetze zu schaffen, d.h. Gesetze, die verfassungswidrig waren, die aber mit einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet wurden. Da die WRV als eine starre Verfassung konzipiert war 5, hat diese Verfassungspraxis die Normativität der Verfassung untergraben. Beispiele der Verfassungswandlungen der WRV kann man in der Arbeit von Hsü Dau Lin6 finden. Der Konstitutionalismus der Nachkriegzeit lernte aus der Erfahrung mit der WRV. Im Bonner Grundgesetz von 1949 wurde festgesetzt, dass die Staatsgewalt unmittelbar an das geltende Recht gebunden ist (Artikel 1 und 20 GG). Zudem richtete das Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht ein, das als unabhängiges Verfassungsorgan über die Einhaltung der Verfassung wacht. In diesem Sinne sind die Verfassungsnormen nicht mehr für die 3 Artikel 78 der Reichsverfassung von 1871 lautet: (1) Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung. Sie gelten als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben. (2) Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden. 4 Im gleichen Sinne E.-W. Böckenförde. Anmerkungen Zum Begriff Verfassungswandel. S. 4. 5 Artikel 76 der Weimarer Reichsverfassung (1919) lautet: (1) Die Verfassung kann im Wege der Gesetzgebung geändert werden. Jedoch kommen Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Auch Beschlüsse des Reichsrats auf Abänderung der Verfassung bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Soll auf Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. (2) Hat der Reichstag entgegen dem Einspruch des Reichsrats eine Verfassungsänderung beschlossen, so darf der Reichspräsident dieses Gesetz nicht verkünden, wenn der Reichsrat binnen zwei Wochen den Volksentscheid verlangt. 6 Hsü Dau Lin. Die Verfassungswandlung. Berlin,1932. 2 politischen Kräfte disponibel. Die pouvoir constitué oder verfasste Gewalt ist an die Verfassung gebunden und hat damit nur die Befugnisse, die die Verfassung ihr einräumt. Die Verfassungsänderung wird in Artikel 79 GG geregelt und begrenzt. Nach Artikel 79 Absatz 3 GG sind Änderungen, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig (sog. Ewigkeitsklausel). Diese Grenzen haben die Funktion, die Grundsätze des deutschen Verfassungsstaats zu bewahren. Die Verfassung ist eine juristische Norm, die bindend und justiziabel ist. Die normative Kraft des Grundgesetzes liegt in der Souveränität des Volkes. In diesem Sinn sind die drei folgenden Aspekte, die mit der Souveränität des Volkes eng verbunden sind, zu erklären: (a) der Unterschied zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit pouvoir und (c) constitué die und pouvoir Möglichkeit, die constituant, Verfassung (b) die durch Verfassungsinterpretation und Verfassungsänderung im Laufe der Zeit anzupassen. Wie Konrad Hesse erklärt, stellt die Normativität der Verfassung die Grundlage der Verfassung dar: „Je mehr die verfassungsmäßige Ordnung den Gegebenheiten der geschichtlichen Situation entspricht, je größer die Bereitschaft ist, die Inhalte der Verfassung als verbindlich anzuerkennen und je fester die Entschlossenheit ist, diese Inhalte auch gegen Widerstände zu aktualisieren, desto eher und sicherer werden jene Gefährdungen vermieden oder abgewehrt werden können. Wo der grundsätzliche Konsens, auf dem die normative Kraft der Verfassung letztlich beruht, fehlt oder wegfällt, verliert die Verfassung die Grundlage ihrer Lebenskraft und Wirksamkeit und vermögen institutionelle Sicherungen allein nicht mehr zu helfen.“7 Vorausgesetzt, dass die Verfassungsnormen innerlich8 von ihren Adressaten anerkannt sind, wird die Verfassung normativ. Das Spannungsverhältnis zwischen Beständigkeit und Wandlung, dem eine Verfassung, die normativ sein möchte, ausgesetzt ist, bewegt sich zwischen den oben genannten drei Aspekten. Mit diesen drei Aspekten hängt auch das Problem der Verfassungswandlung zusammen. Nach Hesse9 kommt es auf die Verwirklichung der Verfassung an, d.h. sie wird durch ihre Konkretisierung gültig und effektiv gestaltet. Die Verfassungsnorm soll nicht von der Realität isoliert werden, da sie dann ihre Normativität verliert. Dementsprechend wird die Verfassung als ein immer wieder aktualisierter freiwilliger Akt verstanden. Eine Verfassung ist nicht mehr als eine Formulierung, die durch den Konsens einer Versammlung geschafft 7 K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland . 20. Aufl., Heidelberg, 1999. Rdn. 692. 8 H.L.A. Hart. The Concept of Law. Oxford, 1961. passim. 9 K. Hesse. Die Normative Kraft der Verfassung. Tübingen,1959. S. 8-12. Derselbe. Grundzüge… Rdn. 42 ff. 3 wurde. Die pouvoir constituant ist nicht fähig – oder sollte nicht fähig sein –, die reale Geltung der Verfassung zu begründen. Eigentlich basiert die Geltung der Verfassung auf ihrer normativen Kraft, d.h. auf ihrer Fähigkeit, in der Realität zu regeln und anzuordnen. Die Möglichkeit, sowohl ihre Inhalte zu realisieren, als auch den Willen der Adressaten der Verfassungsnorm und deren Inhalt zu akzeptieren und zu realisieren, sind für Hesse entscheidende Elemente der normativen Kraft der Verfassung. Die normative Kraft der Verfassung begründet sich in der lebensnotwendigen und effektiven Kraft zusammen mit der Möglichkeit, die Verfassungsnorm zu aktualisieren. Laut Konrad Hesse ist die Konkretisierung der Verfassungsnorm das praktische Element der Realisierung der Verfassung, ohne die die Verfassung nicht mehr effektiv ist, d.h. nicht mehr normativ. Aus der Beschaffenheit und Effektivität der Normativität der Verfassung ergeben sich gewisse Bedingungen, unter denen die Verfassung ihre beste Entwicklung erreicht. Hesse beschreibt die Struktur des Inhalts der Verfassung und die Verfassungspraxis.10 Der Inhalt der Verfassung soll Hesse zufolge minimal sein. Er plädiert für eine offene Verfassung, die die politischen Kräfte spielen lässt ohne sich genötigt zu sehen Änderungen vorzunehmen. Das Optimum einer pluralistischen Verfassung wird durch eine Verfassungspraxis erreicht, die auf offenen Verfassungsnormen beruht. Um die Verfassung also zu bewahren, lasst sich empfehlen: mehr Interpretation der Verfassungsnormen und weniger Änderung. Nach Hesse wird die Verfassung ausgeübt nur durch Verfassungsauslegung, die die normative Kraft der Verfassung schützt und garantiert, während die Verfassungsänderung das Gegenteil bewirkt. Eine anpassungsfähige Verfassungsnorm, d.h. eine Verfassungsnorm, die eine solche pluralistische Verfassungspolitik erlaubt, bevorzugt die Verfassungsauslegung, um die Verfassung an die Realität anzupassen. Das Resultat ist eine normative und stabile Verfassung. Der von dem Italiener Gustavo Zagrebelsky11 geprägte Begriff „Diritto Mitte“ („Derecho Dúctil“ auf Spanisch) bezieht sich auf Verfassungsnormen, die offen und tolerant sind. Dabei handelt es sich um Normen, die innerhalb des Verfassungsrahmens eine Mehrheitsinterpretation erlauben – oder tolerieren – und auf diese Weise eine normative und pluralistische Verfassung ermöglichen. Das Konzept „Diritto Mitte“ lasst sich als einen Mittelweg zwischen Flexibilität und Starrheit bezeichnen. Dieses Konzept nähert sich dem Konzept der normative Kraft der Verfassung von Konrad Hesse an. 10 11 K. Hesse. Die Normative Kraft der Verfassung. S. 13-16. G. Zagrebelsky. Il Diritto Mitte. Legge, diritti, giustizia. 1992. (El Derecho Dúctil. Trotta. Madrid, 2003.) 4 II. Analyse des Konzepts Verfassungswandel aus Sicht des modernen Verfassungsrechts 1. Das Konzept des Verfassungswandels als ein Relikt des 19. Jahrhunderts Wie schon erwähnt wurde, ist das Konzept des Verfassungswandels an den deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhundert gebunden. Man muss betonen, dass seine Einführung direkt mit dem Positivismus der Zeit verbunden war und mit dem Verständnis der Verfassung als ein vorherrschendes politisches Instrument, d.h. nicht als ein vorrangiges Gesetz, auch wenn es durch einen schwierigen Reformprozess geschützt war. Die juristische Methode, die sowohl Paul Laband als auch Karl von Gerber entwickelten und verteidigten, gründete auf einem positivistischen Verständnis des Verfassungsrechts. Aufgrund dessen hat die Staatsrechtslehre sich auf Konzepte beschränkt, die sich aus der Beschreibung des positiven Rechts ergeben. Beide Autoren berufen sich auf die Entwicklungen, die in dieser Zeit die historische Schule hervorbrachte; vor allem auf Savigny und das Zivilrecht. Die Begründung des Gesetzes beruht nun nicht mehr auf dem göttlichen Recht oder auf dem Naturrecht, sondern auf dem selbständigen Willen des Staates, der als juristische Person betrachtet wird. Es gab keine Verfassung im heutigen Sinn, sie wurde aber als politischer Pakt verstanden (Laband nennt sie „Friedensschlüsse“). Deswegen entspringen die Gesetze, die den Staat organisieren, dem parlamentarischen Willen, i. e. dem Willen des Staates. Dementsprechend ist es notwendig, diesen Willen zu erkennen, weil sich die faktischen Verhältnisse ändern und sich dadurch auch die Gesetze wandeln, inklusive der Verfassung. Die Verfassungswandlung ist direkt mit der Methodologie dieser Zeit verbunden, weil die juristische Wissenschaft nur auf das positive Recht als Gegenstand der Wissenschaft fokussiert war. D.h. der untersuchte Gegenstand war nur das gesetzte Recht. Es wurde somit erwartet, dass die strikt artikulierte juristische Methodologie die juristische Wissenschaft von Vermischung mit Objekten, die nicht normativ sind, fernhält: „Dass sie nicht politisches und staatsphilosophisches Raisonnement an die Stelle juristischer Konstruktion rückt.“12 Der Jurist des 19. Jahrhunderts nannte seine Arbeit Dogmatik und nahm sich selbst als Rechtsdogmatiker wahr, weil er der Überzeugung war, dass die einzige angemessene Methode diejenige war, welche die richtigen Kriterien der Auslegung und der Logik nutzt, um juristische Probleme zu lösen. Nach dieser Methodologie wurden das Recht, d.h. die rechtlichen Normen entdeckt, und die Arbeit des Rechtsdogmatikers, dessen „Heimat in den Gesetzen war“, bestand dann in der Analyse von Gesetzen, Gewohnheitsrecht und Gerichtsentscheidungen. Der historische Reichtum von juristischen Konzepten und Institutionen vermittelte den Juristen des 19. Jahrhunderts den Eindruck, dass sie sehr nah an 12 Carl F. Gerber. Über öffentliche Rechte. 1852 zitiert nach Roland Dubischar. Einführung in die Rechtstheorie, Darmstadt, 1983, S. 25. 5 der Perfektion der juristischen Dogmatik waren. Rudolf von Jhering dachte, dass dieses tausendjährige Gebilde von Rechtsnormen bald ein fertiges System wäre. Robert v. Mohl und Paul Laband haben die Methodologie des Privatrechts auf den Bereich des Staatsrechts angewandt. Dies gelang durch strikte positivistische und konstruktive Klauseln, wodurch die Beziehung zwischen Staat und Bürger Form annahm. Paul Laband war als einer der Väter des deutschen Staatsrechts der erste Jurist, der das Konzept der Verfassungswandlung benutzte. Es ist auffallend, dass Laband im Kontext des 19. Jahrhunderts die Normen als unveränderliche Dogmen verstanden hat. Das Staatsrecht wurde als ein statisches und geschlossenes System verstanden, ein System, das fähig war, normativen Lücken im System mit Hilfe der Logik zu füllen. Von diesem Standpunkt aus war das positive Verfassungsrecht nur ein unvollendetes Schema des geltenden Staatsrechts, auch wenn es für konkrete Fälle bindend war. Das geltende Staatsrecht, d.h. das Recht, das aus den einfachen Gesetzen gebildet war und dass das Leben des Staates regelte, wurde als ein fast unveränderliches Recht verstanden.13 Man darf nicht vergessen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts der politische Wille des Staates eine wichtigere Rolle spielte als die Verfassung oder die Gesetze. Die so genannte Realpolitik während der Bismarck´schen Zeiten hatte gezeigt, wie wechselhaft das Verfassungsrecht sein konnte: „Der Staat rückt ins Zentrum, er war nun kraft Naturgesetzes Machtstaat, und er ging dem Recht voraus. Zwar sollte er als Rechtsstaat in eine gewisse, den Bürgerrechten zuträgliche Form gebracht sein, aber Kern seiner Vitalität war weder der vereignete politische Wille der Staatsbürger noch die Rechtsordnung, sondern Macht.“14 Laband hat die Wandlungen der Verfassung durch die politische Praxis kritisiert und dafür das Konzept Verfassungswandlung erfunden. Er hat über die Wandlungen der Reichsverfassung berichtet, nämlich die Änderungen der Reichsämter in den Ministerien und die Machtverteilung zwischen Regierung, Bundesrat und Reichstag. Heutzutage würden diese Änderungen nicht als Verfassungswandlungen sondern als verfassungswidrige Modifikationen verstanden werden. Laband hat nie verneint, dass das Recht sich entwickeln könnte. Trotzdem ist es klar, dass es während der Geltung der Reichsverfassung 1871 und während der Weimarer Republik die allgemeine Meinung war, dass das Verfassungsrecht und die Politik eng verbunden waren und dass die Arbeit der Staatsrechtswissenschaft darin lag, dies zu erkennen und kritisch widerzuspiegeln: um die Wandlungen der Politik im Recht zu vermeiden und die politische Bedürfnisse in Recht umzudeuten. 13 Vgl. Michael Stolleis. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Zweiter Band. Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft. 1800-1941. München. 1992. S. 376 ff. 14 Michael Stolleis,. Geschichte des öffentlichen Rechts. S. 276. 6 Die methodologischen Forderungen Paul Labands waren auf den Positivismus bezogen, wie er von Gerber entwickelt worden war. Für Laband war das Gesetz ein geschlossenes Normensystem, das nur durch eine formal-logische Tätigkeit entwickelt werden konnte.15 Damit schließt man die Möglichkeiten, ein Objekt, das keine positive Norm ist, in die Auslegung und Anwendung des Rechts einzubeziehen: „Deshalb ließen Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Windscheid oder Laband nicht den geringsten Zweifel daran, dass die rechtswissenschaftliche Arbeit primär Konstruktion des Rechts im Sinne der hierarchischen Systematisierung des gegebenen Rechtsstoffes war – und erst im zweiten Schritt Interpretation, Anwendung des positiven Rechts auf den Fall.“16 Der Positivismus verstand das Recht als einen logischen und geschlossenen Kosmos mit einem objektiven Anspruch. Deswegen erwartete er, dass der Interpret den wahren Sinn des Gesetzten entdeckt und erkennt. Der Richter wurde nur als „Mund des Gesetzes“ angesehen – im Sinne Montesquieus – und die Gesetzesanwendung war ein Akt der Erkenntnis und der Deduktion. Das Recht als ein geschlossenes und deduktives System zu verstehen, war die Antwort, um die gesellschaftliche und politische Situation der Zeit fern zu halten. Trotzdem war das Ergebnis nicht befriedigend, weil sich die Normen und die Realität in unterschiedliche Richtungen entwickelten. Deswegen findet man in den Werken von Juristen zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Idee „der normativen Kraft des Faktischen“ (Georg Jellinek) oder den Versuch, die beide (d.h. Normen und Realität) in der Interessenjurisprudenz (Rudolf von Jhering) wieder zusammenzuführen. Wenn man die Normen als Dogmen versteht, die bekannt sein müssen, und wenn die Worte, die den normativen Text darstellen, einen eigenständigen Sinn haben, den es zu entdecken gilt – einen von der Realität unabhängigen Sinn also –, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass bei der Interpretation nicht der Mensch den Worten die Bedeutung gibt, sondern dass die Worte bereits eine vorgegebene und feste Bedeutung besitzen, die es zu entdecken gilt. Ferner wurden damals die Verfassungsnormen als nicht bindend verstanden, sondern als politischer Leitfaden. Deswegen ist es besonders klar, dass Paul Laband und Georg Jellinek die Verfassungswandlung behandelt haben. Erstens hat die Methodologie vorgeschrieben, dass es sich um eine Wandlung handelt, wenn man von dem Inhalt der Norm, die interpretiert oder angewendet wurde, abweicht. Zweitens war die Abweichung von den Normen nicht nur möglich, sondern aufgrund der politischen Lage dieser Zeit sowie der 15 Vgl. Walter Pauly. Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus. Ein Beitrag zu Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert. Tübingen, 1993. S. 187. 16 Thomas Vesting. Rechtstheorie. München. 2007. Rdn. 200. 7 fehlenden Normativität und einer nicht vorhandenen Verfassungsgerichtsbarkeit sogar notwendig. Während der Weimarer Republik entbrannte im Bereich des Staatsrechts der so genannte Methodenstreit, an dem unter anderem Carl Schmitt und Rudolf Smend beteiligt waren. In dieser Zeit entstand auch die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die Wiener Schule, die eine sehr wichtige Rolle für die Rechtswissenschaft und das Verständnis der Verfassung als einer vorrangigen Norm spielt. Die fehlende Bindungskraft der Verfassungsnormen in der Weimarer Republik und die Anwendung von sozial- und geisteswissenschaftlichen Methoden (wie bei Smend oder Schmitt) oder positivistischen Methoden (im Sinne von Laband) führten zu der Akzeptanz der Verfassungswandlung als einer Möglichkeit, um das politische System zu bilden. Die fehlende Verbindlichkeit und die nicht vorhandene Verfassungsgerichtsbarkeit waren auch eine Ausflucht, um diese Wandlungen zu billigen. In diesem Sinn wird die Verfassungswandlung von Hsü Dau Lin beschrieben, dessen Monographie17 sich auf die Werke von Rudolf Smend18 stützt. Die Möglichkeiten einer Verfassungswandlung wurden eindeutig durch die Ankunft der normativen Verfassung und die strikte Anwendung einer Normenhierarchie reduziert, die von der Wiener Schule entwickelt und vorgeschlagen worden war. Erstens bedeutet jede Auslegung eine normative Entwicklung, d.h. dass jedes Mal, wenn eine Norm interpretiert wird, sich diese wandelt; und zweitens, dass jede Konkretisierung einer Verfassungsnorm, die die mit dem System zu identifizierenden Kriterien nicht erfüllt, nicht gültig sein wird. Demzufolge ist das Konzept der Verfassungswandlung für die Verfassungslehre und die Normentheorie heute nicht mehr relevant, da es aus heutiger Sicht entweder ein Interpretationsproblem darstellt oder ein Fall von Verfassungswidrigkeit vorliegt. 2. Die Verfassungsinterpretation a) Interpretation und Hermeneutik Traditionell spricht man von Normeninterpretation19 und -anwendung als einer automatischen und ausschließlich logischen Aufgabe: „Im Anwendungs- und Subsumtionsmodell heißt 17 Hsü Dau Lin. Die Verfassungswandlung. Berlin und Leipzig. 1932. Rudolf Smend. Verfassung und Verfassungsrecht. In: Ders. Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze. 3. Aufl. Berlin. 1994. 19 Vgl. E-W. Böckenförde. Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel. In: Ders., Staat, Nation, Europa . 1. Aufl. Frankfurt am Main, 1999 . Ders. Die Methoden der Verfassungsinterpretation. NJW 1976, S. 2089. Ernst Forsthoff. Zur Problematik der Verfassungsauslegung. Res publica. 7. 1961. Ders. Die Umbildung des Verfassungsgesetzes. In: Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag. H. Barion, E. Forsthoff und W. Weber (Hrsg.) 3. Auflage. Berlin, 1994. Peter Häberle. Zeit und Verfassung. ZfP 21. 1974. S. 11 ff. Ders. Verfassung als öffentlicher Prozeß . 3. Aufl. Berlin, 1998. Konrad Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland . 20. Aufl., Neudr. Heidelberg, 1999. Ders. Die normative Kraft der 18 8 Interpretation des Rechts: Anwendung des Gesetzes auf einen gegebenen Fall. Oder umgekehrt: Subsumtion des Tatsachenmaterials unter das Gesetz.“20 Ungeachtet der herkömmlichen Interpretationskanones von Savigny (nämlich: grammatische, logische, historische und systematische Auslegung), sind andere Regeln für die Auslegung von Verfassungsnormen entwickelt worden, z.B. die verfassungskonforme Auslegung oder das Prinzip der praktischen Konkordanz. Diese neuen Regeln entsprechen dem neuen Verfassungsverständnis als einer vorrangigen, bindenden und justiziablen Norm. Unter dem Einfluss der Sprachphilosophie Heideggers und Wittgensteins entsteht der hermeneutische Vorschlag von H.-G. Gadamer, dessen Ansatz sich auf der Idee der Interpretation als Übersetzung von Zeichen stützt. Nach Gadamer ist die Interpretation kreisförmig, d.h. um die Zeichnen zu interpretieren, muss man die Sprache nutzen welche ein Mittel des Sprechens und der Erfahrung ist. Dieses Vorhandensein eines Vor-Verständnisses nennt Gadamer „hermeneutischen Zirkel“. Seine Aussage lautet: „Es gibt keine Fakten, es gibt nur Interpretationen.“21 Von diesem neuartigen Blickpunkt der Hermeneutik ist die juristische Interpretation, vor allem die Verfassungsauslegung, stark beeinflusst; nicht nur von dem Vorschlag Gadamers und seinem hermeneutischen Zirkel, sondern auch von der Notwendigkeit, die Normativität der Verfassung durch ihre Anpassung an die Realität, also durch eine dynamische Interpretation, zu bewahren. Nach dem Rechtsstaatsprinzip müssen sich die Richter an das Gesetz halten, können es aber interpretieren, um ihm für jeden Fall einen Sinn zu geben. Das gilt auch für die Verfassungsrichter, die, um die Normativität der Verfassung zu wahren, diese an die Zeit und Bedürfnisse der Gesellschaft anpassen müssen. Während das positivistische Modell auf festen methodologischen Kanones basiert, versucht die Hermeneutik, den Inhalt der Normen anzureichern. In diesem Sinn spricht man nicht mehr von Auslegung, sondern von Konkretisierung, also von „Produktion eines Sinns im Akt der Applikation, der Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten.“22 Das bedeutet nicht, dass der Interpret von der Norm ausgeht, um seine Kriterien anzuwenden. Es bedeutet vielmehr, dass der Interpret ein Verhältnis zwischen Norm und Realität festlegt. Die Norm ist Sprache, und die Sprache ist durch die Erfahrung bestimmt. Auf diese Weise ist Verfassung . Tübingen, 1959. Ders. Grenzen der Verfassungswandlung. In: Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag. Ehmke, H. J. Kaiser., W. Kewenig u.a. (Hrsg.) Berlin, 1973. Ders. Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel. JZ 50. 1995. S. 265 ff. Friedrich Müller und Ralph Christensen. Juristische Methodik. Band I. Grundlagen öffentliches Recht. 8. Auflage. Berlin. 2003. Friedrich Müller. Thesen zur Struktur von Rechtsnormen. ARSP LVI (1970). 20 Thomas Vesting. Rechtstheorie. München, 2007. Rdn. 194. 21 Vid. H.-G. Gadamer. Wahrheit und Methode. In: Gesammelte Werke. 1986. 22 Thomas Vesting. Rechtstheorie. Rdn. 212. 9 der Interpret von der Sprache beeinflusst: „Die Kunst der Auslegung von Texten [ist] an gemeinsame Wissensbestände gebunden.“23 Mit dem hermeneutischen Vorschlag reagiert man auf die – irreversible – Zeit, die das Verständnis der Normen betrifft. Gleichwohl sieht sich die Hermeneutik mit einem doppelten Problem konfrontiert: Auf der einen Seite steht die „Selektivität der Interpretation“, d.h. die unspezifische Öffnung des vollständigen Sinns der Interpretation durch die Unterscheidung von Tatsachen, die juristisch relevant sind von denen, die juristisch irrelevant sind. Auf der anderen Seite sollen die gesellschaftlichen Wandlungen im Rahmen der Erwartungen einer modernen liberalen Gesellschaft verarbeiten werden. 24 b) Interpretationstheorien und die Verfassungswandlung Heutzutage wird angenommen, dass es drei große Interpretationsmodellen gibt: das traditionelle Modell, das hermeneutische Model und das mittlere Modell – oder wie der Italiener Riccardo Guastini25 sie einteilt: kognitive oder formalistische Theorie, skeptische Theorie und mittlere Theorie. Das erste Modell oder die erste Theorie bezieht sich auf die Idee, dass die Interpretation eine auf Wissen basierende Handlung ist, in der der Interpret nur den Sinn des normativen Textes bestätigt. Dieses Modell ist für Guastini auf einen Fehlschluss gestützt, da es auf der Vermutung basiert, dass Worte eine eigene Bedeutung haben oder dass die Autorität der Normen einen eindeutigen und erkennbaren Willen zeigt.26 Das zweite Modell – das hermeneutische oder skeptische – stützt sich auf die Idee, dass die Interpretation eine Auswertungs- und Entscheidungshandlung sei, d.h. nicht eine Handlung der Erkenntnis, da die Wörter keine eigene Bedeutung haben, sondern dass diese Bedeutung durch denjenigen, der die Normen schafft bzw. denjenigen, der die Norm interpretiert, gegeben wird und „die Koinzidenz zwischen beiden nicht garantiert ist“.27 Nach diesem Modell sind juristische Normen das Resultat einer Interpretation, d.h. die Normen existieren nicht vor der Interpretation. Das dritte Modell entspricht einer gemäßigten Theorie, nach der die Interpretation als Erkenntnis oder als Entscheidung von der Offenheit der Normen abhängt, von – mit den Worten von H.L.A. Hart28 – der offenen Struktur (open texture) des normativen Textes, d.h. seiner Unklarheit und seiner Unbestimmtheit. Auf diesen Punkt stützt Ronald Dworkin seine Begriffe von schwierigen Fällen und einfachen Fällen (hard cases and 23 Thomas Vesting. Rechtstheorie. Rdn. 216. Vgl. Thomas Vesting. Rechtstheorie. Rdn. 216. 25 Riccardo Guastini. La Interpretación : objetos, conceptos y teorías. En: Interpretación Jurídica y Decisión Judicial. Comp. Rodolfo Vázquez. 4ta. Reimpresión. México, 2006. S. 19 ff. 26 Riccardo Guastini. La Interpretación. S. 30. 27 Riccardo Guastini. La Interpretación. S. 31. 28 H.L.A. Hart. The Concept of Law. (erste Aufl. 1961, zweite Aufl. 1994), Titel der deutschen Übersetzung: Der Begriff des Rechts. 1973. Hier wurde die spanische Übersetzung benutzt. El concepto de derecho. Argentina, 1992. S. 155 ff. 24 10 easy cases) sowie seine Unterscheidung zwischen Prinzipien und Regeln.29 Wichtig dabei ist, den „klaren“ Interpretationsbereich von dem „schattigen“ Interpretationsbereich zu unterscheiden, weil sich alle Interpretationsauseinandersetzungen normalerweise auf letzteren beziehen. Guastini zufolge kann man im Rahmen dieses gemäßigten Modells „zwischen der Entdeckung der Bedeutung eines normativen Textes und der Zuschreibung einer Bedeutung zu einem normativen Text unterscheiden. Wenn der Interpret in einem schattigen Interpretationsbereich ist, entscheidet die Bedeutung eines Textes, d.h. man schreibt eine Bedeutung zu, um einen zweifelhaften Fall zu entscheiden.“30 Offensichtlich beinhaltet jedes dieser Modelle ein bestimmtes Verständnis des Ermessensspielraums der Gerichtsbarkeit, des Rechts und des juristischen Systems. Die Rechtswissenschaft unterscheidet zwischen Rechtsnorm und Rechtssatz. Eine Rechtsnorm wird von der Autorität geschaffen, und ein Rechtssatz wird von den Juristen erzeugt, um das Recht zu verstehen und zu beschreiben. Da die Norm eine Ordnung oder ein Gebot ist, kann sie nicht falsch oder wahr sein, sondern nur gültig oder ungültig. In diesem Sinn darf nur die zuständige Autorität vorschreiben oder anordnen. Die Rechtswissenschaft hingegen darf nur das, was die Autorität vorschreibt oder anordnet, beschreiben.31 Wenn man von Verfassungswandel spricht, sollte man von Wandel in der Rechtsnorm und nicht in dem Rechtssatz sprechen, da eine Änderung in dem Rechtsatz zwangsläufig einen Wandel in ihrem Text bedeutet. D.h. das Objekt der Interpretation ist der normative Text und sein Produkt ist eine Norm. Wenn sich der Verfassungswandel auf den Wandel des Sinnes der Norm bezieht, ohne dabei ihren Text zu ändern, dann soll sich das Phänomen auf die Rechtsnorm beziehen und nicht auf den Rechtssatz. Es gibt zwei Interpretationsarten: eine richterliche und eine dogmatische. Die dogmatische Interpretation orientiert sich an den Texten und produziert keine normativen Ergebnisse. Dagegen orientiert sich die richterliche Interpretation an Tatsachen. Der Richter wendet das Recht an, um einen Rechtsstreit zu lösen. Die richterliche Interpretation produziert Normen und ist deswegen immer systemrelevant. Ja mehr noch, um diese durch die Interpretation geschaffenen Normen gültig zu machen, sollte sowohl die Gültigkeit der höheren Norm als auch die Befugnis des Interpreten, sie auszulegen, verifiziert werden. Über diese normative Kette32 wird im Folgenden diskutiert. Wenn man von der Reinen Rechtslehre Kelsens ausgeht, versteht man, dass die dogmatische Interpretation sich nur auf die 29 Ronald Dworkin. Taking Rights Seriously. Cambridge, 1978. S. 22ff. Riccardo Guastini. La Interpretación. S. 34. 31 Vgl. Hans Kelsen. Reine Rechtslehre. Studienaufgabe der 1. Auflage 1934. Matthias Jestaedt. (Hsg). Tübingen, 2008. Passim. 32 Vid. Infra S. 68 ff. 30 11 Beschreibung der normativen Texte, also auf die Rechtssätze beschränkt. In diesem Sinn wäre das Konzept des Verfassungswandels nutzbar, um die Gerichtsentscheidungen zu systematisieren und um die Wandlungen in der Zeit der Interpretationen der Verfassungsnormen nachzuweisen33. Deswegen stuft man die Arbeit der Dogmatik34 als eine Wissenschaft ein, deren Untersuchungsobjekt ein bestimmtes und gültiges juristisches System ist (Manuel Atienza). Heutzutage sehen verschiedene Strömungen in der Arbeit der Dogmatik eine kritische Aufgabe, die an den politischen Bereich angeknüpft werden kann. Dies beruht darauf, dass die dogmatische Tätigkeit eine wertende und nicht nur eine beschreibende Aufgabe ist – wie Hans Kelsen gemeint hat. Eigentlich strebt die Dogmatik die Analyse der Kriterien, der Anwendung und der Änderung von Normen an.35 Bei dem hier betrachteten Problem fungiert die Dogmatik als eine wichtige Kontrolle der Verfassungsinterpretation. Aber ihre Ergebnisse sind nicht systemrelevant, da keine Normen produziert werden. Laut Guastini wer ein weites Interpretationskonzept vertritt, deutlich zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen unterscheidet und in diesem Sinn die Normen das Ergebnis der Interpretation sind: „Als Definition sind die Normen von den Interpreten produziert.“36 D.h. dass, jedes Mal, wenn ein Text interpretiert wird, wird eine Norm produziert. Aber wenn man eine formalistische Interpretationstheorie vertritt, geht man davon aus, dass das Ergebnis immer das gleiche ist, da der Interpret nur die Bedeutung der Normen entdecken kann, da diese Bedeutung schon festgelegt ist. Dagegen kann ein Wandel des Ergebnisses der Interpretation der Normen eintreten, wenn man die skeptische oder eine gemäßigte Interpretationstheorie vertritt, d.h. das Ergebnis kann anders als andere Ergebnisse der Interpretation der gleichen Norm sein. Dies beruht darauf, dass die Bedeutungen nicht den Wörtern innewohnen, sondern von den Interpreten gegeben werden und deswegen wandelbar sind. Nach dieser Auffassung geschieht ein Verfassungswandel nicht in der Norm, sondern in den Ansichten der Interpreten. Diesbezüglich ergibt sich ein neuer Standpunkt des Konzepts des Verfassungswandels: Man kann den Verfassungswandel als die Wandlung des Ergebnisses der Interpretation in Bezug auf vorherige Interpretationen des gleichen normativen Textes verstehen. Diese 33 Ähnlich vid: Andreas Voßkuhle. Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel? In Der Staat 43. Band 2004. 34 Dogmatik ist eine Klasse von Sätzen, die auf die gesetzten Normen und die Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit ihrer Beschreibung identisch sind, die untereinander in einem Zusammenhang stehen, die im Rahmen einer institutionell betriebenen Rechtswissenschaft aufgestellt und diskutiert werden und die normativen Gehalt haben. Robert Alexy. Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, Frankfurt a.M. 1983. S. 314. 35 Manuel Atienza. Sobre la Jurisprudencia como Técnica Social. In: Doxa. Número 3. 1986. S. 297 ff. 36 Riccardo Guastini. La Interpretación. S. 26. 12 Beschreibung des Verfassungswandels ähnelt der Entscheidung BVerfGE 2, 380 (401)37 und beweist, dass das Konzept des Verfassungswandels nicht geeignet ist, die Funktionsweise der Normen zu erklären. Allenfalls ist dieses Konzept geeignet, um den historischen und soziologischen Wandel, der die Interpretation der Verfassungsnormen beeinflusst, zu erklären und zu verstehen. Zum Beispiel hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung 1 BvR 370/07 von Februar 2008 das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme durch die Interpretation des Allgemeinen Persönlichkeitsrecht anerkannt, das wiederum durch eine andere BVerfG-Entscheidung38 anerkannt wurde. Das BVerfG erkennt Grundrechte durch die Interpretation normativer Texten an. In diesem Fall hat das BVerfG die Artikel 1 Abs.1 i.V.m Artikel 2 Abs.1 des Grundgesetzes interpretiert, um über neue Sachlagen, die die verfassungsgebende Gewalt 1949 nicht vorhersehen konnte, zu entscheiden. Das BVerfG konkretisiert beide Normen, die die Würde des Menschen und das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewähren. Das Ergebnis ist die Erzeugung einer weiteren Norm, die sich in das juristische System des Grundgesetzes einfügt. Die Konkretisierung der Norm ändert dieses System nicht, da die Würde des Menschen und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewahrt bleiben und ihre Bedeutungen ebenfalls bewahrt bleiben. Es ging lediglich um die Konkretisierung der Artikel 1 Abs.1 und 2 Abs.1 des Grundgesetzes auf einen konkreten Fall – Sicherheit des informationstechnischen Systems –, der einen neuen Aspekt bekommen hatte. Dieser neue Aspekt ist ein neues Grundrecht, aber es hat sich keine Norm gewandelt. In den Worten des BVerfG39: „Die Verfassungsbestimmungen von Artikel 1 Abs. 1 i.V.m. Artikel 2 Abs. 1 haben einen Bedeutungswandel erfahren, weil in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände aufgetaucht sind.“ c) Normensetzung und Normengeltung Nach der Reinen Rechtslehre soll die Interpretation auch den Identifizierungskriterien des Systems entsprechen. Diese Kriterien stützen sich auf die Idee einer normativen Kette, um die Gültigkeit einer Norm zu prüfen. Wenn diese Kriterien auf eine Norm zutreffen, dann gehört sie zu diesem System: „Eine Vielheit von Normen bildet eine Einheit, ein System, eine Ordnung, wenn ihre Geltung auf eine einzige Norm als letzten Grund dieser Geltung 37 Vid. Supra S 48. Lebach Urteil 1973 (BVerfGE 35, 202–245). 39 BVerfGE 2, 380 (401). 38 13 zurückgeführt werden kann.“40 In diesem Sinn soll die Befugnis einer Autorität, eine Norm zu interpretieren, auf eine höhere Norm gestützt sein. Die höhere Norm bestimmt die Interpretationsfakultät der Autorität sowie das Verfahren, um die Norm zu interpretieren. Die zeitgenössische Bindung an die Grundrechte und Grundprinzipien der Verfassung41 schreibt auch vor, dass der Inhalt der niedrigeren Norm der höheren entsprechen muss. Auf diese Weise werden die Ergebnisse der Interpretation verfassungsmäßig, also sie entsprechen den Identifizierungskriterien des Systems, an dessen Spitze die Verfassung steht. Damit werden, Hans Kelsen zufolge, die Voraussetzungen für Einheit und Normativität des juristischen Systems geschaffen: Einheit, weil alle Normen des Systems nach Kohärenz streben sollen; Normativität, weil alle Normen den Gültigkeitskriterien entsprechen müssen, um diesem System anzugehören. Die authentische42 Interpretation hat eine Norm zum Ergebnis, die abhängig von den Befugnissen der höheren Norm generell oder individuell sein kann. In diesem Sinn ist das Ergebnis der Interpretation eine Norm, die auch Teil dieser Normenkette ist. Die Interpretation oder Konkretisierung43 ist eine produktive Aufgabe. Wenn der Verfassungsrichter eine Verfassungsnorm interpretiert und anwendet, schafft er neue juristische Normen. Dann ist das juristische System, das mittels Willensakten geschafft worden ist, ein dynamisches System und jede Normenanwendung bedeutet die Produktion einer neuen Norm.44 Die Interpretation der Normen schafft Normen nach dem formellen und materiellen Rahmen, den die höhere Norm gibt. Die Verfassungsinterpretation ist ein bedeutungsgebender Akt, der die Anwendung der Norm begleitet. Von dieser durch die Autorität gegebenen Bedeutung hängt die Schaffung nachfolgender Normen in der juristischen Ordnung ab. 40 Hans Kelsen. Reine Rechtslehre. Studienaufgabe der 1. Auflage 1934. Matthias Jestaedt. (Hrsg.). S. 62 (Originalpaginierung). S. 73 der Ausgabe. 41 Gemeint sind die Artikeln 1 Absatz 3 und 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. 42 Als authentische Interpretation wird hier die richterliche Interpretation betrachtet und nicht die dogmatische Arbeit. 43 Es ist notwendig, den Unterschied zwischen drei Konzepten zu erklären, da sie manchmal in gleicher Weise benutzt werden: Interpretation, Konkretisierung und Anwendung. Die Interpretation ist die notwendige Voraussetzung für die Anwendung, d.h. um eine Norm anzuwenden, interpretiert man die normative Formulierung, so dass man eine Bedeutung findet oder den Wörtern und ihrem Text eine Bedeutung gibt. Die Anwendung der Normen, die durch die Interpretation produziert wurden, ist eine ausschließlich der Staatsgewalt vorbehaltene Aufgabe. In diesem Sinn unterscheidet man zwischen Interpretationssubjekten und Anwendungssubjekten. Die Interpretation kann sowohl durch eine Behörde als auch durch jede andere Person realisiert werden und hat als Objekt die Rechtssätze. Die Anwendung kann nur durch eine zuständige Behörde realisiert werden und hat als Objekt die Norm, d.h. die Bedeutung, die ihrem Text durch die Interpretation gegeben wurde. Die Dogmatik wendet den Ausdruck „Konkretisierung“ an, um die Interpretation in hermeneutischem Sinne zu beschreiben: “Es kommt in der Hermeneutik zu der Vorstellung einer situativen und sachbestimmten Anreicherung des Sinngehalts von Rechtssätzen. Auslegung heißt Konkretisierung des Gesetzes im jeweiligen Fall.” Hier wird nicht der Unterscheidung von Konrad Hesse gefolgt. Vgl. Konrad Hesse. Grundzüge. Rdn. 41 ff. Vgl. Auch: Thomas Vesting. Rechtstheorie. Rdn. 212. 44 Hans Kelsen. Allgemeine Staatslehre. Berlin, 1925. S. 234 14 “Wenn der Interpret eine Norm auf einen Fall anwendet, entscheidet er, was die Bedeutung ist, die die verfassungsgebende Gewalt ihr gegeben hat. In diesem Sinn funktioniert die Schaffung und Anwendung des kommenden Rechts.“45 Folgerichtig ist der Interpret nicht frei, da es sowohl Verfassungsgrenzen als auch dogmatische Grenzen gibt. Auf alle Fälle hat die gerichtliche Verfassungsinterpretation die Schaffung einer neuen Norm zur Folge, die das niedrigerrangige juristische System betrifft: „Die Verfassungsinterpretation kennzeichnet die Grenzen der Möglichkeiten einer Interpretation aller Normen; sie setzt für jedes Niveau der juristischen Ordnung eine Pflicht fest, immer nur gemäß der Verfassung zu interpretieren.“46 Nach diesen Überlegungen gilt: Die Verfassung ist N1, und von ihr aus werden die anderen Normen des Systems geschaffen, wie die Norm N2. Die Auslegung dieser N2 durch einen Richter, ergibt eine Norm N3. Der Verfassungsrichter kann eine N2 schaffen, die das ganze System betrifft. In diesem Sinn ist die N2 eine materielle Verfassungsnorm, da sie nicht zum Verfassungstext gehört, aber einen Verfassungsinhalt in sich trägt. Man muss das juristische System eher als ein Netz denn als einen Stufenbau verstehen. Daraus ergibt sich, dass, wenn der Verfassungsrichter eine Verfassungsnorm interpretiert, er auch eine neue Norm schafft, diese aber nicht zu der formellen Verfassung gehört. Sie gehört aber doch zu einem so genannten „Verfassungsblock“ („bloc de la constitutionalité“47). Daraus kann man schließen, dass in einigen Fällen der Verfassungsrichter eine N2 schafft, die das ganze niedrigerrangige System betrifft, wenn z.B. das BVerfG in einem abstrakten Normkontrollverfahren nicht nur ein Gesetz als verfassungswidrig erklärt, sondern auch das 45 Rolando Tamayo Salmorán. La Interpretación Constitucional. S. 115. Manuel Atienza. Los límites de la interpretación constitucional. De nuevo sobre los casos trágicos. En: Interpretación Jurídica y Decisión Judicial. Comp. Rodolfo Vázquez. 4ta reimpresión. México, 2006. S. 187 ff. 47 Dieses Konzept, das aus dem französischen Verfassungsrecht kommt und das von Louis Favoreu entwickelt wurde, bedeutet, dass eine Verfassung mehr als nur ihr Text sein kann. Die Verfassungsnormen können mehr als die im Verfassungsgesetz geschriebenen sein, weil die Verfassung selbst auf andere Regeln und Prinzipien verweist und sie selbst der Verfassungsgerichtsbarkeit die Schaffung von (materiellen) Verfassungsnormen erlaubt. Der bloc de la constitutionalité wird sowohl von völkerrechtlichen Normen als auch von den nicht aufgezählten Grundrechten, die durch gerichtliche Entscheidungen entwickelt worden waren, gebildet. Es wird als eine Gruppe von Regeln verstanden, die der Gerichtsbarkeit helfen, die Verfassungsmäßigkeit der Normen zu kontrollieren. Der Verfassungsblock wird in Frankreich und im Spanisch sprechenden Raum als ein Versuch betrachtet, dieses Phänomen zu systematisieren. Das bedeutet, dass materielle Verfassungsnormen, d.h. Normen mit Verfassungskraft eigentlich zahlreicher sind als die formelle Verfassungsnormen, d.h. die Normen die ausdrücklich im Verfassungstext verfasst sind. Also gibt es Normen, die nicht Teil der Verfassungsartikel sind, sich aber normative Kraft mit ihnen teilen. In diesem Sinn kann man die Normen, die das BVerfG schafft, verstehen: Sie wandeln die Verfassung nicht, sie sind nicht Teil des Verfassungstextes, teilen aber Verfassungsrang. Vgl. Louis Favoreu. Droit constitutionnel, Dalloz, Précis Droit Public. Ders. El Bloque de la Constitucionalidad. Revista del Centro de Estudios Constitucionales. Num. 5. Enero-marzo 1990. S. 45. Madrid. Rodrigo Uprimny. Bloque de Constitucionalidad, Derechos Humanos y Nuevo Procedimiento Penal. Relfexiones sobre el nuevo sistema penal. Consejo Superior de la Judicatura, Escuela Judicial Rodrigo Lara Bonilla. Bogotá, 2004. Francisco Rubio Llorente. El Bloque de la Constitucionalidad. Revista Española de Derecho Constitucional. Año 9. Núm. 27. Septiembre-Diciembre 1989. Madrid. 46 15 Gericht ein neues Grundrecht schafft, wie z.B. das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (IT-Grundrecht). Dieses Recht ist zwar nicht im Text der Verfassung enthalten, hat aber materieller Verfassungsrang. Es wurde durch die Interpretation einer N1 eine N2 geschaffen. Für die Normenhierarchie ist diese neue N2 eine generelle Norm mit Verfassungsrang, d.h., dass diese neue Norm eine materielle, nicht aber eine formelle Verfassungsnorm ist. In diesem Sinn gehören diese durch die Interpretation geschaffenen Normen zur Verfassung, obwohl sie nicht in dem Text integriert sind. Alle materiellen Verfassungsnormen bilden den Verfassungsblock (bloc de la constitutionalité) und haben, in diesem Sinn, Verfassungskraft. Sie werden aber durch verschiedene Organe geschaffen, nämlich durch das Verfassungsgericht, die europäischen Organe, internationalen Einrichtungen, usw. Im Falle des IT-Grundrechts könnte man einen Verfassungswandel darin sehen, dass dieses neue Grundrecht die Verfassungsnormen der Artikel 1 Abs.1 und 2 Abs.1 des Grundgesetzes gewandelt hat. Wahr ist, dass diese Artikel unangetastet bleiben. Sie gewähren die Menschenwürde und das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Ontologisch sind Artikel 1 Abs.1 und 2 Abs.1 GG die gleichen, es wurde keines ihrer essentiellen Merkmale weggenommen oder geändert. Die Rechtsnorm und der Rechtssatz sind nicht anders als zuvor, doch ihre Konkretisierung wurde geändert, da die Perspektive des Interpreten sich geändert hat. Das BVerfG hat verstanden, dass es notwendig war, das Vertrauen und die Identität in dem informationstechnischen Systems zu schützen und hat im Rahmen dieser beiden Verfassungsnormen eine Gewährleistung dafür gefunden. Der Ursprung des so genannten IT-Grundrechts ist nicht die verfassungsgebende Gewalt (Pouvoir constituant), sondern eine verfasste Gewalt (Pouvoir constitué). Das BVerfG hat das neue IT Grundrecht mit einer Kompetenz geschafft, die auf der Verfassung48 und dem BVerfGG beruht. Entsprechend ist die Norm, durch die das IT-Grundrecht geschaffen wurde, nicht Artikel 79 GG, sondern Artikel 93 Abs.1 GG. Die Schaffung dieses IT-Grundrechts fügt sich in das juristische System ein, seine Erzeugung und seine Einführung in der Normenkette erfüllen die Voraussetzungen der Einheit und Normativität. Auf Grund seines Ursprungs ist das IT-Grundrecht eine N2, aber aufgrund seines Inhalts ist es eine materielle Verfassungsnorm. Wenn man das juristische System als ein Netz betrachtet, ist es einfacher, die Normenschaffung durch eine dynamische Interpretation und die Existenz eines Verfassungsblocks zu verstehen. „Diese Aufgabe und Befugnis zur ‚schöpferischen Rechtsfindung’ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden.“ BVerfGE 34, 269 (287 ff.) Soraya. 48 16 N1 N2 GG IT-GR N3 Gesetz Vorschlag des Verständnisses des juristischen Systems Daraus folgen einige interessante Fragen für die Verfassungslehre, und zwar sowohl im Bereich der Gewaltenteilung als auch im Bereich der Normenlehre: Wenn sich die Bedeutung eine juristische Norm durch ihre Konkretisierung wandelt und wenn diese von einem Richter gemacht wird, welche Art von Normen schafft er dann? Was sind die juristischen Auswirkungen dieses Wandels der Konkretisierung einer Norm? Es müssen hierbei zwei Probleme untersucht werden: (1) Heutzutage gibt es keine klare Trennung mehr zwischen der gesetzgebenden, der richterlichen und der vollziehende Gewalt49, da sich die Normproduktion relativiert hat.50 Man muss sowohl die Kontrolle51 (checks and balances) des Gewaltenteilungssystems als auch die Verfassungswerte in den Blick nehmen. Das Konzept des Stufenbaus der Rechtsordnung ist vielleicht nicht mehr als eine Pyramide zu verstehen, wie Adolf Merkl und Hans Kelsen es beschrieben haben52, sondern als ein Netz. 49 Hans Kelsen. Allgemeine Staatslehre. Berlin. 1925. S. 229ff. und auch Ders. General Theory of Law and State (1945). Es wurde die spanische Übersetzung benutzt: Teoría General del Derecho y del Estado. Trad. Eduardo García Máynez. México, 1988. S. 302 ff. 50 Thomas Vesting. Rechtstheorie. Rdn. 212. 51 Ein Beispiel der gegenseitigen Kontrolle zwischen Verfassungsorganen in Mexiko: Im März 2010 hat das Oberste Gericht entschieden, dass der Ombudsmann für Menschenrechte Mexikos keine Befugnis hat, um die Übereinstimmung eines Gesetzes mit der in Mexiko gültigen Menschenrechtskonvention prüfen zu lassen. Einen Monat später hat die Legislative eine Verfassungsänderung gebilligt, um klar zu stellen, dass der Ombudsmann die Übereinstimmung von Gesetzen mit der Menschenrechtskonvention vor dem Obersten Gericht überprüfen lassen darf. (Sog. Reforma Constitucional de Derechos Humanos). Die Verfassungsänderung ist noch nicht bestätigt, es fehlt noch die Zustimmung in 50 % der Landtage. Die Entscheidung der Legislative steht im Einklang mit der Idee, die in internationalen Konventionen niedergelegten Menschenrechte als verbindliche innere und vorrangige Rechte anzuerkennen. Die Entscheidung des Obersten Gerichts wurde heftig kritisiert, da sie auf eine sehr konservative und formelle Interpretation der Verfassung gestützt war. Das Oberste Gericht Mexikos ähnelt in seinen Funktionen eher dem Bundesverfassungsgericht als dem Supreme Court der Vereinigten Staaten. Vgl: amparo en revisión 1334/1998, amparo en revisión 186/2008, controversia constitucional 82/2001, Recurso de reclamación 361/2004-PL a la controversia constitucional 104/2004, acción de inconstitucionalidad 168/2009 y acumulada 169/2007, amparo en revisión 2021/2009. 52 Adolf Merkl. Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues. Gesellschaft, Staat und Recht. Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag. Adolf Merkl (Hrsg.) Wien, 1971, S. 252-294. und Hans Kelsen. Reine Rechtslehre. Studienaufgabe der 1. Auflage 1934. Matthias Jestaedt. (Hrsg.) Kap. V. 17 (2) Da das juristische System dynamisch ist, sind die Verfassungsinterpretationen des Verfassungsgerichts im Laufe der Zeit von anderen ersetzt wurden. Zusätzlich wird die Geltung der Normen nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Zugehörigkeit zum System verstanden (materielle und formelle Geltung), sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Teilnehmerperspektive (Autoritäten und Bürger).53 Der Gesetzgeber hat die Befugnis, einfache Gesetze zu schaffen (Artikel 70 GG). Der Verfassungsrichter hat die Befugnis, die Verfassung zu interpretieren (Artikel 93 GG), aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit können der Bundestag und der Bundesrat die Verfassung ändern (Artikel 79 GG). Die Bevölkerung ist in diesen Verfassungsorganen vertreten und das „checks and balances“ System wird mit der Interpretation und der Schaffung der Normen als eine Balance der Kräfte angetrieben. Zum Beispiel, werden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „Im Namen des Volkes“ gefällt. Das BVerfG ist damit beauftragt, den im Grundgesetz dargestellten Willen des Volkes zu bewahren. Seine Legitimität rührt daher, dass – obwohl die Richter nicht in einer direkten Wahl gewählt sind und die Verfassungsrichter nicht gegenüber der Bevölkerung verantwortlich sind – die Verfassungsrichter auch Vertreter des Volkes sind und, ein ständiges Gleichgewicht gegenüber dem Gesetzgeber herstellen. In der Konsequenz sind die Verfassungsrichter die Hüter der Grundrechte der Minderheiten. Der Gesetzgeber hat die Schaffungsmöglichkeiten und der Verfassungsrichter hat die Interpretationsmöglichkeiten, aber beiden sind durch den Verfassungstext Grenzen gesetzt (Artikel 20 GG). Die verfassungsgebende Gewalt hat die grundlegenden Verfassungsprinzipien als Grenze, die in Artikel 79 Abs. 3 GG geschützt sind, und es ist nur dieser materielle Bereich, den das BVerfG auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen darf54. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es keine Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen. Deswegen fiel auf das Volk die Akzeptanz des Ergebnisses des BVerfG.55 Es ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag der Dogmatik56 und der Rezensionen57 zu nennen. Die juristische Argumentation tritt auch hier als ein wichtiges Element auf, um die gerichtlichen Entscheidungen zu legitimieren. 53 Vgl. H.L.A. Hart. The Concept of Law. Clarendon Press. Oxford. (erste Aufl. 1961, zweite Aufl. 1994), Titel der deutschen Übersetzung: Der Begriff des Rechts. 1973. Hier wurde die spanische Übersetzung benutzt. El concepto de derecho. Editorial Abeledo Perrot. 1992 S. 71. 54 Z.B. in Mexiko hat das Oberste Gericht entschieden, dass es nur die formelle Verfassungsmäßigkeit eine Verfassungsänderung überprüfen darf, da die Artikel 135 der mexikanischen Verfassung keine Änderungsgrenze darstellt und deswegen die Verfassungsgebende Gewalt frei für die Gestaltung neue Verfassungsnormen ist. Diese Entscheidung wurde heftig kritisiert. 55 Es wird hier die Idee der “Rule of Recognition“ von H.L.A. Hart berücksichtigt. Vgl. El Concepto de Derecho. S. 125 ff.; oder auch die Idee der “Willen zur Verfassung“ von Konrad Hesse. Grundzüge. Rdn. 45. Vgl. auch Jutta Limbach. Die Akzeptanz verfassungsrechtlicher Entscheidungen. Vortrag in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät am 2. Juli 1996. Akademische Reden und Beiträge 14. Schriften reihen der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. 56 Hier wird die Rolle der Dogmatik als eine kritische und auswertende Tätigkeit und nicht nur eine deskriptive Tätigkeit hervorgehoben. Luigi Ferrajoli hat die Aufgabe der Rechtswissenschaft als eine Meta-Garantie im 18 In einem Verfassungsstaat ist die Volkssouveränität in der Verfassung verfasst. In diesem Sinn wird das BVerfG dann der Vertreter des Willens des Volkes. Es sollte immer ein Spannungsbogen zwischen dem Verfassungsgericht und dem Parlament geben, da beide an die Verfassung gebunden sind. Obwohl Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes erklärt, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, ist es klar, dass das BVerfG als das einzige Gericht, welches die Befugnis hat, die Verfassung zu interpretieren und über ihre Bedeutung zu entscheiden, auch direkt an die Verfassung gebunden sein sollte – jedenfalls im materielle Sinne, weil im formellen Sinne das BVerfG pflichtgemäß die Formalitäten der Verfahrensvorschriften, die sowohl in den Artikeln 93, 94 und 100 des Grundgesetzes als auch im BVerfGG festgelegt sind, zu beachten hat. In diesem Sinn ist die Unterscheidung zwischen dem Gesetzgeber und dem BVerfG quantitativ: „So wenig wie man aus der Verfassung durch Interpretation richtige Gesetze, kann man aus dem Gesetz durch Interpretation richtige Urteile gewinnen. Gewiss besteht ein Unterschied zwischen diesen beiden Fällen, aber es ist nur ein quantitativer, kein qualitativer und besteht nur darin, dass die Bindung des Gesetzgebers in materieller Hinsicht eine viel geringere ist als die Bindung des Richters, dass jener bei der Rechtsschöpfung verhältnismäßig viel freier ist als dieser.“ 58 Im Falle des BVerfG geht es um die Prüfung, ob der Gesetzgeber bei seiner „Schaffungsfreiheit“ die Grenzen der Verfassung überschritten hat. Das BVerfG hat nicht die Befugnis, um sich selbst zu betreiben, im Gegensatz darf der Gesetzgeber, wenn er will, tätig sein. 3. Verfassungsgerichtsbarkeit a) Befugnisse und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Das BVerfG ist für Streitentscheidung zuständig, wenn es im Bereich des Grundgesetzes zum Streit kommt. Artikel 93 GG erteilt dem BVerfG die Befugnis, die Verfassung im Falle einer Verhältnis mit den anderen juristischen Garantien, die eventuell nicht funktionsfähig sind, erwähnt. Sie wird tätig durch die Verifizierung und Zensur des ungültigen oder unvollkommenen Rechts. Ferrajoli identifiziert drei Faktoren, die gewahrt sein müssen: i) Die Kohärenz des Systems, durch die interne Kritik des geltenden Rechts. D.h., die Dogmatik soll die Nichtigkeitserklärung von ungültigen Normen als eine Garantie der Struktur erfordern. ii) Die Fülle des Systems, d.h. dass die Identifizierung des Nichterfüllens der Ordnung erfordert wird. Deswegen werden geeigneten Garantien gebraucht. iii) Die Einheit des Systems, die sich hauptsachlich auf die Garantie des Hierarchiesystems und auf die Entwicklung eines Systems der Rechtsquellen bezieht, die auch die supranationalen Rechtsquellen berücksichtigt. Vid. Derechos y Garantías. La Ley del más débil. Madrid, 2002. 57 Vgl. Peter Häberle. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft. Königstein, 1980. 58 Hans Kelsen. Reine Rechtslehre. Studienaufgabe der 1. Auflage 1934. Matthias Jestaedt. (Hsg). S. 98 (Originalpaginierung). S. 108 der Ausgabe. Es ist zu anzumerken, dass Hans Kelsens Reine Rechtslehre den (materiellen) Inhalt der Normen nicht als eine Geltungsvoraussetzung anerkannt hat. Für Kelsen war die Geltung eine Art der Zugehörigkeit einer Norm zu einem juristischen System, und diese Geltung war nur aus einer höheren Norm abzuleiten. Deswegen war für seine Theorie nicht der Inhalt einer Norm die erforderliche und genügende Voraussetzung ihrer Zugehörigkeit. 19 Frage ihrer Anwendung zu interpretieren. Dieser Artikel zählt zusammen mit dem § 13 BVerfGG abschließend die Fälle auf, in denen der Rechtsweg zum BVerfG eröffnet ist. § 31 BVerfGG bestimmt, welche Entscheidungen Gesetzeskraft haben: (1) Die Entscheidungen des BVerfG sind für alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie für alle Gerichte und Behörden bindend. Der formelle Effekt der Bindung der Entscheidung besteht allerdings nur im konkreten Fall (inter partes). Es gibt keine materielle Bindung für andere Gerichte, da die Entscheidungen keine Gesetzeskraft besitzen. Die Auffassung des BVerfG ist in diesem Fall nur ein Vorbild für andere Richter. Ihr wird normalerweise gefolgt; aber jeder Richter ist unabhängig und darf die Entscheidung treffen, die er für richtig hält. (2) § 31 Abs. 2 BVerfGG legt fest, welche Entscheidungen des BVerfG generellen Effekt, also Gesetzeskraft, haben (erga omnes). Es geht um Fälle, in denen das Gericht entschieden hat, ob ein Gesetz mit der Verfassung kompatibel ist oder nicht. Folgende Fälle sind in § 31 Absatz 2 BVerfGG aufgezählt: abstrakte Normenkontrolle, Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, Verfassungsbeschwerden, Konkrete Normenkontrolle, Meinungsverschiedenheiten über das Völkerrecht oder das Fortgelten von Recht als Bundesrecht. (3) Die Befugnis für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes obliegt gemäß Artikel 100 GG und § 78 und 95 Abs.3 BVerfGG allein dem BVerfG. (4) §31 BVerfGG bindet das Gericht nicht: “Die Bindungswirkung besteht nicht für das Bundesverfassungsgericht selbst. Das Gericht kann seine in einer früheren Entscheidung vertretenen Rechtsauffassungen aufgeben, auch soweit sie für die damalige Entscheidung tragend waren. Ein Senat ist nur genötigt, die Entscheidung des Plenums anzurufen, wenn er von der Rechtsauffassung abweichen will, die eine Entscheidung des anderen Senats trägt.“59 Es gibt andere Fassungen, die das Gericht in seinen Entscheidungen anwenden darf, und die es als mitwirkendes Organ des Gesetzgebers ausweisen. Gemeinsam mit der Ermächtigung, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu bestimmen und, wenn notwendig, dieses aufzuheben, darf das BVerfG seine Entscheidung mit einer vorübergehenden Regelung, in der dem Gesetzgeber eine bestimmte Frist gegeben wird, um verfassungswidrige Probleme des Gesetzes zu beheben, versehen. Solche Entscheidungen können als ein Eingriff in den 59 BVerfGE 4,31 (38) und auch BVerfGE 20,56 (87). 20 Zuständigkeitsbereich der Legislativen gesehen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung über das Gesetz zum Rauchverbot von Baden-Württemberg und Hessen, in der das BVerfG eine Frist für den Gesetzgeber zur Überarbeitung der Gesetze und eine Übergangsregelung vorgeschrieben hat.60 Das Sondervotum des Richters Bryde61 verteidigt den Ermessensspielraum des Gesetzgebers, da Bryde die Entscheidung als einen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers betrachtet: „Das Bundesverfassungsgericht darf keine Folgerichtigkeit und Systemreinheit einfordern, die kein demokratischer Gesetzgeber leisten kann. Zwingt man den Gesetzgeber unter solchen politischen Rahmenbedingungen in ein alles oder nichts, indem man ihm zwar theoretisch eine – politisch kaum durchsetzbare – Radikallösung erlaubt, aber Ausnahmen und Unvollkommenheiten benutzt, die erreichten Fortschritte zu kassieren, gefährdet das die Reformfähigkeit von Politik“.62 Der Ermessensspielraum des Gesetzgebers liegt nur im Rahmen der Verfassung, während der Ermessensspielraum des BVerfG sich auf den Fall beschränkt, den es betrachten muss. Das BVerfG muss auf jeden Fall die Grenzen des Verfassungstextes im Auge halten (Artikel 14 GG) sowie die immanenten Prinzipien des System des Grundgesetzes.63 Wahr ist, dass das BVerfG die Entscheidungen nicht erfindet, sondern sie erweitert, spezifiziert oder deutlich ausdrückt die Inhalte der Normen, die in dem geltenden normativen System schon latent existierten.64 Es gibt auch andere Varianten für verfassungsgerichtliche Entscheidungen, zum Beispiel die Verfassungswidrigkeitserklärung65 oder die sentenze-indirizzo66, wie sie in der italienischen Dogmatik bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um Entscheidungen, die mit verschiedener Form und Wirksamkeit und ohne neues Recht zu schaffen, versuchen, den Gesetzgeber zu mobilisieren und seine Entscheidungen zu beeinflussen. Eine weitere Variante 60 BVerfG Urteil v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07. BVerfG Urteil v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07, Tz. 172 ff. Anderer Meinung ist Lothar Michael. Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit. JZ 2008, 881 ff. „Versteht man Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als Schutzpflichten und addiert die freiheits- und gleichheitsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers, dann hat der Gesetzgeber gegebenenfalls kumulativ das Über- und das Untermaßverbot zu verwirklichen sowie dabei das Gleichmaßgebot zu beachten […]. Das BVerfG erhöht seine Kontrolldichte bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen.“ Und er schließt: „Im Gegenteil [zur Meinung von Brun-Otto Bryde] handelt es sich im Ergebnis um eine zu begrüßende Verlagerung der Kontrolldichte vom Untermaßverbot auf die Gleichheitsrechte.“ 62 BVerfG Urteil v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07, Tz. 175. 63 BVerfGE 58,300 (335); BVerfGE 96,375 (394 ff.) und BVerfGE 79,127 (143 ff). 64 Francisco Fernández Segado. La Justicia Constitucional ante el siglo XXI: la progresiva convergencia de los sistemas americano y kelseniano. México, 2004. S.76. 65 BVerfGE 57, 361 (388); 61, 43 (68); 65, 325 (357). 66 Vgl. Gustavo Zagrebelsky. La Corte Constituzionale e il legislatore. En Corte Costituzionale e sviluppo. Paolo Barile et. al.Bolonia, 1982. Zitiert von Francisco Fernández Segado. La Justicia Constitucional ante el siglo XXI: la progresiva convergencia de los sistemas americano y kelseniano. México, 2004. S.80. 61 21 sind Appellentscheidungen67, in denen das Gericht befindet, dass ein Gesetz verfassungswidrig ist, an den Gesetzgeber appelliert und eine Frist setzt, um das Gesetz zu korrigieren. Schließlich gibt es noch die verfassungskonforme Auslegungen68, die den Willen des Gesetzgebers modifizieren kann, um die Geltung des Gesetzes nicht aufzuheben. In diesem Fall bestimmt das BVerfG, wie das Gesetz interpretiert werden muss. In der italienischen Literatur69 wird von einer doppelten Rolle des Verfassungsgerichts gesprochen: (1) Als indirekter Erzeuger von Normen (Corte-legislatore) d.h. als „gesetzgebendes Gericht“. In dieser gesetzgebenden Tätigkeit gibt das Gericht sog. „Gesetzesentscheidungen“ oder sentenze-legge ab. Dies bedeutet, dass das Gericht eine generelle, unmittelbar wirksame Norm schafft. (2) Als mitgesetzgebendes Gericht (Corte-co-legislatore). In dieser Tätigkeit gibt das Gericht Appellentscheidungen ab. Wichtig ist, zu erkennen, dass sich in beiden Fällen die Verfassungsgerichtsbarkeit an den Grenzen ihrer Befugnisse bewegt. Das BVerfG ist gemäß Artikel 92 GG ein Gericht, und in diesem Sinn sind seine Mitglieder Richter der Bundesgerichtsbarkeit.70 Nach seiner Beschaffenheit ist das BVerfG das einzige Organ, das Verfassungsangelegenheiten entscheiden darf und das das letzte Wort hat. Das BVerfG ist ein Verfassungsorgan, d.h. dass es eine verfasste Gewalt ist und der Verfassung unterstellt ist. Um tätig sein zu können, muss das BVerfG Verfassungsbefugnis haben, und es muss seine Tätigkeit von der Verfassung abhängig machen. Das BVerfG darf sich selbst nicht wie die gesetzgebende Gewalt verhalten. Das Verfassungsgericht ist auf den Fall, wegen dem es angerufen wird, beschränkt. Wenn das Gericht eine Entscheidung trifft, darf es seine eigene Befugnisse und Grenzen nicht überschreiten. Diese sind nicht immer eindeutig und werden manchmal von den Richtern überschritten. Zutreffend ist, dass das BVerfG eine positive71 Tätigkeit ausübt. Damit geht seine Tätigkeit über den Vorschlag von Hans Kelsen hinaus, der die Verfassungsgerichtsbarkeit nur als einen negativen Gesetzgeber konzipiert hat. Das ist 67 Die Überhangmandate Entscheidung vom 3.Juli.2008: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07; BVerfGE 62, 256 (286); 16, 130 (142). 68 BVerfGE 69, 1 (55); 8 71 (77); 2, 266 (282); 2, 336 (340f.). Auch: Konrad Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Op. Cit. Rnd. 80 und 81. 69 Gustavo Zagrebelsky. La Corte Constituzionale e il legislatore. En Corte Costituzionale e sviluppo. Paolo Barile et. al.Bolonia, 1982. Zitiert von Francisco Fernández Segado. La Justicia Constitucional ante el siglo XXI: la progresiva convergencia de los sistemas americano y kelseniano. México, 2004. S.80 ff. 70 BVerfGE 40, 356 (360). 71 Hans Kelsen. Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit. VVDStRL 5 (1929) S. 30-88. Ders. Wer Soll der Hüter der Verfassung sein? Die Justiz, 6. Band, 1931, S. 5-56. 22 darauf begründet, dass der demokratische Prozess der Rechtschaffung dies erforderlich gemacht hat. Hans Kelsen selbst hat das auch vorausgesehen als er sein Ordnungssystem als einen dynamischen Stufenbau konzipiert hat: “Der ganze Rechtserzeugungsprozess erscheint als eine Abfolge stufenweise zunehmender Individualisierung und Konkretisierung des Rechtes […]. Dieser Stufenbau mündet in der Einheit der Rechtsordnung in ihrer Selbstbewegung begründenden Grundnorm. Indem diese allererst ein das Recht erzeugendes Organ einsetzt, bildet sie die Verfassung in einem rechtslogischen Sinne […] bei der Relativität des Gegensatzes von Rechtserzeugung und Rechtsvollziehung, auch diese als Rechtsproblem und sohin die Rechtsordnung als ein seine eigene Erzeugung bzw. Vollziehung regulierendes Normensystem, als einen spezifischen Erzeugungszusammenhang: dann stellt sich solcher dynamischen Betrachtung gegenüber die Positivität des Rechts als eine stufenweise Konkretisierung dar.”72 Konrad Hesse73 plädiert für einen Aufbau der Grenzen des BVerfG „case by case“, so dass in jeder Entscheidung das Eingreifen des Gerichts gerechtfertigt und legitimiert wird und damit das überlieferte Misstrauen eines gemeinschaftlichen, nicht demokratisch gewählten Organs vergeht. Schließlich stützen sich die Entscheidungen des BVerfG auf seine Autorität, und diese Autorität stützt sich auf das Prinzip des Verfassungshüters, der die Verfassungsnormen und die von ihr bestimmten Grenzen und Fakultäten respektieren soll. In gleicher Weise wie die Verfassung stützen sich die Entscheidungen mit Gesetzeskraft des BVerfG auf ihre Realisierungsmöglichkeiten und auf den aktuellen Willen, den Inhalt der Entscheidung zu realisieren.74Konrad Hesse hält die “judicial self-restraint” für ungenügend, da klare und deutliche Grenzen nötig sind. Obwohl das BVerfG einigermaßen seine Grenze anerkannt hat75, ist es für die Richter schwer sich zurückzuhalten, da es keine bestimmbaren Grenzen gibt.76 Um einen wahren Rechtsstaat zu haben, d.h. ein „government of laws and not of men“, muss man eine der Verfassung angemessene Interpretationslehre entwickeln. Dies bedeutet: eine demokratische Verfassungslehre77, um die Gültigkeit und Legitimität der Entscheidungen zu rechtfertigen. Man sollte “in Bezug auf die Kontrolldichte, materielle, funktionelle und 72 Hans Kelsen. Allgemeine Staatslehre. Berlin, 1925. S. 234, 249 und 250. Kelsen erkennt ja das Phänomen des Verfassungswandels an, aber nicht durch Gerichte, sondern durch die Gesetzgebung. Vgl. S. 254. 73 Konrad Hesse. Funktionelle Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit. In: Recht als Prozess und Gefüge. FS für Hans Huber zum 80. Geburtstag. 1981. S. 272. 74 Konrad Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland . 20. Aufl. Heidelberg, 1999 .Rnd 45. Ders. normative Kraft der Verfassung . Tübingen, 1959. Passim. 75 BVerfGE 36, 1 (14). 76 Konrad Hesse. Funktionelle Grenze. S. 264. 77 E.-W. Böckenförde. Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation. NJW 1974, S. 1529 ff. Konrad Hesse. Grundzüge. Rdn. 49 ff. und 570 ff. 23 methodische Kriterien entwickeln, die die Kontrolle der BVerfG Interpretation bestimmen“78 und die die Grundentscheidungen und Prinzipien der Verfassung berücksichtigen, z.B. die Gewaltenteilung, die Anerkennung und Garantie der Grundrechte, das Legalitätsprinzip und das Prinzip des Vorrangs der Verfassung. Die Frage nach die Kontrolldichte des BVerfG ist ein Verfassungsproblem: “Die Grenzziehung der Kontrolldichte des BVerfG gegenüber dem Gesetzgeber ist eine funktionelle und gleichwohl verfassungsrechtliche Frage. Dabei streiten das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip gegeneinander.“79 Die angebrachte Balance zwischen beiden Prinzipien, um die Grundrechte (vor allem die Grundrechte der Minderheiten) zu bewahren, ist das einzige Maß, das der Verfassungsrichter hat, um die Inhalte der Verfassung zu konkretisieren, auch wenn sie nicht deutlich gelöst werden können. Die Verfassungsnormen, vor allem die Grundrechtsnormen, sind offene Normen, die materielle Werte enthalten. Damit ein Richter die Bedeutung von Normen präzisieren kann, benötigt er prozessuale Normen, die der Gerichtsbarkeitsausübung Grenzen setzten. D.h., dass diese Normen sowohl die Grenzen des Gerichts als auch die Verfahren bestimmen sollen, um neue Normen zu schaffen, da sie das ganze System ergänzen. Diese Verfahrensnormen findet man sowohl im GG als auch im BVerfGG. Das Rechtsstaatsprinzip weist als Verfahrensregel der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn es sich um einfache Fälle und klare Normen handelt, kein Problem auf, da es sich auf die Prüfung der Befugnisse, die die höhere Norm gewährt, bezieht. Das BVerfG prüft die formelle Gültigkeit und das Vorhandensein der Normen, die bei seiner Betrachtung angewandt worden sind. Die Prüfung der Geltung der Normen, die durch das BVerfG durchgeführt wird, darf sich entweder auf ihre reine Kompatibilität mit den Verfassungsnormen erstrecken, d.h., dass das BVerfG prüft, ob die sekundäre Norm der Verfassung widerspricht; oder diese Kontrolle bezieht sich auch auf Normen, die nicht deutlich der Verfassung widersprechen, d.h., dass das BVerfG Normen prüft, deren Inhalt die Verfassung nicht betrachtet. In diesem Fall kann man annehmen, dass die verfassungsgebende Gewalt den Gesetzgebern einen offenen Weg gelassen hat und dass die Verfassungsgerichtsbarkeit nur die Einhaltung der Grundrechte überwachen muss. Es geht dann um schwierige Fälle und undeutliche Normen. Es gibt Verfassungsnormen, die diese Grenzen, die der Gesetzgeber nicht überschreiten darf, bestimmen und die die deutsche Dogmatik entwickelt hat, um Deutlichkeit und Rechtssicherheit zu gewährleisten, z.B. der Gesetzesvorbehalt und die Schranken des Artikel 19 GG. Die Freiheit des Gesetzgebers ist nicht nur durch die Grenzen des Rechtsstaates beschränkt, sondern auch durch die Grenzen 78 79 Christian Walter. Hüter oder Wandler der Verfassung? AöR 125 (2000). S. 535. Lothar Michael. Folgerichtigkeit als Wettbewerbsgleichheit. JZ 18/2008. S. 881. 24 der Grundrechte der Minderheiten: auch durch die Idee der Grundrechte als objektive Wertentscheidungen. Dieses dogmatische Prinzip rechtfertigt in diesem Fall die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit, da die Verfassungsdemokratie nicht nur auf das Mehrheitsprinzip gestützt, sondern auch auf die Idee der demokratischen Gleichberechtigung, d.h. auf die Entscheidungen, die die Minderheitsrechte bewahren. In diesem Sinn hat der Verfassungsrichter die Befugnis, die Normen zu überprüfen und sie, wenn nötig, für nichtig zu erklären, wenn eine Minderheit in eine nachteilige Lage gegenüber der entscheidenden Mehrheit versetzt wurde.80 Das Verständnis der Grundrechte als objektive Wertordnung unterstützt diese Bindung und rechtfertigt ein neues Verständnis der Demokratie: als eine verfassungsmäßige Demokratie81 oder was Luigi Ferrajoli die „substantielle Demokratie“82 nennt, d.h. eine Demokratie, die einige Grundrechte und Prinzipien als unantastbar zählt. Für Ronald Dworkin bedeutet Demokratie eine Regierung, die an Bedingungen gebunden ist, nämlich an die Gleichberechtigung und an den gleichen Status für alle. Ein verfassungsmäßiges Verständnis der Demokratie beansprucht die Gleichberechtigung aller Bürger und nicht nur die Umsetzung der Ziele der Mehrheit in den Entscheidungsverfahren.83 Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird dann zur Kontrolle der Demokratie und nicht nur des Rechtsstaates. Schließlich hat die verfassungsändernde Gewalt das letzte Wort über den Inhalt der Verfassungsnormen gemäß Artikel 79 GG (Kompetenz-Kompetenz). b) Legitimität und Geltung der vom Bundesverfassungsgericht geschaffenen Normen Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind in der Verfassung bestimmt, und sie können durch den Gesetzgeber beschränken werden. Der Verfassungsrichter handelt als Vertreter des Volks, das souverän ist, das aber die Souveränität an die Verfassung weiterleitet. In diesem Sinn ist die Souveränität in der Verfassung konkretisiert. Die Gültigkeit der Handlung des Verfassungsrichters wird dann durch die Demokratie gerechtfertigt, da die Verfassung die Befugnisse festsetzt, die der Gesetzgeber in einer Geschäftsordnung (BVerfGG) konkretisiert. Seine Entscheidungen werden in einem dialektischen Verfahren getroffen, in dem die Tatsachen und ihre Konsequenzen debattiert und diskutiert werden. Es gibt auch die Möglichkeit für die Richter, ein Sondervotum abzugeben und so ihre abweichende Ansicht 80 Kruzifix-Urteil BVerfGE 93, 1 (6-7). Auch BVerfG Urteil v. 30.7.2008 - 1 BvR 3262/07. Ronald Dworkin. Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution. Harvard University Press, 1996. S. 17. Das „Moral Reading“, also das moralische Lesen der Verfassung von Dworkin, ist dem deutschen Verständnis vom doppelten Gesicht der Grundrechte, das in der Lüth-Entscheidung entwickelt wurde (BverfGE 7, 198 (208)) sehr ähnlich. D.h., dass das Verständnis der Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern auch als objektive Wertentscheidung, die den Staat verpflichtet, zu verstehen ist. 82 Vid: Luigi Ferrajoli. Derecho y Razón. Teoría del garantismo penal. Madrid, 2004. Ders. Derechos y Garantías. La Ley del más débil. Madrid, 2002. 83 Ronald Dworkin. Freedom’s Law. S. 17. 81 25 darzulegen.84 Die Legitimität der Entscheidungen stützt sich auf die Argumentation und die Darstellung von Gründen und Nachweisen. Im Grundgesetz findet man die Regeln der Normensetzung klar definiert, d.h., dass das ganze juristische System durch Normen gebildet wird. Für das Thema dieser Arbeit sind nur wichtig die Normen, die dem BVerfG eine Befugnis geben, neue Normen durch Interpretation zu schaffen. Die Verfassung regelt durch Rechtsproduktionsnormen die Verfahren und Inhalte, die die unteren Normen haben sollen. Die Normativität der Verfassung stützt sich auf ihre Billigung und auf ihre Realisierungsmöglichkeiten. Um ihre Wirksamkeit über die Zeit zu wahren, hat die Verfassung zwei Aktualisierungsverfahren: die Verfassungsänderung und die Verfassungsinterpretation. Die Änderung des Grundgesetzes ist in Artikel 79 GG geregelt und legt die materiellen und formellen Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung fest. In Artikel 79 Absatz 3 GG sind Artikel 1 bis 20 GG vor Änderungen geschützt (sog. Ewigkeitsklausel), da sie die Grundprinzipien des Verfassungsstaats, d.h. Bundesrepublik Deutschland, enthalten. Konrad Hesse erklärt, dass man nur von Konkretisierung sprechen darf, wenn es um eine Verfassungsfrage, die nicht eindeutig zu lösen ist, geht.85 Das Grundgesetz ist eine normative Verfassung, d.h. sie ist die höchste Norm des juristischen Systems, und da es eine Normenhierarchie gibt, sollen alle anderen Normen formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmen. Um die Einheit und die Kohärenz des Systems zu bewahren, hat das Grundgesetz ein Verfassungsgericht eingesetzt, so dass es die Verfassungsmäßigkeit aller Normen des Systems kontrolliert. Um die Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren, braucht das Verfassungsgericht die Befugnis, bei einem Verfassungsstreit zu entscheiden. Das Grundgesetz legt die Befugnisse und Kompetenzen des BVerfG fest, die bereits oben erwähnt wurden. Die deutsche Verfassung verleiht dem BVerfG die Zuständigkeit, die Verfassungsnormen zu konkretisieren, um einen Verfassungsstreit zwischen dem Staat und einem Bürger (Verfassungsbeschwerde) oder zwischen Verfassungsorganen oder dem Bund und den Länder (Organstreit, abstrakte und konkrete Normenkontrolle) zu lösen. Wenn das BVerfG einen Verfassungsstreit entscheidet, dann konkretisiert es die Verfassung. Die Konkretisierung ist eine schöpferische Aufgabe, d.h. jedes Mal, wenn das Verfassungsgericht eine Verfassungsnorm konkretisiert, schafft es eine neue Norm, und diese Norm hat dann Verfassungsrang: Lediglich ihre Effekte sind unterschiedlich – abhängig von der Art der Entscheidung können sie, wie schon erwähnt, entweder inter partes (nur zwischen die Beteiligten) oder erga omnes (Gesetzeskraft) gelten. In beiden Fällen verleihen sowohl das Grundgesetz als auch das BVerfGG dem 84 85 § 30 Abs.2 BVerfGG regelt die Möglichkeit eines Sondervotums. Konrad Hesse Grundzüge. Rdn. 45 ff. 26 Verfassungsgericht die Befugnis, neue Normen durch die Interpretation der Verfassung zu schaffen. Wenn das BVerfG das Grundgesetz konkretisiert, hat es die Möglichkeit, generelle Normen zu schaffen, d.h. Normen mit Gesetzeskraft, die materielle Verfassungsrang haben, da sie die untergeordneten Normen des gesamten juristischen Systems betreffen. Die Grenzen der Konkretisierung und die Schaffung von Normen durch das BVerfG sind ein Verfassungsproblem. Es gibt viele Vorschläge und Theorien zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation. Dazu zählt unter anderem die Idee des judicial self-restraint, die die Richter auffordert, ihre Kontrollbefugnisse zu beschränken und ihr Eingreifen nur in den Fällen befürwortet, in denen eine eindeutige Verfassungswidrigkeit vorliegt. Wie bereits erwähnt, basiert diese Idee nur auf dem „guten Willen“ der Richter. Deswegen wurde vorgeschlagen, dass die Verfassungsinterpretation auf einer Verfassungslehre beruhen sollte. D.h. die Grenzen der Interpretation werden durch die Verfassungsgeschichte, Grundsatzentscheidungen des Verfassungsgerichts, das Verfassungssystem, Prinzipien und Methodologie der Verfassungsinterpretation, usw. festgelegt, die den Verfassungsrichtern einen Kompass für ihre Handlungsgrenzen gibt. In Deutschland wird seit den ersten Entscheidungen des BVerfG davon ausgegangen, dass die Grundrechte einen doppelten Charakter haben, nämlich einen subjektiven und einen objektiven.86 Das BVerfG soll nicht nur die Form und den Inhalt der Normen, sondern auch die Gleichbehandlung, das Übermaßverbot und das Untermaßverbot prüfen. 87 Die Grenzen der Normenproduktion des BVerfG sind von demselben Gericht entworfen und werden vom Gesetzgeber ergänzt. Es geht um eine gegenseitige Organ-Kontrolle. Der Handlungsrahmen des BVerfG ist viel enger als der des Gesetzgebers, aber beide produzieren Normen. Die Schaffung des Rechts ist ein Prozess seiner Individualisierung und Konkretisierung. 88 Diese Dynamik relativiert die Idee, dass die Normenproduktion nur dem Gesetzgeber zufällt. In diesem Sinn kann man davon ausgehen, dass das Grundgesetz das Verfassungsgericht ermächtigt, Verfassungsnormen zu schaffen (Artikel 94 Abs. 2 GG). Im Rahmen dieser Normenproduktion taucht das Phänomen des Verfassungswandels auf, denn wenn die Verfassung interpretiert wird, kann sich der Sinn einer Norm wandeln, ohne dass ihr Text geändert wird. Tatsache ist, dass die interpretierte oder konkretisierte Norm identisch bleibt, sie – die interpretierte Norm – wandelt sich nicht. Als Beispiel: 86 BverfGE 7, 198 (208). Lothar Michael. Die Drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. JuS 2001. 148 ff. 88 Hans Kelsen. Allgemeine Staatslehre. S. 328 ff. 87 27 Wenn man von der Idee ausgeht, dass der Text der Normen eine festgelegte Bedeutung hat, dann kann man sehen, dass sich die Norm, die die Ehe schützt (Artikel 6 GG), gewandelt hat, wenn sich das BVerfG für die Gleichstellung zwischen der Ehe und der Lebenspartnerschaft entscheidet.89 Wahr ist, dass man in einer offenen Gesellschaft nicht von einer feststehenden und unveränderbaren Bedeutung der Ehe oder der Familie ausgehen kann, sondern dass, wenn es um eine pluralistische und tolerante Gesellschaft geht, also eine demokratische, die Definition der Begriffe auf der Interpretationen beruht, die der Zeit und dem Wandel der Gesellschaft entsprechen. In diesem Sinn bleibt die Norm, die den Artikel 6 GG konkretisiert, unangetastet. In diesem Artikel steht nicht, dass eine Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau sein soll. Sie wurde so ausgelegt, weil diese Interpretation dem gesellschaftlichen Verständnis der Ehe für lange Zeit entsprach. Nichtsdestotrotz wird dieses Verständnis heutzutage als ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot, die Meinungsfreiheit, das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht eine Familie zu haben und zu gründen, der Homosexuellen gesehen. In diesem Fall wandelt sich dann das Ergebnis der Konkretisierung (der neuen Norm), aber nur in Beziehung zur vorherigen Konkretisierungen und nicht in Bezug auf Artikel 6 GG. In dem Maße, in dem sich die Verfassungsgerichtsbarkeit an das Common Law System annähert, wird die Rechtsprechung mehr ein Erfahrungsprodukt sein, statt eines des a priori und des rein theoretischen Satzbaus. Deswegen ist heutzutage das Konzept des Verfassungswandels mit der Verfassungsdemokratie inkompatibel, da es dann nur für die Dogmatik im historischen und soziologischen Sinn relevant ist, mehr nicht. Es hilft nicht um die Erweiterung oder die Dynamik des juristischen Systems zu verstehen. Statt von einem Verfassungswandel zu sprechen, sollte man die Entwicklung in der Zeit des Sinns der Normen als dynamische Interpretation bezeichnen. Eine dynamische Verfassungsinterpretation muss weder als ein Widerspruch noch als etwas seltsames, sondern als eine natürliche Entwicklung der Prinzipien, die in der Verfassung enthalten sind, verstanden werden, um die normative Kraft der Verfassung und die Einheit, Fülle und Kohärenz ihres Systems zu bewahren. III. Ergebnis Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, kann man nicht feststellen, ob es eine Lehre vom Verfassungswandel tatsächlich gibt oder geben kann. Obwohl viele zeitgenössische 89 BVerfG Beschluss v. 7.7.2009 – 1 BvR 1164/07 28 Autoren90 das Konzept als ein Phänomen der Anwendung von Verfassungsnormen behandeln, findet man keine Übereinstimmung der Thesen hinsichtlich ihrer Definition oder ihrer Grenzen. Ungeachtet dessen, dass alle Autoren das Konzept als einen Wandel des Sinnes von Normen erläutern, ist diese Antwort nicht zufriedenstellend. Es sieht so aus, als ob das Konzept der Verfassungswandlung bzw. des Verfassungswandels eine Chiffre91 für ganz verschiedene Möglichkeiten der Fortentwicklung von Normen einer offenen Verfassung ist. Es wird akzeptiert, dass die bloße Interpretation offener Normen und Prinzipien (noch) kein Verfassungswandel ist und es wird bejaht, dass es Normen gibt, die entwickelt werden müssen und dass sich der Lauf der Zeit sowie der Wandel der sozialen Wirklichkeit in der Konkretisierung von Normen widerspiegeln kann. Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, was Verfassungswandel eigentlich ist und wann er vorliegt. Es wird hier behauptet, dass das Konzept des Verfassungswandels mit einem demokratischen Konstitutionalismus nicht kompatibel ist, da die Verfassungsdogmatik des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sowohl als organisatorische Norm als auch als Werteordnung einer pluralistischen Gesellschaft verstanden wird. Wer behauptet, dass man, um die Verfassung zu interpretieren, als einzige Methode die Subsumtion benutzen sollte, wird ganz sicher die Hermeneutik als ein Mittel, um die Inhalte der Normen zu wandeln, ablehnen. Man muss stets von der Idee eines dynamischen Rechtssystems ausgehen. Das Konzept des Verfassungswandels geht aus einer im 19. Jahrhundert entwickelten Idee hervor, nach der das Rechtssystem geschlossen, statisch und ohne Lücken ist; ein System, dessen Normen vorher feststehende oder implizite Bedeutungen hatten, die man lediglich entdecken musste. Wenn man aber von der Idee ausgeht, nach der das System offen, dynamisch und mit Lücken ist, also ein System, in dem das Verständnis der Rechtssicherheit nur illusorisch ist (Kelsen) oder besser gesagt: nur ein Anspruch ist-, dann kann man verstehen, dass das Konzept des Verfassungswandels für die zeitgenössische Verfassungstheorie irrelevant ist. Mehr noch, 90 z.B. Ernst Forsthoff. Die Umbildung des Verfassungsgesetzes. 1964. In: ders. Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964. Stuttgart, 1964; Konrad Hesse. Grenzen der Verfassungswandlung. In: Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag. Ehmke, H. J. Kaiser., W. Kewenig u.a. (Hg.) Berlin. 1973; Peter Häberle. Zeit und Verfassung. ZfP 21. 1974. abgedückt in: Ders. Verfassung als öffentlicher Prozeß . - 3. Aufl. . - Berlin, 1998; E.W. Böckenförde. Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel. In: FS Peter Lerche. 1993. abgedrückt auch In: ders., Staat, Nation, Europa . Orig.-Ausg., 1. Aufl. Frankfurt am Main, 1999; Alexander Roßnagel. Verfassungsänderung und Verfassungswandel in der Verfassungspraxis. Der Staat 22. 1983; Christian Walter. Hüter oder Wandler der Verfassung? AöR 125 (2000). S. 517 ff.; Andreas Voßkuhle. Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel? In Der Staat 43. Band 2004; Lothar Michael und Martin Morlok. Grundrechte. Baden-Baden, 2008. 91 Andreas Voßkuhle. Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel? S. 459. 29 macht eine „Verfassungswandlung“ keinen Sinn mehr, wenn man die Idee einer Verfassungsordnung anerkennt, die wandelbar, offen und pluralistisch ist. In der Verfassungsdogmatik wird die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzgebers angenommen, aber um der Verfassungsordnung Stabilität zu verleihen, soll man auch die Korrektur der Entscheidungen durch den Verfassungsrichter befürworten. Die Autorität des BVerfG stützt sich sowohl auf die Anerkennung ihrer Normativität als auch auf die Möglichkeit der öffentlichen Diskussion.92 Zusammenfassend ist eine demokratische und offene Gesellschaft auch Interpret ihrer Verfassung93 – während eine Gesellschaft, die keine Kompromisse eingeht, die geschlossen an der demokratischen Beratung festhält, die keine Minderheitsrechte anerkennt und die keine öffentliche Meinung garantieren kann, keine Verfassungsdemokratie ist. Es würde sich dann um einen Staat handeln, der nur ein Regierungsgesetz, aber keine Verfassung hätte. Anerkennung Diese Arbeit wurde an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf als Teil meiner Magisterarbeit zur Erlangung des Titels LL.M Düsseldorf im Oktober 2011. Dieses Studium wurde von el Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología (Conacyt), Mexiko gefördert. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Lothar Michael für die Betreuung meiner Arbeit. Adresse: Geraldina González de la Vega, Heidelberg / Deutschland. [email protected] 92 Jutta Limbach. Die Akzeptanz verfassungsrechtlicher Entscheidungen. Vortrag in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät am 2. Juli 1996. Akademische Reden und Beiträge 14. Schriften reihen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 93 Peter Häberle. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Ders. Verfassung als öffentlicher Prozess. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft. Berlin, 1978. S. 182 ff. 30