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Verfassungspopulismus und Verfassungswandel in Lateinamerika

2009, GIGA Focus Lateinamerika

Am 15. Februar 2009 stimmten knapp 55 Prozent der Venezolaner für eine Ver fassungsreform, mit der dem amtierenden Präsidenten Hugo Chávez die unbegrenzte Wiederwahl ermöglicht wird. Nur drei Wochen zuvor war in Bolivien gleichfalls mit tels eines Referendums eine neue Verfassung angenommen worden. Bereits am 28. Sep tember des Vorjahres hatt en die Ecuadorianer in einer Volksabstimmung dem Entwurf für eine neue Verfassung zugestimmt.

Nummer 2 2009 ISSN 1862-3573 Verfassungspopulismus und Verfassungswandel in Lateinamerika Detlef Nolte (unter Mitarbeit von Philipp Horn) Am 15. Februar 2009 stimmten knapp 55 Prozent der Venezolaner für eine Ver­ fassungsreform, mit der dem amtierenden Präsidenten Hugo Chávez die unbegrenzte Wiederwahl ermöglicht wird. Nur drei Wochen zuvor war in Bolivien gleichfalls mit­ tels eines Referendums eine neue Verfassung angenommen worden. Bereits am 28. Sep­ tember des Vorjahres haten die Ecuadorianer in einer Volksabstimmung dem Entwurf für eine neue Verfassung zugestimmt. Analyse: Verfassungsreformen sind in Lateinamerika zurzeit in Mode: Seit 1990 wurden insge­ samt sieben neue Verfassungen und 239 einfache Verfassungsänderungen verabschie­ det. Die jüngsten Reformen spiegeln allgemeine Trends wider, weisen aber auch eini­ ge speziische Merkmale und Neuerungen auf. Dazu gehört, die Rechte der indigenen Bevölkerung zu stärken und den „plurinationalen“ Charakter der Staaten hervorzuhe­ ben. Die beiden neuen Verfassungen von Bolivien und Ecuador sind mit jeweils mehr als 400 Artikeln die bei weitem umfangreichsten Verfassungen in Lateinamerika. Sie enthalten eine Vielzahl von Versprechungen (wie das Anrecht auf ein „gutes Leben“) und legen wichtige Politikinhalte (vor allem in der Wirtschats­ und Sozialpolitik) fest.  Verfassungen werden in Lateinamerika relativ häuig reformiert, sei es durch die Verabschiedung neuer Verfassungen, sei es durch einfache Verfassungsreformen. Dieser Trend hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt.  Die Verfassungstexte werden immer umfangreicher und führen zu einer Konstitu­ tionalisierung von Politikfeldern.  Viele der gegenwärtigen Verfassungsreformen weisen eine starke machtpolitische Komponente auf. Sie wurden von den amtierenden Präsidenten initiiert und festi­ gen deren Position.  Teilen der Verfassungsreformen kommt hingegen symbolischer Charakter zu, in­ dem sie den Bürgern weitreichende Versprechungen machen („Verfassungspopulis­ mus“), deren Umsetzbarkeit jedoch zweifelhat erscheint.  Die Wahrscheinlichkeit immer neuer Verfassungsreformen ist mit den letzten Re­ ferenden gerade in den drei genannten Ländern eher größer als kleiner geworden. Schlagwörter: Lateinamerika, Verfassungsreformen, Demokratie www.giga-hamburg.de/giga-focus GIGA Focus Lateinamerika /009 1990-1999 000-008  ,  ,  1, 1 0, Peru Urugu ay Venez uela Mexik o Nicara gua Panam a Parag uay Ecuad or El Salv a dor Guate mala Hondu ras Kolum bien Costa Rica Domin . Rep. tinien Bolivie n Brasil ien Chile 0 Argen Seit 1975 bis zu Beginn der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts wurden weltweit mehr als 200 neue Verfassungen oder grundlegende Verfassungsände­ rungen verabschiedet (Widner 2008). Im Verlauf oder nach Abschluss der demokratischen Transiti­ onsprozesse, die in Lateinamerika Ende der 1970er Jahre einsetzten, haben auch die meisten latein­ amerikanischen Staaten ihre Verfassung mindestens einmal modiiziert, einige sogar mehrmals. Neue Verfassungen wurden u. a. in Brasilien (1988), Ko­ lumbien (1991), Paraguay (1992), Peru (1993), Ecua­ dor (1998, 2008), Venezuela (1999) und Bolivien (2009) verabschiedet. Damit wird aber nur ein Teil der Verfassungs­ änderungen erfasst. Nach Erhebungen des Autors kam es in Lateinamerika (berücksichtigt wurden 18 Länder, ohne Kuba) zwischen 1978 und Januar 2009 zu insgesamt 299 einfachen Verfassungsrefor­ men. Einige dieser Verfassungsänderungen waren hinsichtlich ihres Inhaltes und Umfangs sehr be­ grenzt und beschränkten sich auf wenige Artikel. In anderen Fällen waren die Veränderungen sehr um­ fassend, selbst wenn keine neue Verfassung verab­ schiedet wurde. Hinsichtlich der Häuigkeit von Reformen zeigen sich große Unterschiede (siehe Schaubild 1). Einige Länder, wie etwa Brasilien, Costa Rica, Honduras, Kolumbien und Mexiko und in geringerem Umfang Chile und Peru, haben einen ständigen Prozess von Verfassungsänderungen durchlaufen. Die brasilia­ nische Verfassung wurde zwischen 1988 und 2008 nicht weniger als 63 Mal modiiziert oder ergänzt, im Durchschnit also drei Mal pro Jahr. Andere Länder – wie etwa Argentinien, die Dominikanische Republik oder Paraguay – haben ihre Verfassungen hingegen seit der Rückkehr zur Demokratie nur sel­ ten oder gar nicht verändert. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich der Prozess der Verfassungsänderungen in Latein­ amerika fortgesetzt, teilweise sogar beschleunigt (siehe Schaubild 1): Die chilenische Verfassung wur­ de 2005 grundlegend überarbeitet, und die letzten autoritären Elemente wurden getilgt. In den Jahren 2008 und 2009 wurden neue Verfassungen in Ecua­ dor und Bolivien verabschiedet. In anderen latein­ amerikanischen Ländern wie der Dominikanischen Republik, Kolumbien, Nicaragua, Peru und Mexiko wird über weitreichende Veränderungen der Ver­ fassungen oder neue Verfassungen diskutiert. Schaubild 1: Verfassungsänderungen in Lateinamerika 1990-2008 (Veränderungsraten pro Jahr) Jährliche Durchschnittsrate 1. Lateinamerika liegt im Trend Quelle: Zusammenstellung des Autors. 2. Verfassungsgebung als Machtpolitik Mit der Initiierung von Verfassungsänderungen werden häuig machtpolitische Interessen verfolgt. Dies erklärt die hetigen Kontroversen bei den jüngs­ ten Reformen in Bolivien, Ecuador und Venezuela. Die Washington Post hate vor diesem Hintergrund im Januar 2008 einen Artikel mit dem Titel „South America’s Constitutional Batles“ überschrieben. Mitels der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung kann versucht werden, die politischen Gewichte zu verschieben. In den drei genannten Ländern zeigte sich eine Tendenz von Seiten der amtierenden Präsidenten, die verfassunggebenden Versammlungen als Instrument zu benutzen, um die Parlamente zu entmachten, d. h., der Prozess der Verfassungsgebung wurde instrumentalisiert, um die Machtbalance zwischen Exekutive und Le­ gislative zu verschieben: Durch die Wahl einer ver­ fassunggebenden Versammlung wurde ein neues Machtzentrum neben dem Kongress geschafen. Die von Anhängern des Präsidenten dominierte verfas­ sunggebende Versammlung beanspruchte dann ei­ ne höhere Legitimation als das Parlament. Nach diesem Drehbuch ging Hugo Chávez in Venezuela 1998/99 mit Erfolg vor. Rafael Correa in Ecuador (2007/2008) und Evo Morales in Bolivia (2006/2007) -- versuchten, sich mehr oder weniger erfolgreich an dieser Vorlage zu orientieren. Für Correa war die Strategie eine Überlebensnotwendigkeit, da er bei den Parlamentswahlen keine Kandidaten aufgestellt hate. Im Falle Boliviens war die Bilanz gemischt, denn die Partei des Präsidenten erreichte bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung we­ niger Stimmen als bei den Parlamentswahlen. Die Opposition in den Departements im Tieland konnte den Prozess der Verfassungsgebung dazu benutzen, ihre Autonomieforderungen zu artikulieren. Der kontroverse Charakter der Verfassungsre­ formen spiegelt sich auch im Ergebnis der Ver­ fassungsreferenden wider. Auf den ersten Blick wurden alle Reformvorschläge mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Eine genauere Analyse der Ergebnisse ofenbart aber auch weiter bestehende Gegensätze hinsichtlich der neuen Verfassungen. Zwar haten am 28. September 2008 64 Prozent der Ecuadorianer dem Entwurf der neuen Verfas­ sung zugestimmt, nur 28 Prozent stimmten dagegen (8 Prozent der Stimmzetel waren ungültig oder unausgefüllt). Allerdings war der Anteil der Nicht­ wähler – in Ecuador herrscht Wahlplicht – mit 24,4 Prozent relativ hoch. Zudem wurde die Verfas­ sungsreform in der Hafenstadt Guayaquil, der größ­ ten und reichsten Stadt Ecuadors, knapp abgelehnt (Ja: 45,7 Prozent, Nein: 47,0 Prozent). Dort hate der Bürgermeister und wichtigste Oppositionspolitiker Jaime Nebot zur Ablehnung aufgerufen. Dabei wur­ de die Verfassung in den ärmeren Stadtvierteln wiederum befürwortet, was auf eine soziale Polari­ sierung in der Verfassungsfrage hinweist. Noch ausgeprägter ist die Polarisierung in Bo­ livien. National stimmten zwar 61,4 Prozent für die neue Verfassung und 38,6 Prozent dagegen. Aller­ dings zeigt sich im Abstimmungsergebnis eine deut­ liche soziale und regionale Diferenzierung. Vier der armen Hochlanddepartements mit einer indigenen Bevölkerungsmehrheit stimmten deutlich (teilwei­ se mit über 70 Prozent) mit Ja. In einem weiteren Departement (Chuquiasca) gewann die Regierung knapp. Demgegenüber wurde die Verfassung in den wohlhabenderen, an Bodenschätzen reichen vier Departements des Tielandes, die einen geringeren Anteil indigener Bevölkerung aufweisen, abgelehnt (teilweise mit über 60 Prozent der Stimmen). Wäh­ rend die Verfassung auf dem Land mit großer Mehrheit angenommen wurde, hielten sich die Ja­ und Nein­Stimmen in den Städten eher die Waage. Während die indigene Bevölkerung mit fast 90 Pro­ zent der neuen Verfassung zustimmte, war die GIGA Focus Lateinamerika /009 Stimmenverteilung in der restlichen Bevölkerung eher 50 : 50 (Mesa 2009). In Venezuela gelang es Hugo Chávez im Februar 2009, rund zwei Millionen zusätzliche Wähler im Vergleich zu dem verlorenen Verfassungsplebiszit im Dezember 2007 an die Wahlurnen zu bringen. Er gewann mit 54,9 Prozent gegenüber 45,1 Prozent der Stimmen. Auch die Opposition konnte ihre Stimmenzahl deutlich steigern, sie gewann in fünf Bundesstaaten, darunter den beiden bevölkerungs­ reichsten, und in der Hauptstadt Caracas (einschließ­ lich des größten Armenviertels der Metropole). In­ sofern ist die Wiederwahl von Chávez im Jahr 2012 keineswegs ein Selbstläufer. 3. Von der permanenten Revolution zur permanenten Wiederwahl Eine Verfassung deiniert die Grundregeln des poli­ tischen Wetbewerbs. Insofern ist nicht verwunder­ lich, dass politische Akteure bestrebt sein können, die politischen Spielregeln zu ihren Gunsten zu ver­ ändern. Dies gilt insbesondere für das Wahlrecht. Besonders häuig wurden in Lateinamerika (und in Afrika) in den vergangenen Jahren in den Verfas­ sungen die Artikel, die sich auf die Wiederwahl­ möglichkeiten für das Präsidentenamt beziehen, modiiziert. Traditionell schlossen die lateinameri­ kanischen Verfassungen eine direkte Wiederwahl aus. Damit sollte der „Verewigung“ von Präsiden­ ten an der Macht vorgebeugt werden, die mit der Verfügung über staatliche Ressourcen über einen Wetbewerbsvorteil verfügen. Außerdem haten sich Diktatoren – wie etwa Stroessner in Paraguay oder Trujillo in der Dominikanischen Republik – immer wieder über Scheinwahlen an der Macht bestäti­ gen lassen. In der jüngsten lateinamerikanischen Vergangenheit zeigt sich überdies die Tendenz, dass Präsidenten – sobald sie einmal die Wiederwahl durchgesetzt haben – versuchen, sich ein weiteres Mal zur Wahl zu stellen – auch unter Verletzung der Verfassung (z. B. Fujimori, Menem). Zur Vertei­ digung der Wiederwahl kann vorgetragen werden, dass damit die Möglichkeit geschafen wird, in ihrer Politik erfolgreiche Präsidenten zu belohnen. Seit 1992 haben elf Länder ihre Verfassungen im Hinblick auf die Wiederwahlmöglichkeiten verän­ dert, und fünf Länder haben die entsprechenden Artikel sogar zweimal modiiziert (Dominikanische Republik, Ecuador, Kolumbien, Peru, Venezuela). Im Allgemeinen wurden die Wiederwahlregelun­ -- gen weniger restriktiv: stat eines Verbots der Wie­ derwahl die nicht unmitelbare Wiederwahl; stat der nicht unmitelbaren Wiederwahl die unmitel­ bare Wiederwahl (siehe Tabelle 1). Dies war auch bei den jüngsten Reformen in Ecuador und Bolivien der Fall. Die Verfassungsreform in Venezuela stellt demgegenüber ein Novum dar, da erstmals die un­ eingeschränkte Wiederwahl ermöglicht wird. Es ist zu befürchten, dass damit ein Präzedenzfall für an­ dere Länder geschafen wurde. Tabelle 1: Verfassungsänderungen zur Wiederwahl des Präsidenten Land Argentinien Jahr der Verfassungsänderung 1994 Bolivien 2009 Brasilien 1997 Kolumbien 1991 2005 Dominikan. Republik 1994 Ecuador 1996 2002 2008 Nicaragua 1995 Panama 1994 Paraguay 1992 1993 Peru 2000 Venezuela 1998 2009 Inhalt „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „Verbot“ „Verbot“ zu „nicht unmitelbar“ „unmitelbar“ zu „nicht unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „Verbot“ zu „nicht unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „unmitelbar“ zu „nicht unmitelbar“ „nicht ummitelbar“; das Intervall zwischen zwei Präsidentschaten wird von einer auf zwei Amtsperioden verlängert „unmitelbar“ zu „Verbot“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „unmitelbar“ zu „nicht unmitelbar“ „nicht unmitelbar“ zu „unmitelbar“ „unmitelbar“ zu „unbegrenzt“ Quelle: Zusammenstellung des Autors. 4. Populistische Verfassungen oder revolutionäre Manifeste? Mit jeder neu verabschiedeten Verfassung in La­ teinamerika hat die Zahl der Artikel und der Um­ fang der Verfassung (Wörter) zugenommen, d. h., GIGA Focus Lateinamerika /009 die Verfassungen enthalten tendenziell immer mehr Regelungen und Vorgaben. Dies dokumentiert ein Blick auf die Verteilung der lateinamerikanischen Verfassungen nach der Zahl ihrer Artikel, zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten: 1990, 2000 und 2009 (siehe Schaubild 2). In fast allen Fällen (Paraguay 1992, Argentinien 1993, Ecuador 1998 und 2008, Venezuela 1999, Bo­ livien 2009), in denen seit 1978 neue Verfassungen verabschiedet wurden, enthalten die neuen Verfas­ sungstexte mehr Artikel. Umfassten die lateinameri­ kanischen Verfassungen im Jahr 1990 durchschnit­ lich 226 Artikel, so waren es im Jahr 2000 schon 247 Artikel und zu Beginn des Jahres 2009 (einschließlich der neuen bolivianischen Verfassung) 267 Artikel. Nachdem lange Zeit Kolumbien und Honduras mit 372 bzw. 379 Artikeln die Spitzenreiter waren, wer­ den sie mitlerweile von den neuen Verfassungen von Bolivien und Ecuador übertrofen, die 411 bzw. 444 Artikel aufweisen. Es stellt sich die Frage, was sich hinter dieser Aublähung gerade der neuesten Verfassungen ver­ birgt – notwendige Anpassungen an ein veränder­ tes gesellschatliches Umfeld oder symbolische Po­ litik? Nach einer positiven Interpretation dienen Verfassungsänderungen (insbesondere die Verab­ schiedung neuer Verfassungen) als Instrumente po­ litischer Mobilisierung, wenn die Politik an Bedeu­ tung und Stellenwert für die Bürger verloren hat (Garreton 2007). Nach Meinung von Klaus Mesch­ kat (2008) kann die Diskussion über eine Verfas­ sung ein Moment gesellschatlicher Mobilisierung und Bewusstwerdung sein. Der Text der neuen Ver­ fassung wird dann als ständige Auforderung gese­ hen, die Verfassungsbestimmungen in gesellschats­ verändernde Politik umzusetzen. Die Washington Post (February 17, 2009, A01) titelt folgerichtig „Latin America’s Document­Driven Revolutions“. Kritiker sprechen im Hinblick auf die Vielzahl von Verfassungsreformen in Lateinamerika von einer „reformitis constitucional“ (Gomez 2008) oder einem Reformfetischismus, dem naiven Glauben, allein durch eine Reform eine Dynamik für weitrei­ chende politische Veränderungen in Gang zu brin­ gen (Cifuentes 2007). Andere Autoren verweisen darauf, dass die eigentliche Herausforderung für Lateinamerika nicht darin bestehe, neue Verfas­ sungen zu verabschieden, sondern die geltenden konsequent umzusetzen und zu befolgen (Garzon Valdes 2000). Damit wird auf einen für viele latein­ amerikanische Staaten typischen Widerspruch hin­ gewiesen: Einerseits gibt es (zu) viele Gesetze und -- Schaubild 2: Lateinamerikanische Verfassungen: Verteilung nach der Zahl ihrer Artikel Zahl der Verfassungen 1990 000 009  ,  ,  ,  1, 1 0, 0 100-19 10-199 00-9 0-99 00-9 0-99 00-0 Zahl der Artikel Quelle: Zusammenstellung des Autors. Rechtsvorschriten sowie sehr detaillierte und um­ fassende Verfassungen, andererseits werden die Ge­ setze vielfach nicht befolgt. Dies mag erklären, war­ um die Verfassungen zuweilen eine Vielzahl unter­ schiedlichster politischer Rechte und Plichten ent­ halten, die häuig nur sehr schwer zu befolgen sind und im Widerspruch zu den sozialen und politischen Gegebenheiten des betrefenden Landes stehen. An­ dere Kritiker bezeichnen die neuen Verfassungen als „populistische Verfassungen“ (so der Historiker Alfonso W. Quiroz) oder „shopping list“, bei der gu­ te Wünsche mit Gesetzen vermischt werden (so der ehemalige Botschater Boliviens in den USA, Jaime Aparicio) (The Washington Post, 17.02.2009: A 01). In der Tat ähneln viele der neuen Verfassungen einem Wunschzetel. Ein Vorreiter war in dieser Hinsicht die kolumbianische Verfassung von 1991. Dort legt Artikel 22 fest, dass „Frieden ein Recht und eine Plicht ist, die zwingend befolgt werden muss“. Der blutige Konlikt zwischen Drogenma­ ia, Paramilitärs, Guerilla und staatlichen Sicher­ heitskräten sollte gleichwohl in den folgenden Jah­ ren andauern. Und Artikel 52 erkennt das Recht je­ der Person auf Erholung, auf Sport und auf den Genuss der Freizeit an. Ein ähnlicher Artikel (Art. 104) indet sich in der neuen bolivianischen Verfas­ sung von 2009. Dort heißt es: „Jede Person hat das Recht auf Sport, physische Kultur und Erholung. Der Staat garantiert den Zugang zum Sport ohne Ansehen des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen Ausrichtung, des Wohnsitzes, der so­ zialen, kulturellen oder sonstiger Zugehörigkeiten.“ GIGA Focus Lateinamerika /009 Auch die ecuadorianische Verfassung (Art. 24) ga­ rantiert den Bürgern das Recht auf Sport, Erholung und Freizeit. Sowohl die bolivianische als auch die ecuadorianische Verfassung verplichten den Staat, für ein „gutes Leben“ („vivir bien“ oder „buen vivir“) seiner Bürger zu sorgen. Eine Vielzahl an Artikeln versucht diese Verheißung genauer zu speziizieren oder um neue Versprechungen zu ergänzen. Was die Umsetzung betrit, bleiben jedoch viele Fragen ofen. Wie soll z. B. die Vorgabe in Artikel 18 um­ gesetzt werden: „Das Gesundheitssystem soll allge­ mein, kostenlos, gerecht, intrakulturell, interkultu­ rell sein mit Qualität, Wärme und sozialer Kontrol­ le“? Diese Art von Verfassungslyrik durchzieht den gesamten Verfassungstext Boliviens. Eine größere gesellschatsverändernde Wirkung könnte in Bolivien und Ecuador von derAnerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerung ausgehen; beide Staaten deinieren sich als „plurinacional“. Der Charakter der „Plurinationalität“ des Landes wird in Bolivien durch die Neubezeichnung zahlreicher Institutionen (Asamblea Legislativa Plurinacional, Tri­ bunal Constitucional Plurinacional etc.) nachdrück­ lich hervorgehoben. Die Verfassung geht durchge­ hend auf die besonderen Rechte und Anliegen der indigenen Bevölkerung ein. Demgegenüber wurde „Plurinationalität“ in Ecuador erst auf Druck des indigenen Dachverbandes CONAIE aufgenommen (Meschkat 2008). Die mit der Plurinationalität verbundene An­ erkennung der kollektiven Rechte indigener Völ­ ker birgt allerdings auch Konliktpotenzial und -- führt zu Umsetzungsproblemen. Im Falle Boliviens werden insgesamt 36 oizielle Sprachen anerkannt, davon sind drei bereits ausgestorben. Es wird von der gleichen Anzahl ethnischer Gruppen (naciones y pueblos) im plurinationalen Staat ausgegangen, von denen die Quechua mit fast drei Millionen die größte sind und die Pakawara gerade zehn Personen umfassen (Mesa 2009). Nicht erwähnt werden die 5,5 Millionen Bolivianer, die keiner ethnischen Gruppe zugehören. Die ethnischen Gruppen sollen ihre eigene Rechtsprechung plegen dürfen und un­ ter bestimmten Bedingungen eine eigene parlamen­ tarische Vertretung erhalten. Um ein öfentliches Amt bekleiden zu dürfen, müssen mindestens zwei der oiziellen Sprachen beherrscht werden. Auch die neue ecuadorianische Verfassung schützt die Rechte der indigenen Gemeinschaten, allerdings weniger umfassend. Spanisch bleibt die oizielle Landessprache. Kichwa und Shuar wer­ den als oizielle Sprachen in den interkulturellen Beziehungen anerkannt. Die übrigen Sprachen er­ halten nur in den jeweiligen Gemeinschaten, in de­ nen sie gesprochen werden, oiziellen Status. 5. Konstitutionalisierung von Politiken Viele lateinamerikanische Verfassungen deinieren nicht nur politische Rechte und die Grundregeln der Politik, sondern sie legen auch die Inhalte (policies) für bestimmte Politikbereiche fest. Deshalb kann ein Politikwechsel eine Verfassungsänderung notwen­ dig machen. Dies gilt besonders für Brasilien, trit aber auch auf andere Länder zu. Auch die neuen Verfassungen Ecuadors und Boliviens enthalten weitreichende Vorgaben für bestimmte Politikfelder. Dies ist einer der Erklärungen für die Länge beider Texte. Beide Verfassungen machen umfassende Vor­ gaben zur Rolle des Staates und zur staatlichen Politik in unterschiedlichsten Politikbereichen (vor allem in der Wirtschatspolitik). Damit sollen be­ stimmte politische Vorstellungen, hier die dominie­ rende Rolle des Staates in der Wirtschat, über die augenblickliche politische Mehrheitskonstellation hinaus in der Verfassung festgeschrieben werden. Dies impliziert aber auch, dass Politikwechsel in bestimmten Politikfeldern automatisch eine Ver­ fassungsänderung notwendig machen. Damit wird, wie der brasilianische Fall zeigt, eine Dynamik der Konstitutionalisierung von Politiken eingeleitet, d. h., die Grenzen zwischen der normalen Gesetzgebung und der Verfassungsgesetzgebung verwischen. GIGA Focus Lateinamerika /009 6. Mehr Demokratie wagen? Eine optimistische Sichtweise könnte in den Ver­ fassungsänderungen einen Indikator für die Bereit­ schat erkennen, die Funktionsweise der politischen Institutionen zu verbessern und die Demokratie auf ein stabileres Fundament zu stellen. Dazu ge­ hören Veränderungen der politischen Partizipati­ onsverfahren entweder durch Reformen des Wahl­ rechts oder durch die Einführung neuer Partizipati­ onskanäle (Mechanismen direkter Demokratie). Die Verfassung von Bolivien sieht die Abwahl (revocatoria) von Präsident, Abgeordneten und an­ deren Amtsinhabern vor. Auch sollen die Bürger Gesetzesinitiativen einbringen können (dies muss allerdings noch näher geregelt werden). Generell sol­ len die Partizipationsmöglichkeiten erweitert wer­ den (Art. 7, 11, 241, 242). Die Umsetzung wurde schon 2004 per Gesetz festgelegt (Ley marco de refe­ rendúm). Die ecuadorianische Verfassung ist im Hin­ blick auf die Partizipationsrechte der Bürger um­ fassender und detaillierter, Verfahren direkter De­ mokratie werden ausführlich beschrieben (Art. 103­ 106). Bereits 0,25 Prozent der Wahlberechtigten in der jeweiligen Jurisdiktion können ein Volksbegehren für eine Gesetzesinitiative einleiten. Um eine Verfas­ sungsreform zu initiieren reicht 1 Prozent der Wahl­ berechtigten aus. Ein Volksentscheid kann von 5 Pro­ zent der Wahlberechtigten auf nationaler Ebene und 10 Prozent im lokalen Bereich initiiert werden. Außer im ersten und im letzten Amtsjahr können 10 Prozent der Wahlberechtigen die Abwahl der In­ haber von Wahlämtern (im Falle des Präsidenten 15 Prozent) fordern, über die dann nachfolgend in einem Referendum entschieden wird. Während Verfahren der direkten Demokratie von unten (Volksbegehren, Volksentscheid) in La­ teinamerika trotz Verankerung in den Verfassungen bisher relativ selten zur Anwendung gekommen sind, gilt dies nicht für Referenden die von oben, d. h. in der Regel durch den Präsidenten, eingeleitet wurden. Diese stärken tendenziell den Präsidenten gegenüber dem Parlament und sind die Grundlage für einen plebiszitären Regierungsstil (Breuer 2007). Beide Verfassungen enthalten plebiszitäre Elemente. So kann der Präsident in Ecuador nach Artikel 104 ein Referendum über ein Gesetz ansetzen. In Bolivien ist diese Möglichkeit zwar nicht direkt in der Verfassung festgeschrieben, aber nach der seit 2004 geltenden Gesetzgebung gleichfalls möglich. Der Mechanismus der Abwahl von Amtsinhabern (die meisten Initiativen scheiterten) hat in politisch -- schon polarisierten Gesellschaten nicht zu einer Befriedung beigetragen. Problematisch sind auch andere Verfassungs­ vorgaben. So soll in Bolivien das Oberste Gericht zuküntig auf Vorschlag des Parlaments direkt vom Volk gewählt werden (auf sechs Jahre ohne Wie­ derwahl). Zum einen sind Zweifel angebracht, ob die Bürger kompetent über die Zusammensetzung der Gerichte entscheiden können, zum anderen be­ steht das Risiko einer noch stärkeren Politisierung der Justiz. In Ecuador wurde ein neuartiger „Rat der Bürgerpartizipation und Sozialen Kontrolle“ (Consejo de Participación Ciudadana y Control Social) geschaf­ fen, dessen Auswahl nach der Verfassung nicht klar deiniert ist, dem aber vielerlei Kompetenzen im Hinblick auf die Besetzung von Leitungspositionen in Kontrollorganen (z. B. Aufsichtsbehörden, Staats­ anwaltschat, Wahlgericht, Justizrat) zukommt. Da­ mit wird tendenziell die Position des Parlaments ge­ schwächt und die des Präsidenten gestärkt, soweit er die Zusammensetzung des Gremiums beeinlus­ sen kann. 7. Instabile Verfassungen Die Verfassungen Ecuadors und Boliviens eröfnen vielerlei Möglichkeiten, Verfassungsänderungen zu initiieren. Dies kann von Politikern zur Ablenkung von realen Problemen, zur Proilierung oder zur Kanalisierung von Unzufriedenheit gegen die Regie­ rung oder von Seiten der Präsidenten als plebiszi­ täres Instrument zur Mobilisierung von Rückhalt eingesetzt werden. So kann beispielsweise in Bolivien eine verfassunggebende Versammlung durch ein Volksbegehren (20 Prozent der Wahlberechtigten), die absolute Mehrheit der Senatoren und Abgeordneten oder den Präsidenten einberufen werden. Die neuen Verfassungen versprechen nicht mehr, sondern weniger institutionelle Stabilität. Insofern sollte vielleicht der bereits erwähnte Rat von Ernesto Garzón Valdés (2000: 78) beherzigt werden: „ [...] das Problem im Hinblick auf das Verhältnis zwi­ schen Verfassung und Demokratie in Lateinamerika besteht nicht so sehr in der Verabschiedung neuer Verfassungen, sondern in der efektiven Anwendung der bereits bestehenden. [...] Dies ist ein ökono­ mischerer und moralisch ehrlicherer Weg als das wiederholte Zusammentreten verfassunggebender Versammlungen“ (Übersetzung D. N.). GIGA Focus Lateinamerika /009 Literatur Breuer, Anita (2007): Institutions of Direct Democracy and Accountability in Latin America’s Presidential Democracies, in: Democratization, 14:4, S. 554­579. Cifuentes, Eduardo (2007): Entrevista. Reformas constitucionales e institucionalidad en América Latina, Voltairenet, 28.06., www.voltairenet.org/ article149540.html. 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Gordin der Frage nach, welche Ursachen und Faktoren für die überdurchschnitlich vielen Verfassungsänderungen in Lateinamerika in der Demokratieperiode seit 1978 ausschlagend sind und wie sich Umfang, Frequenz und Inhalte der Verfassungsänderungen auf die Demokratieentwicklung des Kontinents und das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen auswirken. Das Forschungsprojekt fügt sich in die Diskussion über den Institutionenwandel in neuen Demokratien ein und stellt gleichzeitig einen Bezug zur Forschung über den Verfassungswandel in etablierten Demokratien her.  GIGA-Publikationen zum Thema Buitrago, Miguel (2007): Boliviens neue Verfassung – ein Land vor der Zerreißprobe, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 12. Buitrago, Miguel (2007): El Proceso constitucional boliviano: dos visiones de país, in: Iberoamericana, Nr. 26, S. 189­196. Bünte, Marco (2008): Myanmar: Autoritarismus im Wandel, in: Südostasien aktuell, Nr. 2, S. 75­88. Huhle, Rainer (2008): Verfassungskrise in Kolumbien? Der Streit zwischen Präsident und Justiz eskaliert, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 10. Jost, Stefan (2008): Bolivien: Politische Neugründung in der Sackgasse, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 7. Mähler, Annegret (2008): Wie autoritär ist Lateinamerika?, GIGA Focus Lateinamerika, Nr. 8. Nabers, Dirk (2007): 60 Jahre japanische „Friedensverfassung“; Japan aktuell, Nr. 3, S. 35­42. Nabers, Dirk (2007): Japan diskutiert Abkehr von der „Friedensverfassung“, GIGA Focus Asien, Nr. 5. Fürtig, Henner (2007): Verfassungsreferendum in Ägypten: Meilenstein oder Mogelpackung?, GIGA Focus Nahost, Nr. 3. Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden <www.giga-hamburg.de/giga-focus> und darf gemäß den Bedingungen der Creative Commons-Lizenz Attribution No-Derivative Works 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-nd/3.0/de/deed.en> frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere: korrekte Angabe der Erstveröffentlichung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost und zu globalen Fragen heraus, die jeweils monatlich erscheinen. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertretenen Auffassungen stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge verantwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. 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