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Zeit, Erinnerung und Geschichte

2014

Zeitmessung beruht auf kosmischen Ereignissen, Zeitwahrnehmung kann auch über biologische Veränderungen erfolgen. Die Kontrolle der Zeitmessung ist mit politischer und wirtschaftlicher Macht verbunden. Ob und inwieweit Zeitwahrnehmung gesellschaftlich bedingt ist (lineare vs. zyklische Zeit), ist umstritten. Zeitmessung und Zeitverlaufsvorstellungen sollten hier auseinandergehalten werden. In bestimmten Gesellschaften wird die Erinnerung an die Vergangenheit organisiert und institutionalisiert, zum Beispiel als Geschichtsschreibung. Im zweiten Teil des Artikels diskutiere ich die Verbindung von Artefakten/Monumenten, kollektiver Erinnerung und Geschichtsbewußtsein, sowie die diesbezüglichen Erkenntnismöglichkeit der Archäologie auf verschiedene Zeitskalen.

Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Zeit, Erinnerung und Geschichte Ulrike Sommer Zitiervorschlag Ulrike Sommer. 2014. Zeit, Erinnerung und Geschichte. In Sabine Reinhold und Kerstin P. Hofmann, Hrsgin.: Zeichen der Zeit. Archäologische Perspektiven auf Zeiterfahrung, Zeitpraktiken und Zeitkonzepte (Themenheft). Forum Kritische Archäologie 3: 25–59. URI http://www.kritischearchaeologie.de/repositorium/fka/2014_3_6_Sommer.pdf DOI 10.6105/journal.fka.2014.3.6 ISSN 2194-346X Dieser Beitrag steht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitung) International. Sie erlaubt den Download und die Weiterverteilung des Werkes / Inhaltes unter Nennung des Namens des Autors, jedoch keinerlei Bearbeitung oder kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen zu der Lizenz finden Sie unter: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de. Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Zeit, Erinnerung und Geschichte Ulrike Sommer Institute of Archaeology, University College London, 31–34 Gordon Square, London WC1H 0PY, United Kingdom. u.sommer[AT]ucl.ac.uk Zusammenfassung Zeitmessung beruht auf kosmischen Ereignissen, Zeitwahrnehmung kann auch über biologische Veränderungen erfolgen. Die Kontrolle der Zeitmessung ist mit politischer und wirtschaftlicher Macht verbunden. Ob und inwieweit Zeitwahrnehmung gesellschaftlich bedingt ist (lineare vs. zyklische Zeit), ist umstritten. Zeitmessung und Zeitverlaufsvorstellungen sollten hier auseinandergehalten werden. In bestimmten Gesellschaften wird die Erinnerung an die Vergangenheit organisiert und institutionalisiert, zum Beispiel als Geschichtsschreibung. Im zweiten Teil des Artikels diskutiere ich die Verbindung von Artefakten/Monumenten, kollektiver Erinnerung und Geschichtsbewußtsein, sowie die diesbezüglichen Erkenntnismöglichkeit der Archäologie auf verschiedene Zeitskalen. Abstract The measurement of time is based on cosmic events. The perception of passing time can also be based on biological changes. The control of time–keeping is connected to political and economic power-structures. The nature and degree of the social determination of the perception of time (linear vs. cyclical time) has been hotly contested, but it is important to keep time–measurement and ideas about the nature and passing of time separate. In certain societies, the recollection of the past is becoming organised, for example as historiography. In the second part of the article I discuss the connection between artefacts, monuments, collective memory and historical consciousness, as well as the chances of elucidating these concepts archaeologically on different levels of chronological resolution. Schlüsselwörter Zeit, Erinnerung, Geschichte, Geschichtsbewußtsein, kollektive Erinnerung, Wiederbenutzung Keywords Spirit of times, Time, memory, history, historical consciousness, collective memory, re-use 25 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Einleitung1 culturally specific but as automatically applicable to the entirety of humanity, past or present“ (Shanks und Tilley 1987: 32f.). Diese Aussage markiert eine diskursive Grenze: zwei theoretische Systeme prallen aufeinander – oder rutschen vielmehr aneinander vorbei. Für die Diskursant_innen diesseits der postmodernen Wasserscheide ist die Behauptung unsinning, für diejenigen jenseits derselben selbstverständlich. Denn Shanks und Tilley behaupten, die bisher gängige Definition und Erfahrung von Zeit sei nicht universell gültig, sondern historisch kontigent. Zeit ist eines der Kernkonzepte der Archäologie, sind Archäolog_innen doch vor allem damit beschäftigt, Funde und Befunde zu datieren, ihnen also einen Entstehungs- und Nutzungszeitraum zuzuweisen. Über das Thema Zeit selbst wird jedoch nur selten reflektiert (Leone 1978; Bailey 1987; Shanks und Tilley 1987; Gosden 1994; Murray 1999; Karlsson 2001; Lucas 2005; Holdaway/Wandsnider 2008), besonders deutsche Beiträge zum Thema fehlen weitgehend. Handelt es sich dabei um den klassischen blinden Fleck im Zentrum einer Disziplin? Auch über seine zentrale Methode, die Ausgrabung, reflektiert das Fach schließlich erstaunlich selten – man tut es eben. Oder sind Archäolog_innen weniger an der Zeit an sich interessiert, als an Abfolgen – die Gleichzeitigkeit oder das Nacheinander von Verzierungs- und Baustilen oder archäologischen Kulturen? Um die nicht beantwortbare ontologische Frage „was ist Zeit“ zu umgehen und das Problem besser einzugrenzen, soll hier zunächst mit den Fragen „wie wird Zeit wahrgenommen“ und „was macht/ bewirkt Zeit“ gearbeitet werden (vgl. Durkheim 1912). Im folgenden werde ich daher zunächst versuchen, die Ebenen der Zeitwahrnehmung genauer zu gliedern, soweit dies für die Archäologie relevant ist. Das führt zu der Frage, wie Zeit unterteilt wird, und wie natürwüchsig ‚unsere‘ Zeitwahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Dies leitet über zum dritten Thema dieses Artikels: die Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und der Umgang mit dieser Vergangenheit, insbesondere die Verbindung von Zeitwahrnehmung mit dem Bewußtsein von Zeiträumen, die über die Erfahrung des Einzelnen hinausgehen. Die Weitergabe von Wissen über Generationen hinweg ist die Basis menschlicher Kultur überhaupt, und eine Auseinandersetzung mit ‚der‘ ‚Vergangenheit‘ scheint in allen Kulturen stattzufinden. Geschichtswissenschaft und Archäologie sind aber in der Tat für den Hoch- und Spätkapitalismus spezifisch. Ob und wie Vergangenheit in der schriftlosen ‚Vorzeit‘ wahrgenommen wurde oder werden konnte, soll am Ende dieses Beitrages kurz diskutiert werden und ist Thema weiterer Artikel in diesem Band. Bis 1960 – wegen der langsamen Anerkennung der 14C-Datierungsmethode teilweise sogar noch wesentlich länger – war in der Vorgeschichtsforschung keine absolute Datierung möglich. Man datierte über formale Ähnlichkeiten. Wie in der Kunstgeschichte seit langem anerkannt, müssen gleiche Stilphasen jedoch nicht synchron sein (Kubler 1962: 120), so ist eine Zeitverschiebung zwischen Zentrum und Peripherie wahrscheinlich, aber auch das Ausmaß sozialer Kontrolle (Frirdich 1994; Mattheußer 1994) oder der Kommunikationsintensität kann Innovationsausbreitung (Eisenhauer 2002) und damit den Zeitpunkt eines Stilwechsels determinieren. Solche Ungleichzeitigkeiten (Bloch 1935) und mit ihr die Dynamik und eventuell auch die Auslöser von Kulturwechsel lassen sich jedoch nur durch den Vergleich stilistischer und absoluter Daten, Kublers (1962: 98) „systematic“‚ und „calendrical age”, erkennen (vgl. z. B. Kerig und Shennan 2010). Hat sich aber das Fach den durch absolute Datierungsmethoden veränderten Interpretationsmöglichkeiten wirklich angepaßt? Zeit Die Behauptung, es gebe mehrere Arten von Zeit, in der Ethnographie seit langem diskutiert (z. B. Leach 1961; Bloch 1977), wurde seit den späten 1980er Jahren in der postprozessualen/kritischen Archäologie beliebt und begleitete auch die postkoloniale Wende. Michael Shanks und Christopher Tilley behaupteten 1987, vielleicht durch Louis Althusser (1968) beeinflußt, dass in der Archäologie „Capitalism’s chronometric time is regarded not as 1 Zeitdauer und Zeitmessung Seit 1967 wird die Zeitdauer über die Atomschwingungen von Caesium definiert. In einer Sekunde schwingt ein 133Caesium-Atom 9.192.631.770 mal. Diese Atomzeit ist kontextunabhängig, auf der Erde und überall im Weltall ist die Periodizität dieselbe, und sie ändert sich auch im Zeitverlauf nicht. Traditionell war das Zeitmaß jedoch bestimmt durch astonomische Perioden, wie die Erdrotation Ich danke den Herausgeberinnen und den anonymen Gutachter_innen für zahlreiche weiterführende Hinweise und hilfreiche Kritik. 26 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit (Tag bzw. Kombination aus Tag/Nacht), die Rotation des Mondes um die Erde (Monat) sowie der Erde um die Sonne (Jahr, Jahreszeiten), die Rotation der Planeten, besonders der Venus um die Sonne, und das kosmische Jahr, die Rotation des Sonnensystems um das Zentrum der Milchstrasse. Dies alles sind lokale, für die Erde spezifische Gegebenheiten. Die Erdrotation ändert sich zudem mit der Massenverteilung (Gebirge, Gletscher etc.), auch die Topographie, Gezeiten und klimatische Gegebenheiten (Jetstream) haben einen Einfluß. Die natürliche Tageslänge variiert so zum Beispiel mit den Jahreszeiten (Abb. 1). Zudem wird die Erdrotation durch Atmosphäre und Gezeiten gebremst, die natürlichen Stunden und Sekunden werden damit zunehmend länger. Planeten ganz ohne oder im Gegenteil mit mehreren Trabanten oder einem beständig bewölkten Himmel, der die Beobachtung des Firmaments unmöglich macht. Die Bewegungen von Himmelskörpern lassen sich auf einer Intervallskala darstellen, die daraus abgeleiteten Zeiteinheiten jedoch nicht immer, was durch die Unvereinbarkeit verschiedener Skalen (z. B. Monate und Jahre) oder die unterschiedliche Länge von Tag und Nacht im Jahresverlauf in den höheren Breiten bedingt ist. Wurden Tag und Nacht in jeweils 12 Stunden eingeteilt, wie in der Antike, im Mittelalter und den meisten nicht-industriellen Gesellschaften, führte das zu einer unterschiedlichen Stundenlänge in Sommer und Winter. Damit mußten mechanische Zeitmesser an diese jahreszeitlichen Veränderungen angepaßt werden (Allen 1996: 163; Armstrong und McK. Camp II 1977: 159–161; Sauter 2007: 691f.). Zeit-Einheiten wie z. B. Stunden im sumerischen Hexadezimalsystem und Wochen (Mondphasen) sind von der astronomischen Zeitskala abgeleitet, aber nicht zwingend vorgegeben. Auch Änderungen der Vegetation oder Phänomene wie Gezeiten, die einen zeitlichen Rhythmus vorgeben, werden durch die Bewegung von Erde, Sonne und Mond hervorgerufen. In den feuchten Tropen ist beispielsweise aber Ackerbau nicht an den Jahresrhythmus gebunden, in Indonesien gibt es momentan etwa drei Reisernten in zwei Jahren, Bäume und andere Lebewesen bilden keine Jahresringe aus. Auf einem Planeten ohne Achsneigung hätten sich vermutlich auch andere Zeiteinteilungen entwickelt, gleiches gilt für einen Die Periodizität der verschiedenen Himmelskörper ist ebenfalls nicht gleichartig. Tage, also die Erdrotation gegenüber der Sonne (Sonnenzeit) oder dem Firmament (Sternzeit), Monate (Mondzyklus) und Jahre (Rotation der Erde um die Sonne) sind nicht deckungsgleich. Zwölf Monate sind etwa elf Tage kürzer als ein tropisches Sonnenjahr (Hannah 2009: 38). Nach 34 Jahren ist das Mondjahr demnach einmal durch das Sonnenjahr gewandert. Aber Abb. 1 Änderung der natürlichen Tageslänge im Jahresverlauf (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abweichung_der_ Tagesl%C3%A4nge_vom_SI–Tag_.svg, zuletzt geöffnet am 20.3.2013). 27 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit auch ohne den Mond als Störfaktor ist keine einfache Übereinstimmung herbeizuführen2. Im Jahr 2000 dauerte ein tropisches Jahr z. B. 365 Tage, 5 Stunden, 48‘, 45‘‘, ein siderisches Jahr (Sternenjahr) dagegen 365 Tage, 6 Stunden, 9‘ 10‘‘. Damit sind für jeden Kalender regelmäßige Eingriffe, z. B. Schaltstunden und Tage nötig, um die anhand der Himmelskörper gezählte Zeit mit den über die Vegetation wahrgenommenen Jahreszeiten und Fixpunkten, wie Tag- und Nachtgleichen, über längere Zeiträume zu synchronisieren. logischen, biologischen (Knochenwachstum, Fortpflanzungsfähigkeit) oder wahrgenommenem Alter (Aussehen, Selbstwahrnehmung) übergeordnet. Die individuelle Wahrnehmung von Zeitdauer ist nicht zwingend an das Verstreichen fester und gleichartiger Zeiteinheiten gebunden (vgl. Gardner 2012, 151-152), umgekehrt entspricht die abstrakte und meßbare Zeit nicht unbedingt der persönlichen Wahrnehmung – Zeit vergeht ‚wie im Fluge‘ oder ist ‚wie Blei‘. Edmund Leach (1961: 133) weist darauf hin, dass in nicht-industriellen Gesellschaften oft die im Jahresverlauf anfallende Arbeit die Zeitwahrnehmung bestimmt, weniger die absolut verstrichene Zeit. Ohne künstliche Beleuchtung und äußere Zwänge scheinen Menschen z. B. im Winter länger zu schlafen als im Sommer (Kohsaka u. a. 1992); für die Nuer vergeht die Zeit in der Regenzeit langsamer als in der Trockenzeit (Evans-Pritchard 1939: 204). Auch das Ausmaß gesellschaftlicher Veränderungen und persönlicher Aktivitäten kann für die Zeitwahrnehmung eine Rolle spielen (Flaherty u. a. 2005). Nicht alle Sprachen haben jedoch Wörter für ‚Jahr‘ oder ‚Monat‘ (z. B. Schieffelin 2002: 10), die Bedeutung und Verbreitung von Zeitmessung über die Bewegung von Himmelskörpern sollte also nicht überschätzt werden. Zudem können kürzere Zeiteinheiten auch über Prozesse definiert werden, die von der Bewegung der Himmelskörper nicht direkt abhängig sind, wie z. B. die Gärung und die Reifung von (gutem) Bier in sieben Tagen bei den Tiv in Nigeria (Bohannan 1953: 257). Auf Ellis McTaggart (1908) geht die Unterscheidung der Beschreibung von Zeit in die A- und BSerie zurück. Die A-Serie (Präsentismus) beschreibt den Zeitverlauf mit den Konzepten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die B-Serie (Eternalismus) beschreibt den Zeitverlauf dagegen als Abfolge von Ereignissen (McTaggart 2008: 22). McTaggart kommt zu dem Schluß, daß Zeit nicht real ist. Zeitwahrnehmung Körperliche Rhythmen und Veränderungen zeigen ebenfalls das Verstreichen der Zeit an.3 Erstere sind jedoch unterschiedlich stark standardisiert (zirkadischer Rhythmus, Menstruation) und zudem ungleich über den Lebenszeitraum verteilt. Körperliche Veränderungen sind in der Jugend am stärksten (Größenwachstum etc.) und scheinen dann im Erwachsenenalter eine Zeitlang stillzustehen, bis die Alterung einsetzt4. Die unterschiedlich wahrgenommene Zeit in den verschiedenen Lebensaltern – in der Kindheit vergeht die Zeit langsamer – kann sogar biologische Grundlagen haben (Leach 1961: 133). Kulturelle Klassifizierungen, wie der Status als Kind, Erwachsene(r), Vater/Mutter eines Kindes, Alte(r) und Greis(in) oder nach Altersklassen und Familienstand sind jedoch oft dem chrono2 Wobei die unterschiedliche Mondperiode nur dann zum Störfaktor wird, wenn eine exakte Zählung der Perioden durchgeführt wird. Die Nuer etwa passen die Mondperioden einfach dem phänologisch erkannten ‚richtigen’ Monat im Jahr an (Evans-Pritchard 1939: 201). Auf Bali, wo exakte Tageszählung wichtig ist, weil bestimmte Tage unter guten oder schlechten Vorzeichen fallen, ist dagegen der Vollmond nicht unbedingt rund, aber „…they do not … seem to be unduly worried about this.“ (Howe 1981: 227). Auch die Athener unterschieden zwischen dem wirklichen und dem ‚bügerlichen’ Neumond (Allen 1991: 161). 3 Sie können auch als zeitliche Fixpunkte dienen (Bird und David 2004: 415). 4 Vgl. Evans-Pritchard 1935: 211. Zeitverlauf 1 Ereignisse werden durch die Begriffe vorher und nachher geordnet. Inwieweit die Unterscheidung von Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft (John McTaggarts A-Serie, perdurantistische Sichtweise, vgl. z. B. McLure 2005: 139–164) universell (Gell 1992: 149–174) und nicht durch die grammatische Struktur bestimmter Sprachen bedingt ist (vgl. Le Goff 1999 [1977]: 29–32; Kasabova 2008: 333f.), bleibt zu klären. Sprachen wie Deutsch, Englisch und Französisch kennen zudem mehrere grammatikalische Formen für die Vergangenheit, im Deutschen etwa Perfekt (vollendete Gegenwart), (Präteritum (unvollendete Vergangenheit), Imperfekt (Vergangenheit) und Plusquamperfekt (vollendete Vergangenheit), Sprachen wie das Türkische können zeitliche Beziehung und Verhältnisse der Dauer grammatikalisch noch wesentlich feiner abbilden. Dies bezieht sich zunächst auf die persönliche Vergangenheit und deren Bezug zur Gegenwart. Wie Jan Vansina 28 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit (1985: 21–24) und Jan Assmann (1992: 66–86) herausgestellt haben, unterscheiden viele traditionelle Gesellschaften aber außerdem zwischen der selbst oder durch Zeitgenossen erinnerten Vergangenheit und einer mythischen Urzeit, der Zeit der heroischen Ahnen, Traumzeit oder goldenem Zeitalter. Auch in unserer eigenen Erfahrung besteht ein Unterschied vor allem zwischen der selbst erlebten Vergangenheit, der Vergangenheit, die von Zeitgenoss_innen beschrieben wird, der schriftlich fixierten Geschichte und der Vorgeschichte. schen vier Jahreszeiten in den gemäßigten Breiten, in Ägypten die Nilflut, welche die drei Jahreszeiten von Überschwemmung, Hervortreten und Trockenheit vorgab (Hannah 2009: 44), Regenzeit und Trockenzeit im Sudan (Evans-Pritchard 1939: 190) und vorherrschende Winde wie der Monsum in Indien, die griechischen Anemoi oder der Harmattan in Westafrika (Bohannan 1953: 254) gliedern den Jahresverlauf, geben aber nicht unbedingt einen Jahresbeginn vor. Auch die Migrationen bestimmter Tierarten können als Fixpunkte dienen, wie Ankunft oder Abflug von Störchen, Schwalben oder Schnepfen in Mitteleuropa, das Schwärmen des Herings auf Sachalin (Ohnuki-Tierney 1973: 288) oder des Paiolo-Wurms auf den Torres-Inseln (Mondragón 1994: 291). Diese Vorgänge sind zwar periodisch, aber nicht exakt zeitlich fixiert. Auch der Beginn des Monsums oder die Nilflut liefern einen klaren Fixpunkt innerhalb des Jahres, der freilich nicht immer auf das gleiche siderische Datum fällt. In Mitteleuropa fehlt ein vergleichbar deutliches und räumlich weit verbreitetes Signal, etwa für den Beginn des Frühlings. Zeitverlauf wird in Metaphern der Bewegung beschrieben, wie ‚Fluß der Zeit‘ und ‚Fortschritt‘ (vgl. Gold 1965), und ist damit von der axialen Symmetrie des Wirbeltierkörpers und den nach vorne gerichteten Augen bestimmt, die eine klare räumliche Unterscheidung zwischen ‚vorwärts‘ und ‚rückwärts‘ vorgeben. Intelligente Seesterne oder Oktopoden würden vermutlich mit anderen Zeitbegriffen arbeiten. Zeitbegriffe, also die Art, wie Zeit beschrieben wird, haben einen unmittelbaren Einfluß darauf, wie geschichtliche Narrative konstruiert werden, in denen Zeit als kausativer Faktor dient. Sonnenauf- und -untergang geben Tag und Nacht klare Grenzen. Kosmische zeitliche Fixpunkte, wie Sonnenwende und Equinox, können aber nur durch eine systematische Himmelsbeobachtung unter Nutzung von Fixpunkten erkannt werden, das gleiche gilt für die Bewegung von Planeten und Sternen wie dem Sirius (Hannah 2009, Kapitel 2). Mit Ausnahme von Sonnenauf- und -untergang und der Mondphasen sind für die Bestimmung der meisten kosmischen Rhythmen Instrumente notwendig – Sonnenuhren, Markierungen des Sonnenstandes, Astrolabien usw.5 Die Existenz von Kalendern und Kalenderbauten seit dem Paläolithikum wird immer wieder behauptet (z.B. Marshak 1972; Schmidt-Kaler 2008; Coolidge und Overmann 2012: 207, für die Bronzezeit s. etwa Thom u. a. 1988; Menghin 2008), ist jedoch umstritten (Rosenstock in diesem Band). In der Moderne wird Zeit gewöhnlich als linear und unumkehrbar erfahren. Dagegen ist der Zeitpfeil der Newtonschen Physik prinzipiell umkehrbar (Price 2011). Ob die Zeit Anfang und Ende hat, ist sowohl in der Physik (Urknall) als auch vielen Religionen umstritten. Manche Religionen nehmen zudem Wesen an, die ganz oder teilweise außerhalb der Zeit stehen (Götter, Buddhas, Engel bei Thomas von Aquin) bzw. einen zeitlosen/überzeitlichen Zustand, an dem auch Menschen bzw. deren Seelen teilhaben können (Ewigkeit, Nirwana). Zeitmessung Zeitmessung beruht auf periodisch wiederkehrenden Ereignissen (vgl. Leach 1961: 125), mit denen Zeiteinheiten – Tag und Nacht, Monate, Jahreszeiten, Jahre, Bewegungen von Planeten – definiert werden. Die verstrichene Zeit kann so als die Zahl von Ereignissen nach einem willkürlich festgesetzten Fixpunkt angegeben werden (Stunde der Nacht, Olympiaden, ab urbe condita, Regierungsjahre eines Herrschers/ Herrscherin, Seleukidische Ära, Indiktion, Jahre nach der Passion Christi etc.). Zeitmessung kann aber auch für sehr unterschiedliche Zeiträume durchgeführt werden. Menstruationskalender etwa beweisen nicht unbedingt die Existenz von (historischer) Chronologie oder Kalenderwesen; symbolische Zählsysteme sind, wie das Beispiel des Kerbholzes zeigt, nicht unbedingt an Schriftlichkeit gebunden, sie können aber am Anfang der abstrakten Schriftentwicklung stehen (Schmandt-Besserat 1992). Außerhalb der Tropen ist der Jahresverlauf durch die Witterung und die dadurch bedingte Vegetationsänderungen fast immer klar zu erkennen. Die klassi- 5 29 Auch Reiskörner, Hüte (Isler 1991: 156), Stäbe und der eigene Körper (Allen 1991: 165) konnten zur Messung eingesetzt werden. Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Zeiteinheiten werden oft nicht gezählt, sondern benannt: Monatsnamen bezeichnen ackerbauliche Gegebenheiten (Johnston 1963), ‚Wochen‘tage heißen z. B. nach dem Ort, an dem an diesem Tag ein Markt stattfindet (Bohannan 1953: 255), Jahre wurden entweder nach eponymen Beamten wie z. B. in Aššur (Millard 1994), Griechenland und Rom (Mosshammer 2008: 11–113), oder nach aus der Sicht des Herrschers oder der Herrscherin herausragenden Ereignissen benannt („…7. Jahr: Der König d Damiq–ilišu hat den ‚dDamiq–ilišu–Kanal‘ graben lassen.“, Prang 1975: 153), wie in Neusumerischer und Kassitenzeit in Mesopotamien (Schmidtke 1952; Horsnell 2004 etc.). Wie Shanks und Tilley (1987) betont haben, ist ‚Zeitmessung‘ gewöhnlich mit Herrschaft verbunden. Selten waren Kalender vor der Moderne über die oft kleinräumigen politischen Grenzen hinaus synchronisiert (z.B. Mosshammer 2008: 23f.; Salt und Boutsikas 2005; Bohannan 1953: 255f.; EvansPritchard 1939: 201f.).Eine solche Synchronisation war teilweise sogar politisch unerwünscht (Allen 1996: 161–162) und auch nur bedingt notwendig. In einigen Ökotopen mag Zeitmesssung notwendig sein, um erfolgreich Ackerbau zu betreiben (vgl. Nilflut)7, in den meisten Klimazonen reichen aber einfache Umweltbeobachtungen (Bauernregeln etc.) aus, um zum Beispiel den Zeitpunkt der Aussaat oder Ernte zu wählen8; diese ackerbaulichen Aktivitäten werden ihrerseits zur Zeitbestimmung genutzt (z. B. Bohannan 1953: 254f.). Dagegen trägt die Synchronisation von Feiern über große Entfernungen zur Aufrechterhaltung ethnischer oder religiöser Identität bei, erinnert sei nur an die großen griechischen Feste, dem Ende des Ramadan oder die Bedeutung des Osterdatums in den christlichen Kirchen (Mosshammer 2008; Zerubavel 1982). Die Zählung der verstrichenen Zeiteinheiten verlangt bei einem solchen System Aufzeichnungen. Um eine Chronologie aus Jahresnamen zu erstellen, waren Listen und Annalen notwendig. Manchmal wurden solche Nominal- und Intervallskalen auch kombiniert – „die 99. Olympiade, also diese, in der Dikon von Syrakus das Wettrennen gewann“ (Plutarch, Aristeides 19.7, nach Feeney 2007: 10) –, was anzeigt, dass alleine die abstrakten Nummern für den/die Leser_innen/Hörer_innen kaum Orientierung boten. Erscheint es uns kaum möglich, sich die Abfolge von Eponymen oder Konsuln zu merken, verbanden diese sich für die Zeitgenoss_innen mit der Erinnerung an ganz bestimmte politische Konstellationen und Ereignisse. Die Abfolge neuassyrischer Eponymen folgte weitgehend festen Regeln (Millard 1994). Denis Feeney (2007: 16) weist darauf hin, dass auch die römische Oberklasse der republikanischen Zeit sich und ihre Zeitgenossen über den cursus honorum sehr genau einordnen konnten, und dass der Name bestimmter Konsuln ein exaktes stratifiziertes Beziehungsnetzwerk ins Gedächtnis rief. Jahresnamen und Eponymen beinhalten also bereits eine Zeitdeutung und geben eine bestimmte Struktur des kollektiven Gedächtnisses vor; die Erinnerungen der herrschenden Klasse wurden systematisch privilegiert, genauso wie eine Zeitzählung nach Altersklassen ein Geschlecht privilegiert. Staatlich organisierte Gesellschaften hingegen benötigen eine homogenisierte Zeitmessung, um in festgesetzen Abständen Abgaben zu erheben, Zwangsarbeiter einzuziehen und den Masseneinsatz von Arbeitern und Soldaten zu koordinieren. Die Kontrolle über die Zeit konnte durch ‚öffentliche‘ Uhren wie die Klepsydra auf der Athener Agora (Allen 1996) oder die Sonnenuhr des Augustus (Buchner 1982) sichtbar gemacht werden. Zeitmessung zeigt Herrschaft an (Greenhouse 1996: 22). Politischen Umstürzen wie der Französische Revolution (Zerubavel 1977), der Oktoberrevolution oder der Gründung der türkischen Republik folgen oft Kalenderreformen. Zinsen sind seit spätestens der Ur III-Zeit bekannt (Steinkeller 1981: 140; Hudson 2000: 133), ihre Berechnung setzt ebenfalls die Existenz einer genauen und allgemein akzeptierten Zeitzählung voraus. Nicht immer werden aus solchen Jahresnamen jedoch chronologische Systeme erstellt. Die Nuer bezeichneten Jahre nach wichtigen Ereignissen oder dem Ort des Sommerlagers und konnten meist auch eine Reihenfolge herstellen, übersetzten dies aber nicht oder nur auf Drängen des Ethnographen in eine ‚Zählung‘ von Jahren (Evans-Pritchard 1939)6. 6 Mit dem Beginn der kapitalistischen Wirtschaftsweise wurde die Arbeitszeit zur Basis der Entlohnung, und eine immer feinere Zeitmessung setzte In anderen Gesellschaften kann dagegen die Reihenfolge solcher Jahre von den Stammesältesten erinnert und zur absoluten Zeitbestimmung genutzt werden, z.B. bei den Arapaho (Anderson 2011: 340). 30 7 Gerade im Alten Ägypten allerdings wichen Kalenderdaten und siderisches Jahr deutlich voneinander ab (Isler 1991). 8 Evans-Pritchard (1939: 193; 196) berichtet etwa, dass die Nuer den Zusammenhang zwischen dem Erscheinen bestimmter Sternbilder und den Jahreszeiten durchaus kenne, sich in der Anbau-Praxis aber sinnvollerweise nach dem Regenfall und nicht nach dem Nachthimmel richten. Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit ein. Kosmische Zeitgeber wurden zunehmend durch mechanische Uhren ersetzt, die mit einem willkürlichen Standard synchronisiert werden konnten (meist die Zeit der Hauptstadt – gesetzliche Zeit, Ortszeit); vergegenständlichte Arbeitszeit wird zu Geld (Marx 1859: 105; Thompson 1967). In der Disziplinierung des Arbeiters/der Arbeiterin (Elias 1976 [1939]; Foucault 1994) spielte die Fabrikuhr oder -sirene eine hervorragende Rolle (Engels 1845: 398–401; Beuthner 1999: 173–180). Kleinste Verspätungen wurden mit Aussperrung und Lohnverlust bestraft, während der/die FabrikbesitzerIn die Zeitmessung kontrollierte und zu seinen/ihren Gunsten manipulierte (Engels 1845: 400).9 Genauso wurden europäische Zeitkonzepte im kolonialen Kontext eingesetzt, um disziplinierte Untertanen bzw. Arbeiter_innen heranzuziehen (Munn 1992; Schieffelin 2002; Pickering 2004, Anderson 2011: 233). dingt, dies trifft aber auch auf alle anderen Formen der Zeitwahrnehmung zu. In der athenischen Demokratie z. B. stand vor Gericht auch jedem Redner die selbe ‚demokratische‘ Zeitspanne zur Verfügung, gemessen durch eine Wasseruhr (Allen 1996). Oft wird behauptet, schriftlose Gesellschaften, in denen das Leben durch den Jahresablauf gegliedert wird, hätten im Gegensatz zu der linearen Zeitkonzeption der Moderne eine zirkuläre oder statische Zeitvorstellung (Meillassoux 1967; Bloch 1977: 282; vgl. Rosenstock in diesem Band). Hier werden jedoch oft Zeitmessung und Geschichtskonzeption (s.u.) verwechselt. Die Rhythmen des landwirtschaftlichen Jahres konnten analogisch auf den Lebenszyklus von Göttern und Menschen übertragen werden, worauf – unter anderen – schon James Frazer (1907–1915) hinwies (s.a. Howe 1981: 228). An diesem Punkt, wie auch bei anderen Zeitbegriffen, besteht jedoch die Gefahr, Metaphern mit tatsächlichen Glaubensinhalten zu verwechseln (vgl. Greenhouse 1996: 5). Es scheint kaum zulässig, von Johannes 12, 24 „Es sey denn / das das Weitzenkorn in die erden falle / vnd ersterbe / so bleibts alleine. Wo es aber erstirbet / so bringets viel Früchte“ auf ein zyklisches Weltbild der christlichen Religion insgesamt zu schließen. Auch in der Moderne wird die lineare und richtungslose Zeit mit runden Uhren, einer mittelalterliche Erfindung mit antiken Vorläufern10 gemessen (Jentzen 1989). Zeitverlauf 2 Shanks und Tilley (1987) wollen substantielle menschliche Zeit, also die persönlich wahrgenommene Zeit, von der abstrakten chronologischen Zeit unterscheiden. Ihr binärer Merkmalskatalog (Abb. 2) vermischt allerdings Elemente der Zeitwahrnehmung mit denen von Geschichtsbewußtsein (s. u.). Zudem besteht bei einer solchen Klassifikation die Gefahr, koloniale und rassistische Stereotype, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen ungeprüft weiterzuführen (Dietler und Herbich 2010; Anderson 2011). Die Definition einer abstrakten Zeit ist einer bestimmten gesellschaftlichen Formation zuzuweisen. Sie ist gesellschaftlich be- In den meisten angeblich zirkulären Zeitvorstellungen wird zudem keine Wiederkehr früherer Zustände erwartet, das Bild einer Spirale wäre also angemessener. Auch im ‚ewigen‘ Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt der buddhistischen und Substantial or human time marked time submission to the passage of time self-enclosed recurrent moments the forthcoming exalted by tradition imitation of the past; conformity with an ancestral model concrete horizons of the present; single context of meaning reading signs to which tradition provides the key deferred consumption (hoarding) gift social imperative Abstract or chronological time measured time managed time repetitive segments of regular succession the future: an open void design of a projected future mutually exclusive possibility ‚rational’ calculation abstract accumulation credit ‚rational’ choice Abb. 2 Substantielle, menschliche Zeit und abstrakte chronologischer Zeit nach Shanks und Tilley (1987). 9 10 In der anaphorischen Wasseruhr des Hipparchos drehte sich die Scheibe, nicht der Zeiger (Noble und Price 1968: 351f.). Schieffelin (2002) für die Veränderung von einheimischen Zeitbegriffen im kolonialen Kontext. 31 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit hinduistischen Religionen wird eine Reinkarnation als ‚höheres‘ Wesen oder ein Ende des Kreislaufs im Nirwana angestrebt, hier ist also ebenfalls eine dritte Dimension im Spiel. Insgesamt scheint jede genauere Untersuchung (z. B. Howe 1981) zu zeigen, dass die Nutzung zyklischer Vorgänge zur Zeitmessung nicht mit einer zyklischen Zeitvorstellung verwechselt werden darf. sellschaften zur Verfügung stellen (Durkheim 1912; Halbwachs 1985 [1939]). Zeit wird in der individuellen Gegenwart durch Erinnerung und Antizipation erfahren und Zeiterfahrung wird innerhalb der individuellen Gegenwart über Begriffe und Mechanismen, die gesellschaftlich vorgegeben sind, mit anderen geteilt. Die Idee einer tatsächlich zirkulären Zeit mit einer identischen Wiedergeburt im nächsten Zyklus des Zeitverlaufes wurde unter Umständen von den Pythagoräern und dem Stoiker Chrysippos vertreten (Drozdek 2002: 409). Beides sind hochabstrakte philosophische Spekulationen, die kosmische Vorgänge zum Vorbild haben. Von Vico über Nietzsche bis zu Eliade waren zyklische Zeitmodelle mit konservativer und reaktionärer Ideologie verbunden. Ein Beleg für ihre Existenz in nicht-industriellen Gesellschaften steht m. E. jedoch aus. Erinnerung Erinnerung holt ausgewählte Elemente der Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Sie heftet sich an als wichtig empfundene Ereignisse12 und registriert zeitliche Abstände relational im Sinne von vorher/gleichzeitig/nachher (James MacTaggarts B- Serie). Der Erinnerungsprozeß im Sinne von ‚Recollection‘ wird durch Ereignisse in der Gegenwart in Gang gesetzt, und die Verknüpfung von Ereignissen erfolgt nicht unbedingt über eine chronologische Abfolge, sondern durch Assoziationen, die diversen persönlichen Erfahrungen folgen. Die Zeit der Erinnerung ist also nicht notwendig linear, und sie ist definitiv nicht intervallskaliert; wichtige Ereignisse können durch lange ‚leere‘ Zeitabschnitte getrennt sein, die nicht erinnert oder zumindest nicht berichtet werden. Chris Gosden (1994: 2) unterscheidet daher gemessene versus erfahrene Zeit. Zudem ist Erinnerung kontextabhängig, unterschiedliche Assoziationen und Kontexte rufen die Erinnerung an unterschiedliche Ereignisse hervor und bestimmen auch die Art ihrer Verkettung. Wie weiter oben bereits angedeutet, kann Zeit aus der Außensicht als Abfolge von Ereignissen beschrieben werden. Eine Innensicht schließt den Beobachter_innenstandpunkt ein. Ob die uns geläufige Dreiteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft universal gilt, ist umstritten, auch die scheinbar selbstverständliche Lokalisierung ‚der‘ Vergangenheit ‚vor‘ der Gegenwart und ‚der‘ Zukunft ist nicht universell. Die Beschreibung von Zeitverlauf in Raummetaphern ist kulturell und sprachlich geprägt, wobei die sprachlichen Mittel zur Zeitbeschreibung für den Benutzer weitgehend unsichtbar, weil selbstverständlich und nicht vermeidbar sind. Casad (1977: 227) beschreibt, dass für die mexikanischen Cora die Zukunft nach vorn und bergauf liegt.11 Ihr räumliches (und grammatikalisches) Koordinationssystem ist durch die Achsen der persönlichen Sicht nach vorne, einer rechtwinklig dazu verlaufenden Grenze, und dem Flußtal bestimmt. Das klingt exotisch, aber vielleicht exotischer, als es in der Praxis und bei einer weniger genauen linguistischen Analyse wäre. Zeit mag, wie Immanuel Kant (1781) behauptete, eine vorgegebene Kategorie sein, mit der wir unsere Wahrnehmung organisieren, persönliche Wahrnehmung ist aber nur in den sehr unterschiedlichen Begriffen beschreibbar, welche die jeweiligen Ge- Erinnerung – und alle Berichte über Erinnerung wie Geschichte und Geschichtsschreibung beruhen auf Auswahlprozessen. Aus der potentiell unendlichen Zahl von Ereignissen werden bestimmte Ereignisse als relevant ausgewählt und aneinandergereiht. Die zeitliche Abfolge gliedert diese Ereignisse, wird aber nicht immer strikt beachtet. Jürgen Straub (1998) hat herausgearbeitet, wie eine klare narrative Struktur berichteten individuelle Erinnerungen Sinn gibt. Orale Tradition stellen erinnerbare und narrativ befriedigende Abfolgen her, sie sind aber wenig geeignet, Zeitdauer zu registrieren. „Die Erinnerung haftet eben nicht an der Zeit selbst, sondern an den Ereignissen.“ (Hartmann 1950: 207). 11 „…the Coras view time as marching uphill: the present time is at the foot of the hill looking upwards while the remote past is at the foot of the hill as seen from up on top. Finally, the relation of one completed event to a prior one is seen as taking place somewhere along the slope up the hill.“ (Casal 1977: 227). 12 Die Beurteilung solcher Ereignisse kann sich durchaus durch die Zeit ändern, und die Erinnerung an bestimmte Ereignisse unterdrücken beziehungsweise wiederbeleben, vgl. z.B. Dolff-Bonekämper 2011. 32 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Wie Maurice Halbwachs (1985 [1939]) betonte, ist persönliche Erinnerung grundsätzlich in einen sozialen Kontext eingebunden. Erinnerung wird mit einer Gruppe geteilt, in einer Gruppe erzählt und verändert, die Gruppe stellt die ‚Rahmen‘ der Erinnerung zur Verfügung, von Sprache (Kategorien) über Denk- und Erzählmuster bis zur Sinngebung. „… sobald ein Mitglied einer Gruppe einen Gegenstand wahrnimmt, gibt er ihm einen Namen und ordnet ihn in eine Kategorie ein, d.h., er unterwirft sich den Konventionen der Gruppe, die sein Denken wie das der anderen ausfüllen.“ (Halbwachs 1985 [1939]: 363). Verschiedene Gruppen wie Familien, Religionen oder Klassen stellen unterschiedliche Rahmen zur Verfügung; jedes Individuum ist aber gleichzeitig Mitglied mehrer Gruppen, und damit auch Teil verschiedener „kollektiver Erinnerungen“ (Halbwachs 1985 [1939]: 81). Kollektive Erinnerung ist also gruppenspezifisch, kontextabhängig, multipel und veränderlich, obwohl der Begriff „kollektive Erinnerung“ manchmal als reifiziertes „Gruppenbewußtsein“ (Forty 1999: 2) mißverstanden oder gar mit dem Nationalbewußtsein auf der Grundlage kohärenter Symbole und eines kanonischen Ursprungsmythos oder einer Nationalgeschichte gleichgesetzt wird. Entscheidende Ereignisse – Henri Bergson (1964) nennt sie „dominante Erinnerungen“, Halbwachs „Anhaltspunkte“ (1985 [1939]: 372) – liefern den Rahmen, in dem Individuen ihre Erinnerungen zusammenführen können (vgl. Birth 2006 für eine empirische Untersuchung). Gleichzeitig liefern sie aber auch eine Deutung der Ereignisse, „…eine Kette von Urteilen…“ (Halbwachs 1985 [1939]: 372). den hier Namen ausgelassen oder an Handlungsträger_innen des Ursprungsmythos beziehungsweise an Personen aus der „Zwischenzeit“ assimiliert („telescoping“). Ebenso kann ‚kanonischen‘ Namensträger_innen, deren Geschichte vergessen wurde, im Zuge politischer Umwälzungen eine neue Geschichte zugewiesen werden. Erinnerung, auch institutionalisierte Erinnerung, ist also immer plastisch. Solche Genealogien dienen der Rechtfertigung jeweils gegenwärtiger Herrschaftsansprüche von Einzelpersonen, Familien oder Stammesgruppen (vgl. Miller 1979: 82–88). Seniorität oder im Gegenteil die Gründe, warum diese Seniorität keine Bedeutung hat/haben sollte, wie etwa die Geschichte von Jakob und Esau (Genesis 25), bestimmen die Stellung dieser Gruppen innerhalb der Gesellschaft und erklären die seitherige politische Geschichte – in diesem Fall das Verhältnis von Israeliten und Edomitern. Assmann (1992: 85) spricht hier von „verdichtete[r] Vergangenheit“, während für Jack Goody (1968: 39) die Vergangenheit so unvermeidlich von der Gegenwart ‚aufgefressen‘ wird: „it represents a mythical projection of contemporary values and social relationships“ (Bailey 1983: 179). In manchen nicht-schriftlichen Gesellschaften gibt es Erinnerungsspezialist_innen, die erstaunlich lange Genealogien und komplexe Gedichte überliefern können, z. B. im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Irland (Nagy 1986; Ross 1998), in Westafrika (Miller 1979; Vansina 1985), in Australien oder im archaischen Griechenland (Rhapsoden). Diese stehen meist im Dienste politischer Machthaber_innen und überliefern – extrem selektiv – die wechselnden Genealogien und Geschichten der Oberschicht. Für Erinnerungen, die mündlich innerhalb einer Gruppe weitergegeben werden, unterscheidet Vansina (1985: 12f.; 147) „orale Geschichte“, persönliche Erinnerung bzw. aus anderen Quellen geschöpfte Kenntnisse über Ereignisse während der eigenen Lebenszeit, von „oraler Tradition“, die über viele Generationen reicht. Beide sind Teil der kollektiven Erinnerung. Für Assmann (1992: 98) sind solche mündlich überlieferten Berichte über die Vergangenheit – er spricht von Mythen – weitgehend unveränderlich und innovationsresistent. Dies ändere sich mit dem Übergang zur Schriftlichkeit. Texte geben nach Assmann die Möglichkeit, der überlieferten Vergangenheit kritisch gegenüber zu treten und neue Formen der Erzählung zu erproben. Erst mit der Schrift ergebe sich so ein Gegensatz zwischen alt und neu (Assmann 1992: 100). Dabei übersieht Assmann, dass auch viele in feste Form gebrachte Überlieferungen in zahlreichen Fassungen vorliegen, beispielsweise der epische Zyklus um den Fall Trojas, aber auch andere griechische Mythenzyklen. Vermutlich wurde nur ein geringer Bruchteil dieser verschiedenen Fassungen überhaupt schriftlich fixiert und überliefert. Je nach politischer Situation und nach der Stellung des Akteurs/der Akteurin in der Genealogie – auch diese ist, wie Vansina (1985) gezeigt hat, keines- Auch in der kollektiven Erinnerung nehmen wichtige Ereignisse einen großen Raum ein, während die ereignislose Zeit zunehmend zusammengeschoben wird. Zwischen den Ereignissen, die aus eigener Erfahrung und der Erzählung von Augenzeugen bzw. den Berichten von Zeitgenossen bekannt sind, und der mythischen Vergangenheit des jeweiligen Ursprungsmythos entsteht eine Lücke („floating gap“, Vansina 1985: 24), ein Zeitabschnitt, aus dem meist nur Genealogien und einzelne wichtige Ereignisse ohne weitere Details überliefert sind. Wenn Erinnerungskapazität und Interesse erschöpft sind, wer33 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit wegs immer fixiert – können unterschiedliche Fassungen desselben Mythos‘ aktiviert werden und in Konkurrenz zu der bisher etablierten Fassung treten. Intertextualität, also die Einbeziehung von Elementen aus anderen Symbol- und Diskurssystemen (Erll 2005: 67) und Intermedialität sind damit auch in der mündlichen Überlieferung möglich, genauso wie Re-Semiotisierung, das Aufladen überlieferter Inhalte mit neuer Bedeutung (Erll 2005: 65–74). Moderne Forschungen zur Oralität haben zum Beispiel gezeigt, dass verschiedene Kohorten, Personen mit gleichartigem Erfahrungshintergrund, sich in ihren Selbsterzählungen auf unterschiedliche kulturelle Hintergründe beziehen (Chandler 2005; Nelson 2003). Dies kann Teil einer bewußten Abgrenzung dieser Gruppen sein, die zusätzlich auch nach Außen sichtbare Elemente materieller Kultur wie Kleidung und Waffen nutzen können (z.B. Larick 1986). Sowohl Erinnerung als auch Geschichte sind also formbar und passen sich neuen Umständen an. Zeitliche Abfolgen wirken aber als Kitt, der eine Reihe von Ereignissen zusammenhält. Zwar werden manchmal Abfolgen umgedreht, das scheint aber insgesamt schwieriger, als Abschnitte wegzulassen (Cooper 2010) oder Ereignissen einen anderen Sinn zu geben. Rituale Wie besonders Paul Connerton (1989) hervorgehoben hat, bestehen kollektive Erinnerungen nicht nur aus Worten. Wissen im weitesten Sinne wird nicht nur (mit)geteilt, sondern auch inszeniert (Wulf und Zirfas 2004). Rituale gehören zu den wirksamsten Mechanismen, um Gemeinschaft herzustellen (Durkheim 1912). Sie stützen sich nicht nur auf erinnerte Berichte, sondern vor allem auf Körpertechniken. Durch habituelles Gedächtnis, die Erinnerung an körperliche Praktiken, wird die Vergangenheit in den Körper „einsedimentiert“ (Connerton 1989: 72). Connerton wählt als Beispiel Nazionalsozialistische Rituale, in denen nicht Gedenken, sondern Performanz im Mittelpunkt steht. Die Teilnehmer_innen des Rituals werden zu Zeitgenoss_innen des mythischen Ereignisses, die normale Zeit wird ausgesetzt, der Zeitverlauf negiert (Connerton 1989: 44). Auch bei anderen jährlichen Ritualen verbinden sich die institutionalisierte kollektive Erinnerung an ein wichtiges Ereignis mit der persönlichen Erinnerung an die Teilnahme an diesem Ritual und damit dem Ereignis selbst; die scheinbar unveränderte Wiederholung und der Zeitpunkt im Jahresverlauf selber negieren das Verstreichen der Zeit und stellen eine scheinbar ewige, unveränderliche Gegenwart her. Die Idee einer einzig gültigen, kanonischen Fassung schriftlicher Überlieferung scheint zudem, von religiösen Schriften wie der Bibel oder dem Koran abgesehen, erst in der Moderne entstanden zu sein. Zynisch gesprochen funktioniert Geschichte als die gelebte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit viel besser ohne Schrift, welche die veraltete Fassungen der Geschichte quasi fossilisiert. Letztere müssen dann den gegenwärtigen Verhältnissen entsprechend umgedeutet werden, statt einfach dem Vergessen anheimzufallen. Wie die berühmte „Konstantinische Fälschung“ und andere Dokumente zeigen, ist eine Anpassung der Geschichte an die zeitgenössische Realität aber auch im Mittelalter immer noch möglich und gängig – Urkunden, die es nach den Vorstellungen der Zeit eindeutig gegeben haben müßte, werden eben nachempfunden. Die Regeln, die der Historismus seit dem frühen 19. Jahrhundert für den Umgang mit bzw. der Beschreibung von Geschichte entwickelte, machen eine solche Anpassung der ‚Geschichte‘ an die Bedürfnisse der Gegenwart deutlich schwieriger. Dass sich die Regeln wirklich geändert haben, wie die Vertreter des Historismus behaupten, darf jedoch füglich bezweifelt werden. Auch in der schriftlich überlieferten Geschichte können mehrere Fassungen gegeneinander stehen, und dasselbe Faktoid kann auf unterschiedlichste Weise in eine Erzählung eingebunden werden. Selbst heute haben Leser_innen keine Schwierigkeiten, mehrere, unter Umständen widersprüchliche Versionen eines Textes zu rezipieren, hingewiesen sei nur auf die endlosen Variationen des ‚Ursprungsmythos‘ von Comic-Helden wie Batman oder Spider-Man. Archäolog_innen sind mit Bewegungsabfolgen innerhalb von Herstellungstechniken vertraut (LeroiGourhan 1987 [1964/65]; Ingold 2001), aber auch die Erinnerung an bedeutsame Ereignisse, wie das Abendmahl in der christlichen Religion (Halbwachs 1985 [1939]) können durch Performanz Teil einer permanenten Gegenwart werden. Wie Halbwachs zeigt, sind solche Rituale jedoch durchaus plastisch und veränderbar – ihr Ablauf oder, häufiger, ihre Deutung können aktuellen Interessen angepaßt werden, wie zum Beispiel die häufigen Auseinandersetzungen um das Abendmahl und andere Teile des Ritus in den christlichen Kirchen zeigen. Gleichzeitig markiert das Ritual einen konkreten Zeitpunkt und dient damit als Zeitzähler. Auch die Erinnerungen an vergangene Rituale zeigen kann das Verstreichen der 34 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Zeit anzeigen (Altern der Teilnehmer_innen, Veränderungen der Umgebung etc.). Rituale verbinden so persönliche und kollektive Erinnerung. Sie binden sie in eine gemessene Zeit ein, aber negieren gleichzeitig das lineare Verstreichen der Zeit. wurde, was ich bin), oder, als Teil der kollektiven Erinnerung, die Erhaltung der Gruppenidentität. Wie Halbwachs am Beispiel der Familie hervorhebt, ist es der „ständige Austausch von Meinungen und Eindrücken“ (Halbwachs 1985 [1939]: 203), der die Gruppe zusammenhält und eine Kommunikationsgemeinschaft herstellt. Deren Unterhaltungen können für Außenstehende fast unverständlich sein, weil sich die Mitglieder beständig auf bekannte Ereignisse, Phrasen etc. berufen, die nicht allgemein verständlich sind bzw. zum Verständnis eben die relationalen Abfolgen und Zusammenhänge des kollektiven Gedächtnisses als Vorwissen benötigen. Gleichzeitig sind familiäre Erinnerungen aber auch Modelle, Beispiele und Lehrstücke (Halbwachs 1985 [1939]: 209). Im Gegensatz zu ‚Zeit‘ hat das Thema Erinnerung Konjunktur in Archäologie und Vorgeschichtsforschung (etwa Edmonds 1999; Eckart/Williams 2003; van Dyke/Alcock 2003; Williams 2003; Williams 2006; Devlin 2007; Jones 2007; Yoffee 2007; Olivier 2008; Lillios 2008; Mills/Walker 2008; Themenband von World Archaeology 20/2, 2008; Barbiera u. a. 2009; Georgiadis/Gallou 2009; Borić 2010; Lillios/ Tsamis 2010; Porr 2010). Im deutschsprachigen Bereich ist hier vor allem Ulrich Veit (2003) zu nennen, sowie zahlreiche Beiträge, die den Zusammenhang zwischen Bestattung und Erinnerung beleuchten (Jarnut und Wemhoff 2003; Brather 2009). Die archäologische Diskussion stützt sich dabei vor allem auf das grundlegende Werk von Halbwachs (1985 [1939]) über die „mémoire collective“. Im englischsprachigen Bereich wurde vor allem Paul Connerton (1989) und sein Konzept der ‚Körperpraktiken‘ rezipiert, in Deutschland dagegen hauptsächlich die Werke der ‚Heidelberger Schule‘ um Assmann (Assmann 1992; Assmann 1999; Assmann und Harth 1991). Auch moderne Geschichtsschreibung produziert allerdings Geschichte für ganz bestimmte Gruppen. Für den Historiker Ernst Bernheim beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit dem „…Werden und Wesen jener größeren socialen Gemeinschaften und Gemeingüter, jener Gemeinschaften, zu denen die Menschen sich zusammenschließen, um auf der Erde existieren und sich menschlich ausbilden zu können, jener Gemeingüter, welche durch die Arbeit der Menschen errungen werden und die menschliche Kultur ausmachen.“ (Bernheim 1903: 3f.). Der Betrachtungskreis kann dabei „die Welt oder ein Volk oder eine Gemeinde bedeutenden Individuen“ sein (Bernheim 1903: 4). Die Geschichtsschreiber_innen produzieren also Ursprungsmythen, den Bericht darüber, wie die jeweiligen Gruppen so geworden sind, wie sie jetzt sind, und Vorbilder für zukünftiges Handeln, unter der Auswahl der für diese spezielle Geschichte als relevant betrachteten Faktoren etwa als Meistererzählungen oder „Antworten auf Fragen nach kultureller Identität“ (Rüsen 1998: 23). Geschichte Geschichte und Erinnerung Was ist der Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung? Oft wird angenommen, dass Geschichte fixiert und in eine Form gebunden sei, Erinnerung dagegen nicht. Der/Die ErinnerungsspezialistIn sammelt Berichte über vergangene Ereignisse, also verschiedene Erzählungen über persönliche Erinnerungen, verbindet sie und bringt sie in eine feste Form, um sie einer spezifischen Gruppe zu berichten, mündlich oder in Schriftform. Der Übergang ist jedoch fließend: die Großmutter, die den Enkeln über die Familiengeschichte berichtet, wird oft ebenfalls feste Erzählformen ausgebildet haben, und wie jeder von Familienfeiern weiß, bleiben Berichte über familiäre Vorfälle („wie Tante Hilda die Kaffeetasse aus dem guten Service zerbrach“) über Jahrzehnte hinweg identisch, ausgelöst vom Anblick eben jenes guten Services mit der nun fehlenden Tasse. Sowohl erzählte Erinnerung als auch der Bericht der Erinnerungsspezialist_innen enthalten jedoch viel Material, das auf den ersten Blick wenig identitätsstiftend wirkt. Weder die Geschichte der zerbrochenen Kaffeetasse noch die zahlreichen „Haupt- und Staatsaktionen“ vergessener Herrscher des Mittelalters und der frühen Neuzeit beinhalten eine Lehre für die Zukunft oder sind besonders interessant. Sie sind reine Füllsel. „What these sounds mean… is: I am alive and so are you“ (Pratchett 1991: 134). Eine Kommunikationsgemeinschaft stellt damit jedoch Gruppenidentität her; zu dem Ritual der Familienfeier gehört neben dem gemeinsamen Essen eben auch die Erzählung uninteressanter Anekdoten aus der unmittelbaren Vergangenheit. Nicht alle leben über die Generationen hinweg, sie verbinden so auch Alters- Die erzählte Erinnerung bezweckt die Herstellung bzw. Bekräftigung der personalen Identität (wie ich 35 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit gruppen. Gleichzeitig stellen sie einen Fundus von Begebenheiten zur Verfügung, die mit Bedeutung aufgeladen werden können, wenn eine geeignete Situation eintritt. Sollte sich die Familie spalten, kann die zerbrochene Kaffeetasse als Bosheit, Ungeschick oder Mißachtung gedeutet werden. denkmäler, Grab des unbekannten Soldaten etc.) an denen Gedenken durch Repräsentant_innen der Regierung stattfindet (‚Kranzabwurfstellen‘) oder jede größere Siedlung mit einem Denkmal ausgestattet werden. Sie schaffen Erinnerungsorte, die über Bilder, Inschriften und Rituale mit dem zu erinnernden Ereignis, nicht jedoch mit dessen Lokalisation verbunden sind. Institutionalisierte Erinnerung ersetzt persönliches Angedenken (vgl. Nora 1984–1992). Im Gegensatz dazu findet entortete Erinnerung über Rituale, Erzählung oder Abbildung statt, wobei Abbildungen Ereignisse oft zusätzlich entzeitigen, was hier jedoch nicht weiter verfolgt werden kann. Der überwiegenden Teil kollektiver Erinnerungen und kodifizerter Geschichte besteht aus solchem blind code. In der Geschichtsschreibung können Ereignisse über längere Zeit mitgeschleppt werden, bis ihnen ein narrativ befriedigender Sinn verliehen wird. In einer Untersuchung von Motiven in sächsischen Schulbüchern (Friedrich u. a. 2002) konnten die Autor_innen zeigen, wie aus der unverbundenen Abfolge – Teilung der Wettiner Ländereien zwischen Ernst und Albrecht von Sachsen 1485, Sturz Ernsts vom Pferde nahe Colditz 1486, Bestattung im Dom von Meißen – die anrührende Geschichte darüber wurde, wie Ernst von Sachsen an gebrochenem Herzen starb, weil er in der Leipziger Teilung Meißen verloren hatte, und im Dom von Meißen bestattet wurde, das er zu Lebzeiten nicht hatte besitzen können. Den Ereignissen wird aus der Sicht späterer Zeit eine Bedeutung zugewiesen, die sie für die Zeitgenoss_innen nicht hatten (Danto 1962: 154; 1965: 143–181). In einem Bericht über das, was geschehen ist, kann grundsätzlich jedes beliebige Ereignis mit einer anderen verbunden werden; Raum und zeitliche Abfolge liefern dabei sowohl Verbindung als auch Sinngebung; in der Geschichtsschreibung wie in der individuellen Erinnerung. Aus ‚erst… dann’ wird so ‚weil’ (vgl. Schmidt 2003: 86–88; Kasabova 2008: 350): „The order of the narrated event is essentially a function of the narration and not of the order of the event itself, since narrations aim at constructing coherent stories which are accepted by the audience.“ (Schmidt 2008: 193). Seit dem Linguistic turn in der Geschichtswissenschaft (White 1973) wird den narrativen Mitteln, mit denen Geschichtsschreibung arbeitet, verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Hanisch 1996). Dies zerstörte den sorgsam aufgebauten historistischen Mythos einer objektiven Geschichtsschreibung sine ira et studio und stellt den Zusammenhang zu Erinnerung wieder her. Geschichte und Sinngebung Erinnerung ist oft mit konkreten Orten und Gegenständen verbunden. Der Besuch dieser Orte kann die Aktivierung und Weitergabe von Erinnerungen auslösen und Teil eines Rituals werden (Wallfahrten, Gedenkfeiern, Initiationsriten). Der Verlust von Territorien kann so auch zum Verlust der entsprechenden Erinnerungen und des mit diesen Orten verbundenen Wissens führen (vgl. Anderson 2011: 241 für die Arapaho). Die kollektive Erinnerung ist weniger durch die zeitliche Abfolge von Ereignissen, als den zugrunde liegenden Ort geprägt (Anderson 2011; Myers 1986). Dieser kann, aber muß nicht besonders gekennzeichnet werden, etwa durch Steinsetzungen (Anderson 2011: 241), Petroglyphen, Inschriften oder Denkmale. Es gibt also verschiedene Arten, Vergangenheit und Zukunft in die gemeinsame Gegenwart zu holen (vgl. Faubion 1993). Geschichtsschreibung oder die Weitergabe mündlicher narrativer Überlieferung durch Erinnerungsspezialist_innen wie westafrikanische Griots, irische Barden, skandinavische Skalden, balkanische Guslari oder griechische Rhapsoden ist nur einer dieser Mechanismen (vgl. Rüsen 1998: 63). Diese sind, wie die Behauptung zahlreicher Autor_innen seit Hegel, diese oder jene Gruppe habe/kenne keine Geschichte, seien es die Inder (Hegel 1837, 84), die „asiatischen Reiche“, „die Völker des ewigen Stillstandes” insgesamt (von Ranke 1886 I/1, v), Jäger und Sammler (Meillassoux 1973: 194; Bloch 1977: 288) oder Jäger_innen und Sammler_innen ohne Vorratshaltung (Woodburn 1980: 106), belegen, jedoch nicht universal verbreitet. Jede/r ist ein geschichtliches Subjekt, aber nicht jede/r begreift sein/ihr historisches Wesen als sein/ihr existentielles Wesen (Sartre Dagegen wird nationale Geschichte zunehmend entortet, da durch die Größe des Territoriums und das vergrößerte Publikum (potentiell alle Bürger_innen oder Einwohner_innen) Gedenkrituale ortsunabhängig stattfinden müssen. Alternativ können entweder einige wenige zentrale Gedenkorte eingerichtet werden (Held_innen- und Krieger_innen36 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit 1980: 235). Den als Jäger_innen und Sammler_innen lebenden Nayaka in Süd-Indien begegnen Figuren aus ihrer Vergangenheit nicht in den Helden_innenlieder der Spielleute, den Erzählungen älterer Familienmitglieder, Historienschinken oder der Lektüre eines Geschichtsbuches, sondern innerhalb von Bessessenheitsritualen im persönlichen Gespräch (Bird-David 2004). Vergangenheit ist hier immer die Vergangenheit von Personen und von persönlichen Beziehungen. seien sie positiv oder negativ. Dagegen leugnen „kalte“ Gesellschaften nicht, dass sich Dinge verändern, aber sie sprechen dem einen tieferen Sinn ab (LéviStrauss 1966 [1962]: 235). Lévi-Strauss bezeichnet „kalte“ Gesellschaften als primitiv. Aber auch bei weitem nicht alle „Zivilisationen“ – staatlich organisierte Gesellschaften mit schriftlich fixierter Geschichte – sind in diesem Sinne „heiß“. Assmann (1992: 69) führt hier das alte Ägypten und das mittelalterliche Judentum als Beispiele von Gesellschaften an, die aktiven Widerstand gegen das „Eindringen der Geschichte“ leisteten. Entsprechend kann die Zukunft entweder offen oder ganz oder teilweise in der Gegenwart angelegt sein. Mesopotamische Orakelpriester_innen oder römische Auguren konnten die Zukunft mit einem festen Regelsatz aus Beobachtungen in der Gegenwart (Leber des Opfertieres, Vogelflug etc.) bestimmen. Dagegen waren griechische Orakel bekanntlich eine sehr unzuverlässige Entscheidungshilfe. Auch die individuelle Zukunft kann als vorherbestimmt (Kalvinisten) oder als beeinflußbar (Katholiken) gelten. Auch für die altorientalischen Gesellschaften brachte die verstreichende Zeit Zerfall, der durch den konstanten Eingriff des Herrschers behoben werden musste. „When Ehursakurkurra – the temple of Assur my Lord, which Ushpiya, vice–regent of Assur, my forefather, had previously built – became dilapidated, Erishum my forefather, vice–regent of Assur rebuilt [it]. From the reign of Erishu 159 years passed and the temple [again] became dilapidated and Shamshi–Adad, vice–regent of Assur rebuilt [it]. 580 years passed and that temple which Shamshi–Adad, vice–regent of Assur, had rebuilt became extremely old. Fire broke out in it. The temple … [and] all the property of the temple of Assur, my Lord, was consumed in the fire.” (Grayson 1987: 185, 112). Šulmanu–ašaredu I. berichtet dann, wie er die Ruinen abräumte, die Gründungsinschriften seiner Vorgänger fand, ein Fundament legte, „…like the root of a mountain…“ und den Tempel besser denn zuvor wieder aufbaute (Grayson 1987: 185, 129). Diese in Aššur gefundene Inschrift Šulmanu– ašaredus belegt eindrucksvoll eine genaue und extrem lange historische Überlieferung – sie dient der modernen Geschichtswissenschaft immer noch als Quelle für die Chronologie des assyrischen Reiches. Gleichzeitig belegt sie aber auch den Glauben, dass sich die Effekte der verstreichenden Zeit aufhalten ließen, Gebäude ohne Veränderung wieder aufgebaut werden könnten. Die traditionellen altorientalische Fluchformeln für den, der „meine … Inschriften auslöscht und meinen eingeschriebenen Namen wegwirft“ (oder gar mit seinem eigenen Namen ersetzt, Grayson 1987: 163), zeigen einerseits das Bewusstsein dafür, dass schriftliche Überlieferung und damit Geschichte manipulierbar sind, andererseits aber die Überzeugung, dass die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit: dass es weiterhin Herrscher_innen geben wird, die Tempel wieder herstellen und so die Zeit zum Stillstand bringen. Heiße und kalte Gesellschaften Auf Claude Lévi-Strauss (1966 [1962]) geht die bekannte Unterscheidung zwischen heissen und kalten Gesellschaften zurück. Damit wollte er die „plumpe“ Unterscheidung zwischen Völkern mit und ohne Geschichte vermeiden (Lévi-Strauss 1966 [1962]: 233). „kalten“ Gesellschaften fehlt nicht unbedingt eine Erinnerung an die Vergangenheit und sie leben auch nicht in einer ereignislosen Gegenwart, aber sie versuchen aktiv, Veränderungen ihrer Institutionen zu vermeiden (Lévi-Strauss 1966 [1962]: 234). Sie mögen damit nicht immer erfolgreich sein, aber dies ist die Zielvorstellung. Assmann (1992: 68) konkretisiert hier: „Mit dem, was LéviStrauss ‚Kälte‘ nennt, ist nicht ein Fehlen von etwas gemeint, sondern eine positive Leistung… ‚Kälte‘ ist nicht der Nullzustand der Kultur, sie muß erzeugt werden.“ Dagegen glauben „heisse“ Gesellschaften angeblich an eine quasi autark wirkende Geschichte und eine konstante Veränderung, also die oben erwähnte Geschichte mit dem „großen H“. Dies manifestiert sich am plakativsten im 19. Jahrhunderts im Glauben an die konstante Verbesserung des Menschengeschlechts, „…history [as] … a moral sucess story“ (Wolf 1982: 5). Allerdings ist eine Gesellschaft, die sich als im Niedergang befindlich wahrnimmt, ebenso als „heiß“ zu klassifizieren. Der Begriff kennzeichnet den Glauben, dass Ereignisse und Veränderungen etwas bedeuten, Veränderungen bewirken, Ähnlich kennt das antike Griechenland zwar Berichte über die Vergangenheit und ständigen Wechsel 37 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit in Regierungsformen und politischer Vorherrschaft, aber formulierte keine Erwartung von Veränderung. Wie im Fall der australischen Aranda bei LéviStrauss entspricht die Welt der Mythen der zeitgenössischen Welt. Die mythische Vorzeit, der Kampf um Troja, wiederholt sich in den Kriegen zwischen den griechischen Stadtstaaten. Die Ahnen können freilich von den heutigen Menschen nur nachgeahmt, ihre Größe aber nicht erreicht werden. sellschaften (Terray 1972), die Veränderungen oder zumindest den Wunsch nach Veränderungen hervorrufen könnten, wurden nie besonders intensiv diskutiert, und viele Forscher_innen streiten ihre Existenz ab, vielleicht auch deshalb, weil die Informationen der kolonialen Ethnologen vorzugsweise von den Stammesältesten stammten und solche Konflikte daher unsichtbar bleiben. Vereinzelte Untersuchungen zeigen jedoch, dass z. B. Frauen (Hodder 1982) und junge Männer (Larick 1986) der herrschenden Ideologie zu widersprechen suchen, wenn auch nicht offen. Inwieweit sich dies in alternativen Erzählungen über die Vergangenheit widerspiegelt, wäre zu untersuchen. Im Gegensatz dazu steht das alte Israel, das sich seiner Geschichte stets bewusst ist, und dessen Propheten mit großer Sprachgewalt und sichtbarem Genuss Zerstörung und den Fall aller ihnen bekannten Großreiche vorhersagen. „Alle deine feste Stedte / sind wie Feigenbewme mit reiffen Feigen / wenn man sie schüttelt / das sie dem ins maul fallen / der sie essen wil. Sihe dein Volck sol zu Weibern werden in dir / vnd die thor deines Landes sollen deinen Feinden geöffent werden / vnd das Fewer sol deine Rigel verzehren.“ (Nahum 3, 12–13 in der Weissagung über Niniveh). Geschichte Verspätet ist in diesem Kontext zu fragen, wie sich denn nun ‚Geschichte‘ von anderen Mechanismen der Vergangenheitsrezeption unterscheidet? Wie werden die Ereignisse ausgewählt, die in die überlieferte Geschichte eingehen, und wie werden sie berichtet? In seinem „Grammatisch–kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ definiert Johann Christoph Adelung (1793) Geschichte als „…eine jede … von verschiedenen mit einander verbundenen Veränderungen, welche zusammen genommen ein gewisses Ganze (!) ausmachen…“, eine Definition, die das narrative Element jeder historischen Darstellung betont. Auch Bernheim (1903: 2) definiert Geschichte als „…das, was geschieht, bzw. geschehen ist ... Demnächst bedeutet es auch die Erzählung, bzw. Kunde von dem, was geschehen ist‘“. Diese Definitionen zielen also auf der Form des Berichts ab. Lévi-Strauss‘ Begrifflichkeit wurde überwiegend als wertend verstanden, „kalte“ Gesellschaften mit Leopold von Rankes (1886: viii) „Völker[n] des ewigen Stillstandes“ gleichgesetzt. Eric Wolf (1982: 385) betont daher programmatisch, dass es keine „kalten“ Gesellschaften gebe. An der Bezeichnung ist aber vor allem problematisch, dass sie grob generalisiert. Ganze ‚Gesellschaften‘ werden mit einem Begriff gekennzeichnet, ohne auf Veränderungen durch die Zeit, unterschiedliche Sinnzusammenhänge (Bloch 1977: 284f.) oder innergesellschaftliche Unterschiede und Konflikte zu achten. Ethnologen der Kolonialzeit versuchten beispielsweise oft, Veränderungen oder das Streben nach Veränderungen zu ignorieren, da sie diese als ‚Verunreinigung‘ einer ‚ursprünglichen‘, von ihnen aus ‚Resten‘ erschlossenen Gesellschaftsstruktur verstanden. Alternativ wäre aber auch vorstellbar, dass angesichts der Bedrohung durch Kolonialismus, Imperialismus und Globalisierung als Gegenreaktion ein verstärkter Konservativismus entstanden ist. Dagegen ist für Georg Friedrich Hegel Geschichtsschreibung der Bericht über nationale Vergangenheit, und kann nur durch selbstbewußte Individuen erfolgen. „Die Geschichte ist aber immer für ein Volk von großer Wichtigkeit, denn dadurch kommt es zum Bewußtsein des Ganges seines Geistes, der sich in Gesetzen, Sitten und Taten ausspricht. … die Geschichte gibt dem Volke sein Bild in einem Zustande, der ihm dadurch objektiv wird. Ohne Geschichte ist sein zeitliches Dasein nur in sich blind und ein sich wiederholendes Spiel der Willkür in mannigfaltigen Formen. Die Geschichte fixiert diese Zufälligkeit, sie macht sie stehend, gibt ihr die Form der Allgemeinheit und stellt eben damit die Regel für und gegen sie auf. Sie ist ein wesentliches Mittelglied in der Entwicklung und Bestimmung der Verfassung, d. h. eines vernünftigen, politischen Zustandes; denn sie ist die empirische Weise, das Allgemeine hervorzubringen, da sie Zudem ist das Verhältnis zur Vergangenheit und zur ‚Geschichte‘ immer eine Machtfrage. Die Unveränderlichkeit des status quo und idealerweise auch der Glaube an dessen Unveränderlichkeit liegt naturgemäß im Interesse der momentanen Machthaber_innen. Dass ‚primitive‘ Gesellschaften in sich stabil seien und Veränderungen nur von Außen bewirkt würden, entsprach damit den Ansichten und Interessen der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts. Innergesellschaftliche Widersprüche in akephalen Ge38 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Reifizierte Geschichte ein Dauerndes für die Vorstellung aufstellt.“ (Hegel 1837: 203). Neben der Bedeutung von Geschichte als Bericht über ausgewählte vergangene Ereignisse wird Geschichte auch als reifizierte eigenständige Kraft verstanden (vgl. Shanks und Tilley 1987: 38); Bestimmung, Weltgeist, Fortschritt, eine autonome treibende Macht, die gerichtete Veränderungen bewirkt. Im Englischen wird diese reifizierte Sicht gerne als „History with a big ‚H‘“ bezeichnet. Im Deutschen ist es schwerer, beide zu unterscheiden, zu sehr sind wir von Hegels „Geschichte als Gang Gottes durch die Welt“ (Hegel 1820: §258, Zusatz), „Weltgeschichte als der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (Hegel 1837: 21) und Friedrich Schillers „Weltgeschichte als Weltgericht“ geprägt. Mit anderen Worten, Geschichtsschreibung produziert Gruppenidentität, indem sie vergangene Ereignisse auswählt, die dem gegenwärtigen (oder antizipierten, gewollten) Zustand eines Volkes entsprechen. Hegels idealistische Darstellung läßt sich hier problemlos in eine konstruktivistische Analyse überführen. Auch für Jörn Rüsen ist Geschichte „… ein mit den Erfahrungstatbeständen der Vergangenheit konkretisierter Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (Rüsen 1994: 8). Im Gegensatz zu Adelung und Bernheim verwendet er als Bezugsgröße also nicht die A, sondern die B-Serie McTaggarts: nicht die Abfolge im Block-Universum (Hoefer 2011: 73f.), sondern ein vom Betrachter_innenstandpunkt aus definiertes absolutes Vorher und Nachher (Abb. 3). Beide Definitionen beziehen sich auf den Bericht über ausgewählte vergangene Ereignisse, also einen ‚emischen‘ Geschichtsbericht, und in diesem Sinne soll der Begriff auch im weiteren verwendet werden. ‚Ereignis‘ bezeichnet hier dagegen jede Aktion, die eine Veränderung bewirkt, gleich, ob sie beobachtet oder berichtet wurde oder nicht. Die Menge von Ereignissen ist potentiell unendlich, nur durch Beobachtung, Auswahl, Aufladung mit Bedeutung und Überlieferung werden diese zu Geschichte. Zeitverlaufsvorstellungen Für die Historiker des Historismus war Geschichtsschreibung nur mit geschriebener Geschichte und dem modernen Staat verbunden. In einer weiter gefaßten Definition kann man Historik (um das präjudizierende Verb ‚schreiben‘ zu vermeiden) als formalen, narrativen Bericht über die Vergangenheit verstehen, der an eine spezifische Gruppe gerichtet ist. Auch dies ist jedoch, wie oben ausgeführt, nicht universell. Um die Wahrnehmung des Verstreichens der Zeit und eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen zu beschreiben, sind andere Termini nötig. Jörn Rüsen verwendet die Begriffe „Zeiterfahrung“ und „Zeitverlaufsvorstellungen“ als „Knotenpunkt zwischen gegenwärtiger Lebenspraxis, Erfahrung der Vergangenheit und Erwartung der Zukunft“ (2009, 2003: 26). Mit dem sperrigen Begriff „Zeitverlaufsvorstellung“ beschreibt Rüsen (2003: 26f.) das teleologische Einpassen geschichtlicher Ereignisse in die gegenwärtige Lebenspraxis bzw. die Zukunftsperspektiven einer Gesellschaft. Rüsens „historische Sinngebung“, als „... kulturelle Bewältigung von Zeit als Wandel der menschlichen Welt“ (Rüsen 2001b: 22) scheint ebenfalls verwandt. Abbildung 4 zeigt die traditionale, genetische, telische und organische Arten der Sinngebung nach Tobias Schröder (2008). In dieser Darstellung ist auf der x-Achse die Zeit und der y-Achse die Zukunftsantizipation abgetragen. Die Faktoren, mit denen die Zukunftsantizipation oder die Qualität der Zukunft gemessen werden, hängen von der ideologischen Ausrichtung des Autors ab, sie wurden (unter anderem) definiert als: Bevölkerung (Vere Gordon Childe), gute Sitten Abb. 3 A- und B-Serie (Hoefer 2011, fig. 3.2). 39 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit sein generell oder bestimmte Arten des Geschichtsbewußtseins werden hier als per se erstrebenswert angesehen, da im Lehrplan gefordert und Teil der spezifisch deutschen Idee der Erziehung zum/zur ‚mündigen StaatsbürgerIn‘. Eine interkulturelle Anwendung des Begriffes ist zwar erfolgt (z. B. Rüsen u. a. 1998), aber inhärent problematisch, da der Begriff oft, vielleicht unabsichtlich, wertend verwendet wird, für eine Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, die von allen Gesellschaften notwendig zu erreichen ist. Geschichtsbewußtsein ist damit eine Eigenschaft, die eine bestimmte Gruppe in einem bestimmten Ausmaß aufweist und eine andere weniger, nicht ein Oberbegriff für verschiedene Ausprägungen von Geschichtsbewußtsein in allen Gruppen. Zudem wird oft mit einem engen Geschichtsbegriff (geschriebene, narrative Geschichte) gearbeitet. Rüsen definiert daher Geschichtsbewußtsein als „Sinnbildung über Zeiterfahrung im Medium der Erinnerung …“ (Rüsen 1994: 8) und als „… Inbegriff der mentalen (emotionalen und kognitiven, unbewußten und bewußten) Operationen, durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung zur Orientierung der Lebenspraxis verarbeitet wird“ (Rüsen 1994: 6). „Geschichtsbewußtsein als Ort und Gestaltung des historischen Erzählens, seine Ausprägung, seine Dimensionierung, seine Funktionen und, in Ansätzen, seine Entwicklung“ (Rüsen 2001: 1) kann offensichtlich auch den Umgang „kalter“ Gesellschaften im Sinne Lévi-Strauss‘ mit ihrer Vergangenheit einschließen. Rüsen (1994) unterscheidet folgende Arten der „Sinnbildung“: Abb. 4 Typen der historischen Sinnbildung nach Schröder (2008). (Marcus Porcius Cato d.Ä), ein gottgefälliges Leben, Achtung vor den Ahnen, Bildung, Glück und Zufriedenheit (Jeremy Bentham), oder das Bruttosozialprodukt. Dies sind offensichtlich emische Kategorien, die durchaus unterschiedlich definiert und bewertet werden können und meist nicht objektiv zu messen sind. Für die lineare Zeit geben Zukunftsantizipation bzw. die Bewertung von Vergangenheit und Zukunft eine Entwicklungsrichtung vor. So ergeben sich die Deutungsmuster von Evolution, Dekadenz und Stagnation (oder Stabilität). Selten werden diese Entwicklungen als geradlinig erfahren/antizipiert, woduch Abweichungen von der geraden Linie entstehen. Sie können zyklisch sein, und in verschiedenen Zyklen können sich verschiedene Frequenzen und Amplituden überlagern (Abb. 5). Das Vorzeichen auf der y-Achse hängt vom Beobachtungsstandpunkt ab: schwindende Achtung vor den Ahnen z.B. kann aus der Sicht der Stammesältesten negativ, aus der Sicht eines/einer Missionars/Missionarin, Lehrers/Lehrerin oder Geschäftsmannes/Geschäftsfrau als sehr positiv (‚Fortschritt‘) zu werten sein. 1. traditionale historische Sinnbildung Die traditionale historische Sinnbildung erinnert an die Ursprünge der gegenwärtigen Lebensformen. Diese Ursprünge werden gleichzeitig als eine Verpflichtung für die Zukunft angesehen. Dies geht mit der Vorstellung langdauernder, unveränderter Zustände einher, „Zeit wird als Sinn verewigt“. Die traditionale Sinnbildung erzeugt Einverständnis über Normen und sorgt damit in der Praxis für die Bewahrung „überkommener Lebensordnungen“ und Identität durch „affirmative Anpassung und nachahmende Wiederholung“ (Rüsen 1994: 17). Als Beispiele nennt er Ursprungsmythen, aber auch Festreden bei Jubiläen. Diese Definition erinnert an die zuvor genannten „kalten Gesellschaften“. 2. exemplarische historische Sinnbildung Die exemplarische historische Sinnbildung sieht die Vergangenheit als einen Vorrat von Beispielen, die allgemeine Handlungsregeln demonstrieren, und sie behauptet die universelle Gültigkeit solcher Regeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man beschäftigt sich mit der Geschichte, um aus dieser zu Geschichtsbewußtsein Der Begriff Geschichtsbewußtsein wurde entwickelt, um die Bedeutung der Vergangenheit in der Gegenwart zu charakterisieren. Er stammt ursprünglich aus der Geschichtsdidaktik. Geschichtsbewußt40 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Abb. 5 Typen der Zukunftsantizipation. lernen und Klugheitsregeln zu erarbeiten. Historische Identität wird dabei nach Rüsen über Regelkompetenz erworben. Beispiele hierfür sind die antiken Griechen, die mittelalterliche arabische Geschichtsschreibung und die mitteleuropäische Geschichtsschreibung bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. für Rüsen die westliche Geschichtsschreibung seit dem Historismus, also in klassisch „heißen“ Gesellschaften. Dieses genetische Geschichtsbewußtsein bezeichnet Rüsen als „höchste Stufe“ des Geschichtsbewußtseins. Während die Beispiele andeuten, dass bestimmte Formen des Geschichtsbewußtseins nicht unbedingt über die gesamte Gesellschaft verbreitet sind, und keine stereotypen Zuordnungen nicht-schriftlicher Gesellschaften vorgenommen wird, sind einige Zuordnungen doch sehr summarisch (‚antike Griechen‘ etc.). Die Klassifizierung ist auf die neuzeitliche europäische Geschichtsschreibung abgestimmt und inhärent eurozentrisch13. Der Kriterienkatalog für die verschiedenen Kategorien ist relativ grob – Beschreibungskriterien, Zeitverlaufsvorstellungen, Grundlagen historischer Identität und gesellschaftliche Verortung – bietet aber eine mögliche Grundlage oder zumindest ein Vorbild für genauere Studien sowohl zeitgenössischer als auch historischer Gruppen und Gesellschaften. 3. kritische historische Sinnbildung Die kritische Sinnbildung will die vorherrschenden historischen Deutungsmuster widerlegen und Platz für neue schaffen. Sie versteht Geschichte als Gegengeschichte und ist auf der Suche nach Brüchen und Umbrüchen. Identität erscheint als als „Fähigkeit des Neinsagenkönnens“. Die feministische Geschichtsschreibung wird als Beispiel angeführt. 4. genetische historische Sinnbildung Sie beschreibt Veränderung, Prozesse und Entwicklungen und beinhaltet die Anerkennung des Andersseins und die Idee der Bildung. Das Verstreichen von Zeit wird mit Wandel, Veränderung und Fortschritt assoziiert. Historische Identität bildet sich über die Fortdauer des eigenen Selbst durch Wandlung. Diese Konzeption kennzeichnet 13 Wesentlich differenzierter hier Rüsen (1989). 41 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Karl Ernst Jeismann (1985: 40) definierte Geschichtsbewußtsein neutraler als einen „innerer Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“. Bodo von Bories spricht von der Verknüpfung von Zeitebenen als Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung (Rüsen 2001: 2).14 Damit läßt sich der Begriff des Geschichtsbewußtseins auf alle Gesellschaften anwenden, auch solche, die keine narrativen Berichte über die Gruppenvergangenheit kennen, wie zum Beispiel die Nayaka. Für die Erforschung prähistorischen (und ethnograpischen) Geschichtsbewußtseins ist jedoch die Berücksichtigung von Ritualen, ortsgebundenen oder auf Artefakte fokussierten Erzählungen und episodischen/dialogischen, nicht unbedingt chronologisch gegliederten Berichten über die Vergangenheit notwendig. Die Erstellung von Kausalität über Chronologie ist ein narratives Konstrukt, und weder die einzige noch zwangsläufig die beste Art, um über Vergangenheit(en) zu berichten. Homogene, in sich logische Darstellungen sind modernen Vorstellungen über Individualität und Wissenschaftlichkeit geschuldet und nicht notwendigerweise die einzig gültige Art der Geschichtsdarstellung. Der Begriff ‚Geschichte‘ ist zwar so eng mit Schriftlichkeit, Herrschaft und dem Historismus und Evolutionismus des 19. Jahrhunderts verbunden, dass es schwierig ist, sich von den dahinter stehenden Paradigmen zu lösen. Aber er ist zu wichtig, um ihn den Historiker_innen zu überlassen. Die Hoffnung auf ein Pompeii-Ereignis als Momentaufnahme der Vergangenheit, die uns quasi zum AugenzeugInn der Vergangenheit macht – der versteinerte Moment, die Hoffnung, dass nichts wirklich verloren ist und dass sich letztlich alles, wie Siegmund Freuds Unterbewußtes, wieder ausgraben läßt (Olivier 2008) gehört zu den tiefen Faszinationen der Archäologie: Ausgrabung als Erlösung (Benjamin 1991; Siegmund Freud, vgl. Zintzen 2000), Zeugnis und Zeitmaschine. Die meisten Überreste von Siedlungen, wie auch Pompeii selbst, sind jedoch Mischungen und „Verschmierungen“ (Ascher 1960), die aus einer großen Zahl kurzfristiger Ereignisse resultieren. Childe war der Ansicht, dass gerade diese „Verschmierung“ das Untypische auslöscht und nur das Typische zurückläßt. Depositionsprozesse werden so zu einem statistisch ausgleichenden Vorgang: nur ausreichend oft wiederholte Aktivitäten schlagen sich archäologisch nieder. Das ist schlecht für Forscher_innen, die ‚Agency‘ beobachten wollen, aber es vereinfacht das Leben derer, die Strukturen suchen. Francois Audouze und Boris Valentin (2010: fig. 2) haben versucht, das Modell der drei Zeitebenen des französischen Historikers Fernand Braudel (1958, s. a. Bintliff 1995) auf die Vorgeschichte, insbesondere das Paläolithikum zu übertragen. Es illustriert die Zeitskalen, mit denen Prähistoriker_innen agieren und die unterschiedlichen Methoden und Deutungsansätze, die sich aus der Wahl einer Zeitskala ergeben. Die Paläoethnographie untersucht danach Braudels „Ereignisse kurzer Dauer“ (Temps court), angelehnt an Leroi-Gourhans (1950) Konzept der „Ethnographischen Ausgrabung“ von Siedlungsoberflächen, die eine Momentaufnahme prähistorischer Aktivitäten liefern sollte. Paläoethnographie und Paläohistorik widmen sich Braudels „Konjunkturen“ (Conjuncture), Vorgänge mittlerer Dauer, während die Chronographie mit den „Zeiträumen langer Dauer“ (longue durée) befaßt ist. Zeit in der Vorgeschichte Prähistorische Zeitskalen Bei der Untersuchung vorgeschichtlicher Zeit soll zunächst gefragt werden, welche Arten von Zeitabfolgen und Geschichte in der Prähistorie von Interesse sind. Verstehen wir uns als Anthropolog_ innen, welche die Tätigkeit von Individuen verfolgen (Foxhall 2000), Historiker_innen, die Übersichten verfassen (Kent Flannerys (1976) „Great Synthesizer“), oder nähern wir uns anthropogenen Schichten auf einer geologischen Zeitskala? Für die Untersuchung von Zeiträumen mittlerer Dauer, innerhalb der maximalen chronologischen Auflösung die unsere Methoden gemeinhin zulassen, hat die Archäologie bisher wenig Verfahren entwickelt. Mag auch die Dendrochronologie jahrgenaue oder manchmal sogar jahreszeitengenaue Datierungen ermöglichen, entsprechen dem meist keine ähnlich kurzfristigen Befunde. Das Hauses mit einem exakt bestimmten Baujahr gehört zu einem Befund, der über Jahrzehnte in Nutzung und den entsprechenden „Verschmierungen“ unterworfen war. Die zu Tode gerittene Metapher der „Archäologischen Überlieferung als Palimpsest“ illustriert das sehr 14 Michael Bentleys von John Bender und David Wellbery (1989) übernommener Begriff „Chronotypen“, definiert als „a temporal regime that validates judgments about the relationship between past, present, and future“ (Bentley 2006: 350), scheint in etwa dasselbe zu bezeichnen, ist aber wesentlich feiner auf konkrete Epochen der (westlichen) Geschichtsdeutung des 19. und 20. Jahrhunderts bezogen. 42 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit gut: Prähistoriker_innen versuchen, die verwischten Schriftzüge einzelner Vorgänge wieder herzustellen und ihre Stratigraphie zu klären, haben aber kaum Methoden entwickelt, um das Artefakt „Manuskriptseite“ zu deuten: sein Rohmaterial, Tintenreste, Kratzspuren, Schimmel und Frasslöcher und all die anderen Zeitspuren, die sich darauf niedergeschlagen haben. erklären. Diese wurden oft als quasi naturgegeben hingenommen. Andreas Zimmermann (2007) erklärte die Herausbildung von Grenzen zwischen Gebieten verschiedenen keramischen Stils und verschiedener lithischer Rohmaterialspektren beispielsweise mit „Kommunikationsintensität“, dies verschiebt die Frage aber nur zu den Ursachen letzterer. Lediglich die evolutionary Archaeology untersucht systematisch Verlauf und Gründe von Stilwandel (z. B. Hurt und Rakita 2001; Shennan und Wilkinson 2001; Bentley und Shennan 2002; Tehrani und Collard 2002; Bentley u. a. 2004, Cochrane 2009, Cochrane und Gardner 2010). Sie hat aber eine so spezialisierte Sprache und Methodik entwickelt, dass sie für Außenstehende kaum verständlich ist; zudem sind ihre Grundannahmen umstritten. Neben vereinzelten Momentaufnahmen versucht die Prähistorische Archäologie also vor allem, Vorgänge „langer Dauer“ zu interpretieren. Veränderungen von Werkzeug- und Waffentypen oder von Keramikform und Verzierungen werden über große Zeiträume und große Entfernungen verfolgt. Die klassische typologische Methode funktioniert nur, wenn in der Entwicklung eines Gerätetyps keine Sprünge stattfinden, also wenn die Entwicklung keine Lücken hat und keine völlig neuen Gegenstände eingeführt werden. Axt und Kettensäge lassen sich nicht in eine typologische Reihe bringen, auch wenn sie (teilweise) dem selben Zweck dienen. In der Methodik der Typologie ist eine allmähliche Evolution unvermeidlich angelegt. Stilwechsel – Datierung und Deutung Absolute Datierungsmethoden wie Dendrochronologie und radiometrische Methoden haben die Archäologie seit Beginn der 1960er Jahren grundlegend verändert, besonders die Kenntnis der Steinzeiten. Im Grabungs- und Museumsalltag ist die typologische Datierung von Artefakten und Befunden aber immer noch die wichtigste Methode. Naturwissenschaftliche Analysen sind langwierig und teuer, eine typologische Einordnung verlangt dagegen lediglich gute Materialkenntnis. Für Oscar Montelius (1903) hatte, im Gegensatz zu Hans Hildebrand (1866), eine typologische Reihe zudem keine vorgegebene oder notwendige Richtung. Nur typologische Relikte zeigten die Entwicklungsrichtung an, sowohl Weiterentwicklung als auch Dekadenz waren möglich. Damit hatte die Geschichtskonzeption eines/einer Archäologen/ Archäologin oder eines Historikers/einer Historikerin (Al-Azmeh 1999) einen entscheidenen Einfluß auf seine/ihre Deutungen. Kossinna (1935 [1912]) ließ das Neolithikum mit der Schnurkeramik beginnen, weil ihre Gefäße am primitivsten wirkten. Im Gegensatz dazu stellte Glyn Daniel (1963: 71–74), Stuart Piggott folgend, die ‚degenerierten‘ Stalled Cairns mit ihrem ‚einfachen‘ Grundriß an das Ende der Entwicklungsreihe der orkadischen Megalithgräber, die er mit dem perfekt symmetrischen kreuzförmigen Ganggrab von Maes Howe beginnen ließ. Entsprechend konnten die Keramikstile des Alt- und Mittelneolithikums in vielfältigen Varianten geordnet werden (Schliz 1901; Kossinna 1935 [1912]; Reinerth 1923), je nachdem, ob Evolution oder Dekadenz als Ordnungsprinzip herangezogen wurde. Die letzte Umkehr der Abfolge erfolgte erst 1979 (Zápotocká 1979; Meier-Arendt 1979). Die Faktoren, die hinter typologischen Abfolgen und Stilwechsel stehen, sind grundlegend für unser Verständnis von Zeit und von Veränderungen in der vorgeschichtlichen Vergangenheit und wurden seit der Entstehung des Faches diskutiert. Das Thema kann hier nur kurz angerissen werden, soweit es Zeitwahrnehmung und Geschichtsbewußtsein berührt. Die Charakterisierung der Vorgeschichte als Geschichte mit Völkern als Handelnden anstelle großer Personen (u. a. Wahle 1932) oder „Volksgeschichtsschreibung mit archäologischen Mitteln“ (Gildhoff 2007) ist nach 1945 aus gutem Grund in Verruf geraten. Nachdem wandernde Völker im Stil Gustaf Kossinnas als die Ursachen von Stilwandel weitgehend ausfielen15 und die Gleichsetzung archäologischer Kulturen mit Völkern oder Stämmen insgesamt suspekt geworden war, tat sich das Fach schwer damit, die Verteilung und die Veränderungen unterschiedlicher Stile zu 15 Wenn sie auch inzwischen durch die scheinbar objektiven paläogenetischen Untersuchungen durch die Hintertür wieder weitgehend unreflektierten Eingang zu finden scheinen. Die Typologie von Montelius bzw. deren weitere Anwendungen folgte den Prinzipien der biologi43 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit schen Evolution, wie sie Charles Darwin entwickelt hatte – weniger funktionale Geräte wurden von effizienteren Formen abgelöst (Åberg 1929). Dies ließ sich mit Beilen und Fibeln überzeugend demonstrieren, bei keramischen Gefäßen und deren Verzierung versagte das evolutionistische Prinzip jedoch weitgehend. Forscher wie Schuchhart (1909) argumentierten dahingegen mit ästhetischen Kriterien, in anderen Zusammenhängen wurde technische Kompetenz angeführt (Skibo u. a. 1989). In der mitteleuropäische Vorgeschichte läßt sich jedoch vor der Einführung der Töpferscheibe weder eine durchgehende technologische noch eine wie auch immer definerte ästhetische Entwicklungsreihe der Keramik definieren. Generische Ähnlichkeiten in Form und Verzierung erlaubten eine Anordnung innerhalb von ‚Kulturkomplexen‘ wie z. B. dem Altneolithikum und dem Jungneolithikum oder der älteren und mittleren Bronzezeit. Dazwischen liegen jedoch Brüche, die typologisch nicht oder kaum zu überbrücken waren.16 auf Siedlungsfunde und andere Fundgattungen übertragen. Eine Unterscheidung zwischen Innovation und Migration ist damit unmöglich. Zum anderen kann, wie Christian Strahm (1977: Abb. 2) gezeigt hat, der Eindruck eines Bruchs in der Stilentwicklung allein durch die Lückenhaftigkeit der Überlieferung entstehen. Da der Stilwechsel von unterschiedlichen Bestandteilen der materiellen Kultur mit unterschiedlichem Tempo stattfindet, was durch die Lebensdauer der entsprechenden Elemente, aber auch ihre soziale Bedeutung bedingt sein kann (Sommer 2001), und die Geschwindigkeit des Stilwechsels im Einzelnen nicht notwendigerweise gleichbleibt, kann sowohl der Eindruck eines ‚Kulturbruches‘ wie der der Kontinuität irreführend sein. Erst über absolute Datierung ist es möglich, Aussagen über die Geschwindigkeit von Stilwechsel in den jeweiligen Medien zu treffen. Mathematische Verfahren, die auf der typologischen Methode beruhen, wie Seriation, Kombinationsstatistik, Hauptkomponentenanalyse etc. arbeiten auf derselben Grundlage. Sie können daher genausowenigt mit plötzlichen (und gezielten?) Veränderungen umgehen.Als Beispiel mögen die Schwierigkeit, die Keramik des Mittelneolithikums zu seriieren, und der ‚Knick‘ in der Seriations-Kurve (Spatz 1999; Eisenhauer 2002; Dammers 2003) dienen. Typologie arbeitet nach dem Prinzip der Entwicklung (auf- oder absteigend) durch die Zeit. Dem stand ein Paradigma entgegen, das von unveränderlichen mentalen Charakteriska ethnischer Gruppen ausging. Für Kossinna (1935 [1912]) war die Vorliebe für bestimmte Formen rassisch bedingt, Formprinzipien änderten sich nur, wenn ein Volk „unterging“ oder sich „vermischte“. Für ihn konnte der Germane gar nicht anders, als tektonische Töpfe herzustellen, in der Jungsteinzeit wie in der Eisenzeit. Ebenso sei ihm eine „Schöpferkraft“ angeboren, die zu beständigem Fortschritt führe, anderen „Rassen“ jedoch fehle. In diesem Gedankengebäude sind plötzliche Veränderungen innerhalb des Systems also ebenfalls unmöglich, sie müssen als Anzeichen von Invasionen/Migrationen gedeutet werden. Die zeitliche Ordnung, die Methoden wie Typologie oder Seriation erzeugen, hat Ordinalskalenniveau. Es besteht also kein Grund anzunehmen, dass die Abstände zwischen verschiedenen, durch Archäolog_innen definierte Merkmalsausprägungen gleich sind, obwohl Alfred Kroeber (1944) eine Normalverteilung von Innovationen annahm (vgl. Lyman und Harpole 2002). Wie Laurent Olivier (2008) herausgestellt hat, muss das jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Brüche in der typologischen Reihe wurden somit bislang entweder durch Erfindungen und den generellen Fortschritt oder durch Migration und Eroberung erklärt. Prinzipiell ist es einfach, zwischen beiden zu unterscheiden: Bei einer Erfindung sollten die anderen Bestandteile der materiellen Kultur unverändert weiterlaufen, wurde eine Bevölkerungsgruppe durch eine andere verdrängt, ist dagegen der Wechsel aller Kulturelemente zu erwarten. In der Praxis erfolgt die chronologische Gliederung des Fundmaterials insgesamt allerdings meist nur über eine Fundgattung, und eine anhand von Metallgegenständen aus Gräbern und Horten definierte Kulturentwicklung lässt sich oft nicht James Sackett (1977), Margaret Conkey (1978) und Ian Hodder (1982) haben darauf hingewiesen, dass materielle Kultur aktiv zu den verschiedensten Zwecken benutzt wird, etwa zur Abgrenzung von anderen ethnischen Gruppen, aber auch in innerkulturellen Konflikten. Laut Hodder (1982: 69) versuchen Njemps-Frauen in Kenia mit der Verzierung von Kalebassen der männlichen Vormacht insgeheim entgegenzutreten. Roy Larick (1986) hat herausgearbeitet, wie jede Altersklasse von Loikop-Kriegern andere Speerformen verwendet, um ihre Identität anzuzeigen und ihre Opposition gegenüber der jeweils älteren Altersklasse auszudrücken. Veränderung ist kann also nicht allein durch das Verstreichen von Zeit er- 16 Vgl. z. B. das Problem des Beginns des Michelsberger Komplexes (Lüning 1967). 44 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit klärt werden (vgl. Shanks und Tilley 1987: 33); ganz sicher besteht zwischen beiden keine einfache lineare Beziehung. dungsstücke tragen, und die spezielle Bedeutung einer bestimmten Farbe kann verschwinden oder vergessen werden, ohne dass deshalb die entsprechenden Kleidungsstücke verschwinden. Analog könnte eine prähistorische Keramikverzierung hochsignifikant und politisch aufgeladen, aber 100 Jahre später nur noch „‚traditionell‘ sein. Die Verzierung auf hessischer Bauernkeramik ahmte im 18. Jahrhundert herrschaftliche Waren nach und deutet das Bemühen um sozialen Aufstieg an, im 20. Jahrhundert, mit zunehmender Reduzierung der Produktion hatten sich die Blumenmuster zu drei Punkten reduziert, deren Ableitung meist weder Hersteller_innen noch Nutzer_innen bekannt war. Materielle Kultur kann also Unterschiede zwischen wie auch immer gearteten Gruppen anzeigen. Handelt es sich um Kommunikationsräume, sind die Änderungen langwierig (chronographisch im Sinne von Audouze und Valentin 2010), quasi naturwüchsig und für die Beteiligten vermutlich weitgehend unsichtbar. Handelt es sich um Interessengruppen, werden Unterschiede bewußt eingesetzt und erzeugt, und entstehen extrem kurzfristig. Politische Gruppen, wie Rundköpfe und Kavaliere der Englischen Revolution oder Aristokraten und Sansculotten 150 Jahre später in Frankreich, unterschieden sich nicht nur durch Ideologie, sondern auch durch Frisur und Kleidung, wie die jeweiligen Benennungen andeuten. In der gescheiterten Grünen Revolution im Iran im Jahre 2009 zeigten grüne Kleidungsstücke den Protest gegen die Regierung, ähnlich wie die RedShirts in Thailand 2010. Diese Kleidungsstücke hatten einen spezifischen und komplexen Bedeutungsinhalt, der jedoch kontext- und zeitabhängig ist. Man kann ihn mit Rüsens Ultrakurzgeschichten vergleichen, sie „dienen der schnellen Verständigung über historische Voraussetzungen, Hintergründe, Erklärungen und Implikationen einer Aussage. Sie sind in Sprache eingelagerte Geschichten, die nicht als solche erzählt werden, sondern als schon erzählte aufgerufen und kommunikativ verwendet werden.“ (Rüsen 1994: 10). Solche Gegenstände mit Signalwirkung verbreiten sich nicht langsam, wie bedeutungslose Gegenstände, über Kontakt und Nachahmung, und sie verändern sich während ihrer rapiden räumlichen Ausbreitung nicht, eben da sie Bedeutungsträger sind. Aus dem selben Grund werden sie nicht von der gesamten Population übernommen. Damit ist materielle Kultur weder grundsätzlich ein Bedeutungsträger gleichbleibender Relevanz, noch ein sicheres Indiz für ‚normale‘ chronologische Veränderung, sondern die Bedeutung eines Artefaktes oder einer Artefaktkategorie muß in jedem einzelnen Fall separat erschlossen und durch die Zeit verfolgt werden. Das ist nur möglich, wenn absolute Datierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, mit denen die Geschwindigkeit des typologischen Wandels und dessen Verbreitung im Raum untersucht werden kann. Geschieht dies nicht, kommt es nicht nur zu falschen Datierungen, sondern die aktive ideologische Nutzung materieller Kultur wird ignoriert und fällt damit als Geschichtsquelle aus. Geschichte in der Vorgeschichte Archäolog_innen schreiben eine Geschichte der Vorgeschichte, auf welcher Zeitskala auch immer, aber gab es in der Vorgeschichte ein Geschichtsbewußtsein? Wurden Veränderungen in nicht-schriftlichen Gesellschaften als ‚Geschichte‘ wahrgenommen, und wenn ja, wie? Während dies bei historischen Gruppen und ihren Symbolen offenkundig ist, verschleiert die geringe chronologische Auflösung prähistorischer Chronologien ein solches Phänomen weitgehend. Wird das Modell ungerichteten, stochastischen Wandels (‚Mode‘) auf die Verbreitung ideologisch aufgeladener Gegenstände oder Trachten übertragen, wird nicht nur der Grund, sondern auch die Dauer des Wandels völlig falsch beurteilt werden. In Rüsens (1994, 1998) Typologie ist die einfachste Stufe des Geschichtsbewußtseins das traditionale. Ich nehme an, dass viele Forscher_innen vorgeschichtliche Gesellschaften, vielleicht auch traditionelle, nicht-industrielle Gesellschaften diesem traditionalen Geschichtsverständnis zuordnen. Dies würde jedoch die Unterscheidung zwischen primitiven „kalten“ und zivilisierten „heißen“ Gesellschaften, also zwischen ahistorischen oralen und historisch bewußten schriftlichen Gesellschaften fortsetzen, die ich weiter oben zu kritisieren suchte. Da solche Bedeutungsträger im Alltag genutzt werden (im Gegensatz etwa zu einem Kultgegenstand oder einer Standarte), was einen Teil ihrer Wirksamkeit ausmacht, müssen sie nicht unter allen Umständen überall und immer die selbe Bedeutung haben. Ein Mensch kann rein zufällig grüne Klei- Wie neuere 14C-Daten zeigen, gibt es durchaus Abschnitte der Vorgeschichte, in denen sehr rasche 45 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit Veränderungen stattfanden, die auch für die Zeitgenoss_innen deutlich sichtbar waren, bzw. von diesen gezielt herbeigeführt wurden. Dem stehen andere Perioden gegenüber, in denen so wenig (archäologisch sichtbare) Veränderung stattfand, dass man Mechanismen annehmen kann, die Wandel sanktionieren und weitgehend unterbinden, wie Hexereianklagen, soziale Isolation (Reina 1953) und innerfamiliärer Druck (Kerig 2008). Wie wurden Veränderungen definiert und wahrgenommen, und wie wurde dementsprechend persönliche Erinnerung in ‚Vergangenheit‘ oder gar ‚Geschichte‘ verwandelt? Weitergehend gefragt, wie wurden Veränderungen begründet und legitimiert? Um Lévi-Strauss‘ Konzept zu überwinden und zu historisieren, ist eine Untersuchung prähistorischen Geschichtsbewußtseins notwendig, die nicht unreflektiert evolutionistische Typologien übernimmt. Rüsens Typologie muß hier deutlich erweitert und vor allem verfeinert werden. Körpergedächtnis kann über Lernen durch Nachahmung (vgl. Ingold 2011) extrem lange Zeiträume und sogar den Wechsel der Wirtschaftsweise überdauern. Das beste Beispiel ist immer noch Hartwig Löhrs (1994) Untersuchung der Lateralisierung Mesolithischer und Bandkeramischer Pfeilspitzen. Altsachen, hier verstanden als Gegenstände aus einer Zeit, die nicht mehr der eigenen zugerechnet wird (jenseits der oralen Geschichten), finden sich hin und wieder im archäologischen Befund, wie eine bronzezeitliche Nadel in einem Merowingischen Grab (Kubach 1977) und die vielfältige Nutzung römischer Fibeln im angelsächsischen England (Eckart und Williams 2003). Aus schriftlichen Quellen ist bekannt, dass die Griech_innen Fossilien als die Knochen von Heroen interpretierten (Mayor 2000). Der durchbohrte Breitkeil aus dem Grab von Leubingen wurde für Strahm (2010: 175), der auf weitere Funde aus reichen Aunjetitzer Gräbern verweist, wegen seines Alters ausgewählt; „…man hat ihnen meines Erachtens die Bedeutung eines uralten Herrschaftszeichens gegeben, um zu zeigen, dass die neue Institution der Verfügungsgewalt ihren Anspruch von alten Urahnen ableiten kann, d. h. man hat damit seine Position legitimiert.“ Es zeigt sich hier also eine große Spannweite der Interpretationen, von Kuriosa über Recycling zur symbolischen Nutzung. Nur der Kontext kann hier bei der Deutung weiterhelfen. Als Quelle steht hier vor allem der Umgang mit ‚langlebigen‘ Funden und Befunden – meist monumentaler Art – die über einen längeren Zeitraum oder mit Unterbrechungen mehrfach verwendet wurden und der Umgang mit Altstücken zur Verfügung. Dabei erfolgt die Bezeichnung als ‚langlebig‘ natürlich ex-post. Ein Mahlstein wird als langlebig antizipiert, kann aber schon am nächsten Tag mit seinem/seiner toten BesitzerIn begraben werden. Töpfe sind eher kurzlebig, eine kleine Auswahl ‚überlebender‘ Exemplare kann aber zu Erbstücken werden. Wie Michael Thompson (1979) betont, kann es gerade diese Auslese sein, die Stücken besonderen Wert verleiht. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass Gegenstände, die an besondere Vorgänge erinnen, bewußt aufbewahrt werden. Die vielfachen Flickungen der Gefäße aus den bandkeramischen Brunnen des Leipziger Landes (Smolnik 2010) warnen zudem davor, die Lebensdauer (und den Wert) keramischer Gefäße zu unterschätzen. Der Gebrauchs-Charakter von Gegenständen kann ebenfalls dazu verleiten, ihre Bedeutung als Erinnerungsträger_innen zu ignorieren. Alice Choyke (2009) hat auf die Knochenlöffel der ungarischen Körös-Kultur hingewiesen – aus dem harten Stirnbein von Rindern gefertigt und oft bis auf den Griff abgenutzt. Die Lebensdauer dieser Gegenstände dürfte die der entsprechenden Siedlungen deutlich übertroffen haben, und den unscheinbaren Löffel so zu einem generationenübergreifenden Erinnerungsobjekt gemacht haben. Andrew Gardner (2012) hat versucht, die Geschwindigkeit historischer Veränderungen anhand der Anzahl von Artefakttypen nachzuvollziehen. Für die Vorgeschichte wurde die bewußte Nutzung materieller Kultur als Erinnerungsträger bisher wenig untersucht, da die Typologie immer noch die Krücke ist, über die Chronologie hergestellt wird (s. o.). Solche Studien wären vor allem anhand dendrodatierter Befunde wie Brunnen und Siedlungen möglich. Aber auch mit einem engen Netz von 14C-Daten lassen sich unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten aufzeigen, wie etwa in der Linearbandkeramik. Nicht nur stilistische Änderungen, sondern auch ‚technischer Wandel‘ kann aktiv ideologisch eingesetzt worden sein, auch bei letzterem müssen nicht, oder nicht immer, Nützlichkeitserwägungen und Fortschritt im modernen Sinne im Vordergrund stehen. Alastair Whittle und seine Koautor_innen (2008, 2011) betonen, dass 14C-Daten allein durch ihren statistischen Charakter eine zu lange Nutzungsdauer von Befunden (und analog Laufzeit von Artefakten) vorspiegeln können. Sie fordern daher eine Korrektur aller Daten über die Bayes‘sche Statistik, die Informationen wie die Stratigraphie eines Befundes mit einbezieht. Allerdings sind genügend stratigraphisch exakt zuzuweisendende 14C-Daten nur selten vor46 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit handen und im Siedlungskontext auch kaum zu erwarten. Eine verkürzte Nutzungsdauer, wie etwa für einige britische Langbetten nachgewiesen (Whittle u. a. 2008, 2011; Bayliss u. a. 2007) verändert jedoch unsere Perspektive auf die Stilentwicklung. Langsamer Stilwechsel kann durch Übertragungsfehler und weitgehend zufällige Auswahlprozesse bedingt sein und wird von den Zeitgenoss_innen nicht als solcher wahrgenommen, im Gegensatz zu schnellem Stilwechsel, bei dem vermutlich eine Absicht zu unterstellen ist, die vielleicht eine „heiße“ Entwicklungsphase kennzeichnet. sondern auch der Toten, oder nutzten sie einfach nur vorhandene Erhebungen, ohne deren anthropogenen Charakter zu bemerken oder für wichtig zu halten? Das Verhältnis kann noch komplexer sein: der angelsächsische Heilige Guthlac richtete seine Wohnstatt in einem beorgseƿel, einem Grabhügel (unbekannter Zeitstellung) ein (Colgrave 1956). Hier waren Dämonen wohnhaft, deren Austreibung zu den klassischen Aufgaben von Heiligen gehört. Auch Megalithgräber können sehr lange genutzt werden. Das Cotswold-Severn-Grab von West Kennet in Wiltshire enthält frühneolithische Bestattungen mit Keramik von Typ Western Carinated, die Füllung Scherben vom britischen Frühneolithikum über verschiedene Stile der Peterborough Ware, Grooved Ware und Glockenbecherscherben (Piggott 1958; Thomas und Whittle 1986). Damit ergibt sich eine Nutzung über mindestens 500 Jahre, ob diese aber kontinuierlich war, läßt sich nicht sagen. Die Art der Nutzung scheint sich jedoch geändert zu haben (Bestattung vs. Deponierung von ‚Siedlungsmaterial‘). Bedeutet eine solche Nutzung eines Bauwerkes über mehrere keramische Phasen nun aber einen bewußten Bezug zur Vergangenheit oder ist diese Interpretation lediglich ein Produkt unserer Klassifikation bzw. des archäologischen Kulturbegriffs (Lüning 1972; Sommer 2007)? Auch ist die Umnutzung von Befunden häufiger und komplexer als oft vermutet. Gräber gelten gewöhnlich als geschlossene Funde, dies ist jedoch nicht immer der Fall. Die Ertebölle-Gräber von Skateholm etwa wurden nachträglich geöffnet, um einzelne Knochen zu entnehmen (Sturtz 2003). Der Umgang mit Knochen und Schädeln im Präkeramischen Neolithikum B der südlichen Levante (Kujit 2008) zeigt ebenfalls, wie langwierig und vielstufig der Bestattungsprozeß sein kann, in dessen Verlauf der/die Tote vermutlich zum/zur Ahnen/Ahnin wurde, um schließlich der Vergessenheit anheim zu fallen. Grabhügel und Großsteingräber wurden häufig weiter- und wiedergenutzt. Hügelgräberbronzezeitliche Hügel sind oft um eine Zentralbestattung angelegt, weitere konzentrisch angeordnete Gräber können zu später verstorbenen Familienangehörigen gehören (Weber 1992: Abb. 96). Viele Bestattete waren also vermutlich in der kollektiven Erinnerung der Familie oder der Siedlung präsent. Für dieArchäo-log_innen gehören sie gewöhnlich zur selben ‚Kultur‘. Alain Gallay (1979) brachte die Ausräumung und Neubelegung der Gräber von Sion Petit Chasseur mit dem – gewaltsamen – Kulturwandel von Schnurkeramik zu Glockenbecherkultur in Verbindung. Ausräumungen und die Einbringung von Füllmaterial bzw. die Blockierung der Eingänge von Megalithgräbern finden sich jedoch auch innerhalb der selben keramischen Tradition (vgl. z. B. Lynch 1969 für die walisischen Cotswold-Severn-Gräber). Manche dieser Gräber, zum Beispiel Hazleton North (Saville 1990; Whittle u. a. 2011) oder Ascott-under-Wychwood (Benson and Whittle 2007) wurden dagegen bald nach ihrem Bau, innerhalb derselben keramischen Tradition, verschlossen. Reichen die Bestattungen über zwei aufeinanderfolgende Kulturen, wird manchmal für eine ideologische Kontinuität argumentiert. Der Aunjetitzer Grabhügel von Helmsdorf mit seinen reichen Beigaben überlagert einen schnurkeramischen Hügel. Strahm (2010: 168) und andere halten dies für eine bewußte Anknüpfung an schnurkeramische Traditionen, und in der Tat weist die Aunjetitzer Kultur zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Endneolithikum auf. Eine Weiternutzung muss jedoch nicht immer eine pietätvolle Aneignung der Vergangenheit bedeuten, sie kann auch deren Überwindung anzeigen, wie im Falle der christlichen Kirchen auf/in heidnischen Tempeln. Dies wird zum Beispiel für die angelsächsische Nachnutzung prähistorischer bzw. romano-britischer Grabhügel diskutiert. Stellten die Eroberer_innen eine Verbindung zum Land und dessen vorherigen Bewohner_innen her (Williams 1998, 2006), zeigten sie im Gegenteil die Unterwerfung nicht nur der Lebenden, Zusammenfassung Sind verschiedene Formen prähistorischen Geschichtsbewußtseins, ungeachtet des Oxymorons, das diese Frage zu beinhalten scheint, also archäologisch faßbar? Ich denke ja. Prinzipiell stehen uns die methodischen Werkzeuge – detaillierte Ausgrabung und detaillierte Datierung – auch zur Verfügung. Dem stehen allerdings unsere fachlichen Traditionen und Begrifflichkeiten entgegen. Solange 47 Forum Kritische Archäologie 3 (2014) Themenheft: Zeit nur Komplexe, aber nicht Einzelfunde datiert werden, und ein Befund damit als Momentaufnahme wahrgenommen wird, fällt es schwer, den Lebensgeschichten von Artefakten (Kopytoff 1986) zu folgen. Die unkritische Gleichsetzung von Stilentwicklung und Datierung verhindert, dass der aktive Gebrauch materieller Kultur sichtbar wird oder werden kann. Der archäologische Kulturbegriff schließlich führt zu der Erwartung gleichlaufender Entwicklungen für verschiedene Artefaktkategorien, und Lebensbereiche, wie z. B. Funerärpraktiken. Außerdem werden Befunde als ‚Klasse‘ oder Typ wahrgenommen (Cotswold-Severn Tombs, Stader Kammer etc.), was von der individuellen Geschichte einzelner Bauwerke ablenkt. Bauwerke mögen ursprünglich zum gleichen Zweck und mit ähnlichem Plan errichtet worden sein, das heißt aber nicht, dass sie die gleiche Geschichte teilen müssen. ‚Kulturgebiete‘ können sich ändern, und vor allem können sich starke lokale oder örtliche Traditionen ausbilden, die an einem einzelnen Bauwerk ansetzen. Damit sind insgesamt auch sehr verschiedene Arten des prähistorischen Geschichtsbewußtseins zu erwarten. Der Erfolg von Forschungen zu diesem Thema hängt weniger von den Methoden ab, diese sind weitgehend bereits entwickelt, sondern eher von geeigneten Fragestellungen. Allen, Danielle. 1996. A Schedule of Boundaries: An Exploration, launched from the Water– Clock, of Athenian Time. Greece & Rome, Second Series 43(2): 157–168. Althusser, Louis. 1968. Les défauts de l’économie classique. Esquisse du concept de temps historique. In Louis Althusser und Etienne Balibar, Hrsg.: Lire Le Capital. Paris: Maspero. http://multitudes.samizdat.net/Temps-etconcept-chez-Louis. 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