Die paradoxale Verfassung des Nichts*
von Karen Gloy, Heidelberg
/. Die Frage nach Wesen und Erfaßbarkeit des Nichts
Sobald das philosophische Denken erwacht und der Mensch auf sich selbst und die
ihn umgebende Welt zu reflektieren beginnt, ersteht ihm die Frage: Woher bin ich? Ist
die Interdependenz zwischen dem einzelnen als einem innerweltlich Seienden und der
ihn'umgebenden Welt einmal eingesehen, so erweitert sich die Frage zu der umfassenderen: Woher ist das Universum? Und meint man eine Antwort in dem Ansatz eines
transzendenten Wesens zu finden, dessen Ratschluß und Wille die Welt hervorgebracht
hat, so versperrt sich dieser Ausweg sogleich wieder dadurch, daß das Fragen auch
noch auf diesen vermeintlichen Weltschöpfer ausgedehnt und in einer letzten und
höchsten Steigerung gefragt werden kann, wieso dies alles bestehe, wieso nicht statt
seiner Nichts sei1. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Frage nach dem Nichts das
menschliche Nachdenken seit seinen Ursprüngen in Bann hält. Nicht nur ist sie eines
der fundamentalen Themen der abendländischen, von den Griechen geprägten und
durch die jüdisch-christliche Religion maßgeblich beeinflußten Philosophie, sondern
auch eines der großen Themen der östlichen Philosophien, z.B. der buddhistischen
Nirwanalehre.
In seiner Behandlung enthüllt sich das Nichts als eines der bedrückendsten, wenngleich faszinierendsten Probleme, bedrückend deswegen, weil es sich jeder Objektivation, jedem Versuch einer begrifflichen Artikulation und exakten gedanklichen Bewältigung entzieht und in unüberwindbare Aporien führt, faszinierend deswegen, weil es
allen aus diesen Aporien resultierenden Dementierungs- und Disqualifizierungsversuchen, allen Bemühungen seiner Herabsetzung zu einem bloßen Pseudobegriff zum
Trotz sich als eine Grunderfahrung des Menschseins erweist und das Fragen nicht zur
Ruhe kommen läßt. Diese „Mißgeburt des Denkens", wie Cohen2 sagt, ist gleicherweise Ausdruck tiefster logischer Verlegenheit wie permanenten Ansporns zum Nachsinnen. Im theoretischen Bereich begegnet das Nichts in der Nichtigkeit der Erkenntnis:
in den Formen der Verfehlung der Wahrheit: Täuschung und Irrtum, im praktischen
Bereich im Versagen der Handlung: in Unvermögen, Überfordertsein, Wollen und
* Die Abhandlung wurde als Antrittsvorlesung am 18. Juni 1980 an der Universität Heidelberg
gehalten,
1
Vgl. Kants Ausführung in der Kritik der reinen Vernunft A613/B641 über die Abgründigkeit
des letzten Grundes.
2
H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis» Berlin 1902, S. 70.
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Karen Gloy
Nichtkönnen, Bosheit und Schuld, wie auch in der Nichtigkeit der Werte: in Unwert,
Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit des Lebens, im Bereich von Natur und Kunst in
Verfall, Untergang oder Zerstörung. Versuchte man, alle diese Erfahrungen von
Nichtigkeit weg- und umzuinterpretieren in die Erfahrung der Substitution eines
Positiven durch ein anderes Positives, so widersetzte sich zumindest die Begegnung mit
dem Nichts im Tod einer Umdeutung oder gar Bestreitung. Diese Nicht-Wegdenkbarkeit des Undenkbaren ist es, die das Nachdenken stets aufs Neue beschäftigt.
Vor allem zwei Problemkomplexe interessieren, zum einen der, der das Wesen des
Nichts betrifft, zum anderen der, der die Möglichkeit des Zugangs zu ihm behandelt.
Da sich der Zugang zum Nichts verständlicherweise nur vom Etwas, vom Positiven,
Seienden aus erschließt, muß seine Charakteristik von ihm her erfolgen. Beide Problemkomplexe sind somit an die Erörterung der Fassung und Erfassung des Seienden
gebunden, mit Heideggers Worten, an die Frage nach dem Sinn von Sein3. Der Klärung
dieser Probleme gelten die folgenden Überlegungen.
Methodisch soll dabei systematisch, nicht historisch verfahren werden. So interessant
die Nachzeichnung der Genese der Nichts-Problematik innerhalb der europäischen
Philosophie sein mag, angefangen von Parmenides und seiner rigorosen Leugnung des
Nichtseins über Platons Rettungsversuch im Sophistes und Parmenides mittels einer
Uminterpretation des Nichts in ein Nicht-Dieses, sondern Jenes, also Anderes, über
die mittelalterlich-theologische Auslegung des christlichen Dogmas von der creatio ex
nihilo bis hin zur Etablierung der Nichts-Thematik als einer basalen in der Existenzphilosophie wie zu den inversen Reduktionsversuchen des Nichts auf die schlichte
Negation in der modernen Logik und sprachanalytischen Philosophie, ein solcher
Verfolg ist doch so lange wenig sinnvoll, wie nicht die prinzipiellen Schwierigkeiten
aufgedeckt sind, die das beständige Movens der Entwicklung der theoretischen Versuche, ihrer Reformulierungen wie Dementierungen, bilden. Aus diesem Grunde erscheint es gebotener, statt einer Präsentation historischer Konzepte einen Aufweis der
diversen, prinzipiell möglichen Konstruktionen und Modelle des Nichts und der mit
ihnen verbundenen Schwierigkeiten zu geben, um auf diese Weise Beurteilungskriterien
sowohl für die bereits bestehenden wie für die künftig zu erarbeitenden Konzepte zu
gewinnen. Historische Paradigmen sollen hierbei lediglich zur Exemplifikation dienen.
II. Die Wesensbestimmung des Nichts
1. Die sprachanalytische Reduktion des Nichts auf Nicht
Bevor die Frage nach dem Wesen des Nichts und dessen Merkmalen beantwortet
werden kann, muß geklärt sein, ob sie sich sinnvoll überhaupt stellen läßt, behandelt sie
3
Ob und wieweit auch umgekehrt die Frage nach Wesen und Zugang des Seienden von der Frage
nach dem Nichts dependiert, bleibt einer Sonderuntersuchung vorbehalten, soweit nicht die
nachfolgenden Ausführungen Hinweise hierauf enthalten. Ein Sonderstatus des Seienden gegenüber dem Nichts steht kaum zu erwarten.
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doch das Nichts gegenstandsanalog als Sache mit einer
. Bezeichnet der Begriff
„Nichts* überhaupt einen Sachverhalt, wenn auch keinen positiven, so doch einen
negativen? Deutet er auf eine Realität oder zumindest auf eine Setzung, deren Gehalt
den Urteilen über das Nichts normierend und regulierend gegenübersteht, oder ist er
ein leeres Wort, ein sprachlicher Ausdruck ohne jeden Transzendenzcharakter? Im
letzteren Fall reduzierte sich seine Bedeutung auf eine reift sprachimmanente, logischsyntaktische Funktion, auf die schlichte Negation „nicht*, die in der Aufhebung
positiver Sätze besteht.
Sprachanalytische Philosophie und symbolische Logik, die auf ein solches Reduktionsprogramm fixiert sind, berufen sich zur Legitimation auf die erstmals von Frege
formulierte und dann von Wittgenstein in seiner Abbildtheorie im Tractates logicophilosophicus4 ausgebaute Einsicht, daß die primäre, von niemandem hinterfragbare
logische Sinneinheit der Satz, und zwar der positive als Abbild der Wirklichkeit sei.
Folglich muß der Ausdruck „Nichts", wenn er verständlich sein soll, satzmäßig
eingeführt und im Rahmen und auf der Basis des Aussagenkalküls ausgelegt werden.
Im normalen Sprachgebrauch steht das kleingeschriebene „nichts", ähnlich wie die
übrigen mit Negationspartikel gebildeten Termini: „niemand", „nirgends", „niemals",
für die Verbindung von „nicht" und „etwas", wobei „etwas" nach sprachanalytischer
Auffassung nicht die Sache „etwas", sondern den ganzen mit „etwas" gebildeten
positiven Existenz- oder Prädikatssatz: „Es gibt etwas", „X ist etwas" meint5. Sonach
bezeichnet „nichts" in seiner normalen synkategorematischen Funktion die Aufhebung
einer satzmäßigen Behauptung bestimmten Inhalts. Die Großschreibung und die mit
ihr einhergehende Substantivierung stellen nach sprachanalytischer Ansicht einen illegitimen Vorgang dar. Denn daß einem logischen Funktor wie dem Negator „nicht" einer
negativen Existenz- oder Prädikatsaussage in der Wirklichkeit „ein Stückchen
,Nichts'*a korrespondieren solle, erscheint genauso absurd wie die Forderung, daß
jedem Wort eines Satzes etwas Gegenständliches zu entsprechen habe. Den logischen
Operationen insgesamt korrespondieren keine Gegenstände im strengen Sinne in der
Realität7.
Innerhalb der Logik und Sprachanalytik geht der Streit um die Eigenständigkeit der
Negation weiter. Denn wenn die Negation kein objektives Korrelat besitzt, stellt sich
die Frage, welcher Status ihr zukomme. Ist sie ein bloß subjektiver Vorgang oder gar
ein Derivat positiver Operationen? Unter der Voraussetzung der Priorität positiver
Sätze scheint nur die Alternative einer subjektiven Interpretation, mithin einer Aufgabe
der erkenntnistheoretischen Selbständigkeit des Strukturmoments „nicht", oder einer
Reduktion auf positive Operationen zu bleiben. Stellvertretend für derartige Reduktionspositionen seien hier genannt zum einen Bergsons Theorie über negative Urteile,
4
5
In: Schuften, Bd. l, Frankfurt a.M. 1969, z.B. 4.01 und 3.21.
VgL E. Tugendhat: Das Sein und das Nichts, in: Durchblicke. Festschrift für M. Heidegger zum
80. Gebunstag, Frankfurt a.M. 1970, S. 132-161, S. 150f.
* E. Tugendhat: Das Sein und das Nichts, S. 156.
7
Allerdings haben Frege und der frühe Russell (vgl. The Principles of Mathematics^ Cambridge
1903, S. 449) negative Wesenheiten als objektive Korrelate der negativen Sätze angenommen.
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wie sie sich in seinem Buch Schöpferische Entwicklung* im Rahmen einer Analyse des
Nichts-Begriffs entwickelt findet und eine Nachfolge in Russells Inquiry into Meaning
and Truth9 gefunden hat, und zum anderen Russells revidierte Theorie in Human
Knowledge".
Nach Bergson besteht ein negatives Urteil wie „Dieser Tisch ist nicht weiß" aus
einem System zweier positiver Urteile: 1. der bestimmten Bejahung „Dieser Tisch ist
weiß", die irgend jemand, sei es eine wirkliche oder imaginäre Person, ausspricht oder
zumindest aussprechen könnte, und 2. der nicht explizit, nur implizit, in residualer
Form vorhandenen unbestimmten Bejahung, die sich auf die unbegrenzte Menge des
Farbigen außer der Farbe weiß bezieht. Unartikuliert und daher unbestimmt bleibt das
zweite Urteil deswegen, weil die bestimmte andere Farbe außer dem Weiß entweder
nicht bekannt ist oder ihr zufällig kein Interesse gilt. Bezogen sein sollen die beiden
positiven Aussagen aufeinander durch eine „Zurechtweisung" oder besser „Warnung" ", deren Sinn es ist, einen möglichen oder wirklichen Irrtum abzuhalten, wie er
sich in der Annahme des ersten Urteils dokumentiert. Dies geschieht durch den
Hinweis auf die Notwendigkeit einer Substitution des ersten Urteils durch das zweite.
Damit fällt der Negation die subjektive Rolle der Bewahrung vor einem Fehler oder der
Berichtigung eines schon bestehenden zu, die nach Bergson ihr „pädagogisch-soziales
Wesen" ausmacht12.
Weiter noch geht der Vorschlag Russells. Danach ist jede mögliche Verneinung
durch eine bestimmte positive Aussage zu ersetzen, um beim obigen Beispiel zu
bleiben: „Der Tisch ist nicht weiß" etwa durch die: „Der Tisch ist schwarz" oder „Der
Tisch ist braun". Ob die in infinitum sich erstreckende Substitution das Negationsproblem definitiv zu beheben vermag, nicht nur zu verschieben, muß bezweifelt werden,
da jeder neue positive Inhalt vom vorhergehenden differiert und diese Differenz sich
nicht anders als durch wechselseitige Aus- und Abgrenzung zu erkennen gibt. Gleichgültig, ob der Unterschied durch die Angabe bestimmter Farben wie „weiß" und
„schwarz" oder „braun" oder „rot" usw. fixiert ist oder offen bleibt und in der
Kontradiktion von „weiß" und „nicht weiß" nur die Möglichkeit zu weiterer Determination enthält, in beiden Fällen bildet die objektive Exklusion der Farben innerhalb der
Farbskala die Basis des negativen Urteils. Keineswegs kann das Kriterium sinnvoller
Verneinung allein der Logik und Sprache entnommen werden. Von hier ergibt sich
nicht zuletzt eine Infragestellung des logischen Primats positiver Urteile gegenüber
negativen.
8
H. Bergson: Schöpferische Entwicklung (dt. Übersetzung), Jena 1912, S. 290ff., bes. S. 293,
S. 297.
9
B.Russell: An Inquiry into Meaning and Truth, New York 1940, 6. Auflage 1961, S.204-213,
bes. S. 211 f.
10
B.Russell: Human Knowledge, New York 1948, S. 127.
11
H. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 292.
12
H.Bergson: Schöpferische Entwicklung, S.292; vgl. zu dieser Lösung auch B.Russell: An
Inquiry into Meaning and Truth, S. 212: "Negation expresses a state of mind in which certain
impulses exist but are inhibited."
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Was zudem Bergsons Versuch einer subjektiven Interpretation der Negation als
Warnung, Zurückweisung, innere Abwehr u. ä. betrifft, so muß sie sich die kritische
Frage gefallen lassen, worin denn der zurückzuweisende Irrtum oder das Fehlurteil
bestehe, wenn nicht in einem objektiven, durch Negativität bestimmten Sachverhalt,
der die sprachliche Form eines negativen Urteils erst ermöglicht. Über den Begriff des
Irrtums und des Fehlurteils schleicht sich der bestrittene negative Sachverbalt und
damit der Transzendenzbezüg des Verneinens in die Theorie wieder ein.
Noch ein weiterer Einwand läßt sich gegen das sprachanalytische Reduktionsprogramm vorbringen. Er ergibt sich aus der Etymologie der Wörter „nichts (Nichts)" und
„nicht*. „Nichts" — sowohl das groß- wie kleingeschriebene - stellt eine Kontamination
aus der Negationspartikel ni und dem Genitiv des Substantivs mhd. iht (ahd. wiht, got.
waihts) mit der Bedeutung „Ding", „Sache", „etwas" dar, wie sie sich noch im
neuhochdeutschen Ausdruck „Wicht" erhalten hat. Dieselbe Zusammensetzung, nur
mit dem Nominativ dieses Substantivs, liegt vor in „nicht". Da beide Wörter ihrem
Ursprung nach dieselbe Semantik haben, ist zumindest in dieser Hinsicht keines auf das
andere reduzierbar, also auch nicht, wie von sprachanalytischer Seite behauptet wird,
das „nichts (Nichts)" auf das „nicht". Allerdings ist zu konzedieren, daß das Argument
auf die Bedeutungsherkunft, nicht auf den heutigen Sprachgebrauch rekurriert und
insofern keine uneingeschränkte Geltung besitzt.
Die vorgetragenen Gründe zusammen zwingen, die sprachanalytische Deutung
aufzugeben und eine metaphysische Weitung vorzunehmen. Man muß sich auf das
Wagnis einlassen, im Nichts nicht nur ein sprachliches Zeichen mit einer bloßen
Sprachfunktion zu sehen, sondern einen objektiven Sachverhalt sui generis.
2. Die Arten des Nichts
Nach diesem Präjudiz zugunsten des Nichts als eines eigentümlichen Sachverhalts
kann seine Wesensbestimmung in Angriff genommen werden.. Hierbei sieht man sich
allerdings einer neuen Schwierigkeit konfrontiert, die Art der Definition betreffend.
Obwohl das Nichts als Gegenstand ausgemacht wurde, ist prima facie klar, daß an ihm
das klassische Definitionsschema von genus proximum per differentiam specificam
versagt; denn unmöglich kann das Nichts, selbst wenn es einen negativen Gegenstand
bezeichnet, als Spezies des stets positiv zu denkenden Gegenstandes, des „Etwas",
aufgefaßt werden. Vielmehr bildet es einen gleichwertigen Antipol zum Etwas. Indem
es alles, was überhaupt nur Etwas genannt werden kann, auf logischer wie auf realer
Ebene eliminiert, etabliert es sich als Korrelat zum Etwas, welches letztere stets einen
positiven Inhalt aufweist. Da das Bezugsobjekt des Nichts in seiner Verständnisweise
wechselt, vollzieht sich mit dessen Wechsel auch ein Wechsel des Gehalts des Nichts.
Uns obliegt, im Ausgang von den diversen Modi des Etwas die diversen Nichtsbegriffe
systematisch zu explizieren. Um hierbei möglichst unvoreingenommen und von bestehenden Systemen unabhängig zu verfahren, möge die Umgangssprache zur Orientierung dienen.
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Karen Gloy
(a) Das Nichts ah Indifferenz. - Einen Hinweis auf einen möglichen Sinn von Nichts
liefert die Etymologie des Wortes. Nichts (got. ni waihts, ahd. niwiht, neowiht < ni eo
wiht) ist die Negation von Etwas (non aliquid). Mit Etwas bezeichnen wir ein Dieses
(dies da), das sich aus einem vagen, unbestimmten Feld von Möglichkeiten als ein
Bestimmtes hervorhebt und gegen anderes abgrenzt. Als dieses und nicht als jenes ist es
sich selber gleich und von anderem verschieden, impliziert mithin Identität und
Differenz als seine Konstituentien. Wenn daher das Nichts die Negation von Etwas
bedeutet, so bedeutet es gleichzeitig die Negation von Bestimmung und damit von
Identität und Differenz, so daß mit ihm das schlechthin Bestimmungslose gemeint ist,
von dem sich weder Gleichheit noch Verschiedenheit prädizieren läßt. Freilich bleibt
seine Bestimmung als Bestimmungslosigkeit problematisch, da dieselbe als fixierte und
folglich auch als mit sich identische und von anderem, etwa von der Bestimmung,
unterschiedene auftritt. Der traditionelle Name für die Negation jedweder Bestimmung
ist Indifferenz. Orientiert an seinem positiven Bezugsobjekt, der Bestimmtheit oder
Qualität, kann man diesen Aspekt des Nichts als qualitativen klassifizieren.
(b) Das Nichts als Kein (Null). - Auf einen anderen Sinn von Nichts weist die
Alltagssprache mit ihren Redewendungen: „alles oder nichts*", „nichts besitzen", „vor
dem Nichts stehen" u. ä. Wenn alles (Alles) eine numerische Totalität, die Gesamtheit
des Zählbaren, meint, so meint Nichts die Reduktion derselben über Einiges und Eines
bis zur Tilgung auch des letzten zählbaren Elements. Die Umgangssprache besitzt
hierfür den Ausdruck „kein", der aus der Negationspartikel ahd. „ni" und dem
Zahlwort „ein" (ahd. dehein) gebildet ist und die Bedeutung: „auch nicht eines", „auch
nicht ein einziges" hat14; die Zahltheorie hingegen bedient sich zur Exposition der Null,
die bekanntlich keine Zahl vorstellt. Da es sich bei „kein" und Null um Opposita zu
„allem" handelt, muß dieser Aspekt des Nichts als quantitativer eingestuft werden.
(c) Das Nichts als Nichtsein. - Ein insbesondere von der philosophischen Sprache
ausgebildeter, aber auch der Umgangssprache nicht unbekannter Sinn von Nichts
erscheint in der Gegenüberstellung von öv und
öv, ens und non. ensy Sein und
Nichtsein. Je nachdem, ob mit Sein das Seiende, das existierende Einzelding, oder das
Sein des Seienden, die allgemeine Natur, das Wesen des Einzeldings, gemeint ist,
bedeutet Nichts entweder die Negation der Existenz oder die der Essenz. Da die
Zwiefältigkeit des Seinsbegriffs als Essenz und Existenz auf das Verhältnis eines
Prinzips zu seinem Prinzipiat (eines Grundes zu seiner Folge) weist, kann hier von
einem relationalen Aspekt gesprochen werden. Nichts in diesem Sinne impliziert die
Aufhebung alles Daseins und Soseins, alles existentiellen und prädikativen Seins.
(d) Das Nichts als Nicht-Bewußtsein. - Wenn das Nichts die totale Negation, die
Elimination sowohl der intensiven wie extensiven wie existentiellen Sphäre, d. h. des
Inhalts, Umfangs und der Existenz des Bewußten bedeutet, so kann das Bewußtsein
einer solchen Nichtigkeit auch nicht anders als nichtig ausfallen. Denn .wird nichts
13
14
Alles oder Nichts lautet ein Buchtitel von Eugen Fink, Den Haag 1959.
Vgl. gr.
<
& , ebenso lat. nullus < non ullus.
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
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gesehen wie in der Dunkelheit, so wird überhaupt nicht gesehen, wird nichts gehört wie
'in der lautlosen Stille nach Verklingen eines Tones, so wird überhaupt nicht gehört, und
ist nichts bewußt, so besteht überhaupt kein Bewußtsein, während umgekehrt, wenn
etwas, gleich welcher Art, bewußt ist, Bewußtsein stattfindet.
Sofern unter dem jetzigen Aspekt dein Bewußtseinsgegenstand keine inhaltliche
Bestimmung mehr hinzugefügt bzw. weggenommen wird, sondern ausschließlich sein
formales Verhältnis zum Bewußtseinsvermögen betrachtet wird, ist hier von einem
epistemologischen Aspekt zu sprechen. Gemäß diesem Verständnis meint das Nichts die
Nichtigkeit des Bewußtseins in allen "seinen Modifikationen, das Entfallen jeder Bewußtseinsbeziehung und damit des Bewußtseins insgesamt, die totale Bewußtlosigkeit.
Die Aufstellung von Nichtsbegriffen evoziert eine Reihe von Fragen wie die nach der
Geschlossenheit oder Offenheit des Systems, der Notwendigkeit oder Zufälligkeit
desselben- u. ä. Sie laufen auf das Problem der Privilegierung eines Systems vor dem
anderen hinaus. Die Verbindlichkeit eines Systems wird entscheidend davon abhängen,
ob es gelingt, Einsicht in die Notwendigkeit der Gliederung, der Zahl, An und
Anordnung der Disjunkta zu gewinnen.
Angesichts der unschwer nachweisbaren Inkomplettheit des obigen Systems und der
Diversität anderer historischer Ausgestaltungen muß die Möglichkeit einer solchen
Einsicht prinzipiell bezweifelt werden. Was die voranstehende Aufzählung betrifft, so
ließe sie sich durch weitere Modifikationen des Nichts inbesondere aus dem praktischen
Bereich ergänzen, z, B. durch den Begriff des Unwerts, der Sinnlosigkeit, des Bösen
usw. Dieser Umstand decouvriert die Aufzählung als eine auf den theoretischen Bereich
restringierte. Selbst innerhalb einer bestimmten Sphäre wie hier der theoretischen kann
die Aufstellung variieren, da sie von der jeweils dominanten Hinsicht dependiert, etwa
davon, ob als Einteilungsprinzip und Korrelat des Nichts der Erfahrungsgegenstand
gewählt wird wie bei Kant oder das ens im Sinne der Existenz wie bei Descoqs oder das
Sein wie bei Heidegger oder das Etwas wie in obiger Tabelle15. Gibt beispielsweise der
Erfahrungsgegenstand im spezifisch Kantischen Verständnis einer Synthese zweier
unabdingbarer Bedingungen, des Denkens und des Anschauens, den Leitfaden ab, so
kann es nicht wundern, wenn in der Tafel des Nichts neben dem nihil privativum und
! negativum Begriffe wie das ens rationis und das ens imaginarium auftauchen; denn
15
Klassifikationsversuche der Nichtssinne finden sich seit dem Altertum, in Antike und Mittelalter vorzüglich in bezug auf das non ens, in der neueren Literatur in bezug auf das Nichts.
P. P. Descoqs z. B., Institutiones metaphysicae generalis, Paris 1925, S. 138 f., 311 f., unterscheidet zwei Arten: 1. das nihilum positivum, das Nichts der Existenz, und 2. das nihilum
negativum oder absolutum, das Nichts der Essenz. Außerdem kennt er 3. das Nichts, das Gott,
dessen Essenz zugleich Existenz ist, gegenübersteht, und 4. das Nichts, das die Negation der
kontingenten Existenz bedeutet. Offenkundig fungiert hier der Begriff des ens in der Bedeutung
von Existenz als Leitfaden. Er führt zum einen zur Unterscheidung von creator und creatum,
zum anderen zu der von Essenz und Existenz und deren jeweiligen Negationen. Einen
sinnvollen Beitrag stellt diese Einteilung wie auch die übrigen nur dann dar, wenn mit den
Differenzierungen nicht solche des Nichts selbst, sondern solche der Methode gemeint sind,
welche vom Bewußtsein zum Nichts führt. Denn das Nichts als Negation von schlechthin allem
ist in sich undifferenziert.
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Karen Gloy
da sie nur eine der beiden für Erfahrungsgegenstände konsumtiven Bedingungen
erfüllen: das ens rationis oder das bloße Gedankending die Bedingung des Denkens, das
ens tmagtnarium oder die reine formale Anschauung die Bedingung des Anschauens,
sind sie zwar nicht schlechthin, wohl aber für die Erfahrung im Vollsinne nichtig.
Hingegen müssen in einem System, in dem das Etwas als bloßer Bewußtseinsgegenstand zum Einteilungsprinzip dient, derlei Begriffe als relative, nicht absolute Nichtsbegriffe ausgeschlossen bleiben. So dependiert jedes System letztlich von dem philosophischen Standpunkt des Betrachters und seiner spezifisch hermeneutischen Situation.
Die Variabilität des Nichts-Verständnisses ist damit nur ein Hinweis mehr auf die
permanente Selbsthinterfragung der Philosophie.
Anzumerken gilt noch, daß mit der Statuierung verschiedener Nichtsbegriffe keine
Spezifikation eines Gattungsbegriffes „Nichts" in seine Unterarten gemeint sein kann,
würde doch bei einer solchen Annahme sofort die Frage nach dem einen, allgemeinen
Nichts auftauchen, das sich in allen Spezifikationen als dasselbe erhält. Gemeint ist
vielmehr eine Auffächerung des generellsten Sinnes von Nichts in diverse Aspekte, von
denen jeder die übrigen impliziert, gleichwohl aus der Gesamtheit einen besonders
akzentuiert.
Wenn weiterhin allgemein von Nichts und Etwas gesprochen wird, so geschieht dies
allein aus Gründen der Einfachheit. De facto sind mit den bezeichneten Begriffen
Indikatoren benannt, die auf eine Pluralität von Modi Anzeige geben. Wiewohl die
letzteren stets mitgemeint sind, werden sie nur, sofern der Kontext es erfordert,
spezifiziert aufgeführt.
///. Die Aporien bei der Erfassung des absoluten Nichts
Spätestens an dieser Stelle wird eine kritische Reflexion auf das Unternehmen einer
Behandlung des absoluten Nichts unerläßlich. Denn obwohl das Nichts sinngemäß als
schlechthinnige Elimination jedes Daseins und Soseins, jeder qualitativen und quantitativen Bestimmung, jeder Art von Bewußtsein bestimmt wurde, ist die ganze Zeit über
dasselbe gesprochen worden; es ist benannt, definiert, als intentionales Korrelat
diverser Bewußtseinsakte angesetzt, mithin als Gegenstand behandelt worden, als ein
Etwas, das mit sich identisch und von anderem different, zahlenmäßig eines neben
anderem, vielem, zudem ein Seiendes und So-Seiendes ist. Wäre das Nichts nicht ein
eindeutig bestimmter, von anderem wohlunterschiedener Gegenstand, so gäbe es keine
intersubjektive Kommunikation über dasselbe. Würde der eine dieses, der andere jenes
unter ihm vorstellen, so löste sich die Rede in nichtssagenden Schall auf. Mit der
Akzeptierung des Nichts als Etwas begibt sich aber die Erörterung in einen Selbstwiderspruch. Denn ob das Nichts als Name aufgefaßt wird, mit dem ein Gegenstand
bezeichnet zu werden pflegt, oder als Begriff, der stets ein intentionales Korrelat
besitzt, insofern jeder Begriff Begriff von etwas ist, oder als Bestimmung, durch die ein
positiver Gehalt erfaßt und in bestimmter Weise artikuliert wird, in keinem Falle
entgeht das Nichts der internen Widersprüchlichkeit, indem es nur es selbst sein kann,
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Die paradoxaJc Verfassung de» Nidm
14]
wenn es schlechthin alles negiert, also gerade keinen Gegenstand bezeichnet, jeden
Sinngehalt unterdrückt und jede positive Bestimmung ausschließt. Diese Paradoxe gilt
es genauer zu verfolgen und systematisch zu explizieren entsprechend den möglichen
Zugangsweiten zum Nichts: l. der logisch-begrifflichen, 2. der sinnlicb-anschaulichcn
und 3, der emotionalen.
L Die logische Aporie
(a) Die Aporie des Begriffs des Nichts (des Nichts-Denkens). - Daß die logische
Fassung des Nichts, der Gedanke vom Nichts, dem Widerspruch verfällt, ist unschwer
einzusehen. Da« Denken, sofern es als Denken von etwas verstanden wird, ist
intentional strukturiert: Es ist auf einen Gegenstand im weitesten Sinne gerichtet.
Wenn aufgrund seiner Intcntionalitätsstruktur das Denken des Nichts qua Denken den
Rahmen für das Erscheinen des Gegenstandes schafft, so beraubt dasselbe Denken qua
Denken des Nichts den durch die Imentionalitätsstruktur entworfenen Rahmen jeglichen Sinns, indem es jeden möglichen Inhalt negiert* Der hieraus resultierende Widerspruch laßt sich von zwei Seiten formulieren, je nachdem, ob man beim Denken oder
beim Gegenstand des Denkens, in diesem Falle beim Nichts, ansetzt,
1. Geht man vom Denkakt und seiner Imentionalität aus, so ist es dieser, welcher
dem Sinn des Nichts als universaler Verneinung widerspricht, indem er, obwohl
Denken von Nichts, Denken von Etwas bleibt. Gleicherweise verkehrt das mit
Begriffen als Denkformen operierende Fragen, was denn das Nichts sei und von
weicher Qualität, und ebenso das in Begriffen sich vollziehende und artikulierende
Antworten, daß es dieses oder jenes, so oder so beschaffen sei, das Befragte in sein
Gegenteil, Selbst die Aussage von der Nichtaussagbarkeit irgendeines positiven Merkmals vom Nichts, die Bestimmung seiner völligen Bestimmungslosigkeit, bleibt
noch eine Bestimmung1*. Indem man am Fragen und Bestimmen ak Denkakten festhält, bringt man da* Nichts um seinen spezifischen Sinn. Es ergeben sich dann
kontradiktomdhc Sätze von der Art: Das Nichts, das die Negation jedweder Bestimmung ist, ist dennoch im und für das Denken ein Bestimmtes. Das Nichts, das die
Negation von schlechthin allem Numerischen bedeutet, ist dennoch im und für das
Denken Eines. Das Nichts, das die Negation von Existenz und Essenz meint, ist
gleichwohl im und für das Denken ein Existierendes und Essentielles. Das Nichts, das
die Negation von allem Denkbaren und dessen Beziehung zum Denken ist, ist
nichtsdestoweniger ein Gedachtes für das Denken, In dieser Widersprüchlichkeit
i4
Wenn Wolff daher in der Philosvpbia Prima she Ontohgia (in: Gesammelte Werke, hr»g, von
J.fecolc und RW.Arndt, H. Abt., Bd. 3, Hiktahtiro l%2) erklärt, daß vom Nicht* keine
Eigenschaft prädizierbar sdi De nihilo non pöte« pracdtcari aliquid {$ 67, vgj, 66,69), weil für
den Fall, daß ihm eine Bestimmung zukäme, <* als ein Etwas aufzufassen wäre, «,o stellt die.ve
Bcuimmung&lc&rgkeit gleichwohl eine positive Bestimmung dar. Zu Recht sagt Okcn, daß das
Nicht* „nur eine einzige Eigenschaft hat, nemlich die, keine zu haben" fLehrbuch der
Naturphilosophie, 2* Auflage Jena 1W1, S. 11).
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dokumentiert sich die Unmöglichkeit vollendeter Reflexionsaufhebung auf der Basis
des Begriffs vom Nichts; denn dadurch, daß sich die Aufhebung mit den Mitteln der
Reflexion vollzieht, restituiert sich die Reflexion in eben dem Akt, in dem sie alles
einschließlich ihrer selbst aufhebt.
2. Geht man hingegen von der Bedeutung des Nichts als universal negierender aus,
so ist es diese, die den Widerspruch zum Denken evoziert, zu einem Denken, das die
totale Verneinung dennoch zu denken versucht. Wie kann, so ist zu fragen, wenn alles
aufgehoben wird, das Denken noch bleiben? Bleibt dem Denken keinerlei Gegenstand,
nicht einmal es selbst, so wird das „nichts denken" notwendig zu einem „überhaupt
nicht mehr denken1*. Denn da das Denken selbst ein Seiendes ist, ein qualitativ und
quantitativ bestimmtes, muß, wenn das Seiende in jedweder Form, in qualitativer wie
quantitativer, getilgt wird, auch das Denken entfallen. Mit der Existenz, Qualität und
Zahl überhaupt geht auch das Denken als Existentes, als Eines und Bestimmtes
zugrunde. Die uneingeschränkte Behauptung des Nichts widerlegt den behauptenden
Denkakt, der erst die Bedingung für das Nichts abgibt.
Der aufgezeigte Widerspruch im Denken vom Nichts ist ein totaler, ein Selbstwiderspruch des Gedankens. Von seiner Härte lassen sich keine Abstriche machen, etwa
dahingehend, daß man ihn zu einem transzendentallogischen Widerstreit zwischen
Denkform und Denkinhalt, zwischen Struktur des Denkens und Sinngehalt des Gedachten herabsetzte und durch die Distinktion von Aussagen-Ebene (modus quo) und
Ebene des Ausgesagten (id quod) entproblematisierte. Denn da das absolute Nichts
sinngemäß jedwedes Etwas negiert, auch das Denken, das selber ein Etwas ist, ist der
Widerspruch vollkommen. Der transzendentallogische Widerstreit fällt in diesem Falle
mit dem formallogischen Widerspruch zusammen.
(b) Die Aporie des „Denkens, daß nichts ist". Das Nichts als Grenzbegriff. - Man
könnte einwenden, die aufgezeigte Paradoxie resultiere nur bei eurer spezifischen
Konzeption des Denkens, derzufolge dieses in Analogie zum Vorgang der Anschauung
und Wahrnehmung als Denken von etwas aufgefaßt wird, und sei vermeidbar, wenn
dasselbe als kognitiver Akt verstanden wird, nämlich als Denken von etwas als etwas
oder, in Satzform expliziert, als Denken, daß etwas ist bzw. daß etwas der Fall ist. Es ist
bekannt, daß moderne Erkenntnistheorie und sprachanalytische Philosophie ausschließlich diese propositionale Form anerkennen. Auf das Nichts appliziert, führt
dieselbe zu dem Gedanken, daß nichts ist bzw. nichts der Fall ist. Da „nichts" in „nicht
etwas" auflösbar ist und „etwas" eine durch Indizes zu charakterisierende Vielheit
bezeichnet, nämlich dieses und jenes, ein drittes und viertes usw., ist mit dieser
Konstruktion ein Denkakt gemeint, der ein Etwas nach dem anderen suspendiert.
Entsprechend der Diskursivität des Denkens modifiziert sich der Nichtsbegriff zum
Limes eines unendlichen Prozesses von Aufhebungen. Nicht mehr wird der Begriff hier
als ein fertig vorgegebener genommen, sondern als eine Konstruktionsregel zur Herstellung eines absoluten Nichts, deren Abschluß und Vollendung allerdings im Unendli-
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
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chen liegt. Der Begriff vom Nichts bezeichnet hiernach den Grenzpunkt dieses
Prozesses. Eine solche Vorstellung kommt moderner Denkweise, wie sie sich mit der
Einführung der Infinitesimalrechnung ausgebildet hat, besonders nahe; denn auch hier
geht es um unendlich kleine Großen, die gegen Null tendieren.
Kann die entwickelte Auffassung einwandsimmun genannt werden? Was geschieht
wirklich in der sukzessiven Aufhebung? Orientieren wir uns, bevor wir an die
Aufhebung im Denken gehen, an Aufhebungen in der Realität17.
Die zu eliminierenden Gegenstände können entweder äußere, dem Bewußtsein
transzendente oder innere, dem Bewußtsein immanente sein, Um mit den ersteren zu
beginnen, so hinterläßt die Zerstörung eines äußeren Gegenstandes an der Stelle im
Kaum, an der er sich ursprünglich befand, eine Leere. Freilich handelt es sich bei dieser
um keine absolute; denn zum einen zeigt sie die Konturen des verschwundenen
Gegenstandes, wie sie sich in der Wechselbeziehung mit den Gegenständen der
Umgebung herausgebildet haben - die Leere ist zum wenigsten das Schema eines
Gegenstandes -, zum anderen ist sie ausgefüllt mit einem neuen, wenngleich zumeist
unbestimmt bleibenden Gegenstand. Diese unbestimmte Erfüllung, die gestalttheoretisch als Hintergrund begegnet, ist schon deswegen erforderlich, weil sie den kontinuierlichen räumlichen Zusammenhang gewährleistet, der die Voraussetzung für die
schrittweise Destruktion bildet. Denn soll der Prozeß sukzessiv und kontinuierlich
erfolgen, so darf der Raum keine Sprünge aufweisen. Im Grunde erweist sich daher die
Abwesenheit eines Gegenstandes als Präsenz eines neuen.
Analoges gilt für die Verdrängung der Bewußtseinszustände. Auch deren hinterlassene Leere, wie sie aus traumlosem Tiefschlaf, aus Erinnerungsverlust oder zeitweisem
Bewußtseinsschwund während einer Ohnmacht oder eines Komas bekannt ist, tritt
keineswegs als absolute auf: Zum einen ist sie temporal fixiert durch den unmittelbar
vorhergehenden und nachfolgenden bewußten Zustand, zum anderen kann sie reflektiert und in das bewußte Leben eingeordnet werden. Die hierzu vorauszusetzende reale
Erfüllung durch einen wie dumpf auch immer anzunehmenden Empfindungszustand
ist schon deshalb notwendig, um die Kontinuität der Zeit und die durchgängige
Identität des Selbstbewußtseins zu garantieren. Wiese die Zeit absolute Leerstellen auf,
so wäre eine solche Durchgängigkeit nicht länger zu behaupten. Daß der Bewußtseinsstrom ununterbrochen ist, beweist die Tatsache, daß das Subjekt sich nach einer
traumlosen Nacht am Morgen als dasselbe wiederfindet, als das es sich am Abend zuvor
verloren hat. Bedeutet Vernichtung nichts anderes als Ersatz und gilt dies für jeden
beliebigen äußeren wie inneren Gegenstand, so ist der Prozeß unendlich und unabschließbar und dtr Grenzbegriff des absoluten Nichts zugleich der Grenzbegriff
absoluter Fülle.
Dieselbe Schematik von Destruktion und Substitution gilt nun auch für das reine
Denken und seine Gegenstände, die reinen Denksetzungen11. Könnte man zunächst
meinen, daß das reine Denken, so wie es Beliebiges zu setzen, d.h. als seiend
17
11
Vgl, hier/u H.ßergson: Schöpferische Entwicklung, S« 284 ff.
VfcL hierzu H. Bergson: Schöpferische Entwicklung S. 288 ff.
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144
Karen Cloy
anzunehmen vermag, so auch Beliebiges aufheben, d. h. als nicht seiend setzen kann,
dessen Resultat das absolute Nichts ist, so zeigt sich der Vorgang bei genauerer Analyse
als sehr viel komplizierter. Denn bevor ein Gegenstand aufgehoben werden kann, muß
er gesetzt werden* Einen Gegenstand als nicht seiend denken, hat zur Vorbedingung,
ihn als seiend zu denken. Erst auf der Basis der Seiendsetzung läßt sich das Nichtsein
hinzufügen, das die Inkompatibilität des betreffenden Gegenstandes (Gedachten) mit
der Gesamtheit des übrigen Denkbaren anzeigt. Der Gedanke vom Nichtsein impliziert
paradoxerweise nicht weniger, sondern mehr Inhalt als der vom Sein des Gegenstandes:
nämlich 1. dessen Sein, welches unverträglich ist mit dem übrigen denkbaren Sein, und
2. dessen Ersetzung durch das übrige Denkmögliche, das schrittweise durchgegangen
werden kann, ohne daß der Explikationsprozeß allerdings je an ein Ende gelangt.
Durch denselben Akt, durch den ein Seiendes aufgehoben wird, wird ein anderes
gesetzt, das dann an seine Stelle tritt. Folglich entspricht auch im reinen Denken
partialer Aufhebung partialer Ersatz und totaler Aufhebung totaler Ersatz. Ob als
vollendet oder unvollendbar gedacht, in keinem Falle entgeht der Nichtsbegriff der
inneren Paradoxie.
Gegen diese Argumentation möchte zweierlei eingewandt werden, zum einen, daß
sie mit den Begriffen von Vernichtung und Ersatz zu fraglos an physikalischen
Vorgängen orientiert sei, bezüglich deren niemand aufgrund der Interdependenz der
Gegenstände die enge Verbindung von Vernichtung und Ersatz bestreiten wird, zum
anderen, daß der sukzessive Prozeß der Aufhebung von temporalen Vorstellungen
Gebrauch mache, die für das reine Denken irrelevant seien. Doch gerade das diskursive
Denken erweist sich aufgrund seiner Diskursivität als temporaler Prozeß und damit an
die Zeit und deren Verlaufsform gebunden. Und daß der Wechselbeziehung von
Zerstörung und Ersatz in der Realität im Denken die Wechselbeziehung von gedanklicher Aufhebung und Substitution entspricht, dürfte schwerlich in Abrede zu stellen
sein.
2. Die anschauliche Aporie
Da sich das Denken des Nichts in unauflösbare Schwierigkeiten verwickelt, bleibt zu
fragen, ob das Anschauen als sinnlich-bildhaftes Vorstellen und Vergegenwärtigen ein
adäquateres Mittel zur Bewältigung des Nichts abgibt.
Skepsis gegenüber diesem Ausweg legt sich schon aufgrund des Umstandes nahe, daß
das Denken, zumindest in derjenigen Form, die als geistige Schau, Platonisch als
,
bekannt ist und die Grundlage der Operationen des diskursiven Verstandes bildet, aus
der Anschauung hervorgegangen ist.
bedeutet im Frühgriechischen bei Homer
und Parmenides noch weitgehend optische Wahrnehmung, wenngleich es darüber
hinaus auch schon das mit dem Sehen verbundene Einsehen, Merken, Gewahren
bezeichnet. Aus dieser sinnlichen Grundbedeutung hat sich im Laufe der griechischen
Geistesgeschichte die für die gesamte abendländische Philosophie so fundamentale
intellektuelle Bedeutung entwickelt, derzufolge die noetische Erkenntnis eine höhere
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
145
Form der sinnlichen Erkenntnis darstellt: ein geistiges Einsehen und Durchdringen19.
Zeigte sich schon für das Denken im Sinne der intellektuellen Anschauung eine Aporie
für unvermeidbar, wieviel mehr steht eine solche für das sinnliche Anschauen zu
erwarten.
Bestätigt wird die Vermutung durch eine exakte Analyse desjenigen Vorgangs, der
sich beim Zustandekommen der Wahrnehmung oder der Imagination abspielt, die das
reine Nichts zum Gegenstand hat. Der erste Schritt auf dem Wege zur Herstellung
einer solchen besteht darin, daß man sich in die Abgeschiedenheit und Stille zurückzieht, die Augen schließt, die Ohren verstopft, um die Affektionen der Außenwelt
abzuwehren, nach Möglichkeit ganz zu unterbinden. Die Abwendung vom farbigen,
lauten Außen, die Versenkung ins Innere, ist verbunden mit einem allmählichen
Versinken und schließlichen Erlöschen der äußeren materiellen Welt. In eins mit
diesem Vorgang drängt sich die Fülle und der Reichtum des Innenlebens hervor. Es
entsteht im Innern der Eindruck einer äußerst positiven, einer vollen Leere, die erfüllt
ist mit der Vielfalt von Gedanken, Erinnerungen, Plänen, Wollungen, Empfindungen,
Körpergefühlen u. ä. Versucht man, auch diese auf ein Minimum zu reduzieren, indem
man z. B, die Erinnerungen auf die unmittelbarste Vergangenheit beschränkt, das
Entwerfen von Projekten in die Zukunft unterläßt, die scharf umrissenen Gedanken
auflöst, die Körperempfindungen verflüchtigt, so schlägt die Reduktion im Moment
ihres Gelingens, im Moment absoluter innerer Leere, in ein Bewußtsein des ausgelöschten Selbst um. Das Entschwundensein der Innenwelt wird für ein unbewußt und
ungewollt neu erstandenes, höherstufiges Ich selber zum Objekt. Denn verschwinden
kann das Ich nur für ein zweites. Von den östlichen Meditationssystemen wird ein
solcher Transzensus systematisch geübt. - Gleich, ob es sich um einen externen oder
internen Gegenstand handelt, immer ist der andere vorhanden und stellt sich im Falle
des Verschwindens seines Pendants instantan ein, so daß das Vorstellen stets einen von
ihnen vor sich hat. So tritt an die Stelle der vernichteten Außenwelt die Innenwelt, an
die Stelle der vernichteten Innenwelt ein objektiviertes und auf diese Weise veräußerlichtes Selbst, an dessen Stelle gegebenenfalls ein anderes veräußerlichtes Selbst. Der
Prozeß ließe sich in infinitum iterieren. Für das anschauliche Vorstellen gibt es kein
absolutes Nichts, lediglich ein relatives sowie den permanenten Wechsel vom Nichts
der einen Sphäre zum Etwas der anderen. Wollte man den Punkt des Umschlags für ein
Bild des absoluten Nichts deklarieren, weil in ihm das Verschwindende nicht mehr und
das Kommende noch nicht ist, so ließe sich dem entgegenhalten, daß dieser Punkt mit
gleichem Recht ein Bild absoluter Fülle genannt werden kann, da in ihm sowohl das
Vergehende wie auch das Entstehende enthalten ist.
19
Ein frühes Zeugnis dieser folgenschweren Entwicklung liegt bei Parmenides vor, frag. 28 B 4, 7:
'
. Zur Entstehung vgl. das XenophanesFragment 21 B24, den Epicharm-Vers 33 B16 und das Empedokles-Fragme«* 31 B17, 21. Zur
Entwicklungsgeschichte s. K. Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei
Platon und Aristoteles, München 1962, S. 187 f.
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Karen Gloy
3. Die emotionale Aforie
Nach dem Scheitern des logischen und anschaulichen Ansatzes zur Erfassung des
absoluten Nichts bleibt als dritte Möglichkeit der emotionale zu erwägen; denn Begriff
und Anschauung bilden nicht die einzigen Erfahrensweisen des Nichts, eine andere, in
ihrer Intensität weitaus lebhaftere und eindrucksvollere als der „blasse", „kühle"
Gedanke und die Intuition oder die Imagination ist das Gefühl. Gemeint ist mit diesem
eine vor allem aus dem religiösen Bereich bekannte Erlebnisart, die sich in entsprechender Literatur dokumentiert findet20. Philosophisch erlangten die Gefühle bzw. Stimmungen oder allgemeiner das Gestimmtsein eine eminente Bedeutung im Existentialismus. Es war die rationale Aporetik respektive des Nichts, die hier den inversen Versuch
veranlaßte, vom Irrationalen auszugehen, das sich im Gestimmtsein als einer Grundbefindlichkeit des Menschseins dokumentiert, und die so zu einer Konvertierung der
cartesianischen Formel vom cogito sum in die vom sum cogito führte. Die Notwendigkeit einer selbständigen emotionalen Sphäre neben der Ratio, sogar ihrer Priorität
gegenüber dieser hat Heidegger in seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 Was ist
Metaphysik?, die dem Nichts gewidmet ist, mit folgendem Argument begründet:
Damit wir die formallogisch unmögliche Frage nach dem Nichts überhaupt stellen
können, muß die Grundforderung jedes sinnvollen Fragens erfüllt sein, die vorgängige
Vertrautheit mit dem Phänomen. Wir müssen dem Nichts erlebnismäßig schon einmal
begegnet sein, ein Vorverständnis von ihm haben, um es kritisch befragen zu können.
Diese Begegnung geschieht in der Stimmung21.
Diejenige Stimmung, die nach Ansicht der Existentialisten von Kierkegaard bis
Sartre das Nichts offenbart, ist die Angst. Wieso gerade sie? Ihre Privilegierung verlangt
eine Legitimation. Soll die Angst diejenige Befindlichkeit sein, die sich zur Enthüllung
des Nichts qualifiziert, so muß sie, da das Nichts per definitionem die Negation von
schlechthin allem ist, zum wenigsten zwei Bedingungen erfüllen, zum einen die der
Beziehung auf das Ganze, zum anderen die der Negation des Ganzen.
Daß die Angst der ersten Forderung genügt, wird aus einem Vergleich mit einer ihr
verwandten Stimmung, der Furcht, ersichtlich. Während die letztere stets Furcht vor
etwas und um etwas ist, und zwar vor und um ganz Bestimmtes, Begrenztes, ist die
erstere, obzwar auch Angst vor und worum, doch gerade Angst vor und um gänzlich
Unbestimmtes, Unfixiertes, das durch die wesenhafte Unmöglichkeit einer Bestimmung charakterisiert ist. Ihre totale Unbestimmtheit schlägt sich in Redewendungen
nieder wie denen: „Es ist einem unheimlich" oder „Einem ist unheimlich zumute", in
welchen das unpersönliche, neutrale „esa und „einem" zur Explikation der Unbestimmtheit dient. Sofern in der Angst die vertrauten, festumrissenen und wohlbestimmten Dinge, die aufgrund ihrer Fixiertheit und Determination Halt bieten, in
Unbestimmtheit und Anonymität versinken, welche keinen Halt mehr zu gewähren
20
21
Ein charakteristisches Beispiel wird von W.James: The Varieties of Religious Experience,
London 1911, S. 160 f. beschrieben.
M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, 1929, 11. Auflage Frankfurt a. M. 1975, S. 29. -
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
147
vermag, ist es dem Menschen im ganzen unheimlich, und sofern dieses Entgleiten den
einzelnen mitreißt, ist es nicht mehr diesem oder jenem Menschen, „mir" oder „dir",
sondern „einem* unheimlich22.
Ist damit auch die Relation der Angst auf das Seiende im ganzen sichergestellt, so
bleibt doch noch zu klären, wieso gerade der Modus der Negativität des Seienden im
ganzen für die Angst konstitutiv ist und zu ihrer Differenzierung von anderen
gleichfalls auf das Seiende im ganzen bezogenen Stimmungen führt. Anders gefragt:
Worin unterscheidet sich die Angst als „negative" Stimmung, die auf die Totalität
negativ bezogen sein soll, von „positiven" Stimmungen, zu denen nach Heidegger
beispielsweise die Langeweile gehört, und zwar in jener Form, der gemäß nicht dieses
oder jenes den Menschen langweilt, sondern der gemäß es ihm langweilig ist. Sucht man
in Heideggers Analysen nach einem Differenzkriterium, so wird man vergeblich
Ausschau halten. Im Gegenteil werden beide Gestimmtheiten gleicherweise dadurch
charakterisiert, daß sie das Entgleiten der Totalität offenbaren. Wie es von der Angst
heißt, daß in ihr „alle Dinge und wir selbst... in eine Gleichgültigkeit" versinken23, so
heißt es auch von der Langeweile, daß sie „alle Dinge, Menschen und einen selbst mit
ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit" zusammenrückt24. Außerdem zeigen
Heideggers Deskriptionen der Angst, daß diese das Nichts nicht in Form einer
„Vernichtung des Seienden"25, also einer Leere, enthüllt, sondern in Form einer
positiven Unbestimmtheit, in der das Wegrücken der Dinge, ähnlich wie deren
Heranrücken, uns umdrängt und bedrängt, d. h. ängstigt.
Das Fehlen eines Unterscheidungskriteriums zwischen negativer und positiver Stimmung kann nicht als zufällig gelten; es hat seinen Grund in der paradoxalen Verfassung
der Angst als emotionaler Zugangsart zum Nichts. Infolgedessen wird man die
Doppeldeutigkeit in der Beschreibung der Angst nicht Heidegger zum. Vorwurf
machen können. Vielmehr gilt es, derselben genauer nachzugehen und sie sowohl von
sehen des Subjekts wie von seiten des Objekts zu beleuchten. Vor allem bedarf es in
diesem Kontext einer Aufklärung und rationalen Durchdringung der dunklen, schwer
verständlichen, mit Metaphern und Wortschöpfungen durchsetzten Sprache Heideggers.
22
23
24
25
Sartres Begriff der Angst als Angst vor sich selbst unterscheidet sich nur auf den ersten Blick von
dem Heideggers. Ihrem Wesen nach ist Sartres Angst Freiheitsbewußtsein (vgl. L'£tre et le
Neant, Paris 1943, dt. Übersetzung: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1952, 6. Auflage 1976,
S. 76), und zwar Bewußtsein einer Freiheit sowohl von anderem wie von sich selbst. Solcherart
ist sie durch absolute Bestimmungslosigkeit charakterisiert. Wie Sartres illustratives Beispiel
einer Gratwanderung über einem Abgrund zeigt (vgl. S. 72-75), möchte man sich bei einer
solchen einerseits in den Abgrund stürzen, andererseits retten und wird in dieser Unentschiedenheit vom Schwindel gepackt. Der Zustand der Freiheit zu beiden Möglichkeiten bedeutet
das Nichtbestimmtsein durch beide.
M.Heidegger: Was ist Metaphysik*, S.32.
Was ist Metaphysik?, S. 31.
Was ist Metaphysik?, S.34.
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Karen Gloy
Schon eine oberflächliche, durch psychologische Beobachtungen und Experimente
noch gar nicht hinreichend fundierte Analyse läßt erkennen, daß Emotionen nicht
nichts, sondern etwas offenbaren, daß sie einen Inhalt haben und auf ein Seiendes
bezogen sind, mag dieses bestimmt oder unbestimmt sein. Wie immer Gefühle interpretiert werden, ob als intentional strukturierte, die auf ein ihnen Gegenüberstehendes,
Fremdes, auf ein Objekt im strikten Sinne von obicere = „entgegenwerfen*, „entgegenstellen", „gegenüber aufstellen" zielen, oder als nickt-intentionale, die als Inne-sein,
nicht als Inne-werden zu beschreiten sind, in jedem Falle haben sie ein sei es
transitives, sei es intransitives Objekt zum Inhalt und nicht Nichts. Zwar pflegt es
Gefühlen bisweilen eigentümlich zu sein, nichts als sich selbst zu offenbaren. Doch
auch in diesem Falle haben sie etwas, nämlich sich, zum Korrelat. Selbst wenn man mit
Heidegger zugibt, daß die Angst „kein Erfassen des Nichts"26 im intentionalen Sinne
sei, wenn man bestreitet, daß sie von sich aus das Nichts enthüllt, so läßt sich
schwerlich bestreiten, daß sich in ihr und durch sie das Nichts als Etwas enthüllt27*2*.
Mag auch die Angst nicht als aktives, spontanes Vermögen aufzufassen sein und nach
dem Modell eines Richtungsstrahls mit Ausgangs- und Zielpunkt erklärt werden
können, sondern nur als passives, rezeptives Vermögen, als Medium der Offenbarung,
so bleibt sie dennoch eine Weise der Eröffnung von Etwas. Als supponierte Quelle der
Wirklichkeitserfahrung des Nichts ist sie eine Quelle der Erfahrung des Etwas. Es nützt
daher wenig, mit Nachdruck und in ständigen Wiederholungen darauf hinzuweisen,
wie Heidegger dies tut, daß sich in der Angst das Nichts offenbare, „aber nicht als
Seiendes", „ebensowenig als Gegenstand"29, weil andernfalls die logische und anschauliche Paradoxie eines seienden Nichtseienden wiederkehrte. Solange die Möglichkeit
eines paradoxielosen Offenbarens des Nichts nicht aufgezeigt und einsichtig gemacht
ist, bleibt jede Aussage eine leere, unausgewiesene Behauptung.
Die Tatsache, daß es Heidegger nicht gelingt, das durch die Angst enthüllte Nichts
als ein vom Seienden schlechthin Independentes, diesem gegenüber absolut Selbständiges, gleichsam als ein zweites autonomes Prinzip zu etablieren, sondern nur als ein mit
dem Seienden immer schon Verbundenes - bezeichnenderweise beschreibt er das
Nichts als die von sich selbst „abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im
Ganzen"30-, deutet auf den paradoxen Sachverhalt einer Unabtrennbarkeit und Zusammengehörigkeit von Nichts und Etwas, auf den schon die generelle Analyse der
paradoxen Struktur des Gefühls wies. Wurde das Gefühl der Angst eingeführt zur
Vermeidung der logischen und anschaulichen Paradoxie, so erweist es sich nun selbst
als der Paradoxie verfallen.
26
27
28
29
30
Was ist Metaphysik?, S. 33.
Was ist Metaphysik?, S. 33: „Das Nichts [wird] durch sie und in ihr offenbar."
Heideggers Theorie der Emotionen ist wesentlich von Diltheys Theorie des Erlebnisses
beinflußt.
Was ist Metaphysik? S. 33
Vgl. Was ist Metaphysik?, S. 34.
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
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Damit sind alle Versuche zur Erfassung des Nichts, rationale wie irrationale,
gescheitert. Logische Widerspr chlichkeit, anschauliches Zugleich von Vernichtung und
Ersatz und emotionale Paradoxie f hren zur Selbstaufhebung der jeweiligen Betrachtungsweise. Denn das sich selber Widersprechende und Widerstreitende ist das in sich
Nichtige, Unsinnige. Das Fehlschlagen des Ansatzes eines absoluten Nichts, das
schlechthin alles aufhebt, zwingt, den entgegengesetzten Ansatz eines relativen Nichts
zu w hlen, das immer schon auf Etwas bezogen ist. Anstelle der einseitig verabsolutierenden Konzeption des Nichts, die aufgrund ihrer Einseitigkeit in Widerspruch zum
Etwas ger t, ist von jener auszugehen", die die Ber cksichtigung des Etwas als eines mit
dem Nichts gleichurspr nglichen zur Pr misse hat.
IV. Die Aporien bei der Erfassung des relativen Nichts
Wenn nach der bisherigen Konzeption Nichts und Etwas einander wechselseitig
eliminierten, so da , wenn das eine vorgestellt wurde, das andere nicht vorgestellt
werden konnte, es sei denn durch Widerspruch und Paradoxie, und wenn kraft dieser
irreversiblen Verdr ngung jede Relation zwischen ihnen und jeder bergang des einen
zum anderen unm glich wurde, so sollen nach der jetzt zu erw genden Konzeption
Nichts und Etwas gerade in einer Relation zueinander stehen, die trotz der Disjunktion
und Opposition der Relata deren Einheit und Zusammengeh rigkeit wie auch deren
wechselseitigen bergang garantiert. Sind f r die erste Konzeption absolute Beziehungslosigkeit und unverbundenes Nebeneinander konstitutiv, so da rechtm ig nicht
einmal von einem Nebeneinander gesprochen werden d rfte, so f r die zweite gerade
Beziehung und Verbindung. Es lassen sich mehrere Arten des Verh ltnisses denken, die
am einfachsten nach dem bereits verwendeten Kategoriensystem eingeteilt werden
k nnen. Zum einen ist ein qualitatives Verh ltnis denkbar: Ýôåñüôçò - Verschiedenheit
oder Andersheit - genannt, zum anderen ein quantitatives, das óôÝñçóéò = Privation
oder Abstraktion oder in einer Variante Subtraktion genannt werden k nnte, zum
weiteren ein Dependenzverh hms, ein ðñïò ôé, das logisch als Verh ltnis von Bedingung und Bedingtem und real als das von Ursache und Wirkung auftritt, und zum
letzten ein epistetnisches Verh ltnis: die Üðüöáóéò als Negation. Die hier aufgef hrten
Verh ltnisse sollen im folgenden erl utert und daraufhin analysiert werden, ob sie
s mtlichen Schwierigkeiten entgehen oder ihrerseits solche implizieren, m gen diese
auch anderer Art sein als die bisherigen.
L Die Aporie der Andersheit
Eine der M glichkeiten, das konstitutionell gedachte Verh ltnis von Nichts und
Etwas auszulegen, zeigt sich in der Ýôåñüôçò, der Verschiedenheit oder Hegelisch der
Andersheit. Hiernach verhalten sich Nichts und Etwas zueinander wie Verschiedene
bzw. Andere: Nichts gilt als das vom Etwas Verschiedene und Etwas als das vom
Nichts Verschiedene. Die Interpretation macht Gebrauch von dem logischen Gesetz
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Karen Gloy
der Bestimmung, das mit dem Akt der Fixierung zugleich einen Akt der Negation im
Sinne der Exklusion vollzieht. Spinoza hat dieses Gesetz in einem Brief an Jarigh Jellis
vom 2.6.1674 auf die Formel gebracht: determinatio negatio est31. Gemeint ist, daß
jede Determination und Definition von etwas die Ausgrenzung des Betreffenden aus
einem Feld von Möglichkeiten und seine Abgrenzung gegen anderes, im Prinzip gegen
alles andere, fordert» Allein dies rechtfertigt die Rede, daß das betreffende Etwas
„dieses" und „nicht jenes* ist. Das einer jeden Sache eigentümliche Wesen konstituiert
und reflektiert sich darin, daß es sich aus der Gesamtheit der Realitäten ausgrenzt und
seine Wescnsbestimmtheit in der Negation alles anderen gewinnt. Jedes ist nur dadurch
es selbst, daß es anderes ausschließt und auf diese Weise Affirmation und Negation in
sich vereint.
Diese allem Spezifischen eigentümliche Struktur des Zugleich von Affirmation und
Negation ist auch auf Etwas und Nichts applizierbar. Jedes der beiden etabliert sich nur
durch die Negation des anderen und als Negat des anderen. Nur durch die Negation ist
jedes es selbst. Bei der Applikation von Affirmation und Negation auf Etwas und
Nichts handelt es sich allerdings im Unterschied zur gewöhnlichen Applikation um ein
Selbstverhältnis, insofern als Etwas und Nichts als affirmatives und negatives Moment
Bestandteile der Bestimmungsstruktur des Zugleich von Affirmation und Negation
sind, die für sie nicht weniger Geltung hat als für alles andere auch. Die durch Etwas
und Nichts ausgedrückte Affirmation und Negation stellt einen Anwendungsfall ihrer
selbst dar, ein Beispiel derjenigen Bedeutung, die sie selbst exponieren. Dadurch, daß
das affirmative Element „Etwas* nur dann es selbst, nämlich Etwas (= Affirmation),
ist, wenn es das negative, das Nichts, negiert, also zugleich Negation ist, und das
negative Element „Nichts" nur dann Negation des Etwas ist, wenn es als solches selber
ein Etwas und damit ein Affirmatives ist, enthalten beide die Einheit von Etwas und
Nichts, von Affirmation und Negation in sich. Im Teil der Struktur wiederholt sich die
ganze Struktur, in den Relata der Relation die Gesamtrelation.
Hierin liegt zugleich eine Schwierigkeit, nämlich der unendliche Regreß bzw. Progreß. Wenn jedes der beiden Glieder sein Wesen nur durch die* Einheit beider
bestimmen kann, so gilt dasselbe auch für die Glieder dieser Einheit und so in
infinitum. Wenn sowohl das Nichts wie das Etwas sein Pendant impliziert, wenn vom
Nichts prädiziert werden muß, daß es Etwas ist, und vom Etwas, daß es auch Nichts
ist, so läßt sich die Differenz zwischen beiden gemäß dem ursprünglichen Ansatz nur
dadurch wahren, daß dem jeweils als Etwas bestimmten Nichts ein neues Nichts und
dem jeweils als Nichts bestimmten Etwas ein neues Etwas opponiert wird. Da für beide
aber respektive ihres Pendants dasselbe gilt wie das eben Ausgeführte, nämlich dieses
zu involvieren und zugleich zu exkludieren, wiederholt sich die Argumentation ins
Unendliche. Dabei ist es gleichgültig, ob dieselbe als Regreß oder Progreß, als
zunehmende Selbsteinschachtelung oder zunehmende Selbstentfaltung, gelesen wird.
31
Spinoza: Epistola 50. Ihm folgt Hegel in der Wissenschaft der Logik, hrsg. von G. Lasson, Bd. l,
Hamburg, 2. Auflage 1932, 3. Auflage 1971, S. 101 f. bei der Bestimmung des Etwas. .
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
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Philosophiegeschichtlich geht die Deutung des Verh ltnisses von Etwas und Nichts
als Ýôåñüôçò32 auf Platon zur ck; sie findet sich bei ihm im Sophistes in der spezifischen
Form einer Ýôåñüôçò zwischen v und ìç äí. Dies erkl rt sich daraus, da sie im
Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit dem parmenideischen Satz vom
ausschlie lichen Sein des Seienden und vom Nichtsein des Nichtseienden auftritt. Um
dem nicht wegzuleugnenden und nicht zu ignorierenden Vorkommen von Nichtsein,
etwa in T uschung, Irrtum, Fehlurteil und Fehlschlu , gerecht zu werden, sieht sich
Platon zu einer Revision und Umdeutung der parmenideischen Auffassung gen tigt: ìç
äí (Nichtseiendes33) bedeutet f r ihn nicht l nger ein dem Seienden ( v) diametral
Entgegengesetzes (åíáíôßïí) - wir w rden sagen ein Kontr res -, sondern lediglich ein
vom Seienden Verschiedenes (Ýôåñïí)34. Da unter die Vorstellung des vom Seienden
Verschiedenen alle Begriffe, in Platons Terminologie alle Ideen bzw. Gattungen, au er
der Idee-bzw. Gattung „Sein1* fallen, so etwa die Ideen der Identit t, Bewegung, ja der
Verschiedenheit selbst, bezeichnet das ìç äí die Gesamtheit der brigen generischen
Ideen au er der des Seins. Wie das Sein kraft seiner Selbstidentit t alle anderen
Gattungen nicht ist, obwohl diese von ihm pr dizierbar sind, so ist auch das Nichtsein
nicht selber das Sein, wohl aber m gliches Subjekt einer Seinspr dikation, so da jedes
der beiden, v wie ìç äí, Seiendes wie Nichtseiendes enth lt.
Der infinite Regre von v und ìç üí begegnet allerdings im Sophistes nicht in
Reingestalt, was damit zusammenh ngt, da das ìç v als je und je Bestimmtes auftritt,
und zwar bestimmt jeweils als eine andere Idee, sei es als Identit t oder Verschiedenheit
oder als eine der brigen generischen Ideen, die es au er der Idee des Seins gibt. Zwar
folgert Platon richtig, da dem Seienden unz hlig viel Nicht-Seiendes zukomme,
n mlich so viel, wie es vom Seienden selbst verschiedene Ideen gibt35, und da ebenso
unendlich vielem Nicht-Seienden Seiendes (Sein) zukomme36 - worin sich die Erkenntnis Ausdruck verschafft, da Nicht-Seiendes als Verschiedenes das gesamte Seiende und
Seiendes das gesamte Nicht-Seiende, das Verschiedene, durchzieht, beide also gleich
weit reichen -, doch kommt in der Vorstellung der unendlichen Geltungssph re von
Seiendem und Nicht-Seiendem der unendliche Regre nur verkappt zum Vorschein, da
die st ndige Wiederkehr des Nicht-Seienden jeweils durch eine andere Idee spezifiziert
erscheint.
2. Die Aporien der Privation
Eine andere m gliche Beziehungsart zwischen Nichts und Etwas liegt vor in der
óôÝñçóéò, die lateinisch als pnvatio und deutsch als Beraubung wiedergegeben wird.
Wie die Beispiele f r Privation zeigen, deren bekannteste Blindheit als Beraubung der
32
èÜôåñïí ist der terminus technicus bei Platon, vgl. Sophistes 254 eff.
Das hier gleichbedeutend ist mit Nichtsein, ebenso wie Seiendes mit Sein identisch ist, da wir
uns in der Sph re der Ideen bewegen.
34
VgL Sophistes 257 b.
35
VgL Sophistes 257*.
* VgL Sophistes 256 e.
33
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Karen Gloy
Sehkraft, Finsternis als Beraubung des Lichtes, Tod als Beraubung des Lebens sind,
folgt die Festsetzung des Beraubten stets in bezug auf ein Unberaubtes, das die
positiven Merkmale aufweist, mögen diese qualitativer, quantitativer, existentieller
oder sonstiger Art sein, durch deren partialen oder totalen Verlust des privativum
charakterisiert ist. Privation meint folglich das Fehlen einiger oder aller für das Dasein
und Sosein einer Sache konsekutiven Bestimmungen.
Was für die Rcalsphäre gilt, anhand deren die Privation zunächst demonstriert
wurde, gilt mutatis mutandis auch für die logische, für den Begriffsbereich. Privation
hat hier den Sinn von Abstraktion, durch die der logische Prozeß des Absehens von
einer kleineren oder größeren Anzahl von Prädikaten bezeichnet wird, deren Resultat
die Ausklammerung derselben ist.
Abgesehen von seinem Vorkommen in der Realität und in der Logik, begegnet dieses
Verhältnis auch in der Mathematik unter dem Namen der Subtraktion; denn die
mathematische Operation der Subtraktion ist die Wegnahme von Einheiten, wie
umgekehrt die der Addition die Hinzufügung solcher ist. Dementsprechend hat jede
niedere Zahl als Ergebnis des Entzugs einer Einheit im Ausgang von der nächst höheren
Zahl zu gelten und die Null als das Ergebnis des Entzugs aller Einheiten. - Da der
quantitative Entzug von Etwas, das numerisch Eines ist, eine Grundstruktur bildet, die
alle Bereiche durchzieht, kann dieses Verhältnis als quantitatives klassifiziert werden.
Was speziell die Relation von Nichts und Etwas betrifft, so legt sich nahe, angesichts
des Faktums, daß Beraubung stets an Positivem, an qualitativ wie quantitativ Vorhandenem, erfolgt, das Etwas in die Position des Unberaubten, das Nichts in die des
Beraubten zu bringen, mithin jenes zum Ausgangspunkt, dieses zum Endpunkt eines
Privationsprozesses zu machen.
Daß auch diese Deutung dem regressus ad infinitum verfällt, läßt sich unschwer
einsehen. In der Wissenschaft der Logik — 3. Anm. zum 1. Kap.37 - hat Hegel denselben,
den er in einem späteren Passus über die Unendlichkeit auch „das Schlecht-Unendliche", die ewig „sich wiederholende Einerleiheit" oder „eine und dieselbe langweilige
Abwechslung" nennt38, in bezug auf das Nichts und Etwas - Hegelisch das Sein expliziert. Wenn Nichts die Abwesenheit des Seins meint, so muß es sich nach
Abstraktion von allem Sein, zunächst von allem Seienden, den konkreten Gegenständen
und Sachverhalten, sodann vom Sein selbst als dem Wesen des Seienden, einstellen. Es
ist das, was nach Abzug von allem übrigbleibt. Als Übrigbleibendes jedoch unterliegt
es selbst dem Abstraktionsprozeß. Denn wenn ausnahmslos von allem zu abstrahieren
ist, dann offensichtlich auch vom Nichts. Die Abstraktion vom Nichts aber ergibt, wie
der Gedanke der Schöpfung lehrt, das Sein. Da gemäß der Maxime absoluter Abstraktion vom Sein aber gerade zu abstrahieren war und das Abstraktionsprodukt „Nichts"
selbst wieder der Abstraktion verfällt, iteriert sich der Prozeß ins Unendliche.
37
38
Hegel: Logik, S. 86 f.
Logik, S. 128, 131.
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
153
Die Argumentation verdeutlicht, sofern man Nichts und Etwas in der spezifisch
quantitativen Form als Null und Eines bzw. Mehreres vorstellt, daß Null, obwohl es
bedeutungsmäßig die Abstraktion jedwedes Einen besagt, faktisch dennoch als Eines
auftritt. Der Schritt, von der positiven Zahlenreihe rückwärts zum Zahllosen, der Null,
zu gelangen, erweist sich als Scheinerfolg, da die Null selbst ein Zahlfähiges ist. Da sich
die Argumentation in infinitum iteriert, durchziehen Null und Eines die gesamte
Zahlenreihe dergestalt, daß Null aus der Abstraktion der jeweils letzten Einheit
resultiert und jede Einheit nur auf der Basis von Null, der Leere, zustande kommt.
In dieser Argumentation dokumentiert sich die generelle Einsicht, daß das Verständnis einer Sache auf der Voraussetzung einer anderen beruht, respektive deren es sich via
negationis erschließt, und das Verständnis der anderen Sache selbst wieder auf der
Voraussetzung einer anderen, bezüglich deren seine Bestimmung auf dem Wege der
Negation erfolgt und so fort. Im Falle einer totalen Disjunktion der Sphäre tritt dieses
Verhältnis als Wechselimplikation auf. Appliziert auf Nichts und Etwas besagt es, daß
sich Nichts nur in bezug auf Etwas verstehen läßt, und zwar als Abstraktion desselben,
und Etwas nur in bezug auf Nichts, und zwar als dessen Abstraktion und so fort.
3. Die Aporie des Grund-Folge-Verbältnisses
Eine dritte Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Nichts und Etwas zu deuten, bietet
das Schema von Grund und Folge, wobei sowohl das Nichts als Grund des Etwas wie
auch das Etwas als Grund des Nichts angenommen werden kann.
Um mit der Deutung des Nichts als Grund des Etwas zu beginnen, so ist diese
gleicherweise dem vorphilosophisch-mythischen Denken wie dem philosophisch-kritischen bekannt. Erinnert sei an die global verbreiteten kosmogonischen Mythen, die
vom Entstehen der Welt aus dem Nichts bzw. Chaos berichten. Mit Chaos ist primär
nicht die Ungeordnetheit und Ungestaltetheit der Materie im Gegensatz zur Ordnung
und Schönheit der Welt gemeint, sondern der Urzustand, der gegenüber der differenzierten und spezifizierten, also der individuierten Welt das absolut Bestimmungslose
bezeichnet; die erstere Bedeutung ist demgegenüber eine sekundäre. Auch der alttestamentarische Schöpfungsgedanke der creatio ex nihilo ist in diesem Kontext zu erwähnen, der auf die Makkabäer-Stdlc 2. Buch, 7, 28 zurückgeht: „Siehe an Himmel und
Erde und alles, was darinnen ist, dies hat Gott alles aus nichts (
) gemacht,
und wir Menschen sind auch so gemacht." Dieser Gedanke, der zu den Glaubensinhalten des jüdischen Volkes seit der Zeit seines Exils um 500 v.Chr. gehörte, im 2.
nachchristlichen Jahrhundert durch Irenaeus zum religiösen Dogma der Christen
erhoben wurde und die mittelalterliche Scholastik in Bann hielt, sowohl was seine
Exegese wie seine Vereinbarkeit mit dem anschaulich evidenteren Satz: ex nihilo nihil
fit betrifft, hat seine Wirkungsmächtigkeit bis in die Neuzeit bewahrt. Noch in
Goethes Faust (Vers 1349-52) erklärt Mephisto auf die Frage nach seinem Wesen:
„Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,
Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht."
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154
Karen Gloy
Freilich nicht nur in Mythos, Religion und Dichtung begegnet die Vorstellung des
Nichts in der Funktion des Grundes, sondern auch in der Philosophie. Verwiesen sei
auf den schon zitierten Aufsatz Heideggers Was ist Metaphysik? Wenn Heidegger das
Wesen des Nichts als „abweisendes Verweisen auf das entgleitende Seiende im Ganzen"
bestimmt, wodurch das Seiende „als das schlechthin Andere - gegenüber dem Nichts"39
allererst offenbar wird, oder wenn er erklärt, daß erst „in der hellen Nacht des Nichts
... die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist- und
nicht Nichts", entsteht40, so dokumentiert sich hierin die Überzeugung, daß das Nichts
Ermöglichungsgrund des Etwas ist. Das Nichts wird aufgefaßt und beschrieben
metaphorisch-bildlich als dasjenige, was das Seiende umgreift und von allen Seiten
umkreist, was dasselbe, aus sich vertreibend, eingrenzt und konturiert, und gedanklich-abstrakt als dasjenige, was den Grund des Seienden abgibt.
Anlaß für diese Interpretation dürfte der Umstand sein, daß mit dem Erwachen der
Reflexion und dem Erstaunen des Menschen über das Woher seiner selbst, der Welt,
des Seienden überhaupt die Frage nach dem letzten Grund (Urgrund) aufkommt und
keine andere Antwort zuläßt als die einer Herkunft aus dem Nichts. Es ist nicht
zufällig, daß gerade die Frage, warum Seiendes sei und nicht vielmehr Nichts41, welche
nur zu beantworten ist mit einem Darum, der Angabe eines Grundes, bei Heidegger
zum Ausgangspunkt seiner Nichts-Konzeption wird.
Daß auch die Theorie eines Begründungszusammenhangs zwischen Nichts und
Etwas nicht ohne Schwierigkeiten abgeht, kündigt sich bereits in der mythischen
Deutung an. Indem hier das Nichts als Grund der Welt symbolisch vorgestellt wird,
z.B. durch das Wasser, aus dem die Feste Welt hervorragt42, oder in Gestalt eines
Teppichs, auf dem die Welt ausgebreitet liegt, oder in Gestalt eines leeren Kanevas, in
den das Volle wie eine Stickerei eingewebt ist43, wird das Nichts als Etwas genommen,
als ein bestimmtes Seiendes neben dem welthaften Seienden. Könnte gegen diese
Darstellung noch eingewandt werden, daß sie einer inadäquaten sinnlich-bildhaften
Vorstellungsweise entstamme und im abstrakten Denken schwinde, so läßt auch das
wissenschaftlich-philosophische Denken erkennen, daß es nicht umhin kommt, das
Nichts in der Funktion des Grundes als Etwas aufzufassen und ihm respektive seiner
Folgen die Fähigkeit der Verursachung nach Art des real Seienden oder zumindest die
Funktion der logischen Bedingung nach Art des ideal Seienden zuzuschreiben. Ob als
Ursache eines realen Kausalverhältnisses, ob als Bedingung eines logischen Bedingungsverhältnisses, stets -hat das Nichts den Status dessen, was es erst begründet und
bedingt: des Etwas. Diese Schwierigkeit zeigt sich auch in Heideggers Ausführungen
über das Nichts. Behauptet wird: das Nichts „nichte", das Nichts sei „abweisende
Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen44, es sei „die Ermöglichung der
39
40
41
42
43
44
M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 34.
Was ist Metaphysik?, S. 34.
Was ist Metaphysik?, S.42.
Das
der Septuaginta.
H.Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 279 f.
M. Heidegger: Was ist Metaphysik?, S. 34.
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
155
Offenbarkeit des Seienden als eines solchen"45. „Nichtung", „Verweisung", „Ermöglichung" sind Tätigkeiten bzw. Vermögen, die auf ein Tätigendes bzw. Vermögendes
weisen, mag es sich bei diesem um ein substantiell Seiendes handeln, dem die Aktivitäten inhärieren, oder um ein logisches Subjekt oder mag nach dynamischer Interpretation die Tätigkeit selbst das Substrat sein.
Wenn das Nichts als Grund des Etwas selber ein Etwas ist, ein zweites neben oder,
besser, vor diesem, diesem vorgeordnet und zugrunde liegend, so verlangt die Stringenz des Ansatzes die Annahme eines neuen, höherstufigen Nichts, das als Grund des
Etwas inklusive des als Etwas erwiese'nen Nichts fungiert. Und da für dieses Nichts
dasselbe gilt wie für das eben charakterisierte, nämlich, daß es ein Etwas ist und damit
die Annahme eines höherstufigen Nichts verlangt, iteriert sich die Argumentation in
. indefinitum.
Die Ausweglosigkeit des unendlichen Regresses legt es nahe, die entgegengesetzte
Möglichkeit zu erproben, welche das Etwas zur logischen wie ontologischen Grundlage des Nichts macht. Diese These ist nicht weniger geläufig als ihre Antithese und hat
insbesondere durch die christliche Theologie mit ihrem Verständnis von Gott als ens
realissimum und principium omnium, d. h. als vollkommene, durch keine Negativität
getrübte Positivität, welche Grund von allem ist* Verbreitung gefunden. Als Beispiel
einer philosophischen Exposition sei auf Sartres Theorie in seinem Hauptwerk UEtre et
le Neant verwiesen. Nach Sartre kommt dem Sein (l'etre) logische wie ontologische
Priorität vor dem Nichts (le neant) zu, was sich zum einen darin dokumentiert, daß es
für sich erkennbar ist, ohne des Nichts zu bedürfen46, während das Verständnis des
Nichts als Negation des Seins das Sein voraussetzt, und zum anderen darin, daß es
independent von anderem und somit selbständig existiert, während das Nichts, das
seiner Sinnintention nach „nicht ist", also Nicht-Sein bedeutet47, lediglich ein vom Sein
entliehenes, geborgtes Dasein besitzt." „Nicht-Sein gibt es nur auf der Oberfläche des
Seins" und „innerhalb der Grenzen des Seins", heißt es bei ihm48 und an anderer Stelle:
„Wenn Nichts gegeben sein kann, so weder vor noch nach dem Sein und ganz allgemein
auch nicht außerhalb des Seins, sondern mitten im Sein selbst, in seinem Herzen, wie
ein Wurm"49. „Wenn das Sein vollkommen verschwände, so würde das nicht den
Herrschaftsantritt des Nicht-Seins bedeuten, sondern im Gegenteil das gleichzeitige
Dahinschwinden des Nichts50."
Sucht man nach Gründen für diesen Entwurf, abgesehen von dem schon genannten:
den Schwierigkeiten des Gegenkonzepts zu entkommen, so dürfte ein weiterer darin
bestehen51, daß das Nichts ein Negationsbegriff ist, der stets etwas negiert, der folglich
45
46
47
50
51
Was ist Metaphysik?, S. 35.
Es heißt bei ihm, »daß man den Seinsbegriff bis auf den Grund ausschöpfen kann, ohne darin
die kleinste Spur vom Nichts vorzufinden", J.-P. Sartre: Uf.tre et le Neant, S. 55.
Vgl. Uttrt et le Neant, S. 55: „Das Nichts, welches nicht ist".
Uttre et le Neant, S. 55.
Vttft et le Neant, S. 53, 55.
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156
Karen Gloy
nicht allein auf etwas bezogen» sondern auch von diesem abhängig ist. Denn um
überhaupt negieren zu können, muß etwas vorausgesetzt sein, das die conditio sine qua
non bildet, ohne welche weder logische Verneinung noch reale Zerstörung stattfinden
kann- Insofern das Nichts ein Relations-, genauer: ein Dependenzbegriff ist, der auf
einen vorausliegenden positiven Bezugspunkt angewiesen ist, kann er nicht derselben
logischen Stufe angehören wie dieser. Solches wäre nur möglich, wenn es sich bei
beiden Relata um konträre Gegensätze handelte, deren Inhalt sich wechselseitig ausschlösse, nicht aber wie hier um kbntradiktorische, bei denen der eine Inhalt den
anderen einsinnig negiert. Noch ein anderer Grund dürfte darin zu sehen sein52, daß das
Nichts, obzwar es bedeutungsmäßig gerade nicht Etwas ist, desgleichen auch nicht ist,
faktisch dennoch Etwas ist und Sein hat oder zu haben scheint und dies nur einem
vorgängigen Sein verdanken kann. So erweist sich das Nichts in jedem Falle, logisch
wie real, als posterius gegenüber dem Etwas als prius.
Aber auch diese Argumentation entgeht dem regressus ad indefinitum nicht. Wie die
Folge stets auf einen Grund bezogen und von ihm abhängig ist, sei es, daß sie formaliter
als Bedingtes einer Bedingung auftritt, sei es, daß sie realiter als Wirkung einer Ursache
erscheint, so ist auch umgekehrt der Grund stets auf die Folge bezogen: eine Bedingung
wäre keine Bedingung, wenn sie nicht die Bedingung eines Bedingten wäre, und eine
Ursache keine Ursache, wenn sie nicht als Ursache einer Wirkung fungierte. Von hier
versteht sich, daß die Folge dem Grund nicht nur äußerlich adjungiert sein kann wie ein
Fremdes, sondern innerlich aus ihm freigesetzt sein muß; andernfalls bliebe die
Notwendigkeit ihres Hervorgangs aus dem Grund unverständlich. So zeigt sich der
Grund als ein solcher, der entweder seine Folge impliziert oder zumindest in einem
notwendigen Nexus mit ihr steht. Wie das Nichts im Modus der Folge seinen Grund,
das Etwas, fortsetzt und damit selber als Etwas auftritt, so enthält umgekehrt das Etwas
im Modus des Grundes das herausgesetzte Nichts in sich, ist also selber seinem Wesen
nach ein Nichts. Ist dies der Fall, so verlangt das Festhalten an der Ausgangskonzeption
ein neues, höherstufiges Etwas, das als Grund des Nichts fungiert, sowohl des
eigentlichen wie des in sich nichtigen Etwas, und, da für dieses dasselbe gilt, wieder ein
neues, höherstufiges Etwas und so beliebig fort.
4. Die Aporie der Negation
Wenn die selbstbezügliche Negation des Bewußtseins des III. Teils dieser Abhandlung aufgrund radikaler Selbstwidersprüchlichkeit zu einem nihil absolutem führte,
insofern die Negation des Bewußtseins durch einen selbsteigenen Bewußtseinsakt
erfolgen mußte, der als solcher der Negation enthoben, mithin ein positives Etwas blieb
und damit den Widerspruch perfekt machte, so muß die nicht selbst-, sondern fremdbezügliche Negation, die sich auf etwas anderes als das Bewußtsein bezieht, den Fall eines
nicht widersprüchlichen relativen Nichts abgeben. Insofern die schlichte Negation stets
etwas negiert, folglich auf ein Etwas, wenngleich negativerweise, reliert ist, stellt sie
52
L'£treetleNeant,S.55.
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
157
eine weitere Variante der Nichts-Etwas-Relation dar, und insofern sie selbst ein
Negations*^* ist und ihr Bezugsobjekt in einem affirmativen Satz ausgesprochen
werden kann, repräsentiert sie gegenüber den vorhergehenden ontologischen Varianten
die logisch-epistemische. Mit Negation und Affirmation sind die Korrelate der erkenntnistheoretischen Variante des Nichts-Etwas-Verhältnisses bezeichnet. Mehrere Formen
der Negation und damit auch der Negation-Affirmation-Beziehung sind denkbar, die
sich stufenweise ordnen lassen.
1. Den simpelsten Typus stellt die einfache oder schlichte Negation dar, die sich
aufhebend auf einen Bezugsgegenstand, ein Etwas, oder dessen urteilsmäßige Formulierung, die positive Aussage, bezieht. Das Ergebnis dieser Aufhebung ist der negierte
Gegenstand bzw. der negative Satz. Eine weitergehende Aussage, z.B. über eine
mögliche Substitution durch einen positiven Gegenstand oder Satz oder ob eine solche
überhaupt möglich sei und von welcher Art der positive Sächverhalt sei, wird nicht
gemacht. Die Sphäre außerhalb des negierten Etwas bleibt offen.
2. Die doppelte Negation stellt ein System zweier negativer Aussagen vor, von denen
sich die erste auf eine positive Aussage, die zweite auf die erste negative bezieht. Da
beide a) auf Diverses gehen, die erste Negation auf Positives, die zweite auf Negatives,
und b) auf von sich selbst Differentes, die erste Negation auf eine fremde positive
Aussage, die zweite auf eine fremde negative, liegt trotz Verdoppelung der Negation
keine Selbstreferenz vor. Resultat der Negation der Negation ist Affirmation, wie dies
in dem logisch-grammatikalischen Gesetz: duplex negatio est affirmatio ausgesprochen
wird. Dieses Gesetz, dem die lateinische Sprache ebenso wie die neuhochdeutsche
folgt, aber schon nicht mehr durchgehend das Griechische, das Alt- und Mittelhochdeutsche und schon gar nicht die Sprache der Dichtung53, ist keineswegs selbstverständlich, sondern basiert auf bestimmten ontologischen Prämissen. Diese bestehen in der
Annahme einer vollständigen Disjunktion der Gesamtsphäre von Prädikaten in eine
positive und negative Teilsphäre (A und non A) sowie in der Identifizierung der
negierten (non A) mit der unbestimmt bleibenden positiven (B), die unbestimmt
deswegen bleibt, weil sie die gesamte restliche Sphäre außer A verkörpert. Unter dieser
Bedingung allein läßt sich verstehen, daß der aus der ersten Negation hervorgegangene
und aus der positiven Sphäre herausgesetzte negative Sachverhalt bei dessen Negation
auf die positive Ursprungssphäre zurückverweist. Da nach diesem Schema eine unendliche Potenzierung der Negation möglich ist, bedeutet jede ungerade Vervielfältigung
die Aufhebung des Sachverhaltes und jede gerade die positive Setzung desselben.
53
Im Griechischen gilt folgende Regelung: Doppelte Negation führt zu Aufhebung, wenn die
einfachen Verneinungspartikeln
und
auf eben zusammengesetzten Ausdruck folgen oder
wenn
auf
oder
auf
folgt. In allen anderen Kombinationsfällen bedeutet die
Verdoppelung der Verneinung eine Verstärkung der einfachen Negation (vgl. Menge: Repetitorium der griechischen Syntax, S. 127), z.B.
, Gorgias: De Xenophane,
Zenone et Gorgia, Kap. 5, S. 679, Zeile 26, 979'a 11. Eine reiche Zusammenstellung gehäufter
Verneinungen aus der deutschen Literatur im Sinne der Bekräftigung der einfachen Negation
findet sich bei R. Hildebrand: Gehäufte Verneinungen^: Gesammelte Aufsätze und Vorträge
zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht, Leipzig 1890, S. 214-224.
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Karen Gloy
Akzeptiert man diese Prämissen nicht - wie man auch nicht genötigt ist nach dem
Ansatz der einfachen Negation, der eine über die bloße Negation hinausgehende
positive Aussage über eine mögliche Substitution des negierten Sachverhaltes durch
einen positiven nicht enthält ~, so bedeutet die Verdoppelung der Negation lediglich
eine Verstärkung der Negation.
3. Von der irreflexiven doppelten Negation unterscheidet sich die reflexive dadurch,
daß sie sich nicht auf eine andere, ihr fremde Negation bezieht, sondern auf sich selbst.
Hierdurch gerät sie in einen totalen Widerspruch mit sich: sie vollzieht so Selbstaufhebung und Selbstsetzung in einem. Indem die Negation sich selbst als Negation aufhebt,
hat sie das Andere ihrer selbst, die Position, zum Resultat, indem sie, um die
Aufhebung vollziehen zu können, gleichzeitig Negationsakt bleibt, setzt sie ihren
negativen Charakter fort. Auf diese Weise vereinigt sie Position und Negation in sich.
Während der dritte Negationsbegriff, der aufgrund seines totalen Selbstwiderspruchs
zum absoluten Nichts führt bzw. umgekehrt als absolutes Nichts den totalen Selbstwiderspruch impliziert, für die gegenwärtige Untersuchung irrelevant ist, verdienen der
erste und der zweite Begriff, die schlichte Negation und ihre Verdoppelung, als relative
Nichtsbegriffe Beachtung. Dabei erweist sich der zweite als Ursprung eines unendlichen Regresses. Da die Negation als Relations- und Dependenzbegriff essentiell auf ein
affirmatives Etwas reliert ist, muß bei Aufhebung desselben ein neues Etwas an seine
Stelle treten. Dies gilt ausnahmslos für jedes Etwas, folglich auch für die Negation
selbst, die als Bewußtseinsakt faktisch ein Etwas darstellt. Ihre Negation verlangt einen
neuen Negationsakt, der einerseits bedeutungsmäßig und funktional negierenden Charakter hat, andererseits faktisch-existentiell affirmativen und daher seinerseits einen
neuen Negationsakt verlangt, für den dasselbe gilt und so fort. Die Argumentation
initiiert einen unendlichen Regreß dergestalt, daß jede niedrigere Negation eine höherstufige erfordert: die Negation erster Ordnung eine zweiter Ordnung, diese eine dritter
Ordnung und so fort. Das affirmative Resultat der vervielfältigten Negation muß
demnach jeweils als ein anderes, nicht als das ursprüngliche affirmative Moment gelesen
werden.
V. Die Lösung der Aporien durch Übergang
Wie die voranstehenden Explikationen haben deutlich werden lassen, entgeht auch
das relative Nichts einer immanenten Aporetik nicht. Nicht allein die Konzeption des
absoluten Nichts als totale Verneinung und Destruktion gerät in ausweglose Schwierigkeiten, auch die ihr kontroverse, nach der das Nichts als Relatum zum Etwas betrachtet
.wird, hat mit solchen zu kämpfen. Ob damit das Scheitern jeder erkenntnistheoretischen Bewältigung des Nichts für ausgemacht zu gelten hat, läßt sich definitiv erst
entscheiden, wenn die Gründe einsichtig geworden sind, die in beiden Fällen das
Mißlingen verantworten.
Der erste Aporieiypus, der in einer Selbstdestruktion des Ansatzes endet, resultiert
aus der Annahme, daß das Nichts die schlechthinnige Elimination von allem ist. Bei
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Die paradoxale Verfassung des Nichts
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kritischer Reflexion auf die in diese These unthematisch und unreflektiert eingehenden
Voraussetzungen zeigt sich aber, daß das absolute Nichts selber ein Gedachtes,
Angeschautes, Empfundenes oder wie immer Vorgestelltes ist, folglich auf ein Bewußtsein und damit auf ein Etwas Beziehung hat, wie auch, daß es entsprechend der
Intentionalitätsstruktur des Bewußtseins ein Intentum dieses Bewußtseins und damit
ein, wenngleich inhaltsleeres, so doch formales Objekt und für das Bewußtsein ist.
Die kritische Reflexion decouvriert die illegitime Verabsolutierung dieses Ansatzes.
Indem er die Gesamtstruktur des Bewußtseins ignoriert, die sich aus Inhalt und Form,
aus dem id quod und dem modus quo', konstituiert und für das Nichts die Unterscheidung von Wasgehalt und Zugangsweise mit sich bringt, legt dieser Ansatz einseitig den
Akzent auf den Inhalt, das Nichts, unter Vernachlässigung von dessen Erfassungsmöglichkeit. Die Insistenz auf der letzteren führt zur Dementierung des angenommenen
Inhalts, was auch so ausgedrückt werden kann, daß sich die einseitige Hypostasierung
des Inhalts durch das Faktum des Ansatzes selbst widerlegt.
Der zweite Aporietypus dagegen, der im Unterschied zum Selbstwiderspruch des
ersten Ansatzes im regressus ad infinitum besteht, hat seinen Grund nicht wie dieser in
einer mangelnden Beachtung der Gesamtstruktur des Ansatzes, sondern umgekehrt in
deren vollständiger. Das Nichts, obzwar bedeutungsmäßig alles negierend, wird hier
entsprechend seiner Ansatzform in seinem Bezug zum Bewußtseinsakt gesehen, mithin
als Relatum einer Bewußtseinsrelation gefaßt, deren anderes Relatum das Bewußtsein
als ein Etwas ist. Da es als Relatum einer Relation zu einem Etwas selber ein Etwas ist,
verlangt sein Sinngehalt den Ansatz eines neuen Nichts, welches, der Form des
Ansatzes nach, wiederum Relatum einer Relation zu einem Etwas und somit selber
wieder ein Etwas ist, seinem Gehalt nach jedoch den Ansatz eines neuen Nichts
erfordert und so ins Unendliche fön. Der Widerstreit von Ansatzform und Sinngehalt
des Nichts führt zu einem nimmer endenden Prozeß, weil der Sinngehalt des Nichts als
absolute Aufhebung ein unerreichbares Ziel bleibt. Aufgrund dieses Prozesses wiederholt sich in jedem Relatum der Relation die Gesamtrelation und umgekehrt in der
Gesamtrelation das Relatum. Bekanntlich besteht hierin das Wesen der Dialektik,
deren Eigenart es ist, daß der Teil zugleich das Ganze und das Ganze zugleich den Teil
präsentiert. Daß der Widerspruch zwischen Ganzem und Teil, Relation und Relatum in bezug auf das Nichts zwischen Form und Gehalt - hier zu keiner Selbstdestruktion
des Ansatzes, sondern zu dessen permanenter Regeneration führt, liegt daran, daß
derselbe hier zum Prinzip erhoben ist.
Wenn sowohl die Konzeption des absoluten Nichts wie die des relativen sich selber
widerspricht, erstere in Form eines offenen Widerspruchs, letztere in Form eines
verdeckten infolge der Hineinnahme und Festschreibung des Widerspruchs im Ansatz,
so steht zu erwarten, daß auch die Lösung des Problems, falls es eine gibt, mit diesem
zu tun haben wird* indem sie sowohl dem Nichts wie dem Etwas Rechnung tragen
muß, ohne allerdings einseitig den Teil (Nichts) oder das Ganze (die Relation NichtsEtwas) zu verabsolutieren. Daß es eine Lösung geben muß, so paradox dies klingen
mag, geht daraus hervor, daß das Nichts sowenig ohne das Etwas gedacht werden kann
wie das Etwas als ein Spezifisches, von anderem Differentes ohne das Nichts. In dem
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160
Karen Gloy
Übergang von einem zum anderen, der immer schon vollzogen ist und sich ständig neu
vollzieht, ist die Lösung zu suchen. Denn der Übergang qua Übergang von Nichts zu
Etwas und vice versa ist ein Aufgeben des einen und ein simultanes Ergreifen des
anderen, ohne daß dieser Zustand mit dem einen oder anderen noch auch mit beiden
zusammen identifiziert werden dürfte. Vielmehr bezeichnet er als das Nicht-Mehr-Sein
des einen und das Noch-Nicht-Sein des anderen ein reines Zwischen54.
Als echtes Vermittlungsprinzip von Nichts und Etwas läßt sich der Transzensus
weder durch das Nichts noch durch'Etwas allein und ausschließlich bestimmen, da er
stets auf das Pendant mit bezogen ist; ebensowenig jedoch ist er durch beide gemeinsam
bestimmbar, da er nicht nur das Sowohl-Als-auch der beiden, sondern gleicherweise ihr
Weder-Noch beinhaltet. Jede Fixierung desselben als Nichts oder Etwas oder als beide
führte nur wieder in in die Widersprüche zurück, aus denen er befreien sollte. Das
Prinzip, welches das Nichts zu erfassen erlaubt - Entsprechendes gilt für das Etwas -,
bleibt selbst unfaßbar, obwohl es seine Existenz gerade in der Erfaßbarkeit des Nichts
wie des Etwas mittels des Übergangs von einem zum anderen dokumentiert. Hierin
bekundet sich ein generelles Gesetz, wonach das, was Bedingung und Vermittlungsgrund von allem ist, selbst nicht durch das von ihm Bedingte und Vermittelte eingeholt
werden kann, ohne in einen circulus viriosus oder eine petitio principii zu geraten.
Letztbegründung bleibt stets unbegründbar und damit auch unzugänglich, obwohl sie
sich in der Vermittlung der Gegensätze permanent manifestiert.
Anzumerken ist noch, daß der Übergang entsprechend den diversen Auslegungsmodi von Nichts und Etwas jeweils anders erscheint: so der Übergang von Bestimmungslosigkeit zu Bestimmtheit und vice versa als Individuation und Auflösung, der Übergang von Keinem (Null) zu Einem (Eins) bzw. Mehrerem und umgekehrt als Zu- und
Abnahme, der Übergang von Nicht-Sein zu Sein und von Sein zu Nicht-Sein als
Entstehen und Vergehen (Schöpfung und Untergang) und der Übergang von Nichtbewußtsein zu Bewußtsein und umgekehrt als Bewußtwerden und Bewußtseinsverlust. In
allen Fällen hat der Übergang eine zweifache Gestalt, je nachdem; ob er bei Nichts oder
bei Etwas ansetzt.
Wo und wie immer Nichts und Etwas begegnen, ob auf ontologischer oder epistemologischer Ebene, ob in dieser oder jener Gestalt, stets befinden sie sich in einem
Umschlag ineinander begriffen. Nicht als fixierten, statischen Prinzipien kann ihnen ein
Sinn abgewonnen werden, sondern allein als dynamischen, in Bewegung befindlichen,
denen Tendenz und Transzensus zum Pendant immanent ist. Die Notwendigkeit ihres
Übergehens ineinander, die ihre Konstanz erst bedingt, hat niemand schöner in Worte
gekleidet als Goethe in den Schlußversen seines Gedichtes Eins und Alles, welche
lauten:
„Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will".
54
Vgl. das
Platons aus der 3. Position des Parmenides beim Umschlagen (
genetischen Ideen ineinander.
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) der