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Das Programmformat - Bruchstücke einer Geschichte

2021

NICO DE KLERK Das Programmformat Bruchstücke einer Geschichte Verallgemeinerungen dienen für gewöhnlich dazu, eine diskursive Wasserscheide zu schaffen oder Argumente gegen gefestigte Meinungen in Stellung zu bringen, wie differenziert diese auch sein mögen. Verallgemeinerungen sind, mit anderen Worten, keine Tatsachenbehauptungen, sondern rhetorische Figuren. Deswegen sollten sie auch immer cum grano salis genommen werden - das gilt auch für das hier im folgenden Gesagte. Hin und wieder aber sind Verallgemeinerungen gerechtfertigt. Der vorliegende Band ist, soweit mir bekannt ist, die erste gemeinschaftliche Anstrengung, einen tatsächlichen blinden Fleck der Filmgeschichtsschreibung anzusprechen: das Programm als Aufführungsformat. Man könnte darüber spekulieren, warum dieses Thema in filmhistorischen Untersuchungen nahezu unbeachtet geblieben ist. Hat es beispielsweise damit zu tun, daß das Programmformat nicht ein spezifisch filmisches Phänomen ist, sondern seine eigene Geschichte hat? Eine Geschichte, die zudem eine Vielzahl an Unterhaltungsformen umfaßt: Musikund Theaterveranstaltungen, Variete, Laterna magica-Vorführungen, Radio, Fernsehen usw. Oder hat es damit zu tun, daß Fragen des Programmformats im Gegensatz zu Kriterien wie Nationalität, Genre, Stil, Technik oder Autor für die Archivarbeit keine Rolle spielten, wenn es darum geht, welche Filme konserviert werden sollen? Zumal die genannten Kriterien gleichzeitig auch im Mittelpunkt der traditionell produktionsorientierten Filmanalyse standen? Dennoch: Das Thema Programmformat lag in der Luft. Die Forschungen zum frühen Kino, die ihrerseits in ihrem Anspruch, einen radikal neuen filmhistorischen Ansatz zu liefern, als eine Art Wasserscheide betrachtet werden können, haben ihm den Weg gebahnt. Hier bildete sich nämlich ganz deutlich eine Tendenz heraus, andere, meist frühere Unterhaltungsformen, Technologien und Publikumsgruppen mit einzubeziehen. Dies erlaubte einerseits, den Blickwinkel zu erweitern: So heißt es zusammenfassend bei Charles Musser, »[ ... ] daß das Kino drei wesentliche Prozesse einschließt: die Produktion, die Auswertung sowie das Filmesehen«.1 Andererseits galt es, die Sujets, Stile, Erzähl- und Aufführungsformate des frühen Films zu kontextualisieren. Somit ist der vorliegende K/Ntop-Band ein erster Schritt, um dem bedauerlichen Mangel an Interesse für ein so grundlegendes und weitverbreitetes Phänomen wie das Programm entgegenzuwirken. Obwohl es heute in den westlichen Ländern im Kino praktisch keine Programme mehr gibt, war dies 15 doch bis in die sechziger Jahre - oder besser: bis mindestens in die sechziger Jahre -die gebräuchliche Art und Weise, eine Filmvorstellung und damit auch Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Publikums zu moderieren. Die Geschichte der Filmpräsentation ist, mit anderen Worten, zu weiten Teilen eine Geschichte der Filmprogrammierung und - der Schausteilerkunst. »Zu weiten Teilen« - dies nicht nur, weil das Programmformat aus den Kinos praktisch verschwunden ist. Dagegen sind mit dem Aufkommen des Fernsehens viele der Genres aus dem Vorprogramm (Wochenschau, Zeichentrickfilm, Kurzdokumentationen usw.) in das neue Medium >abgewandert<. Gleichzeitig trat durch den Aufstieg des Autorenkinos die Konzentration auf das Einzelwerk an die Stelle des Unterhaltungswerts eines Kinoabends als ganzem. Selbst in der Frühzeit wurde nicht jede Filmvorführung als Programm gestaltet. Wenn wir das Programmformat definieren als eine Reihe eigenständiger Attraktionen, die von einer organisierenden Instanz sequentiell angeordnet werden, um die Anteilnahme des Publikums zu moderieren, dann fallen einige Darbietungsformen aus diesem Rahmen heraus. Kinetoskope oder andere Automaten boten z.B. nur Einzelfilme für die individuelle Betrachtung. Frühe Vorführungen in ,Spielfilmlänge< von Boxkämpfen oder Passionsspielen besaßen ihre eigene Kohärenz (den Ablauf des Kampfes oder die bekannte Struktur der Bibelerzählung). Und heute bewegt sich eines der Überbleibsel des Programmformats, der Kinotrailer, in einer Art Zwischenreich. Einerseits werden Trailer als Teil der Kinowerbung zu Anfang der Vorstellung gezeigt, wobei der Saal oft noch nicht ganz verdunkelt ist. (Häufig geschieht dies in direkter Verbindung mit den Reklamefilmen.) Andererseits erfüllen sie durch die Einladung, »demnächst in diesem Theater« eine weitere Vorführung zu sehen, eine traditionelle programmatische Funktion. Sie appellieren an Geschmack und Kenntnis der Zuschauer (damit diese nicht einfach in den nächstbesten Film rennen) und sollen so Besuchsgewohnheiten entstehen lassen. Was jedoch in den heutigen Filmvorstellungen fehlt, ist die Bestrebung, die verschiedenen Inhalte integrativ zu organisieren. Dies ist jedoch nicht der Ort, auf die Geschichte des Programmformats im Detail einzugehen. Zum einen ist die Frage noch nicht ausreichend untersucht worden, um mehr oder weniger definitive Feststellungen zu treffen (ganz zu schweigen von Verallgemeinerungen). Die im folgenden präsentierten Fallstudien sind Bausteine dieser Geschichte. Entscheidend scheint mir jedoch, die Erforschung des Programmformats nicht einfach nur zu betreiben, um eine filmhistorische Leerstelle zu füllen. Vielleicht ließe sich unser heutiger Mangel an Wissen, um nicht zu sagen: unsere Unwissenheit, auf andere Weise fruchtbar machen. Die schiere Verbreitung dieses altehrwürdigen Phänomens könnte tatsächlich zum Ausgangspunkt eines konsistenten transmedialen Ansatzes werden. Je genauer man das Kino, zumal das frühe, betrachtet, desto deutlicher wird, daß die von Museen, Universitäten, Archiven gezogenen Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Medien und Unterhaltungsformen uns möglicherweise daran gehindert haben, einmal über den Zaun zu blicken. Die Ähnlichkeiten, Kontinuitäten oder Gleichzeitigkeiten hinsichtlich der Personen (Eigentum, Management, Produktion, Aufführung), Technologien (z.B. Aufnahme oder Projektion), Erzähl- und Präsentationsweisen, Auswertungskanäle und Publikumsgruppen sowie der künstlerischen und ideologischen Kontexte (z.B. des Kolonialismus) erscheinen auf einmal viel gewichtiger als die Unterschiede. Ich beeile mich, hier festzuhalten, daß eine solche Sichtweise natürlich auch ihrerseits wiederum zeitgebunden ist, denn sie wurde nur möglich durch die Anregungen seitens einiger Archivare und Forscher, die sich über die Abgrenzungen hinweggesetzt haben. Das Programmformat ist nur eines in einer Reihe von partiellen und teilweise parallelen Phänomenen, welche die Geschichte der visuellen Unterhaltungskultur ausmachen. Gleichzeitig ist es aber ein Phänomen, an dem die wechselseitigen Beziehungen auf einzigartige Weise sichtbar werden. Die Prinzipien, die den Filmprogrammen zugrunde lagen, herrschten auch in anderen Unterhaltungsformen: Die Gestaltung der Abfolge - Variation, Trennung, aufsteigende Reihe - ist nah verwandt mit der des Varietetheaters mit seinem gemischten Angebot an relativ kurzen, voneinander unabhängigen Nummern. Die Präsentationsform der Filmvorstellung, bei der die Bilder musikalisch und/ oder verbal begleitet wurden, hat viele Gemeinsamkeiten mit Laterna magica-Vorführungen (auch wenn bei diesen Erklärung und Projektion oft durch ein- und dieselbe Person dargeboten wurden). Andererseits wurden diese Gestaltungsprinzipien durch eine vom Theater (und den damit verbundenen Konnotationen der Hochkultur) kommende Entwicklung deutlich beeinflußt. Das Aufkommen der ökonomisch wie künstlerisch ehrgeizigen längeren Spielfilme bewirkte schließlich eine Unterscheidung zwischen Vorprogramm und Hauptfilm, wodurch das Format des Varietetheaters an seine Grenzen stieß. Obwohl in manchen Fällen die Langfilme sich scheinbar in eine Reihe verschiedener Genres (Reisebilder, Verfolgungsjagden usw.) auflösen ließen, waren es wohl eher die Programmzettel, die hier die Illusion der Diversität aufrecht erhielten, indem sie jeden Akt des Spielfilms als eine eigene Nummer aufführten. Bisweilen ist die intermediale Verbindung sehr direkt, vor allem dann, wenn ein Medium im Rahmen eines anderen innerhalb eines heterogenen Programms auftritt. So konnte der Film als Unterhaltungsform unter anderem dadurch populär werden, daß er in Varietetheatern zusammen mit verschiedenen anderen mechanischen wie auch live-Darbietungen präsentiert wurde. Andererseits zeigten Kinos später oft Varietenummern im Vorprogramm oder in den Pausen. Die Art und Weise, wie heute Tierfilme und andere dokumentarische Gattungen den Programmplätzen des Fernsehens angepaßt werden, zeigt, daß sich dieser Prozeß heute in einem weiteren, ebenfalls wesentlich heterogenen Medium fortsetzt. Die hier aufgeführten Punkte geben lediglich einige Anregungen für eine gründliche Untersuchung des Programmformats und der ihm zugrundeliegenden Prinzipien -deren Ursprünge, der Veränderungen, die sie durchliefen, ihrer Effekte auf die Inhalte und auf das Publikum - sowie der Kombination unterschiedlicher Medien und Unterhaltungsformen mit den daraus resultierenden Wechselwirkungen. Diese Forschungen könnten zum Experimentierfeld eines historischen Ansatzes werden, der sich nicht den gängigen Einteilungen unterwirft - in den Universitäten, wie auch in Museen und Archiven. Aus dem Englischen von Frank Kessler Anmerkung 1 Charles Musser, » The Eden Musee in 1898: the exhibitor as creator«, Film & History, Vol. 11, No. 4, 1982, S. 73. 18