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1997

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Please pay attention please Autor(en): Stamm, Peter / Nussbaum, Guido Objekttyp: Article Zeitschrift: Nebelspalter : das Humor- und Satire-Magazin Band (Jahr): 123 (1997) Heft 21 PDF erstellt am: 29.01.2022 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-605007 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. Haftungsausschluss Alle Angaben erfolgen ohne Gewähr für Vollständigkeit oder Richtigkeit. Es wird keine Haftung übernommen für Schäden durch die Verwendung von Informationen aus diesem Online-Angebot oder durch das Fehlen von Informationen. Dies gilt auch für Inhalte Dritter, die über dieses Angebot zugänglich sind. Ein Dienst der ETH-Bibliothek ETH Zürich, Rämistrasse 101, 8092 Zürich, Schweiz, www.library.ethz.ch http://www.e-periodica.ch Please pay attention please Kunst ganz allgemein Peter Stamm Ein Werk von Bruce Nauman: ein weisses Blatt Papier und darauf nicht viel mehr als der Text «Bitte seid aufmerksam bitte». Aufmerksam. Nicht nur gegenüber der Kunst, überhaupt. Aufmerksam in einer «Gesellschaft in der die «Spasskultur» in einer LoveParade gipfelt, die kaum von einem Fastnachtsumzug zu unterscheiden ist, und in der eine des Spektakels», am Zürcher Theaterspektakel vom Tages-Anzeiger bejubelte «Animation à la Club Med» stattfindet. «<Baba cool, baba coob, ruft Daren Ross ins Mikrophon. 300 Hinterteile folgen dem Kommando, beginnen nach links und rechts zu wackeln.» Kunst mit dem Arsch, Kunst am Arsch, Verzeihung. Und gegen all das Gewackel und Geschrammel, gegen all diesen Spass, diese Fröhlichkeit die einfache Bitte nach Aufmerksamkeit, nach Konzentration, nach Ernst. Denken, nicht feiern. Bitte. Fröhliche Kunst Fröhliche Kunst, das war einmal Dada, und später hier und da das eine und andere, Miro vielleicht, Pop-art zum Beispiel, Niki de Saint Phalle auch. Und dann lachte ich in einer Tinguely-Ausstellung und hatte meine Freude an Pipilotti Rist - schon der Name so lustig. Und dann, irgendwann, gar nicht so lange her, konnte ich, verdammt nochmal, konnte ich das Zeug nicht mehr sehen, das bunte, lustige, freche, schrille, zufällige. Irgendwann, vielleicht, als ich im «du» von Pipilotti Rist las, dass die Frau, so die «Kunstzeitung», Blondinenwitze liebt und den Geniekult hasst («ein bürgerlicher Scheissdreck»). 30 Sitbtlfixilttr Comics und Büchsensuppen Wenn jeder Kunst macht «Jeder Mensch ist ein Künstler», sagte Joseph Beuys, und wenn man das Lotti-«du», ein Kunst-Kritik 21 |1997 «Fest auf Papier», durchblättert, dann sieht man, was herauskommt, wenn jeder Mensch Kunst macht. Von vorne nach hinten, ganz zufällig ausgewählt. Gerda Steiner: «Meine Lieblingswörter sind Eisbombe und Herzschrittmacher.» Käthe Walser: «Es ist zu kalt zum Arbeiten.» Ruth Rothenberger: «ich habe drei Schutzengel, der erste ist golden und stammt aus der weihnachtsdekoration ...», die anderen zwei Schutzengel, das andere Dutzend Künstler erspare ich mir und Dir, Leser, Leserin. Frage Dich und mich stattdessen, was das alles soll. Wo ist - nicht die Aussage - wo ist die Relevanz? Ein «buntschillernder Falter» sei Pipilotti, schreibt annabelle, «ein Farbfleck im ununterscheidbaren Knäuel von Schwarz, das in der Kunstund Lifestyleszene den unangefochtenen Ton angibt». Kunst und Lifestyle in einem Atemzug, ein lustiger Flaschenöffner von Alessi neben einem lustigen Video von Pipilotti Rist. Ich mag das Zeug nicht mehr sehen, tut mir leid, nicht mehr lesen, habe genug vom ganzen Blondinenkram (von Büchern auch, in denen Gion Mathias Cavelty Pudel und Puddings sprechen lässt und so weiter). Das ist nicht mal mehr nonsense, das ist ganz einfach blöd und noch stolz darauf. Kunst war für mich einst nur schön oder nicht schön. Jene Ausstellungen, in denen man sich fragte, welches der Bilder in die eigene Etwa Johan Grimonprez, der in «Dial H-I-S-T-O-R-Y», einer Chronologie von Flugzeugentführungen und Bombenanschlägen, «den Einfluss der Bilder auf unsere Gefühle, unser Wissen und unser Gedächtnis» untersucht. Zum Beispiel Hans Haacke, der in «Shapolsky et al. Manhattan Immobilienbesitz, ein gesellschaftliches Realzeitsystem» die New Yorker Machenschaften eines Immobilienhais aufdeckt. Ja genausoviel Mühe gibt wie mein Schuhmacher, Herr Stierli, und meine Coiffeuse Yvonne und, ja, auch ich. Klar kann jeder irgendwie Brot backen. Aber ich will es nicht essen, dieses Brot, wenn es nicht gut ist. Gutes Brot, gute Kunst, ja. Und nein, jetzt komme ich nicht mit Gauguin und Leger, mit Seurat und so weiter. Das war einmal. Wichtig und schön. Und schön ja, heute noch, aber die Reise ist weitergegangen. Und auf der Landkarte der Kunst sind wir in eine Stadt mit vielen Strassen gekommen, langen und kurzen, geraden und krummen, Einbahnstrassen und Sackgassen. Und auf der Landkarte Deutschlands bin ich nach Kassel gekommen, wo die documenta X stattfand und wo Catherine David sagte: «Angesichts der drängenden Fragen der Zeit wäre es mehr als inkonsequent, auf jeden ethischen und politischen Anspruch zu verzichten.» Und wo politische Kunst gezeigt wurde im besten Sinne. Nicht so im Stil: unterdrückter Arbeiter mit Schaufel und schmutzigem Gesicht in der Baugrube, gar nicht. Sondern eine Ausstellung von Künstlerinnen und Künstlern, denen es nicht zu kalt ist, um zu arbeiten, die eher über echte Bomben als über Eisbomben nachdenken. des Bildaufbaus erklärte und die Diagonalen und die Farben und die Allegorien. Bilder, die man sich anschaute im Wissen, dass da ' etwas war, was man finden musste, was verstanden werden konnte, wenn man nur seine Griechen studiert hatte und so weiter. Kunst für Gebildete. Es tat nicht weh, das aufzugeben. Es tat wohl, Künstler zu sehen, die sich dieser Hochkunst verweigerten, die ' sich von Comics ernährten und von Büchsensuppen, die Kunst machten, die zu erfassen war. Auch wenn man schwach war in Mythologie. Auch wenn man sich zum erstenmal in ein Museum gewagt hatte. Aus der Seele heraus arbeiten Und nein, es war gar nicht alles so direkt politisch an der documenta X. Vieles war sehr persönlich, aber eben wirklich persönlich und also doch wieder politisch. Werke, die «den Schöpfer aufs Innigste bewahren», wie Georg Simmel es 1911 ausdrückte. Nach Simmel hat die Kultur und somit auch die Kunst die Aufgabe, die Seele des Betrachters, der Verzicht auf ethischen und politischen Anspruch? Jeder Mensch, könnte man frei nach Beuys ja auch mal sagen, ist ein Bäcker. Warum nicht. Aber ich bin froh, dass mein Bäcker nicht jeder Mensch ist, sondern Herr Weber und dass er sich bei seiner Arbeit Stube passen würde. Jene Vorlesungen, in denen einem ein Professor die Perfektion Betrachterin «zu sich selbst, das heisst zur Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden vollen und eigensten Seins» zu führen. Es muss, wer die Seelen der Menschen erreichen, berühren, entwickeln will, selbst aus seiner Seele heraus arbeiten. Es muss, wer bewegen will, bewegt sein. Tief geht nur, was aus der Tiefe kommt. Kultur entsteht nur, wenn «der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit derWelt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von Das Werk - seine Leistung? «Wie es unter den Natureindrücken keineswegs nur die dynamisch gewaltigsten oder ästhetisch vollkommendsten sind», noch einmal Simmel, «von denen uns eine ganz tiefe Beseligung und das Gefühl kommt, dass dumpfe und unerlöste Elemente in uns plötzlich licht und harmonisch geworden sind - wie wir dies vielmehr oft einer ganz schlichten Landschaft oder dem Schattenspiele eines Sommermittags verdanken: so istesauchderBedeutungdes Geisteswerkes, eine so hohe oder so niedrige sie in ihrer Reihe sein mag, daraufhin noch nicht anzusehen, was dies Werk uns für den Weg der Kultur leisten kann.» Es ist dem Werk noch nicht und ist ihm doch anzusehen, was es für den Weg der Kultur, für unseren Lebensweg leisten kann. Anzusehen ganz schwierig und zugleich am einfachsten überhaupt. Anzusehen mit den Augen zuallererst, anzuspüren mit dem Herzen, mit der Seele meinetwegen. Und mit dem Kopf, nicht mit jenem Teil des Kopfes, der weiss, sondern mit jenem, der fragt. Mit jenem, den alle haben, so sie nur geduldig sind und aufmerksam. ihr losreisst, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, und vergewaltigt». vergewaltigend Aversion gegen die Kultur! Schon am Anfang dieses stellte Simmel bei vielen Menschen eine «merkwürdige Jahrhunderts Gleichgültigkeit und sogar Aversion gegen die Kultur» fest. Am Ende des Jahrhunderts scheint diese Aversion selbst manche Künstlerin und manchen Künstler ergriffen zu tut uns allen gut, wenn die falschen Götzen von ihren Podesten geholt werden. Aber es ist niemandem gedient, wenn an ihre Stelle mit Lametta geschmückte Gummipuppen und bunte Brausetabletten rücken. haben. Es Kunst soll geschaut werden Aufmerksame Menschen. Die begriffen haben, dass Kunst nicht primär begriffen werden soll, sondern geschaut. Menschen, die schauen. Und dann denken. Nicht den Trampelpfaden der Kunstkritik entlang, sondern quer durchs Gebüsch. Menschen, die denken, an andere Menschen, an Landschaften, an Vergangenes und Zukünftiges. Vielleicht lacht dann einer, und eine runzelt die Stirn. Menschen, wie ich sie mir wünsche. Kunst, wie ich sie sehen mag. Die man nicht einfach schön oder nicht schön, interessant oder langweilig, lustig oder traurig finden kann. Kunst, in der die Künstlerinnen und Künstler so anwesend sind, dass jedes Betrachten wie eine Begegnung mit etwas Lebendigem ist, eine Begegnung, die kein Urteil fordert, sondern Verständnis, Einfühlung und Aufmerksamkeit. Danke. Bild: Guido Nussbaum