Stephan Leopold · Dietrich Scholler (Hrsg.)
VON DER DEKADENZ ZU DEN
NEUEN LEBENSDISKURSEN
Französische Literatur und Kultur
zwischen Sedan und Vichy
Wilhelm Fink
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Félicien Rops: La tentation de Saint Antoine (1878), Bibliothèque royale Albert I,
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KARIN PETERS
Une vaine grossesse:
Das Opfer als moderne Kreationsmetapher
1. Der schwangere Tod: Opfer, Zeugung und (Wieder-)Geburt
Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts können wohl mit Recht als
Blütezeit der Wissenschaften vom Menschen gelten. Als eine der rituellen Grundformen menschlicher Gesellschaftsorganisation rückt deshalb auch das Opfer in
den Vordergrund des Interesses; so etwa in der französischen Soziologie der Annales-Schule unter Émile Durkheim. Die Forschungen der etwa zeitgleich erstarkenden British Anthropology und die ‚Entdeckung‘ des menschlichen wie kulturellen
Unbewussten bei Sigmund Freud leisten dieser Entwicklung zusätzlich Vorschub.
Die Verschiebung vom Bereich der Theologie in den der Wissenschaft verändert
jedoch den Blick auf den Gegenstand. „Methodischer Agnostizismus“1, wie ihn
die Durkheim-Schüler Henri Hubert und Marcel Mauss anstreben, bestimmt das
Ritual als eine Basisoperation menschlicher und gesellschaftlicher Kommunikation.2 Zwar steht bei William Robertson Smith in Schottland 1889 die communio
der Mahlgemeinschaft3 und also die im Medium der Nahrung gestiftete, vertikale
Kommunikation mit Gott in der Analyse des Opfers noch im Mittelpunkt. Doch
entfernt Durkheim sich wenig später – und im expliziten Bezug auf Robertson
Smith – von der Idee des religiösen Brückenschlags, des Pontifikats inter fanum et
profanum: Für ihn ist seit den Formes élémentaires de la vie religieuse von 1912 Religion selbst nur eine Ausdrucksform menschlicher Gesellschaftsbildung und also
Funktion horizontaler, innergesellschaftlicher Kommunikation. Er stellt die Gemeinschaft als eine sich selbst vergottende, sich zu einer metaphysischen Instanz
der Unsterblichkeit, Moral und Ordnung hypostasierende Einheit vor.4 Damit
1 „Er [...] entscheidet nicht, ob es höhere Wesen, Gott oder transzendente Wirklichkeiten überhaupt gibt, sondern untersucht ob, wie, wo und wann ihnen Menschen und Kollektive den Status
von Wirklichkeit zumessen [...].“ Stephan Moebius, Marcel Mauss, Konstanz: UVK, 2006, S. 70.
2 Vgl. zur neueren Forschung, die den Aspekt des Kommunikationsrituals ebenfalls stark macht,
Bruce J. Malina, »Rituale der Lebensexklusivität. Zu einer Definition des Opfers«, in: Bernd Janowski/Michael Welker (Hgg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2000, S. 23-57; sowie Josef Drexler, Die Illusion des Opfers. Ein wissenschaftlicher Überblick
über die wichtigsten Opfertheorien ausgehend vom deleuzianischen Polyperspektivismusmodell, München: Akad. Verlag, 1993 (= Münchner ethnologische Abhandlungen, Bd. 12).
3 William Robertson Smith, Lectures on the Religion of the Semites. The Fundamental Institutions
[1889], London: Black, 1927.
4 Der Kult „n’a donc pas uniquement pour objet de faire communier les sujets profanes avec les êtres
sacrés, mais aussi d’entretenir ces derniers en vie, de les refaire et de les régénérer perpétuellement“.
Die „forces collectives hypostasiés“ sind das darin reformulierte être sacré der modernen Gesell-
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emanzipiert er nicht nur die Soziologie als Disziplin, sondern löst konkret auch die
Rede über das Opfer von einer letztlich weiterhin christlich geprägten communiooder Gemeinde-Metapher. James George Frazer – berühmt durch sein Epoche
machendes, zwischen 1890 und 1915 auf 12 Bände anwachsendes Werk The Golden Bough – zieht wie Durkheim die Parallele des so als Matrix und Generierungsfunktion menschlicher sociabilité begriffenen Rituals und der eigenen Disziplin:
Bemerkenswerterweise bezeichnet er die Sozialanthropologie und Wissenschaft
von der sociabilité als „the embryology of human thought and institutions“5.
Innerhalb dieser Embryologie der Gesellschaft häufen sich fortan Beschreibungen des Opfers, die Tod und Zeugung verbinden. Das Opfer sei ein Ritual der
blutigen Zerstörung von Leben, könne aber zugleich soziales ‚Leben‘, sozialen Zusammenhalt erzeugen. Arnold van Gennep zum Beispiel betont in den innerhalb
der zeitgenössischen Forschung etwas ins Hintertreffen geratenen Rites de passage
(1909) die Parallele des Passagenritus par excellence mit der Idee der Wiedergeburt: Ihm zufolge regulieren Übergangsriten sozial kritische Momente, indem sie
symbolisch Tod (séparation), Wandlung (rite de marge) und schließlich Wiedergeburt also Angliederung (agrégation) vollziehen.6 Bereits zehn Jahre zuvor hatten
Henri Hubert und Marcel Mauss in ihrem Essai sur la nature et la fonction du sacrifice (1899), der den modernen Diskurs über das Opfer begründet, die „régénérescence par le sacrifice“, die „renaissance“ durch das Opfer auf den Punkt gebracht.7 Dessen „fécondité“8 äußere sich zum einen in Sonderformen wie der
von Mitgliedern religiöser Gemeinschaften empfundenen Nähe der Opferspeise
zum Fötus.9 Zum anderen beschreiben Mauss und Hubert das weit verbreitete,
metonymisch motivierte Paradigma der Opfergaben Milch, Blut und Samen, die
eben diese Fruchtbarkeit und Wiederbelebungsfunktion teilen sollen. So Hubert
und Mauss: „Quand on fait une libation de lait [...], ce n’est pas quelque chose
d’inanimé qu’on offre, c’est la vache elle-même dans son suc, dans sa sève, dans sa
fécondité.“10 Von der symbolischen Darbringung der Kuh im Stellvertretermedium der Milch ist es nicht weit zum Blutopfer der „vache elle-même“. Die europäische Moderne entdeckt also – nicht zuletzt im Zuge imperialistischer Ethnologie11
– die ‚primitive‘ Urform des archaischen Opfers neu.
5
6
7
8
9
10
11
schaft. Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie
[1912], Paris: PUF, 1960, S. 494 f. u. 461.
James G. Frazer, »The Scope of Social Anthropology«, in: Psyche’s Task, London: Macmillan,
1913, S. 157-176. Hier S. 162.
Arnold van Gennep, Les rites de passage. Étude systématique des rites de la porte et du seuil, de
l’hospitalité, de l’adoption..., Paris: Nourry, 1909.
Henri Hubert/Marcel Mauss, »Essai sur la nature et la fonction du sacrifice« [1899], in: Marcel
Mauss, Les fonctions sociales du sacré, hg. v. Victor Karady, Paris: Minuit, 1968 (= Œuvres, Bd. 1),
S. 193-307. Hier S. 268.
Ebd., S. 205.
Ebd., S. 268.
Ebd., S. 205.
Den Zusammenhang der Opfer-Faszination mit dem genuin politischen Imperialismus hebt
Burkhardt Wolf hervor: „Die von den kolonialen Souveränen beauftragte Ethnologie und Kultur-
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DAS OPFER ALS MODERNE KREATIONSMETAPHER
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Gerade weil die Auseinandersetzung mit dem Opfer auch die Frage nach der
Bedeutung symbolischer Handlungen stellt, wird im Diskurs über das Opfer
schließlich die Brücke zum Bereich der Ästhetik geschlagen. Denn nicht allein in
der Soziologie – und dort gerade bei Mauss, der die Symbolpraktiken der Gesellschaft in der Symbolhandlung des Opfers offenbart sehen wollte – sondern auch in
der Kunst und Literatur wird das Opfer in der Moderne als Grundfigur des Zeichenhandelns verstanden. So führt der Mauss-Schüler Georges Bataille den Topos
des fruchtbaren Opfers in dreifacher Hinsicht fort: als Theoretiker des Opfers12,
als Ritualpraktiker der Geheimgesellschaft Acéphale und schließlich als Schriftsteller. Dabei entwirft er den zeichenhaften Akt der Stellvertretung im Opfer sowohl
im Sinne gesellschaftlicher Autogeneration als auch metaphorisch im Sinne eines
Generators symbolischer Zeichenproduktion. Als Metapher für künstlerische Kreation wird das Opfer nunmehr poetologisch in Szene gesetzt. Gleichzeitig entblößen erst die literarischen (konterdiskursiven) Inszenierungen das ideologische Potenzial der (diskursiven) Verquickung von Leben und Sterben im schwangeren
Opfertod13: Denn indem die französische Gesellschaft der III. Republik und ihre
Diskurse das Opferritual zum – immerhin profanen – Regenerationsmittel par
excellence re-semantisieren, heben sie zugleich die neue Transzendentalie der (National-)Gemeinschaft mit aus der Wiege. Diese ist in Frankreich durch ein Moment „doppelte[r] Negativität“14 geprägt. Von der Hinrichtung Ludwigs XVI. bis
zur traumatischen deutschen Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles und
darüber hinaus ist nicht nur die monarchische sondern auch die Volkssouveränität
problematisch. Die Suche nach erlösenden Opfern, die diesen prekären Volksoder Staatskörper mortalistisch vitalisieren sollen, greift dabei nicht allein auf das
Christusopfer zurück, sondern reaktiviert auch blutigere Formen des Rituals.
Schon bei Frazer mündet dies in eine besonders tiefgehende Auseinandersetzung
mit dem ritualisierten Königsopfer. Man darf mit Karl-Heinz Kohl vermuten, dass
diese Kulturtheorien der Zeit „politische Konstellationen ihrer eigenen Epoche wie
theorie stößt ebenso wie die anthropologische Ästhetik der Epoche immer wieder auf denselben
Ursprung: auf das Opfer als ‚primitives‘ Ritual und als Institution einer allerersten Gemeinschaftsbildung.“ Burkhardt Wolf, Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers, Zürich/Berlin: diaphanes, 2004, S. 413.
12 Vgl. etwa seine Théorie de la Religion, Paris: Gallimard, 1973; sowie früher L’Érotisme [1957], Paris: Minuit, 1987.
13 Rainer Warning beschreibt die „Dialektik von Einbettung und Ausbettung“ als das Wesentliche
der poetischen Konterdiskursivität. Der literarische Konterdiskurs ist insofern nicht zwingend
identisch mit den Diskursformationen, in die er eingebettet ist, weil er deren systemische Verkrustungen vielmehr auch ausstellen kann. Dieser Struktur ist der hier vorgelegte Ansatz zum Zusammenhang anthropologisch-soziologischer Opferdiskurse einerseits und literarischer Opferpoetiken
andererseits geschuldet. Vgl. Rainer Warning, »Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault«, in: R. W., Die Phantasie der Realisten, München: Fink,
1999, S. 313-345. Hier S. 328.
14 Vgl. zur „doppelte[n] Negativität“ der III. Republik die Einleitung dieses Bandes »Die III. Republik zwischen Kataklysmus und Heilserwartung«, S. 12. Dort beschreibt Stephan Leopold jenes
„elliptische Zentrum der Herrschaft“, das aus dem Fehlen des monarchischen Souveräns zum einen und der fehlenden Souveränität des Volkes zum anderen erklärbar wird.
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in einem Zerrspiegel wiedererkennen ließen“15. Der tote König und die Gewalt der
Gesellschaft kehren entsprechend auch in der Literatur immer wieder.
Seit Freud den Zusammenhang von Vatermord und ritueller, totemistischer
‚Entschuldung‘16 des kapitalen Urverbrechens am Souverän geschildert hat, ist die
Vorstellung eines internalisierten Schuldkomplexes der Opfernden, des symbolisch
sublimierten „Triebverzichts“ als Unbehagen in der Kultur17 auf den Plan getreten.
Freud zufolge liegt Gesellschaft, Kultur und künstlerischer Repräsentation immer
ein gewaltsames und sexuelles Residuum zu Grunde. Thesenhaft und sichtlich mythologisierend formuliert er dies in dem modernen Märchen der gewalttätigen Formierung der Brüderhorde aus, die den Vater erst umbringen muss, um ihn dann
als TOTEM und Gott zu verehren. Freud beschreibt kulturelle Produktionsleistungen im Zuge dessen als zugleich von der (inzestuösen) Natur des Menschen
gestört wie gestiftet. Nicht eine irgendwie vorgängige Kultur sondern die Sublimierung von Trieben, die symbolische Trieb- und Wunscherfüllung und die Verdrängung primärer (Opfer-)Gewalt sind der Ursprung auch der künstlerischen Kreation. Analog zum Ritual kann die Kunst demzufolge als eine Art nachträglicher
Totembeschwörung verstanden werden. Diese Kreuzung aus Kreation und Opfer
soll im Folgenden in der Tradition künstlerischer Zeugungsmetaphern als einer
ihrer möglichen, modernen Ausläufer verortet werden. Denn erstmals formuliert
um die Jahrhundertwende auch die Ästhetik selbst mehrfach eine nun eindeutig
sakrifizielle Poetik der Zeugung aus: Ob in Nietzsches dualistischem Erstlingswerk
zu Geburt, Tod und möglicher Wiedergeburt der Tragödie18 oder in Hugo von
Hofmannsthals Entwurf des dichterischen Symbols aus dem an der Dynamik des
nackten Leben partizipierenden „ersten Opfers“19 – in der modernen Ästhetik
finden Tod und (Wieder-)Geburt im Opfer zusammen.20 Insofern bleibt auch ein
Großteil der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Opfer konsequent, wenn
sie dessen Funktion in der Moderne als Inszenierung poetischer, semiologischer
oder theatraler Renaissance21 interpretiert.
15 Karl-Heinz Kohl, »Der sakrale Königsmord. Zur Geschichte der Kulturmorphologie«, in: Paideuma 45 (1999), S. 63-82. Hier S. 72.
16 Sigmund Freud, Totem und Tabu [1913], Frankfurt/M.: Fischer, 2005.
17 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften [1930],
Frankfurt/M.: Fischer, 2004.
18 Friedrich Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie« [1872], in: F. N., Die Geburt der Tragödie; Unzeitgemäße Betrachtungen, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin/New York: Walter de
Gruyter, 1999 (= Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 1),
S. 9-156.
19 Hugo von Hofmannsthal, »Das Gespräch über Gedichte« [1903], in: H. v. H., Prosa II, hg. v.
Herbert Steiner, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1959 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 8),
S. 80-96.
20 Siehe zum Einfluss der Lebensphilosophie in der Poetik Hofmannsthals David E. Wellbery, »Die
Opfer-Vorstellung als Quelle der Faszination. Anmerkungen zum Chandos-Brief und zur frühen
Poetik Hofmannsthals«, in: Hofmannsthal Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 11 (2003), S. 281310.
21 So geschehen bei Erika Fischer-Lichte zur ‚Geburt‘ der performativen Körper-Kultur im Sacre du
printemps; »Das theatralische Opfer. Zum Funktionswandel von Theater im 20. Jahrhundert«, in:
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Allerdings heißt es hier mit David E. Wellbery einhaken, der nicht nur in sakrifiziellen Modellen von Vergemeinschaftung sondern auch in der sakrifiziellen Poetik der Jahrhundertwende eine „Maschinerie für die Produktion von Transzendenz“22
am Werke sieht. Denn wie zuvor bereits Jean-Luc Nancy23 zum französischen Collège de Sociologie, René Girard24 zu den modernen Disziplinen der Soziologie und
Psychoanalyse, und zuletzt Giorgio Agamben25 zur modernen Anthropologie, äußert sich Wellbery kritisch zur modernen sakrifiziellen Ästhetik. Er unterstreicht die
ideologische Potenz des modernen Opferdenkens, die in theoretischen Anschlüssen
an den sakrifiziellen Wiedergeburtsgedanken unbedacht fortgeschrieben wird. Sei
es ihr neuer Imperialismus oder die Sakralisierung von Sündenbocken und Übermenschen – in der Produktion neuer Transzendenz steht die Moderne seit der Romantik den traditionellen Religionen in nichts nach.26 Die aus der Dekadenz und
der ‚Krankheit‘ des Todes Gottes hervorgegangene Kultur der Zwischenkriegsgeneration scheint dafür im ambivalenten Opfermythos als Alimentationsphantasma
der profanen Gesellschaft eine paradoxe, profane und dennoch semantischen Überstieg produzierende Kreationsmetapher gefunden zu haben.27 Darin kommen nicht
nur Dekadenz der erkrankten Gesellschaft und morbider Vitalismus der kulturellen
Selbstzeugung in einer komplexen Denkfigur auf der Schwelle einer Epoche zwischen Dekadenz und neuen Lebensdiskursen zusammen. In ihr zeigt sich auch das
religiös, ästhetisch oder politisch motivierte Begehren nach Zeugung neuer Transzendenzeffekte, welches die kranke auf eine neue Gemeinschaft hin zu überschreiten trachtet.
22
23
24
25
26
27
Forum Modernes Theater 13, 1 (1998), S. 42-57; oder bei Bernhard Greiner zur Wiedergeburt des
Theaters in Hofmannsthals Elektra; »Die Stellvertretung im Opfer. Figurationen ihres Entwurfs
und ihrer Rücknahme: Iphigenie (Euripides/Goethe) und Elektra (Hofmannsthal)«, in: Bernd Janowski/Bernhard Greiner/Hermann Lichtenberger (Hgg.), Opfere deinen Sohn! Das ‚Isaak-Opfer‘
in Judentum, Christentum und Islam, Tübingen: Francke, 2007, S. 155-169.
Wellbery, »Anmerkungen zum Chandos-Brief« (Anm. 20), S. 308.
Jean-Luc Nancy, »L’insacrifiable«, in: J.-L. N., Une Pensée finie, Paris: Galilée, 1990, S. 65-106.
René Girard, La violence et le sacré [1972], Paris: Bernard Grasset, 1979.
Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1995], Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 2002.
„Romantik ist neben vielem, was sie sonst noch ist, auch eine Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln.“ Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009, S. 13. Vgl. zur Selbststilisierung des romantischen poeta vates im Sinne des
neuen Heiligen Paul Bénichou, »Le Sacre de l’écrivain«, in: P. B., Romantismes français I, Paris:
Gallimard, 2004, S. 19-441; sowie allgemein zur supplementären Heiligkeit des romantischen
Subjekts und dessen Okkasionalismus Carl Schmitt, Politische Romantik [1919], Berlin: Duncker
& Humblot, 51991.
Wie Octavio Paz bemerkt: „[T]oda sociedad moribunda o en trance de esterilidad tiende a salvarse
creando un mito de redención, que es también un mito de fertilidad, de creación.“ Octavio Paz, El
laberinto de la soledad. Postdata. Vuelta a El laberinto de la soledad [1950], México: Fondo de Cultura Económica, 2002, S. 224.
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2. Eine französische Maria: Christliche und nationale Wiedergeburt
in Paul Claudels L’Annonce faite à Marie28 (1912/38)
Exemplarisch für den Versuch, die französische Nationalgemeinschaft mit neuer Sakralität und neuem Zusammenhalt zu versehen, sind die Dramen Paul Claudels.29
Er selbst spricht davon, wie er im Alter von 18 Jahren während der Vesper am
Weihnachtstag 1886 in Notre-Dame zum Christentum bekehrt worden sei. Während er vorher dem Zeitgeist gemäß glaubte, „que tout était soumis aux ‹ lois ›, et
que ce monde était un enchaînement dur d’effets et de causes que la science allait
arriver après-demain à débrouiller parfaitement“30, erlebt er in der katholischen
Zeremonie, die er anfangs als „excitant“ für das Schreiben genommen hatte, beim
Magnificat des Chores eine genuine Bekehrung zum Glauben an das Unerklärliche:
„je crus“31. Die Erfahrung des Heiligen schildert er in ganz ähnlichen Begriffen wie
das Epoche machende Werk Das Heilige von Rudolf Otto (1917)32, nämlich als
Doppelung eines mysterium tremendum und mysterium fascinans: zugleich „[é]motion bien douce“ und „sentiment d’épouvante et presque d’horreur“33. Bereits ein
Jahr vor der Niederschrift des Bekehrungserlebnisses von 1886 legt Claudel 1912
mit der Erstfassung34 seines Dramas L’Annonce faite à Marie von seinem missionarischen Eifer Zeugnis ab, bedient er sich doch in dessen Opferideologie im Zuge
eines nationalallegorischen Affekts eifrig am modernen Mythologem des fruchtbaren Opfers35. Die Handlung um die zwei zentralen Frauengestalten Violaine und
Mara Vercors bringt mittels der transversal auftretenden Jeanne d’Arc einen Akt
der Rekreation und Rettung Frankreichs auf die Bühne.
Der Prolog des Stückes ist als Exposition der tragenden Rolle Violaines gewidmet. In einer Scheune, die raumsemantisch bereits als Ort der Verteidigung des
28 Paul Claudel, »L’Annonce faite à Marie« [1912 u. 1938], in: P. C., Théâtre, Bd. II, hg. v. Jacques
Madaule u. Jacques Petit, Paris: Gallimard, 1965 (= Bibliothèque de la Pléiade), S. 9-215. Im Folgenden zitiert mit der Sigel TH II.
29 Vgl. zum Kontext des Renouveau catholique den Artikel von Xuan Jing in diesem Band: »Das
Schreiben als Sakrifizium und die Konversion der Juden. Heilsentwürfe bei Paul Claudel und Léon Bloy«.
30 Paul Claudel, »Ma conversion« [1913], in: P. C., Œuvres en prose, hg. v. Jacques Petit u. Charles
Galpérine, Paris: Gallimard, 1973 (= Bibliothèque de la Pléiade), S. 1008-1014. Hier S. 1009.
31 Ebd., S. 1010.
32 Rudolf Otto, Das Heilige [1917], München: C.H. Beck, 1971. Dabei könne – so Agamben im
Homo sacer – die im Topos von mysterium fascinans und tremendum formulierte und sich mehrfach
auf die lateinische Etymologie des sacer berufende, grundlegende Ambivalenz des Heiligen als „heilig und verflucht“ Agamben zufolge nicht nur „nichts erklären“, sondern müsse wie „Mana“ oder
„Tabu“ auch prototypisch für doppelsinnige Begriffe der modernen Anthropologie stehen und
daher als „Mythologem“ bezeichnet werden; siehe Agamben, Homo sacer (Anm. 25), S. 85 u. 90.
33 Claudel, »Ma conversion« (Anm. 30), S. 1010.
34 Eine erste Bearbeitung des Themas unter dem Titel La jeune fille Violaine stammt allerdings bereits
aus dem Jahr 1892. Claudel hat sich also über große Teile der Zeit der III. Republik hinweg immer
wieder mit seinem katholischen Sündenbockspiel beschäftigt.
35 Vgl. dazu den Beitrag von Xuan Jing in diesem Band, die sich darin auf das frühere Stück Tête d’Or
(1890) bezieht.
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Glaubens markiert ist – an den Türflügeln prangen Bilder von „Saint Pierre et de
Saint Paul, l’un tenant les clefs, l’autre le glaive“ (TH II, 11) –, treffen Violaine, die
kokett auf ein früheres Abenteuer mit ihrem Verehrer Pierre de Craon anspielt,
und derselbe Pierre aufeinander, der sich Nächtens auf das Gelände der Vercors
schleicht. Entgegen der erotischen Kodierung tritt Violaine bereits hier als Figura
der jungfräulichen Jeanne d’Arc auf („la tête coiffée d’un linge à la fois paysan et
monastique“, ebd.). Ihre Unberührbarkeit wird durch die Erzählung Pierres untermauert, der von seiner Erkrankung am Aussatz berichtet, welcher ihn befiel, nachdem er aus Leidenschaft Violaines gewaltsam habhaft werden wollte. Violaine wird
von ihm als Inbegriff des ambivalenten Heiligen entworfen, als unberührbares und
verfluchendes Mysterium: „Qui êtes-vous, jeune fille, et quelle est donc cette part
que Dieu en vous s’est réservée, / Pour que la main qui vous touche avec désir et la
chair même soit ainsi / Flétrie, comme si elle avait approché le mystère de sa résidence ?“ (TH II, 13) Doch sind seine Liebesschwüre zwecklos, denn Violaine ist zu
diesem Zeitpunkt glücklich mit Jacques Hury verlobt. Pierre begibt sich also nach
Reims, um dort eine Kathedrale zu bauen, und Violaine wird im I. Akt noch vor
der Abreise ihres Vaters, der zum Kreuzzug nach Jerusalem aufbricht, mit Jacques
öffentlich verbunden. Die Agitation ihrer eifersüchtigen Schwester Mara und der
Ausbruch der Lepra trennen die nun selbst erkrankte Violaine und ihren Verlobten
jedoch schon im II. Akt. Sieben Jahre darauf rettet die aus der Gesellschaft verbannte und erblindete Violaine das gemeinsame Kind ihrer Schwester und ihres
ehemaligen Verlobten auf wundersame Art und Weise. Die ‚Bittere‘ stößt nichts
desto weniger ihre wehrlose Schwester im IV. Akt in eine Sandgrube, aus der die
sterbende Violaine von ihrem zurückgekehrten Vater ins familiäre Haus gebracht
wird. Erst ihr Märtyrertod im Kreise der Familie heilt alle Wunden des gegenseitigen Hasses und das Stück endet mit der Verklärung Violaines.
Während die Protagonistin Violaine auf ihren Verlobten Jacques und damit auf
biologische Prokreation verzichtet, als Sündenbock der Gemeinschaft den langsamen Seuchensiechtod36 stirbt und in der Weihnachtsnacht im III. Akt zur Lektüre der Christmette das tote Kind ihrer Schwester Mara mittels der Kraft des Glaubens wiederbelebt, befindet sich Mara auf der Seite einer dem Tod geweihten, rein
biologischen Vitalität. Die Schwestern sind damit trotz aller Rivalität komplementär als zwei Seiten der Muttergottes angelegt: Violaine erscheint in der Weihnachts36 Dabei ist die Rolle der Lepra, die erst Pierre und dann Violaine befällt, ausschlaggebend. Sie fungiert einerseits als Bestrafung für die Sünde des körperlichen Begehrens und Aufruf zum Triebverzicht, andererseits bedeutet Violaines langsames Dahinsiechen eine vollständige Ausschließung aus
der Gemeinschaft, die sie als eine des Verfalls pars pro toto widerspiegelt. Damit wird die Krankheit
als Markierung eines opferfähigen Sündenbocks lesbar, der zugunsten der Rettung der Gemeinschaft aus dem Zyklus von Gewalt und Gegengewalt geopfert werden muss. Dem Zustand des
Totlebendigen und langsamen Zerfalls steht schließlich der erlösende Stoß in die Grube gegenüber, der es erlaubt, den Tod und im Tod das Leben „zu geben“ (Gabe des Kindes, Gabe der sozialen Kohäsion, Gabe nationaler Glaubensgemeinschaft). Vgl. dazu René Girard, Le bouc émissaire
[1982], Paris: Bernard Grasset, 1985; sowie Christopher G. Flood, »Collective Violence, Sacrifice,
and Conflict Resolution in the Works of Paul Claudel«, in: Contagion. Journal of Violence, Mimesis, and Culture 1 (1994 Spring), S. 159-171.
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nacht als eigentümliche Kreuzung aus verklärter Pietà und gebärender Maria37,
Mara dagegen assoziiert unter anderem über die lautliche Äquivalenz des Namens
ansatzweise die Maria der Weihnachtsnacht, wiewohl v. a. die wörtlich übersetzte,
hebräische „Verbitterung“ im Charakter der Figur deutlich ausgeprägt ist. In der
jüdischen Kodierung des Namens deutet sich außerdem die religiöse Dimension
der Figurenkonstellation an. Mara und Violaine werden durch den Höhepunkt der
Christmette und also die das Heilsgeschehen einläutende Geburt Christi getrennt
einander als jüdische Synagoga und christliche Ecclesia gegenüber gestellt. Das
Drama schreibt dieses Heilsgeschehen aus und gleichzeitig in einen nationalen
Diskurs ein. Denn Violaine zeichnet nicht nur verantwortlich für eine übernatürliche Geburt, sondern mittels ihres Märtyrertodes am Ende auch für die Rettung
der nationalmetonymischen Familie.
Überaus deutlich inszeniert dieses Drama Claudels eigenes Bekehrungserlebnis.
Das „magnum mysterium“ der Weihnachtsnacht besteht in der Antwort der Himmels-Chöre auf die Bibellesung der Frauen und der Erfüllung des biblischen Wortes, wenn die jungfräuliche Violaine das Kind ihrer Schwester zum zweiten Male
gebiert: „Quid hodie pro salute mundi de Virgine nasci dignatus est.“ (TH II, 82)
MARA.
VIOLAINE.
MARA.
Je vois le manteau qui bouge de nouveau !
On voit un petit pied nu d’enfant qui apparaît dans l’ouverture du
manteau, remuant paresseusement.
«Parce qu’un homme est apparu dans le monde !»
(Mara tombe à genoux, poussant un profond soupir, le front sur les
genoux de sa sœur. Violaine lui caresse le visage de la main.)
Pauvre sœur ! elle pleure. Elle a eu trop de peine aussi. [...] Prends,
Mara ! Veux-tu donc me laisser toujours cet enfant ?
(Elle prend l’enfant de dessous le manteau et le regarde passionnément).
Il vit ! (TH II, 83 f.)
Im Text erfüllt sich das Heil der (französischen) Welt durch die Königskrönung
Karls VII. in Reims, die von Jeanne d’Arc38 in die Wege geleitet wird. In dieser
zweiten jungfräulichen Rolle Violaines verbindet sich der religiöse Glauben an eine
profanierende und zugleich rettende Geburt Gottes mit dem politischen Glauben
an eine nationale (Wieder-)Geburt. Der Ruf „Le Roi ! Le Roi de France !“ (TH II,
81) begleitet am Rande des Geschehens die wunderbare Erweckung. Im Rekurs auf
den Hundertjährigen Krieg in Frankreich (1337-1453) überschneiden sich in der
Annonce also religiöse Thematik, moderne Nationalideologie und historischer Subtext39. Die Verklärung Jeannes mutet dennoch als anachronistische Umschreibung
an, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Jahr 1431 nach ersten Hoffnungen
37 Vgl. dazu Josef Theisen, »Paul Claudels Annonce faite à Marie: Opfer- oder Sühnedrama«, in: Die
neueren Sprachen 11 (1962), S. 509-520.
38 Vgl. dazu Carolyn Snipes-Hoyt, »The Premiere of L’Annonce faite à Marie in the Context of
Heightened Interest in the Middle Ages and Jeanne d’Arc«, in: Paul Claudel Papers 4 (2006 Dez.),
S. 29-49.
39 Auf der Zeitachse des Stückes bricht der Vater Anne 1422 bzw. 1423 zum Kreuzzug auf und verlässt die Familie (Teil I), 1430 ist Karl auf dem Weg nach Reims zur Krönung, an eben diesem
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auf Erfolg im Nachhinein neuer Höhepunkt der französischen Krise gewesen sein
wird: Im Mai 1431 wird Jeanne d’Arc hingerichtet, das soeben erst erreichte Bündnis zwischen Burgund und Orléans zerschlägt sich und schließlich wird am 16.
Dezember der Engländer Heinrich IV. in Notre-Dame zum König Frankreichs
gekrönt. Dieses Moment der drohenden Krise verdoppelt der Text unweigerlich,
schreibt es jedoch nicht explizit aus. Das Drama bleibt so Mirakelspiel, ohne den
dramatischen Umschwung mitzugehen. Das Moment des Tragischen bleibt bewusst ausgespart. Es ist zu vermuten, dass dieses Rettungstableau, das Claudel mit
seiner Annonce aufspannt, sich gleichfalls am nationalen Verfallsdiskurs des 19.
Jahrhunderts abarbeitet. Mit der Schlacht von Sedan 1870 hatte jenes seinen unrühmlichen Höhepunkt erreicht. Claudel verweist explizit auf christliches Heilsgeschehen, um profane Geschichte als teleologische Heilsgeschichte um- oder neuzuschreiben. Er vereint damit im Reich der Imagination den selbst hinter die
Französische Revolution zurückreichenden, restaurierten „Roi de France“ (und
nicht „des Français“) und eine neue, im Glauben geschlossene (National-)Familie.
Das Heilsnarrativ des Dramas schließt damit, dass Pierre seine Kathedrale zu
Reims mit einer zur jungfräulichen Märtyrerin Justitia verklärten Statue der toten
Violaine krönt. Hier wird nicht nur der Sündenbock zum Heiligen erhoben, sondern auch Violaines allegorische Rolle als Ecclesia offenbar. Es erfüllt sich, was
Pierre bereits im Prolog ankündigt: Dort sprach er von Violaine als „image de la
Beauté éternelle“ (Th II, 23), jetzt verwandelt er sie faktisch in Stein und in ein
religiöses Kunstwerk („mon œuvre que Dieu habite“, TH II, 24). Diese Versteinerung des Lebendigen, die Pierre zu einem invertierten Pygmalion macht, korrespondiert damit, dass Pierre zu Anfang seine Kirche nacheinander als Schwester,
Tochter und Eva bezeichnet: als Versammlung des Weiblichen und zugleich – insbesondere im Fehlen der mütterlichen Ur-Imago – als Ausdruck des ödipalen
Triebverzichts am Urgrund jeder Kulturleistung. Der verbotene mütterliche Körper figuriert gerade nicht im Werk des Mannes. Die Versteinerung des Weiblichen
wird jedoch im weiteren Verlauf des Stückes durch die Rehabilitierung des Mütterlichen40 aufgewogen und bizarr unterlaufen. Die Kathedrale zu Reims steht in
einem metaphorischen Verhältnis zur männlichen Poetik Claudels: Auch dessen
christliche Kunst bietet sich als Wohnstätte des ‚wahren‘ Gottes und Ausdruck der
sublimen „Beauté éternelle“ an. Insofern spielt der Pierre der Annonce die Rolle
Petrus’ und die seines literarischen Schöpfers. Auf Geburt und Opferung in der
Weihnachtsabend besucht Mara Violaine, und in der Neujahrsnacht 1430 (bzw. schon im Jahr
1431 in der Variante für die Bühne) kulminiert die Handlung.
40 Die soziale und nationale Krise wird im Text nicht zuletzt als Scheitern der männlichen Genealogie nachvollzogen: Nicht nur ist der Vater Anne nicht in der Lage, über die Blutlinie seinen Namen und damit sein Geschlecht weiterzugeben; auch in der Szene der Erweckung wird die Unterbrechung der Blutlinie als Abwesenheit einer durch diese legitimierten Form der Fortpflanzung
und deren Ersetzung durch das Gesetz zweier Mütter hervorgehoben. Über ihre jungfräuliche
Muttermilch ‚vererbt‘ Violaine der kleinen Aubaine ihre blauen Augen, zeugt somit das Kind ein
zweites Mal, womit in diesem der Fortbestand des Geschlechts durch die doppelte SchwesternZeugung gesichert erscheint. Der Sockel der neuen Gemeinschaft wäre damit gerade nicht Pierre/
Petrus, sondern die mündig gewordene Maria duplex des Stückes.
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Imitatio Christi folgt die Errichtung der Gemeinde, die das gemeinsame Glaubensbekenntnis spricht („ANNE VERCORS. Dieu s’est fait homme ! / JACQUES HURY. Il
est mort ! / PIERRE DE CRAON. Il est ressuscité !“, TH II, 114), und die Weihung
der Kirche. Die Figurenrede nimmt damit performativen Charakter an, da sie auf
der Ebene der Figuren und für das Werk Claudels die gleiche Funktion erfüllt: das
Bekenntnis zum christlichen Glauben bzw. zur christlichen Literatur, die als männliche Kopfgeburt der weiblichen Geburt nacheifert.
Bereits zuvor war selbstverständlich die Dualität von körperlicher und geistiger
Produktion gedacht worden. Wellbery betont, wie das Denken von Natur und
Kultur, von biologischer Prokreation und künstlerischer Produktion in bestimmten historischen Kontexten eine „Leitfunktion“ bei der Artikulation des Selbstverständnisses einer Kultur und ihrer Kunst übernehmen könne.41 Während in der
Frühen Neuzeit das Gehirn des Menschen als immaterielles, männliches Fortpflanzungsorgan gesehen wurde42, nehmen in der Moderne auch in der Selbstreflexion
der Kunst und ihrer Produktion die „harten Faktoren“43 des Nicht-Geistigen, also
des Körpers mehr und mehr an Bedeutung zu. Erst bei Freud stoßen sie unaufhaltsam mit dem Begriff des sublimierten Triebverzichts in den Bereich der Kunst vor.
Lange Zeit galten Gehirn und Gebärmutter als zwei komplementäre Organe der
Empfängnis und Produktion, wodurch das Gehirn quasi zur „intellektuelle[n] Gebärmutter des Mannes“44 umfunktioniert wurde. Dabei bleiben die Zuständigkeitsbereiche klar aufgeteilt: Die Frau steht auf Seiten der natura und ist für die
biologische Reproduktion zuständig45; der Mann dagegen gestaltet sich in der
Kunst den intellektuellen „Zeugungsakt als einen Akt männlicher Poiesis“46. In der
Rolle des Erziehers – also auf Seiten der Kultur – gewinnt der Mann neben seiner
eigenen, biologisch uneindeutigen Vaterschaft und neben der Beseelung durch
Gott auch die Vaterschaft der Lehre und des Wortes.
Auch wenn sie Natur und Kultur streng voneinander scheidet, behauptet die
christliche Auslegung göttlicher und menschlicher Kreation damit eine Wesensidentität von Samen und Wort; sie entwirft insgesamt drei Vorgänge – die biologische Befruchtung, die geistige Schöpfung und nicht zuletzt die körperliche Emp-
41 David E. Wellbery, »Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen
Grundfigur«, in: Christian Begemann/D. E. W. (Hgg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und
Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i. Br.: Rombach, 2002, S. 9-36. Hier
S. 9.
42 Albrecht Koschorke, »Inseminationen«, in: Begemann/Wellbery (Hgg.), Kunst – Zeugung – Geburt (Anm. 41), S. 89-110.
43 Wellbery, »Kunst – Zeugung – Geburt« (Anm. 41), S. 11.
44 Koschorke, »Inseminationen« (Anm. 42), S. 93.
45 Vgl. dazu ebenso: „Die Kunst scheint das Gebären des Mannes zu sein, das Trennungsphänomen
von Koitus, von der innigen Vereinigung der Liebe. Das Weib gebiert Menschen, der Mann das
Kunstwerk.“ Johann Willhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur [1810], hg. v. Steffen u. Birgit Dietzsch, Leipzig/Weimar: Kiepenheuer, 1984, Fragment 495.
46 Koschorke, »Inseminationen« (Anm. 42), S. 94.
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fängnis des göttlichen logos: die Geburt Christi – parallel.47 Maria als Mutter Gottes
kommt dabei eine Sonderstellung zu. Als geistig und körperlich den Geist Empfangende wird sie im Christentum zur nicht-körperlichen Frau stilisiert, die durch das
Wort der Verkündung empfangen und anschließend Gott körperlich geboren hat.
Erst dessen Menschwerdung und Profanierung ermöglicht sein als erlösend vorgestelltes Selbstopfer. Dennoch bleibt Maria zunächst passives Medium, indem sie
als gehorsam und schweigend Hörende die Rolle einer Vermittlerin der göttlichen
Gnade spielt: Maria mediatrix. Als Allegorie der christlichen Gemeinde ist sie anschließend tatsächlich für deren Kommunikation mit dem Göttlichen als Vermittlerin in Anspruch genommen. Ihre „erkennende[ ] Selbstaffektion“48 wird in der
Verkündungsszene zur christlichen Urszene der Kommunikation und vereinigenden communio zwischen dem Göttlichen, dem menschlichen Fleisch und dem das
Wort Gottes empfangenden menschlichen Geist. Als diese Urszene ist die Verkündung im Katholizismus dem Ritual der Eucharistie komplementär zur Seite gestellt. Marias Körper wird zur Brücke in einem Kommunikationssystem, das Transzendenz nicht nur à la lettre sondern körperlich produzieren, gebären will und
verbürgen soll.49
Im Frankreich des angehenden 20. Jahrhunderts kehrt Maria daher beim Bekehrten Paul Claudel wieder, der aus der bewusst christlichen Einfassung seiner
Literatur keinen Hehl macht. Durch den Rekurs auf genuin französische PolitMytheme wie die Figur der Jeanne d’Arc50 wird seine Verkündungsversion in der
Annonce faite à Marie zugleich als der Versuch lesbar, politische und religiöse communitas aus dem – dramatisch nachvollzogenen – Akt einer marialogischen creatio
ex verba und der finalen (Selbst-)Opferung neu zu stiften. Die Lepra und der Stoß
in die Grube bleiben dennoch wie ein unheimlicher Rest zurück, insofern der Text
trotz seiner christlichen Einfärbung das verstörende Element der gewalttätigen
Fremdeinwirkung, die sich im Aussatz veräußert, nicht zu beruhigen vermag.
Selbst in der katholischen renovatio ist das erlösende Martyrium so durch die Gewalt der Gesellschaft herbeigeführt. Dieser archaische Rest des Sündenbockopfers51 legt davon Zeugnis ab, inwiefern Claudels poetisches Opfer und sein Entwurf christlicher Autorschaft in die modernen Opferdiskurse der gewaltsamen
Erneuerung eingebettet sind.
47 „Wie der Samen enthält das Wort eine geistige Substanz, die über physiologische Zwischenträger
an ihren Bestimmungsort geschickt wird. Wie der Samen ist das Wort schöpferisch und wirkt auf
stoffliche Zusammenhänge ein, ohne ihnen im engeren Sinn anzugehören. Beide überbrücken auf
ihre Weise den metaphysischen Graben zwischen den binären Termen Materie und Geist; beide
arbeiten der weltlichen Ausbreitung des logos zu – seiner Vervielfältigung, Streuung und Insemination.“ Ebd., S. 102.
48 Ebd., S. 108.
49 Vgl. zur Transzendenzproduktion Wellbery, »Anmerkungen zum Chandos-Brief« (Anm. 20) sowie Koschorke, »Inseminationen« (Anm. 42), S. 109.
50 Vgl. auch Paul Claudel, Jeanne d’Arc au Bucher, Paris: Gallimard, 1939, S. 67. „Jeanne: C’est moi
qui ai sauvé la France ! C’est moi qui ai réuni la France ! toutes les mains de la France en une seule
main !“
51 Vgl. Girard, Le bouc émissaire (Anm. 36).
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Nicht minder ist allerdings die zeichenhafte Kühle der männlichen Kathedrale
dem weiblich gezeugten ‚Leben‘ gegenüber defizitär. Der Text stellt also nicht nur
die Supplementarität symbolischer Gewaltzeugung aus, sondern exponiert gleichzeitig die doppelte Sterilität des Männlichen: Symptomatisch hierfür sind die vaterlos gewordene Familie Vercors und die geschlechtlich steril bleibenden Beziehungen Violaines, die nur im Bereich des Symbolischen – als Kunstwerk oder
Figura Christi – Zusammenhalt und Neubeginn der Gemeinschaft stiften kann. In
der Kunst vermag die Moderne nur ein Supplement echter communio zu erzeugen.
Wie Pierres Kirche in Rivalität zur weiblich verbürgten Neugeburt und Rettung
steht, so letztlich auch der Text Claudels zu einer realiter herbeigeführten Heilserfahrung. Die Kathedrale von Reims, in der die monarchische Souveränität ihren
historischen und rituellen Ort hat, verwandelt sich in das Totem dieses vaterlos
gewordenen Frankreich.
3. Die Vergewaltigung des Mediums: Antike auguste Voix
in Paul Valérys »La Pythie« (1922)
Bereits in der Genieästhetik um 1800 hält die Natur Einzug in die Kunst und in
ihre Metaphern. Als nicht-kodifizierbare, mithin natürliche Größe ist der genius
das Zentrum eines neuen Entwurfs künstlerischer Vaterschaft: Fortan schöpft sich
das ästhetische Subjekt im künstlerischen Medium selbst; es geht der Prägung der
Form nicht mehr als Präger voraus, sondern setzt an die Stelle göttlicher Beseelung
und Geistempfängnis die artistische Autogeneration. Der Komplex aus Kunst,
Zeugung und Geburt wird dann im 19. Jahrhundert und in der Moderne neu
perspektiviert. Er gewinnt zusätzliche Zugkraft vor dem Hintergrund einer Opfermetaphorik, die den Topos der Zeugung nicht allein als „paradoxe Einheit der semantischen Unterscheidung Natur/Kultur“52 verhandelt, sondern um die ebenso
paradoxe Größe des schwangeren Opfertodes, der Einheit der semantischen Unterscheidung Tod/Leben erweitert. Als Ursprung aus der Differenz feiert sich
schließlich in der Moderne eine Kunst, die Apollo und Dionysos gleichzeitig als
göttliche Urväter und beiderseits verantwortlich für die ästhetische ‚Form‘ angibt.
In der antikisierenden Ode »La Pythie« verwandelt Paul Valéry die Szene der göttlichen Befruchtung daher in das tremendum dichterischer Inspiration. Er bedient
sich dabei der griechischen Apollo-Seherin Pythia, die – anders als Maria – von der
göttlichen Gabe der Verkündung schmerzvoll ergriffen wird. Sie wird als Märtyrerin beschrieben, deren Körper dem göttlichen Wort als Opferaltar dienen muss,
und ihr Martyrium erscheint weniger als Geburt denn als gewaltsame Vergewaltigung, die sprachlich eine „vaine grossesse“ austrägt.
52 Wellbery, »Kunst – Zeugung – Geburt« (Anm. 41), S. 13.
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»La Pythie«53 erschien erstmals 1919 in Les Écrits Nouveaux und findet 1922
Eingang in die Sammlung der Charmes. Mit der Odenstrophe der dizain isométrique classique schließt Valéry darin an Malherbe und Hugo an. Dies geschieht
auch inhaltlich über das Thema dichterischer Inspiration: Allerdings verkörpert die
griechische Orakelpriesterin des Apollo lediglich „einen in Delirium und Ekstase
erreichten Zustand der Inspiration“54, ohne im Textumfang der 23 Strophen umfassenden Ode im Sinne ihrer mythischen Vorlage55 jemals eine prophetische Zukunftsaussage zu treffen. Indem Valéry die den Geist überfallende, unkontrollierbare Inspiration in eine im Namen des Gottes Apollo sprechende Macht der
Sprache und in ein ‚(un-)fruchtbares‘ Opferszenario verwandelt, wendet er sich
gegen die der Genieästhetik zur Seite stehende, romantische Inspirationsästhetik
im Sinne Hugos. Die Ablehnung der Inspirationsästhetik wird insofern begründet,
als diese ein unwillkommenes Opfer des Geistes56 und seiner souveränen Freiheit
darstelle. Trotzdem ist die ‚Geburt‘ des Werkes auch bei Valéry in sakrifiziellen
Metaphern als coupage57 vorgestellt. Diese Umdeutung eines passiven GeopfertWerdens zu einem aktiven Opfern gilt es zu explizieren, ist sie doch eine der ersten
poetologischen Indienstnahmen des Opfers, die gerade die Frage nach literarischer
Autorschaft berührt.
Befragt man die »Pythie« nach dem Wesen ihrer Geistgeburt und „vaine grossesse“ (IV, 3), so ist die entscheidende Frage an den Text die nach dem Sprecher oder
der source der letzten Strophe. Zu Beginn ist die Pythie der Sprechgegenstand des
Gedichts, da dieses mit dem Satz „La Pythie exhalant la flamme“ (I, 1) einsetzt und
im Folgenden die Schmerzen der Seherin schildert, die Geist und Körper gleichermaßen befallen. Als „martyre en sueurs froides“ (III, 1) sitzt sie über einem Dreifuß
53 Paul Valéry, »La Pythie« [1922], in: P. V., Œuvres, Bd. I, hg. v. Jean Hytier, Paris: Gallimard,
1957 (= Bibliothèque de la Pléiade), S. 130-136. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Strophe in
römischen und der Verszeile in arabischen Ziffern. Zur einlässlicheren Interpretation der Texte
Valérys und Batailles siehe die Münchner Dissertationsschrift der Verfasserin Von Zeugen und Zeichen des Opfers. Ritualisierte Autorschaft im 20. Jahrhundert, 2010.
54 Hervorhebung durch die Verf. Siehe den Kommentar in Paul Valéry, Dichtung und Prosa, hg. v.
Karl Alfred Blüher u. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M.: Insel, 1992 (= Paul Valéry. Werke. Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, Bd. 1), S. 620.
55 Anders als die Sibylle Vergils, dessen Aeneis Valéry eingangs mit dem lateinischen Motto „Haec
effata silet; pallor simul occupat ora“ zitiert, spricht die Pythie keine ihr eindeutig zuzuordnende
Prophetie aus. Gerade mit dem Zitat des Verstummens zu Beginn und mit der pragmatisch uneindeutigen Rede der letzten Strophe wird so der Abstand zur Antike und die Absenz des göttlich
motivierten Wortes markiert. Die Vorstellung des romantischen poeta vates stößt hier an ihre
Grenzen.
56 Vgl. dazu den Kommentar Valérys zum „sacrifizio dell’intelletto“: „Il y a des sacrifices que je ne
puis pas, sais pas, veux pas faire. Et le premier sacrifice à la littérature viable est le sacrifizio
dell’intelletto.“ Paul Valéry, »Ego Scriptor«, in: P. V., Cahiers, Bd. 1, hg. v. Judith Robinson-Valéry, Paris: Gallimard, 1973, S. 235-319. Hier S. 247. Sowie Karl Alfred Blüher, »Valéry’s ‚sacrifizio
dell’intelletto‘«, in: Recherches Valeryennes 2 (1989), S. 49-52.
57 „[P]our que cela ‹ marche ›, c’est le mot de Valéry, le prix à payer se négocie avec la mort ; avec ce
qui coupe l’ ‹ œuvre › de sa source (‹ il n’y a donc point d’auteur ›) et lui imprime dès lors une durée
de survie nécessairement discrète et discontinue.“ Jacques Derrida, »qual quelle. Les sources de Valéry« [1971], in: J. D., Marges de la philosophie, Paris: Minuit, 1972, S. 325-363. Hier S. 331 f.
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und atmet Dämpfe ein, welche den Zustand der Ekstase befördern sollen. Daraufhin setzt ihre wörtliche Rede ein, die von der Klage („Ah ! maudite ! ... Quels maux
je souffre !“, III, 5) über die direkte Anrede des Gottes („Maître immonde, cesse /
[...] / De feindre une vaine grossesse / Dans ce pur ventre sans amant !“, IV, 1-4)
hin zur monologischen Selbstbefragung und Beschwörung der eigenen Vergangenheit reicht:
Mon cher corps... [...]
Fraîcheur par qui ne fut jamais
Aphrodite désaltérée, [...]
Douce matière de mon sort,
Quelle alliance nous vécûmes,
Avant que le don des écumes
Ait fait de toi ce corps de mort ! (IX, 1-10)
Ihre Initiation als Priesterin nachvollziehend, klagt die Pythie die „Puissance Créatrice“ (XIV, 1) an, die sie zur „victime“ (VI, 3) und ihre prophetische Gabe zum
„sacrifice“ (XIII, 8) auserkoren habe. Sie bittet um Mitleid und kritisiert gleichzeitig die Gewalt der Inspiration, bevor sie letztere schließlich in sich aufsteigen fühlt
und als ‚kleinen Tod‘ ankündigt: „Je sens dans l’arbre de ma vie / La mort monter
de mes talons !“ (XX, 3-4) Sie schwenkt um in Unbehagen erzeugende jouissance
am eigenen symbolischen Tod, die Aufforderung an den Gott: „Ah ! brise les portes
vivantes !“ (XXI, 1) und verstummt schließlich. In der vorletzten Strophe kehrt der
Text scheinbar zur neutralen Stimme des Anfangs zurück, wenn beschrieben wird,
wie sich der Priester in Erwartung über die Seherin beugt. Damit ist das Gedicht
an einem Punkt angelangt, wo die heilige Sprache Apollos, die Prophetie, auf den
Plan treten soll.
Nicht nur die eindeutig sexualisierte Verlaufsbeschreibung der Inspiration, sondern auch der Bildbereich des „Schwängerns“, der „vaine grossesse“ (IV, v. 3) und
der „Intelligence adultère“ (III, 9), die sich der „vierge consacrée“ (XIII, 5) bemächtigt, sprechen deutliche Worte, wenn es um das Wesen dieser Inspiration
geht: Es handelt sich um die Szene einer – wenn auch metaphysischen – Vergewaltigung.58 Dies verwundert kaum, erinnert man sich daran, dass Valéry selbst iro-
58 Christine M. Crow hat sich hinsichtlich dieser prekären Geburtsszene der poetischen Stimme bereits mit den gewaltsamen Bildern der »La Pythie« beschäftigt, lenkt sie aber mithilfe der depersonalisierten Stimme der Schlussstrophe letzten Endes in eine sublime Lektüre um, der ich mich
nicht anschließen kann. Sie scheint sich zudem bei Valérys Gedanken der „unité“ zu bedienen, den
dieser etwa zeitgleich in den Rhumbs mit der Pythie poetologisch verbindet: „La Pythie ne saurait
dicter un poème. Mais un vers – c’est à dire une unité – et puis un autre.“ Paul Valéry, „Rhumbs“
[1926], in: Valéry, Œuvres (Anm. 53), Bd. II, 1960, S. 595-655. Hier S. 628. In diesem Sinne
wird das Ende als ‚Geburt‘ einer an kein Aussagesubjekt gebundenen Universalsprache interpretierbar: „[T]hrough this ‚rape‘ the Pythie is empowered to give birth to a unique form of unity: the
unity of Voice with its power to express individual experience in universal form [...].“ Christine M.
Crow, Paul Valéry and the Poetry of Voice, Cambridge u. a.: Cambridge Univ. Press, 1982, S. 171 f.
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nisch, ja teils fast panisch den Gedanken einer Inspirationsästhetik von sich wies.59
Die Pythie figuriert dergestalt als lyrische Widergängerin einer Poetik, die Valéry
entschieden ablehnt, und das antike Medium ist Stellvertreterfigur desjenigen Poeten, den Valéry in »Poésie et pensée abstraite« von 1939 als „médium momentané“60
beschreibt und verurteilt. Mit einem Satz – den Valéry in »Littérature« bereits zehn
Jahre zuvor fallen gelassen hatte: „Rougir d’être la pythie...“!61 Nichts Schlimmeres
also, als ein von der Inspiration vergewaltigtes Medium zu sein. Das Ritualmedium
des Blutes, das dem Dichter zu Kopf steigt, ohne dass der Geist es verhindern
kann, steht nicht zuletzt stellvertretend für die nicht geistigen, sondern triebhaften
oder materiell ‚gebärenden‘ „Akte des Körpers“62, denen Valéry die hetero-affektive
Opferung der Pythie als Sonderform seines intellektuellen Narzissmus gegenüberstellt. Nur die Kontrolle durch den Geist wird dessen auch sprachlich durchkonstruierter, intellektualisierter und philosophischer Lyrik gerecht.
Die Lyrik wird mithin zum Schöpfungsakt eines neuen sujet fondateur: Die
Stimme Apollos ist jedoch keine direkte Ausgeburt dieser Zeugungsszene. Entgegen der von Rilke besorgten Übersetzung, die mit einem Doppelpunkt am Ende
der 22. Strophe63 die Schlussstrophe als discours direct der angekündigten „voix
nouvelle et blanche“ (XXII, 9) suggeriert, und entgegen der wiederholten Annahme der Forschung, es handle sich bei der 23. Strophe tatsächlich um das Erklingen
der Stimme Apollos64, ist der Sprechgegenstand der letzten Strophe nicht etwa eine
weise Prophetie, sondern die Verkündung der Macht der prophetischen, göttlichen
Sprache an sich.
Honneur des Hommes, Saint LANGAGE,
Discours prophétique et paré,
Belles chaînes en qui s’engage
Le dieu dans la chair égaré,
Illumination, largesse !
59 „Mais vous savez tous qu’il existe un moyen fort simple de faire des vers. Il suffit d’être inspiré, et les
choses vont toutes seules. Je voudrais bien qu’il en fût ainsi. La vie serait supportable. [...] Celui qui
s’en contente, il lui faut consentir ou bien que la production poétique est un pur effet du hasard, ou
bien qu’elle procède d’une sorte de communication surnaturelle ; l’une et l’autre hypothèse réduisent le poète à un role misérablement passif.“ Paul Valéry, »Propos sur la Poésie« [1927], in: Valéry, Œuvres (Anm. 53), Bd. I, 1957, S. 1361-1378. Hier S. 1375 f.
60 Paul Valéry, »Poésie et pensée abstraite« [1939], in: Valéry, Œuvres (Anm. 53), Bd. I, 1957,
S. 1314-1339. Hier S. 1335.
61 Paul Valéry, »Littérature« [1929], in: Valéry, Œuvres (Anm. 53), Bd. II, 1960, S. 546-570. Hier
S. 550.
62 Jean Bernard, »Valéry und das Blut«, in: Judith Robinson-Valéry (Hg.), Funktionen des Geistes.
Paul Valéry und die Wissenschaften, Frankfurt/M. u. New York: Campus, 1993, S. 71-84. Hier
S. 78.
63 Siehe die deutsche Übersetzung in Paul Valéry, »La Pythie/Pythie«, übers. v. Rainer Maria Rilke,
in: Valéry, Dichtung und Prosa (Anm. 54), S. 134-147. Hier S. 147.
64 Vgl. etwa den Kommentar der zweisprachigen Ausgabe: „In der Schlußstrophe spricht durch die
Pythie eine fremde ‚neue Stimme‘, die, vergleichbar der Stimme des Apoll im Orakel von Delphi,
die übermenschliche Macht und Autorität der Sprache verkündet.“ Valéry, Dichtung und Prosa
(Anm. 54), S. 620; sowie Crow, Poetry of Voice (Anm. 58), S. 170-174.
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Voici parler une Sagesse
Et sonner cette auguste Voix
Qui se connaît quand elle sonne
N’être plus la voix de personne
Tant que des ondes et des bois ! (XXIII, 1-10)
Wenn die inspirative Befruchtung und ihre Symbolisierung im corps/mort der
Jungfrau hier entgegen ihrer mythischen Filiation ausdrücklich als Opfer bezeichnet wird, so deshalb, weil Valéry damit ein neues Schreib- und Werkverständnis
verhandelt. Claudel hatte christliche Elemente des Opfers wie seiner Verherrlichung in seinen Text integriert, um sich als Schriftsteller im Auftrag Gottes auszuzeichnen. Dagegen dienen der antike Ritus und seine Umdeutung Valéry dazu, in
einem nun bereits sublimierten Akt der Gewalt die Position des – wenn auch abwesenden – Dichtergottes einzunehmen. Die Pythie ist zugleich Stellvertreterin
des (inspirierten) Dichters und Medium einer Produktionsästhetik, die Valérys
Beau total der Einheit von son und sens erklingen lässt65. Die eigentliche „voix nouvelle“ einer ideal vorgestellten, poetischen Sprache spricht im Laufe des Gedichts
immer dann gewaltsam durch das Medium hindurch, wenn Valéry sein eigenes
poetologisches Ideal verwirklicht sieht – die geistige Kontrolle, die Klang und Semantik in Einklang bringen kann. Die Poetik der Vergewaltigung assoziiert zudem
den Apollo-Daphne-Mythos, indem sie aemulatio nicht am petrarkistischen Lorbeer sondern an dessen ätiologischer Wurzel, am versuchten Akt der Vergewaltigung betreibt. Das Gedicht wird zur Produktionsszene einer Stimme des modernen Dichters, der sich durch das Wort seines Mediums in einer paradoxen
Anwesenheit-Abwesenheit poetologisch ‚vermittelt‘. Deshalb kann »La Pythie«
auch in der Semantik der gewaltsamen renaissance verortet werden, die der weiblichen „grossesse“ die männliche Geist-Geburt entgegen hält. Im Akt der Sublimierung wird die Seite der Kultur übersteigert und agonal gegen die natura gestellt.
Allerdings vermittelt das intrikate Spiel mit der Absenz einen Eindruck davon, dass
selbst diese literarische Souveränität nicht mehr zu haben ist: Obschon Valéry die
Dichterstimme als einen Gott inszeniert, der zu literarischen Opfern berechtigt ist,
koppelt sich der Umschwung von der Passivität des inspirierten Dichters zur Aktivität des modernen Wortvergewaltigers mit einem Stimmverlust: die „auguste
Voix“ kommt in dieser Poetik vielleicht zur, nicht aber in die Sprache.
65 Die penetrierende Erschütterung der göttlichen Gabe etwa wird von Valéry auf der Signifikantenebene im Sinne der symbiose du son et du sens nachgeahmt, wenn er einen Plosiv nach den anderen
setzt: „L’eau tranquille est plus transparente / Que toute tempête parente / D’une confuse profondeur !“ (XV, 8-10)
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4. Vatermord und primitivistische Refiguration der virgo violata zur
mater corrupta in den romans obscènes (1928-1967) Georges Batailles
Die nationalallegorische und christlich kodierte, auf Erlösung hoffende Zeugungsszene der Annonce Claudels sowie die gewaltsame, poetologische (Inspirations-)
Vergewaltigung Valérys, die bereits auf nicht-christliche Mythologeme Bezug
nimmt, fließen bei Georges Bataille ab den späten 1920er Jahren auf neue Weise
zusammen. Literarische ‚Vaterschaft‘ verwandelt sich hier in ‚buchstäblichen‘ Vatermord. So kann Michel Koch, ein Zeitgenosse und Weggefährte Batailles, eine
Abhandlung zu Opfer, Bataille und sacricide mit dem Stefan-Zweig-Zitat einleiten:
„Tout esprit vient du sang [...].“66 Im Blut als dionysischem Fruchtbarkeitsfluidum
finden Opfer- und Zeugungsmetapher zusammen, und die natura kommt nun
gegen die Kultur zu ihrem Recht. Die Betonung des Blutes verweist jedoch ebenso
auf dessen Ideologie, die Foucault aufgezeigt hat, eine Ideologie, die nicht nur das
sakrifizielle Vergießen des Blutes sondern auch die Kontrolle des Genealogischen
in biopolitischen Machtritualen beherrscht. Bilder sakrifizieller Kreation stehen
somit symptomatisch für die nach Foucault für das 19. Jahrhundert prägende Verschränkung von Vitalismus und Mortalismus67, an deren Ende in der Moderne die
„massacres [...] devenus vitaux“68 der biopolitischen Lebensmacht zu verorten
wäre. Bereits Joseph de Maistre hatte im Zuge der französischen Revolution die
„vitalité du sang“69 beschworen und in blutrünstig-primitives Opfer einerseits sowie heilbringendes, bereits semiotisiertes Blut der christlichen Eucharistie andererseits aufgeteilt. Diese Vitalität erfährt in der Moderne durch eine bewusste Hinwendung zu archaischen Formen des Blutvergießens neue Schubkraft. Während
Claudel noch mit Hilfe des christlichen Heilsnarrativs gegen die ‚Unheilsgeschichte‘ der Revolution, des Regizids und des politisch-nationalen Verfalls anschreibt,
etabliert sich zeitgleich ein Disziplinen übergreifendes Interesse am Archaismus
oder Primitivismus und somit auch an Ritual- und Opferpraktiken nichtchristlicher Religionen. Die anfängliche Begeisterung für die von der Dekadenz reinigende Wirkung des Ersten Weltkriegs ist auf der Bühne der Politik sicherlich eine der
ersten Ausdrucksformen für den euphorischen Gewaltdiskurs, den die Moderne
nunmehr führt.70
Batailles Suche nach neuen Kontinuitäts- und Immanenzerfahrungen ist oft als
Neo-Mystizismus abgetan worden. Sie ist aber nicht nur typisch für den vitalisti66 Michel Koch, Le Sacricide, Paris: Léo Scheer, 2001, S. 9.
67 „[L]a mort était la seule possibilité de donner à la vie une vérité positive. L’irréductibilité du vivant
au mécanique ou au chimique n’est que seconde par rapport à ce lien fondamental de la vie et de la
mort. Le vitalisme apparaît sur fond de ce mortalisme.“ Michel Foucault, Naissance de la clinique.
Une archéologie du regard médical, Paris: Gallimard, 1963, S. 147 f.
68 Michel Foucault, Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir, Paris: Gallimard, 1982, S. 180.
69 Joseph de Maistre, »Éclaircissement sur les sacrifices« [1810], in: J. d. M., Œuvres, Bd. V, hg. v.
Pierre Glaudes, Paris: Robert Laffont, 2007, S. 787-839. Hier S. 812.
70 Vgl. dazu Walter Pache, Degeneration/Regeneration. Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte
zwischen Dekadenz und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
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schen Mortalismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern darüber hinaus auch mit zwei diskursiven Momenten gekoppelt, die dem
Ritual im Zuge modernen Primitivismus’ eine vor allem Gemeinschaft stiftende
Funktion zuschreiben: Mit dem Collège de Sociologie und der Gruppe Acéphale71
der späten 1930er Jahre stand Bataille einerseits im Zentrum einer experimentellen
‚Neoritualpraxis‘ und der zeitgenössischen soziologischen Forschung über die
menschliche Gemeinschaftsbildung. Andererseits partizipierte er seit Bretons erstem Manifest von 1924 an der Formierung des französischen Surrealismus, der
sich durch einen sehr ausgeprägten Gruppenzwang auszeichnete. Der bereits im
zweiten Manifest wie so viele andere von Breton ‚verworfene‘ Bataille hat miterlebt, welche Bedeutung nicht zuletzt das künstlerische Kollektiv im utopischen
Projekt einer ‚reromantisierten‘ Moderne haben kann: „Das sich isolierende Genie
der Romantik ist dem Kollektiv der Surrealistengruppe gewichen, die ihrerseits
einer entfremdeten Gesellschaft den Weg der Authentizität weist.“72 Rainer Warning hat bereits darauf verwiesen, welche Rolle hierbei die polemische Losschreibung des Kollektivs vom Intellektualismus eines Paul Valéry spielte. Sie ersetzt den
stark antiromantischen Affekt Valérys durch eine „fragmentarische Restitution einer Totalitätserfahrung“73. Daran ließe sich die These anschließen, dass neben der
„Poesie der [individuellen] Identität“74 im surrealistischen Kontext auch ein –
selbst obszöner – Roman des religiösen oder nationalen Kollektivs durch das erstarkte Interesse am Ritual erstrebenswert erscheint.
Geht man bei Bataille auf die christlich konnotierten Aspekte seiner Kommunikationsrituale ein, so fällt auf, dass für diese neue Gemeinschaft zuallererst über
Körper und Begehren der Frau eine neue, der Muttergottes Maria widersprechende Mutterfigur geschaffen wird. Nicht ohne Grund hat Bataille seinen weiblichen
Protagonistinnen durchweg sprechende Namen gegeben: In der Erzählung »Ma
mère« initiiert die Hure Maria (Magdalena) in der Figur der ma mère Madeleine
das Erzähler-Ich zur inzestuös-perversen Ausschweifung; ein Ich, das wie Batailles
Pseudonym für die Veröffentlichung dieses und anderer seiner obszönen Texte den
schon bei Claudel instrumentalisierten Namen Pierre und damit den Namen des
Felsens der christlichen Kirche trägt. Diese Mutter allerdings wird nicht wie Maria
gerufen: Sie ruft, von Anfang an: „Pierre !“ Die herrischen Ansprachen eröffnen
und punktieren die Erzählung und zeichnen damit im Kleinen ein Bild der Verkehrung, die hier an der Rolle der Mutter – und insofern auch an der Figuration
einer sakrifiziellen Zeugungsmetapher – vorgenommen wird. Maria – die stumm
Empfangende – wird zu Madeleine, der lautstark Fordernden, den logos nicht Gebärenden, sondern das Wort an sich Reißenden. Als Matrix der christlichen Zeu71 Vgl dazu Michel Koch: „une entreprise non seulement communautaire, mais communielle“; Koch,
Le Sacricide (Anm. 66), S. 30 f.
72 Rainer Warning, »Surrealistische Totalität und die Partialität der Moderne. Zur Lyrik Paul
Éluards«, in: R. W./Winfried Wehle (Hgg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde, München: Wilhelm Fink (UTB), 1982, S. 481-519. Hier S. 490.
73 Ebd., S. 489.
74 Ebd., S. 510.
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gungs-, Schöpfungs- und damit Opfer-Theologie und -Ideologie, das Medium der
Menschwerdung Gottes, der sich als dieser im Opfer für die Menschen darbringen
kann, wird Maria in ihrer alles bestimmenden ‚Kommunikation‘ mit dem Göttlichen umkodiert: Sie ergreift nicht nur selbst das Wort, sondern macht sich in der
letzten Szene nach einer Seiten umfassenden, quälenden und zugleich bereits ‚obszönen‘ Aufschiebung des Akts, einem inszenierten „Triebverzicht“, den eigenen
Sohn zum geschlechtlichen, körperlichen Ehemann.
Der Natur-Kultur-Dualismus der künstlerischen Zeugung kulminiert in der
phallischen Frau der Texte Batailles. Anders als bei Valéry wird die jungfräuliche
Frau nicht virgo violata, sondern mater corrupta. Der Sterilität der ungeschlechtlichen Befruchtung und der kulturellen, männlichen Kopfgeburt wird die Sterilität
des obszönen Inzests gegenüber gestellt. Das Werk Batailles ist als Reich weiblichen Begehrens inszeniert, das darin ex negativo einen neuen Zugang zum Göttlichen bieten soll. Entsprechend verwundert es kaum, dass dem Toten Édouard in
der kurzen Erzählung »Le mort«, der bereits zu Beginn tot ist und eine Frau (namens Marie) zurücklässt, »Madame Edwarda« als Batailles vielleicht prominenteste
Figur der göttlichen, begehrenden Frau gegenüber gestellt wird. In ihr findet eine
Form der doppelt negativen Theologie ihren Ausdruck, die Transzendenzproduktion und Kontinuitätserfahrung75 durch eine sakralisierte Erotik nachvollzieht:
„Mais que DIEU soit une prostituée de maison close et une folle, ceci n’a pas de
sens en raison.“76
Der dabei durch die Feminisierung zu Edwarda auch symbolisch Tod und Kastration77 zum Opfer fallende Édouard ähnelt einer Figur in der Histoire de l’œil, Batailles erstem Roman aus dem Jahr 1928. In einem der eigentlichen Erzählung
nachgestellten Kapitel überrascht Bataille mit einer Art ‚Bekennerschrift‘, einer
pseudo-autobiographischen Enträtselung einiger der im Text entwickelten Symbole.78 Roland Barthes hat deren metonymische Natur als rhetorische Verwirklichung
75 Der Begriff der Immanenz oder Kontinuität löst im Denken Batailles den der Transzendenz ab,
erfüllt aber die gleiche Funktion, vgl. dazu: „Nous sommes des êtres discontinus, individus mourant isolément dans une aventure inintelligible, mais nous avons la nostalgie de la continuité perdue. Nous supportons mal la situation qui nous rive à l’individualité de hasard, à l’individualité
périssable que nous sommes. En même temps que nous avons le désir angoissé de la durée de ce
périssable, nous avons l’obsession d’une continuité première, qui nous relie généralement à l’être.“
Bataille, L’Érotisme (Anm. 12), S. 21 f.
76 Georges Bataille, »Madame Edwarda« [1937], in: G. B., Œuvres complètes, Bd. III, Paris: Gallimard, 1971, S. 7-31. Hier S. 26. Hervorhebung im Original.
77 Sichère spricht von einem „univers de l’effacement de la position masculine“; Bernard Sichère,
»L’écriture souveraine de Georges Bataille«, in: Tel Quel 93 (1982), S. 58-75. Hier S. 64.
78 „Je suis né d’un père P. G. qui m’a conçut étant déjà aveugle et qui peu après ma naissance fut
cloué dans son fauteuil par sa sinistre maladie [sc. die Syphilis]. […] Il ne pouvait pas comme tout
le monde aller uriner dans les water-closets, mais était obligé de le faire sur son fauteuil dans un
petit réceptacle […] le plus étrange était certainement sa façon de regarder en pissant. Comme il ne
voyait rien sa prunelle se dirigeait très souvent en haut dans le vide, sous la paupière, et cela arrivait
en particulier dans les moments où il pissait […], avec une expression tout à fait abrutissante
d’abandon et d’égarement dans un monde que lui seul pouvait voir et qui lui donnait un vague rire
sardonique et absent […]. En tout cas, c’est l’image de ces yeux blancs à ce moment-là qui est direc-
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Abb. 1: Illustration der
Histoire de l’œil,
André Masson (1928)
der religiös aufgeladenen, ursprünglich sozial verstandenen „rapports de contiguïté“79
gedeutet. Zuerst wird darin die Vaterfigur in ihrer Beschreibung explizit zur origo
der Signifikantenkette Auge – Ei – Milch – Urin gemacht, die zumindest teils im
Zeichen einer metonymisch ausagierten fécondité steht. Dann allerdings fällt das
Fehlen der eigentlich ‚fruchtbaren‘ Flüssigkeiten Blut (Opfer) und Samen (Zeugung) ins Auge, wofür die Geschlechtskrankheit des erblindeten Vaters verantwortlich zeichnet. Gegen das genealogische Gesetz des Vaters wird daher auch in der
vorangestellten Erzählung selbst eine serielle Feier der unproduktiven Verausgabung80 gesetzt, in der beides fließt. Sie findet ihren Höhepunkt, als die Protagonistin Simone sich in der letzten großen Orgie des Textes das Auge eines von ihr getöteten Priesters vaginal einverleibt. Dieses verwandelt sich vor den quasi erigierten
Augen des Erzählers in eine – männliche – Vision der für beide verlorenen erotischen Freundin Marcelle und ihres vor Scham weinenden Auges:
tement liée pour moi à celle des œufs et qui explique l’apparition presque régulière de l’urine
chaque fois qu’apparaissent des yeux ou des œufs dans le récit.“ Georges Bataille, »L’Histoire de
l’œil« [1928], in: G. B., Œuvres complètes, Bd. I, Paris: Gallimard, 1973, S. 9-78. Hier S. 75 f. Im
Folgenden zitiert mit der Sigel ŒC I.
79 Roland Barthes, »La métaphore de l’œil« [1963], in: R. B., Œuvres complètes, Bd. I, Paris: Seuil,
1993, S. 1346-1351. Hier S. 1349.
80 „La seconde part [de l’activité humaine] est représentée par les dépenses dites improductives : le luxe, les deuils, les guerres, les cultes, les constructions de monuments somptuaires, les jeux, les spectacles, les arts, l’activité sexuelle perverse (c’est-à-dire détournée de la finalité génitale) représentent
autant d’activités qui, tout au moins dans les conditions primitives, ont leur fin en elles-mêmes. Or,
il est nécessaire de réserver le nom de dépense à ces formes improductives, à l’exclusion de tous les
modes de consommation qui servent de moyen terme à la production.“ Georges Bataille, La part
maudite, précédé de La notion de dépense [1949], hg. v. Jean Piel, Paris: Minuit, 2007, S. 28.
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Abb. 2: Titelblatt
der Zeitschrift Acéphale,
André Masson (1937)
Ensuite je me levai et, en écartant les cuisses de Simone, qui s’était couchée sur le côté,
je me trouvai en face de ce que, je me le figure ainsi, j’attendais depuis toujours de la
même façon qu’une guillotine attend un cou à trancher. Il me semblait même que
mes yeux me sortaient de la tête comme s’ils étaient érectiles à force d’horreur ; je vis
exactement, dans le vagin velu de Simone, l’œil bleu pâle de Marcelle qui me regardait
en pleurant des larmes d’urine. Des traînées de foutre dans le poil fumant achevaient
de donner à cette vision lunaire un caractère de tristesse désastreuse. (ŒC I, 69; Hervorhebung im Original)
Die rituelle Beschwörung der toten Marcelle erzeugt einen heiligen Schrecken, der
das Telos des Textes ausmacht: die über die Motiv- und Zeichenketten herbeigeführte Vision eines zurückblickenden weiblichen Geschlechtsteils, das sich selbst
dem betrachtenden Mann kommuniziert und rituelles Opfer mit der profanierten
Ankündigung verklammert.
Wenige Seiten zuvor steht die Profanierung des eucharistischen Rituals, das über
die zeichenhafte Austauschbarkeit von Körperflüssigkeiten umgedeutet wird: Blut
Christi wird zu Urin, sein corpus und damit die Hostie zu Sperma. Bataille reaktiviert
in seiner Variante des Opfers und dessen unblutiger Wiederholung in der Eucharistie die „vitalité du sang“ des nichtchristlichen, blutigen Opfers. Anders als bei Claudels Protagonistin ist es bei Bataille aber gerade der unproduktive, wenn gleich erotische Akt und nicht die geschlechtslose Zeugung, die dabei im Mittelpunkt steht.
Geschlechtskrankheit und Sterilität werden mit einer Erotik verbunden, die als ‚interesselose‘ Verausgabung für Bataille mit dem Opfer und mit einer souveränen,
zwecklos verausgabenden Literatur gleichzusetzen ist. Mit dem wahnsinnigen Vater,
der dennoch für Signifikanten und Semantik des Textes verantwortlich zeichnet,
tritt an die Stelle des romantischen Dichtergottes und des narzisstischen Kurzschlus-
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ses der männlichen Kreationsmetapher, die bei Valérys Apollo begegnet, so zuletzt
der surrealistische Akephalos; eine verbrecherische Dämonengottheit mit ihrer auf
Dauer gestellten Kastrationswunde am Ort der kreativen Kopfgeburt: der Kopflose.
Die monströse Weiblichkeit bildet aber nicht nur die Vorderseite einer paradoxen Selbstimagination, die den ‚kreatürlichen‘ Autor-Schöpfer in Gestalt des sterilen, dekadenten und blinden Vaters in den Text einlässt. Sie ist darüber hinaus
selbst beim skeptischen Bataille mit der Wunde im mütterlichen Nationalkörper
verklammert. Wie man inzwischen weiß, ist die kurze, stark autobiographische
Notiz »Notre-Dame de Rheims« der tatsächlich erste Text Batailles und stammt
vermutlich aus dem Jahr 1918. Darin formuliert der junge – und noch gläubige –
Bataille das persönliche Trauma aus, das er im Ersten Weltkrieg erlebt hatte: den
gefühlten Verrat am Vater, den er und seine Mutter in Reims auf der Flucht vor
den Deutschen zurück lassen mussten. Der Text ist über die biographische Anekdote hinaus signifikant, weil dort bereits und zum ersten Mal das Moment des
Geschlechts und der geschlechtlichen Wunde mit der Wunde, die in die Gemeinschaft geschlagen wird, assoziiert ist.
Dennis Hollier hebt hervor, wie an der christlichen Architektur und ihrem Verfall die mütterlich-nationale Fülle und deren Verletzung nachvollzogen sind.81 In
»Notre-Dame de Rheims« findet dies über die mehrfache Assoziation von Kathedrale, Muttergottes, der 1920 heilig gesprochenen Jeanne d’Arc und letztlich der
eigenen Mutter statt, die während der Abwesenheit von Reims dem Wahnsinn
verfällt. Im Regress auf die Zeit vor den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs imaginiert Bataille die Notre-Dame der Epoche Jeannes und damit der Königskrönung Karls als Zeit nationaler und religiöser Integrität und Intimität.
Et Notre-Dame la Vierge, sous sa haute couronne, au portail, était si royale et si maternelle qu’il fallait bien que tout son peuple de fidèles devint joyeux comme des en-
81 Hollier deutet die zentrale Beschreibung der Kathedrale als „imago maternelle restauratrice“ und
betont dabei, inwiefern die Kirche metonymisch für Frankreichs „corps glorieux, corps maternel
inentamé“ figuriert; Denis Hollier, La Prise de la Concorde, suivi de Les dimanches de la vie. Essais
sur Georges Bataille, Paris: Gallimard, 1993, S. 45 u. 47. Sie ist in diesem Sinne nicht nur „comme
toute maison un symbole du lieu prénatal“ (ebd., S. 47.), sondern auch Metapher des Nationalkörpers, dessen Vernichtung im Ersten Weltkrieg als fundamentale „coupure“ (ebd., S. 46) spürbar
bleibt. Die biographische Episode um den in Reims zu Tode kommenden Vater bildet den blinden Fleck des Textes, ist aber latent anwesend über die verheerende Wirkung der „guerre“ (= bataille) für Nation und Subjekt (Bataille). Der Text ist also nicht bewusst im Ödipuskomplex angekommen, sondern verharrt in der Latenz des schuldbeladenen „nom du père“: „On ne revient pas
sur le meurtre du père, mais sur lui se greffe maintenant une agression perpétrée contre le corps
maternel, matrice des églises, des cathédrales, des monuments. D’une certaine manière toute
l’œuvre de Bataille sera une réécriture de ce texte initial, une reprise de ce commencement, réécriture destinée à le démanteler, à extraire ses silences.“ Ebd., S. 51. Will man sich dieser psychologischen Interpretation anschließen, so führt die traumatische Erfahrung des ‚verwirklichten‘ Ödipuskomplexes – Bataille ‚tötet‘ den Vater und verlässt ihn mit der Mutter – in eine hysterisch wiederkehrende Struktur einer ruinösen Schrift.
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fants et comme des frères et toute la pierre était baignée de bonté maternelle et divine.82
Diese überaus romantische Vision83 besteht als mütterlicher Hoffnungsanker auch
in der Zeit der Zerstörung weiter: „je pensai que tant qu’elle durerait fût-elle en
ruine, il nous resterait une mère pour qui mourir“84. Nach dem Krieg bleibt die
Stadt allerdings – und mit ihr metonymisch Kathedrale und Nation – von den
Deutschen „mutilée“ zurück als „blessure qui meurtrissait le monde entier“85.
Der mütterliche Körper ist so beschädigt, dass er seiner Fruchtbarkeit verlustig
gegangen ist: „les portes closes, les cloches brisées, elle avait cessé de donner la
vie“86. Doch hat der Text Manifestcharakter; er ist ein Aufruf an die Jugend der
Haute-Auvergne – Batailles Heimat – den „cadavre“ Frankreichs wieder aufzurichten.
Abb. 3: Die Ruinen der 1914 zerstörten Kathedrale von Reims
82 Georges Bataille, »Notre-Dame de Rheims« [1918], in: G. B., Œuvres complètes, Bd. I, Paris: Gallimard, 1973, S. 611-616. Hier S. 612.
83 Vgl. zu Zerstörung und topographischem Kultur-Gedächtnis in der frühen und ausgehenden Romantik Barbara Vinken, »Zeichenspur, Wortlaut: Paris als Gedächtnisraum: Hugos À l’Arc de
Triomphe, Baudelaires Le Cygne«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hgg.): Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991, S. 231-262.
84 Bataille, »Notre-Dame de Rheims« (Anm. 82), S. 612.
85 Ebd., S. 614.
86 Ebd.
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Seulement il est une lumière qui est plus forte que la mort : la France. [...] Disloquée,
vide et défigurée, la Cathédrale est toujours de France. [...] Vous êtes ceux dont elle
attend le renouveau.87
Die religiöse und die nationale Mutter sind hier auf eine Art ineins gesetzt, die so
im Hauptwerk Batailles sicherlich keine Rolle spielt. Er wendet sich später auch in
seinem sakralsoziologischen Denken dezidiert vom Konzept der Nation ab.88 Michel Surya stellt deshalb weniger eine Verbindung zu dem Element der »NotreDame« her, das noch überdeutlich auf die Allegorie einer weiblichen „patrie“ ausgerichtet ist und das auch bei Claudel begegnet, als vielmehr zur Figur des in Reims
dem Tod überlassenen Vaters.89 Dennoch wird in Anschluss an und in Abgrenzung vom Renouveau catholique die Übertragung zwischen religiöser und nationaler communio auch hier deutlich. Mutter und Vater, die in der darauf folgenden
Literatur des sich vom Katholizismus abkehrenden Bataille immer wieder in Stadien des Verfalls oder Wahnsinns – als inzestuöse Mutter oder geschlechtskranker
Vater – auftauchen, bilden nichtsdestoweniger eine vom ödipalen Eros wie vom
modernen Thanatos beiderseits geschlagene, eigentümlich sterile Genealogie, die
individuelle aber eben auch in Teilen national- oder zumindest sozialallegorische
Züge trägt. Es verwundert daher kaum, dass der abjekte Surrealist Bataille den
Zwischenkriegs-Surrealismus nicht als Erfahrung der Fülle, sondern als Erfahrung
der mutilierten Gesellschaft der Moderne auffasst und dennoch mit dem melancholischen Begehren nach Entgrenzung in der Kontinutität verbindet: „le surréalisme ne peut avoir d’autre sens que de porter à leur extrême l’épuisement, le vide
et le désespoir qui donnent son sens le plus profond à l’existence mentale des sociétés modernes“90.
5. Schlussbemerkung
Sowohl anthropologisch als auch ästhetisch spielt die Kreuzung von Opfer und
Kreation in der Moderne eine maßgebliche Rolle als Metapher für Prozesse der
Gesellschaft, ihrer Krisen und Krisenbewältigung im rite de passage. Ästhetisch
mündet sie ein in die Vorstellung einer creatio ex sacrificio. Dabei wird eine Wiedergeburt, eine zweite Renaissance der Gesellschaft, der Nation, der Kunst oder
des Denkens beschworen, die von mortalistisch-vitalistischen Gewaltphantasien
und -inszenierungen der Jahrhundertwende ausgeht und sich in Mythologien der
blutigen oder erlösenden Erneuerung verwandelt. Die über Jahrhunderte hinweg
87 Ebd., S. 614 f.
88 „[E]n aucune manière il ne faut la confondre [la communauté des hommes] avec l’État, en aucune
manière, avec la nation“ ; Michel Surya, Georges Bataille, la mort à l’œuvre, Paris: Gallimard, 1987,
S. 249. Zur Ablehnung des Konzepts der Nation siehe außerdem Georges Bataille, »Propositions«
[1937], in: G. B., Œuvres complètes, Bd. I, Paris: Gallimard, 1973, S. 467-473. Hier S. 471.
89 Vgl. Surya, Georges Bataille (Anm. 88), S. 40.
90 Georges Bataille, »André Breton, Tristan Tzara, Paul Éluard« [1933], in: G. B., Œuvres complètes,
Bd. I, Paris: Gallimard, 1973, S. 323-325. Hier S. 325.
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virulente ästhetische Zeugungsmetapher gewinnt darin an zusätzlicher Dynamik
– als sakrifizielle Variante gründender Autorschaft oder positive wie negative
Sprechakte des Bekenntnisses. Sie beleuchtet, inwiefern gerade im anbrechenden
Zeitalter der Biopolitik die Krisensemantik von Jahrhundertwende und Zwischenkriegszeit ästhetische, geistige – und damit tendenziell männliche – Zeugung und
mit ihr die Dualitäten von Geist und Natur einerseits, bíos und Politik andererseits
neu konfiguriert. Von der aus der Dekadenz herausführenden Bewegung des Renouveau catholique bis zum surrealistischen Ritualisten Bataille begleitet das Opfer
diese Phase der Modernität in Frankreich. Christliche, antike und ‚primitive‘ Aspekte werden dabei vermengt und für nationalallegorische wie poetologische Projekte gleichermaßen ‚fruchtbar‘ gemacht.
Dennoch handelt es sich gerade nicht um positivierbare Phänomene literarischer ‚Wiedergeburt‘, auch wenn diese ‚Opfer‘ vielfach so gedeutet wurden. Vielmehr legen die ausgewählten Texte offen, wie Gemeinschaft oder künstlerische
Subjektivität im Rahmen einer modernen Phantasmagorie immer wieder gezeugt
werden wollen, und dennoch aus den Ruinen der Geschichte gerade nicht ohne
Weiteres wieder geboren werden können. Die sichtbar sterilen Opfergenealogien
der Moderne stehen nicht mehr im Zeichen euphorischer Produktivität. Denn,
wie Valéry 1917 zur verheerenden Schlacht von Verdun und dem Dichten der
Zwischenkriegszeit bemerkt: „Vint la guerre. [...] Je me flattais parfois en essayant
de me faire croire qu’il fallait au moins travailler pour notre langage, à défaut de
combattre pour notre terre ; dresser à cette langue un petit monument peut-être
funéraire [...]. [Q]ui croirait que tels vers ont été écrits dans ce temps par un homme
suspendu aux ‹ Communiqués ›, la pensée à Verdun et ne cessant d’y penser ?“91
91 Paul Valéry, »Lettre à Albert Mockel, 1917«, in: Valéry, Œuvres (Anm. 53), Bd. I, S. 1620-1622.
Hier S. 1620 f.
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