Academia.eduAcademia.edu

Ein Plädoyer für die Vielfalt

Grenze zwischen Berufs- und Privatleben im Wissenschaftsfeld

Die Arbeit der aids hilfe bern (ahbe) 2 zeichnet sich seit ihrer Gründung 1985 durch Vielfalt aus: Die Vielfalt an Zielgruppen, an Angeboten für Zielgruppen und Fachpersonen, an involvierten Mitarbeitenden und Chargierten, an Projekten oder an Öffentlichkeitsarbeit-zusammengefasst widerspiegeln diese Themenfelder, in denen sich die ahbe bewegt, die Reichhaltigkeit und Komplexität überhaupt von Menschen, der Hauptzielgruppe der ahbe. Einleitung HIV-Prävention und Förderung der (sexuellen) Gesundheit betreffen wichtige Bestandteile des Menschen und seiner Identität: Gesundheit, Krankheit, Körper, Sexualität. Eine Organisation mit den Kernthemen Prävention und Gesundheitsförderung muss, weil sie den gesamten Menschen im Fokus hat, mit einer entsprechend grossen Vielfalt umgehen. In der folgenden Analyse gehe ich der Frage nach, ob wir uns als ahbe dieser Vielfalt bewusst sind resp. ob wir bewusst mit der Vielfalt umgehen? Anhand unseres Regelangebotes, aber auch anhand konkreter Aktivitäten soll der Umgang mit Vielfalt aufgezeigt werden. Der Überblick weist zugleich auch auf Lücken und mangelhafte Anstrengungen hin. Erreichen wir mit unseren Massnahmen die Ziele: Neuinfektionen verhindern, chancengleicher Zugang zu Informationen ermöglichen, Lebensqualität von HIV-Betroffenen verbessern und für Solidarität mit Betroffenen einstehen? Privatwirtschaftliche Ansätze in einer Non-Profit-Organisation? Managing Diversity (MDI), der bewusste und gesteuerte Umgang mit Vielfalt also, ist ein Konzept aus den USA, das als Führungsinstrument die Privatwirtschaft seit den 1990er Jahren beeinflusst. Im deutschsprachigen Raum wird Diversity heute auf die Pluralitätsmerkmale Geschlecht, Kultur (Ethnizität, Migrationshintergrund), Alter, Behinderung und familiäre Situation (Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie) bezogen. 3 (z.B. Krell, 2008) Zentral bei MDI ist die Frage: Wie kann eine Firma Ressourcen 1 Dieser Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Version meines Artikels für den Jahresbericht 2007 der aids hilfe bern, erschienen im Mai 2008. 2 Die aids hilfe bern ist ein privatrechtlicher Verein mit dem Auftrag (Leistungsvertrag mit der Gesundheitsdirektion des Kantons Bern), im ganzen Kanton Bern Prävention und Beratung im Zusammenhang mit HIV/Aids zu leisten. 3 Sexuelle Orientierung gehört nicht mehr zum Standard, was hingegen in der Aids-Arbeit selbstverständlich ein zentrales Merkmal ist und bleibt. Ein Plädoyer für die Vielfalt-Managing Diversity in der aids hilfe bern Sibylle Vogt, November 2008 2 am effektivsten und effizientesten nutzen und einsetzen? Arbeitsteams sollen so zusammengesetzt werden, dass das Ziel bestmöglich erreicht werden kann oder dass ein neu lanciertes Produkt auch tatsächlich das relevante Kundensegment anzusprechen vermag. (z.B. Jent, 2007) Zunehmend übernehmen Non-Profit-Organisationen oder die Verwaltung diese Führungskonzepte und-instrumente. Jede Organisation sieht sich konfrontiert mit der Diversität ihrer Mitarbeitenden resp. ihrer Zielgruppen. MDI integriert Konzepte wie Gleichstellung und Chancengleichheit, Förderung individueller Kompetenzen, Antidiskriminierung, Frauenförderung oder familienbewusste Personalpolitik in ein einziges Konzept (Döge, 2008). Dies sind auch bei der ahbe wichtige Konzepte, da es gilt, allen Personen auf ihre Bedürfnisse und Lebenswelten zugeschnittene Informationen und Beratungen anzubieten.

Fachartikel zur Erlangung des CAS 3 (Certificate of Advanced Studies): Transcultural Skills im Rahmen des MAS Master of Advanced Studies in Managing Diversity (MDI). Das MAS-Programm Managing Diversity ist ein Kooperationsangebot der CARITAS Schweiz und der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit Ein Plädoyer für die Vielfalt Gesundheit und Managing Diversity Eine Analyse der aids hilfe bern hinsichtlich ihres Umganges mit Vielfalt Sibylle Vogt, Bern 24. November 2008 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Ein Plädoyer für die Vielfalt1 Die Arbeit der aids hilfe bern (ahbe)2 zeichnet sich seit ihrer Gründung 1985 durch Vielfalt aus: Die Vielfalt an Zielgruppen, an Angeboten für Zielgruppen und Fachpersonen, an involvierten Mitarbeitenden und Chargierten, an Projekten oder an Öffentlichkeitsarbeit – zusammengefasst widerspiegeln diese Themenfelder, in denen sich die ahbe bewegt, die Reichhaltigkeit und Komplexität überhaupt von Menschen, der Hauptzielgruppe der ahbe. Einleitung HIV-Prävention und Förderung der (sexuellen) Gesundheit betreffen wichtige Bestandteile des Menschen und seiner Identität: Gesundheit, Krankheit, Körper, Sexualität. Eine Organisation mit den Kernthemen Prävention und Gesundheitsförderung muss, weil sie den gesamten Menschen im Fokus hat, mit einer entsprechend grossen Vielfalt umgehen. In der folgenden Analyse gehe ich der Frage nach, ob wir uns als ahbe dieser Vielfalt bewusst sind resp. ob wir bewusst mit der Vielfalt umgehen? Anhand unseres Regelangebotes, aber auch anhand konkreter Aktivitäten soll der Umgang mit Vielfalt aufgezeigt werden. Der Überblick weist zugleich auch auf Lücken und mangelhafte Anstrengungen hin. Erreichen wir mit unseren Massnahmen die Ziele: Neuinfektionen verhindern, chancengleicher Zugang zu Informationen ermöglichen, Lebensqualität von HIV-Betroffenen verbessern und für Solidarität mit Betroffenen einstehen? Privatwirtschaftliche Ansätze in einer Non-Profit-Organisation? Managing Diversity (MDI), der bewusste und gesteuerte Umgang mit Vielfalt also, ist ein Konzept aus den USA, das als Führungsinstrument die Privatwirtschaft seit den 1990er Jahren beeinflusst. Pluralitätsmerkmale Im deutschsprachigen Geschlecht, Kultur Raum (Ethnizität, wird Diversity heute auf Migrationshintergrund), die Alter, Behinderung und familiäre Situation (Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie) bezogen.3 (z.B. Krell, 2008) Zentral bei MDI ist die Frage: Wie kann eine Firma Ressourcen 1 Dieser Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Version meines Artikels für den Jahresbericht 2007 der aids hilfe bern, erschienen im Mai 2008. 2 Die aids hilfe bern ist ein privatrechtlicher Verein mit dem Auftrag (Leistungsvertrag mit der Gesundheitsdirektion des Kantons Bern), im ganzen Kanton Bern Prävention und Beratung im Zusammenhang mit HIV/Aids zu leisten. 3 Sexuelle Orientierung gehört nicht mehr zum Standard, was hingegen in der Aids-Arbeit selbstverständlich ein zentrales Merkmal ist und bleibt. Sibylle Vogt, November 2008 1 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern am effektivsten und effizientesten nutzen und einsetzen? Arbeitsteams sollen so zusammengesetzt werden, dass das Ziel bestmöglich erreicht werden kann oder dass ein neu lanciertes Produkt auch tatsächlich das relevante Kundensegment anzusprechen vermag. (z.B. Jent, 2007) Zunehmend übernehmen Non-Profit-Organisationen oder die Verwaltung diese Führungskonzepte und -instrumente. Jede Organisation sieht sich konfrontiert mit der Diversität ihrer Mitarbeitenden resp. ihrer Zielgruppen. MDI integriert Konzepte wie Gleichstellung und Chancengleichheit, Förderung individueller Kompetenzen, Antidiskriminierung, Frauenförderung oder familienbewusste Personalpolitik in ein einziges Konzept (Döge, 2008). Dies sind auch bei der ahbe wichtige Konzepte, da es gilt, allen Personen auf ihre Bedürfnisse und Lebenswelten zugeschnittene Informationen und Beratungen anzubieten. Perspektiven einnehmen, wechseln und erweitern Die Arbeit der Aids-Hilfen zeichnet sich seit jeher durch eine grosse Vielfalt an Zielgruppen, Themen und Strategien aus. In den 25 Jahren Aids-Arbeit haben Aids-Hilfen ihre Perspektiven laufend angepasst und erweitert. Neuerkenntnisse aus der Forschung oder die Entwicklungen der Prävalenz und Inzidenz steuern die Aufträge der Aids-Hilfen. Eine der wichtigsten Ressourcen unserer Arbeit sind stets die Zielgruppen selbst: Aus deren Verhaltensweisen, Bedürfnissen und Lebenssituation leiten wir Präventionsbotschaften, Forschungsinhalte und Beratungsschwerpunkte ab. Eine der Hauptaufgaben in der AidsArbeit ist demnach, die Perspektiven der jeweiligen Zielgruppen und weiteren Anspruchspersonen einnehmen zu können: Wie nehmen wir unsere Zielgruppen wahr? Wie nehmen Zielgruppen Tabuthemen oder eine HIV-Infektion wahr? Sind wir ausreichend mit den Lebenswelten unserer Zielgruppen vertraut, um in adäquater Weise auf sie zugehen zu können? Anhand des migrationsspezifischen Präventionsprojekts der ahbe, Multicolore, soll gezeigt werden, wie wichtig der Perspektivenwechsel in unserer Arbeit sein kann. Multicolore ist seit Anfang 2007 tatsächlich „mehrfarbig“ (also multi-ethnisch), wohingegen es in den ersten fünf Jahren eine Gruppe von ausschliesslich afrikanischen MediatorInnen gewesen ist. Allein durch die herkunftsbezogene Durchmischung entsteht eine neue Gruppendynamik – sei es auf der sprachlichen-kommunikativen Ebene oder auf der soziokulturellen Ebene: Lernen voneinander, lernen von den unterschiedlichen Sicht- und Lebensweisen. So hat das Thema Aids in der Türkei einen anderen Stellenwert als in afrikanischen Ländern. Die MediatorInnen eignen sich über den Wissens- und Erfahrungszuwachs auch neue Formen der Kommunikation und des Umgangs mit ihren Zielgruppen an, überprüfen aber auch ihre bisherigen Haltungen. Sie nehmen verschiedene Perspektiven auf ihre Zielgruppen ein, erkennen neue Merkmale derer Vielfalt und beziehen sie in die Präventionsarbeit mit ein. Sibylle Vogt, November 2008 2 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Insbesondere für die wiederkehrende Herausforderung, wie Multicolore die Zielgruppen am besten erreichen kann, wirkt die erweiterte Vielfalt in der Projektgruppe bereichernd oder in den Worten von Peter Döge (2008): Heterogen zusammengesetzte Teams bilden neue Synergien von Talenten und Fähigkeiten (Kreativität und Innovation bezüglich den Präventionsmethoden und -materialien werden gesteigert) und etablieren komplexere Problemlösungsstrategien (Wie können wir mit der Präventionsbotschaft an schwer erreichbare Zielgruppen gelangen?) und offenere Kommunikationskulturen (Die im Team erworbenen erweiterten Kommunikationskompetenzen können auch gegenüber den Zielgruppen angewandt werden).4 (S. 8) Die Nähe zu unseren Anspruchsgruppen Wir müssen ständig überprüfen, wie nahe wir an unseren KundInnen sind und wie wir deren Lebenswelt am besten verstehen lernen können. Das hat einerseits viel mit Aneignung von Wissen und mit Wissenstransfer zwischen Zielgruppe und Fachstelle zu tun: Sind wir mit den relevanten Personen und Fachstellen vernetzt, um diesen Transfer zu gewährleisten? Bemühen wir uns um adäquate Fortbildungen für das Team? Ist der interne Informationsfluss zwischen den Mitarbeitenden sicher gestellt? Jede Begegnung mit der Zielgruppe – sei es in der Beratung oder in der Prävention – lässt uns selbst Erkenntnisse gewinnen für unsere Arbeit. Andererseits kann die Nähe zur Zielgruppe auch dadurch optimiert werden, indem das Team und der Vereinsvorstand der ahbe die Vielfalt der Zielgruppen abbilden. Somit ist der Transfer der Erfahrungen und der Erkenntnisse, gewonnen aus ‚persönlicher Betroffenheit’, ins Team gewährleistet, sofern es die Organisationsstrukturen auch bewusst zulassen: Ein homosexueller Mann macht Prävention bei MSM5, eine Fachfrau und ein Fachmann ermöglichen die geschlechtsspezifische Präventionsarbeit bei Jugendlichen, die ahbe erlangt über das MediatorInnenteam von Multicolore einen Zugang zu MigrantInnengruppen, die wichtigsten Zielgruppen der Aids-Arbeit sind mit den Mitgliedern im Vorstand vertreten. Besonderes Augenmerk gilt der Zusammenarbeit mit HIV-Betroffenen. Die Schweiz hat sich dazu verpflichtet, HIV-Positive in die Aids-Arbeit zu integrieren und deren Ressourcen gezielt zu nutzen. Diese Absichtserklärung wurde 2001 offiziell mit der Unterzeichnung einer Deklaration der UNAIDS (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS) bekräftigt. Die Deklaration verlangt eine Aids-Arbeit nach den sogenannten GIPA-Prinzipien (Greater Involvement of People living with HIV and AIDS), also Menschen mit HIV u.a. bei 4 5 Mit den in Klammern gesetzten persönlichen Kommentare schaffe ich Bezug zu meiner Arbeit in der ahbe. Die gängige Abkürzung für „Men having Sex with Men“. Die Gruppe von homosexuellen Männern wurde erweitert mit Männern, die sexuelle Kontakte pflegen, ohne eine Identität als homosexueller Mann zu haben/haben zu wollen. (vgl. Aids-Hilfe Schweiz, 2008, gefunden am 22.11.2008 unter http://www.aids.ch) Sibylle Vogt, November 2008 3 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Entscheidungen und deren Implementierungen im politischen, strategischen und operativen Bereich miteinzubeziehen. (UNAIDS, gefunden am 24.11.2008 unter http://www.unaids.org/en/PolicyAndPractice/GIPA/default.asp) Das kann auf strategischer Ebene heissen, HIV-positive (Fach-) Personen in den Vorstand zu wählen oder bei Projektentwicklungen mit einer Betroffenengruppe zusammen Ziele und Massnahmen zu definieren. Auf operativer Ebene kann GIPA bedeuten, spezifische Angebote für HIVbetroffene Menschen anzubieten (bei der ahbe z.B. die einmal monatlich stattfindende Gesprächsgruppe für HIV-positive Menschen) und als Mitarbeitende der Organisation einzubinden resp. anzustellen (bei der ahbe z.B. das Projekt „Positiv Sprechen“6). Die eigene Betroffenheit als Gütesiegel? Es ist wichtig, zwischen notwendigen Voraussetzungen und darüber hinaus gewinnbringenden Merkmalen zu unterscheiden (Jent, 2007). Eine HIV-positive Frau macht nicht per se bessere Beratungsarbeit, weil sie selbst betroffen ist. Erfüllt sie aber die erforderlichen Kriterien wie Ausbildung, Erfahrung und Teamfähigkeit, dann ist ihre eigene Betroffenheit ein wesentliches zusätzliches Qualitätsmerkmal, das es zu nutzen und zu fördern gilt (dies entspricht den sogenannten komparativen Kompetenzen nach Jent, 2007). Umgekehrt liegt es an uns Fachstellen, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass noch fehlende ‚Muss’-Qualifikationen bei gleichzeitigem Vorhandensein profitabler Zusatzmerkmale angeeignet werden können (Weiterbildungen ermöglichen; zeitliche und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen für eine enge Einarbeitung und Begleitung z.B. mittels MentorIn-Mentee-Prinzip; Praktika anbieten; Sprachkompetenzen fördern durch übersetztes Fachmaterial oder durch Sprachkurse). Ganz im Sinne einer Chancengleichheit beim Zugang zu Arbeit, Status und Kompetenzen fördern wir dadurch die Partizipation der Zielgruppen an unserer Arbeit. Doch auch wir müssen Wirtschaftlichkeit und Pragmatismus im Auge behalten: Grenzen dort setzen, wo die Qualität gefährdet werden könnte; Grenzen dort auflösen, wo sie Potentiale auszuschöpfen verhindern. In der migrationsspezifischen Arbeit der ahbe beschäftigt momentan die Frage, wie wir SubSahara MigrantInnen mit unseren Angeboten anzusprechen vermögen. In vielen afrikanischen Kulturen sind Krankheit, Tod oder Sexualität tabuisiert. Aids beinhaltet nun aber alle diese Themen und wird folgedessen stark tabuisiert. Aids ist ein Stigma, HIVpositive Menschen werden stigmatisiert. Dies manifestiert sich u.a. mit dem Ausschluss aus 6 „Positiv Sprechen“ ist ein Projekt mit HIV-positiven sogenannten SprecherInnen, also Menschen, die sich für Gespräche, Diskussionen und Interviews zur Verfügung stellen und über ihr Leben mit einer HIV-Infektion Auskunft geben. Das Projekt wird vor allem von Schulen genutzt im Rahmen ihrer Aufklärungs- / Präventionsunterrichtssequenzen. Für die HIV-positiven SprecherInnen ist es eine grosse Leistung, sich immer wieder in der Öffentlichkeit zu ‚outen’. Sie berichten aber auch von einer Erleichterung, durch das Projekt gelernt zu haben, über ihre Lebenswelt sprechen zu können. Sibylle Vogt, November 2008 4 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern der sozialen Gruppe, was ein Individuum in kollektivistisch organisierten Gesellschaften besonders hart trifft. Aus Angst vor diesen Stigmatisierungen verschweigen viele HIVpositive Menschen ihre Infektion oder sie wollen keinen HIV-Test machen, um gar nicht erst konfrontiert zu werden mit der Möglichkeit einer HIV-Infektion und deren psychosozialen Folgen. Die Mehrheit der HIV-positiven Sub-Sahara MigrantInnen, welche die Beratung der ahbe beanspruchen, erzählen häufig keiner nahestehenden Person von ihrer Infektion. Zu gross ist die Angst, dass dieses ‚Geheimnis’ in der Community herumgereicht wird. Die Folge wäre, von der Community geächtet zu werden. Die Community bedeutet jedoch die einzige Bezugsgruppe auch im Exilleben – sie übernimmt in ähnlicher Art und Weise die Funktion der Familie in den Herkunftsländern. (Zuppinger et al., 2000) Für die Beratungsarbeit der ahbe bedeutet dies, immer wieder die absolute Diskretion und die Schweigepflicht zu betonen. Gleichzeitig stellt sich die Frage auch nicht, die Beratungen durch eine Migrantin / einen Migranten afrikanischer Herkunft abzudecken. Hier können und wollen wir also die Zielgruppe nicht abbilden, im Gegenteil: Es ist wichtig, den betroffenen AfrikanerInnen einen Raum zu geben, wo sie sich absolut sicher fühlen. Das ist gewährleistet, wenn die beratende Person nicht aus demselben Kulturkreis kommt. In der Präventionsarbeit hat Multicolore die Möglichkeit, Prävention bei afrikanischen MigrantInnen mit einem ethnisch gemischten Team zu leisten. Eine doppelte Stigmatisierung (afrikanische Herkunft = HIV-positiv) afrikanischer MigrantInnen können wir hiermit vermeiden (und erreichen so vielleicht auch mehr Personen). Wir signalisieren, dass HIV/Aids Menschen jeglicher Herkunft betreffen kann. Gleichzeitig öffnen uns die afrikanischen MediatorInnen von Multicolore Türen, um überhaupt in die afrikanische Community Eintritt zu finden. Dort nutzen wir bewusst die Nähe zur Zielgruppe und bilden sie im Projektteam ab. Trotz Sensibilität und Bemühungen in unserer Arbeit stossen wir doch immer wieder an Grenzen. Einige Zielgruppenpersonen verschliessen sich der Prävention oder den Beratungsangeboten. Manchmal müssen wir wohl respektieren, dass jeder urteilsfähige Mensch selbst über seine Gesundheit und seinen Umgang mit Risiken entscheidet. Diese Grenze setzt sich jeder Mensch selbst. Auch auf diese – aus unserer Perspektive – destruktive, kontraproduktive Art und Weise (Aids verleugnen, keine präventive Massnahmen umsetzen, keine HIV-Tests nach Risiken machen, Beratung oder Therapie ablehnen o.a.) manifestiert sich die Vielfalt unserer Gesellschaft. Integration der Vielfalt MDI ist ein ideales Instrument der Organisationsentwicklung, wenn es um die Integration ganz im allgemeinen Sinn von Arbeitskraft, Arbeitsinstrumenten oder Policies im Arbeitsablauf geht. Es dreht sich stets um die Frage, wie wir unser Ziel am besten erreichen können, welche Ressourcen vorhanden und nutzbar sind, welche neu beigezogen werden Sibylle Vogt, November 2008 5 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern sollen. Das bedingt auch, dass sich die strukturellen Grenzen einer Organisation öffnen und nicht-normentsprechenden Gruppen Zugang zur Organisation ermöglicht wird – eine Integration von Andersartigkeiten gefördert wird. (z.B. Krell, 2008) Integration muss ein wechselseitiger Prozess sein und darf nicht als einseitiger Prozess der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Erst durch die Integration von Vielfalt zu einem neuen Ganzen schöpfen wir menschliche Ressourcen aus. Gerade (demokratisch geführte) heterogene Teams zeichnen sich durch kreative und vor allem tragfähige Entscheide und Arbeitsweisen aus. (z.B. Jent, 2007) In welchen Bereichen hat sich die Organisation der ahbe geöffnet? Ein Konzept zur transkulturellen Entwicklung besteht seit 2003 (Oswald, 2003). Dort festgehalten ist, dass Migration als Mainstreamthema in alle Angebote, Konzepte und Leitbilder einzufliessen hat oder dass das ahbe-Team sich regelmässig hinsichtlich der transkulturellen Kompetenzen weiterbildet. Seit 2006 arbeiten wir zusammen mit der Stiftung Terra Vecchia, Integrationsprogramm Arbeit (IPA), und integrieren einen IV-Rentenbezüger während eines Wochentags in unsere Arbeit. Wir bieten dieser Person die Chance, in einem realen Umfeld mit enger Begleitung eine Arbeit zu verrichten. Die ahbe profitiert umgekehrt von zusätzlichen personellen Ressourcen, um die ständig wachsenden Aufgaben im administrativen Bereich erledigen zu können. Seit einiger Zeit können Studierende der Fachhochschule Nordwestschweiz, Soziale Arbeit, ein halbjähriges Praktikum bei der ahbe leisten. Und seit Januar 2008 führt eine Mediatorin von Multicolore das niedrigschwellige HIV-Test-Angebot (beinhaltet auch individuelle und tiefenwirksame Beratung) für Asylsuchende und Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus auf unserer Geschäftsstelle aus. Dies sind einige Beispiele unserer Organisationsöffnung. Es ist gegenseitiges Lernen von unterschiedlichen Biographien, Lebenswelten und Kompetenzen. Perspektiven werden gewechselt, die eigenen Grenzen werden sichtbarer und können gerade dadurch durchlässiger gestaltet werden. Die Integration von verschiedenen Lebenswelten geschieht beim gemeinsamen Arbeiten. Die Vielfalt der ahbe – vielfältig genug? MDI wird primär nicht an fehlenden finanziellen und personellen Ressourcen scheitern: Perspektivenerweiterung, Grenzwahrnehmungen und die Integration der Vielfalt in die Organisation sind vielmehr eine Frage unserer Einstellungen und unseres Willens, sich der Vielfalt gegenüber zu öffnen! Auch wenn unsere Produkte, die angesprochenen Zielgruppen und Fachpersonen sowie die Teamzusammensetzung mannigfaltig sind, Handlungsbedarf und Entwicklungspotential bestehen laufend. Einige Herausforderungen seien – nicht abschliessend – nachfolgend angeführt. Sibylle Vogt, November 2008 6 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Wir sind immer darauf angewiesen, dass unsere Angebote gefragt sind und wir sie umsetzen können. Diesbezüglich mussten wir doch immer wieder ‚Leerläufe’ verzeichnen und uns die Frage stellen, ob wir an den Bedürfnissen von Anspruchsgruppen vorbei planten. Da empfiehlt es sich, vermehrt die Kooperation mit anderen Organisationen zu suchen und gemeinsame Produkte zu entwickeln7 oder dann die Themen HIV/Aids und sexuelle Gesundheit in bestehende Angebote (LehrerInnenfortbildung, Bildungsinstitute, Fachtagungen oder Kursangebote) zu platzieren versuchen. Wir stellen externen Fachstellen unsere Kompetenzen – Know-how in der transkulturellen Arbeit, in Fragen zu schwuler Lebensweise und Coming-out oder bezüglich zielgruppenadäquater Methodik/Didaktik – noch ungenügend zur Verfügung. Die Partizipation der Zielgruppen bei der (Weiter-) Entwicklung von Produkten muss konsequenter miteinbezogen werden. Deren Ressourcen liegen oft brach. Die Rückmeldungen aus den Anspruchsgruppen sind mitunter die wertvollsten Hinweise auf die Qualität unserer Arbeit. Wir verwenden seit November 2008 neue Qualitätserfassungsinstrumente, die wir jeweils für die unterschiedlichen Anspruchsgruppen entwickelt haben. Auch innerhalb des Teams müssen wir bemüht sein, den Informationsfluss inhaltlicher und organisatorischer Art bewusst transparent und die Synergien nutzend zu gestalten. Das Team bildet die Hauptzielgruppen – Migration ausgenommen8 – gut ab. Erstmals wird nun ein Migrant erster Generation Einsitz in den Vereinsvorstand nehmen, womit die Vielfalt unserer Hauptanspruchsgruppen auch im obersten Organ gut abgedeckt ist. Gelebtes Managing Diversity Der Abschluss dieser Analyse bildet ein für mich eindrückliches Beispiel eines Perspektivenwechsels und einer Einstellungsänderung – einer gelebten Vielfalt eben: Im Rahmen meines Nachdiplomstudiums in „Managing Diversity“ führte ich ein Gespräch mit einem türkischen Migranten in der Schweiz über seine Einstellung zu männlicher Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Liebe.9 Die Fragestellung war, ob und wie sich seine Einstellung zu männlicher Homosexualität nach der Migration in die Schweiz veränderte. In der Türkei, so berichtete mir der Mann, hätte er 7 Wie dies im Frühling 2007 mit der Impulstagung „Gefühlsgewitter“ mit dem Fachbereich Sexualpädagogik der Berner Gesundheit geschehen ist. 8 Bisher bewarb sich niemand mit Migrationshintergrund. Da müssten sicher unsere Stellenausschreibungen überprüft werden. 9 Zertifikatsarbeit im Rahmen des Nachdiplomstudiums Managing Diversity an der Hochschule Luzern mit dem Titel: „Oh, wenn er schwul ist, lass ihn heiraten“ – Wie können sich Einstellungen zu männlicher Homosexualität bei Türken ändern, nachdem sie in die Schweiz migriert sind? Ein Fallbeispiel eines türkischen Migranten in der Schweiz.“ Sibylle Vogt, November 2008 7 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Homosexualität als Krankheit, als gefährlich und abnormal betrachtet. Dies drückte sich nicht zuletzt aus in Handgreiflichkeiten gegenüber Männern aus, die Sex mit Männern hatten. Er übernahm die gesellschaftskonforme homophobe Haltung, wie sie in der von Religion und rigiden Geschlechterrollenverständnis geprägten Gesellschaft gefordert wurde. Er selbst war Menschenrechtsaktivist und verliess die Türkei wegen politischer Verfolgung. In der Schweiz realisierte er im Austausch mit türkischen Menschenrechtsgruppen, dass genauso wie Religions- oder Meinungsfreiheit auch jedem Mensch das Recht zusteht, seine Sexualität frei zu wählen und zu leben. Über die Menschenrechtsdebatte also legte der unterdessen eingebürgerte Türke seine homophobe Einstellung ab und lernte gleichgeschlechtliche Liebe als eine unter vielen Lebensformen zu akzeptieren. Dieses Lehrbeispiel zeigt, wie das Überschreiten einer Grenze (hier der Landesgrenze) einen Perspektivenwechsel ausgelöst hat und wie die neuen Perspektiven in die eigene Haltung integriert werden konnten. Sibylle Vogt, November 2008 8 Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern Quellenverzeichnis Aids-Hilfe Schweiz (ohne Datum). Homepage der Aids-Hilfe Schweiz. Gefunden am 22.11.2008 unter http://www.aids.ch Döge, Peter (2008). Von der Antidiskriminierung zum Diversity-Management. Ein Leitfaden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Jent, Nils (2007). Diversity und Antidiskriminierung. Einführungsreferat von Dr. Nils Jent. St. Gallen: I.FPM Universität St. Gallen. Krell, Gertraude (Hrsg.) (20085). Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen. Wiesbaden: Gabler Verlag. Krell, Gertraude (2008). Diversity Management: Chancengleichheit für alle und auch als Wettbewerbsfaktor. In Gertraude Krell (Hrsg.). Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen (5. Auflage) (S. 63-80). Wiesbaden: Gabler Verlag. Oswald, Franziska (2003). Transkulturelle Entwicklung der aids hilfe bern. Bern: Internes Konzept der aids hilfe bern. UNAIDS (ohne Datum). Greater involvement of people living with or affected by HIV/AIDS (GIPA). Declaration of Commitment on HIV/AIDS. Gefunden am 24.11.2008 unter http://www.unaids.org/en/PolicyAndPractice/GIPA/default.asp Vogt, Sibylle (2007). „Oh, wenn er schwul ist, lass ihn heiraten“ – Wie können sich Einstellungen zu männlicher Homosexualität bei Türken ändern, nachdem sie in die Schweiz migriert sind? Ein Fallbeispiel eines türkischen Migranten in der Schweiz. Bern/Luzern Unveröffentlichte Zertifikatsarbeit im Rahmen des Nachdiplomstudiums Managing Diversity an der Hochschule Luzern / Soziale Arbeit. Zuppinger, B.; Kopp, Ch. & Wicker, H.-R. (2000). Interventionsplan HIV/Aids-Prävention bei Sub-Sahara MigrantInnen. Bern: Institut für Ethnologie, Universität Bern. Sibylle Vogt, November 2008 9