Fachartikel zur Erlangung des CAS 3 (Certificate of Advanced Studies):
Transcultural Skills
im Rahmen des MAS Master of Advanced Studies in Managing Diversity (MDI).
Das MAS-Programm Managing Diversity ist ein Kooperationsangebot der
CARITAS Schweiz und der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Ein Plädoyer für die Vielfalt
Gesundheit und Managing Diversity
Eine Analyse der aids hilfe bern
hinsichtlich ihres Umganges mit Vielfalt
Sibylle Vogt, Bern
24. November 2008
Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Ein Plädoyer für die Vielfalt1
Die Arbeit der aids hilfe bern (ahbe)2 zeichnet sich seit ihrer Gründung 1985 durch
Vielfalt aus: Die Vielfalt an Zielgruppen, an Angeboten für Zielgruppen und
Fachpersonen, an involvierten Mitarbeitenden und Chargierten, an Projekten oder an
Öffentlichkeitsarbeit – zusammengefasst widerspiegeln diese Themenfelder, in denen
sich die ahbe bewegt, die Reichhaltigkeit und Komplexität überhaupt von Menschen,
der Hauptzielgruppe der ahbe.
Einleitung
HIV-Prävention und Förderung der (sexuellen) Gesundheit betreffen wichtige Bestandteile
des Menschen und seiner Identität: Gesundheit, Krankheit, Körper, Sexualität. Eine
Organisation mit den Kernthemen Prävention und Gesundheitsförderung muss, weil sie den
gesamten Menschen im Fokus hat, mit einer entsprechend grossen Vielfalt umgehen. In der
folgenden Analyse gehe ich der Frage nach, ob wir uns als ahbe dieser Vielfalt bewusst sind
resp. ob wir bewusst mit der Vielfalt umgehen? Anhand unseres Regelangebotes, aber auch
anhand konkreter Aktivitäten soll der Umgang mit Vielfalt aufgezeigt werden. Der Überblick
weist zugleich auch auf Lücken und mangelhafte Anstrengungen hin. Erreichen wir mit
unseren Massnahmen die Ziele: Neuinfektionen verhindern, chancengleicher Zugang zu
Informationen ermöglichen, Lebensqualität von HIV-Betroffenen verbessern und für
Solidarität mit Betroffenen einstehen?
Privatwirtschaftliche Ansätze in einer Non-Profit-Organisation?
Managing Diversity (MDI), der bewusste und gesteuerte Umgang mit Vielfalt also, ist ein
Konzept aus den USA, das als Führungsinstrument die Privatwirtschaft seit den 1990er
Jahren
beeinflusst.
Pluralitätsmerkmale
Im
deutschsprachigen
Geschlecht,
Kultur
Raum
(Ethnizität,
wird
Diversity
heute
auf
Migrationshintergrund),
die
Alter,
Behinderung und familiäre Situation (Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie)
bezogen.3 (z.B. Krell, 2008) Zentral bei MDI ist die Frage: Wie kann eine Firma Ressourcen
1
Dieser Text ist eine überarbeitete und aktualisierte Version meines Artikels für den Jahresbericht 2007 der aids
hilfe bern, erschienen im Mai 2008.
2
Die aids hilfe bern ist ein privatrechtlicher Verein mit dem Auftrag (Leistungsvertrag mit der Gesundheitsdirektion
des Kantons Bern), im ganzen Kanton Bern Prävention und Beratung im Zusammenhang mit HIV/Aids zu leisten.
3
Sexuelle Orientierung gehört nicht mehr zum Standard, was hingegen in der Aids-Arbeit selbstverständlich ein
zentrales Merkmal ist und bleibt.
Sibylle Vogt, November 2008
1
Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
am effektivsten und effizientesten nutzen und einsetzen? Arbeitsteams sollen so
zusammengesetzt werden, dass das Ziel bestmöglich erreicht werden kann oder dass ein
neu lanciertes Produkt auch tatsächlich das relevante Kundensegment anzusprechen
vermag. (z.B. Jent, 2007)
Zunehmend
übernehmen
Non-Profit-Organisationen
oder
die
Verwaltung
diese
Führungskonzepte und -instrumente. Jede Organisation sieht sich konfrontiert mit der
Diversität ihrer Mitarbeitenden resp. ihrer Zielgruppen. MDI integriert Konzepte wie
Gleichstellung
und
Chancengleichheit,
Förderung
individueller
Kompetenzen,
Antidiskriminierung, Frauenförderung oder familienbewusste Personalpolitik in ein einziges
Konzept (Döge, 2008). Dies sind auch bei der ahbe wichtige Konzepte, da es gilt, allen
Personen auf ihre Bedürfnisse und Lebenswelten zugeschnittene Informationen und
Beratungen anzubieten.
Perspektiven einnehmen, wechseln und erweitern
Die Arbeit der Aids-Hilfen zeichnet sich seit jeher durch eine grosse Vielfalt an Zielgruppen,
Themen und Strategien aus. In den 25 Jahren Aids-Arbeit haben Aids-Hilfen ihre
Perspektiven laufend angepasst und erweitert. Neuerkenntnisse aus der Forschung oder die
Entwicklungen der Prävalenz und Inzidenz steuern die Aufträge der Aids-Hilfen. Eine der
wichtigsten Ressourcen unserer Arbeit sind stets die Zielgruppen selbst: Aus deren
Verhaltensweisen, Bedürfnissen und Lebenssituation leiten wir Präventionsbotschaften,
Forschungsinhalte und Beratungsschwerpunkte ab. Eine der Hauptaufgaben in der AidsArbeit
ist
demnach,
die
Perspektiven
der
jeweiligen
Zielgruppen
und
weiteren
Anspruchspersonen einnehmen zu können: Wie nehmen wir unsere Zielgruppen wahr? Wie
nehmen Zielgruppen Tabuthemen oder eine HIV-Infektion wahr? Sind wir ausreichend mit
den Lebenswelten unserer Zielgruppen vertraut, um in adäquater Weise auf sie zugehen zu
können?
Anhand des migrationsspezifischen Präventionsprojekts der ahbe, Multicolore, soll gezeigt
werden, wie wichtig der Perspektivenwechsel in unserer Arbeit sein kann. Multicolore ist seit
Anfang 2007 tatsächlich „mehrfarbig“ (also multi-ethnisch), wohingegen es in den ersten fünf
Jahren eine Gruppe von ausschliesslich afrikanischen MediatorInnen gewesen ist. Allein
durch die herkunftsbezogene Durchmischung entsteht eine neue Gruppendynamik – sei es
auf der sprachlichen-kommunikativen Ebene oder auf der soziokulturellen Ebene: Lernen
voneinander, lernen von den unterschiedlichen Sicht- und Lebensweisen. So hat das Thema
Aids in der Türkei einen anderen Stellenwert als in afrikanischen Ländern. Die MediatorInnen
eignen sich über den Wissens- und Erfahrungszuwachs auch neue Formen der
Kommunikation und des Umgangs mit ihren Zielgruppen an, überprüfen aber auch ihre
bisherigen Haltungen. Sie nehmen verschiedene Perspektiven auf ihre Zielgruppen ein,
erkennen neue Merkmale derer Vielfalt und beziehen sie in die Präventionsarbeit mit ein.
Sibylle Vogt, November 2008
2
Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Insbesondere für die wiederkehrende Herausforderung, wie Multicolore die Zielgruppen am
besten erreichen kann, wirkt die erweiterte Vielfalt in der Projektgruppe bereichernd oder in
den Worten von Peter Döge (2008): Heterogen zusammengesetzte Teams bilden neue
Synergien von Talenten und Fähigkeiten (Kreativität und Innovation bezüglich den
Präventionsmethoden und -materialien werden gesteigert) und etablieren komplexere
Problemlösungsstrategien (Wie können wir mit der Präventionsbotschaft an schwer
erreichbare Zielgruppen gelangen?) und offenere Kommunikationskulturen (Die im Team
erworbenen erweiterten Kommunikationskompetenzen können auch gegenüber den
Zielgruppen angewandt werden).4 (S. 8)
Die Nähe zu unseren Anspruchsgruppen
Wir müssen ständig überprüfen, wie nahe wir an unseren KundInnen sind und wie wir deren
Lebenswelt am besten verstehen lernen können. Das hat einerseits viel mit Aneignung von
Wissen und mit Wissenstransfer zwischen Zielgruppe und Fachstelle zu tun: Sind wir mit den
relevanten Personen und Fachstellen vernetzt, um diesen Transfer zu gewährleisten?
Bemühen wir uns um adäquate Fortbildungen für das Team? Ist der interne Informationsfluss
zwischen den Mitarbeitenden sicher gestellt? Jede Begegnung mit der Zielgruppe – sei es in
der Beratung oder in der Prävention – lässt uns selbst Erkenntnisse gewinnen für unsere
Arbeit.
Andererseits kann die Nähe zur Zielgruppe auch dadurch optimiert werden, indem das Team
und der Vereinsvorstand der ahbe die Vielfalt der Zielgruppen abbilden. Somit ist der
Transfer der Erfahrungen und der Erkenntnisse, gewonnen aus ‚persönlicher Betroffenheit’,
ins Team gewährleistet, sofern es die Organisationsstrukturen auch bewusst zulassen: Ein
homosexueller Mann macht Prävention bei MSM5, eine Fachfrau und ein Fachmann
ermöglichen die geschlechtsspezifische Präventionsarbeit bei Jugendlichen, die ahbe erlangt
über das MediatorInnenteam von Multicolore einen Zugang zu MigrantInnengruppen, die
wichtigsten Zielgruppen der Aids-Arbeit sind mit den Mitgliedern im Vorstand vertreten.
Besonderes Augenmerk gilt der Zusammenarbeit mit HIV-Betroffenen. Die Schweiz hat sich
dazu verpflichtet, HIV-Positive in die Aids-Arbeit zu integrieren und deren Ressourcen gezielt
zu nutzen. Diese Absichtserklärung wurde 2001 offiziell mit der Unterzeichnung einer
Deklaration der UNAIDS (Joint United Nations Programme on HIV/AIDS) bekräftigt. Die
Deklaration verlangt eine Aids-Arbeit nach den sogenannten GIPA-Prinzipien (Greater
Involvement of People living with HIV and AIDS), also Menschen mit HIV u.a. bei
4
5
Mit den in Klammern gesetzten persönlichen Kommentare schaffe ich Bezug zu meiner Arbeit in der ahbe.
Die gängige Abkürzung für „Men having Sex with Men“. Die Gruppe von homosexuellen Männern wurde
erweitert mit Männern, die sexuelle Kontakte pflegen, ohne eine Identität als homosexueller Mann zu
haben/haben zu wollen. (vgl. Aids-Hilfe Schweiz, 2008, gefunden am 22.11.2008 unter http://www.aids.ch)
Sibylle Vogt, November 2008
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Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Entscheidungen und deren Implementierungen im politischen, strategischen und operativen
Bereich miteinzubeziehen. (UNAIDS, gefunden am 24.11.2008 unter
http://www.unaids.org/en/PolicyAndPractice/GIPA/default.asp) Das kann auf strategischer
Ebene heissen, HIV-positive (Fach-) Personen in den Vorstand zu wählen oder bei
Projektentwicklungen mit einer Betroffenengruppe zusammen Ziele und Massnahmen zu
definieren. Auf operativer Ebene kann GIPA bedeuten, spezifische Angebote für HIVbetroffene Menschen anzubieten (bei der ahbe z.B. die einmal monatlich stattfindende
Gesprächsgruppe für HIV-positive Menschen) und als Mitarbeitende der Organisation
einzubinden resp. anzustellen (bei der ahbe z.B. das Projekt „Positiv Sprechen“6).
Die eigene Betroffenheit als Gütesiegel?
Es
ist
wichtig,
zwischen
notwendigen
Voraussetzungen
und
darüber
hinaus
gewinnbringenden Merkmalen zu unterscheiden (Jent, 2007). Eine HIV-positive Frau macht
nicht per se bessere Beratungsarbeit, weil sie selbst betroffen ist. Erfüllt sie aber die
erforderlichen Kriterien wie Ausbildung, Erfahrung und Teamfähigkeit, dann ist ihre eigene
Betroffenheit ein wesentliches zusätzliches Qualitätsmerkmal, das es zu nutzen und zu
fördern gilt (dies entspricht den sogenannten komparativen Kompetenzen nach Jent, 2007).
Umgekehrt liegt es an uns Fachstellen, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass noch
fehlende
‚Muss’-Qualifikationen
bei
gleichzeitigem
Vorhandensein
profitabler
Zusatzmerkmale angeeignet werden können (Weiterbildungen ermöglichen; zeitliche und
personelle Ressourcen zur Verfügung stellen für eine enge Einarbeitung und Begleitung z.B.
mittels MentorIn-Mentee-Prinzip; Praktika anbieten; Sprachkompetenzen fördern durch
übersetztes Fachmaterial oder durch Sprachkurse). Ganz im Sinne einer Chancengleichheit
beim Zugang zu Arbeit, Status und Kompetenzen fördern wir dadurch die Partizipation der
Zielgruppen an unserer Arbeit. Doch auch wir müssen Wirtschaftlichkeit und Pragmatismus
im Auge behalten: Grenzen dort setzen, wo die Qualität gefährdet werden könnte; Grenzen
dort auflösen, wo sie Potentiale auszuschöpfen verhindern.
In der migrationsspezifischen Arbeit der ahbe beschäftigt momentan die Frage, wie wir SubSahara MigrantInnen mit unseren Angeboten anzusprechen vermögen. In vielen
afrikanischen Kulturen sind Krankheit, Tod oder Sexualität tabuisiert. Aids beinhaltet nun
aber alle diese Themen und wird folgedessen stark tabuisiert. Aids ist ein Stigma, HIVpositive Menschen werden stigmatisiert. Dies manifestiert sich u.a. mit dem Ausschluss aus
6
„Positiv Sprechen“ ist ein Projekt mit HIV-positiven sogenannten SprecherInnen, also Menschen, die sich für
Gespräche, Diskussionen und Interviews zur Verfügung stellen und über ihr Leben mit einer HIV-Infektion
Auskunft geben. Das Projekt wird vor allem von Schulen genutzt im Rahmen ihrer Aufklärungs- /
Präventionsunterrichtssequenzen. Für die HIV-positiven SprecherInnen ist es eine grosse Leistung, sich immer
wieder in der Öffentlichkeit zu ‚outen’. Sie berichten aber auch von einer Erleichterung, durch das Projekt gelernt
zu haben, über ihre Lebenswelt sprechen zu können.
Sibylle Vogt, November 2008
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Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
der sozialen Gruppe, was ein Individuum in kollektivistisch organisierten Gesellschaften
besonders hart trifft. Aus Angst vor diesen Stigmatisierungen verschweigen viele HIVpositive Menschen ihre Infektion oder sie wollen keinen HIV-Test machen, um gar nicht erst
konfrontiert zu werden mit der Möglichkeit einer HIV-Infektion und deren psychosozialen
Folgen. Die Mehrheit der HIV-positiven Sub-Sahara MigrantInnen, welche die Beratung der
ahbe beanspruchen, erzählen häufig keiner nahestehenden Person von ihrer Infektion. Zu
gross ist die Angst, dass dieses ‚Geheimnis’ in der Community herumgereicht wird. Die
Folge wäre, von der Community geächtet zu werden. Die Community bedeutet jedoch die
einzige Bezugsgruppe auch im Exilleben – sie übernimmt in ähnlicher Art und Weise die
Funktion der Familie in den Herkunftsländern. (Zuppinger et al., 2000) Für die
Beratungsarbeit der ahbe bedeutet dies, immer wieder die absolute Diskretion und die
Schweigepflicht zu betonen. Gleichzeitig stellt sich die Frage auch nicht, die Beratungen
durch eine Migrantin / einen Migranten afrikanischer Herkunft abzudecken. Hier können und
wollen wir also die Zielgruppe nicht abbilden, im Gegenteil: Es ist wichtig, den betroffenen
AfrikanerInnen einen Raum zu geben, wo sie sich absolut sicher fühlen. Das ist
gewährleistet, wenn die beratende Person nicht aus demselben Kulturkreis kommt.
In der Präventionsarbeit hat Multicolore die Möglichkeit, Prävention bei afrikanischen
MigrantInnen mit einem ethnisch gemischten Team zu leisten. Eine doppelte Stigmatisierung
(afrikanische Herkunft = HIV-positiv) afrikanischer MigrantInnen können wir hiermit
vermeiden (und erreichen so vielleicht auch mehr Personen). Wir signalisieren, dass
HIV/Aids Menschen jeglicher Herkunft betreffen kann. Gleichzeitig öffnen uns die
afrikanischen MediatorInnen von Multicolore Türen, um überhaupt in die afrikanische
Community Eintritt zu finden. Dort nutzen wir bewusst die Nähe zur Zielgruppe und bilden sie
im Projektteam ab.
Trotz Sensibilität und Bemühungen in unserer Arbeit stossen wir doch immer wieder an
Grenzen. Einige Zielgruppenpersonen verschliessen sich der Prävention oder den
Beratungsangeboten. Manchmal müssen wir wohl respektieren, dass jeder urteilsfähige
Mensch selbst über seine Gesundheit und seinen Umgang mit Risiken entscheidet. Diese
Grenze setzt sich jeder Mensch selbst. Auch auf diese – aus unserer Perspektive –
destruktive,
kontraproduktive
Art
und
Weise
(Aids
verleugnen,
keine
präventive
Massnahmen umsetzen, keine HIV-Tests nach Risiken machen, Beratung oder Therapie
ablehnen o.a.) manifestiert sich die Vielfalt unserer Gesellschaft.
Integration der Vielfalt
MDI ist ein ideales Instrument der Organisationsentwicklung, wenn es um die Integration
ganz im allgemeinen Sinn von Arbeitskraft, Arbeitsinstrumenten oder Policies im
Arbeitsablauf geht. Es dreht sich stets um die Frage, wie wir unser Ziel am besten erreichen
können, welche Ressourcen vorhanden und nutzbar sind, welche neu beigezogen werden
Sibylle Vogt, November 2008
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Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
sollen. Das bedingt auch, dass sich die strukturellen Grenzen einer Organisation öffnen und
nicht-normentsprechenden Gruppen Zugang zur Organisation ermöglicht wird – eine
Integration von Andersartigkeiten gefördert wird. (z.B. Krell, 2008) Integration muss ein
wechselseitiger Prozess sein und darf nicht als einseitiger Prozess der Anpassung an die
Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Erst durch die Integration von Vielfalt zu einem
neuen Ganzen schöpfen wir menschliche Ressourcen aus. Gerade (demokratisch geführte)
heterogene Teams zeichnen sich durch kreative und vor allem tragfähige Entscheide und
Arbeitsweisen aus. (z.B. Jent, 2007)
In welchen Bereichen hat sich die Organisation der ahbe geöffnet? Ein Konzept zur
transkulturellen Entwicklung besteht seit 2003 (Oswald, 2003). Dort festgehalten ist, dass
Migration als Mainstreamthema in alle Angebote, Konzepte und Leitbilder einzufliessen hat
oder dass das ahbe-Team sich regelmässig hinsichtlich der transkulturellen Kompetenzen
weiterbildet.
Seit 2006 arbeiten wir zusammen mit der Stiftung Terra Vecchia, Integrationsprogramm
Arbeit (IPA), und integrieren einen IV-Rentenbezüger während eines Wochentags in unsere
Arbeit. Wir bieten dieser Person die Chance, in einem realen Umfeld mit enger Begleitung
eine Arbeit zu verrichten. Die ahbe profitiert umgekehrt von zusätzlichen personellen
Ressourcen, um die ständig wachsenden Aufgaben im administrativen Bereich erledigen zu
können.
Seit einiger Zeit können Studierende der Fachhochschule Nordwestschweiz, Soziale Arbeit,
ein halbjähriges Praktikum bei der ahbe leisten. Und seit Januar 2008 führt eine Mediatorin
von Multicolore das niedrigschwellige HIV-Test-Angebot (beinhaltet auch individuelle und
tiefenwirksame
Beratung)
für
Asylsuchende
und
Menschen
ohne
geregelten
Aufenthaltsstatus auf unserer Geschäftsstelle aus. Dies sind einige Beispiele unserer
Organisationsöffnung.
Es ist gegenseitiges Lernen von unterschiedlichen Biographien, Lebenswelten und
Kompetenzen. Perspektiven werden gewechselt, die eigenen Grenzen werden sichtbarer
und können gerade dadurch durchlässiger gestaltet werden. Die Integration von
verschiedenen Lebenswelten geschieht beim gemeinsamen Arbeiten.
Die Vielfalt der ahbe – vielfältig genug?
MDI wird primär nicht an fehlenden finanziellen und personellen Ressourcen scheitern:
Perspektivenerweiterung, Grenzwahrnehmungen und die Integration der Vielfalt in die
Organisation sind vielmehr eine Frage unserer Einstellungen und unseres Willens, sich der
Vielfalt gegenüber zu öffnen! Auch wenn unsere Produkte, die angesprochenen Zielgruppen
und Fachpersonen sowie die Teamzusammensetzung mannigfaltig sind, Handlungsbedarf
und Entwicklungspotential bestehen laufend. Einige Herausforderungen seien – nicht
abschliessend – nachfolgend angeführt.
Sibylle Vogt, November 2008
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Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Wir sind immer darauf angewiesen, dass unsere Angebote gefragt sind und wir sie umsetzen
können. Diesbezüglich mussten wir doch immer wieder ‚Leerläufe’ verzeichnen und uns die
Frage stellen, ob wir an den Bedürfnissen von Anspruchsgruppen vorbei planten. Da
empfiehlt es sich, vermehrt die Kooperation mit anderen Organisationen zu suchen und
gemeinsame Produkte zu entwickeln7 oder dann die Themen HIV/Aids und sexuelle
Gesundheit
in
bestehende
Angebote
(LehrerInnenfortbildung,
Bildungsinstitute,
Fachtagungen oder Kursangebote) zu platzieren versuchen.
Wir stellen externen Fachstellen unsere Kompetenzen – Know-how in der transkulturellen
Arbeit,
in
Fragen
zu
schwuler
Lebensweise
und
Coming-out
oder
bezüglich
zielgruppenadäquater Methodik/Didaktik – noch ungenügend zur Verfügung.
Die Partizipation der Zielgruppen bei der (Weiter-) Entwicklung von Produkten muss
konsequenter miteinbezogen werden. Deren Ressourcen liegen oft brach.
Die Rückmeldungen aus den Anspruchsgruppen sind mitunter die wertvollsten Hinweise auf
die
Qualität
unserer
Arbeit.
Wir
verwenden
seit
November
2008
neue
Qualitätserfassungsinstrumente, die wir jeweils für die unterschiedlichen Anspruchsgruppen
entwickelt haben. Auch innerhalb des Teams müssen wir bemüht sein, den Informationsfluss
inhaltlicher und organisatorischer Art bewusst transparent und die Synergien nutzend zu
gestalten.
Das Team bildet die Hauptzielgruppen – Migration ausgenommen8 – gut ab. Erstmals wird
nun ein Migrant erster Generation Einsitz in den Vereinsvorstand nehmen, womit die Vielfalt
unserer Hauptanspruchsgruppen auch im obersten Organ gut abgedeckt ist.
Gelebtes Managing Diversity
Der Abschluss dieser Analyse bildet ein für mich eindrückliches Beispiel eines
Perspektivenwechsels und einer Einstellungsänderung – einer gelebten Vielfalt eben: Im
Rahmen meines Nachdiplomstudiums in „Managing Diversity“ führte ich ein Gespräch mit
einem türkischen Migranten in der Schweiz über seine Einstellung zu männlicher
Homosexualität und gleichgeschlechtlicher Liebe.9
Die Fragestellung war, ob und wie sich seine Einstellung zu männlicher Homosexualität nach
der Migration in die Schweiz veränderte. In der Türkei, so berichtete mir der Mann, hätte er
7
Wie dies im Frühling 2007 mit der Impulstagung „Gefühlsgewitter“ mit dem Fachbereich Sexualpädagogik der
Berner Gesundheit geschehen ist.
8
Bisher bewarb sich niemand mit Migrationshintergrund. Da müssten sicher unsere Stellenausschreibungen
überprüft werden.
9
Zertifikatsarbeit im Rahmen des Nachdiplomstudiums Managing Diversity an der Hochschule Luzern mit dem
Titel: „Oh, wenn er schwul ist, lass ihn heiraten“ – Wie können sich Einstellungen zu männlicher Homosexualität
bei Türken ändern, nachdem sie in die Schweiz migriert sind? Ein Fallbeispiel eines türkischen Migranten in der
Schweiz.“
Sibylle Vogt, November 2008
7
Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Homosexualität als Krankheit, als gefährlich und abnormal betrachtet. Dies drückte sich nicht
zuletzt aus in Handgreiflichkeiten gegenüber Männern aus, die Sex mit Männern hatten. Er
übernahm die gesellschaftskonforme homophobe Haltung, wie sie in der von Religion und
rigiden Geschlechterrollenverständnis geprägten Gesellschaft gefordert wurde. Er selbst war
Menschenrechtsaktivist und verliess die Türkei wegen politischer Verfolgung. In der Schweiz
realisierte er im Austausch mit türkischen Menschenrechtsgruppen, dass genauso wie
Religions- oder Meinungsfreiheit auch jedem Mensch das Recht zusteht, seine Sexualität frei
zu wählen und zu leben. Über die Menschenrechtsdebatte also legte der unterdessen
eingebürgerte Türke seine homophobe Einstellung ab und lernte gleichgeschlechtliche Liebe
als eine unter vielen Lebensformen zu akzeptieren.
Dieses Lehrbeispiel zeigt, wie das Überschreiten einer Grenze (hier der Landesgrenze)
einen Perspektivenwechsel ausgelöst hat und wie die neuen Perspektiven in die eigene
Haltung integriert werden konnten.
Sibylle Vogt, November 2008
8
Ein Plädoyer für die Vielfalt – Managing Diversity in der aids hilfe bern
Quellenverzeichnis
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22.11.2008 unter http://www.aids.ch
Döge, Peter (2008). Von der Antidiskriminierung zum Diversity-Management. Ein Leitfaden.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Jent, Nils (2007). Diversity und Antidiskriminierung. Einführungsreferat von Dr. Nils Jent. St.
Gallen: I.FPM Universität St. Gallen.
Krell, Gertraude (Hrsg.) (20085). Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von
Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen. Wiesbaden: Gabler Verlag.
Krell, Gertraude (2008). Diversity Management: Chancengleichheit für alle und auch als
Wettbewerbsfaktor.
In
Gertraude
Krell
(Hrsg.).
Chancengleichheit
durch
Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und
Verwaltungen (5. Auflage) (S. 63-80). Wiesbaden: Gabler Verlag.
Oswald, Franziska (2003). Transkulturelle Entwicklung der aids hilfe bern. Bern: Internes
Konzept der aids hilfe bern.
UNAIDS (ohne Datum). Greater involvement of people living with or affected by HIV/AIDS
(GIPA). Declaration of Commitment on HIV/AIDS. Gefunden am 24.11.2008 unter
http://www.unaids.org/en/PolicyAndPractice/GIPA/default.asp
Vogt, Sibylle (2007). „Oh, wenn er schwul ist, lass ihn heiraten“ – Wie können sich
Einstellungen zu männlicher Homosexualität bei Türken ändern, nachdem sie in die
Schweiz migriert sind? Ein Fallbeispiel eines türkischen Migranten in der Schweiz.
Bern/Luzern Unveröffentlichte Zertifikatsarbeit im Rahmen des Nachdiplomstudiums
Managing Diversity an der Hochschule Luzern / Soziale Arbeit.
Zuppinger, B.; Kopp, Ch. & Wicker, H.-R. (2000). Interventionsplan HIV/Aids-Prävention bei
Sub-Sahara MigrantInnen. Bern: Institut für Ethnologie, Universität Bern.
Sibylle Vogt, November 2008
9