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Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt

Themen am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen unterliegen einer doppelten Gefahr: Einerseits können einen die methodischen wie inhaltlichen Untiefen des Nachbarfaches zu letztlich unhaltbaren Schlüssen veranlassen, andererseits kann die Konzentration auf die eigene Forschungsmethode und -tradition Scheuklappen entstehen lassen, die den Blick auf relevante, möglicherweise "störende" Ergebnisse außerhalb des selbst Konstruierten verstellen.

Sonderdruck aus: Japan Studies in Classical Antiquity (JASCA) 2 (2014) Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt Sven Günther Themen am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen unterliegen einer doppelten Gefahr: Einerseits können einen die methodischen wie inhaltlichen Untiefen des Nachbarfaches zu letztlich unhaltbaren Schlüssen veranlassen, andererseits kann die Konzentration auf die eigene Forschungsmethode und -tradition Scheuklappen entstehen lassen, die den Blick auf relevante, möglicherweise „störende“ Ergebnisse außerhalb des selbst Konstruierten verstellen. So stellt sich in etwa die Lage bei der Erforschung des fiscus Iudaicus dar: Obwohl diese Institution direkt nur durch zwei (aufeinander bezogene) antike Quellenzeugnisse belegt ist 1 , haben altertumswissenschaftliche, judaistische und theologische Forscher daraus und (mehr oder weniger) relevanter anderer Quellen ihre jeweils ganz eigene Sicht auf den fiscus Iudaicus, seine Einrichtung, Funktion und Wirkungsweise entwickelt. Der folgende Beitrag setzt sich daher zum einen zum Ziel, die Schwächen der jeweiligen Konstruktion aufzuzeigen, zum anderen, ein neues, mit den Quellen zu vereinbarendes Bild des fiscus Iudaicus aufzuzeigen. Der fiscus Iudacius zwischen Altertumswissenschaft, Judaistik und Theologie Daß der fiscus Iudaicus fächerübergreifend Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, überrascht aufgrund der Themen und Fragenstellungen, die sich am Komplex „Römer und Juden im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr.“ andocken lassen, nicht. Allen Deutungsversuchen aus politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher, institutionengeschichtlicher, religionswissenschaftlicher, kirchengeschichtlicher oder kulturwissenschaftlicher Warte heraus ist dabei gemein, daß die nach dem Jüdischen Krieg (66-70 n.Chr.) vom neuen Kaiser Vespasian eingeführte Judensteuer und der fiscus Iudaicus zusammen behandelt werden und demnach als Spiegel des römischjüdischen Verhältnisses fungieren. In der altertumswissenschaftlichen Forschung ist die traditionelle Sichtweise zum fiscus Iudaicus die einer Kasse zum Einzug der Judensteuer (duo denarii 1 Suet. Dom. 12,2; RIC II Nerva 227 (Nr. 58f.), 228 (Nr. 72, 82) sowie Numismatica Ars Classica Nr. 51 [März 2009], Lot 251. Zur Interpretation vgl. die nachfolgende Untersuchung. 123 JASCA 2 (2014) Iudaeorum)2, die beide der nach dem Vier-Kaiser-Jahr neue Stabilitätsgarant, Kaiser Vespasian, zur Deckung hoher Staatsausgaben bzw. auch zur „Bestrafung“ der aufständischen Juden eingeführt habe. Die verschärfte Einziehung durch den letzten Kaiser der flavischen Dynastie, Domitian, habe nach dessen Ermordung der Nachfolger Kaiser Nerva abgestellt und diese „populistische“ Maßnahme entsprechend mit einer Münzemission „verkauft“. Danach sei „die Erhebung des f.I. … bis in die Mitte des 3. Jh. n.Chr. belegt“. 3 Wie das Zitat zeigt, werden dabei fälschlicherweise die beiden Begriffe „fiscus Iudaicus“ und „Judensteuer“ oft sogar synonym verwendet. Dieses „geschlossene“ Gebäude zur Besteuerung der Juden seitens des Römischen Reiches hat in jüngerer Zeit die Studie von Michael Alpers zum Finanzsystem des Frühen Prinzipats, insbesondere zur unterschiedlichen Verwendung des Wortes fiscus, erschüttert. 4 So trennt er strikt zwischen dem aerarium populi Romani mit den provinzialen Unterkassen (fisci) und dem kaiserlichen fiscus. Er faßt dem folgend den fiscus Iudaicus nach einer detaillierten Analyse der in den Quellen erwähnten Einnahmen des römischen Staates von jüdischer Seite als Provinzialkasse und damit als Teil des aerarium populi Romani auf, die schon vor dem Jüdischen Krieg, spätestens seit der Provinzwerdung Judäas 44 n.Chr., bestanden habe und später (mit einer unter Vespasian eingerichteten Zweigstelle in Rom) auch mit der Administration der Judensteuer sowie damit zusammenhängender Bereiche betraut gewesen sei.5 Insofern gehen bei ihm fiscus Iudaicus und Judensteuer nicht Hand in Hand, sondern letztere ist in die bereits Der lateinische Terminus ist aus der griechischen Bezeichnung ὴ ί ύ ί rückgeschlossen, der auf in Ägypten gefundenen Ostraka bzw. Papyri auftaucht. Vgl. dazu unten Anm. 17. 3 So Wandrey, I., s.v. fiscus Iudaicus, DNP 4 (1998), 532 (m. weiterer Literatur). 4 Alpers, M., Das nachrepublikanische Finanzsystem. Fiscus und Fisci in der frühen Kaiserzeit, Berlin / New York 1995 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; 45). Durch seine Begriffsstudie setzt er sich damit sowohl von der Forschungsposition ab, die den fiscus als Synonym für patrimonium, also als „Privatkasse“ des Kaisers, ansah, als auch von der These, daß der Kaiser durch sein imperium proconsulare die Verfügungsgewalt über die in diesen Provinzen aufkommenden Gelder erlangt habe, die im fiscus Caesaris mündeten, wobei dieser fiscus somit zu einer öffentlichen Kasse neben dem aerarium populi Romani avanciert sei. Vgl. ebd., 1-20, die Zusammenfassung der Forschungspositionen. Ausgehend davon hat R. Wolters ein akzentuiertes Schema der kaiserzeitlichen Finanzverwaltung mit „staatlichem“ aerarium populi Romani und dessen provinzialen fisci, „kaiserlich-öffentlichem“ fiscus Caesaris, „privat-kaiserlichem“ patrimonium etc. entworfen. Vgl. dazu R. Wolters, Nummi signati. Untersuchungen zur römischen Münzprägung und Geldwirtschaft, München 1999 (Vestigia; 49), 174-202. 5 Alpers (wie Anm. 4), 290-304. 2 124 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt vorher bestehende Kasse geflossen, bildete allerdings nur einen Einnahmestrom unter vielen. Die judaistische Forschung hat sich neben der allgemeinen Beschreibung des Verhältnisses von Römern und Juden im ersten nachchristlichen Jahrhundert insbesondere um die inner- wie außerjüdischen Zielgruppen der Judensteuer und die Spiegelung dieser Behandlung in rabbinischen Quellen gekümmert. Hier ragen insbesondere die Forschungen von Martin David Goodman heraus, der in jüngerer Zeit jedoch einige eigentümliche Thesen zur weiter unten zu besprechenden Reform Nervas entwickelt hat.6 Aus kirchengeschichtlicher Perspektive ist mit der Dissertation von Marius Heemstra7 an der Universität Groningen die Wirkungsweise des fiscus Iudaicus auf die sich herausbildende Trennung von Judentum und Christentum im 1. Jahrhundert n.Chr. untersucht worden. M. Heemstra konstatiert mit der für Kaiser Domitian belegten verschärften Administration in Bezug auf den fiscus Iudaicus entscheidende Impulse für die Abgrenzungsstrategien und spätere Trennung beider Religionen, was sich in christlichen wie rabbinischen Quellen spiegele. Er entwickelt in seinem als Gesamtüberblick über alle Forschungsbemühungen zum Gegenstand angelegten Werk damit letztlich die schon seitens der Judaistik angestoßene Fokussierung auf die „Zielgruppen“ der römischen Besteuerungspraxis fort.8 Die Administration Judäas, die Judensteuer und der fiscus Iudaicus bis zur Zeit Domitians Da der Begriff „fiscus Iudaicus“ erstmals für die rigorosen Maßnahmen des Kaisers Domitian bei der Einziehung hierfür belegt ist9, stellt sich natürlich die Frage nach der Einrichtung desselben. 6 Z.B. Goodman, M. D., Nerva, the Fiscus Judaicus and Jewish Identity, JRS 79 (1989), 40-44; ders., The Fiscus Iudaicus and Gentile Attitudes to Judaism in Flavian Rome, in: J. Edmondson / S. Mason / J. Rives (eds.), Flavius Josephus and Flavian Rome, Oxford 2005, 167-177; ders., The Meaning of ‘Fisci Iudaici Calumnia Sublata’ on the Coinage of Nerva, in: S. J. D. Cohen / J. J. Schwartz (eds.), Studies in Josephus and the Varieties of Ancient Judaism. L. H. Feldman Jubilee Volume, Leiden / Boston 2007 (Ancient Judaism and Early Christianity; 67), 81-89. Dort jeweils auch die ältere Forschungsliteratur. 7 Heemstra, M., The Fiscus Judaicus and the Parting of the Ways, Tübingen 2010 (WUNT II; 277). 8 Vgl. auch seine Zusammenstellung der von der Forschung vermuteten „Opfer“ der domitianischen Verschärfung des Einzugs, ebd., 33. 9 Suet. Dom. 12,2: Praeter ceteros Iudaicus fiscus acerbissime actus est; ad quem deferebantur, qui vel improfessi Iudaicam viverent vitam, vel dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent. Interfuisse me adulescentulum memini, cum a procuratore frequentissimoque consilio inspiceretur nonagenarius senex an circumsectus esset. 125 JASCA 2 (2014) In der von einer strikten Trennung zwischen provinzialen fisci und fiscus Caesaris getragenen Auffassung, beim fiscus Iudaicus handele es sich um eine staatliche Provinzialkasse als Teil des aerarium populi Romani, hat M. Alpers eine Einrichtung bereits vor flavischer Zeit vorgeschlagen; lediglich die Einrichtung einer Zweigstelle in Rom schreibt er dann der vespasianischen Zeit infolge neuer Aufgaben (u.a. die Einziehung der Judensteuer) zu. Er zieht hierzu Quellenbelege heran, die zwar direkt oder indirekt auf einen fiscus deuten, allerdings von der Forschung fast einhellig auf den fiscus Caesaris bezogen wurden.10 Allerdings ist diese Deutung aufgrund der mageren und nicht sicher zuzuweisenden Befundlage rein spekulativ; vor der Einrichtung Judäas als Provinz im Jahre 70 n.Chr. eine eigenständige Provinzialkasse anzunehmen, wie M. Alpers dies z.T. vermutet, ist ohnehin fragwürdig und nicht zulässig.11 Eher ist ein Zusammenhang mit den gleichfalls für die flavische Zeit belegten stadtrömischen Einrichtungen des fiscus Alexandrinus und fiscus Asiaticus anzunehmen. Auch wenn hier M. Alpers eine frühere Einrichtung ebenfalls nicht ausschließen will12, ist doch augenfällig, daß diese ebenso erst für flavische Zeit belegt sind.13 Dies mit den Veränderungen unter Vespasian als Lernprozeß aus den Bürgerlinigen in Zusammenhang zu bringen, der sowohl bei den Abgaben als auch in der Finanzadministration agierte14, wäre durchaus statthaft. Insofern ist ein möglicher Beweggrund, einen fiscus Iudaicus in der Stadt Rom aufzustellen, in der Einrichtung der Provinz Judäa im Zuge des Jüdischen Krieges (66-70 n.Chr.) zu suchen. Neben der von M. Alpers postulierten, allerdings fragwürdigen Möglichkeit einer reinen, in der Stadt Rom als Verrechnungsstelle(?) 10 Plin. HN 12,112f. 123; J. BJ 2,7,3,111; AJ 17,13,2,344. Dazu ausführlich Alpers (wie Anm. 4), 295-301 (mit der älteren, gegenteiligen Forschungsliteratur). 11 Der Status Judäas zwischen 44 und 66/70 n.Chr. ist nicht klar zu benennen. Erkennbar ist jedoch weiterhin der Einfluß, den der Statthalter der Provinz Syria auf dieses Gebiet ausübte. Von daher ist mit einer vollständigen Provinzwerdung erst im Zuge des Jüdischen Krieges auszugehen. Vgl. dazu nur Eck, W., Judäa wird römisch: Der Weg zur eigenständigen Provinz, in: ders., Rom und Judaea. Fünf Vorträge zur römischen Herrschaft in Palästina, Tübingen 2007, 1-51. 12 Alpers (wie Anm. 4), 277-290. 13 Vgl. Belege bei Hirschfeld, O., Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, Berlin 2 1905, 71 (fiscus Asiaticus), 369-371 (fiscus Alexandrinus); ergänzend für den fiscus Alexandrinus: AE 2007, 326: T(itus) Flavius | Aug(usti) lib(ertus) | Delphicus | [t]abularius a rationib(us) | proc(urator) ration(um) | [t]he[s]aur(orum) hereditat(ium) | [f]isci Alexandrini | sibi fecit. Vgl. ILS 1518 (= AE 1888, 130 = AE 1889, 88) zu T. Flavius Aug. lib. Delphicus. 14 Zu den Finanzreformen Vespasians vgl. jetzt ausführlich Schmall, S., Patrimonium und Fiscus. Studien zur kaiserlichen Domänen- und Finanzverwaltung von Augustus bis Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr., Diss. Bonn 2011, 259-334. Speziell zu den drei fisci ebd., 267-270. Sie hält den fiscus Iudaicus zwar analog zu den beiden anderen fisci gebildet, jedoch mit einer unterschiedlichen Funktion, nämlich dem Einzug der Judensteuer, betraut und nicht provinziale Dinge berührend. 126 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt lokalisierten Provinzialkasse mit Verwaltung der aufkommenden tributa 15 kommt nun die Judensteuer als möglicher Geldzufluß für diese Kasse ins Spiel: Die ursprünglich an den Jerusalemer Tempel zu entrichtende Abgabe wurde nämlich im Zuge der Zerstörung desselben bzw. dem Ende des Jüdischen Krieges nun als römische Steuer erhoben. 16 Durch Ostraka und Papyri aus Ägypten ist die kontinuierliche Erhebung seit vespasianischer Zeit bis in die Mitte des 2. Jhds. n.Chr. ebenso belegt wie die Ausdehnung der ursprünglich auf männliche Juden zwischen 20 und 50 Jahren beschränkte Abgabe auf Frauen, Kinder und Sklaven. Die Erhebung von ἀ ί, möglicherweise für den Jüdischen Tempel des Onias, sowie Verschiebungen in der konkreten Benennung und Rechnungslegung der Abgabe können ebenso über die dichte Folge der Belege nachgewiesen werden.17 Ein fiscus Iudaicus hätte nun durchaus die Administration der reichsweit, insbesondere auch in Rom erhobenen Judensteuer federführend koordinieren können. Dies wäre dann eine zusätzliche Aufgabe neben der fälschlich von M. Alpers postulierten Verwaltung der Provinzialkasse von Judäa gewesen. Nach dem oben ausgeführten teilweisen Zusammenbruch der Argumente von M. Alpers bezüglich einer jüdischen Provinzialkasse mit Sitz in Rom ist natürlich auch an eine kaiserliche Verwaltungsabteilung neben vielen anderen unter dem Dach des a rationibus zur Administration der reichsweiten „Judensteuer“ zu denken. Ebenso ist nicht ganz ausgeschlossen, die Einführung des fiscus Iudaicus (sowie der anderen fisci) – nicht der Judensteuer! – erst der Zeit Domitians zuzuschreiben.18 Denn die 15 So Alpers (wie Anm. 4), 301f. J. BJ 7,218: ό ὲ ῖ ὁ ῦ ὖ ἀ ὰ ᾶ ἔ ἰ ὸΚ ώ έ ,ὥ . ὶ ὰ ὲ ί ό ύ D.C. 65(66),7,2: ὕ ὲ ὰ ό ἐ ὐ ῖ έ , ἐ ώ . ὶ ἀ ’ ἐ ί ί έ ῷΚ ίῳ ὶ ’ἔ ἀ έ 16 ί ύ έ ἐ έ ό ἰ ύ ὸ ἐ ά . ῦΚ ό ἡ έ ᾳ, ά ἐ ά ὺ ὰ ά ὰ ἕ ύ ἔ ὐ ῶ ὼ ὶ ῦ ἔ . Zur Datierungsdiskussion vgl. Heemstra (wie Anm. 7), 10f. Anm. 3, 13 Anm. 11. Zum bei Josephus und Cassius Dio unterschiedlich definierten steuerpflichtigen Personenkreises vgl. ebd, 67-84, wobei M. Heemstra Cassius Dios Definition ὺ ὰ ά ὐ ῶ ἔ έ auf die Zeit nach Nervas Reform zurückführt. Dieser habe genau zwischen (steuerpflichtigen) Juden und den nicht mehr steuerpflichtigen, aber damit auch nicht mehr zur religio licita gehörenden Nicht-Juden (v.a. Christen, aber auch nicht mehr sich zum Judentum bekennende Personen) unterschieden. Allerdings könnten mit der Definition auch abtrünnige oder nicht mehr praktizierende Juden ausgeschlossen worden sein, generell alle, die nicht mehr jüdischen Sitten folgten! 17 Vgl. die Belege CPJ 160-229, 421, 460, ebenso ergänzend O.Heerlen BL 345. Dazu die Auswertungen Hemer, C. J., The Edfu Ostraka and the Jewish Tax, PEQ 105 (1973), 6-12; Heemstra (wie Anm. 7), 13-20. 18 Wenn man die in Suet. Dom. 12 angesprochene rigide Kontrolle der Finanzadministration und das Suchen nach neuen Einnahmequellen seitens Domitian ernst nimmt, könnte man die in § 2 (Praeter 127 JASCA 2 (2014) einzige inschriftliche Quelle, die mit der Judensteuer bzw. dem fiscus Iudaicus in Verbindung stehen könnte, ist ebenso nicht näher als in flavische Zeit datierbar 19, die in ihr angesprochene Funktion eines procurator ad capitularia Iudaeorum singulär und daher in ihrem Funktionsbereich umstritten.20 Ins Rampenlicht: Domitian und der fiscus Iudaicus Für Domitian berichtet nun Sueton in seiner biographischen Skizze (12,1f.) einen erhöhten Finanzbedarf aufgrund der Ausgabenfreudigkeit dieses Kaisers, der wiederum zu rigiden Maßnahmen bei der Erschließung von Einnahmen geführt habe: Exhaustus operum ac munerum impensis stipendioque, quod adiecerat, temptavit quidem ad relevandos castrenses sumptus, numerum militum deminuere; sed cum et obnoxium se barbaris per hoc animadverteret neque eo setius in explicandis oneribus haereret, nihil pensi habuit quin praedaretur omni modo. Bona vivorum ac mortuorum usquequaque quolibet et accusatore et crimine corripiebantur. Satis erat obici qualecumque factum dictumve adversus maiestatem principis. (2) Confiscabantur alienissimae hereditates vel uno existente, qui diceret audisse se ex defuncto, cum viveret, heredem sibi Caesarem esse. Praeter ceteros Iudaicus fiscus acerbissime actus est; ad quem deferebantur, qui vel improfessi Iudaicam viverent vitam, vel dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent. Interfuisse me ceteros Iudaicus fiscus acerbissime actus est) angesprochene Verschärfung bei den wohl sicher nach ceteros zu ergänzenden fiscos (vgl. dazu Alpers [wie Anm. 4], 294) sowie dem fiscus Iudaicus auch mit einer vorherigen Einrichtung unter seiner Kaiserherrschaft in Verbindung bringen. Letztlich bleibt auch dies nur Spekulation. 19 H. Dessau setzt sie (s. u. Anm. 20) in seinem kurzen Kommentar in ILS 1519 in domitianische Zeit, C. Ricci, L´affranchi impérial T. Flavius Euschemon et le Fiscus Iudaicus, REJ 154 (1995), 89-95, in die Regierungszeit Vespasians bzw. des Titus. Die Anspielung in einem Epigramm Martials (7,55) auf die Juden auferlegten tributa ist ebenso zu vage, um daraus Schlüsse bezüglich des Zusammenhangs von Judensteuer und fiscus Iudaicus ziehen zu können: Nulli munera, Chreste, si remittis, | nec nobis dederis remiserisque: | credam te satis esse liberalem. | Sed si reddis Apicio Lupoque | et Gallo Titioque Caesioque, | linges non mihi | nam proba et pusilla est | sed quae de Solymis uenit perustis | damnatam modo mentulam tributis. 20 ILS 1519 (= CIL VI 8604): T(ito) Flavio Aug(usti) lib(erto) | Euschemoni | qui fuit ab epistulis | item procurator | ad capitularia | Iudaeorum | fecit | Flavia Aphrodisia | patrono et coniugi | bene merenti. Für Alpers (wie Anm. 4), 303, zeigt der Plural capitularia die Zuständigkeit des Prokurator sowohl für die Judensteuer als auch für die provinzialen Einnahmen / Überschüsse. Ebd. die anderen in der Forschungsliteratur angeführten Deutungsmöglichkeiten. Vgl. ebenso Heemstra (wie Anm. 7), 11f. m. Anm. 4-6, der jedoch die CIL-Nummer falsch benennt (CIL 4 statt VI!). 128 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt adulescentulum memini, cum a procuratore frequentissimoque consilio inspiceretur nonagenarius senex an circumsectus esset. So sehr die hier aus senatorischer Sicht kritisierte Finanzpolitik des Kaisers in der Forschung keine einhellige (negative) Beurteilung erfahren hat 21 , so sehr erhalten die Aussagen zum Umgang des Kaisers mit dem fiscus Iudaicus durch das Selbstzeugnis Suetons als junger22 Beobachter einer Inspektion in Rom Gewicht in Bezug auf die Glaubwürdigkeit. Die beiden angesprochenen Tatbestände, die vor dem (Personal des) fiscus Iudaicus verhandelt wurden (ad quem deferebantur), nämlich (1) die Ausübung der jüdischen Lebensweise als improfessus sowie (2) die Verschleierung der jüdischen Herkunft und die daraus folgende Nichtzahlung der auferlegten tributa haben in der Forschung zu mannigfachen Diskussionen über die betroffenen Personenkreise, mitunter beeinflußt durch die eigene christliche oder jüdische Identität des Forschers, geführt.23 Daß potentiell unter (1) die Phoboumenoi/Sebomenoi und die sogenannten Heidenchristen fallen konnten, unter (2) alle Beschnittenen, also neben Juden auch sogenannte Judenchristen, Nicht-Juden und Proselyten, hat M. Heemstra herausgearbeitet.24 21 Die Finanzpolitik Domitians ist Gegenstand einer breiten Forschungskontroverse. Syme, R., The Imperial Finances under Domitian, Nerva and Trajan, in: ders., Roman Papers I, ed. by E. Badian, Oxford1979, 1-17, bewertet die Finanzsituation unter Domitian als ausgesprochen stabil; er setzt ihn deutlich von der verschwenderischen Finanzpolitik Nervas ab. Dagegen bezeichnet Rogers, P. M., Domitian and the Finances of State, Historia 33 (1984), 60-78, Domitian als Verschwender von Staatsfinanzen; dies habe er nur durch vermehrte Steuerrepressionen einigermaßen ausgleichen können. Eine Mittlerposition nimmt Sutherland, C. H. V., The State of the Imperial Treasury at the Death of Domitian, JRS 25 (1935), 150-162, ein. Vgl. dazu zusammenfassend auch Heemstra (wie Anm. 7), 25-27, der insbesondere die rigide Einzugspraxis (ungeachtet des tatsächlichen Bedarfs) in den Vordergrund stellt. Zumindest die oft angeführte Verschlechterung des Münzfeingehalts und -gewichtes sind differenziert zu beurteilen, da nach einer erheblichen Verbesserung diesbezüglich in den Jahren 82-85 n.Chr. im Vergleich zum Standard seiner Vorgänger Vespasian und Titus ab 85 n.Chr. zwar wieder eine Verschlechterung erfolgte, die jedoch im Standard höher als derjenige zu Beginn seiner Herrschaft lag. Vgl. dazu zuletzt Carradice, I., Flavian Coinage, in: W. E. Metcalf, The Oxford Handbook of Greek and Roman Coinage, Oxford 2012, 375-390, bes. 381-383. 22 Die Selbstbezeichnung als adulescentulus hat mit Verweis auf die weitere Bezeichnung als adulescens (Suet. Nero 57,2) für das Jahr 88 n.Chr. zu einer Datierung ante quem und daher auch der Maßnahmen geführt. Vgl. dazu zusammenfassend Heemstra (wie Anm. 6), 27; Smallwood, E. M., Domitian´s Attitude toward the Jews and Judaism, CPh 51 (1956), 1-13, hier: 12 Anm. 23, sieht die beiden Begriffe als zu ungenau für eine exakte zeitliche Datierung an. 23 Vgl. die übersichtliche tabellarische Darstellung der potentiellen Opfer der domitianischen Maßnahme bei Heemstra (wie Anm. 7), 33. 24 Vgl. Heemstra (wie Anm. 7), 32-63, sowie das Ergebnis ebd., 64-66. 129 JASCA 2 (2014) Die Frage nach der Aufmerksamkeit, die diese Maßnahme offensichtlich erzielte, und, damit zusammenhängend, dem besonders öffentlichkeitswirksam „betroffenen“ Personenkreis wurde jedoch selten in den Fokus gerückt. So dürfte die im Selbstzeugnis Suetons geschilderte spektakuläre Inspektion des neunzigjährigen Greises, unter Tatbestand (2) fallend, durch einen Prokurator wie eine Kommission ob des sozialen Umfeldes durchaus in höheren Kreisen angesiedelt werden. Für den Tatbestand (1) gibt es nun ebenfalls Hinweise darauf, daß hier die Behandlung öffentlicher Personen aus dem näheren Umfeld des Kaisers entsprechendes Aufsehen erregte. Für T. Flavius Clemens25, dem jüngeren Cousin Domitians, sind Tendenzen hin zum jüdischen Glauben überliefert, die ihn im Jahre 95 n.Chr. nach seinem gemeinsamen Konsulat mit Domitian den Kopf kosteten, während seine Frau Flavia Domitilla26 wegen gleicher Anklage in die Verbannung geschickt wurde. 27 Auch für weitere Personen, am prominentesten M.’ Acilius Glabrio, ist dieser Verurteilungsgrund überliefert, dem Tod oder Vermögenskonfiskation folgen konnten.28 Ob diese bona damnatorum dabei wie üblich an das aerarium populi Romani flossen oder möglicherweise ebenso in der Aufstellung beim fiscus Iudaicus auftauchten, wäre zu überlegen. 29 In der öffentlichen Wahrnehmung dürfte ein solcher spektakulärer Vermögenseinzug allerdings, fernab PIR2 F 240. PIR 2 F 418. 27 Sueton (Dom. 15,1) berichtet von der contemptissima inertia des Flavius Clemens und der Hinrichtung durch Domitian tenuissima suspicione: Denique Flavium Clementem patruelem suum, contemptissimae inertiae, cuius filios etiam tum parvulos successores palam destinaverat abolitoque priore nomine alterum Vespasianum appellari iusserat, alterum Domitianum, repente ex tenuissima suspicione tantum non in ipso eius consulatu interemit. Quo maxime facto maturavit sibi exitium. Bei Cassius Dio (67,14,1f.) wird sowohl Flavius Clemens als auch Flavia Domitilla Atheismus zum Vorwurf gemacht; in diesem Zusammenhang taucht die Tendenz zur jüdischen Lebensweise auf: (1) 25 26 … ἀ ῷ ὐ ῷ ἀ ὸ ὁ ό . 2 ἐ έ ἐ ή ∙ἡ ἔ ὶ ἐ ἄ ὶ ὸ Φ ά < ὸ >Κ ή ὑ ύ , ί ἑ ῦΦ ί ί ἔ , έ ἀ ό ,ὑ ’ἧ ὶἄ ἐ ὰ ῶ ί , ὶ ἱ ὲ ἀ έ , ἱ ὲ ῶ ῦ ὐ ῶ ὲ ό ἐ Π ί . 28 Vgl. D.C. 67,14,3 (Fortsetzung von oben, Anm. 26): ὸ ὲ ὴ ί ὸ ὰ ῦΤ ϊ ῦ ἄ , έ ά ἄ ὶ ἱ ὶ ὶὅ ὶ ί ἐ ά ,ἀ έ . ἐ ’ᾧ ὶ ὰ ά ὀ ὴ ὐ ῷὑ ὸ ό ἔ ,ὅ ὑ ύ ὐ ὸ ἐ ὸἈ ὸ ἐ ὶ ὰ Ν ύ ὠ έ έ έ ἀ ῖ έ ἠ ά , ὶ ὐ ό ὐ ὲ ἐ ά ἀ ὰ ὶ ὐ ώ ὐ ὸ ά . Vgl. Suet. Dom. 10,2: ῖ έ ὺ ὶ ὐ ὴ ὲἀ ῖ ἔ ὶ ά ί ὑ ί Complures senatores, in iis aliquot consulares, interemit; ex quibus Civicam Cerealem in ipso Asiae proconsulatu, Salvidienum Orfitum, Acilium Glabrionem in exilio, quasi molitores rerum novarum. Vgl. D.C. 68,1,2 zum Abstellen dieser Anklagen seitens delatores unter Nerva (Text s.u. 133). Zu M.’ Acilius Glabrio vgl. PIR2 A 67. 29 Vgl. dazu Alpers (wie Anm. 4), 303f. 130 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt der fiskalischen Wirklichkeit, bestimmt mit dem fiscus Iudaicus in Verbindung gebracht worden sein. Während es aufgrund der allgemeinen Zielrichtung der domitianischen Maßnahmen letztlich egal ist, ob es sich dabei um Tendenzen der Verurteilten hin zum Judentum oder, wie insbesondere später von christlichen Autoren behauptet, zum Christentum handelt30, ist vielmehr die Wirkung dieser Verurteilungen auf die (senatorische) Öffentlichkeit interessant. Für Cassius Dio ist es das große Mißtrauen Domitians, das ihn zusehends von der Führungselite des Reiches und seinem eigenen Beraterkreis isolierte und sein Ende heraufbeschwor.31 Nach Sueton ist die Verurteilung des Flavius Clemens sogar letztlich der Auslöser für die Palastverschwörung, der Domitian am 18. September 96 n.Chr. zum Opfer fiel.32 Aus dem Rampenlicht: Nervas Reform des fiscus Iudaicus Nach dem Ende Domitians und der Kaisererhebung Nervas stand zunächst einmal die Beruhigung der Lage im Mittelpunkt des Regierungshandelns des neuen Prinzeps. Auch wenn im Hintergrund Kontinuitäten zur flavischen Dynastie überwogen33, wurde nach außen hin mit dem „alten Regime“ abgerechnet. Dies zeigt sich neben dem literarischen „Aufatmen“ senatorischer Persönlichkeiten wie Plinius d.J. oder Tacitus deutlich in der Münzprägung. Neben der Betonung von jetzt herrschender Libertas Publica und Salus Publica wurde insbesondere die Aequitas und Iustitia des Kaisers hervorgehoben.34 In diesem Zusammenhang ist nun eine weitere Sesterzprägung des Kaisers interessant (Abb. 1): 30 Vgl. dazu die Diskussion bei Smallwood (wie Anm. 22), bes. 5-9; Fernández-Ardanaz, S. / Gonzáles Fernández, R., El fiscus iudaicus y las posiciones políticas de los cristianos de Roma bajo Domiciano, Gerión 23 (2005), 219-232, bes. 223-225. Ein weiterer Reflex könnte die bei Eusebius (HE 3,20) überlieferte Befragung zweier Abkömmlinge des vermeintlichen leiblichen Bruders Jesu, Judas, durch Domitian sein. Dabei kam es diesem Kaiser nicht auf religiöse Einstellungen, sondern nur auf das möglicherweise einzuziehende Vermögen an, da hierzu die genauesten Fragen gestellt wurden, die jedoch ob der geringen Vermögenslage offenbar nicht befriedigten. Eine späterhin zu korrigierende calumnia fand hier jedenfalls nicht statt, Domitian verachtete diese lediglich als „gemeine Leute“. 31 D.C. 67,14,4; 67,15,1-5. 32 Suet. Dom. 15,1 (Text s.o. Anm. 27). 33 Vgl. dazu nur den innovativen Aufsatz von Waters, K. H., Traianus Domitiani Continuator, AJPh 90 (1969), 385-405, der die Kontinuitäten von Domitian zu Nerva und Trajan herausarbeitet. 34 Vgl. dazu z.B. Heemstra (wie Anm. 7), 67f.; ausführlich zur Münzprägung vgl. Shotter, D. C. A., The Principate of Nerva: Some Observations on the Coin Evidence, Historia 32 (1983), 215-226; Brennan, T. C., Principes and Plebs. Nerva´s Reign as a Turning Point, AJAH 15 (2000), 40-66 (= E. Badian (ed.), The Year 96. Did it Make a Difference?); Grainger, J. D., Nerva and the Roman Succession Crisis of AD 96-99, London 2003, 52-65. 131 JASCA 2 (2014) Auf dem Avers ist dabei die belorbeerte Büste des Kaisers nach rechts zu sehen; die Kaisertitulatur, beim abgebildeten Stück: IMP(erator) NERVA CAES(ar) AVG(ustus) P(ontifex) M(aximus) TR(ibunicia) P(otestate) II CO(n)S(ul) III P(ater) P(atriae), erlaubt jeweils die Identifizierung des Prägezeitraums, so daß mit dem Auftauchen des hier abgebildeten Stückes bei einer Auktion nun vier Prägeserien belegt sind, welche die Regierungsjahre 96 und 97 n.Chr. abdecken.35 Der Revers zeigt eine Palme mit neun stehenden und zwei kürzeren, hängenden Palmwedeln, die zwischen das für die Aes-Prägungen typische S(enatus) C(onsulto) gesetzt ist. Die Revers-Legende lautet bei allen vier Prägeserien: FISCI IVDAICI | CALVMNIA SVBLATA. Ausgehend vom jeweiligen Interpretationsansatz der Maßnahmen Domitians wurde nun auch die Münzprägung Nervas und dessen Zielgruppe ganz unterschiedlich gedeutet, von der Aufhebung der bei Sueton (Dom. 12,2) beschriebenen Tatbestände bzw. Anklagemöglichkeiten bezüglich des fiscus Iudaicus bis hin zur Aufhebung desselben insgesamt.36 Nach den oben gemachten Beobachtungen zum politischen Skandal, den Domitian mit seiner strikten Durchführung hinsichtlich des fiscus Iudaicus und der damit im Zusammenhang stehenden Verurteilung öffentlicher Personen auslöste, läßt sich die Zielgruppe und damit auch der Hintergrund der Wortwahl calumnia fisci Iudaici sublata m.E. noch genauer bestimmen. So handelt es sich nicht so sehr um eine sozialpolitische37 oder gar religiös motivierte38 Maßnahme, sondern um ein politisches Signal an die Oberschicht, daß die entehrenden Untersuchungen (vgl. Suet. Dom. 12,2!) öffentlicher Personen aufgrund der verleumderischen (und 35 RIC II Nerva 227 (Nr. 58f.), 228 (Nr. 72, 82) sowie Numismatica Ars Classica Nr. 51 [März 2009], Lot 251. 36 Zu den in der Forschung vorgetragenen Interpretationen vgl. die konzise Zusammenfassung von Heemstra (wie Anm. 7), 71-74. Er selbst vertritt die Meinung, daß mit der Reform Nervas die Personen, die nicht mehr jüdischen Sitten folgten, sprich: die Christen, aber auch vom Glauben abgekommene Juden, nicht mehr der Judensteuer und der Kontrolle seitens des fiscus Iudaicus unterlagen. Alpers (wie Anm. 4), 295 Anm. 1029, weist mit Recht darauf hin, daß die calumniae mögliche Folgen, aber nicht identisch mit den von Domitian verschärft beachteten Tatbeständen waren, die ja als Recht galten. Insofern müßte man umso mehr nach einem konkreten Anlaß für das Politikum suchen. Vgl. dazu auch unten, Anm. 43. 37 Die Münze wird bei Shotter (wie Anm. 34), 223, in den Zusammenhang mit der Aufhebung der vehiculatio Italiae sowie der Einführung der alimenta gestellt. Zu letzterem und der Zielrichtung vgl. ausführlich Wierschowski, L., Die Alimentarinstitution Nervas und Trajans. Ein Programm für die Armen?, in: P. Kneissl / V. Losemann (Hrsg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. FS für K. Christ zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1998, 756-783; Seelentag, G., Der Kaiser als Fürsorger – Die italische Alimentarinstitution, Historia 57 (2008), 208-241. 38 In diese Richtung tendiert M. D. Goodman in neuerer Zeit, indem er eine zeitweise Aufhebung der Judensteuer postuliert. Vgl. dazu oben Anm. 6. 132 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt falschen) Anklagen seitens Delatoren (calumniae)39 nun ein Ende haben sollen.40 So berichtet auch Cassius Dio (68,1,2) folgendes für diesen Kaiser: ὶ ὁ Νέ ή , ῶ ἐ ἄ ἔ ὔ ’ἀ ί ὲ ὶ ῶ ύ έ ύ ύ ἐ ὔ ’ ἐ ’ἀ ίᾳ ἀ ύ ὶ ὺ ἐ έ ά ἀ έ . ὶ έ ἐ ὶ ὺ ό ἐ ϊ ῦ ί ᾶ ί ά ά ά ὶ ὺ ῖ ὺ ὲ ῖ , ύ ό ύ ῖ ὲ ὴ ἄ ώ . ὐ ’ ὶ ˑ Um die Einschränkung des Delatorenwesens und diverser calumniae fiscales hatte sich bereits Domitian in seiner „guten“ Phase bemüht 41 , unter dessen Nachfolgern Nerva und Trajan wurde dies sogar zu einem Markenzeichen der kaiserlichen iustitia und aequitas, was ebenso Plinius d.J. in seinem Panegyricus ausschweifend lobte. 42 So konnte sich Nerva nach der Palastverschwörung gegen Domitian, dessen Verdammung aus dem kollektiven Gedächtnis (damnatio memoriae) und der aufgeladenen Situation innerhalb der römischen Oberschicht zwischen ehemaligen Domitian-Günstlingen und -Feinden einerseits positionieren, andererseits das Skandalon damit auch Schritt für Schritt aus der öffentlichen 39 Zum rechtlichen Horizont von calumnia in straf- wie zivilprozeßlicher Hinsicht vgl. Berger, A., Encyclopedic Dictionary of Roman Law, Philadelphia 1953 (TAPhS N.S.; 43,2), 378f. (s.v. calumnia); für den hier strafrechtlichen Bereich siehe Mommsen, Th., Römisches Strafrecht, Leipzig 1899 (Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft; 1,4), 491-498; ausführlich jetzt Giomaro, A. M., Per lo studio della calumnia. Aspetti di “deontologia” processuale in Roma antica, Torino 2003. 40 In diese Richtung tendieren auch Fernández-Ardanaz / Gonzáles Fernández (wie Anm. 30), bes. 221-226. 41 Vgl. Suet. Dom. 9,3: Fiscales calumnias magna calumniantium poena repressit, ferebaturque vox eius: “princeps qui delatores non castigat, irritat.” Ebenso D.C. 67,1,4: … ’ ὐ ύ ῃ ίᾳ ὶ έ ύ έ ὅ ὐ ά ὅ ὴ ά ῃ ὺ ά , ὐ ό ῖ . Alpers (wie Anm. 4), 293f., interpretiert das Wort „fiscalis” gemäß seines Ansatzes auf die Provinzialkassen. Zum Problem des Delatorenwesens vgl. allgemein Rivière, Y., Les délateurs sous l´Empire romain, Rome 2002 (BEFAR; 311). Die Klagen über das Delatorenwesen und die Beseitigung durch Nerva und Trajan finden sich auch bei Plinius d.J. in paneg. 34-36; dazu Durry, M. (ed.), Pline Le Jeune: Panégyrique de Trajan, Paris 1938, 137-141 (ad loc.); speziell zum Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer vgl. Günther, S., Vectigalia nervos esse rei publicae – Die indirekten Steuern in der Römischen Kaiserzeit von Augustus bis Diokletian, Wiesbaden 2008 (Philippika; 26), 49. Über die Beziehungen von Plinius d.J. zu Kaiser Domitian hinsichtlich des Delatorenwesens siehe Giovannini, A., Pline et les délateurs de Domitien, in: ders. (ed.), Opposition et résistances à l'empire d'Auguste à Trajan: 9 exposés suivis de discussions. Vandoeuvres-Genève, 25-30 août 1986, Genève 1987 (Entretiens sur l'antiquité classique; 33), 219-248, der eine enge Zusammenarbeit attestiert. 42 133 JASCA 2 (2014) Wahrnehmung der Oberschicht verdrängen, indem er sich als tatkräftiger Bekämpfer der calumniae, nicht nur in diesem Bereich, zeigte.43 Welche Auswirkungen genau dies auf die Einziehung der Judensteuer 44 durch den fiscus Iudaicus, etwaige Rückgängigmachungen von Verurteilungen oder Konfiskationen hatte, ist nicht weiter überliefert und bleibt darob Spekulation. Ebenso dürften weder Domitian noch Nerva die von der Forschung vermuteten identitätsbildenden (Neben-)Effekte für Juden- wie Christentum im Blick gehabt haben. Daß insgesamt gesehen die Abstellung der calumniae fisci Iudaici seitens Nervas allerdings weder die normale Bevölkerung im Allgemeinen noch Juden im Besonderen vor weiteren (fiskalischen) Repressalien in der Folgezeit schützte, entspricht einer verständlichen Orientierung und Konzentration des Kaisers auf peer groups und Multiplikatoren bei seinen Maßnahmen in dieser spezifischen Umbruchssituation; 45 jedenfalls richtete sich das wertmäßig geringe Nominal (Sesterz) nicht spezifisch an untere Schichten.46 Zusammenfassung 43 Die Beauftragung eines praetor seitens Nerva, qui inter fiscum et privatos ius diceret (Dig. 1,2,2,32), könnte ebenfalls auf diese Beseitigung von Mißständen deuten, auch wenn hier sicherlich der fiscus Caesaris gemeint ist. Vgl. Plin. paneg. 36,4. Dazu Grainger (wie Anm. 34), 53. Insgesamt zu den Veränderungen im Finanzbereich vgl. ebd.; für die Erbschaftssteuer speziell Günther (wie Anm. 42), 49f. 44 Zwar existieren für die kurze Regierungszeit Nervas keine Ostraka oder Papyri mit Steuerquittungen aus Ägypten; daraus allerdings e silentio den Schluß einer zeitweisen Aufhebung der Judensteuer zu ziehen, wie dies z.B. M. D. Goodman (vgl. oben Anm. 6) in neuerer Zeit (2007) versucht, ist methodisch fragwürdig, aber natürlich nicht ganz ausgeschlossen. Vgl. zur Diskussion Heemstra (wie Anm. 7), 19 m. Anm. 25. 45 Sollten die bei Sueton beschriebenen Maßnahmen tatsächlich schon in die Anfangsjahre der Regierung Domitians gehören (vgl. zur Diskussion oben Anm. 22), wäre zudem eine so späte Reaktion auf eine schon lange laufende Praxis eher unverständlich; umso mehr müßte man dann wohl den Münztyp Nervas auf den oben beschriebenen Umgang Domitians mit der Oberschicht am Ende von dessen Regierungszeit beziehen. Bei der Bronzeprägung sollte man bezüglich der Entscheidungsfindung für einen bestimmten Münztyp neben dem Einfluß des Kaisers auch die Sichtweise bzw. formale Zuständigkeit der senatorischen Münzmeister nicht vergessen. Vgl. dazu Wolters, R., The Julio-Claudians, in: W. E. Metcalf (ed.), The Oxford Handbook of Greek and Roman Coinage, Oxford 2012, 335-355, bes. 343346. 46 Wolters, R., Bronze, Silver or Gold? Coin Finds and the Pay of the Roman Army, Zephyrus 53-54 (2000-2001), 579-588, hat gezeigt, daß es keine Korrelation von Nominal und sozialer Schicht in Bezug auf Verwendung und auch politische Propaganda seitens der Kaiser gegeben hat; eher gab es regionale Verbreitungsgebiete, so bei den Quadrantes, die vornehmlich in Italien umliefen. Auch für die Sesterzen mit Produktionsort Rom dürfte zunächst der Verbreitungsort Rom/Italien im Fokus gestanden haben. Insofern ist eine „reichsweite“ Interpretation des Nerva-Sesterzes wohl ebenfalls problematisch, aber natürlich nicht endgültig zu widerlegen. Vgl. dazu auch Wolters [2012] (wie Anm. 45), 345. 134 Sven Günther: Der fiscus Iudaicus als Forschungskonstrukt Die mannigfachen, auf zahlreichen Hypothesen fußenden Erklärungsmodelle zum fiscus Iudaicus in den letzten Jahren haben zu einer Überinterpretation dieser letztlich nur zweimal direkt in Quellen belegten Institution geführt. Dabei wurden die jeweiligen Ausrichtungen der dieses Thema behandelnden Fachdisziplinen – insbesondere die althistorische Erforschung der Administration der Finanzverwaltung in der Römischen Kaiserzeit (M. Alpers), die von der Judaistik betriebene Untersuchung des Verhältnisses zwischen römischer Besatzung und jüdischer Bevölkerung (M. D. Goodman), die von der christlichen Theologie beeinflußte Analyse des Trennungsprozesses zwischen Christentum und Judentum im 1.-3. Jahrhundert (M. Heemstra) – als Gerüst zum Aufbau des jeweiligen Hypothesengebäudes verwendet. Bei einer Konzentration auf die reine Quelleninterpretation fallen diese allerdings zum größten Teil in sich zusammen. Am wahrscheinlichsten bleibt, daß es sich beim fiscus Iudaicus um eine kaiserliche Verwaltungsabteilung neben vielen anderen unter dem Dach des a rationibus zur Administration der reichsweiten „Judensteuer“ handelte, die in flavischer Zeit, möglicherweise unter dem ersten flavischen Kaiser Vespasian, eingerichtet wurde. Fest steht, daß dieser fiscus Iudaicus durch die harsche Einzugspraxis unter dem letzten flavischen Kaiser Domitian ins öffentliche Rampenlicht geriet. Den Anstoß hierfür gab der Umgang mit Angeklagten aus der (senatorischen) Oberschicht, die sich entwürdigender Untersuchungen und (falscher) Verurteilungen ausgesetzt sahen. Auch wenn letztlich nicht zu entscheiden ist, ob alle diesbezüglich überlieferten Fälle direkt zum Administrationsbereich des fiscus Iudaicus gehörten, wurde dies in der Öffentlichkeit so wahrgenommen. Dieses Politikum ergab sodann den Ansatzpunkt für den Nachfolger des ermordeten Kaisers, Nerva, die (tatsächlichen oder suggerierten) falschen Anklagen seitens der delatores, die calumniae, abzustellen und dies öffentlichkeitswirksam mittels der Münzpropaganda zu verkaufen. In der nach der Ermordung Domitians durcheinander geratenen Oberschicht mit Freunden wie Gegnern des ehemaligen Kaisers versuchte er sich somit als Stabilisations- und Beruhigungsfaktor zu positionieren. Wie genau danach der fiscus Iudaicus als Behörde bestehen blieb und nach welchen Kriterien er agierte, muß aufgrund der fragmentarischen Quellenlage offenbleiben. Die „Judensteuer“ jedenfalls ist auch hernach noch belegt. Daß die Maßnahmen Domitians wie Nervas bezüglich des fiscus Iudaicus möglicherweise Nebeneffekte in Bezug auf die Identitätsbildung von Judentum und/oder Christentum zeitigten, ist dabei ein anderes Thema, das nicht im Blickbereich beider Kaiser gewesen sein dürfte. 135 JASCA 2 (2014) Abbildungsnachweis: Abb. 1: Sesterz des Kaisers Nerva. Numismatica Ars Classica Nr. 51 [März 2009], Lot 251. Mit freundlicher Genehmigung des Auktionshauses Numismatica Ars Classica (NAC) AG, Zürich. The University of Bielefeld [email protected] 136