Benin-Bronzen & mehr: Die Diskussion um das koloniale Erbe. Seiten 6 bis 8
, €
Juni
6
In dieser Ausgabe:
Barbara GessleGötz Aly
Bernhard Klausnitzer
Viola König
Isabel Pfeiffer-Poensgen
Sabine Verheyen
und viele andere
Zeitung des Deutschen Kulturrates
www.politikundkultur.net
Corona vs. Kultur
Soziale Lage
Nachhaltiges Bauen
Online-Plattformen
Was lange währt, wird endlich
gut? Der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen
wird Anfang Juli starten
Seite
Dauerhafte Regelungen
dringend notwendig: Wie
können Selbständige in Zukunft
besser abgesichert werden?
Seite
Die Zukunft Westafrikas:
Die Verbindung von Tradition
und Moderne verändert die
Architektur im Senegal
Seite
Meinungsmacht im Visier:
Der Einfluss globaler Internetkonzerne soll in der EU
gebremst werden
Seite
Kippe
Olaf Zimmermann
ist Herausgeber
von Politik & Kultur
Bsss, bsss
FOTO: OLAF ZIMMERMNANN
Das Humboldt Forum steht auf der
Kippe. Jahrelang haben die Verantwortlichen alle Alarmzeichen
ignoriert, um jetzt vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Angefangen
hat das Dilemma mit der Fehlentscheidung, das preußische Berliner
Stadtschloss zu rekonstruieren und
keinen architektonisch spannenden Neubau zu errichten. Schon
mit dieser Entscheidung ist ein
Grundproblem manifestiert worden,
ein Museum der Weltkulturen in
ein preußisches Schloss zu verfrachten und zu glauben, dass der Ort
keine Wirkungen auf den Inhalt
hätte.
Diesem ersten Fehlgriff wurde
gleich ein zweiter nachgereicht. Die
Verantwortlichkeit für die inhaltliche Gestaltung wurde schön föderal
bis zur Unkenntlichkeit verteilt. Neben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit dem Ethnologischen
Museum und dem Museum für Asiatische Kunst, der Kulturprojekte
Berlin GmbH mit dem Stadtmuseum
Berlin, der Humboldt-Universität
zu Berlin und der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
wurde ein ganzer Strauß von unterschiedlichen Interessen mit den
Planungen beauftragt. Eigentlich
politisch verantwortlich sind die
Kulturstaatsministerin und der
Kultursenator von Berlin.
Schon vor Jahren war klar, dass
die Frage nach unserer – der deutschen – Verantwortung in der Kolonialzeit an diesem Ort beantwortet
werden muss.
Und dabei geht es nicht nur um
die Frage, unter welchen Bedingungen die Ausstellungsstücke in
die ethnologischen Sammlungen
gekommen sind, sondern auch um
die Frage, wie das koloniale Denken
und Handeln auch heute unsere Beziehungen zu den Ländern des Südens prägen.
Doch diese Fragen werden wohl
nicht so bald beantwortet. Es muss
für das Humboldt Forum doch sehr
peinlich sein, dass der Historiker
Götz Aly gerade von außen die
Provenienzrecherche über eines der
zentralsten Ausstellungsstücke des
Humboldt Forums, das Luf-Boot,
öffentlichkeitswirksam vorgestellt
hat.
Ein Grund für viele dieser Unzulänglichkeiten ist der Unwille der
Verantwortlichen, die internationale
und nationale Zivilgesellschaft in
das Projekt mit einzubeziehen. Ich
kann mich an kein kulturpolitisches
Projekt in den letzten zweieinhalb
Jahrzehnten erinnern, wo jahrelang
alle Angebote zum Mitdenken so
konsequent ignoriert wurden.
Jetzt steht der Millionen Euro
teure »Altbau« auf der Kippe. Die
Beninplastiken sind Raubkunst, das
Luf-Boot ist Raubkunst, was kommt
als Nächstes.
Nur mit einer neuen Offenheit ist
das Humboldt Forum
noch zu retten.
Die kulturelle Welt der Insekten. Seiten bis
Regelwerk für die Kultur
Das Kulturgesetzbuch des Landes Nordrhein-Westfalen
ISABEL PFEIFFERPOENSGEN
D
ie Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist mit dem Versprechen angetreten, die dichte und heterogene kulturelle
Landschaft des Bundeslandes – finanziell
und politisch – auf soliden Grund zu stellen und ihr
Entfaltungsspielräume zu geben. Dieses Versprechen
hat in zwei politischen Großprojekten Form gefunden, die einander ergänzen und die Wirksamkeit des
jeweils anderen erst entfalten.
Mit einer bundesweit einzigartigen kulturpolitischen Offensive erhöht die Landesregierung den
Kulturetat bis langfristig um mehr als Prozent
oder Millionen Euro und beendet damit die strukturelle Unterfinanzierung der Kultur in NordrheinWestfalen. Dieser Aufwuchs, der auch angesichts
der Corona-Akuthilfen in Höhe von zusätzlich
Millionen Euro planmäßig fortgesetzt wird, stabilisiert die vorhandenen Strukturen und schafft mehr
Planungssicherheit.
Mit dem Kulturgesetzbuch, das auch Teil des Koalitionsvertrags der CDU-FDP-Landesregierung ist,
löst die Landesregierung nun den zweiten Teil ihres
Versprechens ein. Den Regierungsentwurf für das
Mit einer bundesweit einzigartigen kulturpolitischen Offensive erhöht die Landesregierung
den Kulturetat bis langfristig um mehr als Prozent
oder Millionen Euro
Kulturgesetzbuch hat das Landeskabinett Mitte Mai
gebilligt, im Winter soll es verabschiedet werden und
zum Jahresbeginn in Kraft treten.
Das Kulturgesetzbuch bündelt alle für die Kultur
wesentlichen gesetzlichen Regelungen und fügt ihnen
zugleich weitreichende und wesentliche Neuerungen
hinzu. Es setzt die vorhandenen Regelwerke zueinan-
der in Beziehung, schafft Übersicht und Transparenz
und gibt den neuen politischen Vorhaben Nachdruck
und Verbindlichkeit durch ihre gesetzliche Verankerung. Dazu zählen beispielsweise die Förderung der
Bibliotheken, die Absicherung der Musikschulen oder
die Bindung der Zuschüsse für kommunale Theater
oder Orchester an Fördervereinbarungen, um zu verhindern, dass die Kulturförderung als freiwillige Aufgabe der Kommunen bei Sparrunden in Frage gestellt
wird. Das Kulturgesetzbuch macht die vorhandenen
gesetzlichen Regelungen leichter verfügbar, in ihrer
Korrelation besser nachvollziehbar und verleiht den
Anliegen der Kultur insgesamt deutlich mehr Gewicht.
Dabei hat das Kulturgesetzbuch ganz unmittelbare
Auswirkungen für die Kulturschaffenden: So werden
in einem Bereich, der von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt ist, Honoraruntergrenzen eingeführt,
mehr Festanstellungen erwirkt und Förderantragsverfahren unbürokratischer gestaltet – was den vielen haupt- und ehrenamtlichen Akteurinnen und
Akteuren den Zugang zu Förderungen erleichtert.
Geschlechtergerechtigkeit und Diversität werden in
der Kulturförderung des Landes und der Besetzung
von Jurys verbindlich berücksichtigt – um nur einige
Beispiele zu nennen. Das bestehende Kulturfördergesetz wird durch das Kulturgesetzbuch gezielt weiterentwickelt und schließlich abgelöst.
Mit dem Kulturgesetzbuch bekräftigt NordrheinWestfalen mit Nachdruck die Kulturhoheit der Länder
als »Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder«, wie
das Bundesverfassungsgericht es in seiner Rechtsprechung fasst, und legt ein klares Bekenntnis sowohl zur
Rolle der Kultur in Nordrhein-Westfalen als auch zur
Rolle der Länder in der Kulturpolitik ab.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die
Bedeutung der Kommunen für die Kultur übersehen
würde. Im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung regeln die Gemeinden ihre kulturellen Aufgaben
selbst und tragen gerade in Nordrhein-Westfalen den
Löwenanteil der Kulturausgaben. Wir können und
wollen den Gemeinden als Land nicht vorschreiben,
wie sie ihre kulturellen Einrichtungen führen, wohl
aber Angebote machen, die einen Rahmen vorgeben.
Bei landesspezifischen Themen hingegen, etwa bei
Kunstbesitz und Kulturförderung des Landes, schaffen
wir sehr verbindliche Regelungen.
Das Kulturgesetzbuch ist ein Novum in Deutschland. In keinem anderen Bundesland gibt es ein
vergleichbares Regelwerk für die Kultur. Entsprechend konnte es sich weder auf Vorbilder noch auf
Erfahrungswerte stützen. Umso wichtiger war uns
der intensive, fortgesetzte und breit angelegte Austausch mit den für die Kultur in Nordrhein-Westfalen
relevanten Akteurinnen und Akteuren, unter anderem
natürlich dem Kulturrat NRW, der sich einmal mehr
als weitsichtiger und konstruktiver Gesprächspartner
Das Kulturgesetzbuch ist ein
Novum in Deutschland. In keinem anderen Bundesland gibt
es ein vergleichbares Regelwerk
für die Kultur
bewiesen hat. Der Austausch mit den Verbänden hat
den Entwicklungsprozess dieses kulturpolitischen
Großprojektes eng begleitet und war ein unverzichtbares Korrektiv unserer Arbeit. Insgesamt Verbände
wurden angehört und ihre Anregungen und Kritik
in großem Umfang aufgenommen. Denn das Kulturgesetzbuch soll kein abstraktes Regelwerk sein,
sondern sich unmittelbar auf die kulturelle Landschaft
in Nordrhein-Westfalen beziehen und ihr von Nutzen
sein. Wir möchten die Rolle der Akteurinnen und
Akteure in dieser Landschaft stärken und ihnen ihre
Arbeit erleichtern.
Diese Diskussion möchten wir auch in Zukunft
fortsetzen, um auf die Veränderungen der Kultur reagieren zu können, die ihrerseits gesellschaftliche
Fortsetzung auf Seite
Nr. /
ISSN -
B
02 SEITE
www.politikundkultur.net
EDITORIAL
Kippe
Olaf Zimmermann
01
Kolonialismus-Debatte:
Die Beninbronzen
Viola König
LEITARTIKEL
Möller meint – Humboldt Forum:
Ideologischer Spielball
Kulturfördergesetz NRW:
Regelwerk für die Kultur
Johann Michael Möller
Isabel Pfeiffer-Poensgen
01
02
03
INLAND
08
Ausstellung »Lichtblicke«:
Kunst im Impfzentrum
Fünf Fragen an Martina Hassel
Kultursonderfonds des Bundes:
Lang hat’s gedauert und nun geht
es ganz schnell
09
Kulturfunke Lübeck:
»Bist Du auch ein Funke?«
13
Fünf Fragen an Max Schön
Jochen Oltmer
04
Helmut Hartung
14
Illustrator Christian Thanhäuser
im Porträt: Die große Welt der
kleinen Dinge
Anna Grosskopf
15
Susanne Keuchel
15
Insekten in Computerspielen:
Insekten spielen
Personen & Rezensionen
16
Thomas Hawranke
Enzo Weber
Stimme aus dem Parlament: Kultur
und Kreativität in Europa:
Bringt die Kultur zurück!
Olaf Zimmermann
Johann Hinrich Claussen
05
Raubkunst-Debatte:
»Dieses Buch ist eine Streitschrift«
Hans Jessen im Gespräch mit
Götz Aly
06
INTERNATIONALES
18
Nachtigall
19
Marcus Schwarz
30
Drei Fragen an Jörg-Andreas Krüger
30
Insect Respect: »Weniger töten,
mehr retten«
Fünf Fragen an Hans-Dietrich
Reckhaus
31
24
DAS LETZTE
25
25
26
Kurz-Schluss
Theo Geiẞler
32
Taubenschiss –
Die P&K-Fake-News
32
Karikatur
32
Impressum
32
DER AUSBLICK
7-8
26
Tötungsdelikte: Wenn Insekten
über Leichen gehen
Ludwig Greven im Gespräch mit Werner
12
Olaf Bandt
23
Menschliche versus tierische
Gemeinschaft: Insekten in der
Antike
Dominik Berrens
29
Naturschutzbund Deutschland:
»Wir müssen dringend handeln«
Der Harmas Jean-Henri Fabre:
Verwirklichter Lebenstraum
Jürgen König
Von Insekten lernen: »Die Natur
als Ganzes können wir Menschen
nicht zerstören«
Akademischer Wiederaufbau im
Irak: Aufbruchstimmung
Benjamin Schmäling
17
Einfluss von Insekten:
Insekten und Kultur
Bernhard Klausnitzer
22
Ernährung: Krabbeln auf dem
Teller
INSEKTEN & KULTUR
Michael Ohl
Insektenschutz: Systemrelevante
Schönheit und Vielfalt
Sandra Winzer im Gespräch mit
Ludwig Greven
11
21
Mit Musik gegen Insektensterben:
Insect Concerto
Gregor Amadeus Mayrhofer
28
Naturgeschichte: Bienen, Wespen
und Ameisen
Insekten im Jugendstil:
Von Schmetterlingen und
Libellen
Einleitung: Die kulturelle Welt der
Insekten
Sabine Verheyen
20
Insekten in der Kunst:
Schwarmästhetik
Jessica Ullrich
KULTURELLES
LEBEN
EUROPA
Claussens Kulturkanzel: Mehr
Distanzbewusstsein, weniger
Identifikation
Riccarda Cappeller
Markus Metz und Georg Seeßlen
Arbeitslosenversicherung: Sichern
wir unsere Selbständigen ab!
05
Niels Werber
Die Meinungsmacht der OnlinePlattformen im Visier
Keuchels Kontexte: Eine neue
Kultur des Miteinanders von
Mensch und Maschine?
10
Formen des Zusammenlebens:
Von der Kunst, Gesellschaft zu
gestalten
Insekten im fantastischen Film:
Killerbienen und Fliegenwesen
09
OSTWEST
PERSPEKTIVEN
Soziale Insekten: Von der Fabel
zur Selbstbeschreibungsformel der
Gesellschaft
MEDIEN
Andreas Kolb
Die DDR – eine
Migrationsgesellschaft?
Ein Kulturgesetzbuch für
Nordrhein-Westfalen
Gerhart Baum und Robert von Zahn
Ruth Helmling
08
Antisemitismus: »Das ist eine neue
Stufe des Judenhasses!«
Stefan Hensel
AKTUELLES
Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz
07
Ludwig Greven im Gespräch mit
SEITE 2
Kulturmensch Harald Biermann
Goethes Welt Afrika:
Zurück in die Zukunft
27
Die nächste Politik & Kultur
erscheint am . Juli .
Im Fokus steht das Thema
»Science Fiction«.
Isabel Pfeiffer-Poensgen
schaft. Zu diesen Qualitätskriterien
zählen fest angestellte und tariflich
bezahlte Musikpädagogen und -pädagoginnen. Um dieses Ziel zu erreichen,
unterstützt die Landesregierung im
Rahmen der Musikschuloffensive die
Kommunen bei der Finanzierung der
Musikschulen auf Dauer mit zusätzlich sieben Millionen Euro jährlich,
wodurch kurzfristig feste Stellen
geschaffen werden können.
Die bereits angesprochene mit dem
Kulturgesetzbuch festgeschriebene Förderung der Bibliotheken ist ein klares
Bekenntnis zu ihrer Bedeutung als Orte
lebenslanger kultureller Bildung und
Begegnung, die auch für das Landesprogramm »Dritte Orte« eine zentrale
Rolle spielen.
Ein Thema, das mir persönlich sehr
am Herzen liegt, ist die Provenienzforschung. Sie hat, einschließlich der Washington Principles, prominent Eingang
ins Kulturgesetzbuch gefunden. Damit
verpflichtet sich das Land erstmals, die
Provenienzforschung gezielt zu fördern
und trägt damit der Verantwortung
Rechnung, die Politik und Gesellschaft
für solche Werke übernehmen müssen,
die in der Zeit des Nationalsozialismus
ihren rechtmäßigen Besitzerinnen und
Besitzern entwendet wurden. Teil dieser
Förderung ist die im Kulturgesetzbuch
verankerte »Koordinationsstelle für
Provenienzforschung in NordrheinWestfalen« (KPF.NRW), die wir als
Land im Dezember mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) und
dem Landschaftsverband WestfalenLippe (LWL) eingerichtet haben.
Neben den NS-verfolgungsbedingten
Entzügen rückt mit dem Kulturgesetzbuch auch die Herkunftsforschung zum
kolonialen Erbe und den Enteignungen
und enteignungsgleichen Besteuerungen in der ehemaligen DDR stärker in
den Blick.
Es steht meines Erachtens außer Frage, dass Kunst im Landesbesitz unter
besonderem Schutz stehen sollte. Im
Zuge der Auseinandersetzung um die
umstrittenen Kunstverkäufe der ehemaligen Landesbank WestLB und ihrer
Abwicklungsgesellschaft Portigon hat
der damals eingerichtete kulturfachliche Beirat einen Kodex zum Umgang
mit Kunst im Landesbesitz entworfen.
Entsprechend schreibt das Kulturgesetzbuch die Verpflichtung zum Erhalt
des Landeskunstbesitzes fest. Das heißt:
Kunstschätze aus diesen Sammlungen
dürfen nicht wie Tafelsilber verkauft
werden, um Haushalte zu sanieren.
Eines der großen und für alle gesellschaftlichen Felder gleichermaßen relevanten Themen unserer Zeit ist das
der Nachhaltigkeit, und zwar in seiner
dreifachen Ausprägung: als ökologische,
wirtschaftliche und soziale Größe. Es
darf in einem zentralen Regelwerk, das
Standards für Struktur und Förderung
der kulturellen Landschaft setzt, nicht
fehlen. Vielmehr wollen wir dieses Instrument nutzen, um grundlegende Forderungen im Hinblick auf nachhaltiges
Handeln festzuschreiben, und zwar in
vielfältiger Hinsicht: Beim Bauen ebenso wie bei der Durchführung von Veranstaltungen, bei der Produktion von
Kunst ebenso wie bei ihrer Präsentation
und beim internationalen Austausch.
Das Kulturgesetzbuch verpflichtet auch
die Kulturpolitik, Förderlinien nachhaltig auszurichten und zusätzliche Kosten,
die so entstehen können, als förderfähig
anzuerkennen.
Mit dem Kulturgesetzbuch machen
wir die Kultur einmal mehr zu einem
zentralen politischen Handlungsfeld
dieser Landesregierung und schaffen
Verbindlichkeiten, die auf eine lang-
fristige Stabilisierung und Stärkung der
kulturellen Landschaft angelegt sind.
Zugleich bekräftigen wir mit dem Regelwerk die unbedingte Zweckfreiheit
der Kunst und respektieren ihre natürliche Dynamik.
Isabel Pfeiffer-Poensgen ist Ministerin
für Kultur und Wissenschaft des
Landes Nordrhein-Westfalen
Kulturmensch
Harald Biermann
»Harald Biermann bringt wertvolle
Erfahrungen mit den vielschichtigen
Herausforderungen des Museumsbetriebs mit. Mit der geplanten
Erneuerung der Dauerausstellung
in Bonn wird er eine ebenso bedeutende wie fordernde Aufgabe seines
Vorgängers übernehmen.« – mit diesen Worten begrüßte Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und
Medien, nachdrücklich die Berufung
des renommierten Historikers Biermanns zum neuen Präsidenten der
Stiftung Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland.
Bereits Anfang Mai hatte das Kuratorium der Stiftung Haus der
Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland einstimmig Biermann
zum neuen Präsidenten berufen. Er
übernimmt das Amt zum . Januar
von Hans Walter Hütter, der
dann altersbedingt in den Ruhestand treten wird. Als bisheriger
langjähriger Vertreter des Präsidenten und Direktor Kommunikation
der Stiftung ist Biermann hervorragend vorbereitet, um die kommenden Herausforderungen, vor denen
die Stiftung Haus der Geschichte
steht, zu meistern. Dazu zählen so-
wohl die inhaltliche Schärfung als
auch die Fortentwicklung der Vermittlungsarbeit an den drei Standorten in Bonn, Leipzig und Berlin.
Seit ist Biermann Mitarbeiter
der Stiftung Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland.
wurde er durch das Kuratorium zum
Direktor Kommunikation berufen
und zum Vertreter des Präsidenten. Wir sind gespannt auf das
Kommende und gratulieren Harald
Biermann herzlich!
FOTO: STIFTUNG HAUS DER GESCHICHTE/ AXEL THÜNKER
Entwicklungen nachzeichnet und deshalb naturgemäß in Bewegung ist. Entsprechend soll das Kulturgesetzbuch
ein lebendiger, ein lernender Organismus sein, dessen Unabgeschlossenheit
eines seiner Wesensmerkmale ist. An
die Stelle der bestehenden Kulturförderpläne treten mit den Kulturkonferenzen, die zweimal pro Legislaturperiode vorgesehen sind, dialogorientierte
Formate, die dokumentiert werden und
deren Verabredungen nachgehalten
werden. Hierdurch koppeln wir eine
den Kulturförderplänen vergleichbare Verbindlichkeit mit einem aktiven
Prozess der Anpassung an die sich wandelnde kulturelle Realität.
Die Corona-Pandemie hat keinen
Zweifel daran gelassen, dass eines der
zentralen Themen des Kulturgesetzbuches unaufschiebbar geworden ist: die
Verbesserung der Arbeitsbedingungen
derer, die das Rückgrat allen kulturellen
Lebens sind: Der Künstlerinnen und
Künstler. Entsprechend durchzieht dieses Thema das Kulturgesetzbuch und
schlägt sich in zahlreichen konkreten
Regelungen nieder. Institutionen und
Initiativen, die eine Landesförderung
beantragen, müssen in Zukunft Honoraruntergrenzen respektieren. Die
gängige Praxis beispielsweise, an dem
Honorar für Künstlerinnen und Künstler zu sparen, ist damit bei vom Land
geförderten Projekten obsolet. Damit
stellen wir an prominenter Stelle auch
ein Modell zur Diskussion, das maßgeblich zu den prekären Arbeitsverhältnissen im Kunstbereich beiträgt.
Auch die berufliche Situation der
Musikschullehrerinnen und Musikschullehrer soll strukturell verbessert werden. Die gesetzlichen Regelungen zu den Musikschulen, die
als neuer kulturpolitischer Baustein
Aufnahme in das Kulturgesetzbuch
gefunden haben, benennen erstmals
feste Qualitätskriterien als Voraussetzung für eine Förderfähigkeit – und
zwar unabhängig von der Träger-
FOTO: BETTINA ENGELALBUSTIN / MKW
Fortsetzung von Seite
AKTUELLES 03
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Lang hat’s gedauert und nun geht es
endlich los
OLAF ZIMMERMANN UND
GABRIELE SCHULZ
A
b dem . Juli dieses Jahres
soll der Sonderfonds des
Bundes für Kulturveranstaltungen starten. Endlich,
werden viele sagen, denn seit Herbst
letzten Jahres war er im Gespräch. Anfang dieses Jahres hatte Bundesfinanzminister Olaf Scholz in einem Interview
in dieser Zeitung einen Sonderfonds
für Kulturveranstaltungen angekündigt.
Danach folgte langes Schweigen. Nur
bröckchenweise drangen Informationen durch. Seit dem . Mai ist
klar: Der Fonds kommt. Er ist mit ,
Milliarden Euro ausgestattet.
Monate Auszeit
Mit Erscheinen dieser Zeitung besteht
in einigen Kulturbereichen seit Monaten Auszeit. Keine größeren Veranstaltungen, kaum Live-Festivals, keine
größeren Tourneen, kaum Konzerte
und Aufführungen. Zwar gab es nach
dem ersten Lockdown einige Lockerungsübungen und Veranstaltungen
im Sommer , doch seit November
: tosende Leere. Erst seit . Mai
gibt es zaghafte Öffnungsansätze. Von
einem flächendeckenden Kulturangebot wie vor der Pandemie kann nicht
die Rede sein. Kulturstaatsministerin
Monika Grütters spricht davon, dass in
»normalen« Zeiten . Kulturveranstaltungen im Jahr stattfinden. Wer
sich diese Zahl vor Augen führt, kann
ermessen, welcher Verlust in Folge der
Corona-Pandemie entstanden ist. Ein
Verlust an Freude und Genuss beim
Publikum, ein Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten bei Künstlerinnen und
Künstlern der unterschiedlichen Genres,
ein immenser ökonomischer Verlust für
die Kulturwirtschaft, Kultureinrichtungen, Kulturvereine sowie viele angrenzende Branchen.
Weiterer Baustein
Mit dem Sonderfonds des Bundes für
Kulturveranstaltungen sollen Kulturveranstalter ermutigt werden, Veranstaltungen zu planen und vertragliche
Verpflichtungen einzugehen, auch
wenn die Veranstaltungen aufgrund der
Corona-Pandemie voraussichtlich nicht
kostendeckend bzw. mit Gewinn durchgeführt werden können. Das gilt für
öffentliche und öffentlich-geförderte
Veranstaltungen, bei denen die öffentliche Förderung nur einen Teil der Kosten deckt und die Deckungslücke durch
Eintrittsgelder erwirtschaftet werden
muss. Das trifft auf privatwirtschaftliche Veranstalter zu, die die gesamten
Kosten aus Eintrittsgeldern finanzieren
müssen und als Unternehmen einen
Gewinn erwirtschaften müssen. Ebenfalls einbezogen sind Vereine, die ihre
Veranstaltungen kostendeckend durchführen müssen.
Der Sonderfonds des Bundes für
Kulturveranstaltungen knüpft damit
an die Überbrückungshilfen an, die privatwirtschaftlichen Unternehmen in
der Corona-Pandemie die Fortexistenz
sichern sollten. Sie sollten insbesondere den Unternehmen ein Überwintern
in der Corona-Pandemie ermöglichen.
Der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen setzt weiter bei
NEUSTART KULTUR an. Hier wurde
speziell mit den pandemiebedingten
Investitionen die Ertüchtigung von Veranstaltungsorten unterstützt und mit
der Programmförderung die Erarbeitung
von Programmen gefördert. Ferner unterstützt er jene Kulturveranstalter, die
dank einer Länderförderung sich auf die
Wiedereröffnung vorbereiten konnten.
Es ist insofern folgerichtig, dass der
Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen zu einem Zeitpunkt aufgelegt wird, an dem absehbar ist, dass
wieder Veranstaltungen stattfinden
können. Er richtet sich an Kulturveranstalter aller Rechtsformen sowie an
öffentliche Kultureinrichtungen.
Unterstützt werden Veranstalter folgender Kulturveranstaltungen: Theater,
Musical, Tanz, Puppen-, Figuren- und
Objekttheater, Varité, künstlerischer
Zirkus ohne Tierdarbietungen, Kleinkunst, Konzerte einschließlich LiveMusik mit kuratiertem Musikprogramm,
Vorführungen in den Bereichen Film
und Medien, Ausstellungen (Bildende
Kunst, natur- und kulturhistorische
Ausstellungen, Ausstellungen der Erinnerungskultur), Lesungen, Festivals
aller Kunstsparten und spartenübergreifende Kulturveranstaltungen. Die
Voraussetzungen sind:
• erstens, dass für die Veranstaltung
Eintrittsgeld erhoben wird,
• zweitens, dass coronabedingt weniger
Tickets verkauft werden können als
der Raum an Kapazität bietet.
Der Sonderfonds besteht aus zwei Bausteinen:
. Eine Wirtschaftlichkeitshilfe soll kleinere Veranstaltungen fördern, die ab
dem . Juli durchgeführt werden und an denen unter Beachtung
coronabedingter Hygienebestimmungen bis zu Besucher teilnehmen.
Ab dem . August werden
FOTO: PIXABAY
Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen soll Anfang Juli starten
Mit dem Sonderfonds werden unter anderem Veranstalter von Theateraufführungen, Musicals und Konzerten unterstützt
Veranstaltungen mit bis zu ..
Besuchern gefördert. Durch eine
Bezuschussung der Einnahmen aus
Ticketverkäufen werden so die wirtschaftlichen Risiken reduziert und die
Planbarkeit und Durchführbarkeit von
Veranstaltungen verbessert.
. Daneben stellt der Sonderfonds,
höchstwahrscheinlich ab dem .
September , eine Ausfallabsicherung bereit, die Kulturveranstaltungen ab . Besucherinnen und
Besuchern dadurch Planungssicherheit verschafft, dass im Falle coronabedingter Absagen, Teilabsagen oder
Verschiebungen von Veranstaltungen
ein Teil der Ausfallkosten durch den
Fonds übernommen wird.
Einige Hindernisse bestehen noch
Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe
bestanden allerdings noch einige nicht
unbeträchtliche Hindernisse bei der
Umsetzung des Sonderfonds für Kulturveranstaltungen, die hoffentlich bis
zum Start der Wirtschaftlichkeitshilfe
Anfang Juli und der Ausfallabsicherung Anfang September aus dem Weg
geräumt werden können.
Besonders wichtig ist, dass die Antragssteller einen rechtsicheren Bescheid über die Wirtschaftlichkeitshilfe
oder die Ausfallabsicherung unmittelbar nach der Antragsstellung erhalten.
Nur so kann verantwortlich das unternehmerische Risiko zur Durchführung einer Kulturveranstaltung unter
strengen Hygienebedingungen eingegangen werden. Das ist bislang nicht
vorgesehen. Vertrauen in den Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen kann nur entstehen, wenn auch
klar ist, dass die Antragsteller auch die
Mittel erhalten. Eine reine Registrierung ohne weitere Zusicherung, dass
auch Hilfen gewährt werden, wird dies
Vertrauen nicht schaffen. Zumal den
Veranstaltern auferlegt wird, mögliche
Vertragspartner über die Registrierung
beim Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen zu informieren.
Ein weiteres Hindernis ist der Zeitraum. Bislang ist der Sonderfonds des
Bundes für Kulturveranstaltungen nur
bis zum . Dezember geplant.
Dies ist ein viel zu kurzer Zeitraum.
Zumal jetzt noch nicht abzusehen ist,
ob ab dem kommenden Jahr wieder Veranstaltungen in gewohnter Größenordnung stattfinden können.
Umständlich erscheint derzeit, dass
Tourneeveranstalter in jedem Bundesland, in dem eine Veranstaltung stattfindet, einen Antrag auf Wirtschaftlichkeitshilfe stellen muss. Das könnte
bedeuten, dass beispielsweise für eine
Tournee einer Band durch Bundesländer, Anträge auf Wirtschaftlichkeitshilfe gestellt werden müssen. Hier
scheint noch Nachbesserungsbedarf vor
allem mit Blick auf bürokratische Hürden zu bestehen.
Ein besonderer Pferdefuß ist aus unserer Sicht, dass die Wirtschaftlichkeitshilfe nur für Veranstaltungen mit bis zu
. Teilnehmern beantragt werden
kann und hier nur . Tickets bezuschusst werden. Das ist insbesondere für
größere privatwirtschaftliche Veranstalter ein erheblicher Nachteil bei der Planung von Veranstaltungen. Sie kommen
in der Regel ohne öffentliche Förderung
aus. D. h. die Ticketeinnahmen müssen
alle Kosten decken und eine Gewinnmarge enthalten. Wenn, coronabedingt,
weniger Tickets verkauft werden können, ist es nicht möglich kostendeckend
zu arbeiten und schon gar nicht einen
Gewinn zu erwirtschaften, um die in
Monaten entstandenen Verluste auszugleichen. Hier besteht eine beträchtliche Benachteiligung der Kultur- und
Kreativwirtschaft. Das ist vor allem vor
dem Hintergrund, dass Unternehmen im
Gegensatz zu öffentlichen Unternehmen,
deren Tickets vielfach umsatzsteuerbefreit sind, umsatzsteuerbelegte Tickets
verkaufen und sie zusätzlich gewerbesteuerpflichtig sind. Volkswirtschaftlich
sollte daher ein Interesse bestehen, größeren Unternehmen, die ihrerseits zum
Steueraufkommen einen Beitrag leisten,
wieder auf die Beine zu helfen.
Diese und weitere Themen wird der
Deutsche Kulturrat in den Lenkungsausschuss zum Sonderfonds des Bundes
für Kulturveranstaltungen einbringen
und für angepasste Lösungen eintreten.
Lang hat’s gedauert und nun geht
es endlich los: Der , Milliarden Euro
schwere Sonderfonds des Bundes für
Kulturveranstaltungen kommt!
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer
des Deutschen Kulturrates. Gabriele
Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates
LVR-Dezernat Kultur und
Landschaftliche Kulturpflege
LVR-KULTURKONFERENZ
Digitale Konferenz
digital & inklusiv
Eine Chance für die Kultur!
28. Juni 2021
Infos unter:
www.kulturkonferenz.lvr.de
#LVRKulturkonferenz
Gefördert von:
In Kooperation mit:
04 INLAND
FOTO: ADOBE STOCK/ ALIPKO
www.politikundkultur.net
Eine der Spezialregelungen im Kulturgesetzbuch ist das »Musikschulgesetz«
Ein Kulturgesetzbuch für
Nordrhein-Westfalen
Bündelung aller Kulturaktivitäten in einem Gesetz
GERHART BAUM UND ROBERT
VON ZAHN
D
ie NRW-Landesregierung hat
den Entwurf eines Kulturgesetzbuches vorgelegt. Der
NRW-Kulturrat hat den Gesetzgebungsprozess begleitet und in Beratungen mit der Landesregierung, an der Spitze
Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen,
zahlreiche Änderungen durchgesetzt. Der
Kulturrat NRW begrüßt das Vorhaben trotz
einiger Defizite, von denen er hofft, dass sie
in den Parlamentsberatungen noch behoben werden. Das Gesetz soll am . Januar
in Kraft treten.
Es knüpft an das bisher geltende Kulturfördergesetz an und bündelt zum ersten
Mal alle Kulturaktivitäten in einem Gesetz.
Musikschulen und Bibliotheken erhalten
eine gesetzliche Grundlage. Sehen wir uns
eine der Spezialregelungen an, das »Musikschulgesetz«: Im Gesetz werden die
Musikschulen als wichtige Orte kultureller Bildung beschrieben. Qualität soll den
Ausschlag für eine Landesförderung geben.
Auch private Musikschulen erhalten die
Möglichkeit, Projektmittel zu beantragen.
Allgemeine Förderkriterien für Musikschulen leitet das Gesetz von Kriterien der
Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGST)
ab. Das Gesetz führt eine Zertifizierung
ein, die sowohl öffentliche als auch private Musikschulen erhalten können und die
mittelfristig Fördervoraussetzung werden
soll. Das Gesetz bietet damit die Grundlage
für eine qualitative Weiterentwicklung der
gesamten Musikschullandschaft in NRW.
Das Gesetz regelt erstmals die Provenienzforschung. Es bekämpft prekäre
Arbeitsverhältnisse durch die Festlegung
von Honoraruntergrenzen und Vorgaben
für mehr Festanstellungen. Im Gesetz sind
neue Beteiligungsformate festgelegt. Transparenz und Beteiligung will die Landesregierung verbessern.
Das Gesetz thematisiert auch die aktuellen Entwicklungen auf den Feldern Digitalität, Integration und Diversität. In Bezug
auf die Digitalisierung etwa geht der Text
deutlich über das noch gültige Kulturfördergesetz hinaus. Digitalität behandelt das
Gesetz als Kunstform, als künstlerische Produktion, als Präsentation und Vermittlung
von Kunst und damit als Chance für neue
Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen, sowie als Bewahrung des kulturellen
Erbes. Zu den Aufgaben des Landes gehören
das Schaffen von künstlerischen Freiräumen, die Bereitstellung von digitalen künstlerischen Produktionsmöglichkeiten und
die Unterstützung der Kultureinrichtungen
beim Ausbau der digitalen Infrastruktur.
Die freie Kulturszene wird in ihrer Bedeutung anerkannt. Künstler- und Künstlerinnenförderung zielt nicht nur auf das
künstlerische Schaffen, sondern auch auf
Öffentlichkeitsarbeit, Weiterbildung, den
allgemeinen Lebensunterhalt, etwa durch
Stipendien, sowie auf Organisationen der
Künstlerinnen und Künstler.
Ein besonderer Schwerpunkt soll künftig auf der Förderung der Kultur im ländlichen Raum liegen, doch die Aussagen mit
Selbstverpflichtungs-Charakter wirken eher
zögerlich. Im Zuge der parlamentarischen
Diskussion könnte noch eine Schärfung erfolgen. Auch die Behandlung der einzelnen
Sparten im Gesetz ist noch unausgewogen.
Manche Sparten, wie etwa Film und Medienkunst, werden ausführlich behandelt,
andere, wie etwa der Tanz, mit knappen
Sätzen.
Ungeregelt ist bisher auch ein deutlicher
Abbau der bürokratischen Verfahren und
die Ermöglichung von Planungssicherheit.
Das Gesetz formuliert die Entbürokratisierung als Ziel, doch der Weg dorthin wird
nicht klar. Eine Kulturförderrichtlinie soll
das Gesetz begleiten und diese Materie
regeln. Diese Förderrichtlinie ist, laut Gesetz, alle zwei Jahre zu evaluieren. Das ist
zu begrüßen, denn der Bürokratieabbau
muss endlich in Angriff genommen werden, auch um längerfristige Planungen zu
ermöglichen.
Es darf nicht aus dem Auge verloren
werden, dass insgesamt das öffentlich
finanzierte Kulturleben Nordrhein-Westfalens vor allem Aufgabe der Kommunen
ist. Weit über Prozent der öffentlichen
Kulturausgaben kommen aus kommunalen
Kassen. Eine Landesregierung, die über den
landesfinanzierten Teil hinaus öffentliches
Kulturleben steuern möchte – und das muss
sie tun –, sollte Geld in die Hand nehmen.
Das geschah lange Jahre nur sehr zögerlich,
bis die Regierung Laschet den Kulturetat
um Prozent erhöht hat. Wir hatten eine
Verdoppelung gefordert. Das klingt nach
viel Geld, aber Prozent bedeuten nur
eine Erhöhung von auf Millionen Euro. Schon mit dieser Erhöhung sind
jedoch wichtige Impulse gelungen. Eine
Verdoppelung des jetzigen Haushalts in der
nächsten Legislaturperiode ist Ziel des Kulturrats NRW.
Nicht vergessen werden darf, dass das
Land als Corona-Hilfe Millionen für
Künstlerstipendien und Millionen für die
kulturellen Einrichtungen zur Verfügung
gestellt hat – neben einer Soforthilfe und
den Hilfen des Wirtschaftsministeriums.
Die Stipendien werden nicht auf andere
Hilfen angerechnet.
Der Kulturrat NRW würde es begrüßen,
wenn es angesichts der Bedeutung des Gesetzes zu einer parteiübergreifenden Zustimmung kommen würde. Denn das Gesetz
zeigt unter Kulturpolitikern unbestrittene
Perspektiven und Rahmenbedingungen
für die Landeskulturpolitik der nächsten
Jahre auf. Zu diesen Rahmenbedingungen
gehören Transparenz und Verbindlichkeit
als leitende Kriterien. Dazu werden klar
strukturierte Konferenzen mit verbindlichen Vereinbarungen beitragen.
Das Gesetz soll
im Land bewirken, dass
der Stellenwert
der Kultur an
Bedeutung gewinnt. Schon
jetzt in der
Pandemie
scheint das
Bewusstsein
dafür, dass eine
freie Gesellschaft Kultur zu
ihrer Entwicklung braucht,
gewachsen zu
sein
Das Gesetz ist auch ein wichtiges kulturpolitisches Signal in einer Zeit des
Umbruchs, der nicht nur durch die Pandemie bewirkt wird, sondern auch durch
die digitale Globalisierung und durch
die weltwirtschaftlichen und finanzpolitischen Veränderungen. In unserem Lande wird entscheidend sein, wie sich die
Staatsfinanzen und auch das Wirtschaftswachstum entwickeln. Werden die Kulturausgaben unter Druck geraten? Wird
es zu Verteilungskämpfen zwischen den
einzelnen Politikbereichen kommen? Es
ist daher wichtig, dass schon heute eine
kulturpolitische Debatte geführt wird, wie
wir das soeben auch mit einer Kulturkonferenz getan haben, über die wir an dieser
Stelle noch berichten.
Das Gesetz soll im Land bewirken, dass
der Stellenwert der Kultur an Bedeutung
gewinnt. Schon jetzt in der Pandemie
scheint das Bewusstsein dafür, dass eine
freie Gesellschaft Kultur zu ihrer Entwicklung braucht, gewachsen zu sein. Dieses
Bewusstsein darf sich nicht wieder abschwächen. Das Gesetz macht deutlich,
dass Kultur eine Querschnittsaufgabe der
ganzen Landespolitik ist. Es wurde sorgfältig mit den anderen Ressorts abgestimmt.
Wichtig ist, dass in einem solchen Gesetz,
unabhängig von den Entscheidungen in
künftigen Haushalten, einzelne Elemente
der Kulturförderung durch Selbstverpflichtung des Landes auf gesetzliche Grundlagen gestellt werden. Das Gesetz bietet
somit Rahmenbedingungen angesichts
einer ungewissen Zukunft.
Mit dem Gesetz möchte die Landesregierung bekräftigen, dass Kulturpolitik nach dem Grundgesetz in erster Linie
Aufgabe der Bundesländer ist und nicht
in einem Bundeskulturministerium ihren
Ausdruck finden muss.
Richtig und konsequent angewandt,
wird mit diesem Gesetz die Kulturpolitik
im Lande gestärkt werden. Es dürfte keine
Schwierigkeiten machen, die genannten
Defizite noch zu beheben. Das Vorhaben
kann auch Vorbild für andere Bundesländer sein.
Gerhart Baum ist Vorsitzender des
Kulturrates NRW. Robert von Zahn
vertritt die Sektion Musik des Kulturrates
NRW
INLAND 05
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Sichern wir unsere Selbständigen ab!
Dauerhafte Regelung bei Arbeitslosigkeit oder Arbeitsausfall dringend notwendig
ENZO WEBER
D
ie Coronakrise führt den Wert
sozialer Sicherung dramatisch
vor Augen. Während sozialversicherungspflichtig Beschäftigte durch
den Anspruch auf Kurzarbeitergeld und
Arbeitslosengeld abgesichert sind, ist
das bei Selbständigen in aller Regel
nicht der Fall. Im Kulturbereich ist
diese Zweiteilung oft nahe beieinander klar zu beobachten: Freischaffende
können plötzlich vor dem Nichts stehen,
Angestellte, die vielleicht ganz ähnliche Tätigkeiten wahrnehmen, gehen
in Kurzarbeit.
Daher sind viele Selbständige in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Aus
dem Stegreif mussten Unterstützungspakete geschnürt werden, die aber oft
als zu eingeschränkt wahrgenommen
werden. Gerade Lebenshaltungskosten
– also die Unternehmerlöhne – waren
nicht abgesichert, sieht man von der
Grundsicherung ab, die jedoch trotz
der in der Coronakrise vereinfachten
Bezugsbedingungen für viele Selbständige nicht in Frage kommt.
Das alles macht so klar wie noch
nie: Es fehlt eine verlässliche dauerhafte Regelung, wie Selbständige
bei Arbeitslosigkeit beziehungsweise Arbeitsausfall unterstützt werden
können. Zwar können sich bestimmte
Selbständige in der Arbeitslosenversicherung freiwillig versichern, aber die
Bedingungen sind restriktiv: Benötigt
werden Vorversicherungszeiten, so
dass es sich eigentlich nicht um eine
Arbeitslosenversicherung für Selbständige, sondern für ehemalige Angestellte handelt. Entsprechend ist die
Zahl der versicherten Selbständigen
gering. Das liegt aber nicht nur an den
deutschen Regeln: Auch international
ist eine sehr geringe Abdeckung freiwilliger Arbeitslosenversicherungen
der Normalfall.
Rein mit einer Absicherung gegen
Arbeitslosigkeit hätte man die Auswirkungen der Krise auf Selbständige aber
nicht in den Griff bekommen. Denn
eigentliche Arbeitslosigkeit trat in den
meisten Fällen gar nicht ein. Gerade
Künstlerinnen und Künstler geben ihren Beruf nicht wirklich auf, und dazu
soll ja auch niemand gedrängt werden.
Vor allem wird also auch eine Kurzarbeitsregelung für Selbständige benötigt, denn in den meisten Fällen wurde
und wird das Geschäft nicht endgültig
aufgegeben, aber die zeitweisen Einkommenseinbußen sind immens.
Natürlich stellt sich die Frage: Liegt
es nicht in der Natur unternehmerischen Handelns, die Risiken selbst
zu tragen? Gewiss, eine selbständige
Tätigkeit ist etwas anderes als eine
abhängige Beschäftigung. Aber im
Krisenfall besteht die Problematik ja
trotzdem, dass Selbständige bei Eintreten der Risiken unmittelbar vor
dem Gang in die Grundsicherung stehen – der ihnen in vielen Fällen aber
durch die Bedürftigkeitsregelungen
dann doch versperrt ist. Und soziale
Absicherung zeigt ihren Nutzen nicht
erst im Krisenfalle, sondern hält den
Rücken frei für eine nachhaltige und
zuversichtliche berufliche Entwicklung.
Die Zahl der Selbständigen in Deutschland sinkt, nicht erst seit Corona – etwas mehr Gründungsmut könnte dem
Land nur guttun. Zudem würde eine
umfassende Absicherung dazu führen,
dass das Entgeltniveau am Markt die
Kosten der sozialen Sicherung einbezieht – die Bruttoverdienste würden
also steigen. Das kann man etwa am
Unterschied von sozialversicherungspflichtigen Bruttoentgelten gegenüber
Minijobentgelten beobachten, welche
für die Arbeitnehmer sozialversicherungsfrei sind.
Wenn soziale Sicherung aber für
Selbständige umfassend organisiert
wird, ist es umso wichtiger, die konkreten Regeln praktikabel auszugestalten. Gerade eine Absicherung für vorübergehende Arbeitsausfälle – also ein
Kurzarbeitergeld für Selbständige – ist
zentral. Gleichzeitig ist eine solche Regelung aber nicht trivial, sondern stellt
wesentliche Herausforderungen. Dafür
und für eine Arbeitslosenversicherung
für Selbständige generell haben Paul
Schoukens und ich im Krisenjahr
eine Reihe von Empfehlungen herausgearbeitet. So geht es darum, wie
hoch ein Einkommensausfall ist und
wodurch er verursacht wird. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass
Lohnersatzleistungen nicht routinemäßig schon dann fließen, wenn es zu
normalen Schwankungen der Auftragssituation kommt. Folglich sind einige
Bedingungen notwendig:
• So sollte ein bestimmter Mindesteinkommensrückgang unter den aktuellen Standard nachgewiesen werden.
• Es müsste ein klarer Grund für den
Einkommensrückgang angegeben
werden, der unfreiwillig und kurzfristig unvermeidlich war.
• Es müssten realistische Perspektiven aufgezeigt werden, die Aktivität
nach einem vorübergehenden Ausfall
wiederaufzunehmen.
• Während es in der Natur der Kurzarbeit liegt, dass man für die Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung
stehen muss, könnte bei länger andauerndem Arbeitsausfall aber eine
Verfügbarkeit für Weiterbildung und
andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verlangt werden.
• Wie üblich wäre die Kurzarbeit zeitlich zu begrenzen.
• Geprüft werden könnte im Vorhinein
und mit besserer Informationslage
noch einmal nachgelagert.
Diese Regeln würden dazu dienen,
Mitnahmeeffekte möglichst gut zu begrenzen. Sicherlich liegen bestimmte
Informationsasymmetrien vor. Allerdings wäre z. B. durchaus nachvollziehbar, mit welchem Geschäftsmodell
bisher Einkommen erzielt wurde, ob
dieses extern gestört wurde und ob die
Aussicht auf eine Fortsetzung besteht.
Unter dem Strich wäre Kurzarbeit für
Selbständige bei außergewöhnlichen
Ereignissen möglich – vorab mit klar
definierten Bedingungen, die transparent ausgestaltet werden sollten.
Kurzarbeitergeld ist dabei eine Leis-
tung der Arbeitslosenversicherung.
Das bedeutet: Selbständige wären in
die Arbeitslosenversicherung einzubeziehen. Zur Finanzierung sollte es
einen Beitrag geben, der sich anders
als gegenwärtig am laufenden Einkommen orientiert. So wäre sichergestellt,
dass das Ziel der Einkommensstabilisierung auch tatsächlich erfüllt wird
und dass Beiträge nur entsprechend
der eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Die Leistungen
sollten dann wie üblich abhängig von
den Beiträgen berechnet werden. Momentan orientieren sich die Leistungen für Selbständige dagegen an der
formalen Qualifikation; bei gleichen
Beiträgen erhält man mit höherer Qualifikation also ein höheres Arbeitslosengeld. Das entspricht natürlich nicht
dem Äquivalenzprinzip, und gerade
bei künstlerischen Tätigkeiten ist ein
formaler Abschluss sicherlich nicht
notwendigerweise ein entscheidendes Kriterium. Wichtig ist auch, sich
bei allen Versicherungsregeln an dem
erzielten Einkommen zu orientieren,
und nicht an einer kaum messbaren
Zahl von Arbeitsstunden.
Anders als bei eilig geschnürten
Notpaketen gäbe es also von vornherein verlässliche Bedingungen – sowohl
bei den Leistungen als auch bei der Finanzierung. Und auch bei Wechseln
zwischen selbständigen und angestellten Tätigkeiten wäre eine kontinuierliche Absicherung gewährleistet.
Der Anspruch auf Arbeitslosengeld,
anders als bei der oben geschilderten
Kurzarbeit, wäre bei Selbständigen an
eine tatsächliche Beendigung der Tätigkeit gebunden – z. B. die Schließung
ihres Geschäfts. Anders als bei der
Entlassung eines abhängig Beschäftigten ist bei ihnen allerdings schwer
zu prüfen, inwieweit das unfreiwillig
geschah. Daher müsste zumindest
nachgewiesen werden, dass die Geschäftsaufgabe aus triftigen Gründen
und nicht etwa deshalb erfolgte, um
die Versicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen.
Um Fehlanreize für eine übermäßige wiederholte Inanspruchnahme zu
vermeiden, werden oft Regelungen
wie eine Deckelung der Zahl der Anträge verwendet. Allerdings schränkt
dies eine kontinuierliche soziale Absicherung auf gravierende Weise ein.
Denkbar wäre stattdessen ein weniger
abruptes »experience rating«, das im
Falle wiederholter Inanspruchnahme
von Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld das Leistungsniveau reduziert.
Eine solche Regelung wäre sowohl
kontinuierlich als auch anreizkompatibel.
Bei der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt sollte freischaffenden bzw.
unternehmerischen Persönlichkeiten
in einer ersten Phase Spielraum gegeben werden, sich in der Arbeitslosigkeit frei für eine selbständige Tätigkeit
entscheiden zu können. Bleiben solche
Bemühungen allerdings aus oder hält
die Arbeitslosigkeit länger an, sollte
aber eine rasche Arbeitsmarktintegration durch entsprechende Vermittlungsaktivitäten sichergestellt werden.
Die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit hat einen hohen persönlichen und
gesellschaftlichen Wert, unabhängig
davon, ob jemand einen Arbeitsvertrag
unterschrieben hat. Die Regeln einer
Versicherung für Selbständige sollten denen für Beschäftigte so ähnlich
wie möglich sein, aber auch so spezifisch wie nötig ausgestaltet werden.
Dies würde verlässliche Bedingungen
schaffen, um in die nächste Krise nicht
genauso hineinzulaufen wie in die aktuelle.
Enzo Weber ist Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung und Lehrstuhlinhaber
an der Universität Regensburg
Mehr dazu: Paul Schoukens, Enzo Weber: Unemployment insurance for the
self-employed: a way forward postcorona. IAB-Discussion Paper /
(bit.ly/oCPm) und Soziale Sicherheit
/ und /
Mehr Distanzbewusstsein, weniger
Identifikation
Problematische Tradition
des Gedenkens
JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Also, um das einmal klarzustellen:
Ich bin nicht Sophie Scholl. Dietrich Bonhoeffer bin ich übrigens
ebenfalls nicht, auch nicht Helmuth
James Graf von Moltke oder gar
Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Warum musste das einmal gesagt
werden?
Es gibt in Deutschland eine lange
und problematische Tradition, unserer wenigen Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur und der
christlichen Märtyrer aus dieser Zeit
in einer vereinnahmenden Weise
zu gedenken. Man hebt sie auf ein
Podest, glättet ihre Gesichtszüge,
verwandelt ihre zerrissenen Biografien in erbauliche Legenden, verehrt
sie andächtig und macht sie sich
dabei selbst zunutze, gebraucht sie,
um unter Berufung auf ihre heiligen
Namen eigene Anliegen zu befördern.
So weit, so bekannt.
Der einhundertste Geburtstag von
Sophie Scholl gibt Anlass, darü-
ber neu nachzudenken. Um junge
Menschen für ihre Geschichte zu
interessieren, starteten der Südwestdeutsche und der Bayerische
Rundfunk den Instagram-Kanal »@
ichbinsophiescholl«. Insgesamt zehn
Monate lang soll er täglich neue
Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsgeschichten liefern. Die beliebte Schauspielerin Luna Wendler, wie
soll man sagen, spielt dabei die Rolle
einer in der Gegenwart lebenden
Sophie, verbindet so die Erinnerung
an deren letzte, entscheidende Monate mit Assoziationen zu heutigen
Erfahrungen und Fragen. In der Tat,
das Konzept geht auf, wenn man die
Zahlen der Follower betrachtet. Die
Sender sind voller Stolz und Freude:
Dieses »digitale Leuchtturm-Projekt
untermauert den Anspruch, dass
öffentlich-rechtliches Programm
jenseits von linearen Abspielwegen
funktioniert und sich behaupten
wird«. Warum nur beschleicht mich
dabei ein Unwohlsein?
Ich muss zugeben, dass ich die Inhalte dieses Kanals nur oberflächlich
wahrgenommen habe. Jüngere Familienmitglieder haben mir ausdrücklich verboten, mich bei Instagram
anzumelden – »zu alt« –. Aber ich
habe Anfang dieses Jahres die beeindruckende Scholl-Biografie »Es reut
mich nichts« meines Kollegen Robert
Zoske gelesen und in meinem Podcast
»Draußen mit Claussen« mit ihm über
angemessene und problematische
Formen des Gedenkens gesprochen.
Bei der Lektüre ist mir vor allem aufgegangen, wie weit Sophie Scholl von
jungen Menschen heute entfernt ist.
An einem Detail wird dies besonders
deutlich: ihrem höchst skrupulösen,
von religiösen und sozialen Hemmungen bestimmten Verhältnis zur
eigenen Sexualität. Deshalb schreibt
Zoske gegen eine lange Tradition
der Glättung und Vereinnahmung
an und entwirft so das »Porträt einer
Widerständigen«, einer sensiblen,
klugen, widersprüchlichen, frommen,
anstrengenden, mutigen jungen Frau,
die einen langen Weg zurücklegen
musste, bis sie sich entschieden hatte: Ich schweige nicht! Wer ihrer gedenken will, sollte sich des Abstands
bewusst sein, der zwischen ihr und
uns liegt. Das ist schlicht ein Zeichen
des Respekts ihr gegenüber und einer
von Demut geprägten Selbsteinschätzung.
Zudem ist es doch sehr die Frage, ob
der guten Sache damit gedient ist,
wenn man Sophie Scholl heute viele
»Follower« verschafft. Eine moralische
Person wird man nicht, wenn man fernen Heldinnen digital nachläuft. Man
sollte lernen, das eigene Gewissen zu
bilden, Unrecht in der eigenen Umgebung wahrzunehmen und sich dann
seines Mutes bedienen, um sich dagegen zu engagieren.
Warum ich darauf so insistiere? Der
gut gemeinte Instagram-Kanal »@
ichbinsophiescholl« ist nicht allein.
Parallel zu ihm sind politisch anders
gerichtete, aber strukturell ähnliche
Ansätze zu beobachten, Sophie Scholl
und andere Märtyrer zu vereinnahmen.
Noch ist der Auftritt einer verwirrten
jungen Frau bei einer QuerdenkerDemonstration nicht vergessen. Zudem sind die Neuen Rechten hier sehr
aktiv. Einige berufen sich seit Jahren
auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, um so den Eindruck zu erwecken,
der eigene Radikalnationalismus habe
mit der NS-Diktatur nichts zu tun. Vor
wenigen Jahren begannen US-amerikanische Trumpisten damit, Dietrich
Bonhoeffer für sich zu reklamieren.
Kürzlich hat ein neu-rechter IdeenPolitiker sogar einen digitalen Jochen
Klepper-Abend veranstaltet.
Doch will ich mich darüber nicht nur
empören, sondern frage mich, ob mein
liberalprotestantisches Milieu nicht
eine gewisse Mitschuld an solchen
Vereinnahmungen trägt. Denn das
normal-evangelische Gedenken an
Stauffenberg, Bonhoeffer, Klepper oder
auch Sophie Scholl war in der Vergangenheit nicht selten ebenfalls vereinnahmend: Die Erinnerung wurde von
Widersprüchen gereinigt und eigenen
Interessen dienstbar gemacht. Deshalb
empfehle ich aus einem Gefühl der
Achtung heraus mehr Distanzbewusstsein, weniger Identifikation und nicht
zuletzt Vorsicht beim Gebrauch des
Wortes »Widerstand«.
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche
in Deutschland
06 INLAND
www.politikundkultur.net
»Dieses Buch ist eine Streitschrift«
Hans Jessen im Gespräch mit Götz Aly über sein Buch »Das Prachtboot«
haben die Nazi-Herrscher am Ende
versucht, möglichst viel zu vernichten.
Dieses Buch schrieb sich sehr einfach.
Als Historiker, der die Gewalttaten
des . Jahrhunderts erforscht, Holocaust und Faschismus, kennen
Sie Dokumente, die Gewalt und
Vernichtung bezeugen. Haben Sie
Vergleichbares bei der Arbeit an
diesem Buch erlebt?
Mir sind Massenmorde an den Herero
und Nama selbstverständlich bekannt,
ebenso die blutige Niederschlagung
des Maji-Maji-Aufstands in DeutschOstafrika. Aber das Bild der Südsee
war doch eher friedlich geprägt. Mich
hat das Ausmaß und die Selbstverständlichkeit der Straf- und Mordaktionen dort sehr überrascht. Ich
wusste vorher nicht, dass auf der Insel
Luf, von der das berühmte Prachtboot
stammt, ganz gezielt eine brutale
Strafexpedition stattgefunden hatte.
Solche Strafexpeditionen sind in den
Lebenserinnerungen deutscher Kolonialbeamter mit Stolz beschrieben
worden. Sie brüsteten sich damit, wie
sie ganze Dörfer abbrannten – aber
auch Kunstwerke mitnahmen, um damit die deutschen Museen für Völkerkunde, insbesondere das in Berlin, zu
beliefern. Das ist seit über Jahren
nachzulesen – es hätte nichts dagegengesprochen, sich früher mit all
diesen Fakten zu beschäftigen.
Zur Geschichte des Luf-Bootes, so
wie sie uns übermittelt wird, gehört
das Narrativ: Wegen »Bevölkerungsrückgangs« auf der Insel sei
das Boot nach der Fertigstellung
nie zum Einsatz gekommen und
deswegen praktisch »neuwertig«
letztlich in Berlin gelandet. Zur
historischen Wahrheit, die Sie im
FOTO: ? SPK / STEFAN MÜCHLER
Nicht nur Denkmäler oder Straßen- deutsche Flagge im Kolonialgebiet der
namen zeugen von Deutschlands ko- Südsee gehisst hat: der Kreuzerkorlonialer Vergangenheit, sondern auch vette »S.M.S. Elisabeth«. Über ihn gibt
zahlreiche Museumsobjekte stammen es eine dicke Akte im Familienarchiv,
aus einstigen Kolonien. Götz Aly wid- das ich verwalte. Über sein Leben lässt
met sein neues Buch dieser Raubkunst sich viel Freundliches sagen, aber auch
er hatte diesen »kolonialen Blick« wie
– Hans Jessen fragt nach.
damals fast alle Europäer. Er sprach
von »unter Schutz stellen«, »zivilisieHans Jessen: Herr Aly, »Das Prachtren« und »christianisieren primitivster
boot« ist ein exemplarisches Buch.
Es würdigt die großartige kulturelle, Menschen«. Außerdem kannte ich
das Luf-Boot. Wir waren mit unseren
handwerkliche, nautische LeisKindern vor Jahren oft genug an
tung von Südseebewohnern, die in
verregneten Sonntagen im Ethnoloder Lage waren, hochseetaugliche
gischen Museum Dahlem und haben
Seefahrzeuge zu bauen und Langdieses Boot bestaunt.
streckenfahrten zu unternehmen
Das dritte mich motivierende Moment
– lange vor den Europäern. Gleiwar das Humboldt Forum, in dem das
chermaßen dokumentieren Sie am
Boot eine herausragende Rolle spielen
Beispiel des Luf-Bootes aus dem
soll, und die damit verbundene und
Ethnologischen Museum Berlin die
Zerstörung dieser Kultur durch eine schnell zunehmende Diskussion zur
kolonialen Vergangenheit Deutschrücksichtslose Kolonialpolitik, die
lands. Auch wenn die Debatte von
auch Deutschland seit Mitte des .
Jahrhunderts betrieb. Die Gleichzei- Initiativen vorangebracht wird, deren
Ansichten ich nicht immer teile, so hat
tigkeit von Hochkultur und Barbasie mich doch beeinflusst und auf das
rei ist der beabsichtigte Kern Ihrer
Thema gebracht. Nicht zuletzt trug die
Darstellung?
Tatsache, dass das Humboldt Forum so
Götz Aly: Das Boot ist Weltkulturerbe.
lange nicht öffnete, zum Buchprojekt
Bevor die Kolonialmächte in die Südbei. Ich hatte Mitte angefangen
see einfielen, sie ihrer Herrschaft und
Modernität und Eisenkultur unterwar- und wollte eigentlich nur einen Aufsatz schreiben. Je länger sich die Eröfffen, hatte es Tausende solcher Boote
nung verzögerte, desto mehr arbeitete
gegeben. Das Luf-Boot dokumentiert,
ich mich ein und umso interessanter
wie die Südsee vor Jahrtausenden beerschien mir das Thema. Dann hörte
siedelt worden ist. Wir haben nun das
ich aus einem Hintergrundgespräch
letzte Exemplar hier in Berlin. Es ist
prächtig bemalt. Es kann Menschen mit Journalisten, dass man im Humboldt Forum vorsichtig agieren wolle
tragen und stammt aus der ehemaliund Objekte, die allzu sehr und ofgen Kolonie Deutsch-Neuguinea. Die
Seefahrer verfügten über die Fähigkeit, fenkundig kolonial belastet seien, gar
nicht erst ausstellen werde.
mithilfe der Sterne zu navigieren.
Ohne Schriftsprache übermittelten sie Aber seiner Größe wegen war das Boot
wohlverpackt schon in den Rohbau
ihr Wissen von Generation zu Genegehievt worden und die entsprechende
ration. In der von Europa dominierten
Außenwand erst dann zugemauert
»Welterschließungsperiode«, wenn
worden. In diesem Moment dachte ich:
man den Kolonialismus freundlich
Hochsee-Segelboot mit Ausleger, . Jahrhundert
umschreiben will, wurden alle diese
Kunstfertigkeiten vernichtet. Das
geschah mittels moderner Werkzeuge,
bedenkenloser wirtschaftlicher Ausbeutung und Plünderung und dem
brutalen Einsatz militärischer Gewalt.
Der nackte mörderische Terror wurde
als »Vergeltung«, »Strafexpedition«
oder »Züchtigung« beschönigt.
Was konkret veranlasste Sie, dieses
Buch zu schreiben?
Eine Kette von Zufällen. Zum einen
war mein Urgroßonkel Gottlob Johannes Aly bei der Eroberung dabei.
Als Marinegeistlicher gehörte er zur
Mannschaft jenes Schiffs, das die
Interessant! Das Boot kriegen sie nicht
wieder heraus – dann nehme ich das
Prachtboot als Paradestück für eine
exemplarische Auseinandersetzung
mit dem Kolonialismus in der Kolonie
Deutsch-Neuguinea. Das Buch war
vor mehr als einem Jahr fertig. Die
Literatur ist übersichtlich, die Arbeit
daran war viel einfacher als in der Holocaust-Forschung. Man muss in den
Archiven nur die alten Handschriften
lesen können. Alles liegt offen zutage,
und die Deutschen damals – also vor
Jahren – hatten kein schlechtes
Gewissen: Über ihre sogenannten
Strafexpeditionen berichteten sie in
den Zeitungen. Im Unterschied dazu
Buch dokumentieren, gehört, dass
das kein »Bevölkerungsrückgang«
war, sondern die brutale Vernichtung großer Teile des Inselvolkes.
Ja, und zwar mit unterschiedlichen
Methoden. Es begann / mit einem Überfall zweier deutscher Kriegsschiffe – einer »Strafexpedition«:
deutsche Soldaten gegen Inselbewohner, die meisten davon Frauen
und Kinder. Man muss davon ausgehen, dass alle Hütten und Schiffe von
den Landungstrupps abgebrannt und
zerschlagen sowie bis Männer
getötet wurden. Anschließend wurden weitere Menschen von Luf zur
Arbeit auf andere Inseln deportiert.
Man nannte es »Labourtrade«, im
Grunde eine Form von zeitlich befristeter Sklaverei, die offiziell verboten
war. Die deutsche Firma Hernsheim
errichtete eine Handelsstation, die
Insel wurde ökonomisiert. Während
dieses Prozesses wurden Krankheiten
eingeschleppt wie in vielen anderen
Kolonien auch. Syphilis, Tuberkulose, Grippe, Masern – daran starben
weitere Menschen in großer Zahl. Das
waren die Ursachen für den von Hermann Parzinger nicht näher erklärten
»Bevölkerungsrückgang«.
Entgegen diesen nachweisbaren Tatsachen entstand die Mär vom »freiwilligen Aussterben« der Menschen
auf Luf. Sie diente von Anfang an
der Rechtfertigung, der Beruhigung
des Restgewissens einiger Europäer.
Schon fand diese in einem
Fachblatt zu einer »wissenschaftlichen Mitteilung« geadelte Lüge Eingang in den Großen Brockhaus.
Ihr Buch wirft ein hartes Schlaglicht auf die historischen Bedingungen, unter denen das Boot
dann nach Berlin kam. Jetzt ist es
hier – und ein einmaliges kulturellhistorisches Zeugnis. Es soll eine
herausragende Rolle im Humboldt
Forum spielen. Was müssten zukünftige Besucher über dieses Boot
und seine Geschichte wissen?
Nach meiner Erinnerung an den früheren Standort in Dahlem war die
Dokumentation damals miserabel.
Man müsste klarmachen, was »Weltkulturerbe« am Beispiel dieses Bootes
bedeutet. Man konnte damit Hunderte
Kilometer weit über das offene Meer
segeln. Das Boot konnte kentern, und
die Besatzung konnte es wieder aufrichten – hochmodern. Das muss man
herausarbeiten.
Neben dieser Verneigung vor dem
Weltkulturerbe wäre es notwendig,
den kolonialgeschichtlichen Hintergrund genau, ohne jedes Ausweichen
ins Ungefähre darzustellen: die militärische und die ökonomisch motivierte Gewalt. Wie ist die von Europa
ausgehende Zerstörung dieser Welt
vonstattengegangen? Das lässt sich
am Beispiel des Luf-Bootes exemplarisch zeigen.
Wir sollten sagen: Wir haben alles
hier – und nun reden wir darüber. Das
Humboldt Forum müsste sich als Ort
eines offenen Prozesses verstehen.
Wie und wann dieser endet, das lässt
sich nicht vorhersagen. Auf der Seite
des Ethnologischen Museums bedeutet das zuallererst, die Inventare zu
veröffentlichen, nicht als Faksimile in
altdeutscher Schrift, sondern übertragen in moderne, lesbare Typografie.
Das lässt sich schnell machen, genauso wie eine Übersetzung der Verzeichnisse ins Englische – sie müssen international verstanden werden können.
Wir sollten uns endlich ehrlich machen. Zum Beispiel taucht in den bislang bruchstückhaften Online-Dokumentationen des Ethnologischen Museums »SMS-Hyäne – Expedition« als
»Sammlerin« auf. Wenn man stattdessen schreiben würde »Kanonenboot
Hyäne – Strafexpedition« klänge die
Information schon sehr anders. Oder,
wie bei den Benin-Bronzen steht auch
bei Südsee-Objekten oft »Sammlerin
Webster«. »Webster« war der Name
eines Londoner Auktionshauses, dem
britische Soldaten, Kaufleute und
Abenteurer Objekte aus Plünderungen und Raubzügen anlieferten, die
dann auf dem Weltmarkt verscherbelt
wurden. Auch da ließe sich spielend
einfach – mit einem schlichten Korrekturbefehl am Rechner – Klarheit
herstellen. Ich bin gespannt, wann das
endlich geschieht.
Sollte Ihres Erachtens eine Politik
genereller Restitution, möglichst
rascher und kompletter Rückgabe
eingeleitet werden, weil so viele
dieser Objekte unter faktischem
Raubkunstverdacht stehen?
Nein – nicht generell, nicht uninformiert, nicht überstürzt. Oft weiß man
nicht, wem was einst gehörte. Wichtig
erscheint mir eine Position der Offenheit. Objektiv ist es doch so, dass die
Artefakte gerettet sind, in dem Sinne,
dass sie nicht vernichtet, sondern bewahrt wurden. Ich halte es für richtig,
die so lange vermiedenen Dialoge mit
Politikern, Museumsleuten, Historikern, gesellschaftlichen Interessengruppen aus den Staaten zu beginnen,
die einst europäische Kolonien waren.
Vorher sollte die deutsche Seite erklären, dass sie sich nicht als Eigentümerin versteht, sondern als Treuhänderin,
die alle verfügbaren Informationen offenlegt. Für das Prachtboot von der Insel Luf bedeutet das: Wir wissen heute
nicht, wann und in welcher Weise Vertreter und Bürger des Staates PapuaNeuguinea sich dazu äußern werden.
Das kann Jahre dauern. Denkbar ist
auch, dass ein nachträglicher Kauf angeboten oder über einen Nachbau des
Bootes verhandelt wird. Nur darf die
deutsche Seite nicht davon ausgehen,
dass ihr das Boot gehört. Um diesen
Prozess zu beschleunigen, hat sich
mein Verlag auch erfolgreich um die
Übersetzung meines Buches ins Englische bemüht. Ich möchte unbedingt,
dass die Leute in Papua-Neuguinea
meine Forschungsergebnisse lesen
können. Sie sind viel zu lange nicht
gefragt und als Objekte der Weltgeschichte ignoriert und ihre Vorfahren
schwer misshandelt worden.
Die Reaktion kritischer Ethnologen, also solcher, die an historischer Aufarbeitung von Sammlungsgeschichte interessiert sind,
auf Ihr Buch ist zwiespältig: Einerseits Lob für das Schlaglicht, das
Sie auf den historischen Kontext
werfen – andererseits ist aber auch
zu hören, Sie würden die Rolle der
Museums- und Sammlungsbegründer zu eindimensional schildern,
als willfährige oder blinde Mitläufer kolonialistischer Ausplünderungen. Der US-amerikanische Forscher Rainer Buschmann, den Sie
im Buch explizit hervorheben, geht
mit frühen deutschen Ethnologen
oftmals milder um als Sie. Was sagen Sie zu solchen Reaktionen?
Rainer Buschmann ist für mich ein
wichtiger Diskurspartner, er hat mein
Manuskript vorab gelesen, einige
seiner Anmerkungen habe ich aufgenommen. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesen Fragen und
ist mir in mancher Hinsicht gewiss
überlegen. Andererseits: Ich habe
ein interventionistisches Buch geschrieben und gehöre nicht der ethnologischen Wissenschaftsgemeinde
an. Auch das hat Vorteile. Ich fühle
mich frei von kollegialen Rücksichten. Mein Buch »Das Prachtschiff«
verstehe ich als Streitschrift. Es soll
die Diskussion befeuern und das kritische Bewusstsein schärfen. Wenn
das gelänge, wäre ich froh.
Vielen Dank.
Götz Aly ist Historiker. Hans Jessen ist
freier Journalist
MEHR DAZU:
Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee
raubten. Frankfurt am Main
INLAND 07
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Die Beninbronzen
Eine unendliche Serie
A
m . Mai berichtete der
britische »Guardian« noch vor
den deutschen Medien über eine
hochkarätige Delegationsreise zur konkreten Vorbereitung der Restitution von
Beninbronzen aus deutschen Museen
nach Nigeria. Gouverneur Godwin Obaseki, König Oba Ewuare und Minister Lai
Mohammed empfingen den Präsidenten
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Hermann Parzinger und die Hamburger Museumsdirektorin Barbara Plankensteiner sowie den Abteilungsleiter
der Kulturabteilung des Auswärtigen
Amtes, Andreas Görgen, der die Reise
initiiert hatte und direkt nach Rückkehr
ausführlich berichtete. Ein Meilenstein
in einer langen Geschichte, von der hier
zu berichten ist.
Während aktuelle Publikationen
wie Götz Alys »Das Prachtboot« die
Abgründe des Zusammenraffens von
Kulturgut in anderen ehemaligen deutschen Kolonien in der fernen Südsee
grell und ein knapp Seiten starker
Band »Geschichtskultur als Restitution« die wissenschaftlichen Positionen
allumfassend beleuchten, erinnert der
Prozess »Restitution Beninbronzen«
an eine unendliche Serie, die immer
wieder in Verlängerung geht. Nächste
Folge am . Juni dieses Jahres: Auf der
Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz mit Bund und
Ländern soll es zwar nicht um einzelne Objekte gehen, aber einen »richtungsweisenden Beschluss geben«. Im
Vorfeld ist von Euphorie, Durchbruch,
Wendepunkt, gar gelungener Völkerverständigung die Rede, aber auch vom
kreißenden Berg, der eine Maus gebiert.
und wo sie sich befinden. Wir möchten
ein Inventar. Diese Meisterwerke erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn die
Menschheit sie sehen kann. Wenn die
ganze Welt sie sehen kann. Sie sollen
nicht nur für die Nigerianer, die Menschen aus Benin oder die Europäer allein zugänglich sein. Diese Meisterwerke gehören der ganzen Welt. Uns allen.
Darum müssen wir zusammenarbeiten
und darum müssen wir gewährleisten,
dass sie zugänglich sind. Wenn sie in
Nigeria oder andernorts in der Welt
verschlossen bleiben, dann dienen sie
nicht dem Zweck, für den die Meister,
die sie einst schufen, sie gedacht hatten. Wir brauchen daher eine andere
Einstellung. Und wir brauchen Respekt.
Wir bestehen nicht darauf, dass alle
Artefakte nach Nigeria gebracht werden.
Wir wollen vielmehr, dass sie allen zur
Verfügung stehen, von allen – auch von
den Nigerianern – bewundert werden
können. Ich freue mich auf den Tag, an
dem wir eine Ausstellung wie diese in
Nigeria haben werden.«
Dieser behutsame diplomatische Appell des offiziellen Vertreters Nigerias
wurde damals auf deutscher Seite nicht
als Restitutionsforderung gewertet.
Kontroversen über die rechtmäßigen
Empfänger, der nigerianische Staat, der
Gouverneur der Provinz Edo, der Königspalast oder das Nationalmuseum
in Benin City waren ungünstige Voraussetzungen für ein formales Restitutionsersuch. Doch die erbetene Liste der
Beninsammlungen von Objekten
wurde übermittelt. Seit weiß man
in Nigeria, was sich im Ethnologischen
Museum Berlin befindet, wann und bei
wem die Stücke erworben wurden.
Nigerias Position zehn Jahre später
Der diplomatische Ton hat sich geändert. Der amtierende Botschafter Nigerias Yusuf Tuggar klagte kürzlich in der
FAZ: »Nigeria weiß nicht, welche Stellen
die erworbenen, gestohlenen Objekte
besitzen, es sei denn, sie werden ausgestellt.« Deutschland solle die Bestände
seiner Museen überprüfen, »anstatt es
zur Bedingung für Nigeria zu machen,
korrekt zu erraten, wo sich was befindet«.
Tuggar moniert zudem, »dass die
SPK weiterhin bestritte, dass Nigeria
jemals offiziell eine Repatriierung verlangt hätte, insbesondere seitens Prinz
Adetokunbo Kayode, der eine
Ausstellung von Werken aus Benin im
Dahlemer Museum besuchte«.
Im August forderte Tuggar in
einem Brief an Bundeskanzlerin Merkel und Staatsministerin Grütters die
»Restitution von geraubten kulturellen
Kunstwerken«. Gespräche folgten, doch
kein formales Rückgabeersuchen per
Verbalnote mit Angaben, welche Objekte zurückverlangt werden und Begründung des Rückgabeersuchens. Nun weiß
Botschafter Tuggar sicherlich, wie eine
formvollendete Verbalnote funktioniert
Gab es eine Rückforderung ?
und die Liste der Berliner Objekte hat
Drei Jahre später schloss die damalige seine Regierung ja auch. Doch wäre es
Vizedirektorin des Weltmuseums Wien, nicht eine Zumutung, die geraubten
Barbara Plankensteiner, die Vorberei- Werke derart zurückzuerbetteln? Ist es
tung einer internationalen Wanderaus- nicht klüger, die mediale Aufmerksamstellung »Benin – Jahre höfische keit wach zu halten?
Kunst aus Nigeria« ab, die in Wien, Berlin und Chicago präsentiert wurde. Sie Zehn Jahre Verhandlungen
stand im Austausch mit den Nachkom- Die Rede des Ministers Adetokunbo
men des Königs von Benin und offiziel- Kayode von blieb aufseiten der
len Vertretern Nigerias. Zur Eröffnung Museen nicht folgenlos. Plankensteiin Berlin am . Februar waren wir ner folgte dem Appell nach ernsthafter
im Ethnologischen Museum auf eine of- Partnerschaft und gründete eine infizielle Rückgabeforderung vorbereitet. ternationale Arbeitsgruppe, später als
In seiner Eröffnungsrede äußerte sich »Benin Dialogue Group« bekannt. Seit
der nigerianische Kulturminister Prince diskutiert sie über den zukünftiAdetokunbo Kayode:
gen Umgang mit den Beninbronzen im
»Darf ich die heutige Gelegenheit Verbund aller europäischen Museen, in
nutzen und Sie um Partnerschaft und deren Besitz sie sich befinden, sowie
Zusammenarbeit bitten? Führen wir die mit nigerianischen Vertretern. Die urMeisterwerke zusammen! Wir möch- sprüngliche Idee von Leihgaben überten wissen, wie viele von ihnen es gibt zeugte externe Kritiker nicht, immerhin
Zeit für einen Rückblick
Die Museen haben keineswegs verheimlicht, dass die über die westliche
Welt verteilten Beninbronzen aus dem
Beutezug der Briten nach Zerstörung
des Königspalastes von Benin
stammen. Im Ethnologischen Museum
Berlin wurden die Erwerbsumstände
der brutalen »Strafexpedition« geschildert, in Ausstellungs- und Pressetexten,
Katalogen, Interviews. Die Politik war
im Bilde. »(Ein)Sammeln, (Ab)Kaufen,
(Aus)Rauben, (Weg)tauschen – Zeitgeist und Methode ethnographischer
Sammlungstätigkeit in Berlin« lautete
der Vortrag, den ich mehrfach
anlässlich des -jährigen Jubiläums
der Staatlichen Museen zu Berlin, Titel »Zum Lob der Sammler« und des
. Todestages Adolf Bastians, Gründungsdirektor des Völkerkundemuseums Berlin, unter dessen Ägide Felix
von Luschan die Bronzen auf Auktion
in London erworben hatte, vortrug und
den Tatbestand des Unrechtskontextes
offenlegte. Ich handelte mir den Vorwurf der Nestbeschmutzung ein.
FOTO: ETHNOLOGISCHES MUSEUM DER STAATLICHEN MUSEEN ZU BERLIN PREUSSISCHER KULTURBESITZ / MARTIN FRANKEN
VIOLA KÖNIG
Gedenkkopf einer Königinmutter aus dem Königreich Benin, . Jahrhundert
begriffen einige, dass die Restitution
ein politisches Minenfeld war: unterschiedliche Trägerschaften und Gesetze
auf europäischer Seite, Ansprüche verschiedener Gruppen auf nigerianischer.
Von der Nestbeschmutzung zur
öffentlichen Anerkennung
kolonialer Unrechtskontexte in
deutschen Museen
Botschafter Tuggar, der in eigener Sache
den Druck erhöht, ist nicht der Einzige.
Die Kunsthistorikern Bénédicte Savoy
forschte über Forderungen Nigerias in
den ern, die von der deutschen Kulturpolitik, auch auf Betreiben einiger
Museumsdirektoren, abgewiesen wurden. Zwar waren die Zusammenhänge
komplexer, als es in der selektiven Auswahl der Quellen erscheint, bezeugt ist
jedoch die desinteressiert-ablehnende
Haltung gegenüber der Thematisierung
problematischer Provenienzen aus kolonialem Kontext in den Berliner Sammlungen, die sich noch in meiner
Stigmatisierung als »Nestbeschmutzerin« und der unsensiblen Rezeption der
Rede des nigerianischen Kulturministers
äußerte. Über ähnliche Erfahrungen mit der Benin Dialogue Group berichtet Plankensteiner.
Restitution ab : Wer bestimmt
das Tempo, wer stellt Bedingungen?
Der Neubau eines Museums of West
African Art in Benin/Nigeria hat die
Debatte erleichtert. Wird so eine Institution der ehemaligen Kolonialherren – das Museum – zum Maßstab von
Restitution genommen? Wollte man
Unrecht anerkennen und wieder gut
machen, müsste es dann nicht den
Nachkommen der beraubten Eigentü-
mer überlassen sein, was sie mit den
Sammlungen machen, z. B. Weiterverkauf, gar Einschmelzen der Bronzen?
Eher steht zu erwarten, dass die deutschen und nigerianischen Verhandelnden sich darauf einigen, den physischen
Erhalt und öffentlichen Zugang der zur
Weltkunst gehörigen Werke in Museen
zu gewährleisten, inklusive Option temporärer Leihgaben, eine Position, die
bereits seitens Nigerias vertreten
wurde. Beide Seiten werden sich über
langfristige Kooperation verständigen,
der Weg für die Restitution ist frei.
Sicher bleibt es ein Ärgernis, dass
deutsche Museen ihre »nur« secondhand erworbenen Beninbronzen restituieren, Firsthand-Räuber wie das Britische Museum mit über Beninwerken sich aber hinter Gesetzen aus den
ern verschanzen. Doch die deutsche Seite – die Öffnung des Humboldt
Forums nach Beendigung pandemischer
Schonzeiten im Nacken – hat jetzt
keine Zeit mehr, steht im Fokus, muss
handeln. Verständlich die Erwartung
des Intendanten des Humboldt Forums
Hartmut Dorgerloh, dass bis September
über die Rückgabe der Beninbronzen
positiv entschieden wird.
Die Tatsache, dass das neue Museum in Benin wohl erst ab bestückt
werden kann, möchte die aktuelle Besitzerin SPK dazu nutzen, die Bronzen
auf jeden Fall im Humboldt Forum zu
präsentieren, bevor sie sie »substantiell«
restituiert. Derweil sind längst Restitutionen deutscher Museen in alle Teile
der Welt erfolgt, nach Namibia, Neuseeland, Hawaii, Alaska. Aber erst bis
Mitte Juni werden die sicherlich vorhandenen Beninlisten deutscher Museen
eingesammelt. Derweil dreht sich das
Personalkarussell munter weiter: Kuratoren im Humboldt Forum wechselten
ebenso wie die Mitglieder der Benin Dialogue Group ihre Arbeitgeber: Bereits
der zweite Experte für die Präsentation
der Bronzen im Humboldt Forum, der
Kurator Jonathan Fine, wechselt als Direktor ans Weltmuseum Wien, wo die
Gruppe einst gegründet wurde, während
die Wiener Gründerin Plankensteiner
seit Direktorin des MARRK Hamburg ist und ein weiteres Mitglied, die
ehemalige Direktorin der Staatlichen
Ethnographischen Sammlungen Sachsen und Afrikaexpertin, Nanette Snoep,
ans Rautenstrauch-Joest-Museum Köln
wechselte.
Eine unbequeme Ausstellung im
Humboldt Forum oder rasche
Restitution?
Angenommen, die nigerianischen Partner befürworten die Schau der Bronzen
im Humboldt Forum, wie müsste eine
solche Ausstellung beschaffen sein, wer
kuratiert? Müsste sie nicht den Gesamtkontext der britischen Strafexpedition
thematisieren, die blutige »Verwobenheit der Akteure miteinander«, wie die
Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin
schrieb? Will das Humboldt Forum
seine Glaubwürdigkeit unter Beweis
stellen, muss es dann nicht den Mut
haben, Gewalt und Brutalität der britischen und nigerianischen Beteiligten
darzustellen? Eine rasche Restitution
dürfte der einfachere Weg sein.
Viola König ist Professorin für Kulturund Sozialanthropologie und Altamerikanistik an der Freien Universität
Berlin. Bis war sie Direktorin des
Ethnologischen Museums Berlin
08 INLAND
www.politikundkultur.net
Ideologischer Spielball
Das Humboldt Forum zwischen kultureller Versöhnung und kolonialen Verstrickungen
Man wird ihm über weite Strecken beipflichten müssen. Die deutschen Koloe näher die Eröffnung des Berliner nialtruppen und Überseehändler haben
Humboldt Forums rückt, desto hef- im früheren Bismarck-Archipel ganze
tiger flammt der Streit wieder auf. Arbeit geleistet, haben die kleinen InselDer Spiegel hat schon das Ende völker oftmals vernichtet und eine alte
vor Augen. So wie geplant, kann man Seefahrerkultur »rattenkahl gefressen«,
dort lesen, wird es wohl nichts mehr wie es damals schon hieß.
werden mit diesem Projekt. Aber geht
Götz Aly, der ein Meister der dramaes überhaupt noch um das verdamm- turgischen Fokussierung ist, stellt in den
te Schloss, das Fake-Schloss, wie es im Mittelpunkt seiner scharfen Abrechnung
Spiegel heißt, dass seine Gegner nicht das Prunkstück der ethnografischen
verhindern konnten, weshalb sie es jetzt
seiner Inhalte berauben. Als versöhnlicher Ort sich begegnender Kulturen ist
es in weite Ferne gerückt. Oder geht es
doch mehr um Raubkunst, die dort nicht
ausgestellt werden darf; um deutsche
Verstrickungen und den Kolonialismus
schlechthin. Das größte Kulturprojekt
unserer Zeit ist zum ideologischen Spiel- Sammlungen in Dahlem, das berühmte
ball geworden.
Luf-Boot, das unter nicht ganz geklärten
Immerhin hat sich der Diskurs darü- Umständen in den Besitz der deutschen
ber aus den postkolonialen Murmelgrup- Überseehandelsgesellschaft Eduard und
pen gelöst und ist auf die große mediale Franz Hernsheim kam und jahrzehnteBühne gewechselt. Dort liefern sich die lang der Blickfang des Berliner VölkerProtagonisten im Raubkunststreit in- kundemuseums war. Das schöne Fremde
zwischen einen rasanten Überbietungs- und die Wehmut seiner Betrachter. Ein
wettbewerb, wer noch entschiedener für besserer Einstieg lässt sich kaum finden.
die Rückgabe plädiert und noch heftiger Alys Buch hat deshalb wie eine Bombe
gegen den deutschen Kolonialismus aus- eingeschlagen, weil sich die verstörenteilt. Während die Fachleute schweigen. den Ereignisse so ergreifend erzählen
Lange Zeit bestimmte die Kunsthis- lassen. Die brachiale, mit modernen Matorikerin Bénédicte Savoy die Debatte. schinenwaffen hochgerüstete deutsche
Mit ihren Tschernobyl-Vorwürfen ge- Überseeexpedition überfällt eine kleine,
gen den Beirat des Humboldt Forums zerbrechliche Inselwelt, die man sich
hat sie den Sound programmiert. Doch nicht erst seit Margaret Mead als Heimat
inzwischen ist mit einer gewissen Ver- ewig singender und liebender »Naturspätung auch der Historiker Götz Aly auf völker« vorgestellt hat. »Die Deutschen
den Plan getreten, der bei der Frage nach zerstörten ein Paradies«, heißt es beim
Schuld und Verantwortung nicht mehr Spiegel, aber sie »behaupten bis heute
viel Federlesens macht. Benin? Was war das Gegenteil«.
schon Benin? Die wahren kolonialen
Es ist müßig, darüber streiten zu wolVerbrechen fanden in der Südsee statt. len, ob die Rolle, die das Handelshaus
JOHANN MICHAEL MÖLLER
J
Hernsheim damals gespielt hat, tatsächlich unseren heutigen Vorstellungen von
den gewinnsüchtigen Heuschrecken
entspricht; oder warum nicht noch andere Stimmen zu Wort kommen wie die
des liberalen Gouverneurs von DeutschSamoa, Wilhelm Solf, des späteren Chefs
des Reichskolonialamtes, ein dezidierter
Verfechter einer anderen Kolonialpolitik.
Und man wundert sich schon, warum
sich keiner der ausgewiesenen Historiker
wie Horst Gründer oder Gisela Graichen
zu Wort meldet. Den blinden Fleck in der
deutschen Geschichte hat es jedenfalls
so nicht gegeben.
Man wird dabei den Eindruck nicht
los, dass es wieder um das Humboldt
Forum geht. Dem versetzt Aly einen
heftigen Stoß. Denn wie soll man das
Boot dort wieder loswerden, wo es doch
längst schon vermauert ist. Es müsste
wieder herausgebrochen werden, was
eine fatale Symbolik besitzt. Denn was
falsch aufgebaut wurde, kann auch
wieder abgerissen werden. Das »FakeSchloss«, frohlockt man beim Spiegel,
ist wohl nicht mehr zu retten.
Bénédicte Savoy hat sich in diesem
Streit auffällig zurückgehalten. Sie
schlägt lieber ein neues Kapitel auf
und hat sich mit der Vorgeschichte der
aktuellen Raubkunstdebatte beschäftigt
– ein unrühmliches Beispiel kollektiver
Verweigerungshaltung. Über Jahrzehnte
hat ein raffiniertes Netzwerk von Kulturpolitikern und Museumsdirektoren
alle Rückgabeersuchen behindert. Sie
fühlten sich damals unangefochten im
Recht.
Wenn man über dieses erste, beschämende Kapitel der Restitutionsgeschichte liest, versteht man auch besser,
warum es bei den Beninbronzen kein
Halten mehr gab. Nofretete, hieß es
schon damals, wolle nach Hause; die
Schätze aus dem Benin werden den
Heimweg wohl antreten können. Das
ist Savoys persönlicher Triumph. Aber
sie sieht die Raubkunstfrage längst
in einem größeren Zusammenhang
und hat die »territoriale Verlagerung
von Kulturgütern in Kriegs- und Friedenszeiten« zum Kernthema ihres
Forschungsclusters »Translocations«
gemacht. Ein erster Bildatlas und eine
Anthologie zu »Kunstraub und Kulturerbe« ist dieser Tage erschienen. Von
Benin liest man nur noch am Rande;
das Humboldt Forum kommt fast gar
nicht mehr vor.
Zwar ist immer noch von »Gefangenen in versagenden Systemen« die
Rede oder der »zivilisatorischen Behauptung der europäischen Moderne«;
aber wie sich diese Moderne in die »Verlagerungsgeschichten« vieler Objekte
unlöschbar eingeschrieben hat, dafür
öffnet sich jetzt der Blick. Translokation und Transformation lassen sich
nicht voneinander trennen. So beklagte schon der gabunische Schriftsteller
Paulin Joachim jene »herrliche Nutzlosigkeit«, in der die Objekte in den
ethnografischen Sammlungen übereinandergestapelt lägen, »im gekühlten
Universum von Galerien ohne Sonne
und Farben«. Und der berühmte Film
über Raubkunst, »You Hide me«, entstand im Depot des British Museum. Ihre heutige Bedeutung haben
diese Werke erst auf dem Kunstmarkt
bekommen, »entkoppelt«, wie die Ethnologin Britta Hauser-Schäublin sagt,
von ihrer »Herkunftsgesellschaft« und
der eigenen Geschichte beraubt. Ihre
Translokation lässt sich als koloniale
Machtausübung erklären; ihre moderne
Transformation aber nicht.
Was bedeutet das für das Humboldt Forum? Es bleibt mit seiner postkolonialen Gebärde weit hinter solchen Fragen
zurück. Stattdessen wird die Sackgasse
immer deutlicher, in der man dort steckt.
Das Humboldt Forum ist zu einem Exerzierplatz der Selbstentfremdung geworden, die sich der anderen Sichtweisen nur als Krücke bedient. »Othering«
nennt man das in der Kulturwissenschaft
für gewöhnlich. In Berlins Mitte sucht
man Distanz zu sich selbst.
Johann Michael Möller ist freier
Publizist
MEHR DAZU
Passend zum Thema empfiehlt Politik
& Kultur den Sammelband »Kolonialismus-Debatte: Bestandsaufnahme und Konsequenzen«, herausgegeben von Olaf Zimmermann und
Theo Geißler. Dabei geht es um die
Bedingungen unter denen Artefakte,
menschliche Gebeine und Kunstwerke ins Ethnologische Museen gekommen sind. Welche Verantwortung hat
der deutsche Staat heute, wie kann
Wiedergutmachung aussehen? Aber
nicht nur der Staat steht in der Verantwortung. Welche Rolle spielten die
Missionen und wie ist das Verhältnis
der Kirche zum globalen Süden heute?
Welche Konzeption für das Humboldt
Forum, das zukünftige nationale Museum der Weltkulturen in Berlin, ist
die Beste? Was ist eigentlich Kolonialismus, Postkolonialismus oder Dekolonisation? Autorinnen und Autoren haben sich mit diesen Themen
intensiv beschäftigt. Laden Sie das
Buch kostenfrei hier: bit.ly/QLweTU
»Das ist eine neue Stufe des Judenhasses«
Von wem?
Aus allen möglichen Richtungen. Das
Ludwig Greven spricht mit dem neuen hängt immer vom Milieu ab. Während
Hamburger Antisemitismusbeauftrag- die einen sich bemühen zu trennen
ten über Attacken auf Juden anlässlich zwischen Kritik an Israel und Hass auf
des jüngsten Konflikts Israels mit der Juden, unterscheiden andere häufig
Hamas, über Unterstützung für sie nicht zwischen Judentum, Israel, Zioauch durch Klimaschützer und Begeg- nismus oder Verschwörungsfantasien.
nungen muslimischer Jugendlicher mit Das verschmilzt. Das ist das EinfallsIsrael.
tor für Leute, die das gezielt nutzen.
Stefan Hensel im Gespräch
Ludwig Greven: Während der
Angriffe der Hamas auf Israel
gab es hierzulande antijüdische
Ausschreitungen und Hass gegen
Juden im Netz. Wieso werden,
wenn es im Nahen Osten knallt,
reflexhaft Juden in Deutschland
attackiert? Was haben sie mit
dem Dauerkonflikt dort zu
tun?
Stefan Hensel: Gar nichts, weil die
meisten Juden, die hier leben, Deutsche sind. Warum die Stimmung so
ist, dafür gibt es viele Erklärungen.
Das eine ist das David-Goliath-Phänomen. Israel wird als der Stärkere
gesehen, der sich verteidigen kann.
Gemessen wird das an den Opferzahlen, obwohl das überhaupt nichts
besagt. Das andere sind Vorurteile
und Stereotype. Eine massive Wiederbelebung antisemitischer Weltbilder erleben wir bereits seit Beginn
der Coronakrise. Simple Erklärungsmuster für komplexe Fragen. Der Antisemitismus modernisiert sich und
passt sich an, je nach dem, was der
Zeitgeist verlangt. Das Grundmuster
bleibt jedoch immer gleich. Das hat
auch jetzt dazu geführt, die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien gezielt zu lenken.
Hass und Gewalt gingen diesmal
sehr stark von jungen muslimischen Migranten aus, mit Unterstützung von Linken und BDSlern,
die zum Boykott gegen Israel aufrufen. Woran liegt das?
Das war beim letzten Gaza-Konflikt
schon ähnlich. Was wir allerdings jetzt erlebt haben, ging fast
ausschließlich von jungen arabischen
Männern aus. Wir haben es hier mit
einem Antisemitismus zu tun, den es
sehr stark auch im Nahen Osten gibt.
Menschen, die von dort kommen oder
Fernsehsender aus diesen Ländern
verfolgen, legen ihn nicht deshalb ab,
weil sie jetzt hier leben.
Von dieser Seite kommt oft das Argument: Was haben wir mit eurer
deutschen Geschichte und Verantwortung zu tun?
Der Holocaust war ein Menschheitsverbrechen, das von Deutschen begangen wurde, aber alle Menschen
betrifft. Deshalb finde ich dieses Argument absurd. Meine Erfahrung sagt
jedoch, dass die Mehrheit der Migranten, auch der muslimischen, das nicht
so sieht. Ich habe häufig mit Jugendlichen zu tun, die das differenziert betrachten und es häufig beeindruckend
finden, was Israel geschaffen hat, und
sich das für ihre eigenen Länder und
die Herkunftsländer ihrer Eltern wünschen. Oder die, wenn sie im Rahmen
eines Schüleraustauschs nach Israel
gefahren sind, ein ganz anderes Bild
haben. Auch weil sie dort ein anderes
Bild von sich bekommen. Sie merken,
ich werde dort in der israelischen
Einwanderungsgesellschaft als Deutscher wahrgenommen, obwohl ich aus
Afghanistan oder dem Irak stamme.
Das stellt Fragen an ihre Identität und
ermöglicht ihnen einen anderen Blick
auf ihre Situation. Deshalb glaube ich,
dass man nicht pauschal sagen kann,
migrantische Jugendliche sind antisemitischer als andere. Das Problem betrifft Jugendliche mit einer bestimmten kulturellen Prägung, hinzu kommt
eine grundsätzliche Verpestung der
ganzen »Israel-Debatte«.
Nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle gab es sofort Demonstrationen und Aufrufe von
Politikern gegen Antisemitismus.
Weshalb jetzt erst sehr spät?
Es ist Politikern wohl nicht recht klar,
wann Solidarität mit Juden und wann
mit Israel angebracht ist. Es hat jedoch relativ klare Statements führender Politiker gegeben. Zuerst zu den
Juden hier in Deutschland, dann zu
der Frage, steht Deutschland an der
Seite Israels.
Aber wenig Konkretes zu dem
Judenhass von muslimischen
Migranten.
Die Diskussion über muslimischen
Antisemitismus ist in der Gesellschaft
insgesamt schwierig zu führen, weil
man immer Angst hat, dass man
Muslime stigmatisiert. Grundsätzlich
finde ich das löblich. Aber es verstellt
den Blick auf die Wirklichkeit, vor
allem auf die Migranten, die aus Ländern kommen, die nicht antisemitisch
geprägt sind und die gleichen Probleme mit Leuten haben, die islamistisch
und judenfeindlich sind. Sie oder ihre
Eltern sind ja oft vor diesem Terror
geflohen.
Weshalb tun sich vor allem Linke
so schwer mit Antisemitismus von
Muslimen?
Sie wollen keine antimuslimischen Ressentiments bedienen und
Rechtspopulisten nicht in die Hände
spielen. Sie tun aber das Gegenteil,
weil die muslimische Gemeinschaft
sehr viel differenzierter ist, als sie
meinen.
Verbreitet ist bei Linken auch pauschale Israelkritik.
Es gibt eine starke auch mediale Fokussierung auf den Konflikt zwischen
Israelis und Palästinensern. Dabei ist
die Lage in Nachbarländern wie Syrien oder Jemen viel schlimmer.
Wie finden Sie es, wenn auch auf
Kanälen von Fridays for Future
Karten verbreitet werden von Palästina ohne Israel, ohne Juden?
Ich finde das schockierend. Das ist
eine neue Stufe des Judenhasses und
von Desinformation. Die sozialen Medien leisten da Vorschub. Ich habe mir
Hunderte Profile von jungen Leuten
angeschaut, die sich zu dem Thema
geäußert haben und sonst voll sind
mit Modethemen oder Ähnlichem.
Wir hatten »Black lives matter«, jetzt
»Stay with Gaza«. Natürlich ist es
richtig, sich gegen Rassismus und für
Palästinenser einzusetzen. Aber das
sind Modewellen, das geht nicht in
die Tiefe. In zwei Wochen haben wir
da ein neues Thema.
Was haben Sie sich als Hamburger
Antisemitismusbeauftragter vorgenommen?
Ich kann Antisemitismus nicht allein
bekämpfen. Ich möchte das Thema
mit denen, die sich damit befassen,
voranbringen, und zwar so, dass es
für junge Leute zugänglich ist. Sehr
niederschwellig. Mir geht es darum,
jüdisches Leben sichtbarer zu machen. Und dass wir junge Leute mit
einem vom Hamburger Senat geförderten Programm nach Israel bringen
und Lehrer und Lehrerinnen dazu
befähigen, bei diesem Thema, das im
sozialen Umfeld ihrer Schüler eine
wichtige Rolle spielt, eine Position
zu ergreifen. Dass Antisemitismus
Judenhass ist und dieser hierzulande
nichts zu suchen hat. Wer seine Schule mit »antirassistisch« labelt, aber
zulässt, dass dort antijüdische Klischees verbreitet werden, macht sich
unglaubwürdig.
Vielen Dank.
Stefan Hensel leitet die Hamburger
Arbeitsgemeinschaft der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Auf Vorschlag der
Jüdischen Gemeinde Hamburg wurde
er zum . Juli vom Senat in das neue
Amt des Hamburger Antisemitismusbeauftragten berufen. Ludwig Greven
ist freier Publizist
INLAND 09
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Kunst im Impfzentrum
sind die bisherigen Reaktionen
auf die Aktion?
Bemerkenswert gut, sehr wertschätzend, auch dankbar. Die Menschen,
die mit Sorge zum Impfen kommen,
sind positiv überrascht und berührt.
Sie melden das auch sehr herzlich
an die Mitarbeiterschaft zurück. Die
Künstlerinnen und Künstler freuen
sich darüber, wieder gesehen zu werden und in Kommunikation zu sein.
In einige Werke verliebten sich die
Besucher und Besucherinnen so, dass
sie sie erwarben.
Fünf Fragen an Martina
Hassel über die Ausstellung
»Lichtblicke«
Museen sind geschlossen. Ausstellungen und Vernissagen vertagt
oder gar abgesagt. Aber Sie, Frau
Hassel, sind mit der Aktion »Lichtblicke« kreativ geworden: Sie
haben eine Gemeinschaftsausstellung in einem Impfzentrum initiiert. Wie kamen Sie auf die Idee?
Unser Impfzentrum ist in einem ehemaligen Real-Markt aufgebaut worden, der lange leer stand. Darin zwei
weiße Labyrinthe. Als Mitarbeitende
habe ich mich oft verlaufen und die
Umgebung als trostlos empfunden.
Mein Sohn Jannis, selbst als Künstler
vom Lockdown hart gebeutelt, hatte
dann die Idee, für beide Probleme
eine gute Lösung zu finden mit einer Ausstellung unserer heimischen
Künstlerinnen und Künstler. Unsere
Kreisverwaltung hatte zu diesem
Zeitpunkt bereits Außerordentliches
geleistet mit der Errichtung, Organisation und dem Betrieb des Zentrums in allerkürzester Zeit. Daher
habe ich meinen ehrenamtlichen
Einsatz für die Umsetzung angeboten, wenn die Idee befürwortet wird.
Was genau erwartet die Menschen,
die ins Impfzentrum im rheinland-
FOTO: SAMUEL BACH
Ein »Lichtblick« in Zeiten des Lockdowns ist die Möglichkeit zur Ausstellung für Künstlerinnen und Künstler
im Impfzentrum Bad Sobernheim. Gut
. Menschen werden ihre Werke nun sehen können. Die Initiatorin
Martina Hassel berichtet über das besondere Ausstellungskonzept.
Samuel Bach und Jannis Hassel eine
Präsentation aller Werke und eine
hochwertige Fotodokumentation
erstellt, die über die Homepage des
Kreises und dessen YouTube-Kanal
abgerufen werden können.
Planen Sie weitere Aktionen in anderen Impfzentren?
Nein, das würde ich ehrenamtlich
nicht wirklich schaffen. Es würde uns
natürlich begeistern, wenn unsere
Aktion andere ermutigen würde, im
jeweils eigenen Lebensbereich aktiv
zu werden. Sollte dazu Rat und Tat
gebraucht werden, stehe ich gerne zur
Seite.
Mit der Ausstellung erreichen Sie
Zehntausende Menschen. Wie
Martina Hassel ist Mitarbeiterin im
Impfzentrum Bad Sobernheim
Ein Einblick in die Ausstellung im Impfzentrum Bad Sobernheim
pfälzischen Bad Kreuznach kommen, bei der Ausstellung »Lichtblicke«? Was gibt es zu sehen?
Mittlerweile zeigen Künstler und
Künstlerinnen Werke. Nicht nur
die Qualität der einzelnen Kunstwerke, auch die Vielfalt beeindruckt.
Kaum eine andere Ausstellungsfläche bietet die Möglichkeit, auch
großformatige Werke und Skulpturen oder eine Reihe zusammengehöriger Werke in dieser Anzahl
geeignet zu präsentieren. Die Auswahl der Werke orientiert sich am
Thema »Lichtblicke« – und vermittelt
Hoffnung, Freude, Schönheit des Lebens, Lebendigkeit. Damit daran alle
Menschen teilhaben können, haben
Welche Bedeutung kommt der Aktion »Lichtblicke« Ihres Erachtens
zu?
Kunst berührt die Herzen der Menschen. Die Großzügigkeit der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler
bewirkt Dankbarkeit beim Publikum.
Es entsteht trotz Vereinzelung im
Lockdown ein Gemeinschaftsgefühl
und neue Solidarität. Kunst wird gesehen, erlebt und kommuniziert. Das
bedeutet für Kunstschaffende viel.
Kunst braucht gerade jetzt wirtschaftliche Perspektiven. Die Verkäufe sichern Einnahmen und lassen auf die
Zukunft hoffen.
»Bist Du auch ein Funke?«
Fünf Fragen an Max Schön über die Aktion »Kulturfunke«
Gemeinsam mit dem Lübecker Kulturtreibhaus entwickelte die PossehlStiftung die Aktion »Kulturfunke«:
Freie Künstler und Kulturschaffende,
die durch das Raster der gängigen
Förderangebote in der Coronakrise
fallen, können sich mit einem künstlerischen Projekt um eine Förderung
bewerben. Für ihre Aktion ist die
Lübecker Possehl-Stiftung mit dem
Deutschen Kulturförderpreis ausgezeichnet worden. Der vom Kulturkreis
der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.
und dem Handelsblatt vergebene Preis
würdigt mit dem erstmalig ausgeschriebenen »Sonderpreis für ein herausragendes Kulturprojekt im Kontext
von Covid « die Aktion »Kulturfunke«
der Initiative Kulturtreibhaus als flexible und nachhaltige Unterstützung
der Kulturszene.
Die Possehl-Stiftung hat bereits
vor einem Jahr gemeinsam mit
dem Lübecker Kulturtreibhaus,
einer freien Initiative von Kulturschaffenden und -institutionen,
die Aktion »Kulturfunke« ins Leben gerufen. Was steht dahinter;
was soll erreicht werden?
Schon im März wurde deutlich,
dass der Lockdown längerfristige
Einschränkungen gerade für die
Freie Szene zur Folge haben wird.
Nach vielen Gesprächen mit Betroffenen und Vertretern von Kulturinstitutionen entstand die Idee,
Künstlern und Kulturschaffenden vor
Ort zu helfen, die durch das Raster
der bisherigen Hilfen fallen. Unser
Förderangebot sollte zeitnah, unbürokratisch und beweglich sein. Das
passt zu unserer Stiftungs-Satzung,
das Gemeinwesen, Kultur und Wissenschaft in der Hansestadt zu fördern. Innerhalb von zwei Wochen
haben wir die Aktion geplant und
umgesetzt. Mit dem »Kulturfunken«
möchten wir freie Künstler und
Kulturschaffende ermutigen, auch
in dieser herausfordernden Zeit
nach vorne zu denken und weiterhin
künstlerisch zu arbeiten. Es sind ja
nicht nur die fehlenden Einnahmen,
sondern auch der kreative Stillstand,
der die Menschen beschäftigt und oft
auch verzweifeln lässt.
Aktion ist aber noch mehr entstanden. Das Team des Kulturtreibhauses
hat in einem ehemaligen Fahrradladen in der Lübecker Altstadt ein festes Quartier bezogen. Dort können
sich die Kulturschaffenden beraten
lassen, sich miteinander vernetzen
und gemeinsam neue Projekte entwickeln. All das, was vor Ort passiert,
wird auf der Veranstaltungsplattform
kulturfunke.de veröffentlicht.
Bereits die dritte Ausschreibungsrunde von »Kulturfunke« ist aufgelegt. Was sind Ihre bisherigen
Erfahrungen?
Was unterscheidet die Aktion
Es hat sich etwas verändert in Lü»Kulturfunke« von anderen Kulbeck. Trotz des inzwischen zweimaturförderprogrammen, die bedingt ligen Stillstands wurde eine neue,
durch die Coronakrise ins Leben
freudige Spannung, eine Art »kultugerufen wurden?
relle Dauervibration« spürbar. Die
Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Identifikation ist aufseiten der KulFörderzusage in Verbindung mit eiturschaffenden sehr hoch – »Bist Du
nem verbindlichen Aufführungs- bzw. auch ein Funke?« – ebenso der BeProjektzeitraum, um Kultur auch
kanntheitsgrad bei den Lübeckerinin kürzester Zeit zu erleben. Der
nen und Lübeckern. Die Stadt wurde
Kulturfunke ist eine sichtbare und
und wird von Kulturveranstaltungen,
nachhaltige Kulturförderung, das hat neuen Formaten und Zusammenoffenbar auch die Jury des Deutschen schlüssen bereichert, neue StadträuKulturpreises überzeugt. Kulturme – wie leer stehende Geschäftsräuschaffende aus ganz Deutschland
me, Spielplätze, öffentliche Orte und
können sich mit einem Vorhaben
Wände – werden bespielt, und der
um Projektförderungen in Höhe von
Sommer kommt nun zum zweijeweils bis zu . Euro bewerben
ten Mal als neue »Kulturspielzeit«
und unmittelbar nach Bewilligung
hinzu. Kultur macht sich durch unseihre Projektmittel abrufen, auch
re Aktion auf den Weg zu ihrem Pubwenn der Zeitpunkt ihrer Aktion
likum mit oft niedrigschwelligen Anin der Zukunft liegt oder vielleicht
geboten. Es wird genreübergreifend
wegen veränderter Vorschriften
–»crossover« – experimentiert, neues
verschoben werden muss. Die Hilfe
Publikum wird durch zufällige Bekommt sehr schnell dort an, wo sie
gegnungen im Stadtraum gewonnen.
gebraucht wird. Über die konkrete
Und: Einem breiten Publikum wird
– trotz Krise – der niedrigschwellige,
stetige und größtenteils kostenfreie
Zugang zu Kultur ermöglicht. Mit
unserer Aktion hoffen wir auch, zu
einem wichtigen kulturpolitischen
Diskurs über kulturelle Teilhabe anzuregen. Wir gehen vielmehr in den
Austausch mit den Akteuren, denken
neu, nach vorne, in alle Richtungen.
Kultur nur an den dafür vorgesehenen Spielorten zu erleben, funktioniert gerade nicht, da sind neue
kulturelle Denkräume gefragt.
Bis Juli dieses Jahres werden
. Kulturveranstaltungen,
die zum Teil auch neue Räume in
der Stadt erschließen, im Rahmen
von »Kulturfunke« stattgefunden
haben. Wie ist der Resonanz bei
den Lübeckerinnen und Lübeckern?
Die Resonanz ist groß und fällt
unterschiedlich aus. Eine zufällige
Begegnung mit einer Seiltänzerin
auf dem Wochenmarkt löst andere
Empfindungen aus als ein Konzert
in einem Pflegeheim oder eine intensive Begegnung im : Concert
im Stadtraum. Aus den Reaktionen
der Menschen spricht aber in der
Regel Berührung und Begeisterung.
Das erfahren wir nach wie vor fast
täglich über Briefe, Anrufe und bei
persönlichen Treffen. Viele Lübeckerinnen und Lübecker haben über
unsere Kulturfunke-CrowdfundingPlattform kleinere und größere Beträge gespendet, um ihre Solidarität
mit den Kulturschaffenden zu zeigen.
Wir spüren ein großes Gemeinschaftsgefühl, das ist wirklich sehr
wertvoll und zeigt einmal mehr, was
Kulturförderung bewirken kann.
Wie geht es ab Juli für »Kulturfunke« weiter?
Wir freuen uns auf die vielen neuen
und erprobten Formate, die uns über
einen hoffentlich frohen und offenen
Sommer bis in den Winter begleiten
werden. Die dritte Ausschreibung lief
bis Mitte Mai, mit noch mehr Anträgen als bisher, und wir sind gespannt
auf die neuen Ideen der Künstlerinnen und Künstler. Wie sich der
»Kulturfunke« dann weiterentwickelt,
wird sich spätestens Ende des Jahres
zeigen. Es ist ein auf Flexibilität basierendes Förderprogramm, das aktuelle gesellschaftliche Bedarfe und
Entwicklungen aufnimmt und widerspiegelt. Vorsichtshalber haben wir
den »Kulturfunken« beim Deutschen
Patent- und Markenamt als Marke
schützen lassen. Wir bekommen viel
positives Feedback von Künstlerinnen und Künstlern auch außerhalb
Lübecks, die uns die Einzigartigkeit
und Besonderheit dieses Programms
spiegeln, das es offenbar in der Form
in anderen Städten nicht gibt. Wir
würden uns freuen, wenn der Funke
überspringt und auch andere Stiftungen, Unternehmen und fördernde
Einrichtungen ein solch sichtbares
und nachhaltiges Entwicklungsprogramm für ihre jeweiligen Städte und
Regionen und deren freie Kulturszene auflegen.
Max Schön ist Vorsitzender des
Vorstands der Lübecker PossehlStiftung
10 OSTWESTPERSPEKTIVEN
www.politikundkultur.net
Die DDR – eine
Migrationsgesellschaft?
Migrationspolitik und -praxis in der DDR
JOCHEN OLTMER
A
die Grenzsperren überwanden. Selbst wenn
sich der Umfang der Abwanderung nach
als insgesamt recht bescheiden erwies,
war das Thema Migration keineswegs verschwunden, wie zahllose Konflikte um die
Beschränkung der Bewegungsfreiheit und
die hohe Zahl der Ausreiseanträge zeigen.
Und auch die materiellen und immateriellen Kosten für die Aufrechterhaltung
der Blockade der Migration – Grenzsicherungsanlagen und Grenztruppen, Überwachungs- und Repressionsapparat im
Innern, innen- und außenpolitische Folgen der Einschätzung der Maßnahmen als
illegitim – blieben sehr hoch.
Die Handlungsmöglichkeiten
der Migrantinnen und
Migranten
waren nicht
nur aufgrund
einer engen
Bindung an
die Betriebe,
eines stark
beschnittenen
Kündigungsrechts und
einer fehlenden Lobby
beschränkt
Beschweigen der Zuwanderung
Eine andere Antwort auf die Frage danach,
ob die DDR eine Migrationsgesellschaft
bildete, könnte lauten: Nein. Trotz der
Omnipräsenz des Themas Abwanderung
blieb es doch zugleich ein Feld des Beschweigens, des Herunterspielens, der
Sprechverbote, der Geheimregeln und
des Illegalen. Vergleichbares zeigte sich in
Hinsicht auf die Zuwanderung in die DDR.
So gab es ein weitreichendes Beschneiden
von Migrationsdebatten im Hinblick auf
FOTO: PICTURE ALLIANCE / AKGIMAGES | AKGIMAGES / GERT SCHÜTZ
ls Migrationsgesellschaften lassen
sich jene Gemeinwesen verstehen,
die stetig und intensiv die Folgen
räumlicher Bewegungen auf die eigene
soziale Ordnung diskutieren und reflektieren. Das heißt: Zwar kennt jedes Kollektiv
Wanderungsbewegungen, weil Migration
ein universaler Normalfall ist. Allein die
Mobilität aber macht Gesellschaften noch
nicht zu Migrationsgesellschaften. Ließe
sich also die DDR, die in der Rückschau
nicht selten als eine »geschlossene Gesellschaft« erscheint, als eine so definierte
Migrationsgesellschaft verstehen?
Eine Antwort wäre: Ja. Für viele Menschen in der DDR bildete die Option der
Abwanderung in den Westen eine Verheißung, deren Chancen und Risiken es
sorgsam zu bedenken galt. Daran schloss
sich eine alle gesellschaftlichen Bereiche
und Ebenen prägende Auseinandersetzung über die Folgen von Abwanderung
und Flucht für die Funktionsfähigkeit
der Ökonomie oder des Bildungs- und
Gesundheitswesens, aber auch für die
Legitimität des politischen Systems und
drei Millionen Menschen aus der DDR in
die Bundesrepublik ein. Nach den Angaben
des in Westdeutschland eingeführten
asylähnlichen »Notaufnahmeverfahrens«,
das den Zugewanderten aus der DDR unter bestimmten Voraussetzungen einen
Flüchtlingsstatus mit entsprechenden
Versorgungsleistungen zuwies, pendelten
die Zahlen in den er Jahren zwischen
jährlich ca. . und .. Höhepunkte bildeten das Jahr , aufgrund der
planmäßigen Kollektivierungen /
und der Ereignisse im Umfeld des . Juni
, sowie / im Kontext der Verschärfung der DDR-Passrichtlinien. Nach
einem Minimum stiegen die Zahlen
bis zum Mauerbau wieder deutlich an,
nicht zuletzt wegen der erneut verschärften Kollektivierungspolitik.
Der Bau der Berliner Mauer reduzierte
die Bewegungen aus der DDR in die Bundesrepublik massiv: In den späten er,
den er und frühen er Jahren
schwankte ihr Umfang jährlich zwischen
. und .. Er wuchs erst in der
Endphase der DDR wieder an, erreichte – nach einem bundesdeutschen
Milliardenkredit an die DDR und einer
Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zum Bau der Berliner Mauer wanderten über drei Millionen Menschen
aus der DDR in die Bundesrepublik
das Verhältnis zur Bundesrepublik an. Um
die aus obrigkeitlicher Sicht in höchstem
Maße existenzgefährdende Abwanderung
mindestens zu behindern, möglichst aber
zu verhindern, riegelten DDR und UdSSR
bereits Anfang der er Jahre die innerdeutsche Grenze weitgehend ab. Die
besondere Stellung Berlins aber schien
Grenzsicherungsmaßnahmen zwischen
den alliierten Sektoren der ehemaligen
Reichshauptstadt lange nicht zuzulassen,
weshalb sich die Abwanderung nur bedingt
kontrollieren oder gar blockieren ließ.
Bewilligung von . Ausreiseanträgen
durch die SED-Führung mit dem Ziel, die
innenpolitische Situation zu beruhigen –
einen Spitzenwert von über ., um
schließlich im Jahr der Öffnung der Mauer
auf mehr als . zu steigen.
Vom Bau der Mauer bis Ende
fanden insgesamt über . Menschen ihren Weg von Deutschland-Ost
nach Deutschland-West. Der weitaus
überwiegende Teil konnte auf der Basis
von Ausreisegenehmigungen die Grenze
überschreiten, die vor allem Rentnerinnen und Rentnern sowie anderen NichtBlutet die DDR aus?
Erwerbstätigen erteilt wurden. Gering blieb
Wahrscheinlich wanderten von der Grün- demgegenüber die Zahl der Erwerbstätigen,
dung der beiden deutschen Staaten die die DDR verlassen durften und die Zahl
bis zum Bau der Berliner Mauer über derjenigen, die unter größter Lebensgefahr
die Ankunft von deutschen Vertriebenen
und Flüchtlingen mit und nach Kriegsende
. In die Sowjetische Besatzungszone
gelangten aus den Provinzen des Deutschen Reiches östlich von Oder und Neiße, die mit Kriegsende in polnischen und
sowjetischen Besitz übergingen, sowie
aus den außerhalb der Vorkriegsgrenzen
gelegenen Siedlungsgebieten von Deutschen im östlichen Europa verhältnismäßig mehr Menschen als in die westlichen
Besatzungszonen: Die Volkszählungen des
Jahres in beiden deutschen Staaten
ermittelten in der DDR , Millionen und
in der ungleich größeren Bundesrepublik
, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene.
Zu ihnen zählte in der DDR mehr als ein
Viertel der Bevölkerung.
In der Bundesrepublik setzten sich rasch in
politischer Rede und öffentlicher Diskussion
Begriff und Figur des »Heimatvertriebenen«
durch – verstanden als durch Androhung
und Anwendung massiver Gewalt ohne
Handlungsalternativen unschuldig und
unter Zurücklassung allen Hab und Guts
aus dem Osten – also dort, wo der Feind im
»Kalten Krieg« stand – bei zahlreichen Todesopfern in den Westen – wo Schutz und
Sicherheit geboten wurde und humanitäre
Standards galten – gelangte Menschen. Sie
hätten, wie die Verwendung des Begriffs
Heimat zeigen sollte, weiterhin Rechte und
Ansprüche auf Eigentum und Zugehörigkeit
jenseits des »Eisernen Vorhangs«. In der SBZ
hingegen befahl die Besatzungsmacht bereits im September die Verwendung
des Begriffs »Umsiedler«. Weder über ihre
Herkunft aus den Gebieten östlich von
Oder und Neiße noch über die Frage, unter
welchen Umständen sie in die SBZ gelangt
waren, galt es nachzudenken. Nur wenig
später hießen sie »ehemalige Umsiedler«.
Mit der Gründung der DDR schließlich forderte die Sprachpolitik die Verwendung des
Begriffs »Neubürger«. In den er Jahren
wurde auch dieses Wort getilgt, die Integration für abgeschlossen erklärt, das Reden
über Konflikte und Probleme war ebenso
tabuisiert wie Debatten über Identität und
Herkunftsbezüge.
Jedwede Effekte auf die soziale Ordnung
der DDR leugneten Staats- und Parteiführung auch in Hinsicht auf die Beschäftigung
von Arbeitskräften aus dem Ausland, wie sie
in den er Jahren Regierungsabkommen
– Kuba , Mosambik , Vietnam
– einleiteten. Verbrämt wurden sie meist als
Ausbildungswanderungen, die sie aber nur
zum Teil tatsächlich waren. In den er
Jahren stieg die Zahl der überwiegend jungen »ausländischen Werktätigen« deutlich
an. Von den ca. . ausländischen
Staatsangehörigen in der DDR stellten neben
Studierenden die bei Weitem stärkste Gruppe in DDR-Betrieben Beschäftigte (.).
Von ihnen kamen . aus Vietnam und
. aus Mosambik. Der Anteil der Männer
dominierte, nur durchschnittlich Prozent
waren Frauen.
Die Arbeitskräfte aus »sozialistischen
Bruderländern« arbeiteten in der DDR meist
in den von Einheimischen am wenigsten
geschätzten Beschäftigungsfeldern in der
Produktion, z. B. zu drei Vierteln im Schichtdienst. Wegen eines Rotationssystems mit
strenger Befristung der Arbeitsverträge, des
Verbots der Familienmigration, einer in der
Regel ausgeprägten Segregation durch Unterbringung in Wohnheimen sowie einer
autoritären Betreuung und staatlich verordneten Marginalisierung blieb die Distanz
zwischen Zugewanderten und DDR-Bevölkerung groß. Die Handlungsmöglichkeiten der
Migrantinnen und Migranten waren nicht
nur aufgrund einer engen Bindung an die
Betriebe, eines stark beschnittenen Kündigungsrechts und einer fehlenden Lobby
beschränkt. Außerdem wurde ein Teil des
Lohns direkt an die Regierung der Herkunftsländer oder erst nach der Rückkehr
ausgezahlt. Öffentliche Diskussionen über
ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren
ebenso wenig zugelassen wie Interessenvertretungen oder politische Partizipation.
Im Blick auf die Ausgangsfrage ließe sich
folglich davon sprechen, dass die DDR eine
Migrationsgesellschaft war, in der zentrale
Organisationen – SED, Regierung, Sicherheitsapparat – zwar dauernd die Folgen von
Migration für die soziale Ordnung reflektierten. Weil ihnen aber räumliche Bewegungen
in vielerlei Hinsicht als Bedrohung galten,
sollten nicht nur diese, sondern auch gesellschaftliche Debatten darüber eingedämmt
werden. Es ließe sich mithin von einer repressiv formierten Migrationsgesellschaft
sprechen, die zahllose Ambivalenzen und
Widersprüche produzierte. Über sie und ihre
langfristigen Folgen ist gar nicht so viel bekannt, wie man angesichts der intensiven
Beschäftigung mit der Geschichte der DDR
und den Effekten der Vereinigung der beiden
deutschen Staaten meinen sollte.
Jochen Oltmer ist Mitglied des Vorstands
des Instituts für Migrationsforschung und
Interkulturelle Studien der Universität
Osnabrück
EUROPA 11
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
»Unlocking« Kultur und
Kreativität in Europa
SABINE VERHEYEN
I
n Brüssel arbeiten wir derzeit daran, Möglichkeiten für einen EUweiten Ansatz zur Unterstützung
der Kultur- und Kreativsektoren
und -industrien zu erkunden, wobei der
Schwerpunkt auf der Wiedereröffnung
der kulturellen Veranstaltungen und
Veranstaltungsorte in Europa liegt. Unser Ziel ist es, eine reibungslose und
sichere Rückkehr zu Veranstaltungen
und einen koordinierten Ansatz auf der
Grundlage gemeinsamer Indikatoren
zu diskutieren, der dazu beiträgt, Beschränkungen aufzuheben und gleichzeitig das Vertrauen des Publikums zu
stärken, dass die Wiedereröffnung auf
verantwortungsvolle Weise erfolgt.
Dies wird für das Überleben der Kultur- und Kreativwirtschaft, die von den
Beschränkungen, die zur Eindämmung
der Pandemie verhängt wurden, besonders stark betroffen ist, von entscheidender Bedeutung sein. Die Kultur- und
Kreativsektoren verloren im Jahr
rund Prozent ihrer Einnahmen, wobei die Branchen, die am stärksten von
Live-Events abhängig sind, so wie die
darstellenden Künste (Rückgang von
Prozent) und Live-Konzerte (Rückgang
von Prozent) am stärksten betroffen
sind. Gemeinsam mit der Europäischen
Kommission, die vor Kurzem ihre Mitteilung über »einen gemeinsamen Weg
zur sicheren und nachhaltigen Wiedereröffnung« veröffentlicht hat, arbeiten
wir im Europäischen Parlament nun an
den notwendigen nächsten Schritten,
die für eine koordinierte, schnelle und
sichere Wiedereröffnung des Kultur-
sektors unternommen werden müssen.
Wie in der Mitteilung der Kommission zu Recht erwähnt, erfordert eine
effiziente und erfolgreiche Wiedereröffnung eine Koordinierung auf EU-Ebene.
Ohne diese wird die Wiedereröffnung
länger dauern, mehr kosten und weniger nachhaltig sein. Darüber hinaus
gewährleistet eine koordinierte Wiedereröffnung die Kontinuität des Binnenmarktes, der untrennbar mit dem
wirtschaftlichen und sozialen Leben
der Europäer verbunden ist.
Für die kommenden Monate, die
für viele Künstler und Kulturunternehmen in der EU existenziell wichtig
sind, bleibt nicht viel Zeit, wir müssen jetzt Perspektiven schaffen. Viele
Vertreter aus dem Kultur- und Kreativsektor haben in den vergangenen
Monaten eng mit den nationalen und
lokalen Regierungen sowie den nationalen und EU-Gesundheitsbehörden
zusammengearbeitet. Sie haben Testveranstaltungen organisiert, wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen und
Standards entwickelt, die zeigen, wie
sichere Veranstaltungen für das Publikum gestaltet werden können. Diese
sollten die Ausgangsbasis und ein nützlicher Bezugspunkt für uns in Europa
bei der weiteren Arbeit an der sicheren
Wiedereröffnungsstrategie sein.
Ein Beispiel für ein erfolgreiches Pilotevent hat in Barcelona stattgefunden.
Ende März hatten . Fans die Show
der Rock-Indie-Band »Love of Lesbian«
besucht. Zwei Wochen nach dem Konzert hat es in den Daten des staatlichen
Gesundheitssystems »kein Anzeichen«
für eine Übertragung des Coronavirus
während der Großveranstaltung gegeben. Das Konzert fand unter aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen statt.
Alle Besucher mussten vorher einen
FOTO: PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS | EMILIO MORENATTI
Bringt die Kultur zurück!
Erfolgreiches Pilotevent: Show der Band »Love of Lesbian« in Barcelona
Corona-Antigen-Test machen und ein
negatives Ergebnis vorlegen. Außerdem mussten sie FFP-Masken tragen.
Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme
wurde in der Mehrzweckhalle eine besonders leistungsfähige Lüftungsanlage installiert. Außerdem wurde strikt
darauf geachtet, dass sich in kritischen
Bereichen wie den Toiletten nicht zu
viele Menschen aufhielten. Abstand
halten mussten die Konzertbesucher
nicht. Anfang März fand eine ähnliche
Veranstaltung in den Niederlanden mit
. Teilnehmern statt. In der Arena
Leipzig hatte Pop-Musiker Tim Bendzko im August unter der Aufsicht von
Wissenschaftlern ein Konzert mit .
Zuschauern gegeben.
Die Erkenntnisse aus diesen Testveranstaltungen sollen nun dabei helfen,
eine europäische Wiedereröffnungs-
strategie zu entwickeln. Diese könnte
unter anderem beinhalten, die Regierungen aufzufordern, die Planungssi- Sabine Verheyen ist Vorsitzende des
cherheit für die Branche zu erhöhen Ausschusses für Kultur und Bildung des
und dafür belastbare »Wiedereröff- Europäischen Parlaments
nungskalender« zu erstellen, die auf
transparenten und nachvollziehbaren Kriterien beruhen: Impfquoten,
STIMME AUS
Krankenhauskapazitäten, Anzahl der
DEM
PARLAMENT
positiven Fälle ... Außerdem sollten
Vorschläge für leicht umzusetzende
Sicherheitsprotokolle für VeranstalIn der Beitragsreihe »Stimme aus
tungen erstellt werden, um so die Sidem Parlament« berichten die Vorcherheit des Publikums beim Besuch
sitzende des Kulturausschusses des
von Konzerten zu gewährleisten. Auch
Europäischen Parlaments, Sabine
könnten die Mitgliedstaaten ermutigt
Verheyen, und die Vorsitzende des
werden, die Mehrwertsteuersätze auf
Kulturausschusses des Deutschen
Ticketverkäufe für die nächsten
Bundestages, Katrin Budde, von der
Monate zu senken, um die Branche zu
Ausschussarbeit. Die bisher erschieunterstützen. Gleichzeitig brauchen wir
nenen Beiträge der Reihe können Sie
einen transparenten und klaren Ansatz
hier nachlesen: bit.ly/lGYeTS
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für internationale Tourneen und die Organisation von grenzüberschreitenden
Kulturveranstaltungen innerhalb der
EU. Dafür ist auch eine schnelle, aber
sichere Rückkehr zu unserer europäischen Freizügigkeit, die das grenzüberschreitende Reisen von Künstlern
ermöglicht, unabdingbar.
In vielen weiteren Mitgliedstaaten
hat es ebenfalls erfolgreiche Pilotprojekte und Testveranstaltungen gegeben,
allerdings ist der Grad des politischen
Engagements in dieser Sache von Land
zu Land unterschiedlich. Die Rolle der
Europäischen Institutionen, die Wiedereröffnung nun zu einer politischen
Priorität zu machen, bewährte Verfahren zu fördern und die Mitgliedstaaten
zu überzeugen, eine sichere und nachhaltige Wiedereröffnungsperspektive
zu entwickeln, ist daher absolut entscheidend für die Sektoren, für die gesamte europäische Wirtschaft und für
die Gesundheit, die Sicherheit und das
Vertrauen der Bürger.
12 INTERNATIONALES
www.politikundkultur.net
Aufbruchstimmung
finanzielle Engpässe aufgrund unzureichender staatlicher Unterstützung.
Die Forschungsaktivitäten sind entsprechend gering, das Renommee der
BENJAMIN SCHMÄLING
teils traditionsreichen Hochschulen
hat gelitten. Besonders im Zentral- und
ie vergangenen Jahrzehnte im Südirak erschwert die prekäre SicherIrak waren geprägt von Kriegen, heitslage internationale KooperatioTerror und politischer Instabili- nen; individuelle Studien- und Fortät: von den Golfkriegen in den er schungsaufenthalte sind mit hohen
und zu Beginn der er Jahre, über Risiken verbunden. In der autonomen
die US-geführte Militärinvasion Region Kurdistan im Norden des Lanbis hin zum Versuch des »Islamischen des ist die Sicherheitslage vergleichsStaates«, mit Gewalt und Repression weise besser. Trotzdem berichtet das
ein islamistisches Unrechtsregime Scholars-at-Risk-Netzwerk in seinem
aufzubauen. Abgesehen von den zahl- jüngsten Free-to-think-Report auch
losen Todesopfern, der Vertreibung von gezielten tödlichen Angriffen auf
Hunderttausender Menschen und der Forschende und Studierende.
Zerstörung von Städten und Infrastruktur wurde auch die Hochschul- und
Auch an internationaForschungslandschaft nachhaltig in
Mitleidenschaft gezogen. Studien- und
len Partnerschaften ist
Forschungsvorhaben wurden unterbrodas Interesse groß, sochen oder gänzlich unmöglich gemacht,
wohl
seitens der irakiLabore und Bibliotheken zerstört,
Hunderte Wissenschaftlerinnen und
schen Hochschulen als
Wissenschaftler ermordet, Tausende
auch aus der Politik
mussten das Land verlassen.
Diese Konsequenzen für den Hochschulsektor sind auch heute noch im Trotz aller Schwierigkeiten gibt es in
Irak spürbar. So fehlt es oftmals nicht den letzten Jahren beim akademischen
nur an gut ausgebildeten Lehrenden Wiederaufbau erste Erfolge und positive
und Forschenden, auch die Möglich- Entwicklungen zu verzeichnen. So hat
keiten für den wissenschaftlichen sich der Zugang zu Schulbildung und
Nachwuchs zur Weiterqualifikation – in geringerem Maße – zu Hochschulsind begrenzt. Viele Lehrende haben bildung deutlich verbessert, auch wenn
lediglich einen Masterabschluss. Hinzu die Datenlage uneinheitlich ist. Die
kommen eine mangelhafte materielle größeren staatlichen Hochschulen wie
Ausstattung vieler Hochschulen und die Universität Bagdad, die Universität
Akademischer Wiederaufbau im Irak
D
eküsst
e
ulturpolitik
ndes
—2018
Kufa oder die Universität Duhok in der
autonomen Region Kurdistan bieten inzwischen eine solide grundständige Ausbildung in einer Vielzahl von Fächern.
Zudem werden an keiner der staatlichen
Hochschulen Studiengebühren erhoben.
Entsprechend hoch ist die Konkurrenz
um Studienplätze, so dass auch kostenpflichtige private Hochschulen gerade
für zahlungskräftige Studierende an
Bedeutung gewinnen.
Auch wenn internationale Mobilität
von Studierenden und Forschenden in
den vergangenen Jahrzehnten vielfach
durch die äußeren Umstände erzwungen war, lässt sich in jüngerer Zeit ein
großes Interesse an einem Studium im
Ausland beobachten. Der Staat fördert
die Aufenthalte mit groß angelegten
Stipendienprogrammen wie dem »Human Capacity Development Program«
des kurdischen Hochschulministeriums.
So hat sich die Zahl der Studierenden
im Ausland nach UNESCO-Angaben
zwischen und von .
auf über . mehr als verfünffacht.
Die beliebtesten Zielländer sind dabei
Jordanien, die Türkei, der Iran, Malaysia und die USA. Deutschland liegt auf
Platz elf. Mit Blick auf die Einwohnerzahl von knapp Millionen und die
Gesamtzahl der Studierenden von mehreren Hunderttausend ist der Auslandsanteil derzeit noch gering. Zugleich legt
der Zuwachs in Anbetracht der sehr
jungen Bevölkerung – Prozent sind
nach Berechnungen der Weltbank unter
Jahre alt – ein großes Potenzial für
internationalen akademischen Aus-
tausch nahe. Dieser kann allerdings nur
nachhaltig zum akademischen Wiederaufbau beitragen, wenn er den ohnehin
vorhandenen »Brain drain« nicht weiter
verschärft. Hierzu können etwa kurzzeitige Studienaufenthalte im Ausland,
partnerschaftliche Studien- und Promotionsprogramme, digitale Formate
sowie transnationale Bildungsangebote
vor Ort einen Beitrag leisten.
Auch an internationalen Partnerschaften ist das Interesse groß, sowohl
seitens der irakischen Hochschulen als
auch aus der Politik. Für die irakischdeutsche Zusammenarbeit verzeichnet
die Hochschulrektorenkonferenz inzwischen Hochschulkooperationen an
insgesamt irakischen Institutionen.
Führend sind dabei die drei kurdischen
Hochschulen Universität Sulaimani, die
Salahaddin Universität und die Universität Duhok sowie im Zentralirak
die Universität Bagdad. Der Fokus auf
kurdische Universitäten lässt sich auch
bei den vom Deutschen Akademischen
Austauschdienst (DAAD) geförderten
Projekten beobachten. Dies liegt größtenteils an der besseren Sicherheitslage
im Vergleich zum Rest des Landes. Der
fachliche Zuschnitt der Kooperationen
ist dabei breit gestreut und reicht von
Ingenieurwissenschaften und Raumplanung über Erziehungswissenschaften und Lehrerausbildung bis hin zu
Sportwissenschaften. Mit dem Aufbau
des Instituts für Psychotherapie und
Psychotraumatologie an der Universität Duhok soll zudem die psychologische Unterstützung der Menschen in
einer von Krieg und Terror gebeutelten Umgebung verstärkt werden. Internationale Kooperationen wie diese
können einen entscheidenden Beitrag
zur Struktur- und Kapazitätsbildung
vor Ort und damit zum akademischen
Wiederaufbau des Iraks leisten.
Gerade in jüngster Zeit lassen sich
weitere Entwicklungen feststellen, die
neue Möglichkeiten der akademischen
Zusammenarbeit eröffnen. So wurde
von der irakischen Nichtregierungsorganisation »Masarat« das Institute for the Study of Religious Diversity
gegründet. Ziel des Instituts ist es, in
enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten und durch die Ausarbeitung entsprechender Curricula den
interreligiösen Dialog zu fördern. Es ist
die erste Einrichtung dieser Art in der
gesamten Region. Ebenfalls einzigartig
ist das Center for Gender and Development Studies an der American University of Iraq Sulaimani. Seit bietet
man dort das Nebenfach Gender Studies an und trotz Widerständen in einer
von traditionellen Rollenbildern geprägten Gesellschaft haben inzwischen
über Studierende die Kursangebote
wahrgenommen. Auch die kurdische
Regionalregierung scheint sich offen
für einen Ausbau des Faches zu zeigen.
Bei allen Schwierigkeiten stehen die
Zeichen im Irak also vielerorts auf akademischen Aufbruch.
Benjamin Schmäling leitet die DAADAußenstelle in der jordanischen Hauptstadt Amman
Wachgeküsst
20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
1998—2018
Wachgeküsst
20 Jahre
neue Kulturpolitik
des Bundes
1998—2018
Hg. v. Olaf Zimmermann
Hg. v. Olaf Zimmermann
mann
Guten Morgen, Dornröschen!
Wachgeküsst · 20 Jahre neue Kulturpolitik
des Bundes 1998 — 2018 · Hg. v. Olaf Zimmermann
492 Seiten · Fadenheftung mit Lesebändchen
ISBN 978-3-947308-10-1 · 22,80 Euro
Das Buch »Wachgeküsst. 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998 — 2018« bietet einen Überblick über die wichtigsten Themen der Bundeskulturpolitik der letzten 20 Jahre. Urheberrecht, Kulturgutschutz, Sammlungsgut aus kolonialen
Kontexten, Provenienzforschung, Filmförderung, Religion, Medien, Stiftungsreform, Künstlersozialversicherung, Kulturwirtschaft, Computerspiele, Erinnerungspolitik, Reformation, Digitalisierung, Kulturfinanzierung, Inklusion, Vielfalt und Diversität, das komplizierte Verhältnis zwischen Bund und Ländern in Kulturfragen, Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik …
Wer wissen will, was die neue Bundeskulturpolitik seit 1998 ausmacht und sich darüber informieren möchte, wie der Weg
für eine sichtbare Bundeskulturpolitik bereitet wurde, für den ist dieses Buch unverzichtbar.
INTERNATIONALES 13
FOTO: KÉRÉ ARCHITECTURE
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Rendering des neuen Goethe-Instituts in Dakar. Außenansicht: Innenhof mit Baobab
Zurück in die Zukunft
Nachhaltige Architektur in Westafrika
RUTH HELMLING
D
iamniadio Lake City. AkonCity. Eko-Atlantic. Das
Image der westafrikanischen
Stadt der Zukunft ist weitgehend geprägt von Wolkenkratzern
und wundersamen architektonischen
Konstrukten. Wer die Gelegenheit hatte, diese futuristischen Städte aus der
Luft zu betrachten, dem fällt jedoch auf:
Trotz aller Herrlichkeit wirken sie wie
künstliche Implantate aus einer anderen Welt, losgelöst von ihrer Umgebung.
Diese Stadtmodelle aus Beton, Stahl
und Glas mögen Modernität, Fortschritt,
Nachhaltigkeit symbolisieren – allerdings tun sie das, typisch kolonial, in
westlichem Sinne.
Wie die Materialien selbst sind sie
ein Importprodukt und »berücksichtigen kaum das lokale Klima, die Besonderheiten der afrikanischen Stadt und
noch weniger das architektonische Erbe,
das wir in Afrika haben«, prangert die
Architektin Nzinga Biegueng Mboup
an. Mboup, die in England und Südafrika studiert hat, lebt in Senegal und
beschäftigte sich zuletzt umfassend
in einer Studie mit »Traditionen und
Trends in der nachhaltigen Architektur in Westafrika«. Auch der UNESCOBeauftragte für Stadtentwicklung und
Kultur in Westafrika, Pierre Wenzel,
sieht Zement und Stahl als Inbegriff
von Kolonisation und Globalisierung.
»Diese exogenen Modelle und Materialien werden nun in Frage gestellt«,
sagt Wenzel.
Nzinga Biegueng Mboup gehört zu
einer Reihe von westafrikanischen
Architekten, Verbänden und Organisationen, die sich einer neuen Nachhaltigkeit widmen: Weg von DubaiImitaten, hin zu einer Bauweise, die
die afrikanischen Traditionen aufgreift
und modern umsetzt. »Bauen muss zu
einem Werkzeug werden, das lokale
Ressourcen fördert und die Abhängigkeit von importierten Materialien
reduziert«, sagt die senegalesisch-kamerunische Mboub. Zudem gilt Zement
in der Herstellung als umweltschädlich,
bescheinigt Wenzel, und ist insbesondere thermisch schlecht an das dortige
Klima angepasst.
In der semi-ariden Sahel-Zone südlich der Sahara ist es heiß und trocken.
Funktionale Gebäude, Kommunen,
Häuser – verwendet wurde, was am
Bauplatz vorhanden war: Lehm und
Erde gibt es überall. An den Ufern auch
Pflanzenfasern wie Bambus oder Holz.
Diese Ressourcen sind dem Klima angepasst und haben zudem bedeutend
bessere dämmende Eigenschaften als
Zement – sowohl thermisch als auch
akustisch. Traditionelle Lehmbautechniken gehören zum kulturellen Erbe
der Region und gehen weit über das
Material an sich hinaus: Strategisch
positionierte Lüftungsschlitze ermöglichten einen Venturi-Effekt, ganz ohne
Klimaanlage. Wissen um den Verlauf
der Sonne wurde zum Erschaffen von
Schattenspendern genutzt. Wartungsarbeiten waren ein kommunales Ereignis, den klimatischen Zyklen angepasst,
bei dem zugleich altes Wissen an die
neue Generation weitergereicht wurde.
Viele alte Städte in Westafrika zählen
aufgrund des Reichtums und der Vielfalt der Lehmbautechniken heute zum
UNESCO-Weltkulturerbe. Etwa ein
Drittel der Häuser in der Sahelregion
wird noch immer nach traditionellen
Methoden gebaut, so Mboub.
Eine neue Generation von Architekten entdeckt das jahrtausendealte
Wissen wieder für sich. Die senegalesische Agentur Worofila, die Mboub
mitgründete, spezialisiert sich auf
bioklimatische Architektur. Professionelle Netzwerke wie FACT Sahel+
bringen Fachleute aus dem Lehmbau
zusammen. International gilt die französische CRAterre-Schule als Zentrum
für Erd- und Lehmbau. Architekten, die
im Ausland oder an der Universität
EAMAU in Togo ausgebildet wurden,
kombinieren technisches Know-how
mit einem Interesse an gebautem
kulturellem Erbe. Auch in ländlichen
Gegenden hat sich inzwischen herumgesprochen: In den Lehmbauten der
Großeltern lebt es sich angenehmer
als in den neueren Zementhäusern mit
Blechdächern, beobachtet UNESCOExperte Wenzel: »Sie werden zu riesigen Öfen.«
Aushängeschild nachhaltiger westafrikanischer Architektur ist der Architekt Francis Kéré. Auch knapp Jahre
später kann sich der preisgekrönte Architekt noch gut an seine erste Schule
erinnern: »Es war dunkel. Und heiß!«
Kéré, der heute in Berlin lebt und arbeitet, wuchs mit seinen Geschwistern
in einem Dorf im ländlichen Burkina
Faso auf. Damit er die Schule besuchen
konnte, schickten seine Eltern den
damals -Jährigen zu Verwandten in
der nächsten Stadt. Die traditionelle
Bauweise seiner Heimat begleitete ihn
durch seine Kindheit und
auch nach seiner Schulzeit. In den er Jahren
brachte ihn ein Stipendium dann nach Deutschland, wo er zunächst eine
Ausbildung zum Schreiner
machte und dann an der
TU Berlin Architektur studierte. Noch vor Abschluss
seines Studiums führte ihn
sein Weg zurück nach Gando. Er baute
eine Grundschule – aus traditionellen
Materialien, mit modernem Design.
Freundlich. Hell. Und kühl.
Das ganze Dorf arbeitete daran mit.
Und Kéré wurde mit seinem ersten Preis
ausgezeichnet, dem renommierten Aga
Khan Award for Architecture. Ihm sollten noch viele weitere Preise folgen.
Francis Kérés Ansatz ist ganzheitlich. Er ist zugleich futuristisch und
traditionell. »Informiert durch Tradition, erkunden wir neue Formen des
Bauens, deren Fundamente vor langer
Zeit gelegt wurden«, so die Philosophie
von Kéré Architecture, seinem gegründeten Architektur-Büro in Berlin.
Wie das aussehen kann, zeigen seine
inzwischen zahlreichen international
vorhandenen Projekte. Aktuell arbeitet er an einem neuen Gebäude für das
Goethe-Institut in Dakar. Kéré fühlt
sich geehrt, durch das Projekt an der
zeitgenössischen Gestaltung Dakars
mitzuwirken: »Die Hauptstadt Senegals ist einer der wichtigsten Kulturknotenpunkte auf dem afrikanischen
Kontinent.«
Wie für sein Schulprojekt in Gando,
wird er für das Institut in Dakar sogenannte BTC-Ziegel verwenden: Komprimierte Erdziegel, ein traditionelles
Material in zeitgemäßem Gewand. Die
Verwendung lokaler Baumaterialien ist
sowohl ökologisch als auch klimatechnisch sinnvoll, darin sind sich Kéré und
das Goethe-Institut in Senegal einig.
Eine wachsende Zahl von Unternehmen in Westafrika widmet sich solchen innovativen Formen von Erd- und
Lehmziegeln. Das senegalesische Unternehmen Elementerre bietet BTC-Ziegel an, wie sie Kéré für das
neue Institut verwenden
wird. Eine weitere Variante sind Typha-Lehmziegel,
die besonders gute Dämmeigenschaften haben und
daher zur Dacheindeckung
angewendet werden. Auch
andere afrikanische Länder
produzieren ihre Lehmziegel-Varianten. So fördert
das südafrikanische Unternehmen
Hydraform laut Mboub den Einsatz
von BTC- und Moladi-Technologien in
Westafrika, bei der Kunststoffplatten
mit Erde gefüllt werden.
Diese Technologien bahnen den
Weg für eine »hybride und intelligente Architektur zwischen Tradition und
Moderne«, sagt der UNESCO-Experte
Pierre Wenzel, indem sie die Verwendung von Erde in modernen, urbanen
Konstruktionen überhaupt möglich machen. Statt als altertümlich abgetan zu
werden, erlaubt dieses uralte Material
damit moderne Architektur im alten
Stil, ohne qualitative oder komfortable
Abstriche. In Dakar sind Hotels wie »Le
Djoloff« und »Onomo« Vorreiter eines
modernen Lehmbaus für ein gehobenes
internationales Klientel.
Auch für Francis Kéré geht die Botschaft des neuen Goethe-Instituts in
Dakar weit über die Frage nach Baumaterialien hinaus: »Das Design steht
auf mehreren Ebenen für die Werte,
die das Goethe-Institut und ich teilen«, bemerkt Kéré. »Bei den Themen
Nachhaltigkeit und Klimaschutz bin
ich nicht nur auf offene Ohren gestoßen, sondern wurde dazu aufgefordert,
noch weiter zu gehen.« Das Resultat
ist nicht nur nachhaltig, es ist modern
– unter anderen wird es Platz für rund
Studentinnen und Studenten und
viel zeitgemäße Technologie geben.
Aber es ist durch sein Design, und
nicht zuletzt durch die Lehmbau- und
bioklimatischen Techniken, auch verwurzelt in der Geschichte und Kultur
Senegals. »Das Goethe-Institut ist im
Kern ein Begegnungsort, an dem Austausch und Verständnis über Grenzen
und Unterschiede hinweg gefördert
werden«, so Kéré weiter. »Darin erkenne ich meine eigene Arbeit als Architekt
wieder, denn dies sind die Grundwerte,
die meine Gebäude seit jeher prägen.«
Das Goethe-Institut gibt es im Senegal seit . Mit dem neuen Gebäude
wird sich auch die Arbeitsweise des
Instituts verändern, betont sein Leiter
Philip Küppers: »Für unsere Bibliothek
haben wir ein neues Konzept entworfen, das die Bedürfnisse von Oralität
und Literalität verbindet. Im Zentrum
entsteht ein Diskussionskreis, der
umgeben ist von einer Mischung aus
Bücherregalen, kleinen Tonstudios zur
Dokumentation des oralen Kulturerbes
sowie digitalen Arbeitsplätzen.« Man
greife auch die örtlichen Begebenheiten auf – etwa den Baobab-Baum, der
im Innenhof des Instituts stehe. Dieser ist in der senegalesischen, oralen
Kultur traditionell der Ort, an dem sich
die Ortsgemeinschaft trifft, in dessen
Schatten diskutiert wird, Entscheidungen für die Zukunft verhandelt werden.
Diese Symbolik wird sich durch das gesamte Institut ziehen.
Folgt man der Lehre der Ekistik, die
Goethe selbst studiert haben dürfte,
könnte man sich fast fragen, wieso
eine Kultureinrichtung wie das GoetheInstitut erst jetzt ihr eigenes Gebäude
plant. Schon die alten Griechen wussten, dass man Kultur und Architektur
nicht trennen kann. »Wir können es uns
nicht mehr erlauben, Lebensstil und
Bauweise des Westens zu kopieren«,
sagt Francis Kéré. Unterstützt werden
Kéré und junge Architekten wie Nzinga
Mboub nicht zuletzt von den Vereinten Nationen selbst, die es sich mit der
Agenda zum Auftrag gemacht haben, ihr städtisches Erbe zu schützen. In
Dakar ist die UNESCO auch Partner in
einer Reihe von kulturellen Angeboten,
die den Neubau des Goethe-Institutes
bis zur Fertigstellung Ende thematisch begleiten.
»Sprichwörtliche Krönung« des Projektes ist für Francis Kéré das Dach:
»Wie die Krone eines Baumes spendet
diese Struktur Schatten und Schutz.
Hier kann man sich treffen oder auch
einfach zur Ruhe kommen.« Wo besser
könnten Akteure und Studierende ihr
Wissen über traditionelle und moderne Architektur in Westafrika erweitern,
Ideen für eine nachhaltigere Zukunft
austauschen und Pläne schmieden.
Eine »Gelegenheit zum Träumen«, wie
es in der Broschüre zum neuen GoetheInstitut heißt.
Ruth Helmling ist gelernte Journalistin und Weltenbummlerin. Seit
einem guten Jahrzehnt bereist sie als
Seefahrerin und Kapitänin die sieben
Weltmeere. Nachhaltigkeit liegt ihr
sehr am Herzen – zu Land wie auch zu
Wasser
GOETHES WELT
In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut veröffentlicht Politik &
Kultur in jeder Ausgabe einen Beitrag aus einem afrikanischen Land
zu spezifischen Aspekten der Kulturszenen vor Ort.
14 MEDIEN
www.politikundkultur.net
Die Meinungsmacht der Online-Plattformen im Visier
Der Einfluss globaler
Internet-Konzerne soll innerhalb der Europäischen
Union gebremst werden
HELMUT HARTUNG
D
ie EU-Kommission will Europas Demokratien besser
vor Fake News und gezielter Desinformation schützen
und die Macht der Online-Konzerne
bändigen. Um dieses ehrgeizige Ziel zu
erreichen, arbeitet die EU-Kommission
aktuell an zwei Gesetzesvorhaben – ein
wirtschaftlich-orientiertes, mit dem Digital Markets Act (DMA – Gesetz über
den digitalen Markt) und ein gesellschaftspolitisch-geprägtes, mit dem
Digital Services Act (DSA – Gesetz über
digitale Dienste). Im Dezember
legte die EU-Kommission die Entwürfe vor, die ab Juni im Europaparlament
beraten werden sollen. Beide Projekte,
die in einigen Kommentaren aufgrund
hochgesteckter Erwartungen euphemistisch schon als neues Grundgesetz für
Facebook und andere Online-Dienste
bezeichnet werden, gelten als Leuchtturmprojekte von Kommissionschefin
Ursula von der Leyen. Aufgrund des
wachsenden Einflusses von Angeboten
wie Google, Facebook, Instagram oder
Amazon auf die Meinungsbildung, die
politische Willensbildung und auf politische Entscheidungen sollen nicht nur
die Haftungsregeln für illegale Inhalte
neu geregelt oder der Wettbewerb gefördert werden, sondern auch die Entscheidungsalgorithmen der großen Konzerne
ins Visier genommen werden.
Das Jahr haben viele Menschen
weltweit größtenteils im Lockdown
verbracht. Die sozialen Medien haben
dadurch einen starken Aufschwung
erhalten, wie aus dem »Digital «Jahresbericht der Social-Media-Management-Plattform Hootsuite und
der Social-Media-Agentur We Are Social hervorgeht. Demnach ist die Zahl
der Social-Media-Nutzer im vergangenen Jahr so schnell wie seit drei Jahren
nicht mehr gestiegen. Derzeit gibt es
weltweit rund , Milliarden Nutzer
sozialer Netzwerke und täglich kommen , Millionen User dazu. Im Vergleich zum Vorjahr sei ein Wachstum
von mehr als Prozent zu verzeichnen.
Somit nutze nun mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung ( Prozent) soziale
Medien. Auch in Deutschland ist die Internetnutzung im Vorjahresvergleich in
fast allen Altersgruppen gestiegen. Die
- bis -Jährigen verbringen mit rund
sechs Stunden täglich die meiste Zeit
im Netz. Der Zuwachs zum Vorjahr lag
bei Minuten auf Minuten. Diese
Veränderungen in der Mediennutzung
fordern nun die EU-Kommission heraus.
Vor Jahren hat die Europäische
Union mit der E-Commerce-Richtlinie
einen umfassenden Rechtsrahmen für
digitale Dienste und Online-Plattformen beschlossen. Der Einfluss globaler
Plattformbetreiber ist seitdem stark
gewachsen. Heute verzeichnet Google ca. , Milliarden Suchanfragen pro
Tag, im Jahr gerade einmal
Milliarden im ganzen Jahr. Mit einem
Marktanteil von mittlerweile über
Prozent in Europa entscheidet Google
maßgeblich über die Meinungsbildung
mit. Falschinformationen, Hetze und
Propaganda sind heute Bestandteil des
Netzes und stellen zunehmend die freie
Meinungsbildung infrage.
Damit bedrohen, so die ExekutivVizepräsidentin der Europäischen
Kommission für Digitales, Margrethe
Vestager, diese digitalen Unternehmen
»unsere Freiheiten, unsere Chancen,
sogar unsere Demokratie«. Die Kommission bemüht sich schon länger, die
großen digitalen Unternehmen bei
der Bekämpfung von Fake News in die
Pflicht zu nehmen, jedoch ohne großen
Erfolg. Das soll sich nun ändern.
In einer Stellungnahme zu den Gesetzesprojekten hat der Bundesrat gefordert, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der kulturellen
Identität gewahrt blieben. Unabhängig
davon, ob die Elemente des in Aussicht
genommenen DSA als Richtlinie oder
Verordnung ausgestaltet werde, dürften sie keinerlei Sperrwirkung für entsprechende nationale Regelungen im
Bereich der kulturellen Identität, der
Medien und der Vielfaltsicherung entfalten. Dies sei durch entsprechende
Bereichsausnahmen, Ausnahmevorschriften, Abweichungsbefugnisse und
Umsetzungsspielräume sicherzustellen.
Die E-Commerce-Richtlinie aus
dem Jahr nimmt die digitalen
Plattformen nicht für illegale Inhalte
in Haftung, solange sie keine Kenntnisse von diesen haben. Außerdem ist
es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, die
Plattformbetreiber aufzufordern, proaktiv nach Rechtsverstößen zu suchen.
Diese Handlungsunfähigkeit gegenüber
den globalen Informationsanbietern soll
jetzt beseitigt werden. Zu den Zielen der
Verordnung gehören ein offener digitaler
Binnenmarkt für Vermittlungsdienste
und einheitliche Regeln zum Schutz der
in der Charta verankerten Grundrechte, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit, der Informationsfreiheit,
der unternehmerischen Freiheit sowie
dem Recht auf Nichtdiskriminierung.
Dabei geht es unter anderem um das
unverzügliche Entfernen oder die Zugangssperrung von illegalen Inhalten.
Eine allgemeine Überwachungs- oder
Ermittlungspflicht soll nicht eingeführt
werden. Ein weiterer Schwerpunkt regelt
die Sorgfaltspflichten der Anbieter für
eine transparente und sichere Onlineumgebung. Zudem bestehen Transparenzpflichten. Dazu müssen alle Gründe,
die zu einer Entfernung von Inhalten
oder Sperrung der Nutzer führen, in den
Allgemeinen Geschäftsbedingungen
festgelegt werden.
Der DSA unterscheidet, gemessen
an der Reichweite, zwischen vier verschiedenen Online-Vermittlern: Intermediärdiensten, Hosting-Diensten,
Plattformen und sehr großen Plattformen. Letztere erreichen ca. Millionen
Europäerinnen und Europäer und stellen
dadurch ein besonderes Risiko für die
Verbreitung illegaler Inhalte dar.
Bei Hostingdiensten z. B. muss die
technische Möglichkeit bestehen, mutmaßlich illegale Inhalte zu melden und
Sperrungen oder Löschungen gegenüber
den betroffenen Nutzern zu begründen.
Die großen Plattformen müssen außerdem Maßnahmen zur Abwehr systematischer Risiken ergreifen. Dazu zählt
der Entwurf des DSA die vorsätzliche
Manipulation des Dienstes mit einer
möglichen negativen Auswirkung auf
den Schutz der öffentlichen Gesundheit,
des zivilgesellschaftlichen Diskurses
oder bei Wahlen und die öffentliche
Sicherheit. Damit werden auch Situationen wie die Sperrung des Accounts
des ehemaligen US-Präsidenten durch
Twitter erfasst. Der DSA erkennt das
Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit der durch die Plattform gesperrten
Nutzer einerseits und der freiheitlichen
Ordnung und des zivilgesellschaftlichen
Diskurses andererseits an.
Die Mitgliedsstaaten müssen sogenannte unabhängige Digital Service
Coordinator (Koordinatoren für digitale Dienstleistungen) ernennen, die die
Durchsetzung der Verordnung auf nationaler Ebene überwachen sollen. Die
Koordinatoren haben das Recht, Daten
anzufordern, die zur Überwachung und
Bewertung der Durchsetzung notwendig
sind. Darüber hinaus soll eine unabhängige Beratergruppe von Koordinatoren
namens »European Board for Digital
Services« zur Beaufsichtigung geschaf-
fen werden. Dieses Gremium ist für eine
europaweite harmonisierte Anwendung
des DSA zuständig und soll die nationalen Koordinatoren und die Kommission
beraten sowie diese bei der Aufsicht von
großen digitalen Plattformen unterstützen. Diese »Koordinatoren« wären
den deutschen Landesmedienanstalten vergleichbar, die eine zusätzliche
Regulierungsebene ablehnen: »Wie
auch immer die Aufsichtsstruktur der
Zukunft aussieht, sie sollte die bereits
funktionierenden Mechanismen nutzen. Vor allem muss der Gedanke eines
zentralen europäischen Ansatzes mit
dem Pluralismus der Mitgliedsstaaten
und dem Erfordernis der Staatsferne in
Übereinstimmung gebracht werden«,
sagt Tobias Schmid, Europabeauftragter
der DLM und Vorsitzender der European
Regulators Group for Audiovisual Media
(ERGA).
Der Digital Markets Act (DMA) zielt
vor allem auf Business-Plattformen. Der
Anwendungsbereich des DMA zielt auf
Anbieter großer Online-Vermittlungsdienste wie Google, Amazon, Facebook,
Apple & Co. Für die Anwendung des
DMA muss es sich daher um einen der
folgenden Dienste handeln: Vermittlungsdienste (z. B. Flugbuchungen),
Handelsplattform (Amazon), Suchmaschinen, soziale Netzwerke, VideoSharing-Anbieter, Betriebssysteme,
Cloud-Computing und Werbedienstleistungen, die über Kernplattformen
angeboten werden. Die Anwendung des
DMA hängt zudem davon ab, dass der
Anbieter ein Torwächter ist. Kernplattformen müssen so einen erheblichen
Einfluss auf den Binnenmarkt haben.
Es muss ein zentraler Plattformdienst
betrieben werden, der ein wichtiger
Platz für Geschäftskunden ist, um
Endkunden zu erreichen, und der Plattformdienst muss eine gefestigte und
dauerhafte Marktposition aufweisen.
Für Torwächter und seine als »Gateway«
ermittelten Kernplattformdienste sind
zahlreiche Pflichten vorgesehen. So das
Verbot der Zusammenführung von personenbezogenen Daten mit anderen
Diensten des Torwächters. Zudem sind
Bestpreis- und Bestkonditionenklauseln untersagt. Weitere Verbote sollen
Koppelungsstrategien gegenüber Endnutzern oder gewerblichen Nutzern der
Plattform verhindern. Verstößt eine solche Plattform gegen die Regeln, können
Maßnahmen wie Auskunftsersuchen
und Durchsuchungen ergriffen werden.
Nicht gerechtfertigte Pflichtverletzungen können mit Bußgeld von bis zu
Prozent des Umsatzes geahndet und
zudem können weitere Zwangsgelder
verhängt werden.
Bei der Vorstellung des DSA/DMAPakets sagte Margrethe Vestager, dass
»wir Regeln machen müssen, um Ordnung in dieses Chaos zu bringen«, und
verglich die gegenwärtige Situation mit
der Aufstellung der ersten Verkehrsampel in Cleveland vor etwa hundert
Jahren.
Diese Ampel ist für die Plattformwelt
ein ernst zu nehmender Vorschlag, der
Regeln zum Schutz der demokratischen
Kommunikation und eines fairen Handels vorsieht. Die Grundprinzipien der
Europäischen Union bleiben bestehen
und geltende Regelungen, wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO),
sollen ergänzt werden. Aus deutscher
Sicht ist der Kommissionsvorschlag
ein Erfolg, weil er an nationale Gesetze,
wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz
(NetzDG), anknüpft.
Damit der Digital Services Act und
der Digital Market Act Gesetz werden,
müssen sie durch das Europaparlament und den Rat und anschließend
von den Mitgliedsstaaten umgesetzt
werden. Frankreich kündigte einen Tag
nach der Veröffentlichung des Pakets
an, eine Einigung während der französischen EU-Ratspräsidentschaft – .
Halbjahr – anzustreben. Andere
Beobachter sehen einen sehr viel späteren Zeitpunkt. Es wird noch ein langer
und steiniger Weg sein, was bei solchen
strategischen Gesetzesvorhaben nicht
unüblich und auch notwendig ist. Die
Debatte um den Digital Service Act wird
höchstwahrscheinlich die nächsten zwei
oder drei Jahre andauern, und es bleibt
zu hoffen, dass sie weniger polarisiert
geführt wird als z. B. die Urheberrechtsverordnung. Dennoch sind sich die meisten Mitgliedsstaaten grundsätzlich in
puncto Bekämpfung illegaler Inhalte im
Internet einig. Schwieriger wird es dagegen in der Debatte um den DMA, sieht
dieser Gesetzesvorschlag doch Regulierungen zur Einschränkung der Marktmacht großer digitaler Unternehmen
vor. In der kommenden Debatte werden
sich die geplanten Festlegungen an einigen Stellen noch ändern, Vorschläge der
Parlamentarier und aus den Mitgliedsstaaten könnten ebenso einfließen wie
die Wünsche der Tech-Lobby. Google,
Facebook und Co. haben sich schon in
Stellung gebracht, um Schaden von ihren Konzernen abzuwenden. Sie werden
ihre Macht nichts kampflos abgeben.
Helmut Hartung ist Chefredakteur von
medienpolitik.net
... das Auge hört mit.
Musik im Film – unsere Dokus und
Mitschnitte für Sie kostenlos auf nmz.de
aktuell: Musikfest Eichstätt 2021 – drei Konzerte in voller Länge
KULTURELLES LEBEN 15
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Die große Welt der
kleinen Dinge
Ein Porträt des Illustrators und Verlegers Christian Thanhäuser
D
er Künstler als einsam Schaffender in seinem Atelier, als
Poet in der Dachstube, als Solo-Kreativer, der allein aus sich selbst
schöpft – diese noch heute wirksamen
Klischees rühren vom Geniegedanken
des . Jahrhunderts her, und gerne
übersieht man dabei, dass der Künstler,
ob er will oder nicht, ein soziales Wesen ist. Er kann nicht leben ohne sein
Publikum, seinen Impresario, seinen
Verleger, seinen Galeristen und vor allem nicht ohne Kollegen und Freunde,
mit denen er gern sogenannte Künstlerbünde eingeht. Egal ob die Groupe
de Six in Frankreich, der Blaue Reiter in
Deutschland oder selbst Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen in Wien, Künstler suchen
die Gesellschaft anderer Kreativer, um
produktiv zu sein.
Über zehn Jahre seines
Lebens beschäftigte
sich Thanhäuser mit
der Illustration des
zehnbändigen Opus
magnum Fabres
Das folgende Porträt handelt von dem
österreichischen Zeichner und Illustrator Christian Thanhäuser und einem
Literatenfreund, den er um gut hundert
Jahre verpasst hat, ihn aber dennoch
in der Mitte seines Lebens wiederfindet: den französischen Insekten- und
Verhaltensforscher Jean-Henri Fabre
(-). Das Happy End dieser
Künstlerbegegnung ist seit Mitte
in den Buchhandlungen unter dem Titel »Erinnerungen eines Insektenforschers« lieferbar. Über zehn Jahre seines
Lebens beschäftigte sich Thanhäuser
mit der Illustration des zehnbändigen
Opus magnum Fabres, erstmals
auf Deutsch im Verlag Matthes & Seitz,
Berlin, erschienen. Von den ungefähr
. Zeichnungen und Studien, die
zwischen und entstanden,
sind in den zehn Bänden abgebildet.
Mit Jean-Henri Fabre teilt Thanhäuser sein Faible fürs genaue Beobachten der kleinen Dinge. Wie Fabre, für
den die soziale Welt der Kleinstlebewesen immer in Bezug zur Soziologie
des Menschen stand, ist Thanhäuser
ein genauer Beobachter und Sammler.
Und wie Fabre studiert er seine Untersuchungsobjekte in der Natur und nicht
aufgespießt in der Vitrine.
Auch wenn Fabre seine sehr detailreichen Beobachtungen als anekdotische Familiengeschichten erzählt, lässt
er den Leser nie vergessen, der Alltag
der Insekten ist hart und grausam. »Insekten fressen sich dauernd alle gegenseitig auf«, sagt auch Thanhäuser, »das
ist nicht so lustig.« Die permanenten
verschiedenen Metamorphosen seiner
Modelle, die Zwischenwelten, das ist
das wahre Faszinosum Insekt. Dabei
versteht er sich nicht als wissenschaftlicher Zeichner, sondern will mit seinen
Bildern Literatur begleiten.
Zum Insekt als Sujet kam der
in Linz geborene und heute nur zehn
Kilometer donauaufwärts in Ottensheim lebende Künstler über Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«. Zum
Verleger wurde Thanhäuser ebenfalls
durch einen literarischen Impuls: Auf
Anregung von H.C. Artmann gründete
Christian Thanhäuser den Verlag Edition Thanhäuser. Mittlerweile
sind in der über -jährigen Verlags-
geschichte mehr als Titel erschienen, vor allem Lyrik, Kurzprosa und
Essays. Pro Jahr entstehen zwei bis drei
Bücher, welche nach höchsten Qualitätsansprüchen produziert werden. Zu
den verlegten Autorinnen und Autoren
zählen unter anderem Esther Kinsky,
Tanja Maljartschuk, László Márton, Fiston Mwanza Mujila und Jaroslav Rudiš.
»Ich habe das Glück«, sagt Thanhäuser, »dass unser mittlerer Sohn Joseph,
der in Graz und in Halle auf Burg Giebichenstein Grafikdesign studiert hat, im
Verlag mitarbeitet. Er weiß, wie mein
Handwerk funktioniert, denkt mit bei
der Gestaltung und kann alles digital
umsetzen.«
Über sich und seine literarischen
Neigungen sagt Thanhäuser: »Ich komme aus einer Familie von Kaufleuten,
ohne nennenswerte Bibliotheken oder
sonstige literarische Basis. Schon relativ früh fing ich an, Dichterlesungen
zu organisieren.« Seit entwickelte
sich die Freundschaft zu H.C. Artmann,
der nicht nur in großen Verlagen wie
Suhrkamp oder Insel publizierte, sondern auch in kleinen Pressedruckereien,
vor allem in Berlin. »Die meisten waren in Berlin-Kreuzberg«, erinnert sich
Thanhäuser, »sehr viele gibt es ja heute
nicht mehr. Dann wurde mir die Tür geöffnet zu einer Pressendruckerwerkstatt
und dann wusste ich: ›Ja das will ich
jetzt auch werden‹. Ich blieb in Berlin
lernte das Gutenberg’sche Handwerk.«
Ende der er-Jahre kamen erste eigene Versuche als Verleger und
Drucker. Thanhäuser im Rückblick:
»H.C. Artmann, dessen . Geburtstag sich am . Juni jährt, hatte in den
er-Jahren eine Husarengeschichte
geschrieben, die noch nicht veröffentlicht war. Das waren zwei engst betippte
Seiten. ›Mach was Schönes draus‹, sagte
er damals zu mir und ›Na ja, die alte
Handpresse würde gut passen zu so
einer Husarengeschichte‹. Ich hatte
damals noch keine eigene Werkstatt
und keine Lettern und habe den ganzen
Text ins Holz geschnitten.« Nach etwa
Stunden Arbeit und der Erfahrung,
wie lang die eigene Geduld reicht, befolgte er H.C. Artmanns Rat, einfach
Edition Thanhäuser auf den Umschlag
des Bändchens zu schreiben, und ging
Neben Insekten
beschäftigt sich
Christian Thanhäuser
mit Pflanzen, Landschaften, Flüssen
und mit dem Thema
Mensch und Natur
damit auf die Frankfurter Buchmesse,
um nicht nur erste, sondern gleich zukunftsträchtige Kontakte mit Leuten
aus der Branche zu knüpfen.
gründete er eine eigene, aus
dem Holzschnitt entwickelte Handpressenwerkstatt und den bibliophilen
Verlag Edition Thanhäuser, in dem seit
auch die zweisprachigen Ausgaben
der Reihe Ranitz-Drucke erscheinen.
Daneben illustriert Christian Thanhäuser Bücher für verschiedene Verlage
wie Insel Bücherei, Suhrkamp, Matthes
& Seitz Berlin, Friedenauer Presse Berlin, Kalligram Budapest, Haymon Verlag Innsbruck oder der Wieser Verlag
Klagenfurt.
Auch wenn das in unserem P&K-Porträt etwas zu kurz kommt: Käfer, Raupen, Mücken, Bienen, Schmetterlinge
oder Spinnentiere sind nicht das einzige
Sujet des Zeichners und Holzschneiders.
Neben Insekten beschäftigt sich Christian Thanhäuser in seinen Zeichnungen,
Drucken oder in Aufträgen für Kunst am
Bau auch mit Pflanzen, Landschaften,
FOTO: EDITION THANHÄUSER
ANDREAS KOLB
Der österreichische Zeichner und Illustrator Christian Thanhäuser
Flüssen und natürlich mit dem Thema
Mensch und Natur.
Die Zeit der Pandemie sieht Thanhäuser als Klausur: »Die persönlichen
Begegnungen, Buchmessen, Ausstellungen und Reisen, all das fehlt natürlich sehr. Andererseits konnte ich
ein Buch nach dem anderen in aller
Ruhe illustrieren und bin vom üblichen Schwarz-Weiß immer mehr in
die Techniken des Farbholzschnittes
hineingekommen.«
Kürzlich schloss er Arbeiten zum
Langgedicht »Doggerland« von Ulri-
ke Draesner ab (ein Teil davon wird
in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift
Manuskripte erscheinen) und ebenso
zum Text »kaspar aus stein« der französischen Dichterin Laure Gauthier:
»Eine verschwundene Insel und Kaspar
Hauser waren ideal für das Arbeiten in
diesen beengten Monaten. Wahrscheinlich kann ich nun bald wieder in meine
geliebten Urwälder im südböhmischen
Stifterland.«
Andreas Kolb ist Redakteur von
Politik & Kultur
Eine neue Kultur des Miteinanders von
Mensch und Maschine?
Digitalität und Künstliche
Intelligenz (KI) werden
unser Leben immens
verändern
SUSANNE KEUCHEL
Was ist der Sinn des Lebens? »«,
errechnete in dem Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adam ein Supercomputer nach
einigen Millionen Jahren Rechenzeit.
Der Autor veranschaulicht damit
humorvoll elementare Unterschiede
zwischen Mensch und Maschine. Der
Mensch fragt unpräzise, da auch unsere Sprache unpräzise strukturiert
ist. Die Maschine ist jedoch neben
umfangreichem Datenmaterial auf
präzise Angaben angewiesen.
Bei der Programmierung autonom
fahrender Autos wird beispielsweise
deutlich, dass ein nicht unerheblicher
Teil unserer humanen Fahrweise
intuitiv und situativ verläuft, also
nicht eindeutig strukturiert werden
kann: Wann überhole ich beispielsweise einen Bus an der Haltestelle
und wann nicht? Auch unsere Gesetze regeln nicht alle Vorkommnisse.
Vielmehr werden Verstöße oft erst im
Nachgang, bezogen auf konkrete Situationen, durch Richter festgestellt.
Da eine Maschine jedoch im Vorfeld
auf ihr Verhalten hin programmiert
werden muss, stellen sich hier auch
grundsätzliche ethische Fragen im
Vorfeld: Wird bei einer unvermeidbaren Unfallsituation eine Priorisierung
bei gefährdeten Personen festgelegt? Wird beispielsweise bei einer
Unfallsituation, die entweder eine
Frau mit Kinderwagen oder aber eine
ältere Dame gefährdet, eher die Frau
mit Kinderwagen geschützt? Im bisherigen humanen Zusammenleben
wurden diese moralischen Entscheidungen offengelassen, zulasten der
Entscheidung des Einzelnen.
Die einen, die technikbegeistert
sind, sehen durch KI die Chancen für
mehr Freizeit und Lebensqualität der
Menschen. Andere wiederum sehen
Gefahren, wie die Verdummung der
Menschheit, Abhängigkeit von Maschinen und noch mehr gesellschaftliche Spaltung durch wenige mit beruflichen Aufgaben versus vielen, die
keine Erwerbstätigkeit mehr haben.
Einig sind sich beide Gruppen jedoch
in einem Punkt: Digitalität und KI
werden unser Leben immens verändern. Umso erstaunlicher ist es, dass
nicht schon längst Zukunftsszenarien entwickelt wurden für das Zusammenleben von Mensch und Maschine,
um daraus notwendige neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen
abzuleiten. Bis vor Kurzem wurde
dies weitgehend versäumt für schon
etablierte digitale Technik, wie das
Internet. Mit der zunehmenden Erkenntnis, wie stark sich analoge und
digitale Welten überlagern, wird nun
auch das Internet politischen Bewertungen unterzogen und Rahmen-
bedingungen werden im Nachgang
verändert, beispielsweise bezogen
auf Mobbing, Hating, kommerzielle
Praktiken, Urheberrecht und vieles
mehr.
Spannende Fragen der Zukunft
werden dabei sein: Wem gehört die
Arbeitsleistung von KI? Konzernen,
Staaten oder der weltweiten Gemeinschaft? Müsste beispielsweise nicht
auch die Arbeit von KI besteuert
werden, analog zum humanen Er-
werbseinkommen? Welche humanen
kulturellen Techniken sollen Maschinen übertragen werden und welche
nicht? Und vor allem: Wie können
die jeweiligen Stärken von Mensch
und Maschine kombiniert werden?
Ein Beispiel hierfür wäre Freestyle
Chess: Mensch und Maschine treten
im Schach als Team gegen Mensch
und Maschine an und erzielen dabei
Höchstleistungen.
Möglicherweise ergeben sich so ganz
neue Chancen der Krisenbewältigung,
wie jüngst bei der Corona-Pandemie?
Wäre eine KI mit entsprechendem Datenmaterial nicht in der Lage gewesen,
komplexe und singulare Zusammenhänge der Ansteckung oder der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von
schweren Fällen besser darzustellen
als die -Tage-Inzidenz? Die humane
Koproduktionsleistung läge dann darin, diese Zusammenhänge zu interpretieren, auf Plausibilität und Moral
zu prüfen und dabei selbstverständlich auch die Frage- und Auftragsformulierung auf maschinelle »Denkweisen« anzupassen, damit am Ende als
Krisenlösung nicht »« steht.
Susanne Keuchel ist Präsidentin des
Deutschen Kulturrates
16 KULTURELLES LEBEN
ZUR PERSON ...
Fünf weitere Jahre für
Ministerin Bauer
Die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Theresia Bauer,
geht in die dritte Amtsperiode. Seit
Mai ist sie Ministerin in BadenWürttemberg, seit gehört sie
dem Landtag von Baden-Württemberg an.
Neue Kulturministerin in
Rheinland-Pfalz
Katharina Binz (Grüne) wird Ministerin für Familie, Frauen, Kultur
und Integration in Rheinland-Pfalz.
Die erste Aufgabe der nächsten
Monate sei es, Öffnungsschritte
im Kulturleben zu organisieren und
so gut es geht zu unterstützen, so
Binz.
Lisa Jopt ist neue Präsidentin
der GDBA
Der virtuelle Genossenschaftstag
der Genossenschaft Deutscher
Bühnen-Angehöriger (GDBA) hat
die Schauspielerin Lisa Jopt zur
neuen Präsidentin der GDBA
gewählt. Die etwa Teilnehmenden stimmten mit großer Mehrheit
für die Schauspielerin, die auch
Vorsitzende des ensemble-netzwerks
ist.
Neuer Intendant des Badischen
Staatstheaters Karlsruhe
Ulrich Peters wird ab . September
für drei Jahre Intendant des
Badischen Staatstheaters Karlsruhe.
Zur Saison / soll eine neue
Struktur etabliert und eine langfristige Lösung für die Intendanz
gefunden werden. Peters ist seit
Generalintendant am Theater Münster, sein Vertrag dort wird vorzeitig
aufgelöst.
Theatermuseum Düsseldorf
bekommt neuen Leiter
Der Theaterwissenschaftler Sascha
Förster wird neuer Leiter des Theatermuseums Düsseldorf. Er hat in
Berlin Theater- und Tanzwissenschaft studiert und promoviert derzeit an der Universität Köln. Förster
betreute bereits mehrere Ausstellungsprojekte und leitet eine Forschungsgruppe zur Theaterkultur der
Weimarer Republik.
Sandra Hüller erhält Theaterpreis
Berlin
Geehrt wurde die Schauspielerin für
»ihre besonderen Verdienste um das
deutschsprachige Theater«, wie die
Stiftung Preußische Seehandlung und
die Berliner Festspiele mitteilten. Die
Auszeichnung ist mit . Euro dotiert. Hüller spielte schon auf vielen
Bühnen und ist aus Kinofilmen wie
»Toni Erdmann« und »In den Gängen«
bekannt.
Heide-Marie Härtel erhält
Deutschen Tanzpreis
Die Leiterin des Tanzfilminstituts
in Bremen, Heide-Marie Härtel, erhält in diesem Jahr den Deutschen
Tanzpreis. Er ist mit . Euro
dotiert. Härtel habe mit ihrem
Wirken einen enormen Schatz aus
Geschichte und Gegenwart des
Tanzes geschaffen, so die Jurybegründung.
Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie für zweite Amtszeit
bestätigt
Der Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie Karl-Heinz Petzinka ist für
eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Neue Kanzlerin ist die Juristin
Johanna Boeck-Heuwinkel. Mit Rektor Petzinka bildet sie das Führungsduo der Akademie. Petzinka leitet
die Düsseldorfer Kunstakademie seit
.
www.politikundkultur.net
Kulturschanden der
Menschheit
Eine kulturhistorische Reise zu Kulturzerstörungen
U
nsere Menschheitsgeschichte steckt voller Zerstörungen
von Kulturgütern: Identitäten
werden so auf perfide Weise ausgelöscht, und dies mit politischen, ideologischen und ökonomischen Zielen
sowie der Absicht einer Bereicherung
und Vermögensumverteilung. Der Archäologe Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, unternimmt – angeregt durch
die Zerstörung Palmyras im Jahr
– kenntnisreich und detailliert eine
kulturhistorische Reise zu Kulturzerstörungen weltweit. Erstmalig werden
an Fallbeispielen aus der altorientalischen Geschichte bis in jüngste
Zeit Ursachen und Wirkungen dieser
Schandtaten analysiert: Aus der Antike etwa die Zerstörung von antiken
Kaiserporträts (damnatio memoriae),
die Plünderung von Tempelschätzen
oder die Verdammnis historischer Figuren wie Echnaton oder später Stalin.
Aus jüngster Zeit wird die Zerstörung der monumentalen Buddhastatuen im afghanischen Bamiyan durch
die Taliban, die Sprengungen antiker
Ruinen in der Oasenstadt Palmyra
(Syrien) durch die Terrormiliz des
sog. Islamischen Staats (»performativer Ikonoklasmus«) sowie die brutale
Zerstörung von Monumentalstatuen
mit Vorschlaghämmern im Archäologischen Museum in Mossul (Irak)
thematisiert.
Und die Medien übermittelten
dazu, häufig in Echtzeit, verstörende und schockierende Bilder. Aus der
Neuen Welt werden etwa Kulturzerstörungen der spanischen Konquistadoren bei den Inka und Mayas
behandelt, von Parzinger zu Recht
als »Kulturellen Ikonoklasmus genozidalen Ausmaßes« bezeichnet. In
jüngster Zeit nimmt der europäische
Kolonialismus und seine Folgen im
gesellschaftlichen Diskurs eine besondere Rolle ein; als ein Beispiel
werden die weltbekannten BeninBronzen als koloniales Raubgut und
deren bevorstehende Rückgabe an
Nigeria behandelt. Als einmaliger
Zivilisationsbruch steht die Ideologie der Nationalsozialisten. Die sogenannte »entartete Kunst« und die
Auslöschung der Klassischen Moderne (»rassischer Ikonoklasmus«), der
Verkauf beschlagnahmter Kunstwerke,
um damit die Kriegskasse auffüllen
zu können, stellen in der Geschichte
einen Kulturbruch ohnegleichen dar.
Alle diese Zerstörungen machen deutlich, welche Bedeutung und Symbolgehalt die Kultur besitzt. Die Lektüre
stellen bewegende und erschütternde,
ja barbarische Kapitel unseres kollektiven Gedächtnisses dar; zugleich ein
eindringliches Plädoyer für den Erhalt
unseres kulturellen Erbes. Prädikat:
Sehr empfehlenswert!
Thomas Schulte im Walde
Hermann Parzinger. Verdammt und
vernichtet. Kulturzerstörungen vom
Alten Orient bis zur Gegenwart. München
Altas der
Menschheit
wie Höhlen- und Felsmalereien, Figuren aus Elfenbein, Knochen und
Bronze, Schmuck aus Muscheln und
Perlen oder die Holzflöte eines Neanierzehn Milliarden Jahre alt dertalers. Ergänzt mit fachkundigen
und doch so verletzlich ist Erläuterungen. Ein einzigartiges, lehrdie Erde. Aber erst seit eini- reiches Werk nicht nur für diejenigen,
gen Hunderttausend Jahren die an Archäologie interessiert sind,
breitet sich auf ihr eine Spezies aus, sondern auch für Kulturinteressierte.
die sie heute beherrscht und bedroht: Ludwig Greven
der moderne Mensch. In ihrem wunderbaren »Großen Atlas der Mensch- Telmo Pievani und Valéry Zeitoun.
heit« zeigen der italienische Biologe Homo sapiens. Der große Atlas der
und Philosoph Telmo Pievani und der Menschheit. Darmstadt
französische Paläanthropologe Valéry
Zeitoun, dass dieser furchtbare Räuber
seit seinen Anfängen nicht nur Werkzeuge und die Schrift geschaffen hat,
sondern auch die Kunst, das Denken,
die Wissenschaft, um die Welt zu verstehen, und das Mitgefühl, das paradoxerweise der »Wiedergutmachung«
des Unrechts dient, das er selbst verübt, wie ihr französischer Kollege Yves
Coppens im Vorwort schreibt.
In zahlreichen Karten und Bildern
werden die Entwicklungsstufen und
Verbreitungswege des Menschen von
seinen Ursprüngen in Afrika aus über
den Globus beschrieben und frühe
Kunstwerke von allen Kontinenten
Eine Kulturgeschichte des
Homo sapiens
V
Kindheit
Im Kopenhagen der er
Jahre
M
Tove Ditlevsen dennoch fest, notiert
stets Gedichte in ihr Poesiealbum. Der
erste Teil der Kopenhagen-Trilogie ist
beklemmend und düster. »Dunkel ist
die Kindheit, und sie winselt wie ein
kleines Tier, das man in einen Keller
eingesperrt und vergessen hat.« Die
nüchternen Erinnerungen und Erlebnisse eines am Anfang fünfjährigen
Mädchens treffen auf essayistische
Absätze und kurze Gedichte. Wer in
die düstere, literarisch herausragende
Welt von Tove Ditlevsen abtauchen
will, dem seien alle drei Bände der
Trilogie ans Herz gelegt.
Maike Karnebogen
ehr als Jahre nach
dem Original ist mit
»Kindheit« von Tove
Ditlevsen der dänische
Klassiker aus dem Jahr auch in
deutscher Übersetzung von Ursel Allenstein erschienen. Eine Wiederentdeckung, an der man in den deutschen
Buchläden kaum vorbeikam. In drei
schmalen autobiografisch geprägten
Büchern, der Kopenhagen-Trilogie, erzählt Ditlevsen aus ihrer »Kindheit«,
ihrer »Jugend« sowie von ihrer »Abhängigkeit«.
Tove Ditlevsen. Kindheit. Berlin
»Kindheit« erzählt vom Aufwachsen im Kopenhagen der er Jahre
in einfachen Verhältnissen im trostlosen Arbeitermilieu. Ein Leben auf engem Raum. Das Verhältnis zur Mutter
ist eng, qualvoll und unsicher. Nach
Zeichen von Liebe muss die Ich-Autorin suchen. Der Vater, ein Heizer, wird
in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos.
Es ist das Drama eines begabten Arbeiterkindes im Stadtviertel Vesterbro,
das sich für die Welt der Bücher interessiert. Das Dichterin werden möchte.
Das trotz Begabung nicht aufs Gymnasium durfte. Das nicht in die Welt um
sie herum passt und versucht, sich mit
ihren Gedichten ein Stück weit zu befreien, der Trostlosigkeit zu entfliehen.
Doch ihr wird beigebracht, dass ein
Mädchen nie Dichterin werden kann,
sondern Hausfrau und Gattin. Immer
wieder stößt sie auf Hindernisse und
Widerstand. An ihrem Traum hält
Der Marktwert der
Sprache
Mehrsprachigkeit als Privileg oder Problem
I
m Alltag ist die Autorin Olga
Grjasnowa mehrsprachig unterwegs: Mit ihren Kindern spricht
sie Russisch, mit ihrem Mann Englisch, er spricht mit den Kindern hingegen Arabisch und diese antworten
meist auf Deutsch. Beim Schreiben
fühlt sie sich jedoch nur im Deutschen richtig wohl. In ihrem Buch
»Die Macht der Mehrsprachigkeit«
schildert Olga Grjasnowa ihre eigenen Erfahrungen, mehrsprachig aufzuwachsen, und befasst sich damit,
welche Rolle Mehrsprachigkeit heute
spielt.
Fremdsprachenkenntnisse werden teilweise in dem Maße erworben
und gepflegt, wie der Besitz von Aktien – sofern es eben die »richtigen«
Sprachen sind. Eine Art »Hierarchisierung« der Sprachen befeuert nicht nur
rassistische Einstellungen, sondern
spiegelt soziale Ungleichheiten der
Gesellschaft wider. Und so scheint es,
dass bestimmte Arten von Mehrsprachigkeit Risiken für Bildungserfolge
darstellen.
Deutschland ist eine mehrsprachige Gesellschaft und dennoch sind die
Ressourcen des Spracherwerbs sehr
ungleich verteilt. So kann man an
deutschen Schulen diverse Fremdsprachen lernen, sogar Latein und
Alt-Griechisch, aber oft kein Arabisch,
Türkisch oder Vietnamesisch. Hier
muss die Politik aktiv werden und die
Vermittlung verschiedenster Sprachen
verstärkt fördern.
Sprache garantiert noch lange
kein gegenseitiges Verständnis. Dennoch hebt Grjasnowa hervor, dass es
bei Sprache in erster Linie um Kommunikation geht, und wie wichtig
es ist, dass diese stattfindet. Mehrsprachigkeit ist weder ein Problem
noch ein Privileg, schlussfolgert die
Autorin.
Kristin Braband
Olga Grjasnowa. Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt.
Berlin
PERSONEN &
REZENSIONEN
Politik & Kultur informiert an
dieser Stelle über aktuelle Personal- und Stellenwechsel in Kultur,
Kunst, Medien und Politik. Zudem
stellen wir in den Rezensionen alte
und neue Klassiker der kulturpolitischen Literatur vor. Bleiben Sie
gespannt – und liefern Sie gern
Vorschläge an
[email protected].
INSEKTEN & KULTUR 17
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Hornisse (Vespa crabro)
Die kulturelle Welt der Insekten
Zum Verhältnis zwischen Kultur und Natur
OLAF ZIMMERMANN
M
ein Großvater schenkte
mir in meiner Kindheit
einige alte Jahresbände
des Kosmos, der berühmten »Handweiser für Naturfreunde«. In
einem dieser Hefte aus dem Jahr
fand ich den Aufsatz von Jean-Henri
Fabre »Die Dolchwespe als Wundkünstler«. Wie schafft es die Wespe, ihr Opfer, eine Käferlarve, mit einem Stich zu
lähmen, aber nicht zu töten? Denn nur
wenn die Larve absolut bewegungsunfähig, aber nicht tot ist und deshalb
nicht verwest, kann sich ihr Nachkommen von dem paralysierten Tier entwickeln. Dies ist letztlich nicht nur eine
naturwissenschaftliche Frage, sondern
auch eine philosophische. Ist die Larve nicht doch tot, oder lebt sie in einer
Art tiefen Schlaf, der Metabolismus fast
gegen null gefahren? Ist die Wespe bei
ihrer Attacke auf ihr Opfer rein instinktgesteuert, oder hat sie einen eigenen
Willen, kann sie lernen?
Wie kein anderer Entomologe vorher, klärte Jean-Henri Fabre bis dahin
unklare Sachverhalte mit seinen exakten wissenschaftlichen Beschreibungen in höchster literarischer Brillanz.
Der Kosmos-Verlag hatte Auszüge aus
dem umfänglichen Werk von Fabre
Anfang des . Jahrhunderts erstmals
ins Deutsche übersetzen lassen, die
vollständige deutsche Übersetzung
des zehnbändigen Hauptwerkes des
Schriftstellers »Souvenirs Entomologiques« wurde erst in den letzten
Jahren in einer wundervollen Edition bei Matthes & Seitz vorgelegt.
Dieser Text war für mich der Beginn
einer Leidenschaft für Insekten. Sechs
Beine, Chitinpanzer, deutliche Einkerbungen zwischen Kopf, Brust und
Hinterleib. Deshalb wurden die Tiere
früher auch Kerbtiere genannt. Eine
unglaubliche Vielfalt und Schönheit.
Allein in Deutschland geht man von
deutlich mehr als . unterschiedlichen Arten aus, keiner weiß, wie viele
es auf der Welt sind, aber es können
Millionen sein.
Mich haben immer die Arten besonders fasziniert, die wie die Dolchwespe
ein aufwendiges Instinkt-Verhalten an
den Tag legen. Trotz solch herausragender Entomologen, also Insektenkundler, wie Jean-Henri Fabre, wissen
wir unglaublich wenig über das Leben
der Insekten selbst in unserer nahen
Umgebung und noch weniger über ihr
Leben in fernen Ländern.
Der Mensch lebt in einem intensiven
Spannungsverhältnis mit den Insekten.
Deshalb hat der Mensch die Insekten
immer auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen behandelt. Schon aus
dem Jungpaläolithikum vor .
Jahren sind Insektendarstellungen
bekannt. Das ist nicht verwunderlich,
denn Insekten können ein Segen, aber
auch ein Fluch für uns Menschen sein.
Sie können ganze Ernten vernichten
und damit schlimmste Hungersnöte
auslösen, sie können Krankheiten wie
die Pest verbreiten und sie können aber
auch selbst Nahrungsmittel sein und,
wie die Honigbienen, ein begehrtes
Nahrungsmittel herstellen. Und ohne
die gigantischen Bestäubungsleistungen vieler Insekten würde im wahrsten
Sinne des Wortes auf unseren Bäumen
und in unseren Gärten nichts wachsen.
Und ohne die Insekten hätten viele Tiere, wie z. B. die Vögel, keine Nahrung.
Wenn es ein Symbol gibt, das zeigt, dass
in unserer Welt alles mit allem zusammenhängt, dann sind das die Insekten.
Doch sind die Insekten massiv bedroht, extensive Landwirtschaft, Bodenversiegelung durch Baumaßnahmen
und auch Klimaänderungen lassen den
Bestand dramatisch schrumpfen. Nicht
wenige werden sagen, egal, weg mit den
lästigen Biestern. Doch wer einmal ein
Insekt unter der Lupe angeschaut hat,
wird von der Schönheit dieser Tiere in
den Bann gezogen sein. Farben und
Formen im Überfluss.
Aber man kann die Schönheit oft
nicht unmittelbar sehen, denn das Sehen muss gelernt werden. Der Bund für
Umwelt und Naturschutz Deutschland
(BUND) und der Deutsche Kulturrat haben schon vor drei Jahren gemeinsam
festgestellt, dass Umwelt- und kulturelle Bildung eng miteinander verbunden sind: Die Umweltbildung mit ihrem
Blick auf den verantwortlichen Umgang
mit Ressourcen und die kulturelle Bildung mit ihrer Ergebnisoffenheit für
neue Perspektiven und Lösungswege
sind eine entscheidende Grundlage
zum Verstehen, zum Sehen der Welt.
Ohne kulturelle Bildung werden wir
auch die Natur um uns herum nicht ver-
stehen, nicht erkennen können. Und wir
werden die für uns überlebensnotwendigen Insekten nur schützen, wenn wir
auch ihre Schönheit wahrnehmen. Die
Beschäftigung mit Insekten ist deshalb
kein Spartenthema für Umweltschützer und Biologen, sondern ein eminent
wichtiges kulturelles Thema.
Endlich kann ich wieder Insekten beobachten. Der lange Berliner Winter ist
zu Ende. Zuerst kamen die Bienen, die
Waldameisen und einige frühe Schmetterlinge wieder aus ihren Winterquartieren hervor, kurz danach auch die
Wenn es ein Symbol
gibt, das zeigt, dass
in unserer Welt alles
mit allem zusammenhängt, dann sind das
die Insekten
Welt direkt vor der eigenen Haustüre,
selbst in der Großstadt.
Mich beschäftigt besonders das
Verhältnis zwischen Kultur und Natur
bereits seit Jahrzehnten. Im Herbst
veranstaltete ich in meiner damaligen Kölner Galerie eine Gruppenausstellung: »Die Welt der Insekten«.
junge Künstlerinnen und Künstler
zeigten damals ihren künstlerischen
Zugang zur Welt der Insekten. Heinrich Wolf, der Wegwespenspezialist
schlechthin, sprach bei der Finissage
der Ausstellung über Insekten in der
Kunst, der Literatur und der Musik und
warum ein Entomologe immer auch
einen künstlerischen Blick braucht.
Einige Insektenkundler, wie z. B. der
Schweizer Goldwespenforscher Walter
Linsenmaier, waren von ihren Untersuchungsobjekten so fasziniert, dass sie
ihnen in ihren Habitus-Zeichnungen
auch künstlerische Denkmale setzten.
In diesem Schwerpunkt soll die
kulturelle Welt der Insekten beleuchtet werden. Nach den Schwerpunkten:
»Vom Grenzstreifen zum Kulturerbe« (/), »Am Rande der Nacht«
(/-/), »Der Kultur-ÖkoTest« (1/2018) und »Das Anthropozän«
(3/2016) ist dieser Schwerpunkt bereits
der fünfte in Politik & Kultur an der
Schnittstelle von Kultur und Natur.
Jetzt kann man, so glaube ich, schon
von einer kleinen Serie sprechen.
Wespen und Käfer. Schon nach wenigen
warmen Tagen ist das Gewimmel fast
unübersehbar. Man muss sich konzentrieren, man muss auswählen, um etwas
erkennen zu können. Ich habe mich auf
Grab-, Weg- und Goldwespen spezialisiert, beobachte und fotografiere sie.
Nicht weil die anderen Insektengruppen weniger interessant wären, sondern
nur um in der Fülle den Überblick ei- Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer
nigermaßen behalten zu können. Dann des Deutschen Kulturrates und Herausaber eröffnet sich eine faszinierende geber von Politik & Kultur
18 INSEKTEN & KULTUR
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
www.politikundkultur.net
Soziale Faltenwespe Vespula vulgaris zerkaut Nahrung
Insekten und Kultur
Der Einfluss von Insekten
beschäftigt alle Kulturen
BERNHARD KLAUSNITZER
D
as seit einigen Jahren nun auch
amtlich anerkannte Insektensterben sollte jedem deutlich
gemacht haben, dass menschliches Leben ohne Insekten kaum möglich ist.
Ihr positiver und ihr negativer Einfluss
beschäftigten alle Kulturen seit den frühesten Quellen bis heute. Man denke an
solche Stichwörter wie Heuschreckenplagen in der Bibel, Vorratsschädlinge
im alten Rom, Pflanzenschädlinge bis
heute, Krankheitserreger und Überträger zur Zeit der Pestepidemien
und heute mit anderen Erregern und
Überträgern infolge des Klimawandels.
Andererseits die Honigernte schon in
der Steinzeit, das biblische Manna, die
Bestäubung vieler Nutzpflanzen, die
Aufbereitung des Bodens und die Stabilität von Ökosystemen.
Natürlich haben Künstlerinnen und
Künstler seit Langem auf diese Vielfalt
unmittelbarer Beziehungen reagiert.
Das Spektrum reicht von göttlicher
Verehrung und deren Darstellung bis
zum Vorbild für alle Richtungen der Bildenden Kunst. Form, Farbe und Lebensweise der Insekten sind so unendlich
reichhaltig, dass viele wache Geister
gar nicht anders konnten, als dies alles
zu reflektieren.
Die künstlerische Auseinandersetzung beispielsweise mit dem Käfer hat
ihre Wurzeln zum Teil in alten kultischen Vorstellungen. Man denke an den
Scarabaeus, an Tänze und Gesänge, deren Inhalt mit Käfern zu tun hat, oder
an die zahlreichen Vorstellungen über
Voraussagen von Glück und Unglück,
Reichtum und Armut, die in den meisten Kulturen sehr weit verbreitet sind
und in denen viele auffällige Käferarten
Bedeutung erlangen.
Dichter haben Insekten besungen,
Musiker ihr Wirken vertont. Maler, fasziniert von der Schönheit, verwendeten alle Techniken zu ihrer Darstellung,
und es fehlt nicht an Insektenplastiken.
Auch noch andere Kunstrichtungen und
das Kunsthandwerk bedienten sich ver-
schiedener Arten als Vorbild, so unter
anderem die Gemmenschnitzerei, die
Münzprägung, der Briefmarkendruck,
die Porzellanmalerei und -formung und
natürlich die Fotografie, vom Sachbild
bis zum künstlerischen Foto. Insekten
waren und sind Vorbilder und Bestandteil für unterschiedlichsten Schmuck,
nicht zuletzt spielen sie eine große
Rolle in der Werbung.
So wie wir die Spuren von Insekten über . Jahre in der Literatur
zurückverfolgen können, mögen sie
auch noch mindestens weitere .
Jahre ihre Spuren darin hinterlassen,
aber nicht in der paläozoologischen
Literatur! Aesop, Homer, Ovid, Achim
von Arnim, Honoré de Balzac, Clemens
Brentano, Wilhelm Busch, Charles Dickens, Bruno Frank, Johann Wolfgang
Goethe, Hermann Hesse, Franz Kafka,
Paul Keller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Martin Luther, Alfred de Musset,
Modest Mussorgski, Wilhelm Raabe, Joachim Ringelnatz, George Sand, Theodor Storm und Josef Viktor Widmann
sollen einige Beispiele sein. Die meisten Dichtungen scheinen den Leuchtkäfern gewidmet zu sein. Ein zweiter
oft bedichteter Käfer ist der Maikäfer,
aber auch Schmetterlinge sind häufig
behandelte Insekten und natürlich die
Honigbiene sowie die Seidenraupe, die
ihr eigenes Schrifttum haben.
Seit der ägyptischen Hochkultur hat
der Scarabaeus viele Völker, vor allem
im Mittelmeerraum, beschäftigt. Diese
Käfer galten schon vor mehr als .
Jahren im Alten Ägypten als Sinnbild
des Sonnen- und Schöpfergottes Re.
Man nimmt an, dass die Mistkugel mit
der Sonne verglichen wurde, die von
den Skarabäen entlanggerollt wird, so
wie Re täglich die Sonne lenkt. Auch
das Vergraben der Mistkugel im Sande und das Wiederhervorholen wurde
symbolisch mit dem Auf- und Untergehen der Sonne in Verbindung gebracht.
Eine zweite Ursache für den Vergleich
des Scarabaeus mit dem Sonnengott
war der Glaube, dass die Pillendreher
ausschließlich Männchen seien, die für
sich allein zeugend Junge hervorbringen können. Nach den Vorstellungen
der alten Ägypter ging auch der Sonnengott nicht aus der Verbindung zwei-
er verschiedengeschlechtlicher Wesen
hervor, sondern wurde ohne vorhergehende Befruchtung aus einem Urstoff
geboren. Die gestaltliche Verwandlung
des Käfers wird als gedanklicher Hintergrund der religiösen Mumifizierung
gesehen. Man will glauben, die Mumien wären in der Hoffnung hergestellt
worden, dass sie nach tausendjährigem
»Puppenschlaf« eine dritte Verwandlung und Auferstehung erleben werden.
Die unterirdischen Totenstätten und
die Pyramiden werden mit den Brutpillen verglichen. So umstritten diese
Deutung auch ist, ein Symbol für die
Wiedergeburt nach dem Tode war der
Scarabaeus zweifellos.
Insekten haben zu allen Zeiten in
bestimmten Gebieten der Erde als
Nahrung für den Menschen eine Rolle
gespielt. Analysen zeigen, dass das Insekteneiweiß eine für den Menschen
sehr wertvolle Zusammensetzung hat.
Große Insekten waren und sind deshalb
mancherorts eine wichtige Nahrungsquelle. Seit einigen Jahren erlangt die
wirtschaftliche Nutzung von Insekten
als menschliche Nahrung, Tiernahrung,
zur Gewinnung von Ölen und Proteinen, biologisch aktiven Substanzen
(Enzyme) sowie in der Abfallwirtschaft
in Europa zunehmend an Bedeutung.
Man besinnt sich auf die ungeheure
Vermehrungskraft einiger Arten, und
die Industrie zeigt Interesse an diesen
in Europa bisher kaum genutzten Ressourcen. Bezüglich der Tiernahrung
erhofft man sich eine Schließung der
Eiweißlücke bei der Produktion von
Bio-Geflügel und einen Ersatz von Sojaund Fischmehl durch Insektenmehl
sowie eine Fischfutterproduktion auf
der Grundlage von organischem Abfall.
Ausgehend von der Verwendung
als Nahrung und einer kultischen Verehrung wurden zahlreichen Insekten
verschiedenste Heilwirkungen zugeschrieben. Diese „Heilwirkungen“ können ohne jede materielle Grundlage, die
erzielten »Erfolge« vielmehr psychisch
bedingt sein oder völlig andere Ursachen haben. Andererseits ist tatsächlich eine Wirkung möglich, die auf bestimmten Inhaltsstoffen beruht. So hat
z. B. das Pederin – eine in einem Raubkäfer vorhandene Substanz – die Eigen-
schaft, das Wachstum von bestimmten
Tumorzellen zu hemmen. Dies ist ein
weiteres Beispiel für die Wichtigkeit der
Erhaltung der Artenvielfalt, auch aus
ganz egoistischen Motiven. Mit jeder
Tier- und Pflanzenart, die verschwindet,
sind auch mögliche Naturstoffe weg,
deren Kenntnis wohl erst der Zukunft
vorbehalten wäre.
Es gibt eine Fülle von bildlichen
Insektendarstellungen; verschiedene
Arten sind einziger Inhalt oder Element von Kunstwerken. Man denke
an »Maria mit den vielen Tieren« von
und »Anbetung der Heiligen drei
Könige« von von Albrecht Dürer.
Die berühmte Einzeldarstellung eines
Hirschkäfers aus dem Jahre ist allgemein bekannt. Bei Wilhelm Busch
wimmelt es von Insektendarstellungen.
In »Hänschen Däumling« kommen viele
vor. Auch die Bildergeschichtensammlung »Schnurrdiburr oder die Bienen«
enthält entsprechende Zeichnungen.
Im alten China waren die Leuchtkäfer
Sinnbild der Schönheit. Man findet sowohl in China wie auch in der Kunst
Japans Leuchtkäfer oft als Gegenstände
von Holzschnitten oder als Motive farbiger Bilder auf Seide.
Darstellungen von Insekten sind
aber viel älter. In Laugerie-Basse, Dordogne, fand man eine etwa . Jahre
alte Marienkäferplastik aus Mammutelfenbein, die der jungsteinzeitlichen
Epoche des Magdalénien zugeordnet
wird. Sie trägt auf jeder Flügeldecke
drei Punkte und stellt wahrscheinlich
einen Siebenpunkt-Marienkäfer dar. Offenbar war es ein Anhänger, denn die
Plastik ist vorn durchbohrt und wurde
sicher als Schmuck getragen. Unter den
Felsmalereien der San in Südafrika fällt
auch eine künstlerisch hervorragend
gestaltete Gottesanbeterin auf.
Insekten als Motive sind in allen
Richtungen der darstellenden Kunst zu
finden. Unter den Wappentieren finden
sich auch Insekten, z. B. Heuschrecken,
Fliegen, Schmetterlinge, Käfer und
die Honigbiene. Auf den berühmten
Bronzetüren von Lorenzo Ghiberti am
Baptisterium in Florenz sind inmitten
biblischer Szenen ein Hirschkäfer und
andere Insekten in Bronze gegossen.
Die Kunst des Naturabgusses verwende-
te ebenfalls Insekten, die vor allem mit
Silber übergossen und damit dauerhaft
nachgebildet wurden, z. B. ein silbernes
Schreibzeugkästchen des Nürnberger
Goldschmiedes Wenzel Jamnitzer. Auch
die Porzellankunst hat Insektenmotive
verwendet. So ist ein Hirschkäfer auf
einer prächtigen Porzellanplatte aus
Meißner Porzellan aus der Hand von
Johann Joachim Kändler zu finden. Sogar die Goldschmiedekunst hat sich bei
der Herstellung von Schmuck gern von
Insekten inspirieren lassen. Mit reicher
Fantasie schufen Goldschmiede elegante Broschen aus Gold und Silber. Selbst
in der Architektur des . Jahrhunderts
lassen sich Darstellungen von Insekten
finden, z. B. in einem Hotel bei Varese
in Norditalien, wo ein Durchgang mit
Säulen und Hirschkäfer-Kapitellen geschmückt ist.
Völlig unübersehbar dürfte die
Verwendung von Marienkäfermotiven im Kunstgewerbe – im weitesten
Sinne – sein. Sie reicht von Modellen
für Schmuck – Ohrringe, Fingerringe,
Anhänger – über Spielzeug – z. B. auf
Rädern zum Ziehen –, Talismane, Amulette, Armbänder, Anstecker, Papiermuster, Briefpapier, Kinderbekleidung,
Karnevalskostüme und Klebefiguren bis
zur Schokoladenverpackung. Nahezu
unendlich ist die Vielfalt einschlägiger
Glückwunschkarten.
Zoologische Motive – auch Insekten –
gehören in aller Welt zu den besonders
beliebten Bildvorlagen von Postwertzeichen und erreichen mitunter eine
hervorragende Qualität der Abbildung
und werden oft künstlerisch bearbeitet.
Selten ist ihre Präsenz auf Münzen.
Und was tun wir angesichts der Fülle
an Berührungspunkten zwischen uns
und den Insekten? Wenn man bedenkt,
wie groß und unwiederbringlich die
Verluste an der Vielfalt der Insekten
bereits sind, zunehmend auch in ihrer
Anzahl, so kann die Schlussfolgerung
nur sein – es müssen alle Register gezogen werden, um wenigstens einen
Stillstand zu erreichen. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Vielfalt
ist im Ganzen unmöglich. Sie gelingt
nur in winzigen Ausschnitten, die aber
wenigstens für die Seele etwa Gutes bewirken. Und immer gilt natürlich die
Feststellung, dass auch die kleinste Tat
gut ist. Man wird erinnert an Marlene
Dietrich und ihr Lied »Sag mir, wo die
Blumen sind, wo sind sie geblieben«.
Die Kunst ist eine Macht, die durchaus helfen kann. Sie kann Liebe erwecken und bestärken, Verantwortung
anmahnen, aufrütteln, die Ursachen für
das Verschwinden beim Namen nennen
und ihre Protagonisten entlarven, sie
kann tadeln und loben – und sie wird
gehört! Es geht bei allem schließlich
um uns selbst.
Viele Arten sterben aus, ehe wir sie
überhaupt kennen. Man meint, dass
die Menschen bei zunehmender Entfernung von der Natur andererseits ein
immer größer werdendes Bedürfnis
nach Kontakt mit der Lebewelt entwickeln. Diese »Biophilie« genannte Erscheinung lässt hoffen. Dennoch soll
uns die folgende, vor Jahren von
Kamal ad-Din ad Damiri mitgeteilte
Geschichte Mahnung sein, sorgfältiger
mit den unwiederholbaren Schätzen der
Natur umzugehen.
»Der Kalif Umaiibu-el-Khattab wurde einst sehr unruhig, weil die Heuschrecken ausblieben. Er schickte die
Boten aus, nach Syrien, nach Jemen,
nach Iran. Der letzte der Boten brachte einige Heuschrecken mit, worauf der
Kalif mit Freude ausrief: Sie leben noch!
Ich habe gehört, dass Allah . Arten
Tiere schuf und dass als Erste davon
die Heuschrecke aussterben wird. Sobald sie aber ausgestorben ist, werden
alle anderen Tierarten folgen, so wie
die Perlen von einer Kette rollen, deren
Schnur zerriss.«
Bernhard Klausnitzer ist Vizepräsident
der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie
INSEKTEN & KULTUR 19
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
»Die Natur als Ganzes können wir
Menschen nicht zerstören«
Werner Nachtigall im Gespräch
Ludwig Greven spricht mit dem Pionier
der Bionik darüber, was Ingenieure und
Techniker von Insekten, Vögeln und
Pflanzen lernen können. Und was der
Klimawandel für die Spezies Mensch
bedeutet
Ludwig Greven: Wie kamen Sie als
Zoologe auf die Idee, von der Natur
Lösungen für technische Probleme
abzugucken?
Werner Nachtigall: Es war wohl mein
Interesse schon als Kind für Autos und
fürs Fliegen.
Natur insgesamt genauer anzuschauen und dabei Zusammenhänge und
Lösungen zu entdecken. Das Dritte
ist das Wichtigste, die Abstraktion,
Grundprinzipien zu analysieren. Wie
entsteht Auftrieb? Wie muss der Insektenflügel bewegt werden, damit
er möglichst wenig Luftwiderstand
leistet? So etwas wird sehr häufig
übertragen.
Also haben auch Tiere unterschiedliche Techniken für verschiedene Anwendungen?
ten. Lässt sich auch davon lernen?
Ja. Ein Ingenieurteam hat im südlichen Afrika ein Bürohochhaus gebaut
und überlegt, dass die elektrische
Kühlung viel zu teuer wäre. Dann sind
sie darauf gekommen, wie die Termiten das lösen. Die haben in ihren
Bauten ein Röhrensystem, das automatisch Druckdifferenzen erzeugt,
sodass die Luft in bestimmte Richtungen strömt. Das hat man übertragen
und hat Zwischendecken eingezogen,
die sich in der Nacht mit Kaltluft füllen, wie das die Termiten machen. In
etwa, die ich untersucht habe, fliegt
eine eine Weile an der Spitze, die
anderen in ihrem Windschatten und
sparen Energie. Wenn die vordere
müde wird, verlangsamt sie und reiht
sich ein. Eine andere Gans muss dann
das Leittier machen und mehr Energie aufwenden. Wie sie das machen,
weiß man nicht. Aber es ist sehr effizient.
Die Dinosaurier gelten als bekanntestes Beispiel, dass Tiere und
Pflanzen trotz aller evolutionärer
Als Laie denkt man, dass Natur und
Technik ein Gegensatz sind.
Die Natur besteht wie die Technik aus
Einzelelementen, die zusammenspielen. Das können physikalische oder
chemische Elemente sein, aber immer
bilden sie ein Großes und Ganzes. Interessant sind die Querbeziehungen
zwischen diesen Elementen. Schauen
Sie sich ein Auto an. Da gibt es die
Einspritzpumpe, den Motor, die Reifen, aber insgesamt ist es etwas, das
fahren kann. Die Einzelteile interessieren Nichtspezialisten nicht so sehr.
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
Aktuell ist nicht mehr angesagt,
Auto zu fahren und zu fliegen, um
das Klima zu retten. Andererseits
ist es ein uralter Menschheitstraum, es den Vögeln gleichzutun.
Schon Leonardo da Vinci hat Flugapparate entworfen, die ihre Bewegungen nachahmten.
Leonardo hatte ungeheure Einfälle,
aber ohne physikalische Basis. Er
kannte ihre Gesetze noch nicht und
hat mit viel zu kleinen Energien gerechnet. Deshalb konnten seine Flugmaschinen nicht funktionieren. Seine
Idee eines Hubschraubers war dagegen sehr gut. Vor Jahren hat man in
der Biologie gesagt, eine Fliege ist ein
kleiner Flugapparat. Heute weiß man
sehr genau, dass Bienen z. B. nur den
Bruchteil eines Milligramms Pollen
brauchen, um schnell zu fliegen.
Ein Vorbild für umwelt- und klimaschonendes Fliegen?
Ja, aber nur in der Größenordnung
von Insekten.
Hat die Natur durch die Evolution
im Lauf von Millionen Jahren Antworten für spezielle Anwendungen
entwickelt, auf die Menschen trotz
allen Erfindergeistes nicht kommen?
Das ist wahrscheinlich nicht ganz
falsch. Die Natur entwickelt diese
Dinge jedoch nicht für den Menschen,
sondern für sich selbst. Der Mensch
sieht sie sich dann an und interpretiert sie mit seinem technischen Verstand. Denken Sie an den Druckknopf
oder den Reißverschluss. Beides ist
der Natur abgeschaut wie der Klettverschluss. Oder der Oberflächeneffekt der Lotuspflanze. Warum hat
die Natur ihre Blätter so ausgestattet,
dass sie immer rein bleiben? Nicht,
damit der Mensch nicht mehr Fenster
putzen muss, sondern dass keine Pilzsporen auf den Blättern haften und
sie zerstören.
Was sind sonst praktische
Anwendungen der Bionik?
Es sind ungefähr . bekannt. Entweder sind Menschen durch Zufall
darauf gekommen, weil sie sich ein
Tier oder eine Pflanze genauer angeschaut und gefragt haben: Ich habe
ein Problem, hat die Natur das gelöst?
Die andere Möglichkeit ist, sich die
Honigbiene (Apis mellifera) auf Hypericum chinense
Die Natur begnügt sich nie mit nur
einem Beispiel. Sie will immer variieren und die Grenzen ausloten.
Was kann man, abgesehen vom
Fliegen, speziell von Insekten lernen?
Da findet man erstaunliche Übereinstimmungen mit der Technik. Eine
Wanzenart hat z. B. eine Hochdruckdüse eingebaut, die einen beachtlichen Druck erzeugt. Ein Käfer mischt
zwei chemische Substanzen und
schießt das explodierende Gemisch
als Verteidigungsstrahl heraus. Es gibt
Schmetterlinge, die ihren Rüssel, der
länger ist als sie selbst, während des
Fliegens so verstauen, dass er keinen
Luftwiderstand leistet. Käfer verstecken ihre Flügel unter Flügeldeckeln.
Die Flügel müssen dafür gefaltet werden zu kleinen Paketen. Die Japaner
sind Weltmeister im Falten von Papier. Ein Professor dort hat der Natur
feine Strukturen abgeschaut, die Sonnensegel im Weltall entfalten.
Insekten haben auch für hochkomplexe Probleme Lösungen gefunden. Bienen und Ameisen bilden
arbeitsteilige, hierarchische Staa-
der Früh wird die Kaltluft mit geringer
Energie in die Büros geleitet, wo sie
zirkuliert. Der Ausgangspunkt ist Bionik, aber am Ende steht immer Ingenieurkunst nach dem aktuellen Stand
der Technik.
Man spricht heute von Schwarmintelligenz, angelehnt an Vogel- und
Fischschwärme. Können Tiere
auch Vorbild sein für die Wissensentwicklung und -vermittlung?
Eigentlich schon, aber da wird auch
wieder falsch argumentiert. Ein
Schwarm ist nicht intelligent, sondern er zeigt ein Verhalten, dass Menschen so interpretieren. Ein Vogeloder Fischschwarm umhüllt einen
Angreifer so oder bildet eine dichte
Masse, dass er gar nicht mehr weiß,
wie und wo er zugreifen soll. Aber was
ist daran intelligent? Der Begriff ist
nicht sehr gut.
Im Grunde ist es Ausdruck von Arbeitsteilung. Vogelschwärme tun
das auch beim Fliegen.
Die Vögel messen ihre Abstände über
ihr Drucksinnesorgan und die Augen.
Wenn sie zu dicht fliegen, verdünnt
sich der Schwarm. Bei Graugänsen
Anpassungen irgendwann nicht
mehr auf große Veränderungen der
Umwelt reagieren können und aussterben. Können wir als menschliche Spezies selbst von diesem großen Scheitern lernen, mit Blick vor
allem auf den Klimawandel?
Die großen Landarten sind ausgestorben, weil sie sich unter den veränderten klimatischen Bedingungen
nach dem Einschlag eines großen Meteoriten nicht halten konnten, aber
die Dinosaurier sind nicht völlig verschwunden. Die heutigen Vögel sind
Nachkommen des Tyrannosaurus Rex.
Krokodile gibt es bis heute unverändert. Die Evolution hat dafür gesorgt,
dass sich einige Arten angepasst und
weiterentwickelt haben wie der winzige Kolibri. Das gibt es in der Natur
immer wieder: Was dem einen der
Tod ist, ist dem anderen sein Leben.
Es könnte also sein, dass es irgendwann kleine Menschlein gibt, die
das große Artensterben ihrer Spezies überlebt haben, weil sie sich
dem veränderten Klima angepasst
haben?
Sicher. Man muss sehen, was übrig
bleibt und dann in die ökologischen
Gegebenheiten passt. Das, was ist,
bleibt nicht. Es entwickelt sich in jedem Fall weiter. Wie, lässt sich nicht
vorhersagen. Wenn es immer wärmer
wird auf der Erde, werden die Lebewesen einen Vorteil haben, die sich
schon heute in wärmeren Regionen
fortpflanzen. Die aus den kälteren
Regionen werden aussterben.
Umweltschützer haben häufig
ein verklärtes Bild der Natur. Das
Coronavirus zeigt jedoch, dass die
Natur nicht per se freundlich zu
uns Menschen ist.
Wenn sich in der Natur etwas ändert, gibt es immer Profiteure und
andere, die darunter leiden. Das
ganze System ändert sich. Schon in
Jahren wird die Natur ganz anders sein, sodass gewisse Tiere oder
Pflanzen eine Überlebenschance haben, die sie heute noch nicht haben.
Und umgekehrt. Es geht nicht ums
Gänseblümchen oder den Vogel des
Jahres. Das ist alles schön. Aber das
interessiert die Natur nicht. Was die
Natur immer behalten wird und was
wir Menschen nicht zerstören können, ist ihre Gesamtheit. Die bleibt
nicht konstant, in einer Million Jahre
schon gar nicht.
Aber sie wird sich erhalten. Wir
müssen nicht einzelne Bäume und
Baumarten schützen. Wenn die nicht
mehr in eine veränderte Umwelt
passen, werden sie aussterben. Dafür
wird die Natur andere Bäume ansiedeln, wie sie es immer gemacht hat.
Deshalb sollte man nicht zu viel in
den Schutz einzelner Arten stecken,
sondern die Natur machen lassen.
Die Tiger und Elefanten werden genauso aussterben wie die Mammuts,
wenn sie in einer veränderten
Umwelt nichts mehr zu fressen finden. Das ist nicht dramatisch. Die
Natur wird sie durch andere Arten
ersetzen.
Wie ist Ihr eigenes Verhältnis
zur Natur nach all den Jahren als
Technischer Biologe: ein ehrfürchtiges oder ein pragmatisches?
Je nach Stimmung das eine wie das
andere. Im Allgemeinen ein sehr
nüchternes aufgrund der Zusammenhänge, die ich in einem langen
Biologen- und Technikerleben gelernt habe. Die Natur erhält sich
selbst, auf ihre Tour. Sie braucht den
Menschen nicht.
Sehen Sie hinter den Bauplänen
der Natur, mit denen Sie sich bis
heute beschäftigen, einen Schöpfergeist oder ein reines Produkt
der Evolution?
Der Schöpfer hat seine Berechtigung
in der Philosophie und der Religion.
In der Naturwissenschaft nicht. Als
Schüler und Student habe ich mich
mit solchen Fragen herumgequält,
wo ist der Sinn des Ganzen? Wenn
es einen Schöpfergott gibt, warum
macht er dann so vieles, was erkennbarer Unsinn ist? Warum lässt er Leid
zu? Damit beschäftige ich mich am
Ende des Lebens nicht mehr. Wenn
es einen Gott gibt, werde ich es
schon noch merken.
Vielen Dank.
Werner Nachtigall ist Zoologe
und Pionier der Bionik. Er befasst
sich vor allem mit Bewegungsmechanismen im Tierreich und Flugbiophysik. Ludwig Greven ist freier
Publizist
20 INSEKTEN & KULTUR
www.politikundkultur.net
Von der Fabel zur
Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft
NIELS WERBER
W
as man von den Ameisen lernen kann«, heißt
eine Fabel in den »Hundert kleine moralische
Erzählungen für gute Kinder« aus dem
Jahre , die vom Aufstieg eines
Kindes »armer und geringer Leute« zu
höchsten Würden durch nimmermüden Fleiß und Beharrlichkeit erzählt.
Die Ameise, die den Ruf, besonders arbeitsam zu sein, aus biblischen Zeiten
bewahrt hat, wird als »erste und einzige
Lehrerin« gepriesen.
Brand Eins ist kein Kinderbuch, sondern ein Wirtschaftsmagazin, doch
erscheint auch hier ein Text mit der
Überschrift: Von den Ameisen lernen.
Ein Unternehmensberater preist die
Ameise und schlägt den Managern
ausdrücklich vor, »sich ein Beispiel
am Tierreich zu nehmen«. Und ein
Beitrag der FAZ über Altersvorsorge
titelt »Prinzip Grille oder Ameise«. Die
Grille, »die im Sommer munter musiziert und an den Winter nicht denkt«,
diese Grille stehe für den sogenannten
»Generationenvertrag«, die Ameise dagegen, »die im Sommer für den Winter
vorsorgt«, die Ameise veranschauliche
das Prinzip der »Eigenvorsorge« durch
kapitalgedeckte Systeme. Nicht die
munter musizierende Grille, sondern
die selbst vorsorgende Ameise wird als
Vorbild empfohlen. Letzter Fall: Im Anlegermagazin einer Schweizer Privatbank wird das »Problem« der Ameisen
diskutiert, dass »sich im Wissen um
das Vorhandensein großer Vorräte die
Grillenbestände vermehren und Grillen
von weither angesogen werden«. Darin,
so erläutern die Privatbankiers Linth,
Wegelin & Co., bestehe der »Moral Hazard« des Wohlfahrtsstaats. Die Empfehlung an die Ameisen, die eigenen
Vorräte der Kenntnis der rücklagenlosen Grillen zu entziehen, wird nicht
explizit ausgesprochen, aber doch wohl
auch so verstanden. Es genügt nicht,
Eigenvorsorge zu betreiben, man muss
sein Kapital auch vor der Umverteilung
schützen. Die Fabel wird auch in der
Corona-Pandemie gerne zitiert, etwa
von Gerhard Polt. Wie die SZ berichtet,
war Polt »zum Thema Systemrelevanz
die Fabel von der Ameise und der Grille eingefallen: Die Ameise schafft den
ganzen Sommer, die Grille zirpt immer
nur. ›Und Zirpen hat natürlich keine
große Relevanz.‹«, so Polt ironisch. Die
musizierenden Grillen seien also doch
»systemrelevant«.
Die Beispiele wären beliebig zu
vermehren, sollten aber genügen, um
die rhetorische Indienstnahme eines Insekts zu belegen, dessen literarische Laufbahn in den äsopischen
Fabeln der Antike begonnen hat und
dessen Popularität über die Jahrtausende hindurch nichts eingebüßt hat.
Von der Ameise berichtet der Autor der
alttestamentarischen Sprüche Salomos,
der Mensch solle »ihr Tun sehen und
von ihr lernen«. Die Ameise zähle zu
den »Kleinsten auf Erden«, und doch
sei ihr Volk »klüger als die Weisen«. Für
die »politische Zoologie«, Joseph Vogl,
ist die Ameise besonders interessant,
weil sie bereits in der Antike oft deshalb bewundert wird, weil sie »keinen
Herrscher, keinen Aufseher oder Vorgesetzen« hat. Dies darf bis ins . und
. Jahrhundert als Ausnahme gelten:
tugendhafte Individuen, eine vorbildliche Gemeinschaft – und das ohne
Hierarchie, ohne Stände, ohne Führungsfigur an der Spitze. Diese Form
der Gemeinschaft fasziniert noch heute,
und die Ameisengesellschaft wird zur
Blaupause von schwarmintelligenter,
verteilter sozialer Selbstorganisation
ohne Zentrum und ohne Spitze.
Die Ameise der antiken Fabeln, Parabeln und Gleichnisse ist auch heute
noch geradezu allgegenwärtig – und
sie ermöglicht dabei sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungen. In
jedem Fall geht es aber darum, mit der
Hilfe der Fabel erstens eine Situation
dezisionistisch zuzuspitzen: entweder
Grille oder Ameise, zweitens eine ganz
bestimmte Entscheidung der Situation
nahezulegen und drittens andere Optionen der Beschreibung und Entscheidung auszublenden. Die Geschichten
von der Grille und der Ameise gehen
von einer konkreten Situation des
Rezipienten aus, die ihn vor die Wahl
ralisiert, dass nur eine von beiden Seiten als akzeptable Option gilt. Die Fabel stellt »Alternativlosigkeit« her. Die
Fabel veranschaulicht und vereinfacht
eine Situation, gibt eine Empfehlung
und sorgt zugleich, mit einem Begriff
Niklas Luhmanns, für ihre »alternativenlose Evidenz«: Die Wahl der Ameise,
deren Voraussicht, Organisationstalent,
Disziplin und Fleiß seit Jahrtausenden
gelobt wird, ist die richtige Wahl. Man
kann ihr blind folgen. Als Handlungsalternative wird die Grille in der Fabel
eigens deshalb angeführt, um mit ihrer
törichten Wahl etwaige andere Optionen auszublenden.
Dies lässt sich nicht nur in der Literatur oder in den Massenmedien beobachten, sondern etwa auch im Film. Der
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
Soziale Insekten
Muskateller-Salbei (Salvia sclarea) nutzt mittels raffinierter Schlagbaumtechnik eine Holzbiene Xylocopa vialocea zum Pollentransport
stellt: entweder Riester-Rente und
Geldanlage in der Schweiz oder nicht?
Das suggestive Angebot, mit der Ameise zu sympathisieren und sich vor der
Grille zu hüten, legt die Entscheidung
jeweils so nahe, dass man von einem
Ausblenden von Alternativen oder einer Invisibilisierung von Kontingenz
sprechen könnte. Dies schließt nicht
aus, dass andere Erzählungen der Fabel
– wie beispielsweise Toni Morrisons Comic »Who‘s Got Game? The Ant or the
Grasshopper« – die Grille als liebenswerten Lebenskünstler in Szene setzen
und die Ameise als geizigen Egoisten
zeichnen, der zwar im Sommer gerne
Musik hört, aber von seinem hart erarbeiteten Einkommen den Künstler
– von hier kommt Polt zur Kunst in den
Zeiten der Corona-Pandemie – nicht
unterhalten will. Aber ob nun die Ameise mithilfe der Grille als Vorbild oder als
Warnung hingestellt wird – in jedem
Fall wird die mögliche Kommunikation
über ein Thema erst auf eine einfache
Alternative beschränkt und dann so mo-
Animationsfilm »A Bug’s Life«, Pixar
, spielte in einem halben Jahr
eine halbe Milliarde Euro ein. Millionen
haben den Film gesehen. Der Film zeigt
zunächst die gesamte Ameisenkolonie
beim Sammeln von Lebensmitteln. Mit
Teamgeist und Fleiß gelingt es, einen
großen Vorrat anzulegen. Der Herbst
zieht ein, und die Grashüpfer treten
auf. Sie haben den Sommer über keine
Vorräte gesammelt, sondern in einer
mexikanischen Bar getrunken und
»La Cucaracha« gesungen, das mexikanische Lied der Müßiggänger. Die
Taverne der Grashoppers besteht aus
einem schattenspendenden Sombrero,
dem stereotypen Symbol des Mexikaners, der Siesta hält, statt zu arbeiten.
Fleißig sammelnde Ameisen, sorglos
singende Grashüpfer. Diese kurze Exposition genügt, um die ehrwürdige
Vorlage zu erkennen, die »A Bug’s Life«
aufgreift.
Wir haben die fleißigen Ameisen
bei ihrem riesigen Vorratshaufen und
die faulen Grashüpfer in ihrer mexika-
nischen Kaschemme zurückgelassen.
Um den Unterschied zwischen ihnen
herauszuarbeiten, bedient sich Pixar
eines ethnischen Kontextes und lädt
die drastisch herausgestellten Unterschiede mit kulturellen Klischees
auf. Aber damit nicht genug. Der Film
nimmt zudem eine Neudeutung der
Fabel vor, deren Folgen für die aus ihr
zu ziehende Lehre erheblich sind. Es ist
nämlich keineswegs so, dass die Grashüpfer als Bittsteller zu den Ameisen
kommen. Sie erpressen die Hälfte der
Vorräte als Schutzgeld. Wenn die Siesta
vorbei ist, spielt der Grashüpfer, sprich:
der Mexikaner, den Macho und bedroht
die Hilflosen. Es ist nun nicht mehr die
Ameise, die die Grille verspottet, sondern es ist Hopper der Grashüpfer, der
die Ameisen zynisch fragt, was sie denn
den ganzen Sommer über getrieben haben: »Have you been playing all summer?« Die Ameisen freilich haben den
ganzen Sommer gearbeitet, während
die Grashüpfer gesungen und gespielt
haben, doch haben sie auf ihrer Insel
trotz aller Mühen nicht genügend Nahrung finden können. Was vorhanden
ist, reicht gerade einmal für die Ameisen selbst. Auch diese Einbettung und
Neudeutung der Fabel dient der Deutungsverknappung – an eine positive
Rezeption der Grille ist gar nicht zu
denken. Die suggestive Botschaft des
Films lautet, dass die Grashüpfer ein
für alle Mal aus dem Lebensraum der
Ameisen zu vertreiben seien. Dass die
Ameisenkolonie vom Sombrero-Lager
der Grashopper durch einen Canyon
getrennt ist, erinnert kaum zufällig an
die Topografie der mexikanisch-amerikanischen Grenze bei San Diego. »A
Bug’s Life« erweist sich hier als Beispiel
für eine an ethnischen und kulturellen
Stereotypen entlang konstruierten Zuspitzung, die die Transformation der
Fabel in das Medium der Audiovision
dazu nutzt, keinen Zweifel an der Botschaft der Fabel aufkommen zu lassen.
Die Grenze nach Mexiko für Grillen unüberwindbar zu machen, ist die latente
Botschaft der Kinderfilms.
Es sind Naturwissenschaftler, die
sich über die Ameise der Fabeln mokieren und neue Erkenntnisse für die
Ameisen als soziale Insekten in Feld
führen. In einer veröffentlichen
Naturgeschichte ist zu lesen, den Winter verbringe die Ameise in einer Art
Starre. Sie bewege sich nicht und nehme in dieser Zeit auch keine Nahrung
zu sich. Ihre sprichwörtliche Klugheit
beschränke sich darauf, sich in ihrem
Unterschlupf in einen depravierten
Zustand zu versetzen. Ihre fabelhaften Vorräte, lesen wir bei einem
anderen Forscher, seien für die Ameise vollkommen unnötig, denn jene
Jahreszeit, in der die Natur ihr nichts
zum Sammeln bietet, verbringe sie in
Erstarrung.
Vom Lob der Ameisen sieht die Entomologie allerdings keinesfalls ab, es
wird vielmehr um zu einem Topos
der Insektenkunde. Vorbildlich ist allerdings nicht mehr das Sammeln für
den Winter, sondern ihre Sozialform.
Bewundert wird nicht die fleißige Ameise, sondern die Ameisengesellschaft.
repräsentiert die Ameise für den
Baron Cuvier eine bewundernswerte
Gattung, die in einem geradezu perfekten Zustand der Gesellschaft lebe. Seine Beschreibung einer Ameisenkolonie
mit all ihren mehrstöckigen Wohn- und
Vorratsgebäuden, Verkehrswegen und
Toren, mit einer Vielzahl von Bautrupps
und Spähern, Transport- und Sicherungsmannschaften erinnert an eine
moderne Großstadt, die von ihr aber
besser organisiert wird als Paris von
den Franzosen.
Die Insektenkunde begnügt sich aber
nicht mit der Erforschung der Spezies,
vielmehr werden nun die sozialen Tugenden der Ameise und die effiziente
Organisation ihrer Gesellschaft zum
Vorbild erklärt. Auf die getreue entomologische Beobachtung der Ameisen
stützen sich nun die für die menschliche Gesellschaft zu ziehenden Lehren.
Es geht nicht mehr um Tugenden und
Laster von Individuen, sondern um die
Gesellschaft als soziales System. Wir
alle, Ameisen und Menschen, lesen wir
in Morton Wheelers Standardwerk »Social Insect« von , leben in einem
»sozialen Medium«, das den gleichen,
einfachen Grundgesetzen unterworfen sei. Daher würden Soziologen und
Entomologen auf zahlreiche Parallelen zwischen Ameisen und Menschen
stoßen. Die Insektenforschung hat die
Analogie zwischen Ameisengesellschaft
und menschlicher Gesellschaft so erfolgreich ausgebaut, dass der Stand
der entomologischen Forschung unmittelbaren Einfluß auf die kulturellen
Selbstbeschreibungen der Gesellschaft
gewinnt.
»Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein [...] Rhizom bilden,
das sich auch dann wieder bildet, wenn
sein größter Teil zerstört ist«, schreiben
auch Deleuze und Guattari bewundernd,
und während die Kybernetiker und Arbeitswissenschaftler diese Robustheit
der Ameisen überall zu implementieren
suchen, lassen sich Michael Hardt und
Antonio Negri vom Rhizomatischen
ihrer Organisation beeindrucken. Die
Autoren nutzen die neueste biokybernetische und soziobiologische Ameisenforschung, um von den sogenannten
»Swarm Raids« der Ameisen über die
computergestützte Simulation dieses
Schwarmverhaltens durch Algorithmen
schließlich zu ihrem Transfer des Bildes auf die menschliche Gesellschaft
zu kommen. Die Ameise der Schwarmforschung wird zum Vorbild einer »kollektiven Intelligenz«, eine Multitude,
die »aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen [...] Vielfalt
entstehen kann.«
Auf dieses Bild der Ameise, deren
rhizomatische Organisation das
Millionen Jahre alte Volk so »amazingly successful« – nach Bert Hölldobler
und Edward O. Wilson – gemacht habe,
berufen sich auch Bestseller der Beratungsliteratur, die in der Ameisengesellschaft ein Muster für die dezentrale,
distribuierte, laterale, flexible und robuste Organisation der New Economy
entdeckt haben. »Die Ameisen haben
uns gezeigt«, so heißt es wörtlich bei
Kevin Kelly, wie die globale Netzwirtschaft erfolgreich zu organisieren sei.
Auch von Entomologen wird die fabelhafte Analogisierung von Ameise und
Mensch immer wieder erneuert, um aus
der Verhaltensbiologie politische Lehren zu ziehen. Inspiriert von der effizienten wie robusten Arbeitsorganisation
der Ameise, schreiben die Spitzenameisenforscher Bert Hölldobler und Edward
Wilson , man müsse die Welt aus
der Ameisen-Perspektive wahrnehmen,
dann werde alles ganz offensichtlich.
Wenn »wir« so werden wie die Ameisen, »simple agents« nämlich, die sich
der Schwarmintelligenz fügen, dann
werde alles besser, von der Logistik bis
zur schonenden Ressourcennutzung,
von der Wahl des Wohnorts bis zur
Forschung in Teams. Die Algorithmen,
geboren aus Forschungen zur »Ant Colony-Optimization«, werden uns führen.
Niels Werber ist Professor für Neuere
Deutsche Literatur an der Universität
Siegen, Dekan der Philosophischen
Fakultät und Prodekan für Forschung
INSEKTEN & KULTUR 21
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Killerbienen und Fliegenwesen
Über die faszinierend-schreckliche Rolle von Insekten im
fantastischen Film
MARKUS METZ UND GEORG
SEESSLEN
Das Rieseninsekt
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
A
lle Tiere sind Teil der Natur. Das
heißt, dass sie auf eine stets eigentümliche Weise schön sind
und dass sie auf eine stets eigentümliche Weise gefährlich sind. Genau dazwischen, auf dem Weg von der Faszination zur Abwehr, lauert das Unheimliche.
Das Unheimliche geschieht, wo sich
etwas scheinbar Vertrautes in etwas
fundamental Bedrohliches verwandelt.
Z. B. Insekten. Im Normalfall sind sie
eher klein, sodass die Gefahr, die von
ihnen ausgeht, mehr von der Vielzahl
oder von indirekten Folgen einer als
Einzelfall eher harmlosen Attacke
ausgeht. Mücken, die ein gefährliches
Fieber auslösen, Heuschrecken, die
ganze Ernten vernichten – der ewige
Abwehrkampf gegen aggressive oder
krankheitsübertragende Insekten ist
ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Das Böse in unserem Kulturkreis
ist auch als »Herr der Fliegen« bekannt,
das Böse in unserem Wirtschaftssystem lauert in Gestalt der »Heuschrecken«, das Böse der anderen, das sich
bei uns einnistet, wird etwa als »Laus
im Pelz« bezeichnet. Kurzum: Insekten als Symbole des Unheimlichen und
Sonderbaren bevölkern das kulturelle
Unterbewusstsein. Das Kino ist eine
Methode, die undeutlichen Bilder aus
dem Inneren auf eine äußere Leinwand
zu bringen. Es variiert einige Grundvarianten der »insect fear« als schaurigschönes Monsterbild.
Muskateller-Salbei (Salvia sclarea) nutzt mittels raffinierter Schlagbaumtechnik eine Holzbiene Xylocopa vialocea zum Pollentransport
nes »Massenangriffs«, gegen den, wie
in »Them!«, , nur der massivste
militärische Einsatz hilft. Ein veritabler Vernichtungskrieg wird da gegen
Ameisen geführt, die aus der Wüste
kommen, um den American Way of
Life zu attackieren. Jahre später
übernehmen die Bienen die Rolle des
Lieblingsfeindes im Tierhorrorfilm.
Die Legende von den »Killerbienen«,
die aus Afrika nach Europa oder in
die USA kämen, verbreiteten Katastrophenfilme wie »Killer Bees«, .
In »The Bees«, , sind die tödlichen
Stiche Ergebnis übler Zuchtversuche:
Als die Killerbienen merken, dass sie
vermittels eines »Sexualduftstoffes«
ins Verderben gelockt werden sollen,
beschließen sie – sie sind nämlich
nicht nur böse, sondern auch intelligent geworden – die Menschheit aus-
Im Reich der japanischen Kino-Monster
spielt neben Urweltechsen und Riesenkrebsen auch »Mothra« – im Original
»Mosura«, – eine wiederkehrende
Rolle, ein gewaltiges Mottenwesen, das
bemerkenswerterweise von zwei winzigen weiblichen Zwillingen begleitet
wird, den hobijin (dt. »kleine schöne
Frauen«). Die Riesenmotte war so populär, dass sie in einem Dutzend weiterer
Filme mit den Flügeln schlagen durfte.
Genau besehen ist Mothra unsterblich,
weil sie so fleißig für Nachwuchs sorgt,
wie wir in „»Godzilla und die Urweltraupen«, , sehen: Godzilla tötet
Mothra, aber schon sind die Raupen für
die nächste Generation da. Da stecken
wir in der Mythologie der Paranoia: Insekten haben, so scheint’s, kaum etwas
anderes im Sinn, als sich zu vermehren.
Im Kino wird die Insect fear bedient,
Schon ästhetisch
überwunden oder karnevalisiert. Dabei
gesehen gibt es im
lassen sich zwei Tendenzen in der Geschichte des Insektenhorrorfilms ausKino kaum etwas
machen: Eine realistische, in der echte
Furchtbareres als das
Tiere eingesetzt werden, und eine irreInsekten-Menschale, in der die Durchschaubarkeit der
Mischwesen
Monster-Repräsentation zum Vergnügen beiträgt. Durch die computerunterstützte Animation freilich ist dieser
Unterschied zwischen »realistisch« und zurotten. Wir verstehen: Die Gefahr,
»albern« nicht mehr so leicht zu ziehen die von aggressiven Insekten ausgeht,
wie zuvor.
rührt entweder aus Migration oder aus
unstatthaften Eingriffen des Menschen
in die Natur.
Das Mörderinsekt
Manchmal kommt sie auch aus
Möglicherweise kann Entwicklungs- dem Weltall. »Phase IV«, , zeigt
psychologie erklären, inwieweit die anders als die gewohnten Horrorfilme
Überwindung von Insektenfurcht zum seine Monster ganz real: Ameisen, die
Reifeprozess gehört. Jedenfalls spielen aufgrund kosmischer Strahlung ihre
große oder gefährliche Insekten eine Kämpfe untereinander einstellen, um,
Rolle in Heldenreisen und fantasti- angeleitet von einer fremden Intellischen Coming-of-Age-Geschichten, genz, die Herrschaft über die Erde ansie dürfen weder in der »Herr der Rin- zustreben. Der cineastische Schrecken
ge«- noch in der »Harry Potter«-Saga ersteht hier durch die innige Nähe reafehlen. In der Regel handelt es sich um listischer Aufnahmen und apokalyptieine Bedrohung, die zugleich von weit scher Vision. Jahre später haben es
draußen und von tief drinnen kommt. die (mutierten) »Killer Ants«, , nur
Insekten stehen für das Phantasma ei- noch auf die klassische amerikanische
Kleinstadt-Kleinfamilie abgesehen. Die
Heuschreckenplage, in Terence Malicks
»Days of Heaven«, , dramatischer
Schicksalsschlag und Metapher der
Selbstzerstörung, wird in B-Filmen wie
»Locusts« () zum Bewährungsfall
für in Ungnade gefallene junge Helden.
Manchmal indes kommen die Killerinsekten auch aus dem Erdinnern und
haben sonderbare Eigenschaften, wie
z. B. in »The Hephaestus Plague«, ,
wo sie, wie der deutsche Verleihtitel
»Feuerkäfer« verrät, ihre Umwelt in
Brand setzen.
Das tragische Mischwesen
Alles begann mit »The Fly«, , den
man als klassische Mad Scientist-Story
lesen kann – ein Mann entwickelt eine
Teletransportmaschine und verwandelt sich beim Selbstversuch, weil er
eine Fliege mit transportiert hat, in ein
grauenvolles Mensch/Fliege-Hybrid –
oder auch als tragische Ehegeschichte
– die Ehefrau soll das Monster, das aus
ihm geworden ist, vernichten, womit
sie sich in Verdacht bringt, den Gatten
ermordet zu haben.
folgte »Return of the Fly«, wo
nach bekanntem Muster der Sohn die
gefährlichen Experimente des Vaters
mit ähnlich erschreckenden Ergebnissen wiederholt, und »Curse of the Fly«,
, wo die Fliegengene im Körper
des Protagonisten zu raschem Altern,
seine Experimente aber zu einer ganzen Serie verschiedener insektoider
Hybridwesen führen. Schon ästhetisch gesehen, gibt es im Kino kaum
etwas Furchtbareres als das InsektenMensch-Mischwesen.
schuf David Cronenberg mit
seinem Remake einen Meilenstein des
»body horror«, eine für viele schwer
erträgliche Mischung aus Ekel und
Tragik. Schmerz und Zersetzung führen über den Horror hinaus zur Frage, was das eigentlich ist: Leben. Die
unvermeidliche Fortsetzung übersah
im Effekteinsatz geflissentlich solche
Implikationen.
Auch Superhelden verdanken ihre
Kräfte der Begegnung mit einem Insekt
wie etwa »Blue Beetle«. »Ant-Man«
kann sich so klein wie eine Ameise
machen und mit einem telepathischen
Helm die Insekten leiten, während The
Wasp ihre Gegner entsprechend ihrer
Erscheinung umschwirrt, bevor sie
zusticht.
In dem Film »The Mothman Prophecies«, , bleibt die Gestalt des
Mottenmannes angenehm mysteriös.
Die Ameise: mörderisch. Die Wespe:
rachsüchtig-sadistisch. Die Biene:
schwarmgewaltig. Die Heuschrecke:
gefräßig. Und die Motte? Es bleibt ein
Hauch von nächtlicher Poesie …
Im Reich der Insekten
, und ein Remake von »Mimic«
als TV-Serie haben alle, wen wundert
es, apokalyptische Züge: Die Insekten
haben die Weltherrschaft übernommen,
die letzten Menschen führen einen
verzweifelten Überlebenskampf. Kakerlaken, Ameisen, Termiten, Käfer …
– sie vertreiben die Menschen aus ihrer
eigenen zivilisatorischen Umwelt. Der
Krieg gegen die Insekten ist ungefähr
so ungleich wie der gegen die Viren in
einer Pandemie.
Natürlich sind nicht alle Insekten
böse oder gefährlich. Auch der Film
stürzt zurück in die Fabel, setzt die
Grille als »Gewissen« von Pinocchio ein
oder eine Raupe als Gesprächspartner
von Alice im Wunderland. Han Solo
versteht sich mit intergalaktischen Insekten genauso wie mit räuberischen
Kröten. Im Reich der Insekten lassen
sich wie in »Antz«, , »A Bug’s Life«,
, oder »Bee Movie«, , pädagogisch wertvolle Erfahrungen machen.
Superman nutzt riesige Stubenfliegen
als Reittiere, um ein intergalaktisches
Volk aus der Sklaverei zu führen … Aber
was ist das alles gegen Monstermotten,
Kakerlaken-Invasionen und Fliegenmenschen? Insekten sind die Tiere, die
wir zu hassen lieben. Im Kino wenigstens.
Durchaus aktuell und »realistisch« erscheint »Mimic« von Guillermo del Toro,
, in dem eine von Kakerlaken übertragene Krankheit durch die Züchtung
einer Gegen-Spezies bekämpft wird.
Doch die »Judas-Kakerlake« erweist sich
dann als noch viel schlimmer. Insekten
sind immer auch das Verborgene und
Verdrängte, es sind Wesen, die nicht auf
den Widerspruch zwischen Wildnis und
Kultur zurückzuführen sind, weil sie in
beiden Welten existieren.
Sich ins Reich der Insekten zu versetzen, ist seit der »Biene Maja« ein Markus Metz und Georg Seeßlen sind
beliebtes Motiv in Kinderbüchern und freie Journalisten und Autoren
-filmen, das wie in »The Ant Bully«, ,
durchaus erzieherische Absichten haben kann. Aber man kann, das entspreZU DEN BILDERN
chende wissenschaftliche Wunderzeug
vorausgesetzt, auch ganz direkt auf Augenhöhe mit Insekten kommen, wenn
Die Umwelt, die uns umgibt, unsere
man wie »The Incredible Shrinking
Heimat hat noch viele »GeheimnisMan«, , immer kleiner und kleiner
se«. Insekten, Spinnen, Pflanzen,
wird. Oder wenn man in der Serie der
Flechten, Pilze, Plasmodial-Amöben
»Honey, I Shrunk the Kids«-Filme, so
(Schleimpilze) und Kristalle sind die
klein gemacht wird, dass eine Wespe
Fotomotive von Olaf Zimmermann
zum tödlicher Sturzflieger wird und der
im Nahbereich. Mit seinen FotograWeg durch ein Stück Rasen zur abenfien versuche er einige »Geheimnisteuerlichen Expedition ins Reich dessen,
se« zu lüften und die Schönheit der
was kriecht, krabbelt und fliegt.
Natur im Kleinen zu zeigen, ohne
Die jüngsten Beispiele des Insekviele Worte. Mehr unter: olaf-zimtenhorrors wie »Love and Monsters«,
mermann.de/natur/
22 INSEKTEN & KULTUR
www.politikundkultur.net
Schwarmästhetik
Insekten in der Kunst
JESSICA ULLRICH
V
der sieben Plagen der Menschheit und
wird in der bildlichen Darstellung mit
Krieg und Pest gleichgestellt. Aber auch
in anderen Kulturkreisen wird sie häufig
mit Gewalt und Tod in Zusammenhang
gebracht. Das Keilschriftzeichen für
Heuschrecke bedeutet allerdings nicht
nur Vernichtung, sondern interessanterweise auch »Bildnis«.
Insekten sind auch mit grundsätzlichen Fragen der Kunsttheorie verbunden worden. Von Vasari stammt die
bekannte Anekdote zum Malerwettstreit,
nach der Giotto als Knabe einer Figur
seines Meisters Cimabue eine Fliege so
natürlich auf die Nase gemalt hatte, dass
Cimabue sie mit der Hand fortzuscheuchen versuchte. Die illusionistisch gemalte Fliege markiert hier den Aufbruch
zur Kunstauffassung der Renaissance,
die die realistische Naturdarstellung
als zentrales Ziel setzt, und ist damit
Symbol für die malerische Fortschrittlichkeit Giottos im Vergleich zum eher
mittelalterlich-traditionellen Cimabue.
In der Kunsttheorie der Renaissance galt die Grille unter anderem als
Synonym für eine originellen Einfall.
»Grillenhafte« Kreativität kann dabei
genauso als Beleidigung für verschrobene Bildfindungen eines Bildhauers
oder Malers gemeint sein wie als Lob für
höchste künstlerische Erfindungsgabe.
Der um naturgetreu aquarellier-
Man könnte angesichts der vielfältigen
Beispiele, die auf demselben Prinzip
basieren – Bienen werden eingeladen,
Objekte mit Waben zu überziehen –, bereits von einer neuen bieneninduzierten
Kunstrichtung sprechen. Die Projekte
rahmen die ästhetischen Qualitäten
tierlicher Handlungs- und Wirkmacht
zu, zielen aber auch darauf, ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der gefährdeten Arten zu wecken und damit für
den Verlust, den ein weiterer Rückgang
von Biodiversität bedeuten würde. In
solchen Gemeinschaftsprozessen wird
nicht nur das Kunstobjekt transformiert,
sondern auch der beteiligte Mensch neu
situiert und seine Rolle im Schaffensprozess dezentriert. Die Künstler führen mit
ihren Kunstwerken vor, dass es möglich
ist, über den Abgrund des Nichtverstehens hinweg kreative Beziehungen zu
Tieren einzugehen.
Auch Schmetterlinge sind beliebte
Ko-Autoren: Joos van de Plas etwa stellt
Schmetterlingsraupen bedrucktes Papier,
bemalten Karton oder Plastikwerkstoffe zur Verfügung, mit denen sie dann
ihre temporären Wohnstätten bauen.
Mit den Raupen des Seidenspinners
und deren Kokons beschäftigen sich
besonders prominent Liang Shaoji und
Neri Oxman, wobei neben ästhetischen
und technologischen Fragestellungen
zunehmend auch ökologische und
ethische Diskurse eine Rolle spielen.
So erkundet Neri Oxman nachhaltige
Formen der Gewinnung von Seidenfäden, ohne dabei wie üblich die Kokons zu
kochen und die Raupen zu töten. Wahre Handlungsmacht entfalten aber vor
FOTOS: OLAF ZIMMERMANN
iele Insekten führen eine Existenz am Rande der Wahrnehmbarkeit. Ihre Mimikry oder Camouflage kann so perfekt sein, dass wir
sie übersehen. Dennoch sind sie aus der
Kunstgeschichte nicht wegzudenken.
Im Gegensatz zu anderen Tieren
werden Insekten selten als Individuen
verstanden. In der künstlerischen Darstellung handelt es sich zwar häufig
um Einzeltiere, bei denen aber fast nie
das Gesicht im Sinne eines Porträts fokussiert ist, sondern stets der gesamte
Körper gezeigt wird. Dieser Körper hat
Künstler immer schon fasziniert und
zu schrecklich-schönen Darstellungen angeregt. Besonders wenn sie auf
Menschenmaß vergrößert sind, machen
Insekten Angst. Das mag daran liegen,
dass Insekten dem Menschen trotz gemeinsamer Lebensräume fremd bleiben.
Man gibt ihnen keine Namen, zähmt
sie nicht und hat selten eine »persönliche« Beziehung zu ihnen. Andererseits
koexistieren die Gliederfüßer eng mit
Menschen, essen dieselbe Nahrung, haben sich perfekt an urbane Räume adaptiert. Während Menschen entweder
phobisch oder fasziniert auf Insekten
reagieren, sind diese von ihnen scheinbar unberührt. Allerdings betrachten sie
die Menschen zuweilen als Beutetiere:
spielen Insekten eine große Rolle. Die
älteste europäische Insektendarstellung
ist wahrscheinlich die lebensgroße Tertiärkohlenplastik eines Totengräberkäfers, die wohl vor etwa . Jahren
angefertigt wurde. Etwa . Jahre
jünger sind Ritzzeichnungen von Insekten auf Bisonknochen in der Jungsteinzeit. In etwa zeitgleich entstandenen
Felsenzeichnungen in Südafrika wurden vor allem Bienen und Heuschrecken
dargestellt. Und Repräsentationen von
schwärmenden Bienen und Imkern bei
der Arbeit belegen die Bienenhaltung in
Altägypten um etwa . vor Christus.
Nur wenige Arten sind eindeutig positiv oder negativ konnotiert. Die Biene
und der Schmetterling sind meist Symbole für »gute« Eigenschaften, während
Heuschrecken, Flöhe, Läuse, Kakerlaken
eher für das Schlechte in der Welt stehen.
Der Skarabäus wurde in Ägypten verehrt, seine plastischen Darstellungen
waren dort als Grabbeigaben üblich. Da
dieser Käfer Leichen auffrisst, wird er
einerseits mit Schmutz, Tod und Verfall
in Verbindung gebracht, gilt aber auch
als heiliges Tier. Die Ägypter sahen eine
Parallele im Dungrollen des Käfers und
dem Lauf der Sonne von Osten nach
Westen. Bemerkenswert ist auch, dass
die Hieroglyphe, die den Skarabäus bezeichnet, für Schöpfung, Werden und
Entstehen steht.
and historia naturalis«, -, sowie Maria Sybilla Merians bedeutendstes Werk »Metamorphosis insectorum
Surinamensium« von , das auf ihrer
Forschung während einer Studienreise
nach Südamerika basiert.
Die Romantik wendet sich dann wieder einer stärker symbolisch besetzten
Darstellung von Insekten zu. Caspar
David Friedrich etwa lässt auf seinem
/ entstandenen Gemälde von Ullrich von Huttens Grab einen Schmetterling als Symbol der unsterblichen Seele
aus der Gruft aufsteigen. In der Malerei
des Biedermeier ist es dann vor allem
Carl Spitzwegs schrulliger Schmetterlingsfänger von , der den vergeblichen Wunsch nach einem dauerhaften
Festhalten des Glücks ironisieren mag.
J. J. Grandvilles sich menschlich
verhaltende Insekten, sind durchaus
gesellschaftskritisch-satirisch gemeint
und sagen wohl mehr über den Menschen aus als über die dargestellten
Tiere. Grandvilles Kunst kann dabei
als Vorläufer des Surrealismus gesehen
werden, der Kunstbewegung der Moderne, in der sich Künstler am intensivsten mit Insekten als Verkörperung von
Wünschen, Trieben und Ängsten des
Menschen beschäftigen. Die vermeintlich männermordende Gottesanbeterin
als gleichzeitig lustvoll inszenierte wie
angstbesetzte Chimäre wird beinahe so
etwas wie das ikonische Tier des Surrealismus. Salvador Dali erhebt Ameisen zu
Protagonisten seiner Malerei, Max Ernst
kombiniert in seinen Collagen Insekten
mit Menschenköpfen. Das Wunder der
Verpuppung, der Metamorphose und der
Die Hornisse (Vespa crabro) ist die größte Faltenwespe in Mitteleuropa
Moskitos saugen unser Blut, solange
wir leben, Käfer fressen unsere Leichen.
Schönheit und Hässlichkeit liegen also
dicht beieinander, genauso wie die Dichotomie von Schädling oder Wunder.
So kommen die Kerbtiere in der
bildenden Kunst vieler Kulturen und
Epochen als Symbole von Glück, Fruchtbarkeit oder Tod vor. Abbildungen von
Insekten fungieren als apotropäisches
Zeichen, stehen für die menschliche Seele, für Dämonen oder Gottheiten. Dieses
breite Spektrum verdeutlicht bereits die
Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt von
so unterschiedlichen Tieren wie Bienen,
Heuschrecken oder Mistkäfern. Von dem
Insekt im Generalsingular zu sprechen
– mit mehr als einer Million beschriebenen Arten die artenreichste Tierklasse
überhaupt –, macht wenig Sinn.
Insekten sind schon materiell eng
mit der Kunstproduktion verbunden.
So werden eine Reihe von Pigmenten
aus Insekten hergestellt. Aber auch die
Seidengewinnung durch die Raupen des
Seidenspinners ist für einige Formen der
Malerei essenziell. Doch nicht nur als
Material, sondern vor allem als Motiv
Im Mittelalter wird der Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen weltlichen Versuchungen und Gottesfürchtigkeit an Skulpturen wie beispielsweise
der des Fürsten der Welt am Straßburger
Münster, um , oder der der Frau
Welt am Wormser Dom, nach , mit
Hilfe von Insekten verdeutlicht. Deren
Verbindung mit dem Teufel wird nur in
der wurmzerfressenen Rückenansicht
deutlich, an der sich Insekten aller
Art zu schaffen machen. Durch solche
Darstellungen sollte Furcht in denjenigen hervorgerufen werden, die an Gott
zweifelten.
Eine ähnliche Funktion hat das Matthias Grünewald zugeschriebene Gemälde »Totes Liebespaar« von um . Man
sieht Schlangen und Frösche, aber auch
Fliegen und Käfer, die die Körper auffressen. Die gemalten Insekten sind die Boten des Teufels, die die Bestrafung einer
sündhaften Verbindung symbolisieren.
Insekten sind, wie die Pest verbreitenden Flöhe oder die Ernte vernichtenden
Heuschrecken, oft Symbole für Zerstörung und Verdammnis. Im christlichen
Umfeld verkörpert die Heuschrecke eine
Die Ommatidien (Einzelaugen) des Fassettenauges der Hornisse
te Hirschkäfer von Dürer, der auch in
einer Reihe seiner Gemälde vorkommt,
wird wegen des Namens und des Geweihs über den Umweg über den Hirsch
mit Christus in Verbindung gebracht, so
dass seine Darstellung in Bildern von
Christi Geburt als Vordeutung auf die
Passion lesbar ist.
Erst etwa Jahre später überwiegt
das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse an den Insekten. Die ersten wichtigen entomologischen Monografien,
die sowohl künstlerischen wie wissenschaftlichen Wert hatten, waren Ulisse
Aldrovandis »De animalbus insectis libri
septem« von und Georg Hoefnagels Miniaturaquarelle für Rudolf II. Zur
gleichen Zeit, um , führte Roelandt
Savery vermutlich als erster Maler Insekten in die Stillebenmalerei ein. In niederländischen und deutschen Stillleben
des . Jahrhunderts von Jan Breughel
oder Georg Flegel kriechen dann Fliegen
schon in Scharen über Obst oder umschwärmen Motten und Schmetterlinge
als Vanitassymbole das Licht. Ebenfalls
bemerkenswert ist im . Jahrhundert
Jean Goedardts Buch »Metamorphosis
Mimikry wird in vielfältigen Bildideen,
aber auch in kunsttheoretischen Abhandlungen von André Breton oder
Roger Caillois umgesetzt und spiegelt
eine surrealistische Grundhaltung und
Bildstrategie.
Später im . Jahrhundert bauen Jean
Dubuffets und, auf ganz andere Art, Damien Hirsts Arrangements mit Schmetterlingsflügeln auf die Wirkungsmacht
der schillernden Farbigkeit und auf die
Assoziationen zu Lebensfülle, aber auch
Fragilität und Vergänglichkeit alles Organischen.
In der Gegenwartskunst werden
Insekten nicht mehr nur als Material,
Motiv oder Medium verstanden, sondern zunehmend auch als Mitarbeiter in
künstlerischen Prozessen. Steven Kutcher etwa nutzt Käfer als lebende Pinsel, indem er deren Füße in Farbe taucht
und sie dann über die Leinwand schickt.
Auch Honigbienen sind durch ihre Produktion hexogonaler Wachswaben reizvolle Assistentinnen für menschliche
Bildhauerinnen wie Bärbel Rothhaar,
Hilary Berseth, Aganetha Dyck oder Ren
Ri, die alle selbst Bienenvölker halten.
allem die Schmetterlinge, die Kristina
Buch als Teilnehmerin der documenta
für ihre Installation »The Lover« in
ihrem Atelier gezüchtet hat, um sie dann
in einem eigens angelegten Hochbeet
auszusetzen: Obwohl als lebendige Ausstellungsstücke konzipiert, konnten die
freigelassenen Tiere aktiv ihrer künstlerischen Rahmung entfliehen. Künstlerische Arbeiten können auch Empathie
mit Insekten hervorrufen: Das gelingt
Chen Sheinberg mit seinem Kurzfilm
»Convulsion«, , eines auf dem Rücken liegenden, »schreienden« Käfers,
der Mitleid erregt.
Der Fokus in der Wahrnehmung von
Insekten hat sich also heute verschoben. Mit Hilfe künstlerischer Mittel wird
deutlich, wie alles Leben Teil eines miteinander verbundenen ausbalancierten
Systems ist. Insekten stehen heute vor
allem für die Fragilität, die Komplexität, das Verwobensein und den Wert des
Lebens.
Jessica Ullrich ist Vertretungsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik
an der Kunstakademie Münster
INSEKTEN & KULTUR 23
FOTOS: OLAF ZIMMERMANN
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Gemeine Wespe (Vespula vulgaris)
Von Schmetterlingen und Libellen
Insekten im Jugendstil
ANNA GROSSKOPF
I
n seinem veröffentlichten
Gedicht »Mittag« besingt Rainer Maria Rilke die »schillernde,
schnelle Libelle« und macht das
Insekt zum Träger einer symbolistischen Naturempfindung: »Wie über
dem blauen Waldsee schwer | Hinlastet
schwärmendes Schweigen. | Ein Raunen,
ein heimliches, zittert noch her | Von
blütenbezwungenen Zweigen.« Man
glaubt bei diesen Worten förmlich in
die lyrische Traumwelt des Jugendstils
einzutauchen, in der jedem Detail eine
eigene, tiefere Bedeutung zukommt.
Der Jugendstil gilt gemeinhin als floraler Stil, doch auch die Fauna fand in
der schönlinigen Kunst um weithin Beachtung. Tiere wurde aufgrund
ihrer dekorativen Wirkung geschätzt
– wie der Pfau mit seinem prächtigen
Federkleid und der Schwan mit seinem
elegant gebogenen Hals – oder aufgrund
der Symbolik, die sie transportierten. Im
Zuge eines neuen Naturverständnisses
widmete sich die Kunst auch unscheinbaren, bislang wenig beachteten Arten,
insbesondere Insekten, die sich naturgemäß gut mit Pflanzendarstellungen
kombinieren ließen. Käfer, Heuschrecken und sogar Spinnen, auf taubedeckten Blüten und zart gebeugten Halmen,
bevölkern so manche kostbare Vase und
so manches zierliche Teeservice. Gerade
die intime Nahsicht auf ein verborgenes,
eigentlich unspektakuläres Stück Natur
macht den besonderen Reiz dieser Stücke aus. Nicht das Majestätische und
Erhabene, sondern die Welt im Kleinen
wird so ganz beiläufig in die künstlerisch gestaltete Wohnung gebracht.
Eine wichtige Anregung für Insektendarstellungen im Jugendstil bot die
japanische Kunst, die Insekten und
Kleintieren, ja generell dem Naturdetail im Gegensatz zur weiten Landschaft,
schon immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Japanisches
Kunsthandwerk, Farbholzschnitte und
insbesondere die Manga des Katsushika Hokusai waren um in Europa
weit verbreitet und wurden im Zuge des
Japonismus von Künstlern und Gestalterinnen breit rezipiert. Weitere Impulse
lieferten die Naturwissenschaften: Ernst
Haeckels berühmtes zoologisches Bildkompendium »Kunstformen der Natur«
(–) enthielt neben Medusen,
Krebsen und Radiolarien auch Arachnida, Spinnentiere, deren eigentümliche
Ästhetik so zum Vorbild mannigfaltiger
dekorativer Gestaltungen wurde. Die
Ornamentalisierung des symmetrischen Insektenkörpers führte Maurice
Pillard Verneuil in seinem hinreißenden
Mappenwerk »L’animal dans la décoration« von eindringlich vor. Und
selbst materialiter waren Insekten für
die Kunst von Interesse: Der metallisch
schimmernde Chitinpanzer mancher
Käferarten inspirierte irisierende Gläser und Keramikglasuren, etwa in den
böhmischen Amphora-Werken, und in
dekorativen Oberflächengestaltungen,
etwa auf Tischplatten oder Tabletts
kamen mitunter sogar echte Schmetterlingsflügel zum Einsatz.
Zwei Spezies aus dem großen Insektenreich lassen sich mit einigem Recht
als Wappentiere des Jugendstils bezeichnen: Der Schmetterling und die Libelle, deren motivische und ornamentale
Verwendung in nahezu allen Bereichen
der dekorativen Kunst beinahe endlos
variiert wird.
Der Schmetterling war ein Lieblingsmotiv der École de Nancy, insbesondere Émile Gallés, der ihn sowohl in der
Glaskunst als auch als Marketerie auf
seinen Möbelentwürfen häufig darstellte.
Nicht nur die filigrane, schillernde Erscheinung dieses Tieres entspricht dem
Geist des Jugendstils, sondern auch seine weitreichende Symbolik, die schnell
in den Bereich des Märchenhaften und
Unergründlichen führt. Als Symbol der
Seele erscheint der Schmetterling sowohl in der abendländischen Antike als
auch in der Kunst des Fernen Ostens –
eine Vorstellung, die der Symbolismus
nur zu gern adaptierte und die auch im
Jugendstil ein lebhaftes Echo fand. Der
kurzlebige, fragile Schmetterling verweist auf die Schönheit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz und wird
gern von Sentenzen begleitet, so etwa
auf einer Tischplatte von Émile Gallé:
»Beati mites quoniam ipsi possidebunt
terram.« (Selig sind die Sanftmütigen,
denn sie werden das Erdreich besitzen.)
Die Libelle gehört zu den räuberischen Insekten und folgt dementsprechend einer anderen Symbolik. Hier ist
es der Kontrast zwischen dem schlanken, zerbrechlich wirkenden Körper mit
schimmernden durchscheinenden Flügeln und einer als grausam empfundenen Jagdpraxis, bei der das Beuteinsekt
buchstäblich in der Luft zerrissen wird.
Als am Wasser lebendes Insekt gehört
die Libelle in den Motivkreis der vom
Jugendstil gleichermaßen geliebten
Seerosen und Wasserlilien. Sie ist ein
häufiges Motiv der Schmuckkunst, etwa
von René Lalique, der für ihre netzartigen Flügel eine besonders anspruchs-
volle Emailtechnik verwandte. Die Fähigkeit der Libellen, mit ihrem Körper
einen Halbkreis zu bilden, machte sich
außerdem die Gefäßkunst zunutze. So
bilden plastisch ausgeformte Libellen
die Henkel in Alf Wallanders berühmtem Libellenservice für die schwedische
Porzellanfabrik Rörstrand.
Schmetterling und Libelle wurden
in der Kunst um gleichermaßen
mit populären Klischeebildern des
Weiblichen assoziiert, so dass eine
Vielzahl von Mischwesen aus Frau und
Insekt den Bildkosmos des Jugendstils
bevölkert. Dabei verkörpern die beiden Tiere verschiedene, ja sogar antagonistische Frauentypen des Fin de
Siècle: Der zarte Schmetterling steht
für die Zerbrechlichkeit der »Femme
fragile«, der Giacomo Puccini mit seiner
Oper »Madame Butterfly« ein musika-
lisches Denkmal gesetzt hat. Wie der
Schmetterling ist die »Femme fragile«
ätherisch und flüchtig, für den Mann
nicht greifbar, und kann nur um den
Preis ihres Todes dauerhaft in Besitz
genommen werden. Ganz anders die
»femme fatale«, deren Schönheit selbst
todbringend ist. Die vermeintliche Bedrohung, die von ihrer promiskuitiven
Sexualität ausgeht, wird im Bild der
räuberischen Libelle gebannt. So kombiniert Laliques »femme libellule« die
zerbrechliche Schönheit einer jungen
Frau mit den krallenbewehrten Klauen eines Raubtiers zu einem rätselhaft
ambivalenten Fabelwesen.
Anna Grosskopf ist Kuratorin und
stellvertretende Direktorin am BröhanMuseum, Landesmuseum für Jugendstil,
Art Deco und Funktionalismus in Berlin
AUSGEWÄHLTE INSEKTENSAMMLUNGEN
Museum für Naturkunde Berlin
Seitdem das Museum für Naturkunde
seine erste große Insektensammlung
im Jahr erhielt, sind die Sammlungen auf über Millionen Käfer,
Millionen Schmetterlinge, Millionen
Bienen und Wespen und eine Vielzahl
weiterer Insekten angewachsen.
Mehr unter: museumfuernaturkunde.
berlin
von Theodor Schneid (-).
Schneid besammelte zwischen bis
ca. in einem Umkreis von ca.
km um Bamberg. Vor allem die Hautflügler hat er an zahlreichen Standorten gründlich erfasst.
Mehr unter: naturkundemuseum-bamberg.de
Sammlungen Bayerns (SNSB). Die entomologische Sektion umfasst: Coleoptera, Diptera, Hemiptera, Hymenoptera, Lepidoptera und Insecta varia.
Mehr unter: zsm.mwn.de
Zoologische Forschungsmuseum
Alexander Koenig
Das Zoologische Forschungsmuseum
Naturkundemuseum Karlsruhe
Alexander Koenig verfügt über umDie Gesamtzahl der präparierten In- fangreiche entomologische SammMuseum Natur und Mensch
sekten des SMNK umfasst derzeit etwa lungen – darunter zu Libellen, zu
Freiburg
Millionen, die in über . Insek- Zweifüglern wie Fliegen, zu Käfern,
Die Entomologische Sammlung be- tenkästen untergebracht sind. Dazu zu Schmetterlingen und zu Tausendherbergt ca. . Insektenkästen: kommt von einigen Gruppen umfang- füßern.
farbenprächtige Schmetterlinge vom reiches Alkoholmaterial, so z. B. von Mehr unter: https://www.zfmk.de/de/
Kaiserstuhl, schillernde und bizarre Springschwänzen. Der Schwerpunkt forschung/sammlungen
Käfer, filigrane Libellen dicht nebenei- der Sammlung liegt bei den Schmetnander. Ein großer Teil der Sammlung terlingen, die mit ca. . Millionen Naturkundemuseum Stuttgart
ist während der ersten Hälfte des . Exemplaren vertreten sind.
Die entomologische Sammlung ist mit
Jahrhunderts durch Hugo Ficke und Mehr unter: smnk.de
mehr als , Millionen Objekten aus
Konrad Guenther an das Haus überaller Welt die umfangreichste Sammtragen worden.
SNSB-Zoologische Staatssammlung des Museums. Die TrockensammMehr unter: freiburg.de
lung München
lung enthält in . Kästen ungeDie ZSM ist, mit fast Millionen zoo- fähr , Millionen präparierte und
Naturkunde-Museum Bamberg
logischen Objekten, eine der größten etikettierte Insekten. Hinzu kommt
Vorhanden sind knapp . Belege, naturkundlichen Forschungssamm- Alkoholmaterial.
verteilt auf alle Insektenordnungen. lungen der Welt und gehört zu den Mehr unter:
Am bedeutendsten ist die Sammlung Staatlichen Naturwissenschaftlichen naturkundemuseum-bw.de
24 INSEKTEN & KULTUR
www.politikundkultur.net
Insect Concerto
Mit Musik gegen das Insektensterben
»Singende« Grillen, Zirpen im
/-Takt – Komponisten der zentralen Motive im »Insect Concerto« sind die Insekten selbst.
Sandra Winzer spricht mit dem
Komponisten und Dirigenten
Gregor Amadeus Mayrhofer darüber, was klassische Musik und
Insekten vereint, und wie sein
»Insect Concerto« an die wichtige Rolle der Insekten erinnert.
Ein spannender Prozess ...
Ja, meine Ohren haben sich in
dem Prozess komplett geöffnet. Man denkt: »Eine Grille
klingt wie eine Grille«. Als ich
anfing, mich in diese Klangbibliotheken einzuhören und der
Natur zuzuhören, fiel mir erst
auf, wie unterschiedlich und
schön die Klänge eigentlich
sind. Im »Insect Concerto«
gibt es drei Hauptklänge. Die
»singende« Grille, die zirpt.
Dann gibt es Grillen, die
klingen, als hätten sie einen
Schaden, sie klingen eher wie
ein Zischen. Und dann gibt es
eine Grille, die im /-Takt
zirpt. Wahrscheinlich eine
auf der natürlichen Balance,
die auch mit den Insekten zu
tun hat. Wenn wir hier auf Risiko spielen und nur Profite im
Blick haben, ist das gefährlich.
Gleichzeitig muss man sich in
einem solchen Stück auch fragen: Wie apokalyptisch muss
es sein? Ich habe versucht,
immer wieder eine schillernde
Mitte zu finden. Trotzdem
wollte ich deutlich machen,
dass das Insect Concerto nicht
nur eine heitere Zusammenkunft ist, sondern einen bedrohlichen Hintergrund hat.
Das Insektensterben. Sie
wollen also zeigen: Diese
wunderschöne akustische
Kraft der Insekten könnte
aus unseren Wiesen und
Wäldern verschwinden ...
Genau. Das Konzert soll aber
eher die Faszination in den
Vordergrund rücken, nicht die
Apokalypse. Ich glaube daran,
dass Menschen sich durch
markantesten. Aber ich möchte bewusst mit dem Namen
»Insect Concerto« auf alle
Insekten hinweisen. Im Stück
sind z. B. auch Ameisen versteckt. Aufnahmen, bei denen
Forscher mit Mikrofonen ganz
nah Ameisen aufgenommen
und verstärkt haben: irrsinnig
spannende Geräusche, die an
elektronische Musik erinnern.
Und der Mittelteil ist stark von
der Bewegungsart einer Libelle
inspiriert. Libellen mit ihrem
schönen schillernden Körper
bewegen sich sehr schnell –
halten dann aber plötzlich
inne. Das habe ich akustisch
eingebunden.
Heißt: An der Oberfläche des
Konzerts hören wir vor allem
die Grillen. Inspiriert aber ist
es von vielen verschiedenen
Insekten und der Philosophie
ihres Lebens. Das Flirrende,
Überflutende spiegelt sich in
den dichten Klangtexturen in
dem Stück wider.
weggeworfene Produkte musikalisch aufwerten und dadurch
neue Klänge finden?
Welcher Müll musiziert in
Ihrem Konzert?
Wir haben z. B. alte Plastikflaschen durch ein Ventil im
Deckel mit Luftdruck gestimmt
und so ein Melodieinstrument daraus gemacht. Aus
Blumentöpfen und mit Wasser
gefüllten Glasflaschen wurde
ein Vibraphon, und es gibt Instrumente aus verbrauchten
Kaffeekapseln, Kronkorken,
Metallschrott... Auch normale
Plastikfolien nutzen wir rhythmisch.
Mit Vivi Vassileva, der Solistin,
die am . Juni die Uraufführung in Ludwigshafen spielen
wird, habe ich viel ausprobiert.
Fast ein Jahr lang schickten wir
uns wöchentlich Videos zu, in
denen wir auf Dingen klopfen
oder mit den Fingern darauf
entlangfahren und entdecken,
für das Konzert verwenden.
Einige Instrumente mussten
wir für das Konzert speziell
präparieren. Es gibt aber auch
Stellen, an denen freisteht,
welche Müll-Instrumente man
zur Hand nimmt, an denen der
»lokale« Müll erklingen kann.
Mit welchem Gefühl sollen
die Besucherinnen und Besucher aus Ihren Konzerten
gehen?
Ich möchte Menschen dazu
inspirieren, neue Lösungen
im Alltag zu finden. Ich kann
zwar nicht die Verantwortung
übernehmen, dass ein großer
Chemiekonzern etwas ändert,
wie etwa die Politik es könnte.
Aber ich kann aufzeigen: Es
gibt viel mehr Möglichkeiten,
als unsere Bequemlichkeit es
uns oft versucht weiszumachen.
Ich möchte Menschen dazu
inspirieren weiterzusuchen.
Viele phänomenale bildende
Künstlerinnen und Künstler
FOTOS: OLAF ZIMMERMANN
Sandra Winzer: Herr Mayrhofer, klassische Musik und
Insekten – was haben diese
beiden Sphären miteinander
zu tun?
Gregor Amadeus Mayrhofer:
Sie sind lebendig. In beiden
Bereichen gibt es eine unendliche Vielfalt an Strukturen und
Philosophien – und eine Vielfalt an Schönheit. Was mich
reizt, ist: zwei Themen zusammenzubringen, von denen man
zunächst denkt, dass sie total
gegensätzlich sind.
Und diese Gegensätzlichkeit in
sikalischer Dialog wird. Ich
wollte nicht nur ein Stück mit
Insektenklängen schreiben,
oder eines, wie man es in der
Klassik erwarten würde, voller Harmonien und Melodien.
Sondern eines, das diese beiden Welten zusammenbringt.
Rote Waldameise (Formica rufa)
der Musik auszukomponieren.
Gegenpole sind oft erst das
Potenzial für den Raum dazwischen. Daraus kann man dann
einen Dialog und Kreativität
werden lassen.
In meiner Komposition haben
klassische Musik und Insekten
vor allem den Klang gemeinsam.
Wie sind Sie beim Komponieren vorgegangen?
Ich wollte, dass die Insekten
zunächst mit ihren ureigenen
Lauten vorhanden sind. Wir
nahmen aufgenommene Laute
von einer Insektenforscherin.
Dann habe ich geschaut: Wie
kann ich die Geräusche imitieren und dem am Ende auch
etwas entgegensetzen, sodass
ein Spannungsfeld entsteht,
aus dem ein fruchtbarer mu-
lateinamerikanische Grille mit Faszination stärker als durch
Rhythmusgefühl. Das wurde
einen drohenden apokalyptider Grundrhythmus des Stücks, schen Zustand bewegen lassen.
das Hauptmotiv. Die »KomViele Menschen aber haben
ponistinnen« und »Kompomir rückgemeldet, dass sie der
nisten« der zentralen Motive
Natur ganz anders zuhören,
waren tatsächlich die Insekten seit sie mein Konzert gehört
selbst.
haben. Sie gehen plötzlich
über eine Wiese und hören den
Zu Beginn des Konzerts
Insekten bewusst zu. Nehmen
nehme ich eine sehr harwahr, was fehlen würde, wenn
monische akustische Krabes nicht mehr da wäre. Das ist
belei wahr; einen inneren
mein Ziel.
Dschungel, der mich umgibt.
Bereits ab Minute drei aber
Die »akustische Heldin« in
werden die Klänge unruhigIhrem Konzert ist die Grille,
bedrohlich. Ist das bewusst
sie sticht besonders herso gesetzt ...?
aus. Haben Sie sich bewusst
Ja. Das Thema »Insekten« ist
gegen andere Insekten entextrem dringend. Vielen Polischieden?
tikerinnen und Politikern ist
Im Gegenteil. Ursprünglich
noch nicht bewusst, wie nah
hieß das Konzert »Cricket
wir am Abgrund stehen. Unser
Concerto«, also Grillenkonzert.
Leben als Spezies Mensch fußt Natürlich sind die Grillen am
Sie können aber nicht nur
Insekten klassisch-musikalisch umsetzen. Ihre neueste
Komposition ist das »Recycling Concerto«. Auch damit
unterstützen Sie einen guten
Zweck für unseren Planeten.
Wer sind hier die Solisten?
Wenn man so will, ist das solistische Subjekt der Müll – das
Recyceln. Auch hier wollte ich
zwei Elemente zusammenbringen, die erst einmal gar
nicht zusammengehören. Die
Klassik auf der einen Seite – sie
wird meist als Hochglanzkultur
wahrgenommen. Auf der anderen Seite steht der Müll – das
genaue Gegenteil. Das Besondere in diesem Konzert ist: Die
Instrumente der PercussionSolistin haben wir alle aus recyceltem Müll gebaut. Wir haben
uns gefragt: Wie können wir
wie spannend so mancher vermeintliche »Müll« klingen kann.
Wir haben Weggeworfenes auf
seine Musikalität hin getestet
und daraus etwas gebaut.
Eine weitere Idee für Ihre
Konzerte ist es, den Müll der
Stadt, in der Sie spielen, in
das Konzert einzubinden.
Wie wird das aussehen?
Wir als Künstlerinnen und
Künstler können Faszination
herstellen und dadurch hoffentlich Menschen dazu inspirieren, etwas zu verändern. Wir
dachten: Wir können in (Musik-)Schulen gehen, eine MüllSammel-Aktion starten in dem
Ort, in dem wir spielen, und
zeigen, wie man aus Müll Instrumente baut. Einen Teil dieser
»Recycling-Instrumente« kann
man am Ende auch tatsächlich
schaffen aus Müllmaterial eine
ganz neue Ästhetik. Das mit
der Musik zu schaffen war mein
Versuch. Ich hoffe, dass die
Botschaft bei vielen Menschen
ankommt und ebenso viel Kreativität auslösen wird.
Das ist Ihnen gelungen, Herr
Mayrhofer. Sie zeigen, dass
klassische Musik dazu dienen kann, auf die bewegenden aktuellen Themen unseres Planeten aufmerksam zu
machen. Vielen Dank.
Gregor Amadeus Mayrhofer
ist Komponist, Dirigent und
Pianist. Sandra Winzer ist ARDJournalistin beim Hessischen
Rundfunk
Mehr unter:
gregor-a-mayrhofer.com
INSEKTEN & KULTUR 25
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Die Darstellung von Insekten in Computerspielen
THOMAS HAWRANKE
E
s ist : Uhr. Ich befinde mich
auf der südlichen Halbkugel, auf
meiner Insel im Nirgendwo. Die
Sonne steht bereits tief über dem Horizont. Eine Wanderheuschrecke hüpft
über einen Stein, rechts davon flattert
ein Himmelsfalter über die Wipfel der
Bäume. Ich schlage mit meiner Schaufel auf den Stein und hervor kommt ein
Hundertfüßer. Er bewegt sich schnell
von mir weg. Geistesgegenwärtig fange ich ihn mit meinem Wackelkescher:
»Ein Hundertfüßer! Du hast deine Laufschuhe wohl nicht schnell genug angezogen!« steht auf dem Bildschirm.
Nicht zuletzt wegen der anhaltenden
Corona-Pandemie ist das verträumte
Gameplay des Konsolenspiels »Animal
Crossing: New Horizons«, , für viele
Menschen eine willkommene Abwechslung geworden. Als digitales Spielphänomen der Krise lässt es uns all die Dinge
zelebrieren, die temporär nicht möglich
sind – als E-Learning-Plattform lernen,
als Ausstellungsraum Kultur erfahren,
als Event-Location heiraten oder eben
als Spielumgebung den Alltag vergessen und sich in Freiheit üben. Neben der
Herstellung von immer neuen Gegenständen steht das Fangen, Kategorisieren und Ausstellen von Lebensformen
im Mittelpunkt der designten Handlungsmöglichkeiten. Neben Meerestieren und Fischarten existieren
Insektenarten, die es wegzusperren gilt.
Eugen, die anthropomorphisierte Eule,
leitet das örtliche Museum, übernimmt
für uns die Artenbestimmung und pflegt
sie in die Ausstellung ein. Den »Creepy
Crawlers« wird gleich ein ganzer Flügel
des Museums gewidmet.
Die inhärente Logik des Spiels folgt
dabei einer Hierarchisierung der Arten:
Zuoberst steht der Mensch als steuerbarer Avatar; darunter anthropomorphisierte Tiere wie Eugen, die als
Inselbewohnerinnen und -bewohner
unserer Einsamkeit entgegenwirken;
danach eine Vielzahl an naturalistischanmutenden Tieren, die der Welt Leben
einhauchen. Und zuunterst die Arten,
wie Fische, Meerestiere und Insekten,
die man sammeln kann.
Die Darstellung von Insekten in Computerspielen hat sich historisch entwickelt. Ihre Rolle als Teil eines funktionierenden Ökosystems und die damit
verbundene Betonung auf Varianz in
einem sich ständig anhaltenden Prozess
aus Transformation, Entwicklung und
Veränderung ist jedoch eine aktuellere
Tendenz. lässt die Firma Atari Inc.
den Hundertfüßer über die Bildschirme
der Spielhallen krabbeln. »Centipede«
ist ein sogenannter »Fixed Shooter«, bei
dem vom oberen Bildschirmrand das namensgebende Insekt in Schlangenlinien durch ein Labyrinth aus Pilzen nach
unten läuft. Am unteren Bildschirmrand
ist die von dem Spielenden kontrollierte
Figur des sogenannten »Bug-Blasters«
zu sehen, eine Waffe, mit deren Hilfe der
Hundertfüßer zerstört werden kann. Das
Problem: Wird der Hundertfüßer von
einem Schuss des Blasters getroffen,
so teilt er sich in zwei Teile und beide
Segmente existieren fortan autonom
voneinander. Zudem bewegen sich noch
andere Insekten wie Flöhe, Spinnen und
Skorpione über den Bildschirm und erschweren das Vorhaben des Spielenden,
den Hundertfüßer zu stoppen. Orientiert
sich das Szenario der »Centipede« an
filmischen Vorbildern wie »Tarantula«,
, »In der Gewalt der Riesenameisen«,
, oder »Starship Troopers«, , so
hebt das Handlungsdispositiv des Computerspiels die Eigenarten des Tieres
hervor: Der Hundertfüßer ist grantig,
schnell, unberechenbar. Er teilt sich, um
zu überleben. Und ist er schließlich besiegt, folgt der nächste nur Augenblicke
später am oberen Bildschirmrand – der
Tod als Teil eines unendlich-wirkenden
Kreislaufs des Lebensspiels.
Neben der Inszenierung als unberechenbare, riesige Monster und somit Gegner nutzen andere Games der
goldenen Ära der Spielhallenspiele
Insekten als Vehikel zum Eintauchen
in die vergrößerten Makrowelten des
Tierlichen. Hierbei werden erfolgreiche
Spielkonzepte mit der Darstellung von
Insekten weiterentwickelt: Flieht man
im Spielhallen-Klassiker »Pac Man«
als gelber Kreis mit Mund vor farbigen
Geistern, so spielt man ein Jahr später
in einem modifizierten Labyrinth als
Marienkäfer gegen acht unterschiedliche Insektenarten. Was Spiele wie »Lady
Bug und Dung Beatle« zudem einleiten,
ist die Verwandlung der Spielerin oder
des Spielers in ein Insekt. Werden Insekten als Feinde vergrößert, so werden
die Spielenden mit der Übernahme der
Kontrolle der Insekten verkleinert. Die
vertraute und vergrößerte Alltagswelt
wird zum Schauplatz des Abenteuers
und ersetzt die fantastisch-fiktiven Welten, die sonst so typisch sind für Computerspiele.
Die er Jahre werden bestimmt
von dieser wundersamen Neuskalierung. So erkundet man in kafkaesker
Manier als Kakerlake die heimische
Küche – »Bad Mojo«, –, oder als
Comic-Käfer mit Turnschuhen den riesenhaft-wirkenden Garten – »Bugdom«,
. Mit dem Aufkommen der ersten
dreidimensionalen Computerspiele wird
diese Makrowelt als Erfahrung noch
eindringlicher. kann man im Playstation Spiel »You, Spider: The Video
Game« als Spinne eine vollständig in D
generierte Welt bestaunen; fast zehn
Jahre später ist diese dreidimensionale
Welt in »Deadly Creatures« dann auch
frei erkundbar.
Neben der Rolle der Insekten als
Feind oder als Avatar zeichnet sich
in den er Jahren ein genereller
Trend im Bereich der Computerspiele
ab, in dem konsequenterweise auch
das Leben der Tiere miteinbezogen
wird: Simulationsspiele, die komplexe systemische Zusammenhänge als
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
Insekten spielen
Rote Waldameise (Formica rufa)
Spielerfahrung vermitteln. Exemplarisch hierfür ist die Sim-Reihe, die im
Jahr mit »Sim City« zunächst die
Stadtplanung als Spielkonzept etabliert. Darauf folgen mit »Sim
Earth« eine globalere Sicht auf die Erde
als Ökosystem und mit »Sim Ants«
der detaillierte Blick in eine Ameisenkolonie.
Steuert man noch einige Jahre zuvor
einzelne Insekten, so geht es bei diesen
sogenannten biologischen Simulationen um ökologische Zusammenhänge.
In »Sim Ants« beginnt man das Spiel
mit einer Arbeiter-Ameise und einer
Königin und versucht von diesem Ausgangspunkt aus, eine ganze Kolonie zu
entwickeln, die sowohl die rivalisierenden roten Ameisen als auch die Menschen von ihrem Territorium vertreiben
soll. Als eine von vielen Ameisen gilt es,
Pheromone zu verbreiten, das eigene
Tunnelsystem auszubauen, Nahrung in
den Bau zu bringen, Trophallaxis mit
anderen Mitgliedern der Gemeinschaft
zu betreiben und Gegnerinnen und Gegner anzugreifen. Durch FortpflanzungsMechanismen erhöht sich die Anzahl
der Mitglieder der eigenen Kolonie, wobei externe Ereignisse wie Regen, ein
Rasenmäher oder Stromschläge den
Dominanzabsichten des Spielenden
entgegenwirken.
Solche biologischen Simulationsspiele, die bereits seit Mitte der er
Jahre auf dem Markt sind, werden in
den ern zu einem Randphänomen.
Der dreidimensionale Raum erobert das
Computerspiel, mit nun vollkommen
navigierbaren Habitaten, die in spek-
takulärer Weise die Welt der Insekten
inszenieren. Die Idee von zusammenhängenden Ökosystemen lebt jedoch
im Genre der »Open World Spiele« wieder auf. Ähnlich wie im Eingangsbeispiel sind Tiere, Fische, Insekten und
Pflanzen hier Teil einer ornamentalen
Inszenierung von Natur: Zweige federn
im Wind, Rehe durchstreifen die Wälder
und über Steine krabbeln eine Vielzahl
von Ameisen, Käfern und anderen Insekten. Das Versprechen: Diese einzigartige
Welt lebt und sie ist es wert, entdeckt
zu werden.
Obwohl in Spielen wie »Grand Theft
Auto «, , und »Red Dead Redemption «, , tierliche Repräsentationen allgegenwertig sind, fristen
die Insekten ein Schattendasein. Demgegenüber belebt eine Vielzahl von
Insektenarten die Rollenspielwelt von
»The Elder Scrolls V: Skyrim«, : Hundertfüßer, Libellen, Motten, Bienen und
Schmetterlinge mischen sich hier mit
fantastischen Insektenarten und bilden
mit Tieren, Fischen und Pflanzen ein
lebendiges Habitat. Gleichzeitig sind die
Insekten Teil einer ausgefeilten Crafting-Mechanik, in der sie beispielsweise
gesammelt und als Zutat für bestimmte
Tränke genutzt werden.
Die komplexen Umgebungen der
»Open World« laden die Spielerinnen
und Spieler dazu ein, in ihr zu verweilen und dem Fortlauf des Lebens beizuwohnen. Fernab von den designten
Handlungen sind es die »natürlichen«
Phänomene, welche die Persistenz von
Welt an den Spielenden vermitteln: Wohin läuft der Hundertfüßer? Wie weit
springt der Grashüpfer? Und wann kriechen die Motten aus ihren Verstecken
hervor?
Zwischen den Wirren und Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges sind es
solche Beobachtungen, die das Denken
des französischen Philosophen Roger
Caillois maßgeblich prägen. Als kleiner Junge in der ländlichen Gemeinde
Vitry-le-Brûlé aufgewachsen und fernab
von Büchern, Bildern, Kinos und Fernsehern, sind es die Insekten, die Caillois
beobachtet, sammelt und kategorisiert:
hören, atmen und wittern als Modus
der Weltwahrnehmung. Die Dinge, die
Caillois aus der Studie der Insekten ableitet, beeinflussen seine Theorie des
Spiels maßgeblich. Den Mimetismus der
Insekten, also die Verkleidung (travesti), die Tarnung (camouflage) und die
Einschüchterung (intimidation) findet
Caillois in den Verhaltensweisen und
Haltungen der Menschen wieder. Dem
regelgebundenen Spiel der »ludus« stellt
Caillois das freie Spiel der »paidia« zur
Seite, welches er vor allem bei Kindern
und Tieren findet. Und wenn er seine
vielbeachteten Kategorien des Spiels
aufzeigt, so geschieht das immer in einer geistigen Nähe zu den beobachteten
Insekten und Tieren. Wenn wir also dem
Hundertfüßer in Animal Crossing zusehen oder den Flug des Blaufalters in
Skyrim verfolgen, so sind wir während
des Computerspielens ganz nah an dem,
was das Spielen an sich bedeutet.
Thomas Hawranke lehrt und forscht
im Bereich Transmedialer Raum der
Kunsthochschule für Medien Köln
Krabbeln auf dem Teller
Milliarden Menschen ernähren sich von Insekten
LUDWIG GREVEN
I
nsekten und Menschen leben
in enger Symbiose, seit es Menschen gibt. Etliche fliegende und
krabbelnde Kerbtiere ernähren
sich wie Maden und Würmer von
menschlichem Blut und Eiweißen und
ihren Lebensmitteln. Und von ihren
sterblichen Überresten. Umgekehrt
verzehren Menschen sie. Manchmal
unfreiwillig, wenn einem eine Fliege
in den Mund fliegt oder sie im Salat
landet. Mehr und mehr aber auch gezielt und ernährungsbewusst. Bereits
zwei Milliarden Menschen, vornehmlich in Asien und Afrika, dienen nach
Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO Insekten als Nahrungsquelle, vor allem wegen ihres
hohen Proteingehalts und aus Mangel
an anderen Nahrungsmitteln. Schon
bei den alten Griechen und Römern
reichte man fette Larven bei Festessen
als Delikatesse, Aristoteles soll Rezepte für die Zubereitung von Zikaden
hinterlassen haben. In Deutschland
und Frankreich wurden Maikäfer bis
ins . Jahrhundert verspeist.
Gehören geröstete Heuschrecken,
gegrillte Wespen und Würmer-Bur-
ger also auch hierzulande bald zum
Speiseplan einer innovationsfreudigen Nahrungsmittelindustrie, die ja
bereits Tofu-Burger und fleischlose
Würstchen anbietet, und von wagemutigen Verbrauchern? Können sie
gar das Welternährungsproblem lösen? Immerhin bieten Onlinehändler
und einige Supermärkte und Restaurants schon seit Jahren Heuschrecken,
Grillen und Buffalowürmer an, als
Snacks frittiert und gewürzt oder mit
Schokolade oder Honig überzogen. Für
Sportler sind Insekten-Proteinriegel
und -pulver ein heißer Tipp. Fleischproduzenten nutzen Würmermehl als
Futtermittel.
Rund . Insektenarten gelten
als essbar, vor allem Käfer, Raupen,
Bienen, Wespen, Ameisen, Heuschrecken, Grillen und Mehlwürmer. Man
muss sie nur mögen. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen freut
sich: Essbare Insekten seien »im
Landeanflug auf den deutschen Lebensmittelmarkt«. Die Krabbeltiere
punkteten neben den hohen Nährstoffen und einem reichen Angebot an
Omega--Fettsäuren, Vitaminen und
Mineralstoffen mit einer nachhaltigeren Produktion als Fleisch: Sie brau-
chen weniger Platz, Futter, Energie
und Wasser und verursachen weniger
Treibhausgas-Emissionen. Ihr essbarer Anteil ist zudem mit Prozent
doppelt so hoch wie beispielsweise
beim Rind.
Ein großes Hindernis steht dem
großen Krabbeln auf deutschen Tellern allerdings entgegen: Ekel bei vielen vor allem, was kreucht und fleucht.
Nicht nur bei Menschen mit Spinnenphobie oder solchen, die schon von
Küchenschaben, Lebensmittelmotten
oder Wespen auf dem sommerlichen
Pflaumenkuchen geplagt wurden. Von
Mücken und krankheitsübertragenden
Insekten nicht zu reden. Und es bleibt
dieselbe ethische Frage wie bei größeren Lebewesen: Auch das Gesummse
und Gewürm ist unverzichtbarer Teil
der Natur. Wenn das Insektensterben nicht noch verstärkt werden soll,
müssten sie in riesigen Massen gezüchtet und gemästet werden, nicht
anders als bei Schweinen, Rindern und
Hühnern. Mit wahrscheinlich allen
bekannten Folgen wie Hormon-, Antibiotika- und Chemikalien-Belastung.
Auch deshalb würde ein vermehrter
Verzehr von Insekten den Hunger in
der Welt nicht beseitigen. Denn Nah-
rungsmittel sind nach FAO-Angaben
im Prinzip genug da für alle neun
Milliarden Menschen. Nur können
sie sich viele aus Armut nicht leisten.
Vegetarisch, gar vegan ist das
Knabbern an Grillen oder Larven
jedenfalls nicht, auch wenn sich ein
Großteil der Insekten so ernährt. Außerdem können auch sie Krankheiten auf Menschen übertragen, wie
beim Coronavirus, auch wenn Biologen das Risiko dieser Zoonosen für
geringer halten als bei Säugetieren
oder Fledermäusen. Vorsorglich raten
die Verbraucherzentralen davon ab,
selbst gesammelte Insekten zu essen,
da sie als »Wildtiere« sich auch von
Abfällen ernähren oder von Parasiten befallen sein können. Ähnliches
gelte für Insekten aus dem Zoohandel.
Speiseinsekten, die im Lebensmittelhandel angeboten werden, stammten
ausschließlich aus kontrollierter Aufzucht. Verbraucher müssen also nicht
befürchten, wild gefangene Heuschrecken aus Afrika zu verspeisen, obwohl
sie dort im Überfluss als biblische Plage die Felder für Millionen Menschen
leer fressen.
Ludwig Greven ist freier Publizist
26 INSEKTEN & KULTUR
www.politikundkultur.net
Verwirklichter
Lebenstraum
Ein wunderbares Museum: der »Harmas« des Jean-Henri Fabre
Z
u besichtigen ist: ein verwirklichter Lebenstraum. Jahrelang hatte Jean-Henri Fabre
als nicht sonderlich gut bezahlter Lehrer gearbeitet, hatte etwa
auf Korsika, an der kaiserlichen Hochschule in Ajaccio, vier Jahre lang Physik
unterrichtet. Doch durch seine Bücher
hatte er sich einen Namen gemacht:
Durch großzügige Finanzhilfen machte
es der englische Philosoph und Sozialreformer John Stuart Mill möglich, dass
Fabre sich im südfranzösischen Orange
als freier Naturforscher niederlassen
konnte. Rund zehn Jahre blieb Fabre
dort – dann zog er um: ins Paradies.
Das war: ein großer, vielgestaltiger
Garten und ein Gutshaus, im provençalischen Stil gebaut. Jahre lang
hatte es leer gestanden, als Jean-Henri
Das Wohnhaus von
mediterranem Charme,
die Fassade in hellrosa,
dazu hellgrüne Fensterläden und der ewige
Gesang der Zikaden
Fabre es kaufte, der Garten verwildert – so bekam das Anwesen seinen
Namen: der »Harmas«, abgeleitet vom
Okzitanischen »ermàs« für »Brachland«.
Der es bezog, war inzwischen Jahre
alt – und verbrachte Jahre in seinem
»Harmas«, fernab von neugierigen Blicken war er täglich in seinem Garten,
um stundenlang Insekten, Gliedertiere,
Pflanzen zu beobachten und zu studieren, um sie zu beschreiben, zu zeichnen,
zu aquarellieren: der Naturforscher und
Entomologe Jean Henri Fabre, der »Homer der Insekten«.
Heute ist der »Harmas Jean-Henri
Fabre« ein Museum. Seit gehört
er zum Pariser Muséum National
d’Histoire Naturelle. wurde er in
die Reihe der »Monuments Historiques«
aufgenommen und steht damit unter
Denkmalschutz, bis wurde er vom
Staat aufwendig restauriert. kam
noch der Titel »Maison des Illustres«
hinzu, ein staatliches Label, verliehen
an Orte von besonderer Bedeutung für
die politische, soziale und kulturelle
Geschichte Frankreichs.
Gelegen im Örtchen Sérignan, Kilometer nordöstlich von Avignon, ist
dieser »Harmas Jean-Henri Fabre« ein
durch und durch friedlicher Ort: das
Wohnhaus von mediterranem Charme
und Charakter, die Fassade in hellrosa,
dazu hellgrüne Fensterläden und der
ewige Gesang der Zikaden. Hohe Platanen umstehen das Haus, der Garten ist
prachtvoll und drängt sich geradezu ans
Haus heran; etwa ein Hektar groß, wird
er eingefriedet von einer Steinmauer.
Allein im Ziergarten blühen rund
verschiedene Blumen, Sträucher,
mediterrane Gewächse, teilweise noch
von Jean-Henri Fabre selbst gepflanzt:
Rosen, Nelken, Lilien, spanischer
Ginster, russisches Geißblatt, Affodill
und Heiligenkraut, Lavendel, Disteln,
Flockenblumen, Tulpensorten, die
schon als ausgestorben galten, Steineichen, Erdbeerbäume, Rosmarinsträucher, Aleppo-Kiefern, Pistazien-, Feigen-,
Lorbeerbäume, zwei große Becken mit
Wasserpflanzen, ein Bambuswäldchen.
Im Mittelpunkt des Wohnhauses: das
Arbeitszimmer. Ein großer Raum, in der
Mitte ein Holztisch, mit Manuskripten,
Papierblättern und Zeichenfedern, Fabres Brille, an den Tisch gelehnt sein
Spazierstock. Hier hat Fabre geschrieben, umgeben von Glasschränken an
den Wänden, in denen er seine Sammlungen aufbewahrte und dabei ständig
vergrößerte. Zu sehen sind hier Fossilien und Mineralien, Reihen über Reihen
versteinerte Muscheln und Schnecken,
Bücher, Drucke, Manuskripte – an der
Wand gegenüber Reihen über Reihen
mit aufgespießten Käfern, Vogeleier in
Nestern oder auch in Watte gebettet,
unter und zwischen alledem immer
wieder kleine Zettelchen mit den jeweils lateinischen Namen: jedes ein-
zelne Stück von Fabre mit feiner Hand
beschriftet.
Auch einige Bildtafeln des Herbariums sind im Arbeitszimmer zu sehen.
Im Alter von Jahren hatte Fabre mit
dem Sammeln zumeist mediterraner
Pflanzen begonnen, zeitlebens tauschte er sich mit über einhundert anderen
Naturforschern und Botanikern aus,
als Bewohner seines »Harmas« streifte
Jean-Henri Fabre jahrzehntelang durch
die Landschaften seiner Umgebung. Ein
gigantisches Herbarium entstand so,
immer neue Pflanzen wurden täglich
gesammelt, getrocknet, konserviert und
katalogisiert, allein die MoospflanzenSammlung weist rund Exemplare
auf, in der Flechten- und Pilzsammlung wurden bei der Restaurierung der
Sammlung Arten unterschieden. Eine
einzigartige, leider auch empfindliche
Sammlung: Inzwischen wird das Herbarium in einem Raum aufbewahrt, dessen
Temperatur und Luftfeuchtigkeit ständig überprüft werden, in seiner Gesamtheit ist es nur noch Forschern zugängig.
Dafür entschädigt wird der Besucher
in der Bibliothek. Jean-Henri Fabre war
ein sehr talentierter Aquarellmaler. Den
Pinsel sah er als »eine Abwechslung zur
alltäglichen Prosa« und malte also, was
sich in einem Herbarium nicht so gut
konservieren ließ: Pilze. Davon fand er
sehr viele in seinem Garten und malte
sie naturalistisch präzise, farbenprächtig und doch zart. solcher PilzAquarelle sind erhalten – und auch wer
da dachte, sich für derlei nie und nimmer interessieren zu können, wird als
Besucher im »Harmas« des Jean-Henri
Fabre eines Besseren belehrt.
Wer das Anwesen verlässt, schaut
unweigerlich genauer hin auf das, was
da so wächst und blüht und summt
und krabbelt. Die Gottesanbeterin, den
Feldskorpion und den Mistkäfer mochte
Fabre besonders gerne. Man fängt an,
nach dergleichen Ausschau zu halten.
Jürgen König ist seit . Juni
Kulturkorrespondent im Hauptstadtstudio des Deutschlandradios
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
JÜRGEN KÖNIG
Nervöses Hornissenbein (Vespa crabro)
Insekten in der Antike
Gleichsetzung von menschlicher und tierischer
Gemeinschaft
DOMINIK BERRENS
D
ie komplexen Gesellschaften
von Bienen, Wespen und Ameisen üben seit jeher eine große
Faszination auf Menschen aus. Diese
schlägt sich bis heute in zahlreichen
Darstellungen in Kunst und Literatur
nieder. Diese Tiere stellten früher wie
heute selbstverständlich auch einen
wichtigen ökonomischen Faktor dar.
Man denke nur an die Bienenprodukte
Honig und Wachs oder an die Wahrnehmung von Wespen und Ameisen als
potenzielle Frucht- und Kornschädlinge. Doch reicht die Bedeutung dieser
Tiere für die antiken Kulturen weit
über diese bloße ökonomische Seite
hinaus. Einflussreiche Beschreibungen
und Darstellungen finden sich daher
keineswegs nur in zoologischen oder
landwirtschaftlichen Fachbüchern,
sondern auch in poetischen und philosophischen Schriften, in Komödien, auf
Vasenmalereien, Skulpturen oder Münzen. Bereits in den frühesten Werken
der griechischen Literatur, den Epen
Homers und Hesiods, dienen diese Insekten in Gleichnissen der Illustration
und Deutung menschlichen Verhaltens
und menschlicher Gefühle.
Trotz aller offensichtlichen Unterschiede in Körperbau und Physiologie
sah man Bienen, Wespen und Ameisen insbesondere hinsichtlich ihrer
Lebensform als vergleichbar mit dem
Menschen an. In der »Tiergeschichte«
des Philosophen und Naturkundlers
Aristoteles bilden diese Insekten zusammen mit dem Menschen und dem
Kranich die Gruppe der sogenannten
»zoa politika«, der sozialen oder politischen Tiere. Gemäß Aristoteles’
Definition unterscheide sich diese
kleine Gruppe von anderen Tieren
dadurch, dass soziale Tiere nicht bloß
räumlich zusammenleben, sondern
eine echte Gemeinschaft mit einem
gemeinsamen Ziel bilden, zu dem alle
Mitglieder durch ihre Arbeit beitragen.
Diese Gleichsetzung von menschlicher
und tierischer Gemeinschaft zeigt ihren Einfluss noch heute, wenn wir wie
selbstverständlich von »staatenbildenden« Insekten mit »Königinnen« und
»Arbeiterinnen« sprechen. Die antike
Metaphorik war in diesem Punkt im
Übrigen noch reicher, da nicht nur
menschliche (Stadt-)Staaten, sondern
auch Häuser, Paläste und – speziell in
römischen Quellen – auch Heereslager
als Analogie für die Insektengesellschaften dienten.
Ein besonderes Staatsmodell verkörperten in der antiken Vorstellung
die Ameisen. Bei diesen Insekten ging
man gemeinhin davon aus, dass sie keine Anführer besäßen und somit »anarchische Tiere« seien. »Anarchisch«
ist nicht mit regellos und chaotisch
gleichzusetzen. Vielmehr bewunderte
man ihren dem Menschen weit überlegenen Gemeinsinn, der eine Ordnung
ganz ohne Herrscher ermögliche.
Das Bienennest wiederum betrachtete man ähnlich wie heute als
Monarchie. Ein wesentlicher Unterschied zwischen antiken und modernen Vorstellungen besteht jedoch in
der Zuschreibung des Geschlechts der
Bienenkönigin. Obwohl bereits Aristoteles Hinweise darauf hatte, dass die
Bienenkönigin die Eier legt, und man
die Wespenkönigin richtigerweise für
weiblich hielt, ging man in den antiken
Texten mit wenigen Ausnahmen von
einem Bienenkönig aus. Hierin zeigt
sich deutlich, wie Vorstellungen aus
der menschlichen Gesellschaft auf die
Tierwelt projiziert wurden. Doch auch
umgekehrt konnte die Monarchie im
Bienenstaat als Rechtfertigung dieser
angeblich naturgemäßen Herrschaftsform für den Menschen dienen. Der römische Philosoph Seneca empfahl gar
seinem Zögling, dem späteren Kaiser
Nero, den vermeintlich stachellosen
Bienenkönig als Beispiel eines milden
und guten Herrschers.
Die Unklarheit über das wahre Geschlecht der Bienenkönigin, die erst
im . Jahrhundert endgültig beseitigt
wurde, beruhte auch auf dem fehlenden Wissen über die Fortpflanzung von
Bienen. Weil man nie eine Paarung
beobachtet hatte und sich zudem die
Dreizahl der Formen – Arbeiterinnen,
Königinnen und Drohnen – nicht mit
einfacher sexueller Fortpflanzung
erklären konnte, nahm man vielfach
eine asexuelle Fortpflanzung bei Bienen an. Diese naturkundliche Theorie
beeinflusste wiederum die spätantike
christliche Symbolik, sah man in der
Biene doch ein ideales Vorbild für eine
Jungfrau und mehr noch einen Beleg
für die Möglichkeit der jungfräulichen
Empfängnis. Die wechselseitige Beeinflussung von Ansichten über mensch-
liche und tierische Welt ist also keineswegs auf den politischen Bereich
beschränkt.
Obwohl Bienen, Wespen und Ameisen in der Antike manch ähnliche Eigenschaft wie heute zugeschrieben
wurden, darunter beispielsweise Fleiß
und Gemeinsinn, aber auch Reizbarkeit
und Aggressivität, wirken andere antike Vorstellungen auf uns eher fremd.
Durch das moderne Wissen um Fortpflanzung und Geschlecht der Bienen
erscheinen sie uns wohl kaum mehr als
passender Vergleich für männlich konnotierte Gruppen und Personen oder
als Beleg für jungfräuliche Empfängnis
in der Tierwelt.
Diese Beispiele zeigen, dass naturkundliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Vorstellungen einander bedingen und gegenseitig durchdringen.
Die Betrachtung kulturell geprägter
Darstellungen und Beschreibungen von
Insekten verrät somit nicht nur etwas
über die Tiere, sondern stets auch etwas über die jeweilige Vorstellungswelt
der Menschen.
Dominik Berrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Innsbruck
INSEKTEN & KULTUR 27
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Wenn Insekten über Leichen gehen
Fliegen & Co. sind wichtige Zeugen bei Tötungsdelikten
MARCUS SCHWARZ
W
Tritt der Tod ein, so ist es für die klassische Rechtsmedizin bis zu Stunden möglich, anhand von Erscheinungen wie der Leichenstarre oder
der Totenflecke den Sterbezeitraum
einzugrenzen. Meistens gibt es aber,
beispielsweise durch sommerliche
Temperaturen, einen wesentlich kleineren Spielraum. Dann helfen die Insekten weiter. Kennt man die Art der
vor Ort gesicherten Fliegenmaden und
möglichst viele externe Faktoren, allem voran den Temperaturverlauf, so
ist es möglich, das Alter der Made festzustellen. Liegt die Leiche in einem für
Fliegen zugänglichen Bereich, so ist
davon auszugehen, dass diese unmittelbar nach dem Tod damit beginnen,
Eier auf die Leiche abzulegen. Kurze
Zeit später schlüpft eine kleine Made
aus dem Ei und beginnt mit dem Fraßprozess. Sie häutet sich zweimal, um
dann im dritten Larvenstadium vom
Leichnam abzuwandern und sich zu
verpuppen. In der Puppe findet die Metamorphose zur Fliege statt. Nach einiger Zeit schlüpft die ausgewachsene
Fliege und der Zyklus beginnt von vorn.
Sitzt man also im Sommer grillend auf
der Terrasse und eine kleine goldene
Fliege landet auf dem Steak, so muss
diese ihre »Jugend« auf toter eiweiß-
reicher Substanz verbracht haben. Sie
können an dieser Stelle ihrer Fantasie
freien Lauf lassen.
Aber nicht nur die reine Leichenliegezeit lässt sich anhand der Insekten bestimmen. Auch Intoxikationen können noch nach sehr langer
Zeit nachgewiesen werden. Während
Fliegen die ersten an der Leiche sind,
so sind bei Wohnungsleichen bis zur
kompletten Skelettierung Speckkäfer
meist die vorherrschenden Vertreter
der Insekten. Wenn also für die toxikologische Auswertung nichts mehr
zu holen ist, da Blut, Mageninhalt
und Urin längst verschwunden sind,
so nehmen die Tiere im Fraßprozess
noch Drogen, Medikamente, Abbauprodukte und Schwermetalle über den
Leichnam auf und sind weiterhin auswertbar. Auch Leichenverlagerungen
lassen sich nachweisen. Gibt es Diskrepanzen in der Artenzusammensetzung
oder Größenverteilung zum Fundort
oder der vorherrschenden Temperatur
muss eine Umlagerung, beispielsweise
zur Vertuschung einer Tat, in Betracht
gezogen werden. Hier spielte bei einem Doppeltötungsdelikt in Leipzig
ein Reisekoffer eine entscheidende
Rolle. Im Koffer fanden sich Maden,
welche sich an Flüssigkeitsresten lab-
ten. Mit diesen Tieren konnte der Zeitpunkt der Leichenverlagerung in einen
Baggersee nachgewiesen werden bzw.
wann der Koffer mit Leichenteilen in
Berührung kam. Auch Lebende werden
von Insekten nicht verschont. Gerade
pflegebedürftige Personen sind hin und
wieder von einer sogenannten Myiasis betroffen – also einer Besiedlung
von Windeln, Verbänden oder Wunden, beispielsweise an Gangränen oder
Druckgeschwüren. Hier kann mitunter
nachgewiesen werden, wie lange eine
Pflege ausgeblieben ist und ob es sich
dabei um einen juristisch relevanten
Zeitraum handelt.
Sehen Sie also das nächste Mal eine
golden oder blau schimmernde Fliege,
die Sie umkreist, verscheuchen Sie sie
nicht, denn sie könnte ein wichtiger
Zeuge sein.
Marcus Schwarz ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der
Universität Leipzig und als Sachverständiger für Forensische Entomologie
und Wundballistik tätig. Er ist Autor
des Buches »Wenn Insekten über Leichen gehen. Leipziger Entomologe auf
der Spur des Verbrechens«, Droemer
TB
FOTOS: OLAF ZIMMERMANN
ir alle müssen sterben.
Dies ist der unabänderliche Lauf der Dinge.
Im besten Fall sterben
wir hochbetagt, friedlich und glücklich, umringt von unseren Liebsten.
Aber nicht allen Menschen wird dieses
Schicksal zuteil. Eine kleine Gruppe
stirbt allein, vermutlich in sprichwörtlicher Todesangst und wird Opfer eines
Tötungsdeliktes. Werden diese Taten
nicht bemerkt, so ist man nach kurzer
Zeit nicht umringt von seinen Angehörigen, sondern von Fliegen, Käfern
und ihren Maden und Larven. Man wird
Teil des Ökosystems und es zeigt sich
die erbarmungslose Effizienz der Natur.
Nichts wird verschwendet.
Hierbei ist beispielsweise einem
Waldökosystem egal, welches Lebewesen das Zeitliche gesegnet hat. Wichtig ist, dass dort an diesem räumlich
sehr begrenzten Platz eine zeitlich
begrenzte Ressource liegt. Denn im
Vergleich zu Bäumen, die aufgrund
ihrer langkettigen Molekülstruktur
sehr lange, teilweise Jahrzehnte, für
den Zerfall benötigen, sind größere
Säugetiere nach wenigen Wochen
verschwunden. Die Ressource Aas lie-
fert für eine breite Palette an Tieren,
hauptsächlich Insekten und ihren Entwicklungsstufen, Futter und für eine
begrenzte Zeit auch Lebensraum und
Schutz. Schmeißfliegen und Aaskäfer,
Stutzkäfer und Kurzflügelkäfer, Käsefliegen und Buckelfliegen, Wespen
und Schmetterlinge, Speckkäfer und
Erdkäfer geben sich nach und nach
ihr Stelldichein auf dem toten Körper.
Einige der Insekten sind dabei so eng
mit der Futterressource Aas verbunden,
dass sie durch einen Konkurrenzdruck
und feinste Sinne dazu in der Lage sind,
den Tod auf Kilometer zu »riechen«.
Schmeißfliegen erscheinen Minuten
nach dem Ableben, teilweise sogar
schon im Sterbeprozess, und beginnen mit der Eiablage. An diesem Punkt
stehen sie im Fokus der forensischen
Entomologie. Der Entwicklungszyklus vieler aasbesiedelnder Tiere ist gut
erforscht und hauptsächlich von der
Lufttemperatur und der Luftfeuchtigkeit abhängig. Zudem spielen externe
Faktoren wie die Sonneneinstrahlung,
die Bodenbeschaffenheit und der Artenreichtum des gesamten Ökosystems
eine Rolle. Wohnungsleichen werden
durch den Beleuchtungszustand und
den Öffnungsgrad der Fenster beeinflusst.
Heuschreckensandwespe (Sphex funerarius) Nestbau, Flugverhalten, Eintragung von Laubheuschrecken ins Nest als Nahrungsproviant für den Nachwuchs
28 INSEKTEN & KULTUR
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
www.politikundkultur.net
Webspinne überwältigt Grabwespe
Von der Kunst, Gesellschaft zu gestalten
Formen des
Zusammenlebens
RICCARDA CAPPELLER
D
as Ameisennest, der Termitenhügel, ein Bienenstock
– sie sind Sinnbilder für das
Zusammenleben vieler Individuen
auf wenig Raum, das Funktionieren
von Kollektiven, von Systemen der
Arbeitsteilung, gemeinsamer Produktivität und Kreislaufwirtschaft. Auch
in ihren Kommunikationsformen wird
deutlich, dass Insekten zwar durchaus
im Alleingang agieren, die Resultate
ihrer Arbeit jedoch allgemein zugänglich machen und so zum Fortbestand
ihrer Staaten und dem dazu notwendigen Austausch beitragen. Ob das die
Ameisenstraße ist, die infolge eines
Nahrungsfunds durch abgesonderte
Duftstoffe entsteht, die Schwingungen und Klopfzeichen der Termiten, die
ihre Artgenossen vor dem nahenden
Feind warnen, oder der Tanz der Bienen, der – den Weg weisend – ebenfalls
zur Nahrungsbeschaffung beiträgt. Es
sind Handlungsformen, die in und aus
der Gemeinschaft entstehen. Insekten
lassen sich also, wie der Homo sapiens auch, als soziale Wesen bezeichnen,
die sich je nach Kultur, Sozialisierung
und standortbezogenen Faktoren unterscheiden. Sie stehen stets in Relation zu anderen, was sich sowohl in
der Struktur, der Funktionsweise und
Ordnung, aber auch der Gestaltung
der verschiedenen Habitate, den Lebensräumen dieser Gemeinschaften,
widerspiegelt – jenen bereits zu Anfang
genannten Sinnbildern, denen mit Be-
zug auf die Menschen noch der urbane
Raum hinzuzufügen ist. Das Urbane
meint durch Dichte, eine bestimmte
Lebenskultur und sozialräumliche
Strukturen charakterisierte Lebensräume; Orte in und außerhalb der
Metropolen, in denen ein Großteil der
menschlichen Bevölkerung lebt und die
Fragen von Solidarität, Gemeinschaft
und Austausch im Zusammenleben
überhaupt erst stellen. Während wir
Menschen auf der einen Seite Gesellschaft und Bestätigung suchen, fällt auf
der anderen ein starker Individualisierungsdrang auf, der mit dem Streben
nach Sicherheit, persönlichem Erfolg,
einer Einschätzbarkeit von Möglichkeiten zusammenhängt und das Verfolgen gemeinsame Grundziele, denen
die Vielfalt unserer Gesellschaft doch
eigentlich nur als Ressource dienen
kann, erschwert. Auch die weltweite
Vernetzung – digital und analog – und
die scheinbar immer komplexer werdenden Zusammenhänge führen an
manchen Stellen zu Verwirrung anstatt
zu jenem geschäftigen Treiben, das wir
bei den Insekten beobachten können.
Ob in den zirkulären Systemen der
Biologie, den soziologischen Beobachtungen zum öffentlichen Raum bei
Simmel, Lefebvre, Goffman, oder politischen Theorien von Arendt zu Freiheit,
Demokratie, oder dem Umgang mit Natur – den Menschen im Kosmos –, das
Miteinander der Menschen untereinander und ihr Handeln im sie umgebenden
Raum steht, besonders seit der Pandemie, wieder im Fokus. Zu bemerken
sind Veränderungen in der Art, wie wir
Zusammenleben denken, umsetzen und
formen, also die konkrete Gestaltung
von Räumen spontaner Begegnung, die
zwischen privatem und öffentlichem,
innen und außen, dem funktional und
flexibel ausgerichtetem, aber auch lokalen und globalen Themen vermitteln.
Die Konzeption und bauliche Umsetzung, eine ressourcenschonende Transformation von Bestandssituationen, die
Neu-Verortung und Verknüpfung, aber
vor allem eine soziale und kulturelle
Aktivierung sind Themen des Städtebaus und der Architektur, deren Disziplin im Zusammenhang mit interdisziplinären Arbeitsweisen kürzlich von
Ursula von der Leyen vorgestellten Initiative »New European Bauhaus« neue
Aufmerksamkeit bekommen hat. Als
Fragestellung ist dieses Handlungsfeld,
das zwischen Kreativität und strukturellen Überlegungen, der Theorie und
Praxis, abstrakten Vorstellungen und
dem Eröffnen von Alternativen liegt,
auch Thema der diesjährig doch noch
stattfindenden Architekturbiennale in
Venedig. »Wie werden wir zusammenleben?«, fragt Hashim Sarkis, der Kurator
und Dekan der School of Architecture
and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er bringt
dabei das breite Spektrum zwischen
temporär-performativen Interventionen, demokratisch-engagierten Konstellationen und nachhaltig-verdichtendem Bauen zusammen, die für unsere
Zukunft relevant sind. Hier ein Versuch,
die Möglichkeiten dieses Handlungsfelds exemplarisch mit aktuellen Projekten zu verknüpfen:
Es geht um praxisbezogene Lösungen, wie es die geplante Entwicklung
des Dragonerareals in Berlin verspricht,
die Partizipationsprozesse, Interessen
der verschiedenen Kooperationspartner, künstlerische Begleitung und die
architektonische bzw. städtebauliche
Perspektive auf das historische Kasernenareal in einem offenen Prozess vereint. Es geht um Zukunftsvisionen, wie
sie mit Bezug auf Frei Ottos »Denken
in Modellen« und der Design-Research
Praxis von Entwurfsstudios an den
Universitäten zu finden sind, oder mit
Bezug zum Ort und seinen Bewohnern
Schritt für Schritt realisiert werden, wie
Kollektivität und
Vielfalt ist Kooperation – eine Formel
für das Kreieren von
Lebensraum und
Perspektiven
mit den Autoren- und Designkollektiven Riminiprotokoll und Constructlab
gegen die Veralterung an und widmen
sich der Neu-Erzählung ihres Ortes.
Es geht also auch um das Leben selbst,
Engagement, Initiative, Ideenreichtum
und Optimismus, der besonders für vom
Strukturwandel betroffene Regionen,
wie die vom Kohleabbau geprägte Lausitz von Bedeutung sind. Das »Startup
Revier East« vernetzt hier Innovationstreiber, Personen aus der Wissenschaft,
Unternehmen und aktive Mitgestaltende und initiiert Formate wie den PitchSlam oder das StartupCamp Lausitz als
Ideenwerkstatt und Zukunftsschmiede.
Dass es bei den Katalysatoren dann wieder um die Verknüpfung zum Raum und
die Expertise im Umgang mit ihm geht,
liegt eigentlich auf der Hand.
Es sind Referenzen für positive
Entwicklungen, Realitäts-Experimente und die Teilhabe an Transformationsprozessen, in denen Kreativität
und Gestaltungswillen gebündelt wird.
Kollektivität und Vielfalt ist Kooperation – eine Formel für das Kreieren von
Lebensraum und Perspektiven, die auf
gesellschaftlichen Werten wie der Toleranz und Solidarität aufbauen. Es geht
um den gleichberechtigten Zugang zu
Ressourcen, Mobilität und Bildung sowie darum, die Vernetzung über Grenzen hinweg im Sinne der Gesellschaft
und einer nachhaltigen Dynamik neu zu
denken. Ein spannendes Zukunftsfeld!
bei dem Projekt »Granby Four Streets«
für welches das interdisziplinär arbeitende Kollektiv Assemble mit dem
Turner-Preis ausgezeichnet wurde. Es
geht um das »Wir«, bezogen auf Inklusion, Integration, Zusammenarbeit
und die Akteure, die mit Blick auf die
Gemeinschaft des jeweiligen Ortes Projekte initiieren. Interessant an dieser
Stelle ist das von der Kulturstiftung des
Bundes geförderte Modellprojekt »Neue
Auftraggeber«, bei dem Menschen, die
etwas verändern wollen, von ortskundigen Mediatoren begleitet und mit
Künstlern vernetzt werden, um dann
über Theater, Film, Literatur oder Design, Lösungen für Probleme vorrangig Riccarda Cappeller ist Architekturländlicher Regionen wie Schrumpfung journalistin mit Fokus auf Projekten
und Leerstand, fehlende Zentralität, mit sozialem Hintergrund und neuen
Arbeitslosigkeit oder mangelnde Bil- Nutzungsformen sowie wissenschaftlidungsangebote, zu entwickeln. Die Auf- che Mitarbeiterin an der Leibniz-Unitraggeber von Steinhöfel z. B., arbeiten versität Hannover
INSEKTEN & KULTUR 29
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
Bienen, Wespen und
Ameisen
Eine leidenschaftliche Naturgeschichte
MICHAEL OHL
W
Konfrontationen enden oft in schmerzhaften Stichen, was den irrigen Eindruck
vermittelt, die Wespen seien im Spätsommer besonders aggressiv.
Die sozialen Wespen spielen in den
Ökosystemen eine wichtige Rolle. Sie jagen große Mengen von Insekten als Nahrung für ihre Larven und tragen erheblich
zur Regulation des Naturhaushalts bei.
Da auch Schadinsekten gefangen werden,
profitiert auch die Landwirtschaft von
den Wespen. Hunderte von Blütenpflanzenarten werden auch oder vorwiegend
von Wespen bestäubt. In mindestens
Ländern in Ostasien, Afrika und Südamerika dienen Wespen in Form ihrer proteinreichen Larven oder Puppen als Nahrung
für den Menschen. Von ihren Giften und
auch von bestimmten Drüsensekreten ist
bekannt, dass sie antibiotische und andere,
potenziell pharmakologische Wirkungen
besitzen. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu finden derzeit statt.
Die sicherlich populärste Art der Aculeata ist die Honigbiene, deren Nester wahrscheinlich bereits seit rund . Jahren
vom Menschen genutzt und ausgebeutet
werden. Im . Jahrtausend vor Christus
haben die Ägypter bereits begonnen, Honigbienen gezielt zu halten. Die Honigbiene ist heute zu einem Symboltier des
Insektensterbens geworden, und die private Imkerei erlebt einen enormen Boom.
Viele Menschen halten Honigbienen aus
dem Glauben, damit der Natur etwas Gu-
rere Hundert Arten gibt, von den wenigen sozialen Arten, die individuenreiche
Staaten bauen. Soziale Arten, die einen
Staat zu verteidigen haben, besitzen dabei meist einen deutlich schmerzhafteren Stich als solitäre Arten. Besonders die
beiden häufigsten sozialen Wespenarten
überschwemmen mit ihren Arbeiterinnen
unsere Kulturlandschaft und Städte. Im
Spätsommer, wenn die Wespenstaaten
ihre maximale Größe erreichen, kommt
es häufiger als sonst zum Zusammentreffen zwischen Menschen und den auf der
Suche nach Zucker und anderen süßen,
kohlenhydratreichen Substanzen herumfliegenden Wespenarbeiterinnen. Solche
tes zu tun. Doch im Rahmen der aktuellen Debatte um den Erhalt der natürlichen
Biodiversität wird die Rolle der Honigbiene
zunehmend kontrovers gesehen. Die heute
weltweit in Kultur gehaltene Westliche
Honigbiene »Apis mellifera« ist durch einen züchterischen Selektionsprozess zu
einem sanftmütigen, fleißigen Nutztier
geworden. Die Honigbienenindustrie hat
dabei eine erhebliche Wirtschaftskraft.
Man schätzt, dass die weltweit Millionen Bienenstöcke . Tonnen Bienenwachs und , Millionen Tonnen Honig
produziert. Als Bestäuber von Nutzpflanzen haben Honigbienen ebenfalls eine
wichtige Funktion. Rund drei Viertel der
Der Stachel
der Bienen,
Wespen und
Ameisen ist
ihre wichtigste evolutive
Innovation
und einer der
Hauptfaktoren für ihren
evolutiven
Erfolg
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
ie nur wenige andere Organismen werden Wespen,
Bienen und Ameisen in
unserer Kultur mit bestimmten Bildern und Eigenschaften assoziiert. Die Wespen haben einen denkbar
schlechten Leumund und gelten als lästige,
aggressive Insekten, vor denen man sich
hüten muss. In Bienen, und allen voran
in der von uns kultivierten Honigbiene,
sehen wir fleißige, putzige Blumenliebhaberinnen, denen wir Honig und sommerliches Wohlbefinden verdanken. Ameisen
schließlich sind fleißige und unermüdliche
Arbeiter, die Blattläuse melken und vor
Feinden beschützen sowie Pilze kultivieren. Die Artenvielfalt von Wespen, Bienen
und Ameisen und ihren evolutiven Anpassungsstrategien aber ist komplexer und
vielfältiger, als es diese einfachen Bilder
suggerieren.
Bienen, Wespen und Ameisen sind Insekten, die auf den ersten Blick gar nicht
so viel miteinander zu tun haben. Sie alle
aber besitzen einen Beutefang- oder Verteidigungsstachel, der sich in der Evolution aus dem Eilegeapparat anderer Insekten entwickelt hat. Bienen, Wespen
und Ameisen gehören zu den Hautflüglern (Hymenoptera), zu denen auch die
Heerscharen parasitischer Wespen und
die urtümlichen Pflanzenwespen gehören.
Parasitische Wespen, wie die Schlupfwes-
Nest, in das sie ein Ei legt und mit artspezifischer Nahrung versorgt. Die Larven der
meisten Wespen werden mit Fleisch versorgt, während die Larven von Bienen und
manchen Ameisenarten Vegetarier sind.
Der Stachel als Verteidigungsinstrument ist der Grund dafür, dass wir als
Menschen Kontakte mit Bienen, Wespen
und Ameisen meist in langer und unangenehmer Erinnerung behalten. Das durch
den Stachel in den Angreifer injizierte Gift
ist ein komplexer Cocktail aus verschiedenen biochemisch wirksamen Substanzen
mit spezifischen Funktionen. Die Zusammensetzung des Giftes unterscheidet sich
zwischen den verschiedenen Arten teilweise gravierend, was auf unterschiedliche
Funktionen zurückzuführen ist. Einige
der enthaltenden Substanzen dienen dazu,
Schmerz zu erzeugen, andere wiederum
sind Gifte, die in höherer Konzentration
zu erheblichen gesundheitlichen Komplikationen und in seltenen Fällen sogar zum
Tod führen können.
Die einheimischen Wespen haben ein
schlechtes Image, besonders wegen ihres
gefürchteten Stichs. Das allgemeine Bild
von stechenden Wespen wird geprägt von
nur zwei extrem häufigen Arten, der Deutschen und der gemeinen Wespe, aber die
tatsächliche Vielfalt an Wespen auch in
Deutschland bleibt den meisten Menschen
verborgen. Unterscheiden muss man dabei
die solitären, also einzeln lebenden Arten,
von denen es selbst in Deutschland meh-
Fliegenpause
pen, besitzen zwar oft einen gut sichtbaren,
langen Stachel, der aber weiterhin der Eiablage dient und nicht als Verteidigungsstachel eingesetzt wird.
Der Stachel der Bienen, Wespen und
Ameisen ist ihre wichtigste evolutive Innovation und einer der Hauptfaktoren für
ihren evolutiven Erfolg. Rund . Arten
sind weltweit bereits entdeckt worden, und
viele Zehntausend warten wahrscheinlich
noch auf ihre Entdeckung. Unter der schon
bekannten Artenvielfalt finden sich rund
. Ameisen- und . Bienenarten.
Alle anderen sind Wespen. Die Mehrzahl
der Arten lebt nicht sozial, sondern solitär.
Bei ihnen baut das Weibchen allein ein
wichtigsten Nutzpflanzenarten benötigen in
unterschiedlichem Maße tierische Bestäuber.
Etwa Prozent von ihnen werden dabei von
Bienen besucht. Man schätzt, dass zwar nur
bis Prozent der weltweiten Nahrungsmittelproduktion direkt auf Bestäuberleistungen
zurückgehen, dass diese aber einem jährlichen
Wirtschaftswert von bis Milliarden USDollar entspricht. Die Produktion von insektenbestäubten Nutzpflanzen wie Kaffee, Kakao
und Mandeln sichern die Lebensgrundlage für
Millionen von Menschen.
Wissenschaftliche Studien zeigen aber, dass
die intensive Honigbienenbewirtschaftung zur
Biodiversitätskrise der natürlichen Vielfalt an
Bestäuberarten signifikant beitragen kann. Die
Honigbiene ist nur eine von rund . bekannten Bienenarten weltweit, von denen die
allermeisten solitär, also einzeln leben. Auch in
Deutschland gibt es rund Wildbienenarten,
die zu einem nicht unerheblichen Teil in ihrem
Bestand bedroht sind. Alle Bienenarten sind
Blütenbesucher und daher auch Blütenbestäuber. In Studien zeigt sich, dass Honigbienen
und Wildbienen unter bestimmten Bedingungen in Futterkonkurrenz um Pollen- und Nektarressourcen geraten und die Wildbienen von
den individuenreichen Honigbienen verdrängt
werden können. Die intensive Landwirtschaft,
zersiedelte Naturräume, Umweltgifte und
nicht zuletzt die Klimaerwärmung setzen der
gesamten Artenvielfalt zu, den Kulturhonigbienen wie den natürlichen Bestäubern. Als
Nutztiere aber werden die Honigbienen von
Imkern gepflegt und umsorgt, und auch wenn
in bestimmten Regionen der Erde die Bestände
an Honigbienen dramatische Einbrüche erlitten haben, stieg in den vergangenen Jahren
die Zahl der Völker der Westlichen Honigbiene
weltweit an. Die für ein nachhaltiges Funktionieren der Lebensräume so wichtige Vielfalt
der natürlichen Bestäuber dagegen ist akut
bedroht, und es steht zu befürchten, dass die
Honigbiene in bestimmten Regionen und unter bestimmten Bedingungen zum Rückgang
der natürlichen Bestäuber beiträgt. Besonders
in urbanen und landwirtschaftlich geprägten
Lebensräumen, in denen die natürliche Artenvielfalt von vornherein keinen leichten
Stand hat, können sich hohe Bestandsdichten
an Honigbienen negativ auf die Bestände der
natürlichen Insektenvielfalt auswirken.
Ameisen, deren rund . bekannte Arten
allesamt sozial leben (bis auf einige sozialparasitische Arten), spielen in der Natur eine
wichtige Rolle. Ökosystemdienstleistungen,
also Leistungen der Natur und der Artenvielfalt, von denen der Mensch unmittelbar oder
indirekt profitiert, sind dabei nur eine Seite der
Medaille. Auch im natürlichen Beziehungsgefüge der Natur hat die Vielzahl der Ameisen
und ebenso ihre schiere Biomasse eine wichtige Funktion. Ameisen sind beinahe in allen
Landlebensräumen der Erde in großer Zahl
vorhanden, und besonders tropische Habitate
werden von Ameisen mit ihren ungeheuren
Mengen an Arbeiterinnen dominiert. Man
schätzt, dass Ameisen in der obersten Kronenschicht des Amazonas-Regenwalds von
Peru rund Prozent der dort lebenden Insekten ausmachen. Das Gewicht aller Ameisen weltweit entspricht in etwa dem Gewicht
aller Menschen der Erde. Erst ihr Sozialleben
haben die Ameisen derart erfolgreich werden
lassen. Die Ameisen sind ein Lehrbuchbeispiel
in der Ökologie, da sie für die Stoffkreisläufe
der Landlebensräume der Erde von zentraler
Wichtigkeit sind.
Das Image der stechenden Wespen und Bienen ist von nur wenigen Arten geprägt. Ganz
im Vordergrund stehen dabei die Honigbiene
und die beiden häufigen sozialen Wespenarten, denen wir allzu positive oder negative
Eigenschaften zuschreiben. Die tatsächliche
Artenvielfalt und die vielfältigen Funktionen
von Bienen, Wespen und Ameisen werden so
überdeckt. Unser Bild der stechenden Hautflügler ist dabei, sich vor dem Hintergrund des
zunehmenden Wissens um ihre zentrale Rolle
in den weltweiten Ökosystemen und damit für
das Wohlergehen des Menschen zu ändern.
Michael Ohl ist wissenschaftlicher Leiter der
Hymenopteren-Sammlung am Museum für
Naturkunde Berlin (MfN) und hat das Zentrum
für Integrative Biodiversitätsentdeckung am
MfN mitgegründet. Er ist Autor des Buches
»Stachel und Staat – Eine leidenschaftliche
Naturgeschichte von Bienen, Wespen und
Ameisen«, Droemer Verlag
30 INSEKTEN & KULTUR
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
www.politikundkultur.net
Gemeine Pelzbiene (Anthophora plumipes) sitz im Bau
Systemrelevante
Schönheit und Vielfalt
Insektenschutz ist Teil der Gründungs-DNA des BUND
OLAF BANDT
O
b elegante Flieger wie Libellen und Schmetterlinge,
fleißige Bestäuber wie Bienen und Hummeln oder eher
unbequeme Mitbewohner wie Mücken
und Bremsen: Insekten sind ein essenzieller Teil der Natur, sie erhalten unsere
Ökosysteme und sie sichern uns unsere
Nahrung. Als Bestäuber von Nutz- und
Wildpflanzen erbringen sie enorme
Leistungen, die sich auch ökonomisch
messen lassen. So haben Bestäuber laut
Berechnungen der FAO eine weltweite
jährliche Wirtschaftsleistung von Milliarden Euro. In Deutschland erreicht der Nutzwert aller Bestäuberinsekten rund vier Milliarden Euro im Jahr.
Zudem sind Insekten für Hunderte
Arten, insbesondere Vögel und Klein-
tiere, eine unersetzbare Nahrungsgrundlage und haben in ihrem Rang
ganz unten in der Nahrungskette eine unschätzbar wichtige Rolle für
viele weitere Lebewesen. Auch als Verwerter von organischem Material auf
und im Boden sind Insekten unersetzlich.
Der BUND ist seit vielen Jahrzehnten zum Schutz von Insekten aktiv, mit
einem klaren Schwerpunkt auf den
Erhalt ihrer Lebensräume und dem
Ende ihrer Bedrohung durch Pestizide, Biotopzerstörung, Klimawandel
und Flächenversiegelung. Ob die Rettung von Streuobstwiesen, die Pflege
von Schutzgebieten oder die eigenen
Beiträge zur Umgestaltung der Landwirtschaft, von der jährlichen Kür des
»Schmetterlings des Jahres« und der
»Libelle des Jahres«: Insektenschutz ist
Teil der Gründungs-DNA der Verbandsarbeit auf allen Ebenen des Verbandes.
Mit der Aktion »Abenteuer Faltertage« bringt der BUND seit vielen
Jahren Artenkenntnis und Mitmachen
pro Naturschutz Menschen auch niedrigschwellig in Verbindung. Zahlreiche BUND-Gruppen engagieren sich
für den Schutz der Libellen und ihrer
Lebensräume. Sie renaturieren Bäche,
Auen oder Moore und setzen sich für
eine Verbesserung der Wassergüte ein.
Sie überzeugen Landwirte und Behörden, nicht bis an den Rand von Gewässern zu mähen. Oder sie werben dafür,
Gewässer nicht künstlich mit Fischen
zu besetzen. Und sie dokumentieren
vielerorts die Libellenfauna und geben
damit wichtige Hinweise auf die Entwicklung unserer Natur. Schon in den
er Jahren brachten mehrjährige
Kampagnen wie »Mehr Natur in Dorf
und Stadt« einen wesentlichen Beitrag
zum ersten Umdenken und zur Entwicklung der heutigen Naturgartenbewegung, die den Schutz von Schmetterlingen und Bienen in die Wohnzimmer
und Küchen brachte. Kleingärten und
Privatgärten und kommunale Grünflächen mit ihrer Biodiversität sind Teil
des deutschen Kulturerbes und haben
enormes Potenzial für Lebensräume
für Insekten, sofern sie pestizidfrei
und naturnah bewirtschaftet werden:
In Deutschland gibt es Millionen
Privat- und Kleingärten mit einer Gesamtfläche von . Hektar. Das
entspricht , Prozent der Gesamtfläche unseres Landes.
Seit hat der BUND e.V. die Arbeit zum Insektenschutz wesentlich
verstärkt, mit Informationskampagnen
zu Wildbienen und Bestäubern sowie
dem Nationalen Bienenaktionsplan. Dieser diente an vielen Stellen als
Blaupause für den später verabschiedeten Aktionsplan Insektenschutz der
Bundesregierung. Zeitgleich entstanden verstärkt zahlreiche Praxisprojekte zum Insektenschutz in den Landesverbänden. Zusammen bildet dieses
Engagement die Grundlage für die
zentralen Informations- und Politikkampagnen des Bundesverbandes zum
Insektenschutzgesetz und vor allem
der politischen »Insektenschutzwelle« der letzten zwei Jahre: In BadenWürttemberg, Bayern, Brandenburg,
Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen konnte der BUND mit Partnern
den Insektenschutz in den Mittelpunkt
der Volksbegehren und Initiativen zum
Naturschutz stellen, gerade weil über
mehrere Jahre Informations-, Bildungs-, praktischer Naturschutz und
Politikarbeit zusammenwirken. Auch
in Rheinland-Pfalz und Thüringen
engagiert sich der BUND erfolgreich
in zahlreichen Kooperationen und
politischen Aktivitäten, insbesondere für mehr Artenschutz in der Landwirtschaft. So konnte unter anderem
der Biotopverbund durch den Schutz
von Randstreifen gestärkt, mehr Förderprogramme für Naturschutz in
der Landwirtschaft geschaffen und
auch zukünftig mehr Betriebe beim
Artenschutz vor Ort beraten werden.
In diesen Tagen sollte der Deutsche
Bundestag nun hoffentlich ein ganzes
Gesetzespaket zum Schutz der Insekten beschließen.
Für den BUND sind mit der Frage
des Natur- und Insektenschutzes jedoch auch immer die wesentlichen Zukunftsfragen verbunden: Wie wollen
wir zukünftig leben? Wie sollen unsere
Nahrungsmittel wachsen, unsere Rohstoffe genutzt und Energie produziert
werden? Nicht von ungefähr ist eine
der ältesten Kulturarten des Menschen
ein Insekt, die Honigbiene, seit langer
Zeit das Symboltier für den Einsatz gegen die Verwendung von Pestiziden.
Auch der von BUND und Heinrich-BöllStiftung gemeinsam veröffentlichte
»Insektenatlas« setzt Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der
Landwirtschaft in diesen gesamtgesellschaftlichen Kontext einer sozialökologischen Transformation.
schutzmittel-Anwendungsverordnung
– aber nicht ansatzweise so effektiv
ausgefallen, wie es notwendig wäre,
um den Insektenschwund aufzuhalten.
Der Entwurf regelt nur einige wenige
Dinge, wie beispielsweise Einschränkung der Lichtverschmutzung sowie
den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Schutzgebieten. Eine allgemeine Reduktion dieser Gifte ist nicht
vorgesehen. Für einen wirksamen
Insektenschutz reicht das nicht, sondern kann höchstens ein Anfang sein.
Bei all diesen Punkten sollte im Laufe
der nächsten Legislaturperiode noch
nachgeschärft werden – vor allem
das Thema Pestizideinsatz außerhalb
von Schutzgebieten muss unbedingt
schärfer geregelt werden.
mer Dichter und Maler inspiriert:
Goethes »Gefunden«, sein »Heidenröslein« oder van Goghs »Sonnenblumen« hätte es ohne Insekten als
Bestäuber nie gegeben. Auch unsere
Küchenkultur wäre ohne die Leistung der Insekten deutlich ärmer:
Rund Prozent aller Nutzpflanzen
werden von Insekten bestäubt. Aber
auch die Insekten selbst, ihre höchst
unterschiedliche Gestalt, ihre Vielfalt an Farben und Lebensformen
inspirieren immer wieder zu Kunstwerken, Musikstücken und Literatur.
Denken Sie nur an Kafkas »Die Verwandlung«, den »Hummelflug« von
Rimski-Korsakow oder auch Kinderbuchklassiker wie »Die kleine Raupe
Nimmersatt« und »Biene Maja«. Die
Kunst hat also viele Möglichkeiten,
Insekten und ihre Lebenswelten zum
Thema zu machen und Menschen für
diese faszinierende Tiergruppe zu
begeistern.
Ja, Insekten sind
»systemrelevant«. Dies
scheint allerdings nur
ein Teil der Erfolgsgeschichte unseres
Engagements zu sein
All dies fußt beim BUND auf dem Engagement Zehntausender Menschen gerade auf der lokalen Ebene. Was treibt
uns dabei an – was gibt uns so viel Unterstützung in der Gesellschaft? Sicherlich die Bedeutung der Insekten für die
biologische Vielfalt und die Produktion
von Lebensmitteln. Ja, Insekten sind
»systemrelevant«. Mir scheint dies
allerdings nur ein Teil der Erfolgsgeschichte unseres Engagements zu sein.
Ganz wesentlich geht es auch um den
Erhalt und die Begeisterung für Schönheit und deren Vielfalt in der Natur. Die
ist nämlich ansteckend und inzwischen
zum breiten gesellschaftlichen Phänomen geworden. Dem können sich
weder Landwirtschaftsministerinnen
noch Bauernpräsidenten entziehen.
Wenn ich bei Exkursionen zu Insektenschutzprojekten in die Gesichter
der Menschen blicken, dann erkenne
ich die Faszination an den »sechs Beinen« und ihren schier unendlich vielen
Formen und Farben. Es geht auch ohne
Fachkenntnisse. Einfach mal länger
auf eine blühende Wiese schauen – es
könnte ein Blick auf eine Kulturrevolution im friedlichsten Sinne sein. Ich
spüre dann diese Chance in dem Miteinander von uns Menschen und den
Insekten: Wird aus der Bewegung der
»Schädlingsbekämpfer«, die inzwischen
ihre eigene Lebensgrundlage ausrotten könnten, ein neues Miteinander
in Schönheit und Sicherung unserer
Lebensgrundlagen?
Olaf Bandt ist Vorsitzender des Bund
für Umwelt und Naturschutz Deutschland
»Wir müssen dringend handeln«
Drei Fragen an NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger
Was tut der NABU für den Insektenschutz? Wie wird der Entwurf des Insektenschutzpaketes der Bunderegierung
beurteilt? Und welche kulturelle Bedeutung kommt Insekten zu? NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger antwortet.
Was tut der NABU für den Insektenschutz? Welche Projekte und
Initiativen gilt es besonders hervorzuheben?
In vielen Naturschutzgebieten sorgen
ehrenamtliche NABU-Gruppen durch
gezielte Pflege dafür, dass Heuschrecken, Libellen, Schmetterlinge und
andere Insekten geeignete Lebensräume vorfinden. In den NABU-Naturgärten können Besucher sich zum
Insektenschutz im Garten informieren. Und auch politisch kämpft der
NABU für einen besseren Schutz der
Insekten und fordert unter anderem
die Reduzierung von Pestiziden in der
Landwirtschaft. Wir müssen dringend
handeln: Die Zahl der Insektenarten
und auch die der Individuen befindet
sich in einem dramatischen Sinkflug.
Mancherorts ist die Biomasse der
Fluginsekten seit um bis zu
Prozent zurückgegangen. Jede dritte
Insektenart ist inzwischen nach der
bundesweiten Roten Liste gefährdet
bis ausgestorben. In der heutigen
hochintensiven Landwirtschaft bieten die monotonen Agrarflächen nur
sehr widrige Lebensbedingungen, in
denen notwendige Nahrungs- und
Nistmöglichkeiten fehlen. haben
wir einen Insektenschutzfonds aufgelegt, in den Unternehmen einzahlen
können. Auch der Erlös aus unserer
Sammlung von alten Handys fließt
in den Fonds. Mit dem Geld werden
Ackerflächen und Wiesen durch die
NABU-Stiftung Nationales Naturerbe
gekauft und als Lebensraum für Insekten gesichert. Zudem wurde auf
drei Flächen ein Insektenmonitoring
gestartet, also Insekten beobachtet,
ihre Bestände erfasst und ihre Ent-
wicklung dokumentiert. In verschiedenen Regionen Deutschlands haben
unsere Ehrenamtlichen Blühwiesen
angelegt, in Kommunen Gärten und
Straßenränder insektenfreundlich
aufgewertet, vielerorts wurden Insektennisthilfen aufgestellt. Zudem wollen wir Menschen über die Bedeutung
von Insekten informieren und ein
Bewusstsein für diese Tiere schaffen.
Darum haben wir die Mitmachaktion
»Insektensommer« ins Leben gerufen.
Dabei kann jeder und jede selbst herausfinden, welche Insekten zu Hause
im eigenen Garten, im Park oder Wald
leben, und mehr über sie erfahren.
Wie beurteilen Sie den Entwurf des
Insektenschutzpaketes der Bundesregierung?
Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass nach den langen Diskussionen und Ankündigungen nun
Entwürfe zum Insektenschutz vorliegen. Leider sind die Maßnahmen des
Insektenschutzpakets – es besteht aus
Insektenschutzgesetz und Pflanzen-
Welche kulturelle Bedeutung
kommt Insekten Ihres Erachtens
zu? Inwieweit kann Kultur helfen,
den Insektenschutz weiter voranzubringen?
Vielfältige Landschaften voller
Blütenpflanzen haben schon im-
Jörg-Andreas Krüger ist Präsident des
NABU
INSEKTEN & KULTUR 31
Politik & Kultur | Nr. / | Juni
»Weniger töten, mehr retten«
Fünf Fragen an
Hans-Dietrich Reckhaus
Reckhaus Fruchtfliegen-Retter ermöglichen es, die Tiere unversehrt ins
Freie zurückzubringen. Und unsere
insektenfreundlichen Lebensräume
im Siedlungsgebiet gleichen draußen
die Verluste aus, die durch Bekämpfungsprodukte drinnen entstehen.
Was macht die kulturelle Bedeutung von Insekten Ihres Erachtens
aus?
Das ambivalente Verhältnis zwischen
Menschen und Insekten ist kulturell
spannend. Sie sind in doppelter Hinsicht kleine Riesen: Als »Nützlinge«,
wie bereits beschrieben, aber auch
als »Schädlinge«. Sie können Krankheiten übertragen, Ernten zerstören
und Nutztieren zusetzen.
In alten Bildern und Texten sehen
wir, dass sich der Mensch bereits
seit . Jahren gegen Flöhe, Läuse, Mücken, Wespen und andere
Insekten wehrt. Alte Gräber in China
zeigen Reis-, Tabak- und Brotkäfer.
Im alten Griechenland kämpfte man
mit Seuchen, die Fliegen ausgelöst
hatten, und die Römer beschwerten
sich über schmerzende Mückenstiche, wie wir es auch heute als
Aufregerthema im Sommerloch der
Medien kennen.
Insekten stehen damit als Symboltiere für die Ambivalenz zwischen
menschlicher Kultur und der – auch
menschlich konstruierten – Natur.
Ihre Bedeutung für unser Fortbestehen kann als existenziell bezeichnet
werden. Aber um dem Insektensterben entgegenzuwirken, braucht
es einen bewussteren kulturellen
Umgang mit Insekten und der Natur
und eine daraus entstehende breite
Bewegung.
Deshalb wollen wir unser bewährtes
Konferenz-Format, den »Tag der
Insekten«, im Jahr dem Thema
Kultur widmen. Wir freuen uns dazu
auf die Zusammenarbeit mit dem
Deutschen Kulturrat und der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Deutschen Bundesregierung.
Wie kann Kultur helfen, Insekten
besser zu schützen?
Das Insektensterben ist in den Massenmedien und in den Köpfen der
Menschen angekommen. Wir haben
genug Informationen! Was fehlt, ist
die innere Haltung, mehr Verantwortung für das eigene Verhalten zu
übernehmen. Wir brauchen einen
neuen kulturellen Umgang mit der
Natur.
»Kultur« ist der Schlüssel. In der
lateinischen Wortherkunft »cultura«, was ja so viel wie beackern und
pflegen heißt, steckt dieser Gedanke
bereits: Ein gesamtgesellschaftlicher (Bewusstseins-)Wandel fängt
bei jedem Einzelnen an, im eigenen
Garten und Umfeld. Von dort kann
er durch kulturelle Praktiken in die
Gesellschaft strahlen.
Es sind Erzählungen und Geschichten, die uns berühren und zum Umdenken und neu Handeln bewegen.
Für den Naturschutz und Insektenschutz heißt das: Man schützt nur,
was man kennt.
Das Verständnis für die Natur
und die natürlichen Zusammenhänge, zu denen wir als Menschen
gehören, müssen wir uns kulturell (wieder) aneignen – um letztendlich unser eigenes Überleben
und Millionen andere Arten zu sichern.
Hans-Dietrich Reckhaus ist Initiator
von Insect Respect und Transformierender Gesellschafter der Reckhaus
GmbH & Co. KG
FOTO: OLAF ZIMMERMANN
»Insect Respect« will Bewusstsein für
das Insektensterben schaffen und ein
Umdenken und anderes Handeln in der
Gesellschaft erreichen. Der Initiator der
Initiative, Hans-Dietrich Reckhaus, be- Wie kamen Sie – ursprünglich
richtet.
Hersteller von Insektenbekämpfungsmitteln – auf die Idee zu InWas ist Insect Respect?
sect Respect? Welche Rolle kommt
Als Initiative und Gütesiegel steht Indabei der Aktion »Fliegen retten in
sect Respect für einen neuen Umgang Deppendorf« zu?
mit Insekten. Sie sind eben nicht ein hatte ich die Idee für eine neue
fach schädlich, ekelig oder lästig. Wir
Fliegenfalle, die ich genial fand. Mit
müssen als Gesellschaft verstehen,
einem kleinen Unternehmen hat man
dass wir ohne sie gar nicht existieren
aber wenig Möglichkeiten, so ein
könnten. Sie bestäuben Pflanzen,
Produkt zu bewerben. Als großer Fan
zersetzen Abfall, dienen als wichtiges
der Kunst fragte ich deshalb Frank
Glied in Nahrungsketten. Der Speiund Patrik Riklin vom Atelier für Sonseplan von Süßwasserfischen besteht
deraufgaben in St. Gallen nach einer
zum Beispiel bis zu Prozent aus
Idee. Doch die beiden querdenkenden
Insektenlarven. Außerdem helfen
Konzeptkünstler konfrontierten mich
sie uns bei der Textilproduktion, in
mit der Frage: »Was ist der Wert einer
der Chemiebranche, in der WissenFliege?« Der Dialog mit der Kunst, der
schaft. All das verdient Respekt. Und
daraus entstand, hat mir die Augen
darauf machen wir aufmerksam: mit
geöffnet. Wir entwickelten gemeinBewusstseinsbildung über Publikatio- sam die Kunstaktion »Fliegen retten
nen, Veranstaltungen, Medienbeiträin Deppendorf« und retteten am .
ge, Ausstellungen und Aktionen.
September mit einem ganzen
Auf Produkten steht das Gütesiegel
Dorf einen Tag lang Fliegen. Im Entdafür, dass wir die Insektenbekämpwicklungsprozess mit den Riklins gab
fung reduzieren, ökologisieren und
es dann eine Sternstunde: Mir wurde
kompensieren müssen. Weniger töten, klar, dass ich nicht nur ein einziges
mehr retten. Präventionstipps helfen
Mal Fliegen retten und dann weiter
Konsumentinnen und Konsumentöten wollte. Sondern dass jede Fliege
ten, damit Insekten im Wohnraum
zählt und ich für jedes Produkt einen
gar nicht erst zum Problem werden.
Ausgleich schaffen will. So entstand
Rettungsprodukte wie z. B. der Dr.
Insect Respect.
Was planen Sie gerade für Insect
Respect?
Unser Highlight ist zurzeit unsere
monatliche »Stunde der Insekten«. In
dieser Online-Veranstaltung erzählen Referentinnen und Referenten
über ihre spannende Arbeit – im Mai
beispielsweise zwei Naturfilmer, die
den Insekten auf Augenhöhe begegnen. Am . Juni werden die Biologen
Auguste Prinzessin von Bayern und
Thassilo Franke uns zeigen, wie Museen der Zukunft die Insektenwelt
und Artenvielfalt fördern, indem sie
Begeisterung für Natur und Nachhaltigkeit entfachen. Bei jedem dieser
Web-Events seit Mai lassen wir
auch Ausschnitte aus dem »Insect
Concerto« des Komponisten Gregor
A. Mayrhofer erklingen. Als er einmal
über seine Aufnahmen dafür berichtete, staunten wir alle nicht schlecht:
Er hatte in minutiöser Detailarbeit
die Geräusche von Grillen und anderen Sechsbeinern eingefangen und
kunstvoll in die Komposition verwebt.
Außerdem wollen wir ab Herbst eine
Insect-Respect-Akademie starten.
Dadurch erhalten Garten- und Landschaftsbauer die Möglichkeit, alles
über insektenfreundliche Flächen
zu lernen und so bundesweit Gärten,
Kommunen und Firmenflächen artenreich zu begrünen.
Lehmwespenflug
32 DAS LETZTE
www.politikundkultur.net
Kurz-Schluss
Wie ich einmal bei der Umsetzung eines beschlossenen Heftschwerpunktes massiv ins Schleudern geriet
THEO GEIẞLER
Bekannt und beliebt in gewissen gebildeten Kreisen bin ich für die trockene
Präzision meiner Sprache, für die wissenschaftliche Exaktheit meiner Abhandlungen gerade im Rahmen dieser
Rubrik unserer Kultur- und Naturzeitschrift. Während die meisten Autorinnen und Autoren des vorliegenden
Themenheftes sich etwas überraschend
teils mit der faszinierenden Vielfalt und
Historie der Kerbtiere befassen oder mit
deren auch pestizidverursachten Auslöschung, samt den für uns Menschen
verheerenden Folgen, gerate ich in die
mentale Zwangsjacke einer dramatischen Kindheitserinnerung:
Ein Schulfreund, Sohn des örtlichen
Kinobesitzers, ermöglichte mir schon
im zarten Alter von sieben Jahren den
heimlichen Besuch des dörflichen
Lichtspiel-Häuschens. Schon als zweites oder drittes Filmerlebnis geriet ich
in den Bann des soeben erschienenen
Science-Fiction-Thrillers (in edlem
Schwarz-Weiß) namens »Formicula«.
Kurz der Plot, soweit ich mich entsinne: In der Wüste New Mexicos wird
ein verstörtes und völlig verängstigtes
Mädchen aufgegriffen, deren Eltern wenig später tot aufgefunden werden. Da
sich die örtliche Polizei keinen Reim
auf das schreckliche Verbrechen machen kann, ziehen sie einen Biologen
hinzu, dem schon bald klar wird, dass
es sich bei den Tätern um mutierte Riesenameisen handelt. Denn die Todesursache ist Ameisensäure. Zu Monstern
gerieten die Ameisen, weil in dieser
Gegend Atombombenversuche stattfanden. Jede Menge Menschen wurden
noch gemeuchelt, bevor die Brut – sie
hatte inzwischen Los Angeles erobert
– dank Flammenwerfern vernichtet werden konnte.
Bibbernd verließ ich das Kino, machte künftig größere Bögen um Ameisenhaufen, bis mir – ich war trotz des
anhaltenden Schocks zum ScienceFiction-Fan geworden – ein, wie es
meine Eltern definierten, sogenanntes
Schundheft aus der seinerzeit berühmtberüchtigten »Terra-Reihe« die Augen
öffnete. Der – wie ich fand – geniale
Schriftsteller K. H. Scheer beschrieb in
knappen Sätzen auf den handelsüblichen Seiten der Edition den durch
Aliens verursachten Untergang der
menschlichen Zivilisation aufgrund
absichtlicher radioaktiver Verseuchung
des Planeten. Es ging um Ausbeutung
der Bodenschätze und gemeinen Wasserraub. Nur eine kleine Schar Frauen,
Männer, Kinder konnten sich in Höhlensysteme retten und nannten sich
Formicanten – die Ameisenmenschen.
Leider kann ich mich nicht daran erinnern, wie das Ganze ins Happy End
gewendet wurde.
Allerdings fiel es mir wie Schuppen
von den Augen (ich las das Heft gerade
während des Mathematikunterrichts
unter der Bank), dass natürlich nicht die
Krabbeltiere Verursacher allen Übels
waren, sondern eine gewisse machtgierige technophile Fraktion der Gattung
Homo sapiens. So hörte ich mit etwa
zwölf Jahren auf, Maikäfer in Kisten zu
sperren, Ameisenhaufen mit Stöcken
zu traktieren und Wespennester auszuräuchern. All das gab es seinerzeit
noch – ich lebte, wie eingangs gesagt,
auf dem Land.
Nach dem berufsbedingten Umzug
meiner Familie in die Großstadt ersetzten recht bald andere Interessen
meine Naturaffinität. Immerhin geriet
ich umgehend zu einem begeisterten
Ostermarschierer, im Kampf gegen
Atomwaffen und auf der Suche nach
engagierten Weggefährtinnen. Die
Beschreibung der nächsten Jahre
meiner wechselvollen Biografie erspare ich Ihnen schon aus Platzgründen.
Ein wenig erklärungsbedürftig allerdings mag ausgerechnet der Grund für
mein aktuell plötzlich erwachtes Interesse an chitingepanzerten Tierwesen
sein. Wie es sich für eine meinungsstarke diskussionsfreudige demokratischdiverse Redaktion einer Kultur- – und
neuerdings zusätzlich auch Naturzeitschrift gehört, werden Themenschwerpunkte am Zustand der Gesellschaft
abgemessen, evaluiert und gründlich
besprochen. Für dieses Heft waren zentral ursprünglich Aufsätze über Dystopie
und Science Fiction vorgesehen.
Allerdings ist mein geschätzter Mitherausgeber ein wirklich umfassend
engagierter Kulturmensch, der nicht
nur Museen aller Art, Galerien, Konzertsäle und Abgeordnetenhäuser durchforscht, sondern auf allen Vieren auch
Wald- und Wiesenböden. Er fotografiert
hochwertigst und kartiert unbekannte und bekannte Käfer-, Wespen- oder
Ameisenarten. Als ich meine ScienceFiction-Story für dieses Heft – eine
düstere Geschichte über künstliche
Intelligenz und Virtual Reality – schon
fertig hatte, machte er mich in einer
langen lautstarken Diskussionsnacht
darauf aufmerksam, dass das Insektensterben eine mindestens ebenso große
Gefahr für die menschliche Zivilisation
sei wie die weißrussische Atombombe.
Zwischendurch spielte er mir auf seinem Tablet eine Doku über Horden von
Zwangsarbeitern vor, die Fruchtblüten
mangels Bienen (Glyphosat) händisch
bestäuben, damit wir fetten alten weißen Männer an vitaminreiches Obst
kommen. Als ich etwas verwirrt einwandte, dass auch die Natur grob sei,
die Bienen beispielsweise ihre Drohnen
im Herbst verhungern ließen, schalt er
mich einen ungebildeten Kretin und
verwies darauf, dass ich mir dystopisches Geschwurbel angesichts der
biologischen Realitäten sparen könne.
Science sei jetzt wichtiger als Fiction.
»Wir machen ein zukunftsweisendes
Insektenheft.«
Da überfiel mich statt wütender Widerrede meine Kindheitserinnerung,
Formica und die Formicanten – und
ich fand die Präzisierung des zentralen
Heftthemas leider plötzlich schlüssig …
Theo Geißler ist Herausgeber von
Politik & Kultur
TAUBENSCHISS DIE P&K FAKENEWS
Magazin »Nature Astronomy« berichtet. Das andauernde Grundrauschen
sei sehr schwach und monoton, heißt
es, außerdem findet es laut Studie in
einem engen Frequenzbereich statt.
Dazu der Kölner Bischof Rainer Maria
Woelki: »Gott ist nicht nur groß, er ist
auch tief.«
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FOTO: KLAUS STUTTMANN
Freiburg: Der Bundestag hat das novellierte Urheberrecht beschlossen, und
für den digitalpolitischen Sprecher
der SPD, Jens Zimmermann, ist klar:
»Ohne den Druck der Straße hätte dieses Gesetz anders ausgesehen.« Anlass
der Neuregelung waren die Beschwerden von Musik- und Filmwirtschaft,
dass YouTube und ähnliche Plattformen mit den hochgeladenen Inhalten viel Werbegeld verdienen, davon
aber zu wenig an die Kreativindustrie
abgeben – obwohl diese doch die eigentliche Leistung erbringt. Dazu der
populäre Trompeter Till Brönner:
»Genau. Ich hole mir so viele Anregungen aus YouTube-Filmchen, dass
deren Macher auch mal was verdienen
können.«
Berlin: Corona bringt viele Menschen
dazu, ihr Zuhause schöner einzurichten. »Cocooning« hat die Baubranche
zum Krisengewinner gemacht, auch Installateure und Badausstatter. Ein neues Bad wird so schnell zur Kostenfalle.
Umso wichtiger ist es für Haus- und
Wohnungseigentümer, bei Bau- und
Sanierungsvorhaben die Kosten richtig
zu schätzen und Einsparmöglichkeiten
zu suchen. Gerade bei vergleichsweiPluto, Cap Canaveral, Köln: Als ers- se kostspieligen Vorhaben wie einer
te aktive Sonde hatte Voyager den Badezimmersanierung und -einrichEinflussbereich des Sonnenwinds ver- tung lassen sich durch Vergleichen
lassen und war in den interstellaren und die gezielte Auswahl der MateRaum vorgedrungen. Als Erste hat sie rialien einige Tausend Euro sparen, ohne
sich in der Region umgehört und dabei auf qualitativ hochwertige Ausstatden Sound des Kosmos aufgezeichnet. tung zu verzichten. Den besten SparDie Messungen verraten etwas über die effekt, so Gesundheitsminister Spahn,
Plasmadichte und Turbulenzen in dem erzielt man durch Verzicht auf Wasser.
weit entfernten Reich, wie ein Team im (Thg)
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Magazin »Raum für Entfaltung«