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Kolonialismus-Debatte: Die Beninbronzen. Eine unendliche Serie

2021, Politik & Kultur Zeitung des Deutschen Kulturrates 6/21

The Benin Bronces. An infinite Serie. Short summary of the long history of preparing the restitution of the Berlin Benin Bronzes, the actual state of the art and an outlook.

Benin-Bronzen & mehr: Die Diskussion um das koloniale Erbe. Seiten 6 bis 8 , € Juni 6  In dieser Ausgabe: Barbara GessleGötz Aly Bernhard Klausnitzer Viola König Isabel Pfeiffer-Poensgen Sabine Verheyen und viele andere Zeitung des Deutschen Kulturrates www.politikundkultur.net Corona vs. Kultur Soziale Lage Nachhaltiges Bauen Online-Plattformen Was lange währt, wird endlich gut? Der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen wird Anfang Juli starten Seite  Dauerhafte Regelungen dringend notwendig: Wie können Selbständige in Zukunft besser abgesichert werden? Seite  Die Zukunft Westafrikas: Die Verbindung von Tradition und Moderne verändert die Architektur im Senegal Seite  Meinungsmacht im Visier: Der Einfluss globaler Internetkonzerne soll in der EU gebremst werden Seite  Kippe Olaf Zimmermann ist Herausgeber von Politik & Kultur Bsss, bsss FOTO: OLAF ZIMMERMNANN Das Humboldt Forum steht auf der Kippe. Jahrelang haben die Verantwortlichen alle Alarmzeichen ignoriert, um jetzt vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Angefangen hat das Dilemma mit der Fehlentscheidung, das preußische Berliner Stadtschloss zu rekonstruieren und keinen architektonisch spannenden Neubau zu errichten. Schon mit dieser Entscheidung ist ein Grundproblem manifestiert worden, ein Museum der Weltkulturen in ein preußisches Schloss zu verfrachten und zu glauben, dass der Ort keine Wirkungen auf den Inhalt hätte. Diesem ersten Fehlgriff wurde gleich ein zweiter nachgereicht. Die Verantwortlichkeit für die inhaltliche Gestaltung wurde schön föderal bis zur Unkenntlichkeit verteilt. Neben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit dem Ethnologischen Museum und dem Museum für Asiatische Kunst, der Kulturprojekte Berlin GmbH mit dem Stadtmuseum Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss wurde ein ganzer Strauß von unterschiedlichen Interessen mit den Planungen beauftragt. Eigentlich politisch verantwortlich sind die Kulturstaatsministerin und der Kultursenator von Berlin. Schon vor Jahren war klar, dass die Frage nach unserer – der deutschen – Verantwortung in der Kolonialzeit an diesem Ort beantwortet werden muss. Und dabei geht es nicht nur um die Frage, unter welchen Bedingungen die Ausstellungsstücke in die ethnologischen Sammlungen gekommen sind, sondern auch um die Frage, wie das koloniale Denken und Handeln auch heute unsere Beziehungen zu den Ländern des Südens prägen. Doch diese Fragen werden wohl nicht so bald beantwortet. Es muss für das Humboldt Forum doch sehr peinlich sein, dass der Historiker Götz Aly gerade von außen die Provenienzrecherche über eines der zentralsten Ausstellungsstücke des Humboldt Forums, das Luf-Boot, öffentlichkeitswirksam vorgestellt hat. Ein Grund für viele dieser Unzulänglichkeiten ist der Unwille der Verantwortlichen, die internationale und nationale Zivilgesellschaft in das Projekt mit einzubeziehen. Ich kann mich an kein kulturpolitisches Projekt in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten erinnern, wo jahrelang alle Angebote zum Mitdenken so konsequent ignoriert wurden. Jetzt steht der  Millionen Euro teure »Altbau« auf der Kippe. Die Beninplastiken sind Raubkunst, das Luf-Boot ist Raubkunst, was kommt als Nächstes. Nur mit einer neuen Offenheit ist das Humboldt Forum noch zu retten. Die kulturelle Welt der Insekten. Seiten  bis  Regelwerk für die Kultur Das Kulturgesetzbuch des Landes Nordrhein-Westfalen ISABEL PFEIFFERPOENSGEN D ie Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist  mit dem Versprechen angetreten, die dichte und heterogene kulturelle Landschaft des Bundeslandes – finanziell und politisch – auf soliden Grund zu stellen und ihr Entfaltungsspielräume zu geben. Dieses Versprechen hat in zwei politischen Großprojekten Form gefunden, die einander ergänzen und die Wirksamkeit des jeweils anderen erst entfalten. Mit einer bundesweit einzigartigen kulturpolitischen Offensive erhöht die Landesregierung den Kulturetat bis  langfristig um mehr als  Prozent oder  Millionen Euro und beendet damit die strukturelle Unterfinanzierung der Kultur in NordrheinWestfalen. Dieser Aufwuchs, der auch angesichts der Corona-Akuthilfen in Höhe von zusätzlich  Millionen Euro planmäßig fortgesetzt wird, stabilisiert die vorhandenen Strukturen und schafft mehr Planungssicherheit. Mit dem Kulturgesetzbuch, das auch Teil des Koalitionsvertrags der CDU-FDP-Landesregierung ist, löst die Landesregierung nun den zweiten Teil ihres Versprechens ein. Den Regierungsentwurf für das Mit einer bundesweit einzigartigen kulturpolitischen Offensive erhöht die Landesregierung den Kulturetat bis  langfristig um mehr als  Prozent oder  Millionen Euro Kulturgesetzbuch hat das Landeskabinett Mitte Mai gebilligt, im Winter soll es verabschiedet werden und zum Jahresbeginn  in Kraft treten. Das Kulturgesetzbuch bündelt alle für die Kultur wesentlichen gesetzlichen Regelungen und fügt ihnen zugleich weitreichende und wesentliche Neuerungen hinzu. Es setzt die vorhandenen Regelwerke zueinan- der in Beziehung, schafft Übersicht und Transparenz und gibt den neuen politischen Vorhaben Nachdruck und Verbindlichkeit durch ihre gesetzliche Verankerung. Dazu zählen beispielsweise die Förderung der Bibliotheken, die Absicherung der Musikschulen oder die Bindung der Zuschüsse für kommunale Theater oder Orchester an Fördervereinbarungen, um zu verhindern, dass die Kulturförderung als freiwillige Aufgabe der Kommunen bei Sparrunden in Frage gestellt wird. Das Kulturgesetzbuch macht die vorhandenen gesetzlichen Regelungen leichter verfügbar, in ihrer Korrelation besser nachvollziehbar und verleiht den Anliegen der Kultur insgesamt deutlich mehr Gewicht. Dabei hat das Kulturgesetzbuch ganz unmittelbare Auswirkungen für die Kulturschaffenden: So werden in einem Bereich, der von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt ist, Honoraruntergrenzen eingeführt, mehr Festanstellungen erwirkt und Förderantragsverfahren unbürokratischer gestaltet – was den vielen haupt- und ehrenamtlichen Akteurinnen und Akteuren den Zugang zu Förderungen erleichtert. Geschlechtergerechtigkeit und Diversität werden in der Kulturförderung des Landes und der Besetzung von Jurys verbindlich berücksichtigt – um nur einige Beispiele zu nennen. Das bestehende Kulturfördergesetz wird durch das Kulturgesetzbuch gezielt weiterentwickelt und schließlich abgelöst. Mit dem Kulturgesetzbuch bekräftigt NordrheinWestfalen mit Nachdruck die Kulturhoheit der Länder als »Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder«, wie das Bundesverfassungsgericht es in seiner Rechtsprechung fasst, und legt ein klares Bekenntnis sowohl zur Rolle der Kultur in Nordrhein-Westfalen als auch zur Rolle der Länder in der Kulturpolitik ab. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Bedeutung der Kommunen für die Kultur übersehen würde. Im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung regeln die Gemeinden ihre kulturellen Aufgaben selbst und tragen gerade in Nordrhein-Westfalen den Löwenanteil der Kulturausgaben. Wir können und wollen den Gemeinden als Land nicht vorschreiben, wie sie ihre kulturellen Einrichtungen führen, wohl aber Angebote machen, die einen Rahmen vorgeben. Bei landesspezifischen Themen hingegen, etwa bei Kunstbesitz und Kulturförderung des Landes, schaffen wir sehr verbindliche Regelungen. Das Kulturgesetzbuch ist ein Novum in Deutschland. In keinem anderen Bundesland gibt es ein vergleichbares Regelwerk für die Kultur. Entsprechend konnte es sich weder auf Vorbilder noch auf Erfahrungswerte stützen. Umso wichtiger war uns der intensive, fortgesetzte und breit angelegte Austausch mit den für die Kultur in Nordrhein-Westfalen relevanten Akteurinnen und Akteuren, unter anderem natürlich dem Kulturrat NRW, der sich einmal mehr als weitsichtiger und konstruktiver Gesprächspartner Das Kulturgesetzbuch ist ein Novum in Deutschland. In keinem anderen Bundesland gibt es ein vergleichbares Regelwerk für die Kultur bewiesen hat. Der Austausch mit den Verbänden hat den Entwicklungsprozess dieses kulturpolitischen Großprojektes eng begleitet und war ein unverzichtbares Korrektiv unserer Arbeit. Insgesamt  Verbände wurden angehört und ihre Anregungen und Kritik in großem Umfang aufgenommen. Denn das Kulturgesetzbuch soll kein abstraktes Regelwerk sein, sondern sich unmittelbar auf die kulturelle Landschaft in Nordrhein-Westfalen beziehen und ihr von Nutzen sein. Wir möchten die Rolle der Akteurinnen und Akteure in dieser Landschaft stärken und ihnen ihre Arbeit erleichtern. Diese Diskussion möchten wir auch in Zukunft fortsetzen, um auf die Veränderungen der Kultur reagieren zu können, die ihrerseits gesellschaftliche Fortsetzung auf Seite  Nr. / ISSN - B   02 SEITE  www.politikundkultur.net EDITORIAL Kippe Olaf Zimmermann 01 Kolonialismus-Debatte: Die Beninbronzen Viola König LEITARTIKEL Möller meint – Humboldt Forum: Ideologischer Spielball Kulturfördergesetz NRW: Regelwerk für die Kultur Johann Michael Möller Isabel Pfeiffer-Poensgen 01 02 03 INLAND 08 Ausstellung »Lichtblicke«: Kunst im Impfzentrum Fünf Fragen an Martina Hassel Kultursonderfonds des Bundes: Lang hat’s gedauert und nun geht es ganz schnell 09 Kulturfunke Lübeck: »Bist Du auch ein Funke?« 13 Fünf Fragen an Max Schön Jochen Oltmer 04 Helmut Hartung 14 Illustrator Christian Thanhäuser im Porträt: Die große Welt der kleinen Dinge Anna Grosskopf 15 Susanne Keuchel 15 Insekten in Computerspielen: Insekten spielen Personen & Rezensionen 16 Thomas Hawranke Enzo Weber Stimme aus dem Parlament: Kultur und Kreativität in Europa: Bringt die Kultur zurück! Olaf Zimmermann Johann Hinrich Claussen 05 Raubkunst-Debatte: »Dieses Buch ist eine Streitschrift« Hans Jessen im Gespräch mit Götz Aly 06 INTERNATIONALES 18 Nachtigall 19 Marcus Schwarz 30 Drei Fragen an Jörg-Andreas Krüger 30 Insect Respect: »Weniger töten, mehr retten« Fünf Fragen an Hans-Dietrich Reckhaus 31 24 DAS LETZTE 25 25 26 Kurz-Schluss Theo Geiẞler 32 Taubenschiss – Die P&K-Fake-News 32 Karikatur 32 Impressum 32 DER AUSBLICK 7-8  26 Tötungsdelikte: Wenn Insekten über Leichen gehen Ludwig Greven im Gespräch mit Werner 12 Olaf Bandt 23 Menschliche versus tierische Gemeinschaft: Insekten in der Antike Dominik Berrens 29 Naturschutzbund Deutschland: »Wir müssen dringend handeln« Der Harmas Jean-Henri Fabre: Verwirklichter Lebenstraum Jürgen König Von Insekten lernen: »Die Natur als Ganzes können wir Menschen nicht zerstören« Akademischer Wiederaufbau im Irak: Aufbruchstimmung Benjamin Schmäling 17 Einfluss von Insekten: Insekten und Kultur Bernhard Klausnitzer 22 Ernährung: Krabbeln auf dem Teller INSEKTEN & KULTUR Michael Ohl Insektenschutz: Systemrelevante Schönheit und Vielfalt Sandra Winzer im Gespräch mit Ludwig Greven 11 21 Mit Musik gegen Insektensterben: Insect Concerto Gregor Amadeus Mayrhofer 28 Naturgeschichte: Bienen, Wespen und Ameisen Insekten im Jugendstil: Von Schmetterlingen und Libellen Einleitung: Die kulturelle Welt der Insekten Sabine Verheyen 20 Insekten in der Kunst: Schwarmästhetik Jessica Ullrich KULTURELLES LEBEN EUROPA Claussens Kulturkanzel: Mehr Distanzbewusstsein, weniger Identifikation Riccarda Cappeller Markus Metz und Georg Seeßlen Arbeitslosenversicherung: Sichern wir unsere Selbständigen ab! 05 Niels Werber Die Meinungsmacht der OnlinePlattformen im Visier Keuchels Kontexte: Eine neue Kultur des Miteinanders von Mensch und Maschine? 10 Formen des Zusammenlebens: Von der Kunst, Gesellschaft zu gestalten Insekten im fantastischen Film: Killerbienen und Fliegenwesen 09 OSTWEST PERSPEKTIVEN Soziale Insekten: Von der Fabel zur Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft MEDIEN Andreas Kolb Die DDR – eine Migrationsgesellschaft? Ein Kulturgesetzbuch für Nordrhein-Westfalen Gerhart Baum und Robert von Zahn Ruth Helmling 08 Antisemitismus: »Das ist eine neue Stufe des Judenhasses!« Stefan Hensel AKTUELLES Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz 07 Ludwig Greven im Gespräch mit SEITE 2 Kulturmensch Harald Biermann Goethes Welt Afrika: Zurück in die Zukunft 27 Die nächste Politik & Kultur erscheint am . Juli . Im Fokus steht das Thema »Science Fiction«. Isabel Pfeiffer-Poensgen schaft. Zu diesen Qualitätskriterien zählen fest angestellte und tariflich bezahlte Musikpädagogen und -pädagoginnen. Um dieses Ziel zu erreichen, unterstützt die Landesregierung im Rahmen der Musikschuloffensive die Kommunen bei der Finanzierung der Musikschulen auf Dauer mit zusätzlich sieben Millionen Euro jährlich, wodurch kurzfristig  feste Stellen geschaffen werden können. Die bereits angesprochene mit dem Kulturgesetzbuch festgeschriebene Förderung der Bibliotheken ist ein klares Bekenntnis zu ihrer Bedeutung als Orte lebenslanger kultureller Bildung und Begegnung, die auch für das Landesprogramm »Dritte Orte« eine zentrale Rolle spielen. Ein Thema, das mir persönlich sehr am Herzen liegt, ist die Provenienzforschung. Sie hat, einschließlich der Washington Principles, prominent Eingang ins Kulturgesetzbuch gefunden. Damit verpflichtet sich das Land erstmals, die Provenienzforschung gezielt zu fördern und trägt damit der Verantwortung Rechnung, die Politik und Gesellschaft für solche Werke übernehmen müssen, die in der Zeit des Nationalsozialismus ihren rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzern entwendet wurden. Teil dieser Förderung ist die im Kulturgesetzbuch verankerte »Koordinationsstelle für Provenienzforschung in NordrheinWestfalen« (KPF.NRW), die wir als Land im Dezember  mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR) und dem Landschaftsverband WestfalenLippe (LWL) eingerichtet haben. Neben den NS-verfolgungsbedingten Entzügen rückt mit dem Kulturgesetzbuch auch die Herkunftsforschung zum kolonialen Erbe und den Enteignungen und enteignungsgleichen Besteuerungen in der ehemaligen DDR stärker in den Blick. Es steht meines Erachtens außer Frage, dass Kunst im Landesbesitz unter besonderem Schutz stehen sollte. Im Zuge der Auseinandersetzung um die umstrittenen Kunstverkäufe der ehemaligen Landesbank WestLB und ihrer Abwicklungsgesellschaft Portigon hat der damals eingerichtete kulturfachliche Beirat einen Kodex zum Umgang mit Kunst im Landesbesitz entworfen. Entsprechend schreibt das Kulturgesetzbuch die Verpflichtung zum Erhalt des Landeskunstbesitzes fest. Das heißt: Kunstschätze aus diesen Sammlungen dürfen nicht wie Tafelsilber verkauft werden, um Haushalte zu sanieren. Eines der großen und für alle gesellschaftlichen Felder gleichermaßen relevanten Themen unserer Zeit ist das der Nachhaltigkeit, und zwar in seiner dreifachen Ausprägung: als ökologische, wirtschaftliche und soziale Größe. Es darf in einem zentralen Regelwerk, das Standards für Struktur und Förderung der kulturellen Landschaft setzt, nicht fehlen. Vielmehr wollen wir dieses Instrument nutzen, um grundlegende Forderungen im Hinblick auf nachhaltiges Handeln festzuschreiben, und zwar in vielfältiger Hinsicht: Beim Bauen ebenso wie bei der Durchführung von Veranstaltungen, bei der Produktion von Kunst ebenso wie bei ihrer Präsentation und beim internationalen Austausch. Das Kulturgesetzbuch verpflichtet auch die Kulturpolitik, Förderlinien nachhaltig auszurichten und zusätzliche Kosten, die so entstehen können, als förderfähig anzuerkennen. Mit dem Kulturgesetzbuch machen wir die Kultur einmal mehr zu einem zentralen politischen Handlungsfeld dieser Landesregierung und schaffen Verbindlichkeiten, die auf eine lang- fristige Stabilisierung und Stärkung der kulturellen Landschaft angelegt sind. Zugleich bekräftigen wir mit dem Regelwerk die unbedingte Zweckfreiheit der Kunst und respektieren ihre natürliche Dynamik. Isabel Pfeiffer-Poensgen ist Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen Kulturmensch Harald Biermann »Harald Biermann bringt wertvolle Erfahrungen mit den vielschichtigen Herausforderungen des Museumsbetriebs mit. Mit der geplanten Erneuerung der Dauerausstellung in Bonn wird er eine ebenso bedeutende wie fordernde Aufgabe seines Vorgängers übernehmen.« – mit diesen Worten begrüßte Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, nachdrücklich die Berufung des renommierten Historikers Biermanns zum neuen Präsidenten der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bereits Anfang Mai hatte das Kuratorium der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einstimmig Biermann zum neuen Präsidenten berufen. Er übernimmt das Amt zum . Januar  von Hans Walter Hütter, der dann altersbedingt in den Ruhestand treten wird. Als bisheriger langjähriger Vertreter des Präsidenten und Direktor Kommunikation der Stiftung ist Biermann hervorragend vorbereitet, um die kommenden Herausforderungen, vor denen die Stiftung Haus der Geschichte steht, zu meistern. Dazu zählen so- wohl die inhaltliche Schärfung als auch die Fortentwicklung der Vermittlungsarbeit an den drei Standorten in Bonn, Leipzig und Berlin. Seit  ist Biermann Mitarbeiter der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.  wurde er durch das Kuratorium zum Direktor Kommunikation berufen und  zum Vertreter des Präsidenten. Wir sind gespannt auf das Kommende und gratulieren Harald Biermann herzlich! FOTO: STIFTUNG HAUS DER GESCHICHTE/ AXEL THÜNKER Entwicklungen nachzeichnet und deshalb naturgemäß in Bewegung ist. Entsprechend soll das Kulturgesetzbuch ein lebendiger, ein lernender Organismus sein, dessen Unabgeschlossenheit eines seiner Wesensmerkmale ist. An die Stelle der bestehenden Kulturförderpläne treten mit den Kulturkonferenzen, die zweimal pro Legislaturperiode vorgesehen sind, dialogorientierte Formate, die dokumentiert werden und deren Verabredungen nachgehalten werden. Hierdurch koppeln wir eine den Kulturförderplänen vergleichbare Verbindlichkeit mit einem aktiven Prozess der Anpassung an die sich wandelnde kulturelle Realität. Die Corona-Pandemie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass eines der zentralen Themen des Kulturgesetzbuches unaufschiebbar geworden ist: die Verbesserung der Arbeitsbedingungen derer, die das Rückgrat allen kulturellen Lebens sind: Der Künstlerinnen und Künstler. Entsprechend durchzieht dieses Thema das Kulturgesetzbuch und schlägt sich in zahlreichen konkreten Regelungen nieder. Institutionen und Initiativen, die eine Landesförderung beantragen, müssen in Zukunft Honoraruntergrenzen respektieren. Die gängige Praxis beispielsweise, an dem Honorar für Künstlerinnen und Künstler zu sparen, ist damit bei vom Land geförderten Projekten obsolet. Damit stellen wir an prominenter Stelle auch ein Modell zur Diskussion, das maßgeblich zu den prekären Arbeitsverhältnissen im Kunstbereich beiträgt. Auch die berufliche Situation der Musikschullehrerinnen und Musikschullehrer soll strukturell verbessert werden. Die gesetzlichen Regelungen zu den Musikschulen, die als neuer kulturpolitischer Baustein Aufnahme in das Kulturgesetzbuch gefunden haben, benennen erstmals feste Qualitätskriterien als Voraussetzung für eine Förderfähigkeit – und zwar unabhängig von der Träger- FOTO: BETTINA ENGELALBUSTIN / MKW  Fortsetzung von Seite  AKTUELLES 03 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Lang hat’s gedauert und nun geht es endlich los OLAF ZIMMERMANN UND GABRIELE SCHULZ A b dem . Juli dieses Jahres soll der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen starten. Endlich, werden viele sagen, denn seit Herbst letzten Jahres war er im Gespräch. Anfang dieses Jahres hatte Bundesfinanzminister Olaf Scholz in einem Interview in dieser Zeitung einen Sonderfonds für Kulturveranstaltungen angekündigt. Danach folgte langes Schweigen. Nur bröckchenweise drangen Informationen durch. Seit dem . Mai  ist klar: Der Fonds kommt. Er ist mit , Milliarden Euro ausgestattet.  Monate Auszeit Mit Erscheinen dieser Zeitung besteht in einigen Kulturbereichen seit  Monaten Auszeit. Keine größeren Veranstaltungen, kaum Live-Festivals, keine größeren Tourneen, kaum Konzerte und Aufführungen. Zwar gab es nach dem ersten Lockdown einige Lockerungsübungen und Veranstaltungen im Sommer , doch seit November : tosende Leere. Erst seit . Mai gibt es zaghafte Öffnungsansätze. Von einem flächendeckenden Kulturangebot wie vor der Pandemie kann nicht die Rede sein. Kulturstaatsministerin Monika Grütters spricht davon, dass in »normalen« Zeiten . Kulturveranstaltungen im Jahr stattfinden. Wer sich diese Zahl vor Augen führt, kann ermessen, welcher Verlust in Folge der Corona-Pandemie entstanden ist. Ein Verlust an Freude und Genuss beim Publikum, ein Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten bei Künstlerinnen und Künstlern der unterschiedlichen Genres, ein immenser ökonomischer Verlust für die Kulturwirtschaft, Kultureinrichtungen, Kulturvereine sowie viele angrenzende Branchen. Weiterer Baustein Mit dem Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen sollen Kulturveranstalter ermutigt werden, Veranstaltungen zu planen und vertragliche Verpflichtungen einzugehen, auch wenn die Veranstaltungen aufgrund der Corona-Pandemie voraussichtlich nicht kostendeckend bzw. mit Gewinn durchgeführt werden können. Das gilt für öffentliche und öffentlich-geförderte Veranstaltungen, bei denen die öffentliche Förderung nur einen Teil der Kosten deckt und die Deckungslücke durch Eintrittsgelder erwirtschaftet werden muss. Das trifft auf privatwirtschaftliche Veranstalter zu, die die gesamten Kosten aus Eintrittsgeldern finanzieren müssen und als Unternehmen einen Gewinn erwirtschaften müssen. Ebenfalls einbezogen sind Vereine, die ihre Veranstaltungen kostendeckend durchführen müssen. Der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen knüpft damit an die Überbrückungshilfen an, die privatwirtschaftlichen Unternehmen in der Corona-Pandemie die Fortexistenz sichern sollten. Sie sollten insbesondere den Unternehmen ein Überwintern in der Corona-Pandemie ermöglichen. Der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen setzt weiter bei NEUSTART KULTUR an. Hier wurde speziell mit den pandemiebedingten Investitionen die Ertüchtigung von Veranstaltungsorten unterstützt und mit der Programmförderung die Erarbeitung von Programmen gefördert. Ferner unterstützt er jene Kulturveranstalter, die dank einer Länderförderung sich auf die Wiedereröffnung vorbereiten konnten. Es ist insofern folgerichtig, dass der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen zu einem Zeitpunkt aufgelegt wird, an dem absehbar ist, dass wieder Veranstaltungen stattfinden können. Er richtet sich an Kulturveranstalter aller Rechtsformen sowie an öffentliche Kultureinrichtungen. Unterstützt werden Veranstalter folgender Kulturveranstaltungen: Theater, Musical, Tanz, Puppen-, Figuren- und Objekttheater, Varité, künstlerischer Zirkus ohne Tierdarbietungen, Kleinkunst, Konzerte einschließlich LiveMusik mit kuratiertem Musikprogramm, Vorführungen in den Bereichen Film und Medien, Ausstellungen (Bildende Kunst, natur- und kulturhistorische Ausstellungen, Ausstellungen der Erinnerungskultur), Lesungen, Festivals aller Kunstsparten und spartenübergreifende Kulturveranstaltungen. Die Voraussetzungen sind: • erstens, dass für die Veranstaltung Eintrittsgeld erhoben wird, • zweitens, dass coronabedingt weniger Tickets verkauft werden können als der Raum an Kapazität bietet. Der Sonderfonds besteht aus zwei Bausteinen: . Eine Wirtschaftlichkeitshilfe soll kleinere Veranstaltungen fördern, die ab dem . Juli  durchgeführt werden und an denen unter Beachtung coronabedingter Hygienebestimmungen bis zu  Besucher teilnehmen. Ab dem . August  werden FOTO: PIXABAY Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen soll Anfang Juli starten Mit dem Sonderfonds werden unter anderem Veranstalter von Theateraufführungen, Musicals und Konzerten unterstützt Veranstaltungen mit bis zu .. Besuchern gefördert. Durch eine Bezuschussung der Einnahmen aus Ticketverkäufen werden so die wirtschaftlichen Risiken reduziert und die Planbarkeit und Durchführbarkeit von Veranstaltungen verbessert. . Daneben stellt der Sonderfonds, höchstwahrscheinlich ab dem . September , eine Ausfallabsicherung bereit, die Kulturveranstaltungen ab . Besucherinnen und Besuchern dadurch Planungssicherheit verschafft, dass im Falle coronabedingter Absagen, Teilabsagen oder Verschiebungen von Veranstaltungen ein Teil der Ausfallkosten durch den Fonds übernommen wird. Einige Hindernisse bestehen noch Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe bestanden allerdings noch einige nicht unbeträchtliche Hindernisse bei der Umsetzung des Sonderfonds für Kulturveranstaltungen, die hoffentlich bis zum Start der Wirtschaftlichkeitshilfe Anfang Juli und der Ausfallabsicherung Anfang September aus dem Weg geräumt werden können. Besonders wichtig ist, dass die Antragssteller einen rechtsicheren Bescheid über die Wirtschaftlichkeitshilfe oder die Ausfallabsicherung unmittelbar nach der Antragsstellung erhalten. Nur so kann verantwortlich das unternehmerische Risiko zur Durchführung einer Kulturveranstaltung unter strengen Hygienebedingungen eingegangen werden. Das ist bislang nicht vorgesehen. Vertrauen in den Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen kann nur entstehen, wenn auch klar ist, dass die Antragsteller auch die Mittel erhalten. Eine reine Registrierung ohne weitere Zusicherung, dass auch Hilfen gewährt werden, wird dies Vertrauen nicht schaffen. Zumal den Veranstaltern auferlegt wird, mögliche Vertragspartner über die Registrierung beim Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen zu informieren. Ein weiteres Hindernis ist der Zeitraum. Bislang ist der Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen nur bis zum . Dezember  geplant. Dies ist ein viel zu kurzer Zeitraum. Zumal jetzt noch nicht abzusehen ist, ob ab dem kommenden Jahr wieder Veranstaltungen in gewohnter Größenordnung stattfinden können. Umständlich erscheint derzeit, dass Tourneeveranstalter in jedem Bundesland, in dem eine Veranstaltung stattfindet, einen Antrag auf Wirtschaftlichkeitshilfe stellen muss. Das könnte bedeuten, dass beispielsweise für eine Tournee einer Band durch  Bundesländer,  Anträge auf Wirtschaftlichkeitshilfe gestellt werden müssen. Hier scheint noch Nachbesserungsbedarf vor allem mit Blick auf bürokratische Hürden zu bestehen. Ein besonderer Pferdefuß ist aus unserer Sicht, dass die Wirtschaftlichkeitshilfe nur für Veranstaltungen mit bis zu . Teilnehmern beantragt werden kann und hier nur . Tickets bezuschusst werden. Das ist insbesondere für größere privatwirtschaftliche Veranstalter ein erheblicher Nachteil bei der Planung von Veranstaltungen. Sie kommen in der Regel ohne öffentliche Förderung aus. D. h. die Ticketeinnahmen müssen alle Kosten decken und eine Gewinnmarge enthalten. Wenn, coronabedingt, weniger Tickets verkauft werden können, ist es nicht möglich kostendeckend zu arbeiten und schon gar nicht einen Gewinn zu erwirtschaften, um die in  Monaten entstandenen Verluste auszugleichen. Hier besteht eine beträchtliche Benachteiligung der Kultur- und Kreativwirtschaft. Das ist vor allem vor dem Hintergrund, dass Unternehmen im Gegensatz zu öffentlichen Unternehmen, deren Tickets vielfach umsatzsteuerbefreit sind, umsatzsteuerbelegte Tickets verkaufen und sie zusätzlich gewerbesteuerpflichtig sind. Volkswirtschaftlich sollte daher ein Interesse bestehen, größeren Unternehmen, die ihrerseits zum Steueraufkommen einen Beitrag leisten, wieder auf die Beine zu helfen. Diese und weitere Themen wird der Deutsche Kulturrat in den Lenkungsausschuss zum Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen einbringen und für angepasste Lösungen eintreten. Lang hat’s gedauert und nun geht es endlich los: Der , Milliarden Euro schwere Sonderfonds des Bundes für Kulturveranstaltungen kommt! Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Gabriele Schulz ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates LVR-Dezernat Kultur und Landschaftliche Kulturpflege LVR-KULTURKONFERENZ Digitale Konferenz digital & inklusiv Eine Chance für die Kultur! 28. Juni 2021 Infos unter: www.kulturkonferenz.lvr.de #LVRKulturkonferenz Gefördert von: In Kooperation mit: 04 INLAND FOTO: ADOBE STOCK/ ALIPKO www.politikundkultur.net Eine der Spezialregelungen im Kulturgesetzbuch ist das »Musikschulgesetz« Ein Kulturgesetzbuch für Nordrhein-Westfalen Bündelung aller Kulturaktivitäten in einem Gesetz GERHART BAUM UND ROBERT VON ZAHN D ie NRW-Landesregierung hat den Entwurf eines Kulturgesetzbuches vorgelegt. Der NRW-Kulturrat hat den Gesetzgebungsprozess begleitet und in Beratungen mit der Landesregierung, an der Spitze Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, zahlreiche Änderungen durchgesetzt. Der Kulturrat NRW begrüßt das Vorhaben trotz einiger Defizite, von denen er hofft, dass sie in den Parlamentsberatungen noch behoben werden. Das Gesetz soll am . Januar  in Kraft treten. Es knüpft an das bisher geltende Kulturfördergesetz an und bündelt zum ersten Mal alle Kulturaktivitäten in einem Gesetz. Musikschulen und Bibliotheken erhalten eine gesetzliche Grundlage. Sehen wir uns eine der Spezialregelungen an, das »Musikschulgesetz«: Im Gesetz werden die Musikschulen als wichtige Orte kultureller Bildung beschrieben. Qualität soll den Ausschlag für eine Landesförderung geben. Auch private Musikschulen erhalten die Möglichkeit, Projektmittel zu beantragen. Allgemeine Förderkriterien für Musikschulen leitet das Gesetz von Kriterien der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGST) ab. Das Gesetz führt eine Zertifizierung ein, die sowohl öffentliche als auch private Musikschulen erhalten können und die mittelfristig Fördervoraussetzung werden soll. Das Gesetz bietet damit die Grundlage für eine qualitative Weiterentwicklung der gesamten Musikschullandschaft in NRW. Das Gesetz regelt erstmals die Provenienzforschung. Es bekämpft prekäre Arbeitsverhältnisse durch die Festlegung von Honoraruntergrenzen und Vorgaben für mehr Festanstellungen. Im Gesetz sind neue Beteiligungsformate festgelegt. Transparenz und Beteiligung will die Landesregierung verbessern. Das Gesetz thematisiert auch die aktuellen Entwicklungen auf den Feldern Digitalität, Integration und Diversität. In Bezug auf die Digitalisierung etwa geht der Text deutlich über das noch gültige Kulturfördergesetz hinaus. Digitalität behandelt das Gesetz als Kunstform, als künstlerische Produktion, als Präsentation und Vermittlung von Kunst und damit als Chance für neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen, sowie als Bewahrung des kulturellen Erbes. Zu den Aufgaben des Landes gehören das Schaffen von künstlerischen Freiräumen, die Bereitstellung von digitalen künstlerischen Produktionsmöglichkeiten und die Unterstützung der Kultureinrichtungen beim Ausbau der digitalen Infrastruktur. Die freie Kulturszene wird in ihrer Bedeutung anerkannt. Künstler- und Künstlerinnenförderung zielt nicht nur auf das künstlerische Schaffen, sondern auch auf Öffentlichkeitsarbeit, Weiterbildung, den allgemeinen Lebensunterhalt, etwa durch Stipendien, sowie auf Organisationen der Künstlerinnen und Künstler. Ein besonderer Schwerpunkt soll künftig auf der Förderung der Kultur im ländlichen Raum liegen, doch die Aussagen mit Selbstverpflichtungs-Charakter wirken eher zögerlich. Im Zuge der parlamentarischen Diskussion könnte noch eine Schärfung erfolgen. Auch die Behandlung der einzelnen Sparten im Gesetz ist noch unausgewogen. Manche Sparten, wie etwa Film und Medienkunst, werden ausführlich behandelt, andere, wie etwa der Tanz, mit knappen Sätzen. Ungeregelt ist bisher auch ein deutlicher Abbau der bürokratischen Verfahren und die Ermöglichung von Planungssicherheit. Das Gesetz formuliert die Entbürokratisierung als Ziel, doch der Weg dorthin wird nicht klar. Eine Kulturförderrichtlinie soll das Gesetz begleiten und diese Materie regeln. Diese Förderrichtlinie ist, laut Gesetz, alle zwei Jahre zu evaluieren. Das ist zu begrüßen, denn der Bürokratieabbau muss endlich in Angriff genommen werden, auch um längerfristige Planungen zu ermöglichen. Es darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass insgesamt das öffentlich finanzierte Kulturleben Nordrhein-Westfalens vor allem Aufgabe der Kommunen ist. Weit über  Prozent der öffentlichen Kulturausgaben kommen aus kommunalen Kassen. Eine Landesregierung, die über den landesfinanzierten Teil hinaus öffentliches Kulturleben steuern möchte – und das muss sie tun –, sollte Geld in die Hand nehmen. Das geschah lange Jahre nur sehr zögerlich, bis die Regierung Laschet den Kulturetat um  Prozent erhöht hat. Wir hatten eine Verdoppelung gefordert. Das klingt nach viel Geld, aber  Prozent bedeuten nur eine Erhöhung von  auf  Millionen Euro. Schon mit dieser Erhöhung sind jedoch wichtige Impulse gelungen. Eine Verdoppelung des jetzigen Haushalts in der nächsten Legislaturperiode ist Ziel des Kulturrats NRW. Nicht vergessen werden darf, dass das Land als Corona-Hilfe  Millionen für Künstlerstipendien und  Millionen für die kulturellen Einrichtungen zur Verfügung gestellt hat – neben einer Soforthilfe und den Hilfen des Wirtschaftsministeriums. Die Stipendien werden nicht auf andere Hilfen angerechnet. Der Kulturrat NRW würde es begrüßen, wenn es angesichts der Bedeutung des Gesetzes zu einer parteiübergreifenden Zustimmung kommen würde. Denn das Gesetz zeigt unter Kulturpolitikern unbestrittene Perspektiven und Rahmenbedingungen für die Landeskulturpolitik der nächsten Jahre auf. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören Transparenz und Verbindlichkeit als leitende Kriterien. Dazu werden klar strukturierte Konferenzen mit verbindlichen Vereinbarungen beitragen. Das Gesetz soll im Land bewirken, dass der Stellenwert der Kultur an Bedeutung gewinnt. Schon jetzt in der Pandemie scheint das Bewusstsein dafür, dass eine freie Gesellschaft Kultur zu ihrer Entwicklung braucht, gewachsen zu sein Das Gesetz ist auch ein wichtiges kulturpolitisches Signal in einer Zeit des Umbruchs, der nicht nur durch die Pandemie bewirkt wird, sondern auch durch die digitale Globalisierung und durch die weltwirtschaftlichen und finanzpolitischen Veränderungen. In unserem Lande wird entscheidend sein, wie sich die Staatsfinanzen und auch das Wirtschaftswachstum entwickeln. Werden die Kulturausgaben unter Druck geraten? Wird es zu Verteilungskämpfen zwischen den einzelnen Politikbereichen kommen? Es ist daher wichtig, dass schon heute eine kulturpolitische Debatte geführt wird, wie wir das soeben auch mit einer Kulturkonferenz getan haben, über die wir an dieser Stelle noch berichten. Das Gesetz soll im Land bewirken, dass der Stellenwert der Kultur an Bedeutung gewinnt. Schon jetzt in der Pandemie scheint das Bewusstsein dafür, dass eine freie Gesellschaft Kultur zu ihrer Entwicklung braucht, gewachsen zu sein. Dieses Bewusstsein darf sich nicht wieder abschwächen. Das Gesetz macht deutlich, dass Kultur eine Querschnittsaufgabe der ganzen Landespolitik ist. Es wurde sorgfältig mit den anderen Ressorts abgestimmt. Wichtig ist, dass in einem solchen Gesetz, unabhängig von den Entscheidungen in künftigen Haushalten, einzelne Elemente der Kulturförderung durch Selbstverpflichtung des Landes auf gesetzliche Grundlagen gestellt werden. Das Gesetz bietet somit Rahmenbedingungen angesichts einer ungewissen Zukunft. Mit dem Gesetz möchte die Landesregierung bekräftigen, dass Kulturpolitik nach dem Grundgesetz in erster Linie Aufgabe der Bundesländer ist und nicht in einem Bundeskulturministerium ihren Ausdruck finden muss. Richtig und konsequent angewandt, wird mit diesem Gesetz die Kulturpolitik im Lande gestärkt werden. Es dürfte keine Schwierigkeiten machen, die genannten Defizite noch zu beheben. Das Vorhaben kann auch Vorbild für andere Bundesländer sein. Gerhart Baum ist Vorsitzender des Kulturrates NRW. Robert von Zahn vertritt die Sektion Musik des Kulturrates NRW INLAND 05 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Sichern wir unsere Selbständigen ab! Dauerhafte Regelung bei Arbeitslosigkeit oder Arbeitsausfall dringend notwendig ENZO WEBER D ie Coronakrise führt den Wert sozialer Sicherung dramatisch vor Augen. Während sozialversicherungspflichtig Beschäftigte durch den Anspruch auf Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld abgesichert sind, ist das bei Selbständigen in aller Regel nicht der Fall. Im Kulturbereich ist diese Zweiteilung oft nahe beieinander klar zu beobachten: Freischaffende können plötzlich vor dem Nichts stehen, Angestellte, die vielleicht ganz ähnliche Tätigkeiten wahrnehmen, gehen in Kurzarbeit. Daher sind viele Selbständige in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Aus dem Stegreif mussten Unterstützungspakete geschnürt werden, die aber oft als zu eingeschränkt wahrgenommen werden. Gerade Lebenshaltungskosten – also die Unternehmerlöhne – waren nicht abgesichert, sieht man von der Grundsicherung ab, die jedoch trotz der in der Coronakrise vereinfachten Bezugsbedingungen für viele Selbständige nicht in Frage kommt. Das alles macht so klar wie noch nie: Es fehlt eine verlässliche dauerhafte Regelung, wie Selbständige bei Arbeitslosigkeit beziehungsweise Arbeitsausfall unterstützt werden können. Zwar können sich bestimmte Selbständige in der Arbeitslosenversicherung freiwillig versichern, aber die Bedingungen sind restriktiv: Benötigt werden Vorversicherungszeiten, so dass es sich eigentlich nicht um eine Arbeitslosenversicherung für Selbständige, sondern für ehemalige Angestellte handelt. Entsprechend ist die Zahl der versicherten Selbständigen gering. Das liegt aber nicht nur an den deutschen Regeln: Auch international ist eine sehr geringe Abdeckung freiwilliger Arbeitslosenversicherungen der Normalfall. Rein mit einer Absicherung gegen Arbeitslosigkeit hätte man die Auswirkungen der Krise auf Selbständige aber nicht in den Griff bekommen. Denn eigentliche Arbeitslosigkeit trat in den meisten Fällen gar nicht ein. Gerade Künstlerinnen und Künstler geben ihren Beruf nicht wirklich auf, und dazu soll ja auch niemand gedrängt werden. Vor allem wird also auch eine Kurzarbeitsregelung für Selbständige benötigt, denn in den meisten Fällen wurde und wird das Geschäft nicht endgültig aufgegeben, aber die zeitweisen Einkommenseinbußen sind immens. Natürlich stellt sich die Frage: Liegt es nicht in der Natur unternehmerischen Handelns, die Risiken selbst zu tragen? Gewiss, eine selbständige Tätigkeit ist etwas anderes als eine abhängige Beschäftigung. Aber im Krisenfall besteht die Problematik ja trotzdem, dass Selbständige bei Eintreten der Risiken unmittelbar vor dem Gang in die Grundsicherung stehen – der ihnen in vielen Fällen aber durch die Bedürftigkeitsregelungen dann doch versperrt ist. Und soziale Absicherung zeigt ihren Nutzen nicht erst im Krisenfalle, sondern hält den Rücken frei für eine nachhaltige und zuversichtliche berufliche Entwicklung. Die Zahl der Selbständigen in Deutschland sinkt, nicht erst seit Corona – etwas mehr Gründungsmut könnte dem Land nur guttun. Zudem würde eine umfassende Absicherung dazu führen, dass das Entgeltniveau am Markt die Kosten der sozialen Sicherung einbezieht – die Bruttoverdienste würden also steigen. Das kann man etwa am Unterschied von sozialversicherungspflichtigen Bruttoentgelten gegenüber Minijobentgelten beobachten, welche für die Arbeitnehmer sozialversicherungsfrei sind. Wenn soziale Sicherung aber für Selbständige umfassend organisiert wird, ist es umso wichtiger, die konkreten Regeln praktikabel auszugestalten. Gerade eine Absicherung für vorübergehende Arbeitsausfälle – also ein Kurzarbeitergeld für Selbständige – ist zentral. Gleichzeitig ist eine solche Regelung aber nicht trivial, sondern stellt wesentliche Herausforderungen. Dafür und für eine Arbeitslosenversicherung für Selbständige generell haben Paul Schoukens und ich im Krisenjahr  eine Reihe von Empfehlungen herausgearbeitet. So geht es darum, wie hoch ein Einkommensausfall ist und wodurch er verursacht wird. Insbesondere muss darauf geachtet werden, dass Lohnersatzleistungen nicht routinemäßig schon dann fließen, wenn es zu normalen Schwankungen der Auftragssituation kommt. Folglich sind einige Bedingungen notwendig: • So sollte ein bestimmter Mindesteinkommensrückgang unter den aktuellen Standard nachgewiesen werden. • Es müsste ein klarer Grund für den Einkommensrückgang angegeben werden, der unfreiwillig und kurzfristig unvermeidlich war. • Es müssten realistische Perspektiven aufgezeigt werden, die Aktivität nach einem vorübergehenden Ausfall wiederaufzunehmen. • Während es in der Natur der Kurzarbeit liegt, dass man für die Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehen muss, könnte bei länger andauerndem Arbeitsausfall aber eine Verfügbarkeit für Weiterbildung und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen verlangt werden. • Wie üblich wäre die Kurzarbeit zeitlich zu begrenzen. • Geprüft werden könnte im Vorhinein und mit besserer Informationslage noch einmal nachgelagert. Diese Regeln würden dazu dienen, Mitnahmeeffekte möglichst gut zu begrenzen. Sicherlich liegen bestimmte Informationsasymmetrien vor. Allerdings wäre z. B. durchaus nachvollziehbar, mit welchem Geschäftsmodell bisher Einkommen erzielt wurde, ob dieses extern gestört wurde und ob die Aussicht auf eine Fortsetzung besteht. Unter dem Strich wäre Kurzarbeit für Selbständige bei außergewöhnlichen Ereignissen möglich – vorab mit klar definierten Bedingungen, die transparent ausgestaltet werden sollten. Kurzarbeitergeld ist dabei eine Leis- tung der Arbeitslosenversicherung. Das bedeutet: Selbständige wären in die Arbeitslosenversicherung einzubeziehen. Zur Finanzierung sollte es einen Beitrag geben, der sich anders als gegenwärtig am laufenden Einkommen orientiert. So wäre sichergestellt, dass das Ziel der Einkommensstabilisierung auch tatsächlich erfüllt wird und dass Beiträge nur entsprechend der eigenen finanziellen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Die Leistungen sollten dann wie üblich abhängig von den Beiträgen berechnet werden. Momentan orientieren sich die Leistungen für Selbständige dagegen an der formalen Qualifikation; bei gleichen Beiträgen erhält man mit höherer Qualifikation also ein höheres Arbeitslosengeld. Das entspricht natürlich nicht dem Äquivalenzprinzip, und gerade bei künstlerischen Tätigkeiten ist ein formaler Abschluss sicherlich nicht notwendigerweise ein entscheidendes Kriterium. Wichtig ist auch, sich bei allen Versicherungsregeln an dem erzielten Einkommen zu orientieren, und nicht an einer kaum messbaren Zahl von Arbeitsstunden. Anders als bei eilig geschnürten Notpaketen gäbe es also von vornherein verlässliche Bedingungen – sowohl bei den Leistungen als auch bei der Finanzierung. Und auch bei Wechseln zwischen selbständigen und angestellten Tätigkeiten wäre eine kontinuierliche Absicherung gewährleistet. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld, anders als bei der oben geschilderten Kurzarbeit, wäre bei Selbständigen an eine tatsächliche Beendigung der Tätigkeit gebunden – z. B. die Schließung ihres Geschäfts. Anders als bei der Entlassung eines abhängig Beschäftigten ist bei ihnen allerdings schwer zu prüfen, inwieweit das unfreiwillig geschah. Daher müsste zumindest nachgewiesen werden, dass die Geschäftsaufgabe aus triftigen Gründen und nicht etwa deshalb erfolgte, um die Versicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Um Fehlanreize für eine übermäßige wiederholte Inanspruchnahme zu vermeiden, werden oft Regelungen wie eine Deckelung der Zahl der Anträge verwendet. Allerdings schränkt dies eine kontinuierliche soziale Absicherung auf gravierende Weise ein. Denkbar wäre stattdessen ein weniger abruptes »experience rating«, das im Falle wiederholter Inanspruchnahme von Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld das Leistungsniveau reduziert. Eine solche Regelung wäre sowohl kontinuierlich als auch anreizkompatibel. Bei der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt sollte freischaffenden bzw. unternehmerischen Persönlichkeiten in einer ersten Phase Spielraum gegeben werden, sich in der Arbeitslosigkeit frei für eine selbständige Tätigkeit entscheiden zu können. Bleiben solche Bemühungen allerdings aus oder hält die Arbeitslosigkeit länger an, sollte aber eine rasche Arbeitsmarktintegration durch entsprechende Vermittlungsaktivitäten sichergestellt werden. Die Absicherung gegen Arbeitslosigkeit hat einen hohen persönlichen und gesellschaftlichen Wert, unabhängig davon, ob jemand einen Arbeitsvertrag unterschrieben hat. Die Regeln einer Versicherung für Selbständige sollten denen für Beschäftigte so ähnlich wie möglich sein, aber auch so spezifisch wie nötig ausgestaltet werden. Dies würde verlässliche Bedingungen schaffen, um in die nächste Krise nicht genauso hineinzulaufen wie in die aktuelle. Enzo Weber ist Forschungsbereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Lehrstuhlinhaber an der Universität Regensburg Mehr dazu: Paul Schoukens, Enzo Weber: Unemployment insurance for the self-employed: a way forward postcorona. IAB-Discussion Paper / (bit.ly/oCPm) und Soziale Sicherheit / und / Mehr Distanzbewusstsein, weniger Identifikation Problematische Tradition des Gedenkens JOHANN HINRICH CLAUSSEN Also, um das einmal klarzustellen: Ich bin nicht Sophie Scholl. Dietrich Bonhoeffer bin ich übrigens ebenfalls nicht, auch nicht Helmuth James Graf von Moltke oder gar Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Warum musste das einmal gesagt werden? Es gibt in Deutschland eine lange und problematische Tradition, unserer wenigen Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur und der christlichen Märtyrer aus dieser Zeit in einer vereinnahmenden Weise zu gedenken. Man hebt sie auf ein Podest, glättet ihre Gesichtszüge, verwandelt ihre zerrissenen Biografien in erbauliche Legenden, verehrt sie andächtig und macht sie sich dabei selbst zunutze, gebraucht sie, um unter Berufung auf ihre heiligen Namen eigene Anliegen zu befördern. So weit, so bekannt. Der einhundertste Geburtstag von Sophie Scholl gibt Anlass, darü- ber neu nachzudenken. Um junge Menschen für ihre Geschichte zu interessieren, starteten der Südwestdeutsche und der Bayerische Rundfunk den Instagram-Kanal »@ ichbinsophiescholl«. Insgesamt zehn Monate lang soll er täglich neue Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsgeschichten liefern. Die beliebte Schauspielerin Luna Wendler, wie soll man sagen, spielt dabei die Rolle einer in der Gegenwart lebenden Sophie, verbindet so die Erinnerung an deren letzte, entscheidende Monate mit Assoziationen zu heutigen Erfahrungen und Fragen. In der Tat, das Konzept geht auf, wenn man die Zahlen der Follower betrachtet. Die Sender sind voller Stolz und Freude: Dieses »digitale Leuchtturm-Projekt untermauert den Anspruch, dass öffentlich-rechtliches Programm jenseits von linearen Abspielwegen funktioniert und sich behaupten wird«. Warum nur beschleicht mich dabei ein Unwohlsein? Ich muss zugeben, dass ich die Inhalte dieses Kanals nur oberflächlich wahrgenommen habe. Jüngere Familienmitglieder haben mir ausdrücklich verboten, mich bei Instagram anzumelden – »zu alt« –. Aber ich habe Anfang dieses Jahres die beeindruckende Scholl-Biografie »Es reut mich nichts« meines Kollegen Robert Zoske gelesen und in meinem Podcast »Draußen mit Claussen« mit ihm über angemessene und problematische Formen des Gedenkens gesprochen. Bei der Lektüre ist mir vor allem aufgegangen, wie weit Sophie Scholl von jungen Menschen heute entfernt ist. An einem Detail wird dies besonders deutlich: ihrem höchst skrupulösen, von religiösen und sozialen Hemmungen bestimmten Verhältnis zur eigenen Sexualität. Deshalb schreibt Zoske gegen eine lange Tradition der Glättung und Vereinnahmung an und entwirft so das »Porträt einer Widerständigen«, einer sensiblen, klugen, widersprüchlichen, frommen, anstrengenden, mutigen jungen Frau, die einen langen Weg zurücklegen musste, bis sie sich entschieden hatte: Ich schweige nicht! Wer ihrer gedenken will, sollte sich des Abstands bewusst sein, der zwischen ihr und uns liegt. Das ist schlicht ein Zeichen des Respekts ihr gegenüber und einer von Demut geprägten Selbsteinschätzung. Zudem ist es doch sehr die Frage, ob der guten Sache damit gedient ist, wenn man Sophie Scholl heute viele »Follower« verschafft. Eine moralische Person wird man nicht, wenn man fernen Heldinnen digital nachläuft. Man sollte lernen, das eigene Gewissen zu bilden, Unrecht in der eigenen Umgebung wahrzunehmen und sich dann seines Mutes bedienen, um sich dagegen zu engagieren. Warum ich darauf so insistiere? Der gut gemeinte Instagram-Kanal »@ ichbinsophiescholl« ist nicht allein. Parallel zu ihm sind politisch anders gerichtete, aber strukturell ähnliche Ansätze zu beobachten, Sophie Scholl und andere Märtyrer zu vereinnahmen. Noch ist der Auftritt einer verwirrten jungen Frau bei einer QuerdenkerDemonstration nicht vergessen. Zudem sind die Neuen Rechten hier sehr aktiv. Einige berufen sich seit Jahren auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, um so den Eindruck zu erwecken, der eigene Radikalnationalismus habe mit der NS-Diktatur nichts zu tun. Vor wenigen Jahren begannen US-amerikanische Trumpisten damit, Dietrich Bonhoeffer für sich zu reklamieren. Kürzlich hat ein neu-rechter IdeenPolitiker sogar einen digitalen Jochen Klepper-Abend veranstaltet. Doch will ich mich darüber nicht nur empören, sondern frage mich, ob mein liberalprotestantisches Milieu nicht eine gewisse Mitschuld an solchen Vereinnahmungen trägt. Denn das normal-evangelische Gedenken an Stauffenberg, Bonhoeffer, Klepper oder auch Sophie Scholl war in der Vergangenheit nicht selten ebenfalls vereinnahmend: Die Erinnerung wurde von Widersprüchen gereinigt und eigenen Interessen dienstbar gemacht. Deshalb empfehle ich aus einem Gefühl der Achtung heraus mehr Distanzbewusstsein, weniger Identifikation und nicht zuletzt Vorsicht beim Gebrauch des Wortes »Widerstand«. Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland 06 INLAND www.politikundkultur.net »Dieses Buch ist eine Streitschrift« Hans Jessen im Gespräch mit Götz Aly über sein Buch »Das Prachtboot« haben die Nazi-Herrscher am Ende versucht, möglichst viel zu vernichten. Dieses Buch schrieb sich sehr einfach. Als Historiker, der die Gewalttaten des . Jahrhunderts erforscht, Holocaust und Faschismus, kennen Sie Dokumente, die Gewalt und Vernichtung bezeugen. Haben Sie Vergleichbares bei der Arbeit an diesem Buch erlebt? Mir sind Massenmorde an den Herero und Nama selbstverständlich bekannt, ebenso die blutige Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands in DeutschOstafrika. Aber das Bild der Südsee war doch eher friedlich geprägt. Mich hat das Ausmaß und die Selbstverständlichkeit der Straf- und Mordaktionen dort sehr überrascht. Ich wusste vorher nicht, dass auf der Insel Luf, von der das berühmte Prachtboot stammt, ganz gezielt eine brutale Strafexpedition stattgefunden hatte. Solche Strafexpeditionen sind in den Lebenserinnerungen deutscher Kolonialbeamter mit Stolz beschrieben worden. Sie brüsteten sich damit, wie sie ganze Dörfer abbrannten – aber auch Kunstwerke mitnahmen, um damit die deutschen Museen für Völkerkunde, insbesondere das in Berlin, zu beliefern. Das ist seit über  Jahren nachzulesen – es hätte nichts dagegengesprochen, sich früher mit all diesen Fakten zu beschäftigen. Zur Geschichte des Luf-Bootes, so wie sie uns übermittelt wird, gehört das Narrativ: Wegen »Bevölkerungsrückgangs« auf der Insel sei das Boot nach der Fertigstellung nie zum Einsatz gekommen und deswegen praktisch »neuwertig« letztlich in Berlin gelandet. Zur historischen Wahrheit, die Sie im FOTO: ? SPK / STEFAN MÜCHLER Nicht nur Denkmäler oder Straßen- deutsche Flagge im Kolonialgebiet der namen zeugen von Deutschlands ko- Südsee gehisst hat: der Kreuzerkorlonialer Vergangenheit, sondern auch vette »S.M.S. Elisabeth«. Über ihn gibt zahlreiche Museumsobjekte stammen es eine dicke Akte im Familienarchiv, aus einstigen Kolonien. Götz Aly wid- das ich verwalte. Über sein Leben lässt met sein neues Buch dieser Raubkunst sich viel Freundliches sagen, aber auch er hatte diesen »kolonialen Blick« wie – Hans Jessen fragt nach. damals fast alle Europäer. Er sprach von »unter Schutz stellen«, »zivilisieHans Jessen: Herr Aly, »Das Prachtren« und »christianisieren primitivster boot« ist ein exemplarisches Buch. Es würdigt die großartige kulturelle, Menschen«. Außerdem kannte ich das Luf-Boot. Wir waren mit unseren handwerkliche, nautische LeisKindern vor  Jahren oft genug an tung von Südseebewohnern, die in verregneten Sonntagen im Ethnoloder Lage waren, hochseetaugliche gischen Museum Dahlem und haben Seefahrzeuge zu bauen und Langdieses Boot bestaunt. streckenfahrten zu unternehmen Das dritte mich motivierende Moment – lange vor den Europäern. Gleiwar das Humboldt Forum, in dem das chermaßen dokumentieren Sie am Boot eine herausragende Rolle spielen Beispiel des Luf-Bootes aus dem soll, und die damit verbundene und Ethnologischen Museum Berlin die Zerstörung dieser Kultur durch eine schnell zunehmende Diskussion zur kolonialen Vergangenheit Deutschrücksichtslose Kolonialpolitik, die lands. Auch wenn die Debatte von auch Deutschland seit Mitte des . Jahrhunderts betrieb. Die Gleichzei- Initiativen vorangebracht wird, deren Ansichten ich nicht immer teile, so hat tigkeit von Hochkultur und Barbasie mich doch beeinflusst und auf das rei ist der beabsichtigte Kern Ihrer Thema gebracht. Nicht zuletzt trug die Darstellung? Tatsache, dass das Humboldt Forum so Götz Aly: Das Boot ist Weltkulturerbe. lange nicht öffnete, zum Buchprojekt Bevor die Kolonialmächte in die Südbei. Ich hatte Mitte  angefangen see einfielen, sie ihrer Herrschaft und Modernität und Eisenkultur unterwar- und wollte eigentlich nur einen Aufsatz schreiben. Je länger sich die Eröfffen, hatte es Tausende solcher Boote nung verzögerte, desto mehr arbeitete gegeben. Das Luf-Boot dokumentiert, ich mich ein und umso interessanter wie die Südsee vor Jahrtausenden beerschien mir das Thema. Dann hörte siedelt worden ist. Wir haben nun das ich aus einem Hintergrundgespräch letzte Exemplar hier in Berlin. Es ist prächtig bemalt. Es kann  Menschen mit Journalisten, dass man im Humboldt Forum vorsichtig agieren wolle tragen und stammt aus der ehemaliund Objekte, die allzu sehr und ofgen Kolonie Deutsch-Neuguinea. Die Seefahrer verfügten über die Fähigkeit, fenkundig kolonial belastet seien, gar nicht erst ausstellen werde. mithilfe der Sterne zu navigieren. Ohne Schriftsprache übermittelten sie Aber seiner Größe wegen war das Boot wohlverpackt schon in den Rohbau ihr Wissen von Generation zu Genegehievt worden und die entsprechende ration. In der von Europa dominierten Außenwand erst dann zugemauert »Welterschließungsperiode«, wenn worden. In diesem Moment dachte ich: man den Kolonialismus freundlich Hochsee-Segelboot mit Ausleger, . Jahrhundert umschreiben will, wurden alle diese Kunstfertigkeiten vernichtet. Das geschah mittels moderner Werkzeuge, bedenkenloser wirtschaftlicher Ausbeutung und Plünderung und dem brutalen Einsatz militärischer Gewalt. Der nackte mörderische Terror wurde als »Vergeltung«, »Strafexpedition« oder »Züchtigung« beschönigt. Was konkret veranlasste Sie, dieses Buch zu schreiben? Eine Kette von Zufällen. Zum einen war mein Urgroßonkel Gottlob Johannes Aly bei der Eroberung dabei. Als Marinegeistlicher gehörte er zur Mannschaft jenes Schiffs, das die Interessant! Das Boot kriegen sie nicht wieder heraus – dann nehme ich das Prachtboot als Paradestück für eine exemplarische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in der Kolonie Deutsch-Neuguinea. Das Buch war vor mehr als einem Jahr fertig. Die Literatur ist übersichtlich, die Arbeit daran war viel einfacher als in der Holocaust-Forschung. Man muss in den Archiven nur die alten Handschriften lesen können. Alles liegt offen zutage, und die Deutschen damals – also vor  Jahren – hatten kein schlechtes Gewissen: Über ihre sogenannten Strafexpeditionen berichteten sie in den Zeitungen. Im Unterschied dazu Buch dokumentieren, gehört, dass das kein »Bevölkerungsrückgang« war, sondern die brutale Vernichtung großer Teile des Inselvolkes. Ja, und zwar mit unterschiedlichen Methoden. Es begann / mit einem Überfall zweier deutscher Kriegsschiffe – einer »Strafexpedition«:  deutsche Soldaten gegen  Inselbewohner, die meisten davon Frauen und Kinder. Man muss davon ausgehen, dass alle Hütten und Schiffe von den Landungstrupps abgebrannt und zerschlagen sowie  bis  Männer getötet wurden. Anschließend wurden weitere Menschen von Luf zur Arbeit auf andere Inseln deportiert. Man nannte es »Labourtrade«, im Grunde eine Form von zeitlich befristeter Sklaverei, die offiziell verboten war. Die deutsche Firma Hernsheim errichtete eine Handelsstation, die Insel wurde ökonomisiert. Während dieses Prozesses wurden Krankheiten eingeschleppt wie in vielen anderen Kolonien auch. Syphilis, Tuberkulose, Grippe, Masern – daran starben weitere Menschen in großer Zahl. Das waren die Ursachen für den von Hermann Parzinger nicht näher erklärten »Bevölkerungsrückgang«. Entgegen diesen nachweisbaren Tatsachen entstand die Mär vom »freiwilligen Aussterben« der Menschen auf Luf. Sie diente von Anfang an der Rechtfertigung, der Beruhigung des Restgewissens einiger Europäer. Schon  fand diese  in einem Fachblatt zu einer »wissenschaftlichen Mitteilung« geadelte Lüge Eingang in den Großen Brockhaus. Ihr Buch wirft ein hartes Schlaglicht auf die historischen Bedingungen, unter denen das Boot  dann nach Berlin kam. Jetzt ist es hier – und ein einmaliges kulturellhistorisches Zeugnis. Es soll eine herausragende Rolle im Humboldt Forum spielen. Was müssten zukünftige Besucher über dieses Boot und seine Geschichte wissen? Nach meiner Erinnerung an den früheren Standort in Dahlem war die Dokumentation damals miserabel. Man müsste klarmachen, was »Weltkulturerbe« am Beispiel dieses Bootes bedeutet. Man konnte damit Hunderte Kilometer weit über das offene Meer segeln. Das Boot konnte kentern, und die Besatzung konnte es wieder aufrichten – hochmodern. Das muss man herausarbeiten. Neben dieser Verneigung vor dem Weltkulturerbe wäre es notwendig, den kolonialgeschichtlichen Hintergrund genau, ohne jedes Ausweichen ins Ungefähre darzustellen: die militärische und die ökonomisch motivierte Gewalt. Wie ist die von Europa ausgehende Zerstörung dieser Welt vonstattengegangen? Das lässt sich am Beispiel des Luf-Bootes exemplarisch zeigen. Wir sollten sagen: Wir haben alles hier – und nun reden wir darüber. Das Humboldt Forum müsste sich als Ort eines offenen Prozesses verstehen. Wie und wann dieser endet, das lässt sich nicht vorhersagen. Auf der Seite des Ethnologischen Museums bedeutet das zuallererst, die Inventare zu veröffentlichen, nicht als Faksimile in altdeutscher Schrift, sondern übertragen in moderne, lesbare Typografie. Das lässt sich schnell machen, genauso wie eine Übersetzung der Verzeichnisse ins Englische – sie müssen international verstanden werden können. Wir sollten uns endlich ehrlich machen. Zum Beispiel taucht in den bislang bruchstückhaften Online-Dokumentationen des Ethnologischen Museums »SMS-Hyäne – Expedition« als »Sammlerin« auf. Wenn man stattdessen schreiben würde »Kanonenboot Hyäne – Strafexpedition« klänge die Information schon sehr anders. Oder, wie bei den Benin-Bronzen steht auch bei Südsee-Objekten oft »Sammlerin Webster«. »Webster« war der Name eines Londoner Auktionshauses, dem britische Soldaten, Kaufleute und Abenteurer Objekte aus Plünderungen und Raubzügen anlieferten, die dann auf dem Weltmarkt verscherbelt wurden. Auch da ließe sich spielend einfach – mit einem schlichten Korrekturbefehl am Rechner – Klarheit herstellen. Ich bin gespannt, wann das endlich geschieht. Sollte Ihres Erachtens eine Politik genereller Restitution, möglichst rascher und kompletter Rückgabe eingeleitet werden, weil so viele dieser Objekte unter faktischem Raubkunstverdacht stehen? Nein – nicht generell, nicht uninformiert, nicht überstürzt. Oft weiß man nicht, wem was einst gehörte. Wichtig erscheint mir eine Position der Offenheit. Objektiv ist es doch so, dass die Artefakte gerettet sind, in dem Sinne, dass sie nicht vernichtet, sondern bewahrt wurden. Ich halte es für richtig, die so lange vermiedenen Dialoge mit Politikern, Museumsleuten, Historikern, gesellschaftlichen Interessengruppen aus den Staaten zu beginnen, die einst europäische Kolonien waren. Vorher sollte die deutsche Seite erklären, dass sie sich nicht als Eigentümerin versteht, sondern als Treuhänderin, die alle verfügbaren Informationen offenlegt. Für das Prachtboot von der Insel Luf bedeutet das: Wir wissen heute nicht, wann und in welcher Weise Vertreter und Bürger des Staates PapuaNeuguinea sich dazu äußern werden. Das kann Jahre dauern. Denkbar ist auch, dass ein nachträglicher Kauf angeboten oder über einen Nachbau des Bootes verhandelt wird. Nur darf die deutsche Seite nicht davon ausgehen, dass ihr das Boot gehört. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hat sich mein Verlag auch erfolgreich um die Übersetzung meines Buches ins Englische bemüht. Ich möchte unbedingt, dass die Leute in Papua-Neuguinea meine Forschungsergebnisse lesen können. Sie sind viel zu lange nicht gefragt und als Objekte der Weltgeschichte ignoriert und ihre Vorfahren schwer misshandelt worden. Die Reaktion kritischer Ethnologen, also solcher, die an historischer Aufarbeitung von Sammlungsgeschichte interessiert sind, auf Ihr Buch ist zwiespältig: Einerseits Lob für das Schlaglicht, das Sie auf den historischen Kontext werfen – andererseits ist aber auch zu hören, Sie würden die Rolle der Museums- und Sammlungsbegründer zu eindimensional schildern, als willfährige oder blinde Mitläufer kolonialistischer Ausplünderungen. Der US-amerikanische Forscher Rainer Buschmann, den Sie im Buch explizit hervorheben, geht mit frühen deutschen Ethnologen oftmals milder um als Sie. Was sagen Sie zu solchen Reaktionen? Rainer Buschmann ist für mich ein wichtiger Diskurspartner, er hat mein Manuskript vorab gelesen, einige seiner Anmerkungen habe ich aufgenommen. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesen Fragen und ist mir in mancher Hinsicht gewiss überlegen. Andererseits: Ich habe ein interventionistisches Buch geschrieben und gehöre nicht der ethnologischen Wissenschaftsgemeinde an. Auch das hat Vorteile. Ich fühle mich frei von kollegialen Rücksichten. Mein Buch »Das Prachtschiff« verstehe ich als Streitschrift. Es soll die Diskussion befeuern und das kritische Bewusstsein schärfen. Wenn das gelänge, wäre ich froh. Vielen Dank. Götz Aly ist Historiker. Hans Jessen ist freier Journalist MEHR DAZU: Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten. Frankfurt am Main  INLAND 07 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Die Beninbronzen Eine unendliche Serie A m . Mai  berichtete der britische »Guardian« noch vor den deutschen Medien über eine hochkarätige Delegationsreise zur konkreten Vorbereitung der Restitution von Beninbronzen aus deutschen Museen nach Nigeria. Gouverneur Godwin Obaseki, König Oba Ewuare und Minister Lai Mohammed empfingen den Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger und die Hamburger Museumsdirektorin Barbara Plankensteiner sowie den Abteilungsleiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes, Andreas Görgen, der die Reise initiiert hatte und direkt nach Rückkehr ausführlich berichtete. Ein Meilenstein in einer langen Geschichte, von der hier zu berichten ist. Während aktuelle Publikationen wie Götz Alys »Das Prachtboot« die Abgründe des Zusammenraffens von Kulturgut in anderen ehemaligen deutschen Kolonien in der fernen Südsee grell und ein knapp  Seiten starker Band »Geschichtskultur als Restitution« die wissenschaftlichen Positionen allumfassend beleuchten, erinnert der Prozess »Restitution Beninbronzen« an eine unendliche Serie, die immer wieder in Verlängerung geht. Nächste Folge am . Juni dieses Jahres: Auf der Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Bund und Ländern soll es zwar nicht um einzelne Objekte gehen, aber einen »richtungsweisenden Beschluss geben«. Im Vorfeld ist von Euphorie, Durchbruch, Wendepunkt, gar gelungener Völkerverständigung die Rede, aber auch vom kreißenden Berg, der eine Maus gebiert. und wo sie sich befinden. Wir möchten ein Inventar. Diese Meisterwerke erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn die Menschheit sie sehen kann. Wenn die ganze Welt sie sehen kann. Sie sollen nicht nur für die Nigerianer, die Menschen aus Benin oder die Europäer allein zugänglich sein. Diese Meisterwerke gehören der ganzen Welt. Uns allen. Darum müssen wir zusammenarbeiten und darum müssen wir gewährleisten, dass sie zugänglich sind. Wenn sie in Nigeria oder andernorts in der Welt verschlossen bleiben, dann dienen sie nicht dem Zweck, für den die Meister, die sie einst schufen, sie gedacht hatten. Wir brauchen daher eine andere Einstellung. Und wir brauchen Respekt. Wir bestehen nicht darauf, dass alle Artefakte nach Nigeria gebracht werden. Wir wollen vielmehr, dass sie allen zur Verfügung stehen, von allen – auch von den Nigerianern – bewundert werden können. Ich freue mich auf den Tag, an dem wir eine Ausstellung wie diese in Nigeria haben werden.« Dieser behutsame diplomatische Appell des offiziellen Vertreters Nigerias wurde damals auf deutscher Seite nicht als Restitutionsforderung gewertet. Kontroversen über die rechtmäßigen Empfänger, der nigerianische Staat, der Gouverneur der Provinz Edo, der Königspalast oder das Nationalmuseum in Benin City waren ungünstige Voraussetzungen für ein formales Restitutionsersuch. Doch die erbetene Liste der Beninsammlungen von  Objekten wurde übermittelt. Seit  weiß man in Nigeria, was sich im Ethnologischen Museum Berlin befindet, wann und bei wem die Stücke erworben wurden. Nigerias Position zehn Jahre später Der diplomatische Ton hat sich geändert. Der amtierende Botschafter Nigerias Yusuf Tuggar klagte kürzlich in der FAZ: »Nigeria weiß nicht, welche Stellen die erworbenen, gestohlenen Objekte besitzen, es sei denn, sie werden ausgestellt.« Deutschland solle die Bestände seiner Museen überprüfen, »anstatt es zur Bedingung für Nigeria zu machen, korrekt zu erraten, wo sich was befindet«. Tuggar moniert zudem, »dass die SPK weiterhin bestritte, dass Nigeria jemals offiziell eine Repatriierung verlangt hätte, insbesondere seitens Prinz Adetokunbo Kayode, der  eine Ausstellung von Werken aus Benin im Dahlemer Museum besuchte«. Im August  forderte Tuggar in einem Brief an Bundeskanzlerin Merkel und Staatsministerin Grütters die »Restitution von geraubten kulturellen Kunstwerken«. Gespräche folgten, doch kein formales Rückgabeersuchen per Verbalnote mit Angaben, welche Objekte zurückverlangt werden und Begründung des Rückgabeersuchens. Nun weiß Botschafter Tuggar sicherlich, wie eine formvollendete Verbalnote funktioniert Gab es eine Rückforderung ? und die Liste der Berliner Objekte hat Drei Jahre später schloss die damalige seine Regierung ja auch. Doch wäre es Vizedirektorin des Weltmuseums Wien, nicht eine Zumutung, die geraubten Barbara Plankensteiner, die Vorberei- Werke derart zurückzuerbetteln? Ist es tung einer internationalen Wanderaus- nicht klüger, die mediale Aufmerksamstellung »Benin –  Jahre höfische keit wach zu halten? Kunst aus Nigeria« ab, die in Wien, Berlin und Chicago präsentiert wurde. Sie Zehn Jahre Verhandlungen stand im Austausch mit den Nachkom- Die Rede des Ministers Adetokunbo men des Königs von Benin und offiziel- Kayode von  blieb aufseiten der len Vertretern Nigerias. Zur Eröffnung Museen nicht folgenlos. Plankensteiin Berlin am . Februar  waren wir ner folgte dem Appell nach ernsthafter im Ethnologischen Museum auf eine of- Partnerschaft und gründete eine infizielle Rückgabeforderung vorbereitet. ternationale Arbeitsgruppe, später als In seiner Eröffnungsrede äußerte sich »Benin Dialogue Group« bekannt. Seit der nigerianische Kulturminister Prince  diskutiert sie über den zukünftiAdetokunbo Kayode: gen Umgang mit den Beninbronzen im »Darf ich die heutige Gelegenheit Verbund aller europäischen Museen, in nutzen und Sie um Partnerschaft und deren Besitz sie sich befinden, sowie Zusammenarbeit bitten? Führen wir die mit nigerianischen Vertretern. Die urMeisterwerke zusammen! Wir möch- sprüngliche Idee von Leihgaben überten wissen, wie viele von ihnen es gibt zeugte externe Kritiker nicht, immerhin Zeit für einen Rückblick Die Museen haben keineswegs verheimlicht, dass die über die westliche Welt verteilten Beninbronzen aus dem Beutezug der Briten nach Zerstörung des Königspalastes von Benin  stammen. Im Ethnologischen Museum Berlin wurden die Erwerbsumstände der brutalen »Strafexpedition« geschildert, in Ausstellungs- und Pressetexten, Katalogen, Interviews. Die Politik war im Bilde. »(Ein)Sammeln, (Ab)Kaufen, (Aus)Rauben, (Weg)tauschen – Zeitgeist und Methode ethnographischer Sammlungstätigkeit in Berlin« lautete der Vortrag, den ich  mehrfach anlässlich des -jährigen Jubiläums der Staatlichen Museen zu Berlin, Titel »Zum Lob der Sammler« und des . Todestages Adolf Bastians, Gründungsdirektor des Völkerkundemuseums Berlin, unter dessen Ägide Felix von Luschan die Bronzen auf Auktion in London erworben hatte, vortrug und den Tatbestand des Unrechtskontextes offenlegte. Ich handelte mir den Vorwurf der Nestbeschmutzung ein. FOTO: ETHNOLOGISCHES MUSEUM DER STAATLICHEN MUSEEN ZU BERLIN  PREUSSISCHER KULTURBESITZ / MARTIN FRANKEN VIOLA KÖNIG Gedenkkopf einer Königinmutter aus dem Königreich Benin, . Jahrhundert begriffen einige, dass die Restitution ein politisches Minenfeld war: unterschiedliche Trägerschaften und Gesetze auf europäischer Seite, Ansprüche verschiedener Gruppen auf nigerianischer. Von der Nestbeschmutzung zur öffentlichen Anerkennung kolonialer Unrechtskontexte in deutschen Museen Botschafter Tuggar, der in eigener Sache den Druck erhöht, ist nicht der Einzige. Die Kunsthistorikern Bénédicte Savoy forschte über Forderungen Nigerias in den ern, die von der deutschen Kulturpolitik, auch auf Betreiben einiger Museumsdirektoren, abgewiesen wurden. Zwar waren die Zusammenhänge komplexer, als es in der selektiven Auswahl der Quellen erscheint, bezeugt ist jedoch die desinteressiert-ablehnende Haltung gegenüber der Thematisierung problematischer Provenienzen aus kolonialem Kontext in den Berliner Sammlungen, die sich noch  in meiner Stigmatisierung als »Nestbeschmutzerin« und der unsensiblen Rezeption der Rede des nigerianischen Kulturministers  äußerte. Über ähnliche Erfahrungen mit der Benin Dialogue Group berichtet Plankensteiner. Restitution ab : Wer bestimmt das Tempo, wer stellt Bedingungen? Der Neubau eines Museums of West African Art in Benin/Nigeria hat die Debatte erleichtert. Wird so eine Institution der ehemaligen Kolonialherren – das Museum – zum Maßstab von Restitution genommen? Wollte man Unrecht anerkennen und wieder gut machen, müsste es dann nicht den Nachkommen der beraubten Eigentü- mer überlassen sein, was sie mit den Sammlungen machen, z. B. Weiterverkauf, gar Einschmelzen der Bronzen? Eher steht zu erwarten, dass die deutschen und nigerianischen Verhandelnden sich darauf einigen, den physischen Erhalt und öffentlichen Zugang der zur Weltkunst gehörigen Werke in Museen zu gewährleisten, inklusive Option temporärer Leihgaben, eine Position, die bereits  seitens Nigerias vertreten wurde. Beide Seiten werden sich über langfristige Kooperation verständigen, der Weg für die Restitution ist frei. Sicher bleibt es ein Ärgernis, dass deutsche Museen ihre »nur« secondhand erworbenen Beninbronzen restituieren, Firsthand-Räuber wie das Britische Museum mit über  Beninwerken sich aber hinter Gesetzen aus den ern verschanzen. Doch die deutsche Seite – die Öffnung des Humboldt Forums nach Beendigung pandemischer Schonzeiten im Nacken – hat jetzt keine Zeit mehr, steht im Fokus, muss handeln. Verständlich die Erwartung des Intendanten des Humboldt Forums Hartmut Dorgerloh, dass bis September über die Rückgabe der Beninbronzen positiv entschieden wird. Die Tatsache, dass das neue Museum in Benin wohl erst ab  bestückt werden kann, möchte die aktuelle Besitzerin SPK dazu nutzen, die Bronzen auf jeden Fall im Humboldt Forum zu präsentieren, bevor sie sie »substantiell« restituiert. Derweil sind längst Restitutionen deutscher Museen in alle Teile der Welt erfolgt, nach Namibia, Neuseeland, Hawaii, Alaska. Aber erst bis Mitte Juni werden die sicherlich vorhandenen Beninlisten deutscher Museen eingesammelt. Derweil dreht sich das Personalkarussell munter weiter: Kuratoren im Humboldt Forum wechselten ebenso wie die Mitglieder der Benin Dialogue Group ihre Arbeitgeber: Bereits der zweite Experte für die Präsentation der Bronzen im Humboldt Forum, der Kurator Jonathan Fine, wechselt als Direktor ans Weltmuseum Wien, wo die Gruppe einst gegründet wurde, während die Wiener Gründerin Plankensteiner seit  Direktorin des MARRK Hamburg ist und ein weiteres Mitglied, die ehemalige Direktorin der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen und Afrikaexpertin, Nanette Snoep, ans Rautenstrauch-Joest-Museum Köln wechselte. Eine unbequeme Ausstellung im Humboldt Forum oder rasche Restitution? Angenommen, die nigerianischen Partner befürworten die Schau der Bronzen im Humboldt Forum, wie müsste eine solche Ausstellung beschaffen sein, wer kuratiert? Müsste sie nicht den Gesamtkontext der britischen Strafexpedition thematisieren, die blutige »Verwobenheit der Akteure miteinander«, wie die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin schrieb? Will das Humboldt Forum seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen, muss es dann nicht den Mut haben, Gewalt und Brutalität der britischen und nigerianischen Beteiligten darzustellen? Eine rasche Restitution dürfte der einfachere Weg sein. Viola König ist Professorin für Kulturund Sozialanthropologie und Altamerikanistik an der Freien Universität Berlin. Bis  war sie Direktorin des Ethnologischen Museums Berlin 08 INLAND www.politikundkultur.net Ideologischer Spielball Das Humboldt Forum zwischen kultureller Versöhnung und kolonialen Verstrickungen Man wird ihm über weite Strecken beipflichten müssen. Die deutschen Koloe näher die Eröffnung des Berliner nialtruppen und Überseehändler haben Humboldt Forums rückt, desto hef- im früheren Bismarck-Archipel ganze tiger flammt der Streit wieder auf. Arbeit geleistet, haben die kleinen InselDer Spiegel hat schon das Ende völker oftmals vernichtet und eine alte vor Augen. So wie geplant, kann man Seefahrerkultur »rattenkahl gefressen«, dort lesen, wird es wohl nichts mehr wie es damals schon hieß. werden mit diesem Projekt. Aber geht Götz Aly, der ein Meister der dramaes überhaupt noch um das verdamm- turgischen Fokussierung ist, stellt in den te Schloss, das Fake-Schloss, wie es im Mittelpunkt seiner scharfen Abrechnung Spiegel heißt, dass seine Gegner nicht das Prunkstück der ethnografischen verhindern konnten, weshalb sie es jetzt seiner Inhalte berauben. Als versöhnlicher Ort sich begegnender Kulturen ist es in weite Ferne gerückt. Oder geht es doch mehr um Raubkunst, die dort nicht ausgestellt werden darf; um deutsche Verstrickungen und den Kolonialismus schlechthin. Das größte Kulturprojekt unserer Zeit ist zum ideologischen Spiel- Sammlungen in Dahlem, das berühmte ball geworden. Luf-Boot, das unter nicht ganz geklärten Immerhin hat sich der Diskurs darü- Umständen in den Besitz der deutschen ber aus den postkolonialen Murmelgrup- Überseehandelsgesellschaft Eduard und pen gelöst und ist auf die große mediale Franz Hernsheim kam und jahrzehnteBühne gewechselt. Dort liefern sich die lang der Blickfang des Berliner VölkerProtagonisten im Raubkunststreit in- kundemuseums war. Das schöne Fremde zwischen einen rasanten Überbietungs- und die Wehmut seiner Betrachter. Ein wettbewerb, wer noch entschiedener für besserer Einstieg lässt sich kaum finden. die Rückgabe plädiert und noch heftiger Alys Buch hat deshalb wie eine Bombe gegen den deutschen Kolonialismus aus- eingeschlagen, weil sich die verstörenteilt. Während die Fachleute schweigen. den Ereignisse so ergreifend erzählen Lange Zeit bestimmte die Kunsthis- lassen. Die brachiale, mit modernen Matorikerin Bénédicte Savoy die Debatte. schinenwaffen hochgerüstete deutsche Mit ihren Tschernobyl-Vorwürfen ge- Überseeexpedition überfällt eine kleine, gen den Beirat des Humboldt Forums zerbrechliche Inselwelt, die man sich hat sie den Sound programmiert. Doch nicht erst seit Margaret Mead als Heimat inzwischen ist mit einer gewissen Ver- ewig singender und liebender »Naturspätung auch der Historiker Götz Aly auf völker« vorgestellt hat. »Die Deutschen den Plan getreten, der bei der Frage nach zerstörten ein Paradies«, heißt es beim Schuld und Verantwortung nicht mehr Spiegel, aber sie »behaupten bis heute viel Federlesens macht. Benin? Was war das Gegenteil«. schon Benin? Die wahren kolonialen Es ist müßig, darüber streiten zu wolVerbrechen fanden in der Südsee statt. len, ob die Rolle, die das Handelshaus JOHANN MICHAEL MÖLLER J Hernsheim damals gespielt hat, tatsächlich unseren heutigen Vorstellungen von den gewinnsüchtigen Heuschrecken entspricht; oder warum nicht noch andere Stimmen zu Wort kommen wie die des liberalen Gouverneurs von DeutschSamoa, Wilhelm Solf, des späteren Chefs des Reichskolonialamtes, ein dezidierter Verfechter einer anderen Kolonialpolitik. Und man wundert sich schon, warum sich keiner der ausgewiesenen Historiker wie Horst Gründer oder Gisela Graichen zu Wort meldet. Den blinden Fleck in der deutschen Geschichte hat es jedenfalls so nicht gegeben. Man wird dabei den Eindruck nicht los, dass es wieder um das Humboldt Forum geht. Dem versetzt Aly einen heftigen Stoß. Denn wie soll man das Boot dort wieder loswerden, wo es doch längst schon vermauert ist. Es müsste wieder herausgebrochen werden, was eine fatale Symbolik besitzt. Denn was falsch aufgebaut wurde, kann auch wieder abgerissen werden. Das »FakeSchloss«, frohlockt man beim Spiegel, ist wohl nicht mehr zu retten. Bénédicte Savoy hat sich in diesem Streit auffällig zurückgehalten. Sie schlägt lieber ein neues Kapitel auf und hat sich mit der Vorgeschichte der aktuellen Raubkunstdebatte beschäftigt – ein unrühmliches Beispiel kollektiver Verweigerungshaltung. Über Jahrzehnte hat ein raffiniertes Netzwerk von Kulturpolitikern und Museumsdirektoren alle Rückgabeersuchen behindert. Sie fühlten sich damals unangefochten im Recht. Wenn man über dieses erste, beschämende Kapitel der Restitutionsgeschichte liest, versteht man auch besser, warum es bei den Beninbronzen kein Halten mehr gab. Nofretete, hieß es schon damals, wolle nach Hause; die Schätze aus dem Benin werden den Heimweg wohl antreten können. Das ist Savoys persönlicher Triumph. Aber sie sieht die Raubkunstfrage längst in einem größeren Zusammenhang und hat die »territoriale Verlagerung von Kulturgütern in Kriegs- und Friedenszeiten« zum Kernthema ihres Forschungsclusters »Translocations« gemacht. Ein erster Bildatlas und eine Anthologie zu »Kunstraub und Kulturerbe« ist dieser Tage erschienen. Von Benin liest man nur noch am Rande; das Humboldt Forum kommt fast gar nicht mehr vor. Zwar ist immer noch von »Gefangenen in versagenden Systemen« die Rede oder der »zivilisatorischen Behauptung der europäischen Moderne«; aber wie sich diese Moderne in die »Verlagerungsgeschichten« vieler Objekte unlöschbar eingeschrieben hat, dafür öffnet sich jetzt der Blick. Translokation und Transformation lassen sich nicht voneinander trennen. So beklagte schon der gabunische Schriftsteller Paulin Joachim jene »herrliche Nutzlosigkeit«, in der die Objekte in den ethnografischen Sammlungen übereinandergestapelt lägen, »im gekühlten Universum von Galerien ohne Sonne und Farben«. Und der berühmte Film über Raubkunst, »You Hide me«, entstand  im Depot des British Museum. Ihre heutige Bedeutung haben diese Werke erst auf dem Kunstmarkt bekommen, »entkoppelt«, wie die Ethnologin Britta Hauser-Schäublin sagt, von ihrer »Herkunftsgesellschaft« und der eigenen Geschichte beraubt. Ihre Translokation lässt sich als koloniale Machtausübung erklären; ihre moderne Transformation aber nicht. Was bedeutet das für das Humboldt Forum? Es bleibt mit seiner postkolonialen Gebärde weit hinter solchen Fragen zurück. Stattdessen wird die Sackgasse immer deutlicher, in der man dort steckt. Das Humboldt Forum ist zu einem Exerzierplatz der Selbstentfremdung geworden, die sich der anderen Sichtweisen nur als Krücke bedient. »Othering« nennt man das in der Kulturwissenschaft für gewöhnlich. In Berlins Mitte sucht man Distanz zu sich selbst. Johann Michael Möller ist freier Publizist MEHR DAZU Passend zum Thema empfiehlt Politik & Kultur den Sammelband »Kolonialismus-Debatte: Bestandsaufnahme und Konsequenzen«, herausgegeben von Olaf Zimmermann und Theo Geißler. Dabei geht es um die Bedingungen unter denen Artefakte, menschliche Gebeine und Kunstwerke ins Ethnologische Museen gekommen sind. Welche Verantwortung hat der deutsche Staat heute, wie kann Wiedergutmachung aussehen? Aber nicht nur der Staat steht in der Verantwortung. Welche Rolle spielten die Missionen und wie ist das Verhältnis der Kirche zum globalen Süden heute? Welche Konzeption für das Humboldt Forum, das zukünftige nationale Museum der Weltkulturen in Berlin, ist die Beste? Was ist eigentlich Kolonialismus, Postkolonialismus oder Dekolonisation?  Autorinnen und Autoren haben sich mit diesen Themen intensiv beschäftigt. Laden Sie das Buch kostenfrei hier: bit.ly/QLweTU »Das ist eine neue Stufe des Judenhasses« Von wem? Aus allen möglichen Richtungen. Das Ludwig Greven spricht mit dem neuen hängt immer vom Milieu ab. Während Hamburger Antisemitismusbeauftrag- die einen sich bemühen zu trennen ten über Attacken auf Juden anlässlich zwischen Kritik an Israel und Hass auf des jüngsten Konflikts Israels mit der Juden, unterscheiden andere häufig Hamas, über Unterstützung für sie nicht zwischen Judentum, Israel, Zioauch durch Klimaschützer und Begeg- nismus oder Verschwörungsfantasien. nungen muslimischer Jugendlicher mit Das verschmilzt. Das ist das EinfallsIsrael. tor für Leute, die das gezielt nutzen. Stefan Hensel im Gespräch Ludwig Greven: Während der Angriffe der Hamas auf Israel gab es hierzulande antijüdische Ausschreitungen und Hass gegen Juden im Netz. Wieso werden, wenn es im Nahen Osten knallt, reflexhaft Juden in Deutschland attackiert? Was haben sie mit dem Dauerkonflikt dort zu tun? Stefan Hensel: Gar nichts, weil die meisten Juden, die hier leben, Deutsche sind. Warum die Stimmung so ist, dafür gibt es viele Erklärungen. Das eine ist das David-Goliath-Phänomen. Israel wird als der Stärkere gesehen, der sich verteidigen kann. Gemessen wird das an den Opferzahlen, obwohl das überhaupt nichts besagt. Das andere sind Vorurteile und Stereotype. Eine massive Wiederbelebung antisemitischer Weltbilder erleben wir bereits seit Beginn der Coronakrise. Simple Erklärungsmuster für komplexe Fragen. Der Antisemitismus modernisiert sich und passt sich an, je nach dem, was der Zeitgeist verlangt. Das Grundmuster bleibt jedoch immer gleich. Das hat auch jetzt dazu geführt, die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien gezielt zu lenken. Hass und Gewalt gingen diesmal sehr stark von jungen muslimischen Migranten aus, mit Unterstützung von Linken und BDSlern, die zum Boykott gegen Israel aufrufen. Woran liegt das? Das war beim letzten Gaza-Konflikt  schon ähnlich. Was wir allerdings jetzt erlebt haben, ging fast ausschließlich von jungen arabischen Männern aus. Wir haben es hier mit einem Antisemitismus zu tun, den es sehr stark auch im Nahen Osten gibt. Menschen, die von dort kommen oder Fernsehsender aus diesen Ländern verfolgen, legen ihn nicht deshalb ab, weil sie jetzt hier leben. Von dieser Seite kommt oft das Argument: Was haben wir mit eurer deutschen Geschichte und Verantwortung zu tun? Der Holocaust war ein Menschheitsverbrechen, das von Deutschen begangen wurde, aber alle Menschen betrifft. Deshalb finde ich dieses Argument absurd. Meine Erfahrung sagt jedoch, dass die Mehrheit der Migranten, auch der muslimischen, das nicht so sieht. Ich habe häufig mit Jugendlichen zu tun, die das differenziert betrachten und es häufig beeindruckend finden, was Israel geschaffen hat, und sich das für ihre eigenen Länder und die Herkunftsländer ihrer Eltern wünschen. Oder die, wenn sie im Rahmen eines Schüleraustauschs nach Israel gefahren sind, ein ganz anderes Bild haben. Auch weil sie dort ein anderes Bild von sich bekommen. Sie merken, ich werde dort in der israelischen Einwanderungsgesellschaft als Deutscher wahrgenommen, obwohl ich aus Afghanistan oder dem Irak stamme. Das stellt Fragen an ihre Identität und ermöglicht ihnen einen anderen Blick auf ihre Situation. Deshalb glaube ich, dass man nicht pauschal sagen kann, migrantische Jugendliche sind antisemitischer als andere. Das Problem betrifft Jugendliche mit einer bestimmten kulturellen Prägung, hinzu kommt eine grundsätzliche Verpestung der ganzen »Israel-Debatte«. Nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle gab es sofort Demonstrationen und Aufrufe von Politikern gegen Antisemitismus. Weshalb jetzt erst sehr spät? Es ist Politikern wohl nicht recht klar, wann Solidarität mit Juden und wann mit Israel angebracht ist. Es hat jedoch relativ klare Statements führender Politiker gegeben. Zuerst zu den Juden hier in Deutschland, dann zu der Frage, steht Deutschland an der Seite Israels. Aber wenig Konkretes zu dem Judenhass von muslimischen Migranten. Die Diskussion über muslimischen Antisemitismus ist in der Gesellschaft insgesamt schwierig zu führen, weil man immer Angst hat, dass man Muslime stigmatisiert. Grundsätzlich finde ich das löblich. Aber es verstellt den Blick auf die Wirklichkeit, vor allem auf die Migranten, die aus Ländern kommen, die nicht antisemitisch geprägt sind und die gleichen Probleme mit Leuten haben, die islamistisch und judenfeindlich sind. Sie oder ihre Eltern sind ja oft vor diesem Terror geflohen. Weshalb tun sich vor allem Linke so schwer mit Antisemitismus von Muslimen? Sie wollen keine antimuslimischen Ressentiments bedienen und Rechtspopulisten nicht in die Hände spielen. Sie tun aber das Gegenteil, weil die muslimische Gemeinschaft sehr viel differenzierter ist, als sie meinen. Verbreitet ist bei Linken auch pauschale Israelkritik. Es gibt eine starke auch mediale Fokussierung auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Dabei ist die Lage in Nachbarländern wie Syrien oder Jemen viel schlimmer. Wie finden Sie es, wenn auch auf Kanälen von Fridays for Future Karten verbreitet werden von Palästina ohne Israel, ohne Juden? Ich finde das schockierend. Das ist eine neue Stufe des Judenhasses und von Desinformation. Die sozialen Medien leisten da Vorschub. Ich habe mir Hunderte Profile von jungen Leuten angeschaut, die sich zu dem Thema geäußert haben und sonst voll sind mit Modethemen oder Ähnlichem. Wir hatten »Black lives matter«, jetzt »Stay with Gaza«. Natürlich ist es richtig, sich gegen Rassismus und für Palästinenser einzusetzen. Aber das sind Modewellen, das geht nicht in die Tiefe. In zwei Wochen haben wir da ein neues Thema. Was haben Sie sich als Hamburger Antisemitismusbeauftragter vorgenommen? Ich kann Antisemitismus nicht allein bekämpfen. Ich möchte das Thema mit denen, die sich damit befassen, voranbringen, und zwar so, dass es für junge Leute zugänglich ist. Sehr niederschwellig. Mir geht es darum, jüdisches Leben sichtbarer zu machen. Und dass wir junge Leute mit einem vom Hamburger Senat geförderten Programm nach Israel bringen und Lehrer und Lehrerinnen dazu befähigen, bei diesem Thema, das im sozialen Umfeld ihrer Schüler eine wichtige Rolle spielt, eine Position zu ergreifen. Dass Antisemitismus Judenhass ist und dieser hierzulande nichts zu suchen hat. Wer seine Schule mit »antirassistisch« labelt, aber zulässt, dass dort antijüdische Klischees verbreitet werden, macht sich unglaubwürdig. Vielen Dank. Stefan Hensel leitet die Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Auf Vorschlag der Jüdischen Gemeinde Hamburg wurde er zum . Juli vom Senat in das neue Amt des Hamburger Antisemitismusbeauftragten berufen. Ludwig Greven ist freier Publizist INLAND 09 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Kunst im Impfzentrum sind die bisherigen Reaktionen auf die Aktion? Bemerkenswert gut, sehr wertschätzend, auch dankbar. Die Menschen, die mit Sorge zum Impfen kommen, sind positiv überrascht und berührt. Sie melden das auch sehr herzlich an die Mitarbeiterschaft zurück. Die Künstlerinnen und Künstler freuen sich darüber, wieder gesehen zu werden und in Kommunikation zu sein. In einige Werke verliebten sich die Besucher und Besucherinnen so, dass sie sie erwarben. Fünf Fragen an Martina Hassel über die Ausstellung »Lichtblicke« Museen sind geschlossen. Ausstellungen und Vernissagen vertagt oder gar abgesagt. Aber Sie, Frau Hassel, sind mit der Aktion »Lichtblicke« kreativ geworden: Sie haben eine Gemeinschaftsausstellung in einem Impfzentrum initiiert. Wie kamen Sie auf die Idee? Unser Impfzentrum ist in einem ehemaligen Real-Markt aufgebaut worden, der lange leer stand. Darin zwei weiße Labyrinthe. Als Mitarbeitende habe ich mich oft verlaufen und die Umgebung als trostlos empfunden. Mein Sohn Jannis, selbst als Künstler vom Lockdown hart gebeutelt, hatte dann die Idee, für beide Probleme eine gute Lösung zu finden mit einer Ausstellung unserer heimischen Künstlerinnen und Künstler. Unsere Kreisverwaltung hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Außerordentliches geleistet mit der Errichtung, Organisation und dem Betrieb des Zentrums in allerkürzester Zeit. Daher habe ich meinen ehrenamtlichen Einsatz für die Umsetzung angeboten, wenn die Idee befürwortet wird. Was genau erwartet die Menschen, die ins Impfzentrum im rheinland- FOTO: SAMUEL BACH Ein »Lichtblick« in Zeiten des Lockdowns ist die Möglichkeit zur Ausstellung für Künstlerinnen und Künstler im Impfzentrum Bad Sobernheim. Gut . Menschen werden ihre Werke nun sehen können. Die Initiatorin Martina Hassel berichtet über das besondere Ausstellungskonzept. Samuel Bach und Jannis Hassel eine Präsentation aller Werke und eine hochwertige Fotodokumentation erstellt, die über die Homepage des Kreises und dessen YouTube-Kanal abgerufen werden können. Planen Sie weitere Aktionen in anderen Impfzentren? Nein, das würde ich ehrenamtlich nicht wirklich schaffen. Es würde uns natürlich begeistern, wenn unsere Aktion andere ermutigen würde, im jeweils eigenen Lebensbereich aktiv zu werden. Sollte dazu Rat und Tat gebraucht werden, stehe ich gerne zur Seite. Mit der Ausstellung erreichen Sie Zehntausende Menschen. Wie Martina Hassel ist Mitarbeiterin im Impfzentrum Bad Sobernheim Ein Einblick in die Ausstellung im Impfzentrum Bad Sobernheim pfälzischen Bad Kreuznach kommen, bei der Ausstellung »Lichtblicke«? Was gibt es zu sehen? Mittlerweile zeigen  Künstler und Künstlerinnen  Werke. Nicht nur die Qualität der einzelnen Kunstwerke, auch die Vielfalt beeindruckt. Kaum eine andere Ausstellungsfläche bietet die Möglichkeit, auch großformatige Werke und Skulpturen oder eine Reihe zusammengehöriger Werke in dieser Anzahl geeignet zu präsentieren. Die Auswahl der Werke orientiert sich am Thema »Lichtblicke« – und vermittelt Hoffnung, Freude, Schönheit des Lebens, Lebendigkeit. Damit daran alle Menschen teilhaben können, haben Welche Bedeutung kommt der Aktion »Lichtblicke« Ihres Erachtens zu? Kunst berührt die Herzen der Menschen. Die Großzügigkeit der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler bewirkt Dankbarkeit beim Publikum. Es entsteht trotz Vereinzelung im Lockdown ein Gemeinschaftsgefühl und neue Solidarität. Kunst wird gesehen, erlebt und kommuniziert. Das bedeutet für Kunstschaffende viel. Kunst braucht gerade jetzt wirtschaftliche Perspektiven. Die Verkäufe sichern Einnahmen und lassen auf die Zukunft hoffen. »Bist Du auch ein Funke?« Fünf Fragen an Max Schön über die Aktion »Kulturfunke« Gemeinsam mit dem Lübecker Kulturtreibhaus entwickelte die PossehlStiftung die Aktion »Kulturfunke«: Freie Künstler und Kulturschaffende, die durch das Raster der gängigen Förderangebote in der Coronakrise fallen, können sich mit einem künstlerischen Projekt um eine Förderung bewerben. Für ihre Aktion ist die Lübecker Possehl-Stiftung mit dem Deutschen Kulturförderpreis ausgezeichnet worden. Der vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V. und dem Handelsblatt vergebene Preis würdigt mit dem erstmalig ausgeschriebenen »Sonderpreis für ein herausragendes Kulturprojekt im Kontext von Covid « die Aktion »Kulturfunke« der Initiative Kulturtreibhaus als flexible und nachhaltige Unterstützung der Kulturszene. Die Possehl-Stiftung hat bereits vor einem Jahr gemeinsam mit dem Lübecker Kulturtreibhaus, einer freien Initiative von Kulturschaffenden und -institutionen, die Aktion »Kulturfunke« ins Leben gerufen. Was steht dahinter; was soll erreicht werden? Schon im März  wurde deutlich, dass der Lockdown längerfristige Einschränkungen gerade für die Freie Szene zur Folge haben wird. Nach vielen Gesprächen mit Betroffenen und Vertretern von Kulturinstitutionen entstand die Idee, Künstlern und Kulturschaffenden vor Ort zu helfen, die durch das Raster der bisherigen Hilfen fallen. Unser Förderangebot sollte zeitnah, unbürokratisch und beweglich sein. Das passt zu unserer Stiftungs-Satzung, das Gemeinwesen, Kultur und Wissenschaft in der Hansestadt zu fördern. Innerhalb von zwei Wochen haben wir die Aktion geplant und umgesetzt. Mit dem »Kulturfunken« möchten wir freie Künstler und Kulturschaffende ermutigen, auch in dieser herausfordernden Zeit nach vorne zu denken und weiterhin künstlerisch zu arbeiten. Es sind ja nicht nur die fehlenden Einnahmen, sondern auch der kreative Stillstand, der die Menschen beschäftigt und oft auch verzweifeln lässt. Aktion ist aber noch mehr entstanden. Das Team des Kulturtreibhauses hat in einem ehemaligen Fahrradladen in der Lübecker Altstadt ein festes Quartier bezogen. Dort können sich die Kulturschaffenden beraten lassen, sich miteinander vernetzen und gemeinsam neue Projekte entwickeln. All das, was vor Ort passiert, wird auf der Veranstaltungsplattform kulturfunke.de veröffentlicht. Bereits die dritte Ausschreibungsrunde von »Kulturfunke« ist aufgelegt. Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen? Was unterscheidet die Aktion Es hat sich etwas verändert in Lü»Kulturfunke« von anderen Kulbeck. Trotz des inzwischen zweimaturförderprogrammen, die bedingt ligen Stillstands wurde eine neue, durch die Coronakrise ins Leben freudige Spannung, eine Art »kultugerufen wurden? relle Dauervibration« spürbar. Die Unser Alleinstellungsmerkmal ist die Identifikation ist aufseiten der KulFörderzusage in Verbindung mit eiturschaffenden sehr hoch – »Bist Du nem verbindlichen Aufführungs- bzw. auch ein Funke?« – ebenso der BeProjektzeitraum, um Kultur auch kanntheitsgrad bei den Lübeckerinin kürzester Zeit zu erleben. Der nen und Lübeckern. Die Stadt wurde Kulturfunke ist eine sichtbare und und wird von Kulturveranstaltungen, nachhaltige Kulturförderung, das hat neuen Formaten und Zusammenoffenbar auch die Jury des Deutschen schlüssen bereichert, neue StadträuKulturpreises überzeugt. Kulturme – wie leer stehende Geschäftsräuschaffende aus ganz Deutschland me, Spielplätze, öffentliche Orte und können sich mit einem Vorhaben Wände – werden bespielt, und der um Projektförderungen in Höhe von Sommer kommt  nun zum zweijeweils bis zu . Euro bewerben ten Mal als neue »Kulturspielzeit« und unmittelbar nach Bewilligung hinzu. Kultur macht sich durch unseihre Projektmittel abrufen, auch re Aktion auf den Weg zu ihrem Pubwenn der Zeitpunkt ihrer Aktion likum mit oft niedrigschwelligen Anin der Zukunft liegt oder vielleicht geboten. Es wird genreübergreifend wegen veränderter Vorschriften –»crossover« – experimentiert, neues verschoben werden muss. Die Hilfe Publikum wird durch zufällige Bekommt sehr schnell dort an, wo sie gegnungen im Stadtraum gewonnen. gebraucht wird. Über die konkrete Und: Einem breiten Publikum wird – trotz Krise – der niedrigschwellige, stetige und größtenteils kostenfreie Zugang zu Kultur ermöglicht. Mit unserer Aktion hoffen wir auch, zu einem wichtigen kulturpolitischen Diskurs über kulturelle Teilhabe anzuregen. Wir gehen vielmehr in den Austausch mit den Akteuren, denken neu, nach vorne, in alle Richtungen. Kultur nur an den dafür vorgesehenen Spielorten zu erleben, funktioniert gerade nicht, da sind neue kulturelle Denkräume gefragt. Bis Juli dieses Jahres werden . Kulturveranstaltungen, die zum Teil auch neue Räume in der Stadt erschließen, im Rahmen von »Kulturfunke« stattgefunden haben. Wie ist der Resonanz bei den Lübeckerinnen und Lübeckern? Die Resonanz ist groß und fällt unterschiedlich aus. Eine zufällige Begegnung mit einer Seiltänzerin auf dem Wochenmarkt löst andere Empfindungen aus als ein Konzert in einem Pflegeheim oder eine intensive Begegnung im : Concert im Stadtraum. Aus den Reaktionen der Menschen spricht aber in der Regel Berührung und Begeisterung. Das erfahren wir nach wie vor fast täglich über Briefe, Anrufe und bei persönlichen Treffen. Viele Lübeckerinnen und Lübecker haben über unsere Kulturfunke-CrowdfundingPlattform kleinere und größere Beträge gespendet, um ihre Solidarität mit den Kulturschaffenden zu zeigen. Wir spüren ein großes Gemeinschaftsgefühl, das ist wirklich sehr wertvoll und zeigt einmal mehr, was Kulturförderung bewirken kann. Wie geht es ab Juli für »Kulturfunke« weiter? Wir freuen uns auf die vielen neuen und erprobten Formate, die uns über einen hoffentlich frohen und offenen Sommer bis in den Winter begleiten werden. Die dritte Ausschreibung lief bis Mitte Mai, mit noch mehr Anträgen als bisher, und wir sind gespannt auf die neuen Ideen der Künstlerinnen und Künstler. Wie sich der »Kulturfunke« dann weiterentwickelt, wird sich spätestens Ende des Jahres zeigen. Es ist ein auf Flexibilität basierendes Förderprogramm, das aktuelle gesellschaftliche Bedarfe und Entwicklungen aufnimmt und widerspiegelt. Vorsichtshalber haben wir den »Kulturfunken« beim Deutschen Patent- und Markenamt als Marke schützen lassen. Wir bekommen viel positives Feedback von Künstlerinnen und Künstlern auch außerhalb Lübecks, die uns die Einzigartigkeit und Besonderheit dieses Programms spiegeln, das es offenbar in der Form in anderen Städten nicht gibt. Wir würden uns freuen, wenn der Funke überspringt und auch andere Stiftungen, Unternehmen und fördernde Einrichtungen ein solch sichtbares und nachhaltiges Entwicklungsprogramm für ihre jeweiligen Städte und Regionen und deren freie Kulturszene auflegen. Max Schön ist Vorsitzender des Vorstands der Lübecker PossehlStiftung 10 OSTWESTPERSPEKTIVEN www.politikundkultur.net Die DDR – eine Migrationsgesellschaft? Migrationspolitik und -praxis in der DDR JOCHEN OLTMER A die Grenzsperren überwanden. Selbst wenn sich der Umfang der Abwanderung nach  als insgesamt recht bescheiden erwies, war das Thema Migration keineswegs verschwunden, wie zahllose Konflikte um die Beschränkung der Bewegungsfreiheit und die hohe Zahl der Ausreiseanträge zeigen. Und auch die materiellen und immateriellen Kosten für die Aufrechterhaltung der Blockade der Migration – Grenzsicherungsanlagen und Grenztruppen, Überwachungs- und Repressionsapparat im Innern, innen- und außenpolitische Folgen der Einschätzung der Maßnahmen als illegitim – blieben sehr hoch. Die Handlungsmöglichkeiten der Migrantinnen und Migranten waren nicht nur aufgrund einer engen Bindung an die Betriebe, eines stark beschnittenen Kündigungsrechts und einer fehlenden Lobby beschränkt Beschweigen der Zuwanderung Eine andere Antwort auf die Frage danach, ob die DDR eine Migrationsgesellschaft bildete, könnte lauten: Nein. Trotz der Omnipräsenz des Themas Abwanderung blieb es doch zugleich ein Feld des Beschweigens, des Herunterspielens, der Sprechverbote, der Geheimregeln und des Illegalen. Vergleichbares zeigte sich in Hinsicht auf die Zuwanderung in die DDR. So gab es ein weitreichendes Beschneiden von Migrationsdebatten im Hinblick auf FOTO: PICTURE ALLIANCE / AKGIMAGES | AKGIMAGES / GERT SCHÜTZ ls Migrationsgesellschaften lassen sich jene Gemeinwesen verstehen, die stetig und intensiv die Folgen räumlicher Bewegungen auf die eigene soziale Ordnung diskutieren und reflektieren. Das heißt: Zwar kennt jedes Kollektiv Wanderungsbewegungen, weil Migration ein universaler Normalfall ist. Allein die Mobilität aber macht Gesellschaften noch nicht zu Migrationsgesellschaften. Ließe sich also die DDR, die in der Rückschau nicht selten als eine »geschlossene Gesellschaft« erscheint, als eine so definierte Migrationsgesellschaft verstehen? Eine Antwort wäre: Ja. Für viele Menschen in der DDR bildete die Option der Abwanderung in den Westen eine Verheißung, deren Chancen und Risiken es sorgsam zu bedenken galt. Daran schloss sich eine alle gesellschaftlichen Bereiche und Ebenen prägende Auseinandersetzung über die Folgen von Abwanderung und Flucht für die Funktionsfähigkeit der Ökonomie oder des Bildungs- und Gesundheitswesens, aber auch für die Legitimität des politischen Systems und drei Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik ein. Nach den Angaben des  in Westdeutschland eingeführten asylähnlichen »Notaufnahmeverfahrens«, das den Zugewanderten aus der DDR unter bestimmten Voraussetzungen einen Flüchtlingsstatus mit entsprechenden Versorgungsleistungen zuwies, pendelten die Zahlen in den er Jahren zwischen jährlich ca. . und .. Höhepunkte bildeten das Jahr , aufgrund der planmäßigen Kollektivierungen / und der Ereignisse im Umfeld des . Juni , sowie / im Kontext der Verschärfung der DDR-Passrichtlinien. Nach einem Minimum  stiegen die Zahlen bis zum Mauerbau wieder deutlich an, nicht zuletzt wegen der erneut verschärften Kollektivierungspolitik. Der Bau der Berliner Mauer reduzierte die Bewegungen aus der DDR in die Bundesrepublik massiv: In den späten er, den er und frühen er Jahren schwankte ihr Umfang jährlich zwischen . und .. Er wuchs erst in der Endphase der DDR wieder an, erreichte  – nach einem bundesdeutschen Milliardenkredit an die DDR und einer Von der Gründung der beiden deutschen Staaten  bis zum Bau der Berliner Mauer  wanderten über drei Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik das Verhältnis zur Bundesrepublik an. Um die aus obrigkeitlicher Sicht in höchstem Maße existenzgefährdende Abwanderung mindestens zu behindern, möglichst aber zu verhindern, riegelten DDR und UdSSR bereits Anfang der er Jahre die innerdeutsche Grenze weitgehend ab. Die besondere Stellung Berlins aber schien Grenzsicherungsmaßnahmen zwischen den alliierten Sektoren der ehemaligen Reichshauptstadt lange nicht zuzulassen, weshalb sich die Abwanderung nur bedingt kontrollieren oder gar blockieren ließ. Bewilligung von . Ausreiseanträgen durch die SED-Führung mit dem Ziel, die innenpolitische Situation zu beruhigen – einen Spitzenwert von über ., um schließlich im Jahr der Öffnung der Mauer  auf mehr als . zu steigen. Vom Bau der Mauer  bis Ende  fanden insgesamt über . Menschen ihren Weg von Deutschland-Ost nach Deutschland-West. Der weitaus überwiegende Teil konnte auf der Basis von Ausreisegenehmigungen die Grenze überschreiten, die vor allem Rentnerinnen und Rentnern sowie anderen NichtBlutet die DDR aus? Erwerbstätigen erteilt wurden. Gering blieb Wahrscheinlich wanderten von der Grün- demgegenüber die Zahl der Erwerbstätigen, dung der beiden deutschen Staaten  die die DDR verlassen durften und die Zahl bis zum Bau der Berliner Mauer  über derjenigen, die unter größter Lebensgefahr die Ankunft von deutschen Vertriebenen und Flüchtlingen mit und nach Kriegsende . In die Sowjetische Besatzungszone gelangten aus den Provinzen des Deutschen Reiches östlich von Oder und Neiße, die mit Kriegsende in polnischen und sowjetischen Besitz übergingen, sowie aus den außerhalb der Vorkriegsgrenzen gelegenen Siedlungsgebieten von Deutschen im östlichen Europa verhältnismäßig mehr Menschen als in die westlichen Besatzungszonen: Die Volkszählungen des Jahres  in beiden deutschen Staaten ermittelten in der DDR , Millionen und in der ungleich größeren Bundesrepublik , Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Zu ihnen zählte in der DDR mehr als ein Viertel der Bevölkerung. In der Bundesrepublik setzten sich rasch in politischer Rede und öffentlicher Diskussion Begriff und Figur des »Heimatvertriebenen« durch – verstanden als durch Androhung und Anwendung massiver Gewalt ohne Handlungsalternativen unschuldig und unter Zurücklassung allen Hab und Guts aus dem Osten – also dort, wo der Feind im »Kalten Krieg« stand – bei zahlreichen Todesopfern in den Westen – wo Schutz und Sicherheit geboten wurde und humanitäre Standards galten – gelangte Menschen. Sie hätten, wie die Verwendung des Begriffs Heimat zeigen sollte, weiterhin Rechte und Ansprüche auf Eigentum und Zugehörigkeit jenseits des »Eisernen Vorhangs«. In der SBZ hingegen befahl die Besatzungsmacht bereits im September  die Verwendung des Begriffs »Umsiedler«. Weder über ihre Herkunft aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße noch über die Frage, unter welchen Umständen sie in die SBZ gelangt waren, galt es nachzudenken. Nur wenig später hießen sie »ehemalige Umsiedler«. Mit der Gründung der DDR schließlich forderte die Sprachpolitik die Verwendung des Begriffs »Neubürger«. In den er Jahren wurde auch dieses Wort getilgt, die Integration für abgeschlossen erklärt, das Reden über Konflikte und Probleme war ebenso tabuisiert wie Debatten über Identität und Herkunftsbezüge. Jedwede Effekte auf die soziale Ordnung der DDR leugneten Staats- und Parteiführung auch in Hinsicht auf die Beschäftigung von Arbeitskräften aus dem Ausland, wie sie in den er Jahren Regierungsabkommen – Kuba , Mosambik , Vietnam  – einleiteten. Verbrämt wurden sie meist als Ausbildungswanderungen, die sie aber nur zum Teil tatsächlich waren. In den er Jahren stieg die Zahl der überwiegend jungen »ausländischen Werktätigen« deutlich an. Von den  ca. . ausländischen Staatsangehörigen in der DDR stellten neben Studierenden die bei Weitem stärkste Gruppe in DDR-Betrieben Beschäftigte (.). Von ihnen kamen . aus Vietnam und . aus Mosambik. Der Anteil der Männer dominierte, nur durchschnittlich  Prozent waren Frauen. Die Arbeitskräfte aus »sozialistischen Bruderländern« arbeiteten in der DDR meist in den von Einheimischen am wenigsten geschätzten Beschäftigungsfeldern in der Produktion, z. B. zu drei Vierteln im Schichtdienst. Wegen eines Rotationssystems mit strenger Befristung der Arbeitsverträge, des Verbots der Familienmigration, einer in der Regel ausgeprägten Segregation durch Unterbringung in Wohnheimen sowie einer autoritären Betreuung und staatlich verordneten Marginalisierung blieb die Distanz zwischen Zugewanderten und DDR-Bevölkerung groß. Die Handlungsmöglichkeiten der Migrantinnen und Migranten waren nicht nur aufgrund einer engen Bindung an die Betriebe, eines stark beschnittenen Kündigungsrechts und einer fehlenden Lobby beschränkt. Außerdem wurde ein Teil des Lohns direkt an die Regierung der Herkunftsländer oder erst nach der Rückkehr ausgezahlt. Öffentliche Diskussionen über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren ebenso wenig zugelassen wie Interessenvertretungen oder politische Partizipation. Im Blick auf die Ausgangsfrage ließe sich folglich davon sprechen, dass die DDR eine Migrationsgesellschaft war, in der zentrale Organisationen – SED, Regierung, Sicherheitsapparat – zwar dauernd die Folgen von Migration für die soziale Ordnung reflektierten. Weil ihnen aber räumliche Bewegungen in vielerlei Hinsicht als Bedrohung galten, sollten nicht nur diese, sondern auch gesellschaftliche Debatten darüber eingedämmt werden. Es ließe sich mithin von einer repressiv formierten Migrationsgesellschaft sprechen, die zahllose Ambivalenzen und Widersprüche produzierte. Über sie und ihre langfristigen Folgen ist gar nicht so viel bekannt, wie man angesichts der intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der DDR und den Effekten der Vereinigung der beiden deutschen Staaten meinen sollte. Jochen Oltmer ist Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück EUROPA 11 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  »Unlocking« Kultur und Kreativität in Europa SABINE VERHEYEN I n Brüssel arbeiten wir derzeit daran, Möglichkeiten für einen EUweiten Ansatz zur Unterstützung der Kultur- und Kreativsektoren und -industrien zu erkunden, wobei der Schwerpunkt auf der Wiedereröffnung der kulturellen Veranstaltungen und Veranstaltungsorte in Europa liegt. Unser Ziel ist es, eine reibungslose und sichere Rückkehr zu Veranstaltungen und einen koordinierten Ansatz auf der Grundlage gemeinsamer Indikatoren zu diskutieren, der dazu beiträgt, Beschränkungen aufzuheben und gleichzeitig das Vertrauen des Publikums zu stärken, dass die Wiedereröffnung auf verantwortungsvolle Weise erfolgt. Dies wird für das Überleben der Kultur- und Kreativwirtschaft, die von den Beschränkungen, die zur Eindämmung der Pandemie verhängt wurden, besonders stark betroffen ist, von entscheidender Bedeutung sein. Die Kultur- und Kreativsektoren verloren im Jahr  rund  Prozent ihrer Einnahmen, wobei die Branchen, die am stärksten von Live-Events abhängig sind, so wie die darstellenden Künste (Rückgang von  Prozent) und Live-Konzerte (Rückgang von  Prozent) am stärksten betroffen sind. Gemeinsam mit der Europäischen Kommission, die vor Kurzem ihre Mitteilung über »einen gemeinsamen Weg zur sicheren und nachhaltigen Wiedereröffnung« veröffentlicht hat, arbeiten wir im Europäischen Parlament nun an den notwendigen nächsten Schritten, die für eine koordinierte, schnelle und sichere Wiedereröffnung des Kultur- sektors unternommen werden müssen. Wie in der Mitteilung der Kommission zu Recht erwähnt, erfordert eine effiziente und erfolgreiche Wiedereröffnung eine Koordinierung auf EU-Ebene. Ohne diese wird die Wiedereröffnung länger dauern, mehr kosten und weniger nachhaltig sein. Darüber hinaus gewährleistet eine koordinierte Wiedereröffnung die Kontinuität des Binnenmarktes, der untrennbar mit dem wirtschaftlichen und sozialen Leben der Europäer verbunden ist. Für die kommenden Monate, die für viele Künstler und Kulturunternehmen in der EU existenziell wichtig sind, bleibt nicht viel Zeit, wir müssen jetzt Perspektiven schaffen. Viele Vertreter aus dem Kultur- und Kreativsektor haben in den vergangenen Monaten eng mit den nationalen und lokalen Regierungen sowie den nationalen und EU-Gesundheitsbehörden zusammengearbeitet. Sie haben Testveranstaltungen organisiert, wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen und Standards entwickelt, die zeigen, wie sichere Veranstaltungen für das Publikum gestaltet werden können. Diese sollten die Ausgangsbasis und ein nützlicher Bezugspunkt für uns in Europa bei der weiteren Arbeit an der sicheren Wiedereröffnungsstrategie sein. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Pilotevent hat in Barcelona stattgefunden. Ende März hatten . Fans die Show der Rock-Indie-Band »Love of Lesbian« besucht. Zwei Wochen nach dem Konzert hat es in den Daten des staatlichen Gesundheitssystems »kein Anzeichen« für eine Übertragung des Coronavirus während der Großveranstaltung gegeben. Das Konzert fand unter aufwendigen Sicherheitsmaßnahmen statt. Alle Besucher mussten vorher einen FOTO: PICTURE ALLIANCE / ASSOCIATED PRESS | EMILIO MORENATTI Bringt die Kultur zurück! Erfolgreiches Pilotevent: Show der Band »Love of Lesbian« in Barcelona Corona-Antigen-Test machen und ein negatives Ergebnis vorlegen. Außerdem mussten sie FFP-Masken tragen. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme wurde in der Mehrzweckhalle eine besonders leistungsfähige Lüftungsanlage installiert. Außerdem wurde strikt darauf geachtet, dass sich in kritischen Bereichen wie den Toiletten nicht zu viele Menschen aufhielten. Abstand halten mussten die Konzertbesucher nicht. Anfang März fand eine ähnliche Veranstaltung in den Niederlanden mit . Teilnehmern statt. In der Arena Leipzig hatte Pop-Musiker Tim Bendzko im August unter der Aufsicht von Wissenschaftlern ein Konzert mit . Zuschauern gegeben. Die Erkenntnisse aus diesen Testveranstaltungen sollen nun dabei helfen, eine europäische Wiedereröffnungs- strategie zu entwickeln. Diese könnte unter anderem beinhalten, die Regierungen aufzufordern, die Planungssi- Sabine Verheyen ist Vorsitzende des cherheit für die Branche zu erhöhen Ausschusses für Kultur und Bildung des und dafür belastbare »Wiedereröff- Europäischen Parlaments nungskalender« zu erstellen, die auf transparenten und nachvollziehbaren Kriterien beruhen: Impfquoten, STIMME AUS Krankenhauskapazitäten, Anzahl der DEM PARLAMENT positiven Fälle ... Außerdem sollten Vorschläge für leicht umzusetzende Sicherheitsprotokolle für VeranstalIn der Beitragsreihe »Stimme aus tungen erstellt werden, um so die Sidem Parlament« berichten die Vorcherheit des Publikums beim Besuch sitzende des Kulturausschusses des von Konzerten zu gewährleisten. Auch Europäischen Parlaments, Sabine könnten die Mitgliedstaaten ermutigt Verheyen, und die Vorsitzende des werden, die Mehrwertsteuersätze auf Kulturausschusses des Deutschen Ticketverkäufe für die nächsten  Bundestages, Katrin Budde, von der Monate zu senken, um die Branche zu Ausschussarbeit. Die bisher erschieunterstützen. Gleichzeitig brauchen wir nenen Beiträge der Reihe können Sie einen transparenten und klaren Ansatz hier nachlesen: bit.ly/lGYeTS , t s l l i w u . d g i s t a h w c i , Hör hör es r r e ab Radio n o i t a t r Gene it. DAB+ is n e u er ne ehr Freihe d t i m , chten Qualität, m i r h c er Na ahl, mehr dio. d o r a w pe Ob O mehr Aus ielfalt im R s V gibt e ndard für ta der S hr me auf t z Jet hren de . a erf lus bp da für internationale Tourneen und die Organisation von grenzüberschreitenden Kulturveranstaltungen innerhalb der EU. Dafür ist auch eine schnelle, aber sichere Rückkehr zu unserer europäischen Freizügigkeit, die das grenzüberschreitende Reisen von Künstlern ermöglicht, unabdingbar. In vielen weiteren Mitgliedstaaten hat es ebenfalls erfolgreiche Pilotprojekte und Testveranstaltungen gegeben, allerdings ist der Grad des politischen Engagements in dieser Sache von Land zu Land unterschiedlich. Die Rolle der Europäischen Institutionen, die Wiedereröffnung nun zu einer politischen Priorität zu machen, bewährte Verfahren zu fördern und die Mitgliedstaaten zu überzeugen, eine sichere und nachhaltige Wiedereröffnungsperspektive zu entwickeln, ist daher absolut entscheidend für die Sektoren, für die gesamte europäische Wirtschaft und für die Gesundheit, die Sicherheit und das Vertrauen der Bürger. 12 INTERNATIONALES www.politikundkultur.net Aufbruchstimmung finanzielle Engpässe aufgrund unzureichender staatlicher Unterstützung. Die Forschungsaktivitäten sind entsprechend gering, das Renommee der BENJAMIN SCHMÄLING teils traditionsreichen Hochschulen hat gelitten. Besonders im Zentral- und ie vergangenen Jahrzehnte im Südirak erschwert die prekäre SicherIrak waren geprägt von Kriegen, heitslage internationale KooperatioTerror und politischer Instabili- nen; individuelle Studien- und Fortät: von den Golfkriegen in den er schungsaufenthalte sind mit hohen und zu Beginn der er Jahre, über Risiken verbunden. In der autonomen die US-geführte Militärinvasion  Region Kurdistan im Norden des Lanbis hin zum Versuch des »Islamischen des ist die Sicherheitslage vergleichsStaates«, mit Gewalt und Repression weise besser. Trotzdem berichtet das ein islamistisches Unrechtsregime Scholars-at-Risk-Netzwerk in seinem aufzubauen. Abgesehen von den zahl- jüngsten Free-to-think-Report auch losen Todesopfern, der Vertreibung von gezielten tödlichen Angriffen auf Hunderttausender Menschen und der Forschende und Studierende. Zerstörung von Städten und Infrastruktur wurde auch die Hochschul- und Auch an internationaForschungslandschaft nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen. Studien- und len Partnerschaften ist Forschungsvorhaben wurden unterbrodas Interesse groß, sochen oder gänzlich unmöglich gemacht, wohl seitens der irakiLabore und Bibliotheken zerstört, Hunderte Wissenschaftlerinnen und schen Hochschulen als Wissenschaftler ermordet, Tausende auch aus der Politik mussten das Land verlassen. Diese Konsequenzen für den Hochschulsektor sind auch heute noch im Trotz aller Schwierigkeiten gibt es in Irak spürbar. So fehlt es oftmals nicht den letzten Jahren beim akademischen nur an gut ausgebildeten Lehrenden Wiederaufbau erste Erfolge und positive und Forschenden, auch die Möglich- Entwicklungen zu verzeichnen. So hat keiten für den wissenschaftlichen sich der Zugang zu Schulbildung und Nachwuchs zur Weiterqualifikation – in geringerem Maße – zu Hochschulsind begrenzt. Viele Lehrende haben bildung deutlich verbessert, auch wenn lediglich einen Masterabschluss. Hinzu die Datenlage uneinheitlich ist. Die kommen eine mangelhafte materielle größeren staatlichen Hochschulen wie Ausstattung vieler Hochschulen und die Universität Bagdad, die Universität Akademischer Wiederaufbau im Irak D eküsst e ulturpolitik ndes —2018 Kufa oder die Universität Duhok in der autonomen Region Kurdistan bieten inzwischen eine solide grundständige Ausbildung in einer Vielzahl von Fächern. Zudem werden an keiner der staatlichen Hochschulen Studiengebühren erhoben. Entsprechend hoch ist die Konkurrenz um Studienplätze, so dass auch kostenpflichtige private Hochschulen gerade für zahlungskräftige Studierende an Bedeutung gewinnen. Auch wenn internationale Mobilität von Studierenden und Forschenden in den vergangenen Jahrzehnten vielfach durch die äußeren Umstände erzwungen war, lässt sich in jüngerer Zeit ein großes Interesse an einem Studium im Ausland beobachten. Der Staat fördert die Aufenthalte mit groß angelegten Stipendienprogrammen wie dem »Human Capacity Development Program« des kurdischen Hochschulministeriums. So hat sich die Zahl der Studierenden im Ausland nach UNESCO-Angaben zwischen  und  von . auf über . mehr als verfünffacht. Die beliebtesten Zielländer sind dabei Jordanien, die Türkei, der Iran, Malaysia und die USA. Deutschland liegt auf Platz elf. Mit Blick auf die Einwohnerzahl von knapp  Millionen und die Gesamtzahl der Studierenden von mehreren Hunderttausend ist der Auslandsanteil derzeit noch gering. Zugleich legt der Zuwachs in Anbetracht der sehr jungen Bevölkerung –  Prozent sind nach Berechnungen der Weltbank unter  Jahre alt – ein großes Potenzial für internationalen akademischen Aus- tausch nahe. Dieser kann allerdings nur nachhaltig zum akademischen Wiederaufbau beitragen, wenn er den ohnehin vorhandenen »Brain drain« nicht weiter verschärft. Hierzu können etwa kurzzeitige Studienaufenthalte im Ausland, partnerschaftliche Studien- und Promotionsprogramme, digitale Formate sowie transnationale Bildungsangebote vor Ort einen Beitrag leisten. Auch an internationalen Partnerschaften ist das Interesse groß, sowohl seitens der irakischen Hochschulen als auch aus der Politik. Für die irakischdeutsche Zusammenarbeit verzeichnet die Hochschulrektorenkonferenz inzwischen  Hochschulkooperationen an insgesamt  irakischen Institutionen. Führend sind dabei die drei kurdischen Hochschulen Universität Sulaimani, die Salahaddin Universität und die Universität Duhok sowie im Zentralirak die Universität Bagdad. Der Fokus auf kurdische Universitäten lässt sich auch bei den vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten Projekten beobachten. Dies liegt größtenteils an der besseren Sicherheitslage im Vergleich zum Rest des Landes. Der fachliche Zuschnitt der Kooperationen ist dabei breit gestreut und reicht von Ingenieurwissenschaften und Raumplanung über Erziehungswissenschaften und Lehrerausbildung bis hin zu Sportwissenschaften. Mit dem Aufbau des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok soll zudem die psychologische Unterstützung der Menschen in einer von Krieg und Terror gebeutelten Umgebung verstärkt werden. Internationale Kooperationen wie diese können einen entscheidenden Beitrag zur Struktur- und Kapazitätsbildung vor Ort und damit zum akademischen Wiederaufbau des Iraks leisten. Gerade in jüngster Zeit lassen sich weitere Entwicklungen feststellen, die neue Möglichkeiten der akademischen Zusammenarbeit eröffnen. So wurde  von der irakischen Nichtregierungsorganisation »Masarat« das Institute for the Study of Religious Diversity gegründet. Ziel des Instituts ist es, in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten und durch die Ausarbeitung entsprechender Curricula den interreligiösen Dialog zu fördern. Es ist die erste Einrichtung dieser Art in der gesamten Region. Ebenfalls einzigartig ist das Center for Gender and Development Studies an der American University of Iraq Sulaimani. Seit  bietet man dort das Nebenfach Gender Studies an und trotz Widerständen in einer von traditionellen Rollenbildern geprägten Gesellschaft haben inzwischen über  Studierende die Kursangebote wahrgenommen. Auch die kurdische Regionalregierung scheint sich offen für einen Ausbau des Faches zu zeigen. Bei allen Schwierigkeiten stehen die Zeichen im Irak also vielerorts auf akademischen Aufbruch. Benjamin Schmäling leitet die DAADAußenstelle in der jordanischen Hauptstadt Amman Wachgeküsst 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998—2018 Wachgeküsst 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998—2018 Hg. v. Olaf Zimmermann Hg. v. Olaf Zimmermann mann Guten Morgen, Dornröschen! Wachgeküsst · 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998 — 2018 · Hg. v. Olaf Zimmermann 492 Seiten · Fadenheftung mit Lesebändchen ISBN 978-3-947308-10-1 · 22,80 Euro Das Buch »Wachgeküsst. 20 Jahre neue Kulturpolitik des Bundes 1998 — 2018« bietet einen Überblick über die wichtigsten Themen der Bundeskulturpolitik der letzten 20 Jahre. Urheberrecht, Kulturgutschutz, Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, Provenienzforschung, Filmförderung, Religion, Medien, Stiftungsreform, Künstlersozialversicherung, Kulturwirtschaft, Computerspiele, Erinnerungspolitik, Reformation, Digitalisierung, Kulturfinanzierung, Inklusion, Vielfalt und Diversität, das komplizierte Verhältnis zwischen Bund und Ländern in Kulturfragen, Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik … Wer wissen will, was die neue Bundeskulturpolitik seit 1998 ausmacht und sich darüber informieren möchte, wie der Weg für eine sichtbare Bundeskulturpolitik bereitet wurde, für den ist dieses Buch unverzichtbar. INTERNATIONALES 13 FOTO: KÉRÉ ARCHITECTURE Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Rendering des neuen Goethe-Instituts in Dakar. Außenansicht: Innenhof mit Baobab Zurück in die Zukunft Nachhaltige Architektur in Westafrika RUTH HELMLING D iamniadio Lake City. AkonCity. Eko-Atlantic. Das Image der westafrikanischen Stadt der Zukunft ist weitgehend geprägt von Wolkenkratzern und wundersamen architektonischen Konstrukten. Wer die Gelegenheit hatte, diese futuristischen Städte aus der Luft zu betrachten, dem fällt jedoch auf: Trotz aller Herrlichkeit wirken sie wie künstliche Implantate aus einer anderen Welt, losgelöst von ihrer Umgebung. Diese Stadtmodelle aus Beton, Stahl und Glas mögen Modernität, Fortschritt, Nachhaltigkeit symbolisieren – allerdings tun sie das, typisch kolonial, in westlichem Sinne. Wie die Materialien selbst sind sie ein Importprodukt und »berücksichtigen kaum das lokale Klima, die Besonderheiten der afrikanischen Stadt und noch weniger das architektonische Erbe, das wir in Afrika haben«, prangert die Architektin Nzinga Biegueng Mboup an. Mboup, die in England und Südafrika studiert hat, lebt in Senegal und beschäftigte sich zuletzt umfassend in einer Studie mit »Traditionen und Trends in der nachhaltigen Architektur in Westafrika«. Auch der UNESCOBeauftragte für Stadtentwicklung und Kultur in Westafrika, Pierre Wenzel, sieht Zement und Stahl als Inbegriff von Kolonisation und Globalisierung. »Diese exogenen Modelle und Materialien werden nun in Frage gestellt«, sagt Wenzel. Nzinga Biegueng Mboup gehört zu einer Reihe von westafrikanischen Architekten, Verbänden und Organisationen, die sich einer neuen Nachhaltigkeit widmen: Weg von DubaiImitaten, hin zu einer Bauweise, die die afrikanischen Traditionen aufgreift und modern umsetzt. »Bauen muss zu einem Werkzeug werden, das lokale Ressourcen fördert und die Abhängigkeit von importierten Materialien reduziert«, sagt die senegalesisch-kamerunische Mboub. Zudem gilt Zement in der Herstellung als umweltschädlich, bescheinigt Wenzel, und ist insbesondere thermisch schlecht an das dortige Klima angepasst. In der semi-ariden Sahel-Zone südlich der Sahara ist es heiß und trocken. Funktionale Gebäude, Kommunen, Häuser – verwendet wurde, was am Bauplatz vorhanden war: Lehm und Erde gibt es überall. An den Ufern auch Pflanzenfasern wie Bambus oder Holz. Diese Ressourcen sind dem Klima angepasst und haben zudem bedeutend bessere dämmende Eigenschaften als Zement – sowohl thermisch als auch akustisch. Traditionelle Lehmbautechniken gehören zum kulturellen Erbe der Region und gehen weit über das Material an sich hinaus: Strategisch positionierte Lüftungsschlitze ermöglichten einen Venturi-Effekt, ganz ohne Klimaanlage. Wissen um den Verlauf der Sonne wurde zum Erschaffen von Schattenspendern genutzt. Wartungsarbeiten waren ein kommunales Ereignis, den klimatischen Zyklen angepasst, bei dem zugleich altes Wissen an die neue Generation weitergereicht wurde. Viele alte Städte in Westafrika zählen aufgrund des Reichtums und der Vielfalt der Lehmbautechniken heute zum UNESCO-Weltkulturerbe. Etwa ein Drittel der Häuser in der Sahelregion wird noch immer nach traditionellen Methoden gebaut, so Mboub. Eine neue Generation von Architekten entdeckt das jahrtausendealte Wissen wieder für sich. Die senegalesische Agentur Worofila, die Mboub mitgründete, spezialisiert sich auf bioklimatische Architektur. Professionelle Netzwerke wie FACT Sahel+ bringen Fachleute aus dem Lehmbau zusammen. International gilt die französische CRAterre-Schule als Zentrum für Erd- und Lehmbau. Architekten, die im Ausland oder an der Universität EAMAU in Togo ausgebildet wurden, kombinieren technisches Know-how mit einem Interesse an gebautem kulturellem Erbe. Auch in ländlichen Gegenden hat sich inzwischen herumgesprochen: In den Lehmbauten der Großeltern lebt es sich angenehmer als in den neueren Zementhäusern mit Blechdächern, beobachtet UNESCOExperte Wenzel: »Sie werden zu riesigen Öfen.« Aushängeschild nachhaltiger westafrikanischer Architektur ist der Architekt Francis Kéré. Auch knapp  Jahre später kann sich der preisgekrönte Architekt noch gut an seine erste Schule erinnern: »Es war dunkel. Und heiß!« Kéré, der heute in Berlin lebt und arbeitet, wuchs mit seinen  Geschwistern in einem Dorf im ländlichen Burkina Faso auf. Damit er die Schule besuchen konnte, schickten seine Eltern den damals -Jährigen zu Verwandten in der nächsten Stadt. Die traditionelle Bauweise seiner Heimat begleitete ihn durch seine Kindheit und auch nach seiner Schulzeit. In den er Jahren brachte ihn ein Stipendium dann nach Deutschland, wo er zunächst eine Ausbildung zum Schreiner machte und dann an der TU Berlin Architektur studierte. Noch vor Abschluss seines Studiums führte ihn sein Weg zurück nach Gando. Er baute eine Grundschule – aus traditionellen Materialien, mit modernem Design. Freundlich. Hell. Und kühl. Das ganze Dorf arbeitete daran mit. Und Kéré wurde mit seinem ersten Preis ausgezeichnet, dem renommierten Aga Khan Award for Architecture. Ihm sollten noch viele weitere Preise folgen. Francis Kérés Ansatz ist ganzheitlich. Er ist zugleich futuristisch und traditionell. »Informiert durch Tradition, erkunden wir neue Formen des Bauens, deren Fundamente vor langer Zeit gelegt wurden«, so die Philosophie von Kéré Architecture, seinem  gegründeten Architektur-Büro in Berlin. Wie das aussehen kann, zeigen seine inzwischen zahlreichen international vorhandenen Projekte. Aktuell arbeitet er an einem neuen Gebäude für das Goethe-Institut in Dakar. Kéré fühlt sich geehrt, durch das Projekt an der zeitgenössischen Gestaltung Dakars mitzuwirken: »Die Hauptstadt Senegals ist einer der wichtigsten Kulturknotenpunkte auf dem afrikanischen Kontinent.« Wie für sein Schulprojekt in Gando, wird er für das Institut in Dakar sogenannte BTC-Ziegel verwenden: Komprimierte Erdziegel, ein traditionelles Material in zeitgemäßem Gewand. Die Verwendung lokaler Baumaterialien ist sowohl ökologisch als auch klimatechnisch sinnvoll, darin sind sich Kéré und das Goethe-Institut in Senegal einig. Eine wachsende Zahl von Unternehmen in Westafrika widmet sich solchen innovativen Formen von Erd- und Lehmziegeln. Das senegalesische Unternehmen Elementerre bietet BTC-Ziegel an, wie sie Kéré für das neue Institut verwenden wird. Eine weitere Variante sind Typha-Lehmziegel, die besonders gute Dämmeigenschaften haben und daher zur Dacheindeckung angewendet werden. Auch andere afrikanische Länder produzieren ihre Lehmziegel-Varianten. So fördert das südafrikanische Unternehmen Hydraform laut Mboub den Einsatz von BTC- und Moladi-Technologien in Westafrika, bei der Kunststoffplatten mit Erde gefüllt werden. Diese Technologien bahnen den Weg für eine »hybride und intelligente Architektur zwischen Tradition und Moderne«, sagt der UNESCO-Experte Pierre Wenzel, indem sie die Verwendung von Erde in modernen, urbanen Konstruktionen überhaupt möglich machen. Statt als altertümlich abgetan zu werden, erlaubt dieses uralte Material damit moderne Architektur im alten Stil, ohne qualitative oder komfortable Abstriche. In Dakar sind Hotels wie »Le Djoloff« und »Onomo« Vorreiter eines modernen Lehmbaus für ein gehobenes internationales Klientel. Auch für Francis Kéré geht die Botschaft des neuen Goethe-Instituts in Dakar weit über die Frage nach Baumaterialien hinaus: »Das Design steht auf mehreren Ebenen für die Werte, die das Goethe-Institut und ich teilen«, bemerkt Kéré. »Bei den Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz bin ich nicht nur auf offene Ohren gestoßen, sondern wurde dazu aufgefordert, noch weiter zu gehen.« Das Resultat ist nicht nur nachhaltig, es ist modern – unter anderen wird es Platz für rund  Studentinnen und Studenten und viel zeitgemäße Technologie geben. Aber es ist durch sein Design, und nicht zuletzt durch die Lehmbau- und bioklimatischen Techniken, auch verwurzelt in der Geschichte und Kultur Senegals. »Das Goethe-Institut ist im Kern ein Begegnungsort, an dem Austausch und Verständnis über Grenzen und Unterschiede hinweg gefördert werden«, so Kéré weiter. »Darin erkenne ich meine eigene Arbeit als Architekt wieder, denn dies sind die Grundwerte, die meine Gebäude seit jeher prägen.« Das Goethe-Institut gibt es im Senegal seit . Mit dem neuen Gebäude wird sich auch die Arbeitsweise des Instituts verändern, betont sein Leiter Philip Küppers: »Für unsere Bibliothek haben wir ein neues Konzept entworfen, das die Bedürfnisse von Oralität und Literalität verbindet. Im Zentrum entsteht ein Diskussionskreis, der umgeben ist von einer Mischung aus Bücherregalen, kleinen Tonstudios zur Dokumentation des oralen Kulturerbes sowie digitalen Arbeitsplätzen.« Man greife auch die örtlichen Begebenheiten auf – etwa den Baobab-Baum, der im Innenhof des Instituts stehe. Dieser ist in der senegalesischen, oralen Kultur traditionell der Ort, an dem sich die Ortsgemeinschaft trifft, in dessen Schatten diskutiert wird, Entscheidungen für die Zukunft verhandelt werden. Diese Symbolik wird sich durch das gesamte Institut ziehen. Folgt man der Lehre der Ekistik, die Goethe selbst studiert haben dürfte, könnte man sich fast fragen, wieso eine Kultureinrichtung wie das GoetheInstitut erst jetzt ihr eigenes Gebäude plant. Schon die alten Griechen wussten, dass man Kultur und Architektur nicht trennen kann. »Wir können es uns nicht mehr erlauben, Lebensstil und Bauweise des Westens zu kopieren«, sagt Francis Kéré. Unterstützt werden Kéré und junge Architekten wie Nzinga Mboub nicht zuletzt von den Vereinten Nationen selbst, die es sich mit der Agenda  zum Auftrag gemacht haben, ihr städtisches Erbe zu schützen. In Dakar ist die UNESCO auch Partner in einer Reihe von kulturellen Angeboten, die den Neubau des Goethe-Institutes bis zur Fertigstellung Ende  thematisch begleiten. »Sprichwörtliche Krönung« des Projektes ist für Francis Kéré das Dach: »Wie die Krone eines Baumes spendet diese Struktur Schatten und Schutz. Hier kann man sich treffen oder auch einfach zur Ruhe kommen.« Wo besser könnten Akteure und Studierende ihr Wissen über traditionelle und moderne Architektur in Westafrika erweitern, Ideen für eine nachhaltigere Zukunft austauschen und Pläne schmieden. Eine »Gelegenheit zum Träumen«, wie es in der Broschüre zum neuen GoetheInstitut heißt. Ruth Helmling ist gelernte Journalistin und Weltenbummlerin. Seit einem guten Jahrzehnt bereist sie als Seefahrerin und Kapitänin die sieben Weltmeere. Nachhaltigkeit liegt ihr sehr am Herzen – zu Land wie auch zu Wasser GOETHES WELT In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut veröffentlicht Politik & Kultur in jeder Ausgabe einen Beitrag aus einem afrikanischen Land zu spezifischen Aspekten der Kulturszenen vor Ort. 14 MEDIEN www.politikundkultur.net Die Meinungsmacht der Online-Plattformen im Visier Der Einfluss globaler Internet-Konzerne soll innerhalb der Europäischen Union gebremst werden HELMUT HARTUNG D ie EU-Kommission will Europas Demokratien besser vor Fake News und gezielter Desinformation schützen und die Macht der Online-Konzerne bändigen. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, arbeitet die EU-Kommission aktuell an zwei Gesetzesvorhaben – ein wirtschaftlich-orientiertes, mit dem Digital Markets Act (DMA – Gesetz über den digitalen Markt) und ein gesellschaftspolitisch-geprägtes, mit dem Digital Services Act (DSA – Gesetz über digitale Dienste). Im Dezember  legte die EU-Kommission die Entwürfe vor, die ab Juni im Europaparlament beraten werden sollen. Beide Projekte, die in einigen Kommentaren aufgrund hochgesteckter Erwartungen euphemistisch schon als neues Grundgesetz für Facebook und andere Online-Dienste bezeichnet werden, gelten als Leuchtturmprojekte von Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Aufgrund des wachsenden Einflusses von Angeboten wie Google, Facebook, Instagram oder Amazon auf die Meinungsbildung, die politische Willensbildung und auf politische Entscheidungen sollen nicht nur die Haftungsregeln für illegale Inhalte neu geregelt oder der Wettbewerb gefördert werden, sondern auch die Entscheidungsalgorithmen der großen Konzerne ins Visier genommen werden. Das Jahr  haben viele Menschen weltweit größtenteils im Lockdown verbracht. Die sozialen Medien haben dadurch einen starken Aufschwung erhalten, wie aus dem »Digital «Jahresbericht der Social-Media-Management-Plattform Hootsuite und der Social-Media-Agentur We Are Social hervorgeht. Demnach ist die Zahl der Social-Media-Nutzer im vergangenen Jahr so schnell wie seit drei Jahren nicht mehr gestiegen. Derzeit gibt es weltweit rund , Milliarden Nutzer sozialer Netzwerke und täglich kommen , Millionen User dazu. Im Vergleich zum Vorjahr sei ein Wachstum von mehr als  Prozent zu verzeichnen. Somit nutze nun mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ( Prozent) soziale Medien. Auch in Deutschland ist die Internetnutzung im Vorjahresvergleich in fast allen Altersgruppen gestiegen. Die - bis -Jährigen verbringen mit rund sechs Stunden täglich die meiste Zeit im Netz. Der Zuwachs zum Vorjahr lag bei  Minuten auf  Minuten. Diese Veränderungen in der Mediennutzung fordern nun die EU-Kommission heraus. Vor  Jahren hat die Europäische Union mit der E-Commerce-Richtlinie einen umfassenden Rechtsrahmen für digitale Dienste und Online-Plattformen beschlossen. Der Einfluss globaler Plattformbetreiber ist seitdem stark gewachsen. Heute verzeichnet Google ca. , Milliarden Suchanfragen pro Tag, im Jahr  gerade einmal  Milliarden im ganzen Jahr. Mit einem Marktanteil von mittlerweile über  Prozent in Europa entscheidet Google maßgeblich über die Meinungsbildung mit. Falschinformationen, Hetze und Propaganda sind heute Bestandteil des Netzes und stellen zunehmend die freie Meinungsbildung infrage. Damit bedrohen, so die ExekutivVizepräsidentin der Europäischen Kommission für Digitales, Margrethe Vestager, diese digitalen Unternehmen »unsere Freiheiten, unsere Chancen, sogar unsere Demokratie«. Die Kommission bemüht sich schon länger, die großen digitalen Unternehmen bei der Bekämpfung von Fake News in die Pflicht zu nehmen, jedoch ohne großen Erfolg. Das soll sich nun ändern. In einer Stellungnahme zu den Gesetzesprojekten hat der Bundesrat gefordert, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten im Bereich der kulturellen Identität gewahrt blieben. Unabhängig davon, ob die Elemente des in Aussicht genommenen DSA als Richtlinie oder Verordnung ausgestaltet werde, dürften sie keinerlei Sperrwirkung für entsprechende nationale Regelungen im Bereich der kulturellen Identität, der Medien und der Vielfaltsicherung entfalten. Dies sei durch entsprechende Bereichsausnahmen, Ausnahmevorschriften, Abweichungsbefugnisse und Umsetzungsspielräume sicherzustellen. Die E-Commerce-Richtlinie aus dem Jahr  nimmt die digitalen Plattformen nicht für illegale Inhalte in Haftung, solange sie keine Kenntnisse von diesen haben. Außerdem ist es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, die Plattformbetreiber aufzufordern, proaktiv nach Rechtsverstößen zu suchen. Diese Handlungsunfähigkeit gegenüber den globalen Informationsanbietern soll jetzt beseitigt werden. Zu den Zielen der Verordnung gehören ein offener digitaler Binnenmarkt für Vermittlungsdienste und einheitliche Regeln zum Schutz der in der Charta verankerten Grundrechte, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit, der Informationsfreiheit, der unternehmerischen Freiheit sowie dem Recht auf Nichtdiskriminierung. Dabei geht es unter anderem um das unverzügliche Entfernen oder die Zugangssperrung von illegalen Inhalten. Eine allgemeine Überwachungs- oder Ermittlungspflicht soll nicht eingeführt werden. Ein weiterer Schwerpunkt regelt die Sorgfaltspflichten der Anbieter für eine transparente und sichere Onlineumgebung. Zudem bestehen Transparenzpflichten. Dazu müssen alle Gründe, die zu einer Entfernung von Inhalten oder Sperrung der Nutzer führen, in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen festgelegt werden. Der DSA unterscheidet, gemessen an der Reichweite, zwischen vier verschiedenen Online-Vermittlern: Intermediärdiensten, Hosting-Diensten, Plattformen und sehr großen Plattformen. Letztere erreichen ca.  Millionen Europäerinnen und Europäer und stellen dadurch ein besonderes Risiko für die Verbreitung illegaler Inhalte dar. Bei Hostingdiensten z. B. muss die technische Möglichkeit bestehen, mutmaßlich illegale Inhalte zu melden und Sperrungen oder Löschungen gegenüber den betroffenen Nutzern zu begründen. Die großen Plattformen müssen außerdem Maßnahmen zur Abwehr systematischer Risiken ergreifen. Dazu zählt der Entwurf des DSA die vorsätzliche Manipulation des Dienstes mit einer möglichen negativen Auswirkung auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit, des zivilgesellschaftlichen Diskurses oder bei Wahlen und die öffentliche Sicherheit. Damit werden auch Situationen wie die Sperrung des Accounts des ehemaligen US-Präsidenten durch Twitter erfasst. Der DSA erkennt das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit der durch die Plattform gesperrten Nutzer einerseits und der freiheitlichen Ordnung und des zivilgesellschaftlichen Diskurses andererseits an. Die Mitgliedsstaaten müssen sogenannte unabhängige Digital Service Coordinator (Koordinatoren für digitale Dienstleistungen) ernennen, die die Durchsetzung der Verordnung auf nationaler Ebene überwachen sollen. Die Koordinatoren haben das Recht, Daten anzufordern, die zur Überwachung und Bewertung der Durchsetzung notwendig sind. Darüber hinaus soll eine unabhängige Beratergruppe von Koordinatoren namens »European Board for Digital Services« zur Beaufsichtigung geschaf- fen werden. Dieses Gremium ist für eine europaweite harmonisierte Anwendung des DSA zuständig und soll die nationalen Koordinatoren und die Kommission beraten sowie diese bei der Aufsicht von großen digitalen Plattformen unterstützen. Diese »Koordinatoren« wären den deutschen Landesmedienanstalten vergleichbar, die eine zusätzliche Regulierungsebene ablehnen: »Wie auch immer die Aufsichtsstruktur der Zukunft aussieht, sie sollte die bereits funktionierenden Mechanismen nutzen. Vor allem muss der Gedanke eines zentralen europäischen Ansatzes mit dem Pluralismus der Mitgliedsstaaten und dem Erfordernis der Staatsferne in Übereinstimmung gebracht werden«, sagt Tobias Schmid, Europabeauftragter der DLM und Vorsitzender der European Regulators Group for Audiovisual Media (ERGA). Der Digital Markets Act (DMA) zielt vor allem auf Business-Plattformen. Der Anwendungsbereich des DMA zielt auf Anbieter großer Online-Vermittlungsdienste wie Google, Amazon, Facebook, Apple & Co. Für die Anwendung des DMA muss es sich daher um einen der folgenden Dienste handeln: Vermittlungsdienste (z. B. Flugbuchungen), Handelsplattform (Amazon), Suchmaschinen, soziale Netzwerke, VideoSharing-Anbieter, Betriebssysteme, Cloud-Computing und Werbedienstleistungen, die über Kernplattformen angeboten werden. Die Anwendung des DMA hängt zudem davon ab, dass der Anbieter ein Torwächter ist. Kernplattformen müssen so einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben. Es muss ein zentraler Plattformdienst betrieben werden, der ein wichtiger Platz für Geschäftskunden ist, um Endkunden zu erreichen, und der Plattformdienst muss eine gefestigte und dauerhafte Marktposition aufweisen. Für Torwächter und seine als »Gateway« ermittelten Kernplattformdienste sind zahlreiche Pflichten vorgesehen. So das Verbot der Zusammenführung von personenbezogenen Daten mit anderen Diensten des Torwächters. Zudem sind Bestpreis- und Bestkonditionenklauseln untersagt. Weitere Verbote sollen Koppelungsstrategien gegenüber Endnutzern oder gewerblichen Nutzern der Plattform verhindern. Verstößt eine solche Plattform gegen die Regeln, können Maßnahmen wie Auskunftsersuchen und Durchsuchungen ergriffen werden. Nicht gerechtfertigte Pflichtverletzungen können mit Bußgeld von bis zu  Prozent des Umsatzes geahndet und zudem können weitere Zwangsgelder verhängt werden. Bei der Vorstellung des DSA/DMAPakets sagte Margrethe Vestager, dass »wir Regeln machen müssen, um Ordnung in dieses Chaos zu bringen«, und verglich die gegenwärtige Situation mit der Aufstellung der ersten Verkehrsampel in Cleveland vor etwa hundert Jahren. Diese Ampel ist für die Plattformwelt ein ernst zu nehmender Vorschlag, der Regeln zum Schutz der demokratischen Kommunikation und eines fairen Handels vorsieht. Die Grundprinzipien der Europäischen Union bleiben bestehen und geltende Regelungen, wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), sollen ergänzt werden. Aus deutscher Sicht ist der Kommissionsvorschlag ein Erfolg, weil er an nationale Gesetze, wie dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), anknüpft. Damit der Digital Services Act und der Digital Market Act Gesetz werden, müssen sie durch das Europaparlament und den Rat und anschließend von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Frankreich kündigte einen Tag nach der Veröffentlichung des Pakets an, eine Einigung während der französischen EU-Ratspräsidentschaft – . Halbjahr  – anzustreben. Andere Beobachter sehen einen sehr viel späteren Zeitpunkt. Es wird noch ein langer und steiniger Weg sein, was bei solchen strategischen Gesetzesvorhaben nicht unüblich und auch notwendig ist. Die Debatte um den Digital Service Act wird höchstwahrscheinlich die nächsten zwei oder drei Jahre andauern, und es bleibt zu hoffen, dass sie weniger polarisiert geführt wird als z. B. die Urheberrechtsverordnung. Dennoch sind sich die meisten Mitgliedsstaaten grundsätzlich in puncto Bekämpfung illegaler Inhalte im Internet einig. Schwieriger wird es dagegen in der Debatte um den DMA, sieht dieser Gesetzesvorschlag doch Regulierungen zur Einschränkung der Marktmacht großer digitaler Unternehmen vor. In der kommenden Debatte werden sich die geplanten Festlegungen an einigen Stellen noch ändern, Vorschläge der Parlamentarier und aus den Mitgliedsstaaten könnten ebenso einfließen wie die Wünsche der Tech-Lobby. Google, Facebook und Co. haben sich schon in Stellung gebracht, um Schaden von ihren Konzernen abzuwenden. Sie werden ihre Macht nichts kampflos abgeben. Helmut Hartung ist Chefredakteur von medienpolitik.net ... das Auge hört mit. Musik im Film – unsere Dokus und Mitschnitte für Sie kostenlos auf nmz.de aktuell: Musikfest Eichstätt 2021 – drei Konzerte in voller Länge KULTURELLES LEBEN 15 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Die große Welt der kleinen Dinge Ein Porträt des Illustrators und Verlegers Christian Thanhäuser D er Künstler als einsam Schaffender in seinem Atelier, als Poet in der Dachstube, als Solo-Kreativer, der allein aus sich selbst schöpft – diese noch heute wirksamen Klischees rühren vom Geniegedanken des . Jahrhunderts her, und gerne übersieht man dabei, dass der Künstler, ob er will oder nicht, ein soziales Wesen ist. Er kann nicht leben ohne sein Publikum, seinen Impresario, seinen Verleger, seinen Galeristen und vor allem nicht ohne Kollegen und Freunde, mit denen er gern sogenannte Künstlerbünde eingeht. Egal ob die Groupe de Six in Frankreich, der Blaue Reiter in Deutschland oder selbst Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen in Wien, Künstler suchen die Gesellschaft anderer Kreativer, um produktiv zu sein. Über zehn Jahre seines Lebens beschäftigte sich Thanhäuser mit der Illustration des zehnbändigen Opus magnum Fabres Das folgende Porträt handelt von dem österreichischen Zeichner und Illustrator Christian Thanhäuser und einem Literatenfreund, den er um gut hundert Jahre verpasst hat, ihn aber dennoch in der Mitte seines Lebens wiederfindet: den französischen Insekten- und Verhaltensforscher Jean-Henri Fabre (-). Das Happy End dieser Künstlerbegegnung ist seit Mitte  in den Buchhandlungen unter dem Titel »Erinnerungen eines Insektenforschers« lieferbar. Über zehn Jahre seines Lebens beschäftigte sich Thanhäuser mit der Illustration des zehnbändigen Opus magnum Fabres,  erstmals auf Deutsch im Verlag Matthes & Seitz, Berlin, erschienen. Von den ungefähr . Zeichnungen und Studien, die zwischen  und  entstanden, sind  in den zehn Bänden abgebildet. Mit Jean-Henri Fabre teilt Thanhäuser sein Faible fürs genaue Beobachten der kleinen Dinge. Wie Fabre, für den die soziale Welt der Kleinstlebewesen immer in Bezug zur Soziologie des Menschen stand, ist Thanhäuser ein genauer Beobachter und Sammler. Und wie Fabre studiert er seine Untersuchungsobjekte in der Natur und nicht aufgespießt in der Vitrine. Auch wenn Fabre seine sehr detailreichen Beobachtungen als anekdotische Familiengeschichten erzählt, lässt er den Leser nie vergessen, der Alltag der Insekten ist hart und grausam. »Insekten fressen sich dauernd alle gegenseitig auf«, sagt auch Thanhäuser, »das ist nicht so lustig.« Die permanenten verschiedenen Metamorphosen seiner Modelle, die Zwischenwelten, das ist das wahre Faszinosum Insekt. Dabei versteht er sich nicht als wissenschaftlicher Zeichner, sondern will mit seinen Bildern Literatur begleiten. Zum Insekt als Sujet kam der  in Linz geborene und heute nur zehn Kilometer donauaufwärts in Ottensheim lebende Künstler über Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«. Zum Verleger wurde Thanhäuser ebenfalls durch einen literarischen Impuls: Auf Anregung von H.C. Artmann gründete Christian Thanhäuser  den Verlag Edition Thanhäuser. Mittlerweile sind in der über -jährigen Verlags- geschichte mehr als  Titel erschienen, vor allem Lyrik, Kurzprosa und Essays. Pro Jahr entstehen zwei bis drei Bücher, welche nach höchsten Qualitätsansprüchen produziert werden. Zu den verlegten Autorinnen und Autoren zählen unter anderem Esther Kinsky, Tanja Maljartschuk, László Márton, Fiston Mwanza Mujila und Jaroslav Rudiš. »Ich habe das Glück«, sagt Thanhäuser, »dass unser mittlerer Sohn Joseph, der in Graz und in Halle auf Burg Giebichenstein Grafikdesign studiert hat, im Verlag mitarbeitet. Er weiß, wie mein Handwerk funktioniert, denkt mit bei der Gestaltung und kann alles digital umsetzen.« Über sich und seine literarischen Neigungen sagt Thanhäuser: »Ich komme aus einer Familie von Kaufleuten, ohne nennenswerte Bibliotheken oder sonstige literarische Basis. Schon relativ früh fing ich an, Dichterlesungen zu organisieren.« Seit  entwickelte sich die Freundschaft zu H.C. Artmann, der nicht nur in großen Verlagen wie Suhrkamp oder Insel publizierte, sondern auch in kleinen Pressedruckereien, vor allem in Berlin. »Die meisten waren in Berlin-Kreuzberg«, erinnert sich Thanhäuser, »sehr viele gibt es ja heute nicht mehr. Dann wurde mir die Tür geöffnet zu einer Pressendruckerwerkstatt und dann wusste ich: ›Ja das will ich jetzt auch werden‹. Ich blieb in Berlin lernte das Gutenberg’sche Handwerk.« Ende der er-Jahre kamen erste eigene Versuche als Verleger und Drucker. Thanhäuser im Rückblick: »H.C. Artmann, dessen . Geburtstag sich am . Juni jährt, hatte in den er-Jahren eine Husarengeschichte geschrieben, die noch nicht veröffentlicht war. Das waren zwei engst betippte Seiten. ›Mach was Schönes draus‹, sagte er damals zu mir und ›Na ja, die alte Handpresse würde gut passen zu so einer Husarengeschichte‹. Ich hatte damals noch keine eigene Werkstatt und keine Lettern und habe den ganzen Text ins Holz geschnitten.« Nach etwa  Stunden Arbeit und der Erfahrung, wie lang die eigene Geduld reicht, befolgte er H.C. Artmanns Rat, einfach Edition Thanhäuser auf den Umschlag des Bändchens zu schreiben, und ging Neben Insekten beschäftigt sich Christian Thanhäuser mit Pflanzen, Landschaften, Flüssen und mit dem Thema Mensch und Natur damit auf die Frankfurter Buchmesse, um nicht nur erste, sondern gleich zukunftsträchtige Kontakte mit Leuten aus der Branche zu knüpfen.  gründete er eine eigene, aus dem Holzschnitt entwickelte Handpressenwerkstatt und den bibliophilen Verlag Edition Thanhäuser, in dem seit  auch die zweisprachigen Ausgaben der Reihe Ranitz-Drucke erscheinen. Daneben illustriert Christian Thanhäuser Bücher für verschiedene Verlage wie Insel Bücherei, Suhrkamp, Matthes & Seitz Berlin, Friedenauer Presse Berlin, Kalligram Budapest, Haymon Verlag Innsbruck oder der Wieser Verlag Klagenfurt. Auch wenn das in unserem P&K-Porträt etwas zu kurz kommt: Käfer, Raupen, Mücken, Bienen, Schmetterlinge oder Spinnentiere sind nicht das einzige Sujet des Zeichners und Holzschneiders. Neben Insekten beschäftigt sich Christian Thanhäuser in seinen Zeichnungen, Drucken oder in Aufträgen für Kunst am Bau auch mit Pflanzen, Landschaften, FOTO: EDITION THANHÄUSER ANDREAS KOLB Der österreichische Zeichner und Illustrator Christian Thanhäuser Flüssen und natürlich mit dem Thema Mensch und Natur. Die Zeit der Pandemie sieht Thanhäuser als Klausur: »Die persönlichen Begegnungen, Buchmessen, Ausstellungen und Reisen, all das fehlt natürlich sehr. Andererseits konnte ich ein Buch nach dem anderen in aller Ruhe illustrieren und bin vom üblichen Schwarz-Weiß immer mehr in die Techniken des Farbholzschnittes hineingekommen.« Kürzlich schloss er Arbeiten zum Langgedicht »Doggerland« von Ulri- ke Draesner ab (ein Teil davon wird in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Manuskripte erscheinen) und ebenso zum Text »kaspar aus stein« der französischen Dichterin Laure Gauthier: »Eine verschwundene Insel und Kaspar Hauser waren ideal für das Arbeiten in diesen beengten Monaten. Wahrscheinlich kann ich nun bald wieder in meine geliebten Urwälder im südböhmischen Stifterland.« Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur Eine neue Kultur des Miteinanders von Mensch und Maschine? Digitalität und Künstliche Intelligenz (KI) werden unser Leben immens verändern SUSANNE KEUCHEL Was ist der Sinn des Lebens? »«, errechnete in dem Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adam ein Supercomputer nach einigen Millionen Jahren Rechenzeit. Der Autor veranschaulicht damit humorvoll elementare Unterschiede zwischen Mensch und Maschine. Der Mensch fragt unpräzise, da auch unsere Sprache unpräzise strukturiert ist. Die Maschine ist jedoch neben umfangreichem Datenmaterial auf präzise Angaben angewiesen. Bei der Programmierung autonom fahrender Autos wird beispielsweise deutlich, dass ein nicht unerheblicher Teil unserer humanen Fahrweise intuitiv und situativ verläuft, also nicht eindeutig strukturiert werden kann: Wann überhole ich beispielsweise einen Bus an der Haltestelle und wann nicht? Auch unsere Gesetze regeln nicht alle Vorkommnisse. Vielmehr werden Verstöße oft erst im Nachgang, bezogen auf konkrete Situationen, durch Richter festgestellt. Da eine Maschine jedoch im Vorfeld auf ihr Verhalten hin programmiert werden muss, stellen sich hier auch grundsätzliche ethische Fragen im Vorfeld: Wird bei einer unvermeidbaren Unfallsituation eine Priorisierung bei gefährdeten Personen festgelegt? Wird beispielsweise bei einer Unfallsituation, die entweder eine Frau mit Kinderwagen oder aber eine ältere Dame gefährdet, eher die Frau mit Kinderwagen geschützt? Im bisherigen humanen Zusammenleben wurden diese moralischen Entscheidungen offengelassen, zulasten der Entscheidung des Einzelnen. Die einen, die technikbegeistert sind, sehen durch KI die Chancen für mehr Freizeit und Lebensqualität der Menschen. Andere wiederum sehen Gefahren, wie die Verdummung der Menschheit, Abhängigkeit von Maschinen und noch mehr gesellschaftliche Spaltung durch wenige mit beruflichen Aufgaben versus vielen, die keine Erwerbstätigkeit mehr haben. Einig sind sich beide Gruppen jedoch in einem Punkt: Digitalität und KI werden unser Leben immens verändern. Umso erstaunlicher ist es, dass nicht schon längst Zukunftsszenarien entwickelt wurden für das Zusammenleben von Mensch und Maschine, um daraus notwendige neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen abzuleiten. Bis vor Kurzem wurde dies weitgehend versäumt für schon etablierte digitale Technik, wie das Internet. Mit der zunehmenden Erkenntnis, wie stark sich analoge und digitale Welten überlagern, wird nun auch das Internet politischen Bewertungen unterzogen und Rahmen- bedingungen werden im Nachgang verändert, beispielsweise bezogen auf Mobbing, Hating, kommerzielle Praktiken, Urheberrecht und vieles mehr. Spannende Fragen der Zukunft werden dabei sein: Wem gehört die Arbeitsleistung von KI? Konzernen, Staaten oder der weltweiten Gemeinschaft? Müsste beispielsweise nicht auch die Arbeit von KI besteuert werden, analog zum humanen Er- werbseinkommen? Welche humanen kulturellen Techniken sollen Maschinen übertragen werden und welche nicht? Und vor allem: Wie können die jeweiligen Stärken von Mensch und Maschine kombiniert werden? Ein Beispiel hierfür wäre Freestyle Chess: Mensch und Maschine treten im Schach als Team gegen Mensch und Maschine an und erzielen dabei Höchstleistungen. Möglicherweise ergeben sich so ganz neue Chancen der Krisenbewältigung, wie jüngst bei der Corona-Pandemie? Wäre eine KI mit entsprechendem Datenmaterial nicht in der Lage gewesen, komplexe und singulare Zusammenhänge der Ansteckung oder der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von schweren Fällen besser darzustellen als die -Tage-Inzidenz? Die humane Koproduktionsleistung läge dann darin, diese Zusammenhänge zu interpretieren, auf Plausibilität und Moral zu prüfen und dabei selbstverständlich auch die Frage- und Auftragsformulierung auf maschinelle »Denkweisen« anzupassen, damit am Ende als Krisenlösung nicht »« steht. Susanne Keuchel ist Präsidentin des Deutschen Kulturrates 16 KULTURELLES LEBEN ZUR PERSON ... Fünf weitere Jahre für Ministerin Bauer Die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Theresia Bauer, geht in die dritte Amtsperiode. Seit Mai  ist sie Ministerin in BadenWürttemberg, seit  gehört sie dem Landtag von Baden-Württemberg an. Neue Kulturministerin in Rheinland-Pfalz Katharina Binz (Grüne) wird Ministerin für Familie, Frauen, Kultur und Integration in Rheinland-Pfalz. Die erste Aufgabe der nächsten Monate sei es, Öffnungsschritte im Kulturleben zu organisieren und so gut es geht zu unterstützen, so Binz. Lisa Jopt ist neue Präsidentin der GDBA Der virtuelle Genossenschaftstag der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) hat die Schauspielerin Lisa Jopt zur neuen Präsidentin der GDBA gewählt. Die etwa  Teilnehmenden stimmten mit großer Mehrheit für die Schauspielerin, die auch Vorsitzende des ensemble-netzwerks ist. Neuer Intendant des Badischen Staatstheaters Karlsruhe Ulrich Peters wird ab . September  für drei Jahre Intendant des Badischen Staatstheaters Karlsruhe. Zur Saison / soll eine neue Struktur etabliert und eine langfristige Lösung für die Intendanz gefunden werden. Peters ist seit  Generalintendant am Theater Münster, sein Vertrag dort wird vorzeitig aufgelöst. Theatermuseum Düsseldorf bekommt neuen Leiter Der Theaterwissenschaftler Sascha Förster wird neuer Leiter des Theatermuseums Düsseldorf. Er hat in Berlin Theater- und Tanzwissenschaft studiert und promoviert derzeit an der Universität Köln. Förster betreute bereits mehrere Ausstellungsprojekte und leitet eine Forschungsgruppe zur Theaterkultur der Weimarer Republik. Sandra Hüller erhält Theaterpreis Berlin Geehrt wurde die Schauspielerin für »ihre besonderen Verdienste um das deutschsprachige Theater«, wie die Stiftung Preußische Seehandlung und die Berliner Festspiele mitteilten. Die Auszeichnung ist mit . Euro dotiert. Hüller spielte schon auf vielen Bühnen und ist aus Kinofilmen wie »Toni Erdmann« und »In den Gängen« bekannt. Heide-Marie Härtel erhält Deutschen Tanzpreis Die Leiterin des Tanzfilminstituts in Bremen, Heide-Marie Härtel, erhält in diesem Jahr den Deutschen Tanzpreis. Er ist mit . Euro dotiert. Härtel habe mit ihrem Wirken einen enormen Schatz aus Geschichte und Gegenwart des Tanzes geschaffen, so die Jurybegründung. Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie für zweite Amtszeit bestätigt Der Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie Karl-Heinz Petzinka ist für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Neue Kanzlerin ist die Juristin Johanna Boeck-Heuwinkel. Mit Rektor Petzinka bildet sie das Führungsduo der Akademie. Petzinka leitet die Düsseldorfer Kunstakademie seit . www.politikundkultur.net Kulturschanden der Menschheit Eine kulturhistorische Reise zu Kulturzerstörungen U nsere Menschheitsgeschichte steckt voller Zerstörungen von Kulturgütern: Identitäten werden so auf perfide Weise ausgelöscht, und dies mit politischen, ideologischen und ökonomischen Zielen sowie der Absicht einer Bereicherung und Vermögensumverteilung. Der Archäologe Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, unternimmt – angeregt durch die Zerstörung Palmyras im Jahr  – kenntnisreich und detailliert eine kulturhistorische Reise zu Kulturzerstörungen weltweit. Erstmalig werden an Fallbeispielen aus der altorientalischen Geschichte bis in jüngste Zeit Ursachen und Wirkungen dieser Schandtaten analysiert: Aus der Antike etwa die Zerstörung von antiken Kaiserporträts (damnatio memoriae), die Plünderung von Tempelschätzen oder die Verdammnis historischer Figuren wie Echnaton oder später Stalin. Aus jüngster Zeit wird die Zerstörung der monumentalen Buddhastatuen im afghanischen Bamiyan durch die Taliban, die Sprengungen antiker Ruinen in der Oasenstadt Palmyra (Syrien) durch die Terrormiliz des sog. Islamischen Staats (»performativer Ikonoklasmus«) sowie die brutale Zerstörung von Monumentalstatuen mit Vorschlaghämmern im Archäologischen Museum in Mossul (Irak) thematisiert. Und die Medien übermittelten dazu, häufig in Echtzeit, verstörende und schockierende Bilder. Aus der Neuen Welt werden etwa Kulturzerstörungen der spanischen Konquistadoren bei den Inka und Mayas behandelt, von Parzinger zu Recht als »Kulturellen Ikonoklasmus genozidalen Ausmaßes« bezeichnet. In jüngster Zeit nimmt der europäische Kolonialismus und seine Folgen im gesellschaftlichen Diskurs eine besondere Rolle ein; als ein Beispiel werden die weltbekannten BeninBronzen als koloniales Raubgut und deren bevorstehende Rückgabe an Nigeria behandelt. Als einmaliger Zivilisationsbruch steht die Ideologie der Nationalsozialisten. Die sogenannte »entartete Kunst« und die Auslöschung der Klassischen Moderne (»rassischer Ikonoklasmus«), der Verkauf beschlagnahmter Kunstwerke, um damit die Kriegskasse auffüllen zu können, stellen in der Geschichte einen Kulturbruch ohnegleichen dar. Alle diese Zerstörungen machen deutlich, welche Bedeutung und Symbolgehalt die Kultur besitzt. Die Lektüre stellen bewegende und erschütternde, ja barbarische Kapitel unseres kollektiven Gedächtnisses dar; zugleich ein eindringliches Plädoyer für den Erhalt unseres kulturellen Erbes. Prädikat: Sehr empfehlenswert! Thomas Schulte im Walde Hermann Parzinger. Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart. München  Altas der Menschheit wie Höhlen- und Felsmalereien, Figuren aus Elfenbein, Knochen und Bronze, Schmuck aus Muscheln und Perlen oder die Holzflöte eines Neanierzehn Milliarden Jahre alt dertalers. Ergänzt mit fachkundigen und doch so verletzlich ist Erläuterungen. Ein einzigartiges, lehrdie Erde. Aber erst seit eini- reiches Werk nicht nur für diejenigen, gen Hunderttausend Jahren die an Archäologie interessiert sind, breitet sich auf ihr eine Spezies aus, sondern auch für Kulturinteressierte. die sie heute beherrscht und bedroht: Ludwig Greven der moderne Mensch. In ihrem wunderbaren »Großen Atlas der Mensch- Telmo Pievani und Valéry Zeitoun. heit« zeigen der italienische Biologe Homo sapiens. Der große Atlas der und Philosoph Telmo Pievani und der Menschheit. Darmstadt  französische Paläanthropologe Valéry Zeitoun, dass dieser furchtbare Räuber seit seinen Anfängen nicht nur Werkzeuge und die Schrift geschaffen hat, sondern auch die Kunst, das Denken, die Wissenschaft, um die Welt zu verstehen, und das Mitgefühl, das paradoxerweise der »Wiedergutmachung« des Unrechts dient, das er selbst verübt, wie ihr französischer Kollege Yves Coppens im Vorwort schreibt. In zahlreichen Karten und Bildern werden die Entwicklungsstufen und Verbreitungswege des Menschen von seinen Ursprüngen in Afrika aus über den Globus beschrieben und frühe Kunstwerke von allen Kontinenten Eine Kulturgeschichte des Homo sapiens V Kindheit Im Kopenhagen der er Jahre M Tove Ditlevsen dennoch fest, notiert stets Gedichte in ihr Poesiealbum. Der erste Teil der Kopenhagen-Trilogie ist beklemmend und düster. »Dunkel ist die Kindheit, und sie winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat.« Die nüchternen Erinnerungen und Erlebnisse eines am Anfang fünfjährigen Mädchens treffen auf essayistische Absätze und kurze Gedichte. Wer in die düstere, literarisch herausragende Welt von Tove Ditlevsen abtauchen will, dem seien alle drei Bände der Trilogie ans Herz gelegt. Maike Karnebogen ehr als  Jahre nach dem Original ist mit »Kindheit« von Tove Ditlevsen der dänische Klassiker aus dem Jahr  auch in deutscher Übersetzung von Ursel Allenstein erschienen. Eine Wiederentdeckung, an der man in den deutschen Buchläden kaum vorbeikam. In drei schmalen autobiografisch geprägten Büchern, der Kopenhagen-Trilogie, erzählt Ditlevsen aus ihrer »Kindheit«, ihrer »Jugend« sowie von ihrer »Abhängigkeit«. Tove Ditlevsen. Kindheit. Berlin  »Kindheit« erzählt vom Aufwachsen im Kopenhagen der er Jahre in einfachen Verhältnissen im trostlosen Arbeitermilieu. Ein Leben auf engem Raum. Das Verhältnis zur Mutter ist eng, qualvoll und unsicher. Nach Zeichen von Liebe muss die Ich-Autorin suchen. Der Vater, ein Heizer, wird in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos. Es ist das Drama eines begabten Arbeiterkindes im Stadtviertel Vesterbro, das sich für die Welt der Bücher interessiert. Das Dichterin werden möchte. Das trotz Begabung nicht aufs Gymnasium durfte. Das nicht in die Welt um sie herum passt und versucht, sich mit ihren Gedichten ein Stück weit zu befreien, der Trostlosigkeit zu entfliehen. Doch ihr wird beigebracht, dass ein Mädchen nie Dichterin werden kann, sondern Hausfrau und Gattin. Immer wieder stößt sie auf Hindernisse und Widerstand. An ihrem Traum hält Der Marktwert der Sprache Mehrsprachigkeit als Privileg oder Problem I m Alltag ist die Autorin Olga Grjasnowa mehrsprachig unterwegs: Mit ihren Kindern spricht sie Russisch, mit ihrem Mann Englisch, er spricht mit den Kindern hingegen Arabisch und diese antworten meist auf Deutsch. Beim Schreiben fühlt sie sich jedoch nur im Deutschen richtig wohl. In ihrem Buch »Die Macht der Mehrsprachigkeit« schildert Olga Grjasnowa ihre eigenen Erfahrungen, mehrsprachig aufzuwachsen, und befasst sich damit, welche Rolle Mehrsprachigkeit heute spielt. Fremdsprachenkenntnisse werden teilweise in dem Maße erworben und gepflegt, wie der Besitz von Aktien – sofern es eben die »richtigen« Sprachen sind. Eine Art »Hierarchisierung« der Sprachen befeuert nicht nur rassistische Einstellungen, sondern spiegelt soziale Ungleichheiten der Gesellschaft wider. Und so scheint es, dass bestimmte Arten von Mehrsprachigkeit Risiken für Bildungserfolge darstellen. Deutschland ist eine mehrsprachige Gesellschaft und dennoch sind die Ressourcen des Spracherwerbs sehr ungleich verteilt. So kann man an deutschen Schulen diverse Fremdsprachen lernen, sogar Latein und Alt-Griechisch, aber oft kein Arabisch, Türkisch oder Vietnamesisch. Hier muss die Politik aktiv werden und die Vermittlung verschiedenster Sprachen verstärkt fördern. Sprache garantiert noch lange kein gegenseitiges Verständnis. Dennoch hebt Grjasnowa hervor, dass es bei Sprache in erster Linie um Kommunikation geht, und wie wichtig es ist, dass diese stattfindet. Mehrsprachigkeit ist weder ein Problem noch ein Privileg, schlussfolgert die Autorin. Kristin Braband Olga Grjasnowa. Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt. Berlin  PERSONEN & REZENSIONEN Politik & Kultur informiert an dieser Stelle über aktuelle Personal- und Stellenwechsel in Kultur, Kunst, Medien und Politik. Zudem stellen wir in den Rezensionen alte und neue Klassiker der kulturpolitischen Literatur vor. Bleiben Sie gespannt – und liefern Sie gern Vorschläge an [email protected]. INSEKTEN & KULTUR 17 FOTO: OLAF ZIMMERMANN Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Hornisse (Vespa crabro) Die kulturelle Welt der Insekten Zum Verhältnis zwischen Kultur und Natur OLAF ZIMMERMANN M ein Großvater schenkte mir in meiner Kindheit einige alte Jahresbände des Kosmos, der berühmten »Handweiser für Naturfreunde«. In einem dieser Hefte aus dem Jahr  fand ich den Aufsatz von Jean-Henri Fabre »Die Dolchwespe als Wundkünstler«. Wie schafft es die Wespe, ihr Opfer, eine Käferlarve, mit einem Stich zu lähmen, aber nicht zu töten? Denn nur wenn die Larve absolut bewegungsunfähig, aber nicht tot ist und deshalb nicht verwest, kann sich ihr Nachkommen von dem paralysierten Tier entwickeln. Dies ist letztlich nicht nur eine naturwissenschaftliche Frage, sondern auch eine philosophische. Ist die Larve nicht doch tot, oder lebt sie in einer Art tiefen Schlaf, der Metabolismus fast gegen null gefahren? Ist die Wespe bei ihrer Attacke auf ihr Opfer rein instinktgesteuert, oder hat sie einen eigenen Willen, kann sie lernen? Wie kein anderer Entomologe vorher, klärte Jean-Henri Fabre bis dahin unklare Sachverhalte mit seinen exakten wissenschaftlichen Beschreibungen in höchster literarischer Brillanz. Der Kosmos-Verlag hatte Auszüge aus dem umfänglichen Werk von Fabre Anfang des . Jahrhunderts erstmals ins Deutsche übersetzen lassen, die vollständige deutsche Übersetzung des zehnbändigen Hauptwerkes des Schriftstellers »Souvenirs Entomologiques« wurde erst in den letzten Jahren in einer wundervollen Edition bei Matthes & Seitz vorgelegt. Dieser Text war für mich der Beginn einer Leidenschaft für Insekten. Sechs Beine, Chitinpanzer, deutliche Einkerbungen zwischen Kopf, Brust und Hinterleib. Deshalb wurden die Tiere früher auch Kerbtiere genannt. Eine unglaubliche Vielfalt und Schönheit. Allein in Deutschland geht man von deutlich mehr als . unterschiedlichen Arten aus, keiner weiß, wie viele es auf der Welt sind, aber es können Millionen sein. Mich haben immer die Arten besonders fasziniert, die wie die Dolchwespe ein aufwendiges Instinkt-Verhalten an den Tag legen. Trotz solch herausragender Entomologen, also Insektenkundler, wie Jean-Henri Fabre, wissen wir unglaublich wenig über das Leben der Insekten selbst in unserer nahen Umgebung und noch weniger über ihr Leben in fernen Ländern. Der Mensch lebt in einem intensiven Spannungsverhältnis mit den Insekten. Deshalb hat der Mensch die Insekten immer auch in seinen kulturellen Ausdrucksformen behandelt. Schon aus dem Jungpaläolithikum vor . Jahren sind Insektendarstellungen bekannt. Das ist nicht verwunderlich, denn Insekten können ein Segen, aber auch ein Fluch für uns Menschen sein. Sie können ganze Ernten vernichten und damit schlimmste Hungersnöte auslösen, sie können Krankheiten wie die Pest verbreiten und sie können aber auch selbst Nahrungsmittel sein und, wie die Honigbienen, ein begehrtes Nahrungsmittel herstellen. Und ohne die gigantischen Bestäubungsleistungen vieler Insekten würde im wahrsten Sinne des Wortes auf unseren Bäumen und in unseren Gärten nichts wachsen. Und ohne die Insekten hätten viele Tiere, wie z. B. die Vögel, keine Nahrung. Wenn es ein Symbol gibt, das zeigt, dass in unserer Welt alles mit allem zusammenhängt, dann sind das die Insekten. Doch sind die Insekten massiv bedroht, extensive Landwirtschaft, Bodenversiegelung durch Baumaßnahmen und auch Klimaänderungen lassen den Bestand dramatisch schrumpfen. Nicht wenige werden sagen, egal, weg mit den lästigen Biestern. Doch wer einmal ein Insekt unter der Lupe angeschaut hat, wird von der Schönheit dieser Tiere in den Bann gezogen sein. Farben und Formen im Überfluss. Aber man kann die Schönheit oft nicht unmittelbar sehen, denn das Sehen muss gelernt werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutsche Kulturrat haben schon vor drei Jahren gemeinsam festgestellt, dass Umwelt- und kulturelle Bildung eng miteinander verbunden sind: Die Umweltbildung mit ihrem Blick auf den verantwortlichen Umgang mit Ressourcen und die kulturelle Bildung mit ihrer Ergebnisoffenheit für neue Perspektiven und Lösungswege sind eine entscheidende Grundlage zum Verstehen, zum Sehen der Welt. Ohne kulturelle Bildung werden wir auch die Natur um uns herum nicht ver- stehen, nicht erkennen können. Und wir werden die für uns überlebensnotwendigen Insekten nur schützen, wenn wir auch ihre Schönheit wahrnehmen. Die Beschäftigung mit Insekten ist deshalb kein Spartenthema für Umweltschützer und Biologen, sondern ein eminent wichtiges kulturelles Thema. Endlich kann ich wieder Insekten beobachten. Der lange Berliner Winter ist zu Ende. Zuerst kamen die Bienen, die Waldameisen und einige frühe Schmetterlinge wieder aus ihren Winterquartieren hervor, kurz danach auch die Wenn es ein Symbol gibt, das zeigt, dass in unserer Welt alles mit allem zusammenhängt, dann sind das die Insekten Welt direkt vor der eigenen Haustüre, selbst in der Großstadt. Mich beschäftigt besonders das Verhältnis zwischen Kultur und Natur bereits seit Jahrzehnten. Im Herbst  veranstaltete ich in meiner damaligen Kölner Galerie eine Gruppenausstellung: »Die Welt der Insekten«.  junge Künstlerinnen und Künstler zeigten damals ihren künstlerischen Zugang zur Welt der Insekten. Heinrich Wolf, der Wegwespenspezialist schlechthin, sprach bei der Finissage der Ausstellung über Insekten in der Kunst, der Literatur und der Musik und warum ein Entomologe immer auch einen künstlerischen Blick braucht. Einige Insektenkundler, wie z. B. der Schweizer Goldwespenforscher Walter Linsenmaier, waren von ihren Untersuchungsobjekten so fasziniert, dass sie ihnen in ihren Habitus-Zeichnungen auch künstlerische Denkmale setzten. In diesem Schwerpunkt soll die kulturelle Welt der Insekten beleuchtet werden. Nach den Schwerpunkten: »Vom Grenzstreifen zum Kulturerbe« (/), »Am Rande der Nacht« (/-/), »Der Kultur-ÖkoTest« (1/2018) und »Das Anthropozän« (3/2016) ist dieser Schwerpunkt bereits der fünfte in Politik & Kultur an der Schnittstelle von Kultur und Natur. Jetzt kann man, so glaube ich, schon von einer kleinen Serie sprechen. Wespen und Käfer. Schon nach wenigen warmen Tagen ist das Gewimmel fast unübersehbar. Man muss sich konzentrieren, man muss auswählen, um etwas erkennen zu können. Ich habe mich auf Grab-, Weg- und Goldwespen spezialisiert, beobachte und fotografiere sie. Nicht weil die anderen Insektengruppen weniger interessant wären, sondern nur um in der Fülle den Überblick ei- Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer nigermaßen behalten zu können. Dann des Deutschen Kulturrates und Herausaber eröffnet sich eine faszinierende geber von Politik & Kultur 18 INSEKTEN & KULTUR FOTO: OLAF ZIMMERMANN www.politikundkultur.net Soziale Faltenwespe Vespula vulgaris zerkaut Nahrung Insekten und Kultur Der Einfluss von Insekten beschäftigt alle Kulturen BERNHARD KLAUSNITZER D as seit einigen Jahren nun auch amtlich anerkannte Insektensterben sollte jedem deutlich gemacht haben, dass menschliches Leben ohne Insekten kaum möglich ist. Ihr positiver und ihr negativer Einfluss beschäftigten alle Kulturen seit den frühesten Quellen bis heute. Man denke an solche Stichwörter wie Heuschreckenplagen in der Bibel, Vorratsschädlinge im alten Rom, Pflanzenschädlinge bis heute, Krankheitserreger und Überträger zur Zeit der Pestepidemien und heute mit anderen Erregern und Überträgern infolge des Klimawandels. Andererseits die Honigernte schon in der Steinzeit, das biblische Manna, die Bestäubung vieler Nutzpflanzen, die Aufbereitung des Bodens und die Stabilität von Ökosystemen. Natürlich haben Künstlerinnen und Künstler seit Langem auf diese Vielfalt unmittelbarer Beziehungen reagiert. Das Spektrum reicht von göttlicher Verehrung und deren Darstellung bis zum Vorbild für alle Richtungen der Bildenden Kunst. Form, Farbe und Lebensweise der Insekten sind so unendlich reichhaltig, dass viele wache Geister gar nicht anders konnten, als dies alles zu reflektieren. Die künstlerische Auseinandersetzung beispielsweise mit dem Käfer hat ihre Wurzeln zum Teil in alten kultischen Vorstellungen. Man denke an den Scarabaeus, an Tänze und Gesänge, deren Inhalt mit Käfern zu tun hat, oder an die zahlreichen Vorstellungen über Voraussagen von Glück und Unglück, Reichtum und Armut, die in den meisten Kulturen sehr weit verbreitet sind und in denen viele auffällige Käferarten Bedeutung erlangen. Dichter haben Insekten besungen, Musiker ihr Wirken vertont. Maler, fasziniert von der Schönheit, verwendeten alle Techniken zu ihrer Darstellung, und es fehlt nicht an Insektenplastiken. Auch noch andere Kunstrichtungen und das Kunsthandwerk bedienten sich ver- schiedener Arten als Vorbild, so unter anderem die Gemmenschnitzerei, die Münzprägung, der Briefmarkendruck, die Porzellanmalerei und -formung und natürlich die Fotografie, vom Sachbild bis zum künstlerischen Foto. Insekten waren und sind Vorbilder und Bestandteil für unterschiedlichsten Schmuck, nicht zuletzt spielen sie eine große Rolle in der Werbung. So wie wir die Spuren von Insekten über . Jahre in der Literatur zurückverfolgen können, mögen sie auch noch mindestens weitere . Jahre ihre Spuren darin hinterlassen, aber nicht in der paläozoologischen Literatur! Aesop, Homer, Ovid, Achim von Arnim, Honoré de Balzac, Clemens Brentano, Wilhelm Busch, Charles Dickens, Bruno Frank, Johann Wolfgang Goethe, Hermann Hesse, Franz Kafka, Paul Keller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Martin Luther, Alfred de Musset, Modest Mussorgski, Wilhelm Raabe, Joachim Ringelnatz, George Sand, Theodor Storm und Josef Viktor Widmann sollen einige Beispiele sein. Die meisten Dichtungen scheinen den Leuchtkäfern gewidmet zu sein. Ein zweiter oft bedichteter Käfer ist der Maikäfer, aber auch Schmetterlinge sind häufig behandelte Insekten und natürlich die Honigbiene sowie die Seidenraupe, die ihr eigenes Schrifttum haben. Seit der ägyptischen Hochkultur hat der Scarabaeus viele Völker, vor allem im Mittelmeerraum, beschäftigt. Diese Käfer galten schon vor mehr als . Jahren im Alten Ägypten als Sinnbild des Sonnen- und Schöpfergottes Re. Man nimmt an, dass die Mistkugel mit der Sonne verglichen wurde, die von den Skarabäen entlanggerollt wird, so wie Re täglich die Sonne lenkt. Auch das Vergraben der Mistkugel im Sande und das Wiederhervorholen wurde symbolisch mit dem Auf- und Untergehen der Sonne in Verbindung gebracht. Eine zweite Ursache für den Vergleich des Scarabaeus mit dem Sonnengott war der Glaube, dass die Pillendreher ausschließlich Männchen seien, die für sich allein zeugend Junge hervorbringen können. Nach den Vorstellungen der alten Ägypter ging auch der Sonnengott nicht aus der Verbindung zwei- er verschiedengeschlechtlicher Wesen hervor, sondern wurde ohne vorhergehende Befruchtung aus einem Urstoff geboren. Die gestaltliche Verwandlung des Käfers wird als gedanklicher Hintergrund der religiösen Mumifizierung gesehen. Man will glauben, die Mumien wären in der Hoffnung hergestellt worden, dass sie nach tausendjährigem »Puppenschlaf« eine dritte Verwandlung und Auferstehung erleben werden. Die unterirdischen Totenstätten und die Pyramiden werden mit den Brutpillen verglichen. So umstritten diese Deutung auch ist, ein Symbol für die Wiedergeburt nach dem Tode war der Scarabaeus zweifellos. Insekten haben zu allen Zeiten in bestimmten Gebieten der Erde als Nahrung für den Menschen eine Rolle gespielt. Analysen zeigen, dass das Insekteneiweiß eine für den Menschen sehr wertvolle Zusammensetzung hat. Große Insekten waren und sind deshalb mancherorts eine wichtige Nahrungsquelle. Seit einigen Jahren erlangt die wirtschaftliche Nutzung von Insekten als menschliche Nahrung, Tiernahrung, zur Gewinnung von Ölen und Proteinen, biologisch aktiven Substanzen (Enzyme) sowie in der Abfallwirtschaft in Europa zunehmend an Bedeutung. Man besinnt sich auf die ungeheure Vermehrungskraft einiger Arten, und die Industrie zeigt Interesse an diesen in Europa bisher kaum genutzten Ressourcen. Bezüglich der Tiernahrung erhofft man sich eine Schließung der Eiweißlücke bei der Produktion von Bio-Geflügel und einen Ersatz von Sojaund Fischmehl durch Insektenmehl sowie eine Fischfutterproduktion auf der Grundlage von organischem Abfall. Ausgehend von der Verwendung als Nahrung und einer kultischen Verehrung wurden zahlreichen Insekten verschiedenste Heilwirkungen zugeschrieben. Diese „Heilwirkungen“ können ohne jede materielle Grundlage, die erzielten »Erfolge« vielmehr psychisch bedingt sein oder völlig andere Ursachen haben. Andererseits ist tatsächlich eine Wirkung möglich, die auf bestimmten Inhaltsstoffen beruht. So hat z. B. das Pederin – eine in einem Raubkäfer vorhandene Substanz – die Eigen- schaft, das Wachstum von bestimmten Tumorzellen zu hemmen. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Wichtigkeit der Erhaltung der Artenvielfalt, auch aus ganz egoistischen Motiven. Mit jeder Tier- und Pflanzenart, die verschwindet, sind auch mögliche Naturstoffe weg, deren Kenntnis wohl erst der Zukunft vorbehalten wäre. Es gibt eine Fülle von bildlichen Insektendarstellungen; verschiedene Arten sind einziger Inhalt oder Element von Kunstwerken. Man denke an »Maria mit den vielen Tieren« von  und »Anbetung der Heiligen drei Könige« von  von Albrecht Dürer. Die berühmte Einzeldarstellung eines Hirschkäfers aus dem Jahre  ist allgemein bekannt. Bei Wilhelm Busch wimmelt es von Insektendarstellungen. In »Hänschen Däumling« kommen viele vor. Auch die Bildergeschichtensammlung »Schnurrdiburr oder die Bienen« enthält entsprechende Zeichnungen. Im alten China waren die Leuchtkäfer Sinnbild der Schönheit. Man findet sowohl in China wie auch in der Kunst Japans Leuchtkäfer oft als Gegenstände von Holzschnitten oder als Motive farbiger Bilder auf Seide. Darstellungen von Insekten sind aber viel älter. In Laugerie-Basse, Dordogne, fand man eine etwa . Jahre alte Marienkäferplastik aus Mammutelfenbein, die der jungsteinzeitlichen Epoche des Magdalénien zugeordnet wird. Sie trägt auf jeder Flügeldecke drei Punkte und stellt wahrscheinlich einen Siebenpunkt-Marienkäfer dar. Offenbar war es ein Anhänger, denn die Plastik ist vorn durchbohrt und wurde sicher als Schmuck getragen. Unter den Felsmalereien der San in Südafrika fällt auch eine künstlerisch hervorragend gestaltete Gottesanbeterin auf. Insekten als Motive sind in allen Richtungen der darstellenden Kunst zu finden. Unter den Wappentieren finden sich auch Insekten, z. B. Heuschrecken, Fliegen, Schmetterlinge, Käfer und die Honigbiene. Auf den berühmten Bronzetüren von Lorenzo Ghiberti am Baptisterium in Florenz sind inmitten biblischer Szenen ein Hirschkäfer und andere Insekten in Bronze gegossen. Die Kunst des Naturabgusses verwende- te ebenfalls Insekten, die vor allem mit Silber übergossen und damit dauerhaft nachgebildet wurden, z. B. ein silbernes Schreibzeugkästchen des Nürnberger Goldschmiedes Wenzel Jamnitzer. Auch die Porzellankunst hat Insektenmotive verwendet. So ist ein Hirschkäfer auf einer prächtigen Porzellanplatte aus Meißner Porzellan aus der Hand von Johann Joachim Kändler zu finden. Sogar die Goldschmiedekunst hat sich bei der Herstellung von Schmuck gern von Insekten inspirieren lassen. Mit reicher Fantasie schufen Goldschmiede elegante Broschen aus Gold und Silber. Selbst in der Architektur des . Jahrhunderts lassen sich Darstellungen von Insekten finden, z. B. in einem Hotel bei Varese in Norditalien, wo ein Durchgang mit Säulen und Hirschkäfer-Kapitellen geschmückt ist. Völlig unübersehbar dürfte die Verwendung von Marienkäfermotiven im Kunstgewerbe – im weitesten Sinne – sein. Sie reicht von Modellen für Schmuck – Ohrringe, Fingerringe, Anhänger – über Spielzeug – z. B. auf Rädern zum Ziehen –, Talismane, Amulette, Armbänder, Anstecker, Papiermuster, Briefpapier, Kinderbekleidung, Karnevalskostüme und Klebefiguren bis zur Schokoladenverpackung. Nahezu unendlich ist die Vielfalt einschlägiger Glückwunschkarten. Zoologische Motive – auch Insekten – gehören in aller Welt zu den besonders beliebten Bildvorlagen von Postwertzeichen und erreichen mitunter eine hervorragende Qualität der Abbildung und werden oft künstlerisch bearbeitet. Selten ist ihre Präsenz auf Münzen. Und was tun wir angesichts der Fülle an Berührungspunkten zwischen uns und den Insekten? Wenn man bedenkt, wie groß und unwiederbringlich die Verluste an der Vielfalt der Insekten bereits sind, zunehmend auch in ihrer Anzahl, so kann die Schlussfolgerung nur sein – es müssen alle Register gezogen werden, um wenigstens einen Stillstand zu erreichen. Eine Wiederherstellung der ursprünglichen Vielfalt ist im Ganzen unmöglich. Sie gelingt nur in winzigen Ausschnitten, die aber wenigstens für die Seele etwa Gutes bewirken. Und immer gilt natürlich die Feststellung, dass auch die kleinste Tat gut ist. Man wird erinnert an Marlene Dietrich und ihr Lied »Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben«. Die Kunst ist eine Macht, die durchaus helfen kann. Sie kann Liebe erwecken und bestärken, Verantwortung anmahnen, aufrütteln, die Ursachen für das Verschwinden beim Namen nennen und ihre Protagonisten entlarven, sie kann tadeln und loben – und sie wird gehört! Es geht bei allem schließlich um uns selbst. Viele Arten sterben aus, ehe wir sie überhaupt kennen. Man meint, dass die Menschen bei zunehmender Entfernung von der Natur andererseits ein immer größer werdendes Bedürfnis nach Kontakt mit der Lebewelt entwickeln. Diese »Biophilie« genannte Erscheinung lässt hoffen. Dennoch soll uns die folgende, vor  Jahren von Kamal ad-Din ad Damiri mitgeteilte Geschichte Mahnung sein, sorgfältiger mit den unwiederholbaren Schätzen der Natur umzugehen. »Der Kalif Umaiibu-el-Khattab wurde einst sehr unruhig, weil die Heuschrecken ausblieben. Er schickte die Boten aus, nach Syrien, nach Jemen, nach Iran. Der letzte der Boten brachte einige Heuschrecken mit, worauf der Kalif mit Freude ausrief: Sie leben noch! Ich habe gehört, dass Allah . Arten Tiere schuf und dass als Erste davon die Heuschrecke aussterben wird. Sobald sie aber ausgestorben ist, werden alle anderen Tierarten folgen, so wie die Perlen von einer Kette rollen, deren Schnur zerriss.« Bernhard Klausnitzer ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für allgemeine und angewandte Entomologie INSEKTEN & KULTUR 19 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  »Die Natur als Ganzes können wir Menschen nicht zerstören« Werner Nachtigall im Gespräch Ludwig Greven spricht mit dem Pionier der Bionik darüber, was Ingenieure und Techniker von Insekten, Vögeln und Pflanzen lernen können. Und was der Klimawandel für die Spezies Mensch bedeutet Ludwig Greven: Wie kamen Sie als Zoologe auf die Idee, von der Natur Lösungen für technische Probleme abzugucken? Werner Nachtigall: Es war wohl mein Interesse schon als Kind für Autos und fürs Fliegen. Natur insgesamt genauer anzuschauen und dabei Zusammenhänge und Lösungen zu entdecken. Das Dritte ist das Wichtigste, die Abstraktion, Grundprinzipien zu analysieren. Wie entsteht Auftrieb? Wie muss der Insektenflügel bewegt werden, damit er möglichst wenig Luftwiderstand leistet? So etwas wird sehr häufig übertragen. Also haben auch Tiere unterschiedliche Techniken für verschiedene Anwendungen? ten. Lässt sich auch davon lernen? Ja. Ein Ingenieurteam hat im südlichen Afrika ein Bürohochhaus gebaut und überlegt, dass die elektrische Kühlung viel zu teuer wäre. Dann sind sie darauf gekommen, wie die Termiten das lösen. Die haben in ihren Bauten ein Röhrensystem, das automatisch Druckdifferenzen erzeugt, sodass die Luft in bestimmte Richtungen strömt. Das hat man übertragen und hat Zwischendecken eingezogen, die sich in der Nacht mit Kaltluft füllen, wie das die Termiten machen. In etwa, die ich untersucht habe, fliegt eine eine Weile an der Spitze, die anderen in ihrem Windschatten und sparen Energie. Wenn die vordere müde wird, verlangsamt sie und reiht sich ein. Eine andere Gans muss dann das Leittier machen und mehr Energie aufwenden. Wie sie das machen, weiß man nicht. Aber es ist sehr effizient. Die Dinosaurier gelten als bekanntestes Beispiel, dass Tiere und Pflanzen trotz aller evolutionärer Als Laie denkt man, dass Natur und Technik ein Gegensatz sind. Die Natur besteht wie die Technik aus Einzelelementen, die zusammenspielen. Das können physikalische oder chemische Elemente sein, aber immer bilden sie ein Großes und Ganzes. Interessant sind die Querbeziehungen zwischen diesen Elementen. Schauen Sie sich ein Auto an. Da gibt es die Einspritzpumpe, den Motor, die Reifen, aber insgesamt ist es etwas, das fahren kann. Die Einzelteile interessieren Nichtspezialisten nicht so sehr. FOTO: OLAF ZIMMERMANN Aktuell ist nicht mehr angesagt, Auto zu fahren und zu fliegen, um das Klima zu retten. Andererseits ist es ein uralter Menschheitstraum, es den Vögeln gleichzutun. Schon Leonardo da Vinci hat Flugapparate entworfen, die ihre Bewegungen nachahmten. Leonardo hatte ungeheure Einfälle, aber ohne physikalische Basis. Er kannte ihre Gesetze noch nicht und hat mit viel zu kleinen Energien gerechnet. Deshalb konnten seine Flugmaschinen nicht funktionieren. Seine Idee eines Hubschraubers war dagegen sehr gut. Vor  Jahren hat man in der Biologie gesagt, eine Fliege ist ein kleiner Flugapparat. Heute weiß man sehr genau, dass Bienen z. B. nur den Bruchteil eines Milligramms Pollen brauchen, um schnell zu fliegen. Ein Vorbild für umwelt- und klimaschonendes Fliegen? Ja, aber nur in der Größenordnung von Insekten. Hat die Natur durch die Evolution im Lauf von Millionen Jahren Antworten für spezielle Anwendungen entwickelt, auf die Menschen trotz allen Erfindergeistes nicht kommen? Das ist wahrscheinlich nicht ganz falsch. Die Natur entwickelt diese Dinge jedoch nicht für den Menschen, sondern für sich selbst. Der Mensch sieht sie sich dann an und interpretiert sie mit seinem technischen Verstand. Denken Sie an den Druckknopf oder den Reißverschluss. Beides ist der Natur abgeschaut wie der Klettverschluss. Oder der Oberflächeneffekt der Lotuspflanze. Warum hat die Natur ihre Blätter so ausgestattet, dass sie immer rein bleiben? Nicht, damit der Mensch nicht mehr Fenster putzen muss, sondern dass keine Pilzsporen auf den Blättern haften und sie zerstören. Was sind sonst praktische Anwendungen der Bionik? Es sind ungefähr . bekannt. Entweder sind Menschen durch Zufall darauf gekommen, weil sie sich ein Tier oder eine Pflanze genauer angeschaut und gefragt haben: Ich habe ein Problem, hat die Natur das gelöst? Die andere Möglichkeit ist, sich die Honigbiene (Apis mellifera) auf Hypericum chinense Die Natur begnügt sich nie mit nur einem Beispiel. Sie will immer variieren und die Grenzen ausloten. Was kann man, abgesehen vom Fliegen, speziell von Insekten lernen? Da findet man erstaunliche Übereinstimmungen mit der Technik. Eine Wanzenart hat z. B. eine Hochdruckdüse eingebaut, die einen beachtlichen Druck erzeugt. Ein Käfer mischt zwei chemische Substanzen und schießt das explodierende Gemisch als Verteidigungsstrahl heraus. Es gibt Schmetterlinge, die ihren Rüssel, der länger ist als sie selbst, während des Fliegens so verstauen, dass er keinen Luftwiderstand leistet. Käfer verstecken ihre Flügel unter Flügeldeckeln. Die Flügel müssen dafür gefaltet werden zu kleinen Paketen. Die Japaner sind Weltmeister im Falten von Papier. Ein Professor dort hat der Natur feine Strukturen abgeschaut, die Sonnensegel im Weltall entfalten. Insekten haben auch für hochkomplexe Probleme Lösungen gefunden. Bienen und Ameisen bilden arbeitsteilige, hierarchische Staa- der Früh wird die Kaltluft mit geringer Energie in die Büros geleitet, wo sie zirkuliert. Der Ausgangspunkt ist Bionik, aber am Ende steht immer Ingenieurkunst nach dem aktuellen Stand der Technik. Man spricht heute von Schwarmintelligenz, angelehnt an Vogel- und Fischschwärme. Können Tiere auch Vorbild sein für die Wissensentwicklung und -vermittlung? Eigentlich schon, aber da wird auch wieder falsch argumentiert. Ein Schwarm ist nicht intelligent, sondern er zeigt ein Verhalten, dass Menschen so interpretieren. Ein Vogeloder Fischschwarm umhüllt einen Angreifer so oder bildet eine dichte Masse, dass er gar nicht mehr weiß, wie und wo er zugreifen soll. Aber was ist daran intelligent? Der Begriff ist nicht sehr gut. Im Grunde ist es Ausdruck von Arbeitsteilung. Vogelschwärme tun das auch beim Fliegen. Die Vögel messen ihre Abstände über ihr Drucksinnesorgan und die Augen. Wenn sie zu dicht fliegen, verdünnt sich der Schwarm. Bei Graugänsen Anpassungen irgendwann nicht mehr auf große Veränderungen der Umwelt reagieren können und aussterben. Können wir als menschliche Spezies selbst von diesem großen Scheitern lernen, mit Blick vor allem auf den Klimawandel? Die großen Landarten sind ausgestorben, weil sie sich unter den veränderten klimatischen Bedingungen nach dem Einschlag eines großen Meteoriten nicht halten konnten, aber die Dinosaurier sind nicht völlig verschwunden. Die heutigen Vögel sind Nachkommen des Tyrannosaurus Rex. Krokodile gibt es bis heute unverändert. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass sich einige Arten angepasst und weiterentwickelt haben wie der winzige Kolibri. Das gibt es in der Natur immer wieder: Was dem einen der Tod ist, ist dem anderen sein Leben. Es könnte also sein, dass es irgendwann kleine Menschlein gibt, die das große Artensterben ihrer Spezies überlebt haben, weil sie sich dem veränderten Klima angepasst haben? Sicher. Man muss sehen, was übrig bleibt und dann in die ökologischen Gegebenheiten passt. Das, was ist, bleibt nicht. Es entwickelt sich in jedem Fall weiter. Wie, lässt sich nicht vorhersagen. Wenn es immer wärmer wird auf der Erde, werden die Lebewesen einen Vorteil haben, die sich schon heute in wärmeren Regionen fortpflanzen. Die aus den kälteren Regionen werden aussterben. Umweltschützer haben häufig ein verklärtes Bild der Natur. Das Coronavirus zeigt jedoch, dass die Natur nicht per se freundlich zu uns Menschen ist. Wenn sich in der Natur etwas ändert, gibt es immer Profiteure und andere, die darunter leiden. Das ganze System ändert sich. Schon in  Jahren wird die Natur ganz anders sein, sodass gewisse Tiere oder Pflanzen eine Überlebenschance haben, die sie heute noch nicht haben. Und umgekehrt. Es geht nicht ums Gänseblümchen oder den Vogel des Jahres. Das ist alles schön. Aber das interessiert die Natur nicht. Was die Natur immer behalten wird und was wir Menschen nicht zerstören können, ist ihre Gesamtheit. Die bleibt nicht konstant, in einer Million Jahre schon gar nicht. Aber sie wird sich erhalten. Wir müssen nicht einzelne Bäume und Baumarten schützen. Wenn die nicht mehr in eine veränderte Umwelt passen, werden sie aussterben. Dafür wird die Natur andere Bäume ansiedeln, wie sie es immer gemacht hat. Deshalb sollte man nicht zu viel in den Schutz einzelner Arten stecken, sondern die Natur machen lassen. Die Tiger und Elefanten werden genauso aussterben wie die Mammuts, wenn sie in einer veränderten Umwelt nichts mehr zu fressen finden. Das ist nicht dramatisch. Die Natur wird sie durch andere Arten ersetzen. Wie ist Ihr eigenes Verhältnis zur Natur nach all den Jahren als Technischer Biologe: ein ehrfürchtiges oder ein pragmatisches? Je nach Stimmung das eine wie das andere. Im Allgemeinen ein sehr nüchternes aufgrund der Zusammenhänge, die ich in einem langen Biologen- und Technikerleben gelernt habe. Die Natur erhält sich selbst, auf ihre Tour. Sie braucht den Menschen nicht. Sehen Sie hinter den Bauplänen der Natur, mit denen Sie sich bis heute beschäftigen, einen Schöpfergeist oder ein reines Produkt der Evolution? Der Schöpfer hat seine Berechtigung in der Philosophie und der Religion. In der Naturwissenschaft nicht. Als Schüler und Student habe ich mich mit solchen Fragen herumgequält, wo ist der Sinn des Ganzen? Wenn es einen Schöpfergott gibt, warum macht er dann so vieles, was erkennbarer Unsinn ist? Warum lässt er Leid zu? Damit beschäftige ich mich am Ende des Lebens nicht mehr. Wenn es einen Gott gibt, werde ich es schon noch merken. Vielen Dank. Werner Nachtigall ist Zoologe und Pionier der Bionik. Er befasst sich vor allem mit Bewegungsmechanismen im Tierreich und Flugbiophysik. Ludwig Greven ist freier Publizist 20 INSEKTEN & KULTUR www.politikundkultur.net Von der Fabel zur Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft NIELS WERBER W as man von den Ameisen lernen kann«, heißt eine Fabel in den »Hundert kleine moralische Erzählungen für gute Kinder« aus dem Jahre , die vom Aufstieg eines Kindes »armer und geringer Leute« zu höchsten Würden durch nimmermüden Fleiß und Beharrlichkeit erzählt. Die Ameise, die den Ruf, besonders arbeitsam zu sein, aus biblischen Zeiten bewahrt hat, wird als »erste und einzige Lehrerin« gepriesen. Brand Eins ist kein Kinderbuch, sondern ein Wirtschaftsmagazin, doch erscheint auch hier ein Text mit der Überschrift: Von den Ameisen lernen. Ein Unternehmensberater preist die Ameise und schlägt den Managern ausdrücklich vor, »sich ein Beispiel am Tierreich zu nehmen«. Und ein Beitrag der FAZ über Altersvorsorge titelt »Prinzip Grille oder Ameise«. Die Grille, »die im Sommer munter musiziert und an den Winter nicht denkt«, diese Grille stehe für den sogenannten »Generationenvertrag«, die Ameise dagegen, »die im Sommer für den Winter vorsorgt«, die Ameise veranschauliche das Prinzip der »Eigenvorsorge« durch kapitalgedeckte Systeme. Nicht die munter musizierende Grille, sondern die selbst vorsorgende Ameise wird als Vorbild empfohlen. Letzter Fall: Im Anlegermagazin einer Schweizer Privatbank wird das »Problem« der Ameisen diskutiert, dass »sich im Wissen um das Vorhandensein großer Vorräte die Grillenbestände vermehren und Grillen von weither angesogen werden«. Darin, so erläutern die Privatbankiers Linth, Wegelin & Co., bestehe der »Moral Hazard« des Wohlfahrtsstaats. Die Empfehlung an die Ameisen, die eigenen Vorräte der Kenntnis der rücklagenlosen Grillen zu entziehen, wird nicht explizit ausgesprochen, aber doch wohl auch so verstanden. Es genügt nicht, Eigenvorsorge zu betreiben, man muss sein Kapital auch vor der Umverteilung schützen. Die Fabel wird auch in der Corona-Pandemie gerne zitiert, etwa von Gerhard Polt. Wie die SZ berichtet, war Polt »zum Thema Systemrelevanz die Fabel von der Ameise und der Grille eingefallen: Die Ameise schafft den ganzen Sommer, die Grille zirpt immer nur. ›Und Zirpen hat natürlich keine große Relevanz.‹«, so Polt ironisch. Die musizierenden Grillen seien also doch »systemrelevant«. Die Beispiele wären beliebig zu vermehren, sollten aber genügen, um die rhetorische Indienstnahme eines Insekts zu belegen, dessen literarische Laufbahn in den äsopischen Fabeln der Antike begonnen hat und dessen Popularität über die Jahrtausende hindurch nichts eingebüßt hat. Von der Ameise berichtet der Autor der alttestamentarischen Sprüche Salomos, der Mensch solle »ihr Tun sehen und von ihr lernen«. Die Ameise zähle zu den »Kleinsten auf Erden«, und doch sei ihr Volk »klüger als die Weisen«. Für die »politische Zoologie«, Joseph Vogl, ist die Ameise besonders interessant, weil sie bereits in der Antike oft deshalb bewundert wird, weil sie »keinen Herrscher, keinen Aufseher oder Vorgesetzen« hat. Dies darf bis ins . und . Jahrhundert als Ausnahme gelten: tugendhafte Individuen, eine vorbildliche Gemeinschaft – und das ohne Hierarchie, ohne Stände, ohne Führungsfigur an der Spitze. Diese Form der Gemeinschaft fasziniert noch heute, und die Ameisengesellschaft wird zur Blaupause von schwarmintelligenter, verteilter sozialer Selbstorganisation ohne Zentrum und ohne Spitze. Die Ameise der antiken Fabeln, Parabeln und Gleichnisse ist auch heute noch geradezu allgegenwärtig – und sie ermöglicht dabei sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Deutungen. In jedem Fall geht es aber darum, mit der Hilfe der Fabel erstens eine Situation dezisionistisch zuzuspitzen: entweder Grille oder Ameise, zweitens eine ganz bestimmte Entscheidung der Situation nahezulegen und drittens andere Optionen der Beschreibung und Entscheidung auszublenden. Die Geschichten von der Grille und der Ameise gehen von einer konkreten Situation des Rezipienten aus, die ihn vor die Wahl ralisiert, dass nur eine von beiden Seiten als akzeptable Option gilt. Die Fabel stellt »Alternativlosigkeit« her. Die Fabel veranschaulicht und vereinfacht eine Situation, gibt eine Empfehlung und sorgt zugleich, mit einem Begriff Niklas Luhmanns, für ihre »alternativenlose Evidenz«: Die Wahl der Ameise, deren Voraussicht, Organisationstalent, Disziplin und Fleiß seit Jahrtausenden gelobt wird, ist die richtige Wahl. Man kann ihr blind folgen. Als Handlungsalternative wird die Grille in der Fabel eigens deshalb angeführt, um mit ihrer törichten Wahl etwaige andere Optionen auszublenden. Dies lässt sich nicht nur in der Literatur oder in den Massenmedien beobachten, sondern etwa auch im Film. Der FOTO: OLAF ZIMMERMANN Soziale Insekten Muskateller-Salbei (Salvia sclarea) nutzt mittels raffinierter Schlagbaumtechnik eine Holzbiene Xylocopa vialocea zum Pollentransport stellt: entweder Riester-Rente und Geldanlage in der Schweiz oder nicht? Das suggestive Angebot, mit der Ameise zu sympathisieren und sich vor der Grille zu hüten, legt die Entscheidung jeweils so nahe, dass man von einem Ausblenden von Alternativen oder einer Invisibilisierung von Kontingenz sprechen könnte. Dies schließt nicht aus, dass andere Erzählungen der Fabel – wie beispielsweise Toni Morrisons Comic »Who‘s Got Game? The Ant or the Grasshopper« – die Grille als liebenswerten Lebenskünstler in Szene setzen und die Ameise als geizigen Egoisten zeichnen, der zwar im Sommer gerne Musik hört, aber von seinem hart erarbeiteten Einkommen den Künstler – von hier kommt Polt zur Kunst in den Zeiten der Corona-Pandemie – nicht unterhalten will. Aber ob nun die Ameise mithilfe der Grille als Vorbild oder als Warnung hingestellt wird – in jedem Fall wird die mögliche Kommunikation über ein Thema erst auf eine einfache Alternative beschränkt und dann so mo- Animationsfilm »A Bug’s Life«, Pixar , spielte  in einem halben Jahr eine halbe Milliarde Euro ein. Millionen haben den Film gesehen. Der Film zeigt zunächst die gesamte Ameisenkolonie beim Sammeln von Lebensmitteln. Mit Teamgeist und Fleiß gelingt es, einen großen Vorrat anzulegen. Der Herbst zieht ein, und die Grashüpfer treten auf. Sie haben den Sommer über keine Vorräte gesammelt, sondern in einer mexikanischen Bar getrunken und »La Cucaracha« gesungen, das mexikanische Lied der Müßiggänger. Die Taverne der Grashoppers besteht aus einem schattenspendenden Sombrero, dem stereotypen Symbol des Mexikaners, der Siesta hält, statt zu arbeiten. Fleißig sammelnde Ameisen, sorglos singende Grashüpfer. Diese kurze Exposition genügt, um die ehrwürdige Vorlage zu erkennen, die »A Bug’s Life« aufgreift. Wir haben die fleißigen Ameisen bei ihrem riesigen Vorratshaufen und die faulen Grashüpfer in ihrer mexika- nischen Kaschemme zurückgelassen. Um den Unterschied zwischen ihnen herauszuarbeiten, bedient sich Pixar eines ethnischen Kontextes und lädt die drastisch herausgestellten Unterschiede mit kulturellen Klischees auf. Aber damit nicht genug. Der Film nimmt zudem eine Neudeutung der Fabel vor, deren Folgen für die aus ihr zu ziehende Lehre erheblich sind. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Grashüpfer als Bittsteller zu den Ameisen kommen. Sie erpressen die Hälfte der Vorräte als Schutzgeld. Wenn die Siesta vorbei ist, spielt der Grashüpfer, sprich: der Mexikaner, den Macho und bedroht die Hilflosen. Es ist nun nicht mehr die Ameise, die die Grille verspottet, sondern es ist Hopper der Grashüpfer, der die Ameisen zynisch fragt, was sie denn den ganzen Sommer über getrieben haben: »Have you been playing all summer?« Die Ameisen freilich haben den ganzen Sommer gearbeitet, während die Grashüpfer gesungen und gespielt haben, doch haben sie auf ihrer Insel trotz aller Mühen nicht genügend Nahrung finden können. Was vorhanden ist, reicht gerade einmal für die Ameisen selbst. Auch diese Einbettung und Neudeutung der Fabel dient der Deutungsverknappung – an eine positive Rezeption der Grille ist gar nicht zu denken. Die suggestive Botschaft des Films lautet, dass die Grashüpfer ein für alle Mal aus dem Lebensraum der Ameisen zu vertreiben seien. Dass die Ameisenkolonie vom Sombrero-Lager der Grashopper durch einen Canyon getrennt ist, erinnert kaum zufällig an die Topografie der mexikanisch-amerikanischen Grenze bei San Diego. »A Bug’s Life« erweist sich hier als Beispiel für eine an ethnischen und kulturellen Stereotypen entlang konstruierten Zuspitzung, die die Transformation der Fabel in das Medium der Audiovision dazu nutzt, keinen Zweifel an der Botschaft der Fabel aufkommen zu lassen. Die Grenze nach Mexiko für Grillen unüberwindbar zu machen, ist die latente Botschaft der Kinderfilms. Es sind Naturwissenschaftler, die sich über die Ameise der Fabeln mokieren und neue Erkenntnisse für die Ameisen als soziale Insekten in Feld führen. In einer  veröffentlichen Naturgeschichte ist zu lesen, den Winter verbringe die Ameise in einer Art Starre. Sie bewege sich nicht und nehme in dieser Zeit auch keine Nahrung zu sich. Ihre sprichwörtliche Klugheit beschränke sich darauf, sich in ihrem Unterschlupf in einen depravierten Zustand zu versetzen. Ihre fabelhaften Vorräte, lesen wir  bei einem anderen Forscher, seien für die Ameise vollkommen unnötig, denn jene Jahreszeit, in der die Natur ihr nichts zum Sammeln bietet, verbringe sie in Erstarrung. Vom Lob der Ameisen sieht die Entomologie allerdings keinesfalls ab, es wird vielmehr um  zu einem Topos der Insektenkunde. Vorbildlich ist allerdings nicht mehr das Sammeln für den Winter, sondern ihre Sozialform. Bewundert wird nicht die fleißige Ameise, sondern die Ameisengesellschaft.  repräsentiert die Ameise für den Baron Cuvier eine bewundernswerte Gattung, die in einem geradezu perfekten Zustand der Gesellschaft lebe. Seine Beschreibung einer Ameisenkolonie mit all ihren mehrstöckigen Wohn- und Vorratsgebäuden, Verkehrswegen und Toren, mit einer Vielzahl von Bautrupps und Spähern, Transport- und Sicherungsmannschaften erinnert an eine moderne Großstadt, die von ihr aber besser organisiert wird als Paris von den Franzosen. Die Insektenkunde begnügt sich aber nicht mit der Erforschung der Spezies, vielmehr werden nun die sozialen Tugenden der Ameise und die effiziente Organisation ihrer Gesellschaft zum Vorbild erklärt. Auf die getreue entomologische Beobachtung der Ameisen stützen sich nun die für die menschliche Gesellschaft zu ziehenden Lehren. Es geht nicht mehr um Tugenden und Laster von Individuen, sondern um die Gesellschaft als soziales System. Wir alle, Ameisen und Menschen, lesen wir in Morton Wheelers Standardwerk »Social Insect« von , leben in einem »sozialen Medium«, das den gleichen, einfachen Grundgesetzen unterworfen sei. Daher würden Soziologen und Entomologen auf zahlreiche Parallelen zwischen Ameisen und Menschen stoßen. Die Insektenforschung hat die Analogie zwischen Ameisengesellschaft und menschlicher Gesellschaft so erfolgreich ausgebaut, dass der Stand der entomologischen Forschung unmittelbaren Einfluß auf die kulturellen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft gewinnt. »Man kann mit Ameisen nicht fertigwerden, weil sie ein [...] Rhizom bilden, das sich auch dann wieder bildet, wenn sein größter Teil zerstört ist«, schreiben auch Deleuze und Guattari bewundernd, und während die Kybernetiker und Arbeitswissenschaftler diese Robustheit der Ameisen überall zu implementieren suchen, lassen sich Michael Hardt und Antonio Negri vom Rhizomatischen ihrer Organisation beeindrucken. Die Autoren nutzen die neueste biokybernetische und soziobiologische Ameisenforschung, um von den sogenannten »Swarm Raids« der Ameisen über die computergestützte Simulation dieses Schwarmverhaltens durch Algorithmen schließlich zu ihrem Transfer des Bildes auf die menschliche Gesellschaft zu kommen. Die Ameise der Schwarmforschung wird zum Vorbild einer »kollektiven Intelligenz«, eine Multitude, die »aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen [...] Vielfalt entstehen kann.« Auf dieses Bild der Ameise, deren rhizomatische Organisation das  Millionen Jahre alte Volk so »amazingly successful« – nach Bert Hölldobler und Edward O. Wilson – gemacht habe, berufen sich auch Bestseller der Beratungsliteratur, die in der Ameisengesellschaft ein Muster für die dezentrale, distribuierte, laterale, flexible und robuste Organisation der New Economy entdeckt haben. »Die Ameisen haben uns gezeigt«, so heißt es wörtlich bei Kevin Kelly, wie die globale Netzwirtschaft erfolgreich zu organisieren sei. Auch von Entomologen wird die fabelhafte Analogisierung von Ameise und Mensch immer wieder erneuert, um aus der Verhaltensbiologie politische Lehren zu ziehen. Inspiriert von der effizienten wie robusten Arbeitsorganisation der Ameise, schreiben die Spitzenameisenforscher Bert Hölldobler und Edward Wilson , man müsse die Welt aus der Ameisen-Perspektive wahrnehmen, dann werde alles ganz offensichtlich. Wenn »wir« so werden wie die Ameisen, »simple agents« nämlich, die sich der Schwarmintelligenz fügen, dann werde alles besser, von der Logistik bis zur schonenden Ressourcennutzung, von der Wahl des Wohnorts bis zur Forschung in Teams. Die Algorithmen, geboren aus Forschungen zur »Ant Colony-Optimization«, werden uns führen. Niels Werber ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen, Dekan der Philosophischen Fakultät und Prodekan für Forschung INSEKTEN & KULTUR 21 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Killerbienen und Fliegenwesen Über die faszinierend-schreckliche Rolle von Insekten im fantastischen Film MARKUS METZ UND GEORG SEESSLEN Das Rieseninsekt FOTO: OLAF ZIMMERMANN A lle Tiere sind Teil der Natur. Das heißt, dass sie auf eine stets eigentümliche Weise schön sind und dass sie auf eine stets eigentümliche Weise gefährlich sind. Genau dazwischen, auf dem Weg von der Faszination zur Abwehr, lauert das Unheimliche. Das Unheimliche geschieht, wo sich etwas scheinbar Vertrautes in etwas fundamental Bedrohliches verwandelt. Z. B. Insekten. Im Normalfall sind sie eher klein, sodass die Gefahr, die von ihnen ausgeht, mehr von der Vielzahl oder von indirekten Folgen einer als Einzelfall eher harmlosen Attacke ausgeht. Mücken, die ein gefährliches Fieber auslösen, Heuschrecken, die ganze Ernten vernichten – der ewige Abwehrkampf gegen aggressive oder krankheitsübertragende Insekten ist ein Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Das Böse in unserem Kulturkreis ist auch als »Herr der Fliegen« bekannt, das Böse in unserem Wirtschaftssystem lauert in Gestalt der »Heuschrecken«, das Böse der anderen, das sich bei uns einnistet, wird etwa als »Laus im Pelz« bezeichnet. Kurzum: Insekten als Symbole des Unheimlichen und Sonderbaren bevölkern das kulturelle Unterbewusstsein. Das Kino ist eine Methode, die undeutlichen Bilder aus dem Inneren auf eine äußere Leinwand zu bringen. Es variiert einige Grundvarianten der »insect fear« als schaurigschönes Monsterbild. Muskateller-Salbei (Salvia sclarea) nutzt mittels raffinierter Schlagbaumtechnik eine Holzbiene Xylocopa vialocea zum Pollentransport nes »Massenangriffs«, gegen den, wie in »Them!«, , nur der massivste militärische Einsatz hilft. Ein veritabler Vernichtungskrieg wird da gegen Ameisen geführt, die aus der Wüste kommen, um den American Way of Life zu attackieren.  Jahre später übernehmen die Bienen die Rolle des Lieblingsfeindes im Tierhorrorfilm. Die Legende von den »Killerbienen«, die aus Afrika nach Europa oder in die USA kämen, verbreiteten Katastrophenfilme wie »Killer Bees«, . In »The Bees«, , sind die tödlichen Stiche Ergebnis übler Zuchtversuche: Als die Killerbienen merken, dass sie vermittels eines »Sexualduftstoffes« ins Verderben gelockt werden sollen, beschließen sie – sie sind nämlich nicht nur böse, sondern auch intelligent geworden – die Menschheit aus- Im Reich der japanischen Kino-Monster spielt neben Urweltechsen und Riesenkrebsen auch »Mothra« – im Original »Mosura«,  – eine wiederkehrende Rolle, ein gewaltiges Mottenwesen, das bemerkenswerterweise von zwei winzigen weiblichen Zwillingen begleitet wird, den hobijin (dt. »kleine schöne Frauen«). Die Riesenmotte war so populär, dass sie in einem Dutzend weiterer Filme mit den Flügeln schlagen durfte. Genau besehen ist Mothra unsterblich, weil sie so fleißig für Nachwuchs sorgt, wie wir in „»Godzilla und die Urweltraupen«, , sehen: Godzilla tötet Mothra, aber schon sind die Raupen für die nächste Generation da. Da stecken wir in der Mythologie der Paranoia: Insekten haben, so scheint’s, kaum etwas anderes im Sinn, als sich zu vermehren. Im Kino wird die Insect fear bedient, Schon ästhetisch überwunden oder karnevalisiert. Dabei gesehen gibt es im lassen sich zwei Tendenzen in der Geschichte des Insektenhorrorfilms ausKino kaum etwas machen: Eine realistische, in der echte Furchtbareres als das Tiere eingesetzt werden, und eine irreInsekten-Menschale, in der die Durchschaubarkeit der Mischwesen Monster-Repräsentation zum Vergnügen beiträgt. Durch die computerunterstützte Animation freilich ist dieser Unterschied zwischen »realistisch« und zurotten. Wir verstehen: Die Gefahr, »albern« nicht mehr so leicht zu ziehen die von aggressiven Insekten ausgeht, wie zuvor. rührt entweder aus Migration oder aus unstatthaften Eingriffen des Menschen in die Natur. Das Mörderinsekt Manchmal kommt sie auch aus Möglicherweise kann Entwicklungs- dem Weltall. »Phase IV«, , zeigt psychologie erklären, inwieweit die anders als die gewohnten Horrorfilme Überwindung von Insektenfurcht zum seine Monster ganz real: Ameisen, die Reifeprozess gehört. Jedenfalls spielen aufgrund kosmischer Strahlung ihre große oder gefährliche Insekten eine Kämpfe untereinander einstellen, um, Rolle in Heldenreisen und fantasti- angeleitet von einer fremden Intellischen Coming-of-Age-Geschichten, genz, die Herrschaft über die Erde ansie dürfen weder in der »Herr der Rin- zustreben. Der cineastische Schrecken ge«- noch in der »Harry Potter«-Saga ersteht hier durch die innige Nähe reafehlen. In der Regel handelt es sich um listischer Aufnahmen und apokalyptieine Bedrohung, die zugleich von weit scher Vision.  Jahre später haben es draußen und von tief drinnen kommt. die (mutierten) »Killer Ants«, , nur Insekten stehen für das Phantasma ei- noch auf die klassische amerikanische Kleinstadt-Kleinfamilie abgesehen. Die Heuschreckenplage, in Terence Malicks »Days of Heaven«, , dramatischer Schicksalsschlag und Metapher der Selbstzerstörung, wird in B-Filmen wie »Locusts« () zum Bewährungsfall für in Ungnade gefallene junge Helden. Manchmal indes kommen die Killerinsekten auch aus dem Erdinnern und haben sonderbare Eigenschaften, wie z. B. in »The Hephaestus Plague«, , wo sie, wie der deutsche Verleihtitel »Feuerkäfer« verrät, ihre Umwelt in Brand setzen. Das tragische Mischwesen Alles begann mit »The Fly«, , den man als klassische Mad Scientist-Story lesen kann – ein Mann entwickelt eine Teletransportmaschine und verwandelt sich beim Selbstversuch, weil er eine Fliege mit transportiert hat, in ein grauenvolles Mensch/Fliege-Hybrid – oder auch als tragische Ehegeschichte – die Ehefrau soll das Monster, das aus ihm geworden ist, vernichten, womit sie sich in Verdacht bringt, den Gatten ermordet zu haben.  folgte »Return of the Fly«, wo nach bekanntem Muster der Sohn die gefährlichen Experimente des Vaters mit ähnlich erschreckenden Ergebnissen wiederholt, und »Curse of the Fly«, , wo die Fliegengene im Körper des Protagonisten zu raschem Altern, seine Experimente aber zu einer ganzen Serie verschiedener insektoider Hybridwesen führen. Schon ästhetisch gesehen, gibt es im Kino kaum etwas Furchtbareres als das InsektenMensch-Mischwesen.  schuf David Cronenberg mit seinem Remake einen Meilenstein des »body horror«, eine für viele schwer erträgliche Mischung aus Ekel und Tragik. Schmerz und Zersetzung führen über den Horror hinaus zur Frage, was das eigentlich ist: Leben. Die unvermeidliche Fortsetzung übersah im Effekteinsatz geflissentlich solche Implikationen. Auch Superhelden verdanken ihre Kräfte der Begegnung mit einem Insekt wie etwa »Blue Beetle«. »Ant-Man« kann sich so klein wie eine Ameise machen und mit einem telepathischen Helm die Insekten leiten, während The Wasp ihre Gegner entsprechend ihrer Erscheinung umschwirrt, bevor sie zusticht. In dem Film »The Mothman Prophecies«, , bleibt die Gestalt des Mottenmannes angenehm mysteriös. Die Ameise: mörderisch. Die Wespe: rachsüchtig-sadistisch. Die Biene: schwarmgewaltig. Die Heuschrecke: gefräßig. Und die Motte? Es bleibt ein Hauch von nächtlicher Poesie … Im Reich der Insekten , und ein Remake von »Mimic« als TV-Serie haben alle, wen wundert es, apokalyptische Züge: Die Insekten haben die Weltherrschaft übernommen, die letzten Menschen führen einen verzweifelten Überlebenskampf. Kakerlaken, Ameisen, Termiten, Käfer … – sie vertreiben die Menschen aus ihrer eigenen zivilisatorischen Umwelt. Der Krieg gegen die Insekten ist ungefähr so ungleich wie der gegen die Viren in einer Pandemie. Natürlich sind nicht alle Insekten böse oder gefährlich. Auch der Film stürzt zurück in die Fabel, setzt die Grille als »Gewissen« von Pinocchio ein oder eine Raupe als Gesprächspartner von Alice im Wunderland. Han Solo versteht sich mit intergalaktischen Insekten genauso wie mit räuberischen Kröten. Im Reich der Insekten lassen sich wie in »Antz«, , »A Bug’s Life«, , oder »Bee Movie«, , pädagogisch wertvolle Erfahrungen machen. Superman nutzt riesige Stubenfliegen als Reittiere, um ein intergalaktisches Volk aus der Sklaverei zu führen … Aber was ist das alles gegen Monstermotten, Kakerlaken-Invasionen und Fliegenmenschen? Insekten sind die Tiere, die wir zu hassen lieben. Im Kino wenigstens. Durchaus aktuell und »realistisch« erscheint »Mimic« von Guillermo del Toro, , in dem eine von Kakerlaken übertragene Krankheit durch die Züchtung einer Gegen-Spezies bekämpft wird. Doch die »Judas-Kakerlake« erweist sich dann als noch viel schlimmer. Insekten sind immer auch das Verborgene und Verdrängte, es sind Wesen, die nicht auf den Widerspruch zwischen Wildnis und Kultur zurückzuführen sind, weil sie in beiden Welten existieren. Sich ins Reich der Insekten zu versetzen, ist seit der »Biene Maja« ein Markus Metz und Georg Seeßlen sind beliebtes Motiv in Kinderbüchern und freie Journalisten und Autoren -filmen, das wie in »The Ant Bully«, , durchaus erzieherische Absichten haben kann. Aber man kann, das entspreZU DEN BILDERN chende wissenschaftliche Wunderzeug vorausgesetzt, auch ganz direkt auf Augenhöhe mit Insekten kommen, wenn Die Umwelt, die uns umgibt, unsere man wie »The Incredible Shrinking Heimat hat noch viele »GeheimnisMan«, , immer kleiner und kleiner se«. Insekten, Spinnen, Pflanzen, wird. Oder wenn man in der Serie der Flechten, Pilze, Plasmodial-Amöben »Honey, I Shrunk the Kids«-Filme, so (Schleimpilze) und Kristalle sind die klein gemacht wird, dass eine Wespe Fotomotive von Olaf Zimmermann zum tödlicher Sturzflieger wird und der im Nahbereich. Mit seinen FotograWeg durch ein Stück Rasen zur abenfien versuche er einige »Geheimnisteuerlichen Expedition ins Reich dessen, se« zu lüften und die Schönheit der was kriecht, krabbelt und fliegt. Natur im Kleinen zu zeigen, ohne Die jüngsten Beispiele des Insekviele Worte. Mehr unter: olaf-zimtenhorrors wie »Love and Monsters«, mermann.de/natur/ 22 INSEKTEN & KULTUR www.politikundkultur.net Schwarmästhetik Insekten in der Kunst JESSICA ULLRICH V der sieben Plagen der Menschheit und wird in der bildlichen Darstellung mit Krieg und Pest gleichgestellt. Aber auch in anderen Kulturkreisen wird sie häufig mit Gewalt und Tod in Zusammenhang gebracht. Das Keilschriftzeichen für Heuschrecke bedeutet allerdings nicht nur Vernichtung, sondern interessanterweise auch »Bildnis«. Insekten sind auch mit grundsätzlichen Fragen der Kunsttheorie verbunden worden. Von Vasari stammt die bekannte Anekdote zum Malerwettstreit, nach der Giotto als Knabe einer Figur seines Meisters Cimabue eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt hatte, dass Cimabue sie mit der Hand fortzuscheuchen versuchte. Die illusionistisch gemalte Fliege markiert hier den Aufbruch zur Kunstauffassung der Renaissance, die die realistische Naturdarstellung als zentrales Ziel setzt, und ist damit Symbol für die malerische Fortschrittlichkeit Giottos im Vergleich zum eher mittelalterlich-traditionellen Cimabue. In der Kunsttheorie der Renaissance galt die Grille unter anderem als Synonym für eine originellen Einfall. »Grillenhafte« Kreativität kann dabei genauso als Beleidigung für verschrobene Bildfindungen eines Bildhauers oder Malers gemeint sein wie als Lob für höchste künstlerische Erfindungsgabe. Der um  naturgetreu aquarellier- Man könnte angesichts der vielfältigen Beispiele, die auf demselben Prinzip basieren – Bienen werden eingeladen, Objekte mit Waben zu überziehen –, bereits von einer neuen bieneninduzierten Kunstrichtung sprechen. Die Projekte rahmen die ästhetischen Qualitäten tierlicher Handlungs- und Wirkmacht zu, zielen aber auch darauf, ein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der gefährdeten Arten zu wecken und damit für den Verlust, den ein weiterer Rückgang von Biodiversität bedeuten würde. In solchen Gemeinschaftsprozessen wird nicht nur das Kunstobjekt transformiert, sondern auch der beteiligte Mensch neu situiert und seine Rolle im Schaffensprozess dezentriert. Die Künstler führen mit ihren Kunstwerken vor, dass es möglich ist, über den Abgrund des Nichtverstehens hinweg kreative Beziehungen zu Tieren einzugehen. Auch Schmetterlinge sind beliebte Ko-Autoren: Joos van de Plas etwa stellt Schmetterlingsraupen bedrucktes Papier, bemalten Karton oder Plastikwerkstoffe zur Verfügung, mit denen sie dann ihre temporären Wohnstätten bauen. Mit den Raupen des Seidenspinners und deren Kokons beschäftigen sich besonders prominent Liang Shaoji und Neri Oxman, wobei neben ästhetischen und technologischen Fragestellungen zunehmend auch ökologische und ethische Diskurse eine Rolle spielen. So erkundet Neri Oxman nachhaltige Formen der Gewinnung von Seidenfäden, ohne dabei wie üblich die Kokons zu kochen und die Raupen zu töten. Wahre Handlungsmacht entfalten aber vor FOTOS: OLAF ZIMMERMANN iele Insekten führen eine Existenz am Rande der Wahrnehmbarkeit. Ihre Mimikry oder Camouflage kann so perfekt sein, dass wir sie übersehen. Dennoch sind sie aus der Kunstgeschichte nicht wegzudenken. Im Gegensatz zu anderen Tieren werden Insekten selten als Individuen verstanden. In der künstlerischen Darstellung handelt es sich zwar häufig um Einzeltiere, bei denen aber fast nie das Gesicht im Sinne eines Porträts fokussiert ist, sondern stets der gesamte Körper gezeigt wird. Dieser Körper hat Künstler immer schon fasziniert und zu schrecklich-schönen Darstellungen angeregt. Besonders wenn sie auf Menschenmaß vergrößert sind, machen Insekten Angst. Das mag daran liegen, dass Insekten dem Menschen trotz gemeinsamer Lebensräume fremd bleiben. Man gibt ihnen keine Namen, zähmt sie nicht und hat selten eine »persönliche« Beziehung zu ihnen. Andererseits koexistieren die Gliederfüßer eng mit Menschen, essen dieselbe Nahrung, haben sich perfekt an urbane Räume adaptiert. Während Menschen entweder phobisch oder fasziniert auf Insekten reagieren, sind diese von ihnen scheinbar unberührt. Allerdings betrachten sie die Menschen zuweilen als Beutetiere: spielen Insekten eine große Rolle. Die älteste europäische Insektendarstellung ist wahrscheinlich die lebensgroße Tertiärkohlenplastik eines Totengräberkäfers, die wohl vor etwa . Jahren angefertigt wurde. Etwa . Jahre jünger sind Ritzzeichnungen von Insekten auf Bisonknochen in der Jungsteinzeit. In etwa zeitgleich entstandenen Felsenzeichnungen in Südafrika wurden vor allem Bienen und Heuschrecken dargestellt. Und Repräsentationen von schwärmenden Bienen und Imkern bei der Arbeit belegen die Bienenhaltung in Altägypten um etwa . vor Christus. Nur wenige Arten sind eindeutig positiv oder negativ konnotiert. Die Biene und der Schmetterling sind meist Symbole für »gute« Eigenschaften, während Heuschrecken, Flöhe, Läuse, Kakerlaken eher für das Schlechte in der Welt stehen. Der Skarabäus wurde in Ägypten verehrt, seine plastischen Darstellungen waren dort als Grabbeigaben üblich. Da dieser Käfer Leichen auffrisst, wird er einerseits mit Schmutz, Tod und Verfall in Verbindung gebracht, gilt aber auch als heiliges Tier. Die Ägypter sahen eine Parallele im Dungrollen des Käfers und dem Lauf der Sonne von Osten nach Westen. Bemerkenswert ist auch, dass die Hieroglyphe, die den Skarabäus bezeichnet, für Schöpfung, Werden und Entstehen steht. and historia naturalis«, -, sowie Maria Sybilla Merians bedeutendstes Werk »Metamorphosis insectorum Surinamensium« von , das auf ihrer Forschung während einer Studienreise nach Südamerika basiert. Die Romantik wendet sich dann wieder einer stärker symbolisch besetzten Darstellung von Insekten zu. Caspar David Friedrich etwa lässt auf seinem / entstandenen Gemälde von Ullrich von Huttens Grab einen Schmetterling als Symbol der unsterblichen Seele aus der Gruft aufsteigen. In der Malerei des Biedermeier ist es dann vor allem Carl Spitzwegs schrulliger Schmetterlingsfänger von , der den vergeblichen Wunsch nach einem dauerhaften Festhalten des Glücks ironisieren mag. J. J. Grandvilles sich menschlich verhaltende Insekten, sind durchaus gesellschaftskritisch-satirisch gemeint und sagen wohl mehr über den Menschen aus als über die dargestellten Tiere. Grandvilles Kunst kann dabei als Vorläufer des Surrealismus gesehen werden, der Kunstbewegung der Moderne, in der sich Künstler am intensivsten mit Insekten als Verkörperung von Wünschen, Trieben und Ängsten des Menschen beschäftigen. Die vermeintlich männermordende Gottesanbeterin als gleichzeitig lustvoll inszenierte wie angstbesetzte Chimäre wird beinahe so etwas wie das ikonische Tier des Surrealismus. Salvador Dali erhebt Ameisen zu Protagonisten seiner Malerei, Max Ernst kombiniert in seinen Collagen Insekten mit Menschenköpfen. Das Wunder der Verpuppung, der Metamorphose und der Die Hornisse (Vespa crabro) ist die größte Faltenwespe in Mitteleuropa Moskitos saugen unser Blut, solange wir leben, Käfer fressen unsere Leichen. Schönheit und Hässlichkeit liegen also dicht beieinander, genauso wie die Dichotomie von Schädling oder Wunder. So kommen die Kerbtiere in der bildenden Kunst vieler Kulturen und Epochen als Symbole von Glück, Fruchtbarkeit oder Tod vor. Abbildungen von Insekten fungieren als apotropäisches Zeichen, stehen für die menschliche Seele, für Dämonen oder Gottheiten. Dieses breite Spektrum verdeutlicht bereits die Ambivalenz und Bedeutungsvielfalt von so unterschiedlichen Tieren wie Bienen, Heuschrecken oder Mistkäfern. Von dem Insekt im Generalsingular zu sprechen – mit mehr als einer Million beschriebenen Arten die artenreichste Tierklasse überhaupt –, macht wenig Sinn. Insekten sind schon materiell eng mit der Kunstproduktion verbunden. So werden eine Reihe von Pigmenten aus Insekten hergestellt. Aber auch die Seidengewinnung durch die Raupen des Seidenspinners ist für einige Formen der Malerei essenziell. Doch nicht nur als Material, sondern vor allem als Motiv Im Mittelalter wird der Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen weltlichen Versuchungen und Gottesfürchtigkeit an Skulpturen wie beispielsweise der des Fürsten der Welt am Straßburger Münster, um , oder der der Frau Welt am Wormser Dom, nach , mit Hilfe von Insekten verdeutlicht. Deren Verbindung mit dem Teufel wird nur in der wurmzerfressenen Rückenansicht deutlich, an der sich Insekten aller Art zu schaffen machen. Durch solche Darstellungen sollte Furcht in denjenigen hervorgerufen werden, die an Gott zweifelten. Eine ähnliche Funktion hat das Matthias Grünewald zugeschriebene Gemälde »Totes Liebespaar« von um . Man sieht Schlangen und Frösche, aber auch Fliegen und Käfer, die die Körper auffressen. Die gemalten Insekten sind die Boten des Teufels, die die Bestrafung einer sündhaften Verbindung symbolisieren. Insekten sind, wie die Pest verbreitenden Flöhe oder die Ernte vernichtenden Heuschrecken, oft Symbole für Zerstörung und Verdammnis. Im christlichen Umfeld verkörpert die Heuschrecke eine Die Ommatidien (Einzelaugen) des Fassettenauges der Hornisse te Hirschkäfer von Dürer, der auch in einer Reihe seiner Gemälde vorkommt, wird wegen des Namens und des Geweihs über den Umweg über den Hirsch mit Christus in Verbindung gebracht, so dass seine Darstellung in Bildern von Christi Geburt als Vordeutung auf die Passion lesbar ist. Erst etwa  Jahre später überwiegt das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse an den Insekten. Die ersten wichtigen entomologischen Monografien, die sowohl künstlerischen wie wissenschaftlichen Wert hatten, waren Ulisse Aldrovandis »De animalbus insectis libri septem« von  und Georg Hoefnagels Miniaturaquarelle für Rudolf II. Zur gleichen Zeit, um , führte Roelandt Savery vermutlich als erster Maler Insekten in die Stillebenmalerei ein. In niederländischen und deutschen Stillleben des . Jahrhunderts von Jan Breughel oder Georg Flegel kriechen dann Fliegen schon in Scharen über Obst oder umschwärmen Motten und Schmetterlinge als Vanitassymbole das Licht. Ebenfalls bemerkenswert ist im . Jahrhundert Jean Goedardts Buch »Metamorphosis Mimikry wird in vielfältigen Bildideen, aber auch in kunsttheoretischen Abhandlungen von André Breton oder Roger Caillois umgesetzt und spiegelt eine surrealistische Grundhaltung und Bildstrategie. Später im . Jahrhundert bauen Jean Dubuffets und, auf ganz andere Art, Damien Hirsts Arrangements mit Schmetterlingsflügeln auf die Wirkungsmacht der schillernden Farbigkeit und auf die Assoziationen zu Lebensfülle, aber auch Fragilität und Vergänglichkeit alles Organischen. In der Gegenwartskunst werden Insekten nicht mehr nur als Material, Motiv oder Medium verstanden, sondern zunehmend auch als Mitarbeiter in künstlerischen Prozessen. Steven Kutcher etwa nutzt Käfer als lebende Pinsel, indem er deren Füße in Farbe taucht und sie dann über die Leinwand schickt. Auch Honigbienen sind durch ihre Produktion hexogonaler Wachswaben reizvolle Assistentinnen für menschliche Bildhauerinnen wie Bärbel Rothhaar, Hilary Berseth, Aganetha Dyck oder Ren Ri, die alle selbst Bienenvölker halten. allem die Schmetterlinge, die Kristina Buch als Teilnehmerin der documenta  für ihre Installation »The Lover« in ihrem Atelier gezüchtet hat, um sie dann in einem eigens angelegten Hochbeet auszusetzen: Obwohl als lebendige Ausstellungsstücke konzipiert, konnten die freigelassenen Tiere aktiv ihrer künstlerischen Rahmung entfliehen. Künstlerische Arbeiten können auch Empathie mit Insekten hervorrufen: Das gelingt Chen Sheinberg mit seinem Kurzfilm »Convulsion«, , eines auf dem Rücken liegenden, »schreienden« Käfers, der Mitleid erregt. Der Fokus in der Wahrnehmung von Insekten hat sich also heute verschoben. Mit Hilfe künstlerischer Mittel wird deutlich, wie alles Leben Teil eines miteinander verbundenen ausbalancierten Systems ist. Insekten stehen heute vor allem für die Fragilität, die Komplexität, das Verwobensein und den Wert des Lebens. Jessica Ullrich ist Vertretungsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik an der Kunstakademie Münster INSEKTEN & KULTUR 23 FOTOS: OLAF ZIMMERMANN Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Gemeine Wespe (Vespula vulgaris) Von Schmetterlingen und Libellen Insekten im Jugendstil ANNA GROSSKOPF I n seinem  veröffentlichten Gedicht »Mittag« besingt Rainer Maria Rilke die »schillernde, schnelle Libelle« und macht das Insekt zum Träger einer symbolistischen Naturempfindung: »Wie über dem blauen Waldsee schwer | Hinlastet schwärmendes Schweigen. | Ein Raunen, ein heimliches, zittert noch her | Von blütenbezwungenen Zweigen.« Man glaubt bei diesen Worten förmlich in die lyrische Traumwelt des Jugendstils einzutauchen, in der jedem Detail eine eigene, tiefere Bedeutung zukommt. Der Jugendstil gilt gemeinhin als floraler Stil, doch auch die Fauna fand in der schönlinigen Kunst um  weithin Beachtung. Tiere wurde aufgrund ihrer dekorativen Wirkung geschätzt – wie der Pfau mit seinem prächtigen Federkleid und der Schwan mit seinem elegant gebogenen Hals – oder aufgrund der Symbolik, die sie transportierten. Im Zuge eines neuen Naturverständnisses widmete sich die Kunst auch unscheinbaren, bislang wenig beachteten Arten, insbesondere Insekten, die sich naturgemäß gut mit Pflanzendarstellungen kombinieren ließen. Käfer, Heuschrecken und sogar Spinnen, auf taubedeckten Blüten und zart gebeugten Halmen, bevölkern so manche kostbare Vase und so manches zierliche Teeservice. Gerade die intime Nahsicht auf ein verborgenes, eigentlich unspektakuläres Stück Natur macht den besonderen Reiz dieser Stücke aus. Nicht das Majestätische und Erhabene, sondern die Welt im Kleinen wird so ganz beiläufig in die künstlerisch gestaltete Wohnung gebracht. Eine wichtige Anregung für Insektendarstellungen im Jugendstil bot die japanische Kunst, die Insekten und Kleintieren, ja generell dem Naturdetail im Gegensatz zur weiten Landschaft, schon immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Japanisches Kunsthandwerk, Farbholzschnitte und insbesondere die Manga des Katsushika Hokusai waren um  in Europa weit verbreitet und wurden im Zuge des Japonismus von Künstlern und Gestalterinnen breit rezipiert. Weitere Impulse lieferten die Naturwissenschaften: Ernst Haeckels berühmtes zoologisches Bildkompendium »Kunstformen der Natur« (–) enthielt neben Medusen, Krebsen und Radiolarien auch Arachnida, Spinnentiere, deren eigentümliche Ästhetik so zum Vorbild mannigfaltiger dekorativer Gestaltungen wurde. Die Ornamentalisierung des symmetrischen Insektenkörpers führte Maurice Pillard Verneuil in seinem hinreißenden Mappenwerk »L’animal dans la décoration« von  eindringlich vor. Und selbst materialiter waren Insekten für die Kunst von Interesse: Der metallisch schimmernde Chitinpanzer mancher Käferarten inspirierte irisierende Gläser und Keramikglasuren, etwa in den böhmischen Amphora-Werken, und in dekorativen Oberflächengestaltungen, etwa auf Tischplatten oder Tabletts kamen mitunter sogar echte Schmetterlingsflügel zum Einsatz. Zwei Spezies aus dem großen Insektenreich lassen sich mit einigem Recht als Wappentiere des Jugendstils bezeichnen: Der Schmetterling und die Libelle, deren motivische und ornamentale Verwendung in nahezu allen Bereichen der dekorativen Kunst beinahe endlos variiert wird. Der Schmetterling war ein Lieblingsmotiv der École de Nancy, insbesondere Émile Gallés, der ihn sowohl in der Glaskunst als auch als Marketerie auf seinen Möbelentwürfen häufig darstellte. Nicht nur die filigrane, schillernde Erscheinung dieses Tieres entspricht dem Geist des Jugendstils, sondern auch seine weitreichende Symbolik, die schnell in den Bereich des Märchenhaften und Unergründlichen führt. Als Symbol der Seele erscheint der Schmetterling sowohl in der abendländischen Antike als auch in der Kunst des Fernen Ostens – eine Vorstellung, die der Symbolismus nur zu gern adaptierte und die auch im Jugendstil ein lebhaftes Echo fand. Der kurzlebige, fragile Schmetterling verweist auf die Schönheit und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz und wird gern von Sentenzen begleitet, so etwa auf einer Tischplatte von Émile Gallé: »Beati mites quoniam ipsi possidebunt terram.« (Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.) Die Libelle gehört zu den räuberischen Insekten und folgt dementsprechend einer anderen Symbolik. Hier ist es der Kontrast zwischen dem schlanken, zerbrechlich wirkenden Körper mit schimmernden durchscheinenden Flügeln und einer als grausam empfundenen Jagdpraxis, bei der das Beuteinsekt buchstäblich in der Luft zerrissen wird. Als am Wasser lebendes Insekt gehört die Libelle in den Motivkreis der vom Jugendstil gleichermaßen geliebten Seerosen und Wasserlilien. Sie ist ein häufiges Motiv der Schmuckkunst, etwa von René Lalique, der für ihre netzartigen Flügel eine besonders anspruchs- volle Emailtechnik verwandte. Die Fähigkeit der Libellen, mit ihrem Körper einen Halbkreis zu bilden, machte sich außerdem die Gefäßkunst zunutze. So bilden plastisch ausgeformte Libellen die Henkel in Alf Wallanders berühmtem Libellenservice für die schwedische Porzellanfabrik Rörstrand. Schmetterling und Libelle wurden in der Kunst um  gleichermaßen mit populären Klischeebildern des Weiblichen assoziiert, so dass eine Vielzahl von Mischwesen aus Frau und Insekt den Bildkosmos des Jugendstils bevölkert. Dabei verkörpern die beiden Tiere verschiedene, ja sogar antagonistische Frauentypen des Fin de Siècle: Der zarte Schmetterling steht für die Zerbrechlichkeit der »Femme fragile«, der Giacomo Puccini mit seiner Oper »Madame Butterfly« ein musika- lisches Denkmal gesetzt hat. Wie der Schmetterling ist die »Femme fragile« ätherisch und flüchtig, für den Mann nicht greifbar, und kann nur um den Preis ihres Todes dauerhaft in Besitz genommen werden. Ganz anders die »femme fatale«, deren Schönheit selbst todbringend ist. Die vermeintliche Bedrohung, die von ihrer promiskuitiven Sexualität ausgeht, wird im Bild der räuberischen Libelle gebannt. So kombiniert Laliques »femme libellule« die zerbrechliche Schönheit einer jungen Frau mit den krallenbewehrten Klauen eines Raubtiers zu einem rätselhaft ambivalenten Fabelwesen. Anna Grosskopf ist Kuratorin und stellvertretende Direktorin am BröhanMuseum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus in Berlin AUSGEWÄHLTE INSEKTENSAMMLUNGEN Museum für Naturkunde Berlin Seitdem das Museum für Naturkunde seine erste große Insektensammlung im Jahr  erhielt, sind die Sammlungen auf über  Millionen Käfer,  Millionen Schmetterlinge,  Millionen Bienen und Wespen und eine Vielzahl weiterer Insekten angewachsen. Mehr unter: museumfuernaturkunde. berlin von Theodor Schneid (-). Schneid besammelte zwischen  bis ca.  in einem Umkreis von ca.  km um Bamberg. Vor allem die Hautflügler hat er an zahlreichen Standorten gründlich erfasst. Mehr unter: naturkundemuseum-bamberg.de Sammlungen Bayerns (SNSB). Die entomologische Sektion umfasst: Coleoptera, Diptera, Hemiptera, Hymenoptera, Lepidoptera und Insecta varia. Mehr unter: zsm.mwn.de Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig Das Zoologische Forschungsmuseum Naturkundemuseum Karlsruhe Alexander Koenig verfügt über umDie Gesamtzahl der präparierten In- fangreiche entomologische SammMuseum Natur und Mensch sekten des SMNK umfasst derzeit etwa lungen – darunter zu Libellen, zu Freiburg  Millionen, die in über . Insek- Zweifüglern wie Fliegen, zu Käfern, Die Entomologische Sammlung be- tenkästen untergebracht sind. Dazu zu Schmetterlingen und zu Tausendherbergt ca. . Insektenkästen: kommt von einigen Gruppen umfang- füßern. farbenprächtige Schmetterlinge vom reiches Alkoholmaterial, so z. B. von Mehr unter: https://www.zfmk.de/de/ Kaiserstuhl, schillernde und bizarre Springschwänzen. Der Schwerpunkt forschung/sammlungen Käfer, filigrane Libellen dicht nebenei- der Sammlung liegt bei den Schmetnander. Ein großer Teil der Sammlung terlingen, die mit ca. . Millionen Naturkundemuseum Stuttgart ist während der ersten Hälfte des . Exemplaren vertreten sind. Die entomologische Sammlung ist mit Jahrhunderts durch Hugo Ficke und Mehr unter: smnk.de mehr als , Millionen Objekten aus Konrad Guenther an das Haus überaller Welt die umfangreichste Sammtragen worden. SNSB-Zoologische Staatssammlung des Museums. Die TrockensammMehr unter: freiburg.de lung München lung enthält in . Kästen ungeDie ZSM ist, mit fast  Millionen zoo- fähr , Millionen präparierte und Naturkunde-Museum Bamberg logischen Objekten, eine der größten etikettierte Insekten. Hinzu kommt Vorhanden sind knapp . Belege, naturkundlichen Forschungssamm- Alkoholmaterial. verteilt auf alle Insektenordnungen. lungen der Welt und gehört zu den Mehr unter: Am bedeutendsten ist die Sammlung Staatlichen Naturwissenschaftlichen naturkundemuseum-bw.de 24 INSEKTEN & KULTUR www.politikundkultur.net Insect Concerto Mit Musik gegen das Insektensterben »Singende« Grillen, Zirpen im /-Takt – Komponisten der zentralen Motive im »Insect Concerto« sind die Insekten selbst. Sandra Winzer spricht mit dem Komponisten und Dirigenten Gregor Amadeus Mayrhofer darüber, was klassische Musik und Insekten vereint, und wie sein »Insect Concerto« an die wichtige Rolle der Insekten erinnert. Ein spannender Prozess ... Ja, meine Ohren haben sich in dem Prozess komplett geöffnet. Man denkt: »Eine Grille klingt wie eine Grille«. Als ich anfing, mich in diese Klangbibliotheken einzuhören und der Natur zuzuhören, fiel mir erst auf, wie unterschiedlich und schön die Klänge eigentlich sind. Im »Insect Concerto« gibt es drei Hauptklänge. Die »singende« Grille, die zirpt. Dann gibt es Grillen, die klingen, als hätten sie einen Schaden, sie klingen eher wie ein Zischen. Und dann gibt es eine Grille, die im /-Takt zirpt. Wahrscheinlich eine auf der natürlichen Balance, die auch mit den Insekten zu tun hat. Wenn wir hier auf Risiko spielen und nur Profite im Blick haben, ist das gefährlich. Gleichzeitig muss man sich in einem solchen Stück auch fragen: Wie apokalyptisch muss es sein? Ich habe versucht, immer wieder eine schillernde Mitte zu finden. Trotzdem wollte ich deutlich machen, dass das Insect Concerto nicht nur eine heitere Zusammenkunft ist, sondern einen bedrohlichen Hintergrund hat. Das Insektensterben. Sie wollen also zeigen: Diese wunderschöne akustische Kraft der Insekten könnte aus unseren Wiesen und Wäldern verschwinden ... Genau. Das Konzert soll aber eher die Faszination in den Vordergrund rücken, nicht die Apokalypse. Ich glaube daran, dass Menschen sich durch markantesten. Aber ich möchte bewusst mit dem Namen »Insect Concerto« auf alle Insekten hinweisen. Im Stück sind z. B. auch Ameisen versteckt. Aufnahmen, bei denen Forscher mit Mikrofonen ganz nah Ameisen aufgenommen und verstärkt haben: irrsinnig spannende Geräusche, die an elektronische Musik erinnern. Und der Mittelteil ist stark von der Bewegungsart einer Libelle inspiriert. Libellen mit ihrem schönen schillernden Körper bewegen sich sehr schnell – halten dann aber plötzlich inne. Das habe ich akustisch eingebunden. Heißt: An der Oberfläche des Konzerts hören wir vor allem die Grillen. Inspiriert aber ist es von vielen verschiedenen Insekten und der Philosophie ihres Lebens. Das Flirrende, Überflutende spiegelt sich in den dichten Klangtexturen in dem Stück wider. weggeworfene Produkte musikalisch aufwerten und dadurch neue Klänge finden? Welcher Müll musiziert in Ihrem Konzert? Wir haben z. B. alte Plastikflaschen durch ein Ventil im Deckel mit Luftdruck gestimmt und so ein Melodieinstrument daraus gemacht. Aus Blumentöpfen und mit Wasser gefüllten Glasflaschen wurde ein Vibraphon, und es gibt Instrumente aus verbrauchten Kaffeekapseln, Kronkorken, Metallschrott... Auch normale Plastikfolien nutzen wir rhythmisch. Mit Vivi Vassileva, der Solistin, die am . Juni die Uraufführung in Ludwigshafen spielen wird, habe ich viel ausprobiert. Fast ein Jahr lang schickten wir uns wöchentlich Videos zu, in denen wir auf Dingen klopfen oder mit den Fingern darauf entlangfahren und entdecken, für das Konzert verwenden. Einige Instrumente mussten wir für das Konzert speziell präparieren. Es gibt aber auch Stellen, an denen freisteht, welche Müll-Instrumente man zur Hand nimmt, an denen der »lokale« Müll erklingen kann. Mit welchem Gefühl sollen die Besucherinnen und Besucher aus Ihren Konzerten gehen? Ich möchte Menschen dazu inspirieren, neue Lösungen im Alltag zu finden. Ich kann zwar nicht die Verantwortung übernehmen, dass ein großer Chemiekonzern etwas ändert, wie etwa die Politik es könnte. Aber ich kann aufzeigen: Es gibt viel mehr Möglichkeiten, als unsere Bequemlichkeit es uns oft versucht weiszumachen. Ich möchte Menschen dazu inspirieren weiterzusuchen. Viele phänomenale bildende Künstlerinnen und Künstler FOTOS: OLAF ZIMMERMANN Sandra Winzer: Herr Mayrhofer, klassische Musik und Insekten – was haben diese beiden Sphären miteinander zu tun? Gregor Amadeus Mayrhofer: Sie sind lebendig. In beiden Bereichen gibt es eine unendliche Vielfalt an Strukturen und Philosophien – und eine Vielfalt an Schönheit. Was mich reizt, ist: zwei Themen zusammenzubringen, von denen man zunächst denkt, dass sie total gegensätzlich sind. Und diese Gegensätzlichkeit in sikalischer Dialog wird. Ich wollte nicht nur ein Stück mit Insektenklängen schreiben, oder eines, wie man es in der Klassik erwarten würde, voller Harmonien und Melodien. Sondern eines, das diese beiden Welten zusammenbringt. Rote Waldameise (Formica rufa) der Musik auszukomponieren. Gegenpole sind oft erst das Potenzial für den Raum dazwischen. Daraus kann man dann einen Dialog und Kreativität werden lassen. In meiner Komposition haben klassische Musik und Insekten vor allem den Klang gemeinsam. Wie sind Sie beim Komponieren vorgegangen? Ich wollte, dass die Insekten zunächst mit ihren ureigenen Lauten vorhanden sind. Wir nahmen aufgenommene Laute von einer Insektenforscherin. Dann habe ich geschaut: Wie kann ich die Geräusche imitieren und dem am Ende auch etwas entgegensetzen, sodass ein Spannungsfeld entsteht, aus dem ein fruchtbarer mu- lateinamerikanische Grille mit Faszination stärker als durch Rhythmusgefühl. Das wurde einen drohenden apokalyptider Grundrhythmus des Stücks, schen Zustand bewegen lassen. das Hauptmotiv. Die »KomViele Menschen aber haben ponistinnen« und »Kompomir rückgemeldet, dass sie der nisten« der zentralen Motive Natur ganz anders zuhören, waren tatsächlich die Insekten seit sie mein Konzert gehört selbst. haben. Sie gehen plötzlich über eine Wiese und hören den Zu Beginn des Konzerts Insekten bewusst zu. Nehmen nehme ich eine sehr harwahr, was fehlen würde, wenn monische akustische Krabes nicht mehr da wäre. Das ist belei wahr; einen inneren mein Ziel. Dschungel, der mich umgibt. Bereits ab Minute drei aber Die »akustische Heldin« in werden die Klänge unruhigIhrem Konzert ist die Grille, bedrohlich. Ist das bewusst sie sticht besonders herso gesetzt ...? aus. Haben Sie sich bewusst Ja. Das Thema »Insekten« ist gegen andere Insekten entextrem dringend. Vielen Polischieden? tikerinnen und Politikern ist Im Gegenteil. Ursprünglich noch nicht bewusst, wie nah hieß das Konzert »Cricket wir am Abgrund stehen. Unser Concerto«, also Grillenkonzert. Leben als Spezies Mensch fußt Natürlich sind die Grillen am Sie können aber nicht nur Insekten klassisch-musikalisch umsetzen. Ihre neueste Komposition ist das »Recycling Concerto«. Auch damit unterstützen Sie einen guten Zweck für unseren Planeten. Wer sind hier die Solisten? Wenn man so will, ist das solistische Subjekt der Müll – das Recyceln. Auch hier wollte ich zwei Elemente zusammenbringen, die erst einmal gar nicht zusammengehören. Die Klassik auf der einen Seite – sie wird meist als Hochglanzkultur wahrgenommen. Auf der anderen Seite steht der Müll – das genaue Gegenteil. Das Besondere in diesem Konzert ist: Die Instrumente der PercussionSolistin haben wir alle aus recyceltem Müll gebaut. Wir haben uns gefragt: Wie können wir wie spannend so mancher vermeintliche »Müll« klingen kann. Wir haben Weggeworfenes auf seine Musikalität hin getestet und daraus etwas gebaut. Eine weitere Idee für Ihre Konzerte ist es, den Müll der Stadt, in der Sie spielen, in das Konzert einzubinden. Wie wird das aussehen? Wir als Künstlerinnen und Künstler können Faszination herstellen und dadurch hoffentlich Menschen dazu inspirieren, etwas zu verändern. Wir dachten: Wir können in (Musik-)Schulen gehen, eine MüllSammel-Aktion starten in dem Ort, in dem wir spielen, und zeigen, wie man aus Müll Instrumente baut. Einen Teil dieser »Recycling-Instrumente« kann man am Ende auch tatsächlich schaffen aus Müllmaterial eine ganz neue Ästhetik. Das mit der Musik zu schaffen war mein Versuch. Ich hoffe, dass die Botschaft bei vielen Menschen ankommt und ebenso viel Kreativität auslösen wird. Das ist Ihnen gelungen, Herr Mayrhofer. Sie zeigen, dass klassische Musik dazu dienen kann, auf die bewegenden aktuellen Themen unseres Planeten aufmerksam zu machen. Vielen Dank. Gregor Amadeus Mayrhofer ist Komponist, Dirigent und Pianist. Sandra Winzer ist ARDJournalistin beim Hessischen Rundfunk Mehr unter: gregor-a-mayrhofer.com INSEKTEN & KULTUR 25 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Die Darstellung von Insekten in Computerspielen THOMAS HAWRANKE E s ist : Uhr. Ich befinde mich auf der südlichen Halbkugel, auf meiner Insel im Nirgendwo. Die Sonne steht bereits tief über dem Horizont. Eine Wanderheuschrecke hüpft über einen Stein, rechts davon flattert ein Himmelsfalter über die Wipfel der Bäume. Ich schlage mit meiner Schaufel auf den Stein und hervor kommt ein Hundertfüßer. Er bewegt sich schnell von mir weg. Geistesgegenwärtig fange ich ihn mit meinem Wackelkescher: »Ein Hundertfüßer! Du hast deine Laufschuhe wohl nicht schnell genug angezogen!« steht auf dem Bildschirm. Nicht zuletzt wegen der anhaltenden Corona-Pandemie ist das verträumte Gameplay des Konsolenspiels »Animal Crossing: New Horizons«, , für viele Menschen eine willkommene Abwechslung geworden. Als digitales Spielphänomen der Krise lässt es uns all die Dinge zelebrieren, die temporär nicht möglich sind – als E-Learning-Plattform lernen, als Ausstellungsraum Kultur erfahren, als Event-Location heiraten oder eben als Spielumgebung den Alltag vergessen und sich in Freiheit üben. Neben der Herstellung von immer neuen Gegenständen steht das Fangen, Kategorisieren und Ausstellen von Lebensformen im Mittelpunkt der designten Handlungsmöglichkeiten. Neben  Meerestieren und  Fischarten existieren  Insektenarten, die es wegzusperren gilt. Eugen, die anthropomorphisierte Eule, leitet das örtliche Museum, übernimmt für uns die Artenbestimmung und pflegt sie in die Ausstellung ein. Den »Creepy Crawlers« wird gleich ein ganzer Flügel des Museums gewidmet. Die inhärente Logik des Spiels folgt dabei einer Hierarchisierung der Arten: Zuoberst steht der Mensch als steuerbarer Avatar; darunter anthropomorphisierte Tiere wie Eugen, die als Inselbewohnerinnen und -bewohner unserer Einsamkeit entgegenwirken; danach eine Vielzahl an naturalistischanmutenden Tieren, die der Welt Leben einhauchen. Und zuunterst die Arten, wie Fische, Meerestiere und Insekten, die man sammeln kann. Die Darstellung von Insekten in Computerspielen hat sich historisch entwickelt. Ihre Rolle als Teil eines funktionierenden Ökosystems und die damit verbundene Betonung auf Varianz in einem sich ständig anhaltenden Prozess aus Transformation, Entwicklung und Veränderung ist jedoch eine aktuellere Tendenz.  lässt die Firma Atari Inc. den Hundertfüßer über die Bildschirme der Spielhallen krabbeln. »Centipede« ist ein sogenannter »Fixed Shooter«, bei dem vom oberen Bildschirmrand das namensgebende Insekt in Schlangenlinien durch ein Labyrinth aus Pilzen nach unten läuft. Am unteren Bildschirmrand ist die von dem Spielenden kontrollierte Figur des sogenannten »Bug-Blasters« zu sehen, eine Waffe, mit deren Hilfe der Hundertfüßer zerstört werden kann. Das Problem: Wird der Hundertfüßer von einem Schuss des Blasters getroffen, so teilt er sich in zwei Teile und beide Segmente existieren fortan autonom voneinander. Zudem bewegen sich noch andere Insekten wie Flöhe, Spinnen und Skorpione über den Bildschirm und erschweren das Vorhaben des Spielenden, den Hundertfüßer zu stoppen. Orientiert sich das Szenario der »Centipede« an filmischen Vorbildern wie »Tarantula«, , »In der Gewalt der Riesenameisen«, , oder »Starship Troopers«, , so hebt das Handlungsdispositiv des Computerspiels die Eigenarten des Tieres hervor: Der Hundertfüßer ist grantig, schnell, unberechenbar. Er teilt sich, um zu überleben. Und ist er schließlich besiegt, folgt der nächste nur Augenblicke später am oberen Bildschirmrand – der Tod als Teil eines unendlich-wirkenden Kreislaufs des Lebensspiels. Neben der Inszenierung als unberechenbare, riesige Monster und somit Gegner nutzen andere Games der goldenen Ära der Spielhallenspiele Insekten als Vehikel zum Eintauchen in die vergrößerten Makrowelten des Tierlichen. Hierbei werden erfolgreiche Spielkonzepte mit der Darstellung von Insekten weiterentwickelt: Flieht man  im Spielhallen-Klassiker »Pac Man« als gelber Kreis mit Mund vor farbigen Geistern, so spielt man ein Jahr später in einem modifizierten Labyrinth als Marienkäfer gegen acht unterschiedliche Insektenarten. Was Spiele wie »Lady Bug und Dung Beatle« zudem einleiten, ist die Verwandlung der Spielerin oder des Spielers in ein Insekt. Werden Insekten als Feinde vergrößert, so werden die Spielenden mit der Übernahme der Kontrolle der Insekten verkleinert. Die vertraute und vergrößerte Alltagswelt wird zum Schauplatz des Abenteuers und ersetzt die fantastisch-fiktiven Welten, die sonst so typisch sind für Computerspiele. Die er Jahre werden bestimmt von dieser wundersamen Neuskalierung. So erkundet man in kafkaesker Manier als Kakerlake die heimische Küche – »Bad Mojo«,  –, oder als Comic-Käfer mit Turnschuhen den riesenhaft-wirkenden Garten – »Bugdom«, . Mit dem Aufkommen der ersten dreidimensionalen Computerspiele wird diese Makrowelt als Erfahrung noch eindringlicher.  kann man im Playstation Spiel »You, Spider: The Video Game« als Spinne eine vollständig in D generierte Welt bestaunen; fast zehn Jahre später ist diese dreidimensionale Welt in »Deadly Creatures« dann auch frei erkundbar. Neben der Rolle der Insekten als Feind oder als Avatar zeichnet sich in den er Jahren ein genereller Trend im Bereich der Computerspiele ab, in dem konsequenterweise auch das Leben der Tiere miteinbezogen wird: Simulationsspiele, die komplexe systemische Zusammenhänge als FOTO: OLAF ZIMMERMANN Insekten spielen Rote Waldameise (Formica rufa) Spielerfahrung vermitteln. Exemplarisch hierfür ist die Sim-Reihe, die im Jahr  mit »Sim City« zunächst die Stadtplanung als Spielkonzept etabliert. Darauf folgen  mit »Sim Earth« eine globalere Sicht auf die Erde als Ökosystem und  mit »Sim Ants« der detaillierte Blick in eine Ameisenkolonie. Steuert man noch einige Jahre zuvor einzelne Insekten, so geht es bei diesen sogenannten biologischen Simulationen um ökologische Zusammenhänge. In »Sim Ants« beginnt man das Spiel mit einer Arbeiter-Ameise und einer Königin und versucht von diesem Ausgangspunkt aus, eine ganze Kolonie zu entwickeln, die sowohl die rivalisierenden roten Ameisen als auch die Menschen von ihrem Territorium vertreiben soll. Als eine von vielen Ameisen gilt es, Pheromone zu verbreiten, das eigene Tunnelsystem auszubauen, Nahrung in den Bau zu bringen, Trophallaxis mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu betreiben und Gegnerinnen und Gegner anzugreifen. Durch FortpflanzungsMechanismen erhöht sich die Anzahl der Mitglieder der eigenen Kolonie, wobei externe Ereignisse wie Regen, ein Rasenmäher oder Stromschläge den Dominanzabsichten des Spielenden entgegenwirken. Solche biologischen Simulationsspiele, die bereits seit Mitte der er Jahre auf dem Markt sind, werden in den ern zu einem Randphänomen. Der dreidimensionale Raum erobert das Computerspiel, mit nun vollkommen navigierbaren Habitaten, die in spek- takulärer Weise die Welt der Insekten inszenieren. Die Idee von zusammenhängenden Ökosystemen lebt jedoch im Genre der »Open World Spiele« wieder auf. Ähnlich wie im Eingangsbeispiel sind Tiere, Fische, Insekten und Pflanzen hier Teil einer ornamentalen Inszenierung von Natur: Zweige federn im Wind, Rehe durchstreifen die Wälder und über Steine krabbeln eine Vielzahl von Ameisen, Käfern und anderen Insekten. Das Versprechen: Diese einzigartige Welt lebt und sie ist es wert, entdeckt zu werden. Obwohl in Spielen wie »Grand Theft Auto «, , und »Red Dead Redemption «, , tierliche Repräsentationen allgegenwertig sind, fristen die Insekten ein Schattendasein. Demgegenüber belebt eine Vielzahl von Insektenarten die Rollenspielwelt von »The Elder Scrolls V: Skyrim«, : Hundertfüßer, Libellen, Motten, Bienen und Schmetterlinge mischen sich hier mit fantastischen Insektenarten und bilden mit Tieren, Fischen und Pflanzen ein lebendiges Habitat. Gleichzeitig sind die Insekten Teil einer ausgefeilten Crafting-Mechanik, in der sie beispielsweise gesammelt und als Zutat für bestimmte Tränke genutzt werden. Die komplexen Umgebungen der »Open World« laden die Spielerinnen und Spieler dazu ein, in ihr zu verweilen und dem Fortlauf des Lebens beizuwohnen. Fernab von den designten Handlungen sind es die »natürlichen« Phänomene, welche die Persistenz von Welt an den Spielenden vermitteln: Wohin läuft der Hundertfüßer? Wie weit springt der Grashüpfer? Und wann kriechen die Motten aus ihren Verstecken hervor? Zwischen den Wirren und Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges sind es solche Beobachtungen, die das Denken des französischen Philosophen Roger Caillois maßgeblich prägen. Als kleiner Junge in der ländlichen Gemeinde Vitry-le-Brûlé aufgewachsen und fernab von Büchern, Bildern, Kinos und Fernsehern, sind es die Insekten, die Caillois beobachtet, sammelt und kategorisiert: hören, atmen und wittern als Modus der Weltwahrnehmung. Die Dinge, die Caillois aus der Studie der Insekten ableitet, beeinflussen seine Theorie des Spiels maßgeblich. Den Mimetismus der Insekten, also die Verkleidung (travesti), die Tarnung (camouflage) und die Einschüchterung (intimidation) findet Caillois in den Verhaltensweisen und Haltungen der Menschen wieder. Dem regelgebundenen Spiel der »ludus« stellt Caillois das freie Spiel der »paidia« zur Seite, welches er vor allem bei Kindern und Tieren findet. Und wenn er seine vielbeachteten Kategorien des Spiels aufzeigt, so geschieht das immer in einer geistigen Nähe zu den beobachteten Insekten und Tieren. Wenn wir also dem Hundertfüßer in Animal Crossing zusehen oder den Flug des Blaufalters in Skyrim verfolgen, so sind wir während des Computerspielens ganz nah an dem, was das Spielen an sich bedeutet. Thomas Hawranke lehrt und forscht im Bereich Transmedialer Raum der Kunsthochschule für Medien Köln Krabbeln auf dem Teller Milliarden Menschen ernähren sich von Insekten LUDWIG GREVEN I nsekten und Menschen leben in enger Symbiose, seit es Menschen gibt. Etliche fliegende und krabbelnde Kerbtiere ernähren sich wie Maden und Würmer von menschlichem Blut und Eiweißen und ihren Lebensmitteln. Und von ihren sterblichen Überresten. Umgekehrt verzehren Menschen sie. Manchmal unfreiwillig, wenn einem eine Fliege in den Mund fliegt oder sie im Salat landet. Mehr und mehr aber auch gezielt und ernährungsbewusst. Bereits zwei Milliarden Menschen, vornehmlich in Asien und Afrika, dienen nach Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO Insekten als Nahrungsquelle, vor allem wegen ihres hohen Proteingehalts und aus Mangel an anderen Nahrungsmitteln. Schon bei den alten Griechen und Römern reichte man fette Larven bei Festessen als Delikatesse, Aristoteles soll Rezepte für die Zubereitung von Zikaden hinterlassen haben. In Deutschland und Frankreich wurden Maikäfer bis ins . Jahrhundert verspeist. Gehören geröstete Heuschrecken, gegrillte Wespen und Würmer-Bur- ger also auch hierzulande bald zum Speiseplan einer innovationsfreudigen Nahrungsmittelindustrie, die ja bereits Tofu-Burger und fleischlose Würstchen anbietet, und von wagemutigen Verbrauchern? Können sie gar das Welternährungsproblem lösen? Immerhin bieten Onlinehändler und einige Supermärkte und Restaurants schon seit Jahren Heuschrecken, Grillen und Buffalowürmer an, als Snacks frittiert und gewürzt oder mit Schokolade oder Honig überzogen. Für Sportler sind Insekten-Proteinriegel und -pulver ein heißer Tipp. Fleischproduzenten nutzen Würmermehl als Futtermittel. Rund . Insektenarten gelten als essbar, vor allem Käfer, Raupen, Bienen, Wespen, Ameisen, Heuschrecken, Grillen und Mehlwürmer. Man muss sie nur mögen. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen freut sich: Essbare Insekten seien »im Landeanflug auf den deutschen Lebensmittelmarkt«. Die Krabbeltiere punkteten neben den hohen Nährstoffen und einem reichen Angebot an Omega--Fettsäuren, Vitaminen und Mineralstoffen mit einer nachhaltigeren Produktion als Fleisch: Sie brau- chen weniger Platz, Futter, Energie und Wasser und verursachen weniger Treibhausgas-Emissionen. Ihr essbarer Anteil ist zudem mit  Prozent doppelt so hoch wie beispielsweise beim Rind. Ein großes Hindernis steht dem großen Krabbeln auf deutschen Tellern allerdings entgegen: Ekel bei vielen vor allem, was kreucht und fleucht. Nicht nur bei Menschen mit Spinnenphobie oder solchen, die schon von Küchenschaben, Lebensmittelmotten oder Wespen auf dem sommerlichen Pflaumenkuchen geplagt wurden. Von Mücken und krankheitsübertragenden Insekten nicht zu reden. Und es bleibt dieselbe ethische Frage wie bei größeren Lebewesen: Auch das Gesummse und Gewürm ist unverzichtbarer Teil der Natur. Wenn das Insektensterben nicht noch verstärkt werden soll, müssten sie in riesigen Massen gezüchtet und gemästet werden, nicht anders als bei Schweinen, Rindern und Hühnern. Mit wahrscheinlich allen bekannten Folgen wie Hormon-, Antibiotika- und Chemikalien-Belastung. Auch deshalb würde ein vermehrter Verzehr von Insekten den Hunger in der Welt nicht beseitigen. Denn Nah- rungsmittel sind nach FAO-Angaben im Prinzip genug da für alle neun Milliarden Menschen. Nur können sie sich viele aus Armut nicht leisten. Vegetarisch, gar vegan ist das Knabbern an Grillen oder Larven jedenfalls nicht, auch wenn sich ein Großteil der Insekten so ernährt. Außerdem können auch sie Krankheiten auf Menschen übertragen, wie beim Coronavirus, auch wenn Biologen das Risiko dieser Zoonosen für geringer halten als bei Säugetieren oder Fledermäusen. Vorsorglich raten die Verbraucherzentralen davon ab, selbst gesammelte Insekten zu essen, da sie als »Wildtiere« sich auch von Abfällen ernähren oder von Parasiten befallen sein können. Ähnliches gelte für Insekten aus dem Zoohandel. Speiseinsekten, die im Lebensmittelhandel angeboten werden, stammten ausschließlich aus kontrollierter Aufzucht. Verbraucher müssen also nicht befürchten, wild gefangene Heuschrecken aus Afrika zu verspeisen, obwohl sie dort im Überfluss als biblische Plage die Felder für Millionen Menschen leer fressen. Ludwig Greven ist freier Publizist 26 INSEKTEN & KULTUR www.politikundkultur.net Verwirklichter Lebenstraum Ein wunderbares Museum: der »Harmas« des Jean-Henri Fabre Z u besichtigen ist: ein verwirklichter Lebenstraum. Jahrelang hatte Jean-Henri Fabre als nicht sonderlich gut bezahlter Lehrer gearbeitet, hatte etwa auf Korsika, an der kaiserlichen Hochschule in Ajaccio, vier Jahre lang Physik unterrichtet. Doch durch seine Bücher hatte er sich einen Namen gemacht: Durch großzügige Finanzhilfen machte es der englische Philosoph und Sozialreformer John Stuart Mill möglich, dass Fabre sich im südfranzösischen Orange als freier Naturforscher niederlassen konnte. Rund zehn Jahre blieb Fabre dort – dann zog er um: ins Paradies. Das war: ein großer, vielgestaltiger Garten und ein Gutshaus,  im provençalischen Stil gebaut.  Jahre lang hatte es leer gestanden, als Jean-Henri Das Wohnhaus von mediterranem Charme, die Fassade in hellrosa, dazu hellgrüne Fensterläden und der ewige Gesang der Zikaden Fabre es  kaufte, der Garten verwildert – so bekam das Anwesen seinen Namen: der »Harmas«, abgeleitet vom Okzitanischen »ermàs« für »Brachland«. Der es bezog, war inzwischen  Jahre alt – und verbrachte  Jahre in seinem »Harmas«, fernab von neugierigen Blicken war er täglich in seinem Garten, um stundenlang Insekten, Gliedertiere, Pflanzen zu beobachten und zu studieren, um sie zu beschreiben, zu zeichnen, zu aquarellieren: der Naturforscher und Entomologe Jean Henri Fabre, der »Homer der Insekten«. Heute ist der »Harmas Jean-Henri Fabre« ein Museum. Seit  gehört er zum Pariser Muséum National d’Histoire Naturelle.  wurde er in die Reihe der »Monuments Historiques« aufgenommen und steht damit unter Denkmalschutz, bis  wurde er vom Staat aufwendig restauriert.  kam noch der Titel »Maison des Illustres« hinzu, ein staatliches Label, verliehen an Orte von besonderer Bedeutung für die politische, soziale und kulturelle Geschichte Frankreichs. Gelegen im Örtchen Sérignan,  Kilometer nordöstlich von Avignon, ist dieser »Harmas Jean-Henri Fabre« ein durch und durch friedlicher Ort: das Wohnhaus von mediterranem Charme und Charakter, die Fassade in hellrosa, dazu hellgrüne Fensterläden und der ewige Gesang der Zikaden. Hohe Platanen umstehen das Haus, der Garten ist prachtvoll und drängt sich geradezu ans Haus heran; etwa ein Hektar groß, wird er eingefriedet von einer Steinmauer. Allein im Ziergarten blühen rund  verschiedene Blumen, Sträucher, mediterrane Gewächse, teilweise noch von Jean-Henri Fabre selbst gepflanzt: Rosen, Nelken, Lilien, spanischer Ginster, russisches Geißblatt, Affodill und Heiligenkraut, Lavendel, Disteln, Flockenblumen, Tulpensorten, die schon als ausgestorben galten, Steineichen, Erdbeerbäume, Rosmarinsträucher, Aleppo-Kiefern, Pistazien-, Feigen-, Lorbeerbäume, zwei große Becken mit Wasserpflanzen, ein Bambuswäldchen. Im Mittelpunkt des Wohnhauses: das Arbeitszimmer. Ein großer Raum, in der Mitte ein Holztisch, mit Manuskripten, Papierblättern und Zeichenfedern, Fabres Brille, an den Tisch gelehnt sein Spazierstock. Hier hat Fabre geschrieben, umgeben von Glasschränken an den Wänden, in denen er seine Sammlungen aufbewahrte und dabei ständig vergrößerte. Zu sehen sind hier Fossilien und Mineralien, Reihen über Reihen versteinerte Muscheln und Schnecken, Bücher, Drucke, Manuskripte – an der Wand gegenüber Reihen über Reihen mit aufgespießten Käfern, Vogeleier in Nestern oder auch in Watte gebettet, unter und zwischen alledem immer wieder kleine Zettelchen mit den jeweils lateinischen Namen: jedes ein- zelne Stück von Fabre mit feiner Hand beschriftet. Auch einige Bildtafeln des Herbariums sind im Arbeitszimmer zu sehen. Im Alter von  Jahren hatte Fabre mit dem Sammeln zumeist mediterraner Pflanzen begonnen, zeitlebens tauschte er sich mit über einhundert anderen Naturforschern und Botanikern aus, als Bewohner seines »Harmas« streifte Jean-Henri Fabre jahrzehntelang durch die Landschaften seiner Umgebung. Ein gigantisches Herbarium entstand so, immer neue Pflanzen wurden täglich gesammelt, getrocknet, konserviert und katalogisiert, allein die MoospflanzenSammlung weist rund  Exemplare auf, in der Flechten- und Pilzsammlung wurden bei der Restaurierung der Sammlung  Arten unterschieden. Eine einzigartige, leider auch empfindliche Sammlung: Inzwischen wird das Herbarium in einem Raum aufbewahrt, dessen Temperatur und Luftfeuchtigkeit ständig überprüft werden, in seiner Gesamtheit ist es nur noch Forschern zugängig. Dafür entschädigt wird der Besucher in der Bibliothek. Jean-Henri Fabre war ein sehr talentierter Aquarellmaler. Den Pinsel sah er als »eine Abwechslung zur alltäglichen Prosa« und malte also, was sich in einem Herbarium nicht so gut konservieren ließ: Pilze. Davon fand er sehr viele in seinem Garten und malte sie naturalistisch präzise, farbenprächtig und doch zart.  solcher PilzAquarelle sind erhalten – und auch wer da dachte, sich für derlei nie und nimmer interessieren zu können, wird als Besucher im »Harmas« des Jean-Henri Fabre eines Besseren belehrt. Wer das Anwesen verlässt, schaut unweigerlich genauer hin auf das, was da so wächst und blüht und summt und krabbelt. Die Gottesanbeterin, den Feldskorpion und den Mistkäfer mochte Fabre besonders gerne. Man fängt an, nach dergleichen Ausschau zu halten. Jürgen König ist seit . Juni  Kulturkorrespondent im Hauptstadtstudio des Deutschlandradios FOTO: OLAF ZIMMERMANN JÜRGEN KÖNIG Nervöses Hornissenbein (Vespa crabro) Insekten in der Antike Gleichsetzung von menschlicher und tierischer Gemeinschaft DOMINIK BERRENS D ie komplexen Gesellschaften von Bienen, Wespen und Ameisen üben seit jeher eine große Faszination auf Menschen aus. Diese schlägt sich bis heute in zahlreichen Darstellungen in Kunst und Literatur nieder. Diese Tiere stellten früher wie heute selbstverständlich auch einen wichtigen ökonomischen Faktor dar. Man denke nur an die Bienenprodukte Honig und Wachs oder an die Wahrnehmung von Wespen und Ameisen als potenzielle Frucht- und Kornschädlinge. Doch reicht die Bedeutung dieser Tiere für die antiken Kulturen weit über diese bloße ökonomische Seite hinaus. Einflussreiche Beschreibungen und Darstellungen finden sich daher keineswegs nur in zoologischen oder landwirtschaftlichen Fachbüchern, sondern auch in poetischen und philosophischen Schriften, in Komödien, auf Vasenmalereien, Skulpturen oder Münzen. Bereits in den frühesten Werken der griechischen Literatur, den Epen Homers und Hesiods, dienen diese Insekten in Gleichnissen der Illustration und Deutung menschlichen Verhaltens und menschlicher Gefühle. Trotz aller offensichtlichen Unterschiede in Körperbau und Physiologie sah man Bienen, Wespen und Ameisen insbesondere hinsichtlich ihrer Lebensform als vergleichbar mit dem Menschen an. In der »Tiergeschichte« des Philosophen und Naturkundlers Aristoteles bilden diese Insekten zusammen mit dem Menschen und dem Kranich die Gruppe der sogenannten »zoa politika«, der sozialen oder politischen Tiere. Gemäß Aristoteles’ Definition unterscheide sich diese kleine Gruppe von anderen Tieren dadurch, dass soziale Tiere nicht bloß räumlich zusammenleben, sondern eine echte Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Ziel bilden, zu dem alle Mitglieder durch ihre Arbeit beitragen. Diese Gleichsetzung von menschlicher und tierischer Gemeinschaft zeigt ihren Einfluss noch heute, wenn wir wie selbstverständlich von »staatenbildenden« Insekten mit »Königinnen« und »Arbeiterinnen« sprechen. Die antike Metaphorik war in diesem Punkt im Übrigen noch reicher, da nicht nur menschliche (Stadt-)Staaten, sondern auch Häuser, Paläste und – speziell in römischen Quellen – auch Heereslager als Analogie für die Insektengesellschaften dienten. Ein besonderes Staatsmodell verkörperten in der antiken Vorstellung die Ameisen. Bei diesen Insekten ging man gemeinhin davon aus, dass sie keine Anführer besäßen und somit »anarchische Tiere« seien. »Anarchisch« ist nicht mit regellos und chaotisch gleichzusetzen. Vielmehr bewunderte man ihren dem Menschen weit überlegenen Gemeinsinn, der eine Ordnung ganz ohne Herrscher ermögliche. Das Bienennest wiederum betrachtete man ähnlich wie heute als Monarchie. Ein wesentlicher Unterschied zwischen antiken und modernen Vorstellungen besteht jedoch in der Zuschreibung des Geschlechts der Bienenkönigin. Obwohl bereits Aristoteles Hinweise darauf hatte, dass die Bienenkönigin die Eier legt, und man die Wespenkönigin richtigerweise für weiblich hielt, ging man in den antiken Texten mit wenigen Ausnahmen von einem Bienenkönig aus. Hierin zeigt sich deutlich, wie Vorstellungen aus der menschlichen Gesellschaft auf die Tierwelt projiziert wurden. Doch auch umgekehrt konnte die Monarchie im Bienenstaat als Rechtfertigung dieser angeblich naturgemäßen Herrschaftsform für den Menschen dienen. Der römische Philosoph Seneca empfahl gar seinem Zögling, dem späteren Kaiser Nero, den vermeintlich stachellosen Bienenkönig als Beispiel eines milden und guten Herrschers. Die Unklarheit über das wahre Geschlecht der Bienenkönigin, die erst im . Jahrhundert endgültig beseitigt wurde, beruhte auch auf dem fehlenden Wissen über die Fortpflanzung von Bienen. Weil man nie eine Paarung beobachtet hatte und sich zudem die Dreizahl der Formen – Arbeiterinnen, Königinnen und Drohnen – nicht mit einfacher sexueller Fortpflanzung erklären konnte, nahm man vielfach eine asexuelle Fortpflanzung bei Bienen an. Diese naturkundliche Theorie beeinflusste wiederum die spätantike christliche Symbolik, sah man in der Biene doch ein ideales Vorbild für eine Jungfrau und mehr noch einen Beleg für die Möglichkeit der jungfräulichen Empfängnis. Die wechselseitige Beeinflussung von Ansichten über mensch- liche und tierische Welt ist also keineswegs auf den politischen Bereich beschränkt. Obwohl Bienen, Wespen und Ameisen in der Antike manch ähnliche Eigenschaft wie heute zugeschrieben wurden, darunter beispielsweise Fleiß und Gemeinsinn, aber auch Reizbarkeit und Aggressivität, wirken andere antike Vorstellungen auf uns eher fremd. Durch das moderne Wissen um Fortpflanzung und Geschlecht der Bienen erscheinen sie uns wohl kaum mehr als passender Vergleich für männlich konnotierte Gruppen und Personen oder als Beleg für jungfräuliche Empfängnis in der Tierwelt. Diese Beispiele zeigen, dass naturkundliche Erkenntnisse und gesellschaftliche Vorstellungen einander bedingen und gegenseitig durchdringen. Die Betrachtung kulturell geprägter Darstellungen und Beschreibungen von Insekten verrät somit nicht nur etwas über die Tiere, sondern stets auch etwas über die jeweilige Vorstellungswelt der Menschen. Dominik Berrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Innsbruck INSEKTEN & KULTUR 27 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Wenn Insekten über Leichen gehen Fliegen & Co. sind wichtige Zeugen bei Tötungsdelikten MARCUS SCHWARZ W Tritt der Tod ein, so ist es für die klassische Rechtsmedizin bis zu  Stunden möglich, anhand von Erscheinungen wie der Leichenstarre oder der Totenflecke den Sterbezeitraum einzugrenzen. Meistens gibt es aber, beispielsweise durch sommerliche Temperaturen, einen wesentlich kleineren Spielraum. Dann helfen die Insekten weiter. Kennt man die Art der vor Ort gesicherten Fliegenmaden und möglichst viele externe Faktoren, allem voran den Temperaturverlauf, so ist es möglich, das Alter der Made festzustellen. Liegt die Leiche in einem für Fliegen zugänglichen Bereich, so ist davon auszugehen, dass diese unmittelbar nach dem Tod damit beginnen, Eier auf die Leiche abzulegen. Kurze Zeit später schlüpft eine kleine Made aus dem Ei und beginnt mit dem Fraßprozess. Sie häutet sich zweimal, um dann im dritten Larvenstadium vom Leichnam abzuwandern und sich zu verpuppen. In der Puppe findet die Metamorphose zur Fliege statt. Nach einiger Zeit schlüpft die ausgewachsene Fliege und der Zyklus beginnt von vorn. Sitzt man also im Sommer grillend auf der Terrasse und eine kleine goldene Fliege landet auf dem Steak, so muss diese ihre »Jugend« auf toter eiweiß- reicher Substanz verbracht haben. Sie können an dieser Stelle ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Aber nicht nur die reine Leichenliegezeit lässt sich anhand der Insekten bestimmen. Auch Intoxikationen können noch nach sehr langer Zeit nachgewiesen werden. Während Fliegen die ersten an der Leiche sind, so sind bei Wohnungsleichen bis zur kompletten Skelettierung Speckkäfer meist die vorherrschenden Vertreter der Insekten. Wenn also für die toxikologische Auswertung nichts mehr zu holen ist, da Blut, Mageninhalt und Urin längst verschwunden sind, so nehmen die Tiere im Fraßprozess noch Drogen, Medikamente, Abbauprodukte und Schwermetalle über den Leichnam auf und sind weiterhin auswertbar. Auch Leichenverlagerungen lassen sich nachweisen. Gibt es Diskrepanzen in der Artenzusammensetzung oder Größenverteilung zum Fundort oder der vorherrschenden Temperatur muss eine Umlagerung, beispielsweise zur Vertuschung einer Tat, in Betracht gezogen werden. Hier spielte bei einem Doppeltötungsdelikt in Leipzig ein Reisekoffer eine entscheidende Rolle. Im Koffer fanden sich Maden, welche sich an Flüssigkeitsresten lab- ten. Mit diesen Tieren konnte der Zeitpunkt der Leichenverlagerung in einen Baggersee nachgewiesen werden bzw. wann der Koffer mit Leichenteilen in Berührung kam. Auch Lebende werden von Insekten nicht verschont. Gerade pflegebedürftige Personen sind hin und wieder von einer sogenannten Myiasis betroffen – also einer Besiedlung von Windeln, Verbänden oder Wunden, beispielsweise an Gangränen oder Druckgeschwüren. Hier kann mitunter nachgewiesen werden, wie lange eine Pflege ausgeblieben ist und ob es sich dabei um einen juristisch relevanten Zeitraum handelt. Sehen Sie also das nächste Mal eine golden oder blau schimmernde Fliege, die Sie umkreist, verscheuchen Sie sie nicht, denn sie könnte ein wichtiger Zeuge sein. Marcus Schwarz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig und als Sachverständiger für Forensische Entomologie und Wundballistik tätig. Er ist Autor des Buches »Wenn Insekten über Leichen gehen. Leipziger Entomologe auf der Spur des Verbrechens«, Droemer TB  FOTOS: OLAF ZIMMERMANN ir alle müssen sterben. Dies ist der unabänderliche Lauf der Dinge. Im besten Fall sterben wir hochbetagt, friedlich und glücklich, umringt von unseren Liebsten. Aber nicht allen Menschen wird dieses Schicksal zuteil. Eine kleine Gruppe stirbt allein, vermutlich in sprichwörtlicher Todesangst und wird Opfer eines Tötungsdeliktes. Werden diese Taten nicht bemerkt, so ist man nach kurzer Zeit nicht umringt von seinen Angehörigen, sondern von Fliegen, Käfern und ihren Maden und Larven. Man wird Teil des Ökosystems und es zeigt sich die erbarmungslose Effizienz der Natur. Nichts wird verschwendet. Hierbei ist beispielsweise einem Waldökosystem egal, welches Lebewesen das Zeitliche gesegnet hat. Wichtig ist, dass dort an diesem räumlich sehr begrenzten Platz eine zeitlich begrenzte Ressource liegt. Denn im Vergleich zu Bäumen, die aufgrund ihrer langkettigen Molekülstruktur sehr lange, teilweise Jahrzehnte, für den Zerfall benötigen, sind größere Säugetiere nach wenigen Wochen verschwunden. Die Ressource Aas lie- fert für eine breite Palette an Tieren, hauptsächlich Insekten und ihren Entwicklungsstufen, Futter und für eine begrenzte Zeit auch Lebensraum und Schutz. Schmeißfliegen und Aaskäfer, Stutzkäfer und Kurzflügelkäfer, Käsefliegen und Buckelfliegen, Wespen und Schmetterlinge, Speckkäfer und Erdkäfer geben sich nach und nach ihr Stelldichein auf dem toten Körper. Einige der Insekten sind dabei so eng mit der Futterressource Aas verbunden, dass sie durch einen Konkurrenzdruck und feinste Sinne dazu in der Lage sind, den Tod auf Kilometer zu »riechen«. Schmeißfliegen erscheinen Minuten nach dem Ableben, teilweise sogar schon im Sterbeprozess, und beginnen mit der Eiablage. An diesem Punkt stehen sie im Fokus der forensischen Entomologie. Der Entwicklungszyklus vieler aasbesiedelnder Tiere ist gut erforscht und hauptsächlich von der Lufttemperatur und der Luftfeuchtigkeit abhängig. Zudem spielen externe Faktoren wie die Sonneneinstrahlung, die Bodenbeschaffenheit und der Artenreichtum des gesamten Ökosystems eine Rolle. Wohnungsleichen werden durch den Beleuchtungszustand und den Öffnungsgrad der Fenster beeinflusst. Heuschreckensandwespe (Sphex funerarius) Nestbau, Flugverhalten, Eintragung von Laubheuschrecken ins Nest als Nahrungsproviant für den Nachwuchs 28 INSEKTEN & KULTUR FOTO: OLAF ZIMMERMANN www.politikundkultur.net Webspinne überwältigt Grabwespe Von der Kunst, Gesellschaft zu gestalten Formen des Zusammenlebens RICCARDA CAPPELLER D as Ameisennest, der Termitenhügel, ein Bienenstock – sie sind Sinnbilder für das Zusammenleben vieler Individuen auf wenig Raum, das Funktionieren von Kollektiven, von Systemen der Arbeitsteilung, gemeinsamer Produktivität und Kreislaufwirtschaft. Auch in ihren Kommunikationsformen wird deutlich, dass Insekten zwar durchaus im Alleingang agieren, die Resultate ihrer Arbeit jedoch allgemein zugänglich machen und so zum Fortbestand ihrer Staaten und dem dazu notwendigen Austausch beitragen. Ob das die Ameisenstraße ist, die infolge eines Nahrungsfunds durch abgesonderte Duftstoffe entsteht, die Schwingungen und Klopfzeichen der Termiten, die ihre Artgenossen vor dem nahenden Feind warnen, oder der Tanz der Bienen, der – den Weg weisend – ebenfalls zur Nahrungsbeschaffung beiträgt. Es sind Handlungsformen, die in und aus der Gemeinschaft entstehen. Insekten lassen sich also, wie der Homo sapiens auch, als soziale Wesen bezeichnen, die sich je nach Kultur, Sozialisierung und standortbezogenen Faktoren unterscheiden. Sie stehen stets in Relation zu anderen, was sich sowohl in der Struktur, der Funktionsweise und Ordnung, aber auch der Gestaltung der verschiedenen Habitate, den Lebensräumen dieser Gemeinschaften, widerspiegelt – jenen bereits zu Anfang genannten Sinnbildern, denen mit Be- zug auf die Menschen noch der urbane Raum hinzuzufügen ist. Das Urbane meint durch Dichte, eine bestimmte Lebenskultur und sozialräumliche Strukturen charakterisierte Lebensräume; Orte in und außerhalb der Metropolen, in denen ein Großteil der menschlichen Bevölkerung lebt und die Fragen von Solidarität, Gemeinschaft und Austausch im Zusammenleben überhaupt erst stellen. Während wir Menschen auf der einen Seite Gesellschaft und Bestätigung suchen, fällt auf der anderen ein starker Individualisierungsdrang auf, der mit dem Streben nach Sicherheit, persönlichem Erfolg, einer Einschätzbarkeit von Möglichkeiten zusammenhängt und das Verfolgen gemeinsame Grundziele, denen die Vielfalt unserer Gesellschaft doch eigentlich nur als Ressource dienen kann, erschwert. Auch die weltweite Vernetzung – digital und analog – und die scheinbar immer komplexer werdenden Zusammenhänge führen an manchen Stellen zu Verwirrung anstatt zu jenem geschäftigen Treiben, das wir bei den Insekten beobachten können. Ob in den zirkulären Systemen der Biologie, den soziologischen Beobachtungen zum öffentlichen Raum bei Simmel, Lefebvre, Goffman, oder politischen Theorien von Arendt zu Freiheit, Demokratie, oder dem Umgang mit Natur – den Menschen im Kosmos –, das Miteinander der Menschen untereinander und ihr Handeln im sie umgebenden Raum steht, besonders seit der Pandemie, wieder im Fokus. Zu bemerken sind Veränderungen in der Art, wie wir Zusammenleben denken, umsetzen und formen, also die konkrete Gestaltung von Räumen spontaner Begegnung, die zwischen privatem und öffentlichem, innen und außen, dem funktional und flexibel ausgerichtetem, aber auch lokalen und globalen Themen vermitteln. Die Konzeption und bauliche Umsetzung, eine ressourcenschonende Transformation von Bestandssituationen, die Neu-Verortung und Verknüpfung, aber vor allem eine soziale und kulturelle Aktivierung sind Themen des Städtebaus und der Architektur, deren Disziplin im Zusammenhang mit interdisziplinären Arbeitsweisen kürzlich von Ursula von der Leyen vorgestellten Initiative »New European Bauhaus« neue Aufmerksamkeit bekommen hat. Als Fragestellung ist dieses Handlungsfeld, das zwischen Kreativität und strukturellen Überlegungen, der Theorie und Praxis, abstrakten Vorstellungen und dem Eröffnen von Alternativen liegt, auch Thema der diesjährig doch noch stattfindenden Architekturbiennale in Venedig. »Wie werden wir zusammenleben?«, fragt Hashim Sarkis, der Kurator und Dekan der School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er bringt dabei das breite Spektrum zwischen temporär-performativen Interventionen, demokratisch-engagierten Konstellationen und nachhaltig-verdichtendem Bauen zusammen, die für unsere Zukunft relevant sind. Hier ein Versuch, die Möglichkeiten dieses Handlungsfelds exemplarisch mit aktuellen Projekten zu verknüpfen: Es geht um praxisbezogene Lösungen, wie es die geplante Entwicklung des Dragonerareals in Berlin verspricht, die Partizipationsprozesse, Interessen der verschiedenen Kooperationspartner, künstlerische Begleitung und die architektonische bzw. städtebauliche Perspektive auf das historische Kasernenareal in einem offenen Prozess vereint. Es geht um Zukunftsvisionen, wie sie mit Bezug auf Frei Ottos »Denken in Modellen« und der Design-Research Praxis von Entwurfsstudios an den Universitäten zu finden sind, oder mit Bezug zum Ort und seinen Bewohnern Schritt für Schritt realisiert werden, wie Kollektivität und Vielfalt ist Kooperation – eine Formel für das Kreieren von Lebensraum und Perspektiven mit den Autoren- und Designkollektiven Riminiprotokoll und Constructlab gegen die Veralterung an und widmen sich der Neu-Erzählung ihres Ortes. Es geht also auch um das Leben selbst, Engagement, Initiative, Ideenreichtum und Optimismus, der besonders für vom Strukturwandel betroffene Regionen, wie die vom Kohleabbau geprägte Lausitz von Bedeutung sind. Das »Startup Revier East« vernetzt hier Innovationstreiber, Personen aus der Wissenschaft, Unternehmen und aktive Mitgestaltende und initiiert Formate wie den PitchSlam oder das StartupCamp Lausitz als Ideenwerkstatt und Zukunftsschmiede. Dass es bei den Katalysatoren dann wieder um die Verknüpfung zum Raum und die Expertise im Umgang mit ihm geht, liegt eigentlich auf der Hand. Es sind Referenzen für positive Entwicklungen, Realitäts-Experimente und die Teilhabe an Transformationsprozessen, in denen Kreativität und Gestaltungswillen gebündelt wird. Kollektivität und Vielfalt ist Kooperation – eine Formel für das Kreieren von Lebensraum und Perspektiven, die auf gesellschaftlichen Werten wie der Toleranz und Solidarität aufbauen. Es geht um den gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen, Mobilität und Bildung sowie darum, die Vernetzung über Grenzen hinweg im Sinne der Gesellschaft und einer nachhaltigen Dynamik neu zu denken. Ein spannendes Zukunftsfeld! bei dem Projekt »Granby Four Streets« für welches das interdisziplinär arbeitende Kollektiv Assemble mit dem Turner-Preis ausgezeichnet wurde. Es geht um das »Wir«, bezogen auf Inklusion, Integration, Zusammenarbeit und die Akteure, die mit Blick auf die Gemeinschaft des jeweiligen Ortes Projekte initiieren. Interessant an dieser Stelle ist das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Modellprojekt »Neue Auftraggeber«, bei dem Menschen, die etwas verändern wollen, von ortskundigen Mediatoren begleitet und mit Künstlern vernetzt werden, um dann über Theater, Film, Literatur oder Design, Lösungen für Probleme vorrangig Riccarda Cappeller ist Architekturländlicher Regionen wie Schrumpfung journalistin mit Fokus auf Projekten und Leerstand, fehlende Zentralität, mit sozialem Hintergrund und neuen Arbeitslosigkeit oder mangelnde Bil- Nutzungsformen sowie wissenschaftlidungsangebote, zu entwickeln. Die Auf- che Mitarbeiterin an der Leibniz-Unitraggeber von Steinhöfel z. B., arbeiten versität Hannover INSEKTEN & KULTUR 29 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  Bienen, Wespen und Ameisen Eine leidenschaftliche Naturgeschichte MICHAEL OHL W Konfrontationen enden oft in schmerzhaften Stichen, was den irrigen Eindruck vermittelt, die Wespen seien im Spätsommer besonders aggressiv. Die sozialen Wespen spielen in den Ökosystemen eine wichtige Rolle. Sie jagen große Mengen von Insekten als Nahrung für ihre Larven und tragen erheblich zur Regulation des Naturhaushalts bei. Da auch Schadinsekten gefangen werden, profitiert auch die Landwirtschaft von den Wespen. Hunderte von Blütenpflanzenarten werden auch oder vorwiegend von Wespen bestäubt. In mindestens  Ländern in Ostasien, Afrika und Südamerika dienen Wespen in Form ihrer proteinreichen Larven oder Puppen als Nahrung für den Menschen. Von ihren Giften und auch von bestimmten Drüsensekreten ist bekannt, dass sie antibiotische und andere, potenziell pharmakologische Wirkungen besitzen. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu finden derzeit statt. Die sicherlich populärste Art der Aculeata ist die Honigbiene, deren Nester wahrscheinlich bereits seit rund . Jahren vom Menschen genutzt und ausgebeutet werden. Im . Jahrtausend vor Christus haben die Ägypter bereits begonnen, Honigbienen gezielt zu halten. Die Honigbiene ist heute zu einem Symboltier des Insektensterbens geworden, und die private Imkerei erlebt einen enormen Boom. Viele Menschen halten Honigbienen aus dem Glauben, damit der Natur etwas Gu- rere Hundert Arten gibt, von den wenigen sozialen Arten, die individuenreiche Staaten bauen. Soziale Arten, die einen Staat zu verteidigen haben, besitzen dabei meist einen deutlich schmerzhafteren Stich als solitäre Arten. Besonders die beiden häufigsten sozialen Wespenarten überschwemmen mit ihren Arbeiterinnen unsere Kulturlandschaft und Städte. Im Spätsommer, wenn die Wespenstaaten ihre maximale Größe erreichen, kommt es häufiger als sonst zum Zusammentreffen zwischen Menschen und den auf der Suche nach Zucker und anderen süßen, kohlenhydratreichen Substanzen herumfliegenden Wespenarbeiterinnen. Solche tes zu tun. Doch im Rahmen der aktuellen Debatte um den Erhalt der natürlichen Biodiversität wird die Rolle der Honigbiene zunehmend kontrovers gesehen. Die heute weltweit in Kultur gehaltene Westliche Honigbiene »Apis mellifera« ist durch einen züchterischen Selektionsprozess zu einem sanftmütigen, fleißigen Nutztier geworden. Die Honigbienenindustrie hat dabei eine erhebliche Wirtschaftskraft. Man schätzt, dass die weltweit  Millionen Bienenstöcke . Tonnen Bienenwachs und , Millionen Tonnen Honig produziert. Als Bestäuber von Nutzpflanzen haben Honigbienen ebenfalls eine wichtige Funktion. Rund drei Viertel der Der Stachel der Bienen, Wespen und Ameisen ist ihre wichtigste evolutive Innovation und einer der Hauptfaktoren für ihren evolutiven Erfolg FOTO: OLAF ZIMMERMANN ie nur wenige andere Organismen werden Wespen, Bienen und Ameisen in unserer Kultur mit bestimmten Bildern und Eigenschaften assoziiert. Die Wespen haben einen denkbar schlechten Leumund und gelten als lästige, aggressive Insekten, vor denen man sich hüten muss. In Bienen, und allen voran in der von uns kultivierten Honigbiene, sehen wir fleißige, putzige Blumenliebhaberinnen, denen wir Honig und sommerliches Wohlbefinden verdanken. Ameisen schließlich sind fleißige und unermüdliche Arbeiter, die Blattläuse melken und vor Feinden beschützen sowie Pilze kultivieren. Die Artenvielfalt von Wespen, Bienen und Ameisen und ihren evolutiven Anpassungsstrategien aber ist komplexer und vielfältiger, als es diese einfachen Bilder suggerieren. Bienen, Wespen und Ameisen sind Insekten, die auf den ersten Blick gar nicht so viel miteinander zu tun haben. Sie alle aber besitzen einen Beutefang- oder Verteidigungsstachel, der sich in der Evolution aus dem Eilegeapparat anderer Insekten entwickelt hat. Bienen, Wespen und Ameisen gehören zu den Hautflüglern (Hymenoptera), zu denen auch die Heerscharen parasitischer Wespen und die urtümlichen Pflanzenwespen gehören. Parasitische Wespen, wie die Schlupfwes- Nest, in das sie ein Ei legt und mit artspezifischer Nahrung versorgt. Die Larven der meisten Wespen werden mit Fleisch versorgt, während die Larven von Bienen und manchen Ameisenarten Vegetarier sind. Der Stachel als Verteidigungsinstrument ist der Grund dafür, dass wir als Menschen Kontakte mit Bienen, Wespen und Ameisen meist in langer und unangenehmer Erinnerung behalten. Das durch den Stachel in den Angreifer injizierte Gift ist ein komplexer Cocktail aus verschiedenen biochemisch wirksamen Substanzen mit spezifischen Funktionen. Die Zusammensetzung des Giftes unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Arten teilweise gravierend, was auf unterschiedliche Funktionen zurückzuführen ist. Einige der enthaltenden Substanzen dienen dazu, Schmerz zu erzeugen, andere wiederum sind Gifte, die in höherer Konzentration zu erheblichen gesundheitlichen Komplikationen und in seltenen Fällen sogar zum Tod führen können. Die einheimischen Wespen haben ein schlechtes Image, besonders wegen ihres gefürchteten Stichs. Das allgemeine Bild von stechenden Wespen wird geprägt von nur zwei extrem häufigen Arten, der Deutschen und der gemeinen Wespe, aber die tatsächliche Vielfalt an Wespen auch in Deutschland bleibt den meisten Menschen verborgen. Unterscheiden muss man dabei die solitären, also einzeln lebenden Arten, von denen es selbst in Deutschland meh- Fliegenpause pen, besitzen zwar oft einen gut sichtbaren, langen Stachel, der aber weiterhin der Eiablage dient und nicht als Verteidigungsstachel eingesetzt wird. Der Stachel der Bienen, Wespen und Ameisen ist ihre wichtigste evolutive Innovation und einer der Hauptfaktoren für ihren evolutiven Erfolg. Rund . Arten sind weltweit bereits entdeckt worden, und viele Zehntausend warten wahrscheinlich noch auf ihre Entdeckung. Unter der schon bekannten Artenvielfalt finden sich rund . Ameisen- und . Bienenarten. Alle anderen sind Wespen. Die Mehrzahl der Arten lebt nicht sozial, sondern solitär. Bei ihnen baut das Weibchen allein ein wichtigsten Nutzpflanzenarten benötigen in unterschiedlichem Maße tierische Bestäuber. Etwa  Prozent von ihnen werden dabei von Bienen besucht. Man schätzt, dass zwar nur  bis  Prozent der weltweiten Nahrungsmittelproduktion direkt auf Bestäuberleistungen zurückgehen, dass diese aber einem jährlichen Wirtschaftswert von  bis  Milliarden USDollar entspricht. Die Produktion von insektenbestäubten Nutzpflanzen wie Kaffee, Kakao und Mandeln sichern die Lebensgrundlage für Millionen von Menschen. Wissenschaftliche Studien zeigen aber, dass die intensive Honigbienenbewirtschaftung zur Biodiversitätskrise der natürlichen Vielfalt an Bestäuberarten signifikant beitragen kann. Die Honigbiene ist nur eine von rund . bekannten Bienenarten weltweit, von denen die allermeisten solitär, also einzeln leben. Auch in Deutschland gibt es rund  Wildbienenarten, die zu einem nicht unerheblichen Teil in ihrem Bestand bedroht sind. Alle Bienenarten sind Blütenbesucher und daher auch Blütenbestäuber. In Studien zeigt sich, dass Honigbienen und Wildbienen unter bestimmten Bedingungen in Futterkonkurrenz um Pollen- und Nektarressourcen geraten und die Wildbienen von den individuenreichen Honigbienen verdrängt werden können. Die intensive Landwirtschaft, zersiedelte Naturräume, Umweltgifte und nicht zuletzt die Klimaerwärmung setzen der gesamten Artenvielfalt zu, den Kulturhonigbienen wie den natürlichen Bestäubern. Als Nutztiere aber werden die Honigbienen von Imkern gepflegt und umsorgt, und auch wenn in bestimmten Regionen der Erde die Bestände an Honigbienen dramatische Einbrüche erlitten haben, stieg in den vergangenen  Jahren die Zahl der Völker der Westlichen Honigbiene weltweit an. Die für ein nachhaltiges Funktionieren der Lebensräume so wichtige Vielfalt der natürlichen Bestäuber dagegen ist akut bedroht, und es steht zu befürchten, dass die Honigbiene in bestimmten Regionen und unter bestimmten Bedingungen zum Rückgang der natürlichen Bestäuber beiträgt. Besonders in urbanen und landwirtschaftlich geprägten Lebensräumen, in denen die natürliche Artenvielfalt von vornherein keinen leichten Stand hat, können sich hohe Bestandsdichten an Honigbienen negativ auf die Bestände der natürlichen Insektenvielfalt auswirken. Ameisen, deren rund . bekannte Arten allesamt sozial leben (bis auf einige sozialparasitische Arten), spielen in der Natur eine wichtige Rolle. Ökosystemdienstleistungen, also Leistungen der Natur und der Artenvielfalt, von denen der Mensch unmittelbar oder indirekt profitiert, sind dabei nur eine Seite der Medaille. Auch im natürlichen Beziehungsgefüge der Natur hat die Vielzahl der Ameisen und ebenso ihre schiere Biomasse eine wichtige Funktion. Ameisen sind beinahe in allen Landlebensräumen der Erde in großer Zahl vorhanden, und besonders tropische Habitate werden von Ameisen mit ihren ungeheuren Mengen an Arbeiterinnen dominiert. Man schätzt, dass Ameisen in der obersten Kronenschicht des Amazonas-Regenwalds von Peru rund  Prozent der dort lebenden Insekten ausmachen. Das Gewicht aller Ameisen weltweit entspricht in etwa dem Gewicht aller Menschen der Erde. Erst ihr Sozialleben haben die Ameisen derart erfolgreich werden lassen. Die Ameisen sind ein Lehrbuchbeispiel in der Ökologie, da sie für die Stoffkreisläufe der Landlebensräume der Erde von zentraler Wichtigkeit sind. Das Image der stechenden Wespen und Bienen ist von nur wenigen Arten geprägt. Ganz im Vordergrund stehen dabei die Honigbiene und die beiden häufigen sozialen Wespenarten, denen wir allzu positive oder negative Eigenschaften zuschreiben. Die tatsächliche Artenvielfalt und die vielfältigen Funktionen von Bienen, Wespen und Ameisen werden so überdeckt. Unser Bild der stechenden Hautflügler ist dabei, sich vor dem Hintergrund des zunehmenden Wissens um ihre zentrale Rolle in den weltweiten Ökosystemen und damit für das Wohlergehen des Menschen zu ändern. Michael Ohl ist wissenschaftlicher Leiter der Hymenopteren-Sammlung am Museum für Naturkunde Berlin (MfN) und hat das Zentrum für Integrative Biodiversitätsentdeckung am MfN mitgegründet. Er ist Autor des Buches »Stachel und Staat – Eine leidenschaftliche Naturgeschichte von Bienen, Wespen und Ameisen«, Droemer Verlag  30 INSEKTEN & KULTUR FOTO: OLAF ZIMMERMANN www.politikundkultur.net Gemeine Pelzbiene (Anthophora plumipes) sitz im Bau Systemrelevante Schönheit und Vielfalt Insektenschutz ist Teil der Gründungs-DNA des BUND OLAF BANDT O b elegante Flieger wie Libellen und Schmetterlinge, fleißige Bestäuber wie Bienen und Hummeln oder eher unbequeme Mitbewohner wie Mücken und Bremsen: Insekten sind ein essenzieller Teil der Natur, sie erhalten unsere Ökosysteme und sie sichern uns unsere Nahrung. Als Bestäuber von Nutz- und Wildpflanzen erbringen sie enorme Leistungen, die sich auch ökonomisch messen lassen. So haben Bestäuber laut Berechnungen der FAO eine weltweite jährliche Wirtschaftsleistung von  Milliarden Euro. In Deutschland erreicht der Nutzwert aller Bestäuberinsekten rund vier Milliarden Euro im Jahr. Zudem sind Insekten für Hunderte Arten, insbesondere Vögel und Klein- tiere, eine unersetzbare Nahrungsgrundlage und haben in ihrem Rang ganz unten in der Nahrungskette eine unschätzbar wichtige Rolle für viele weitere Lebewesen. Auch als Verwerter von organischem Material auf und im Boden sind Insekten unersetzlich. Der BUND ist seit vielen Jahrzehnten zum Schutz von Insekten aktiv, mit einem klaren Schwerpunkt auf den Erhalt ihrer Lebensräume und dem Ende ihrer Bedrohung durch Pestizide, Biotopzerstörung, Klimawandel und Flächenversiegelung. Ob die Rettung von Streuobstwiesen, die Pflege von Schutzgebieten oder die eigenen Beiträge zur Umgestaltung der Landwirtschaft, von der jährlichen Kür des »Schmetterlings des Jahres« und der »Libelle des Jahres«: Insektenschutz ist Teil der Gründungs-DNA der Verbandsarbeit auf allen Ebenen des Verbandes. Mit der Aktion »Abenteuer Faltertage« bringt der BUND seit vielen Jahren Artenkenntnis und Mitmachen pro Naturschutz Menschen auch niedrigschwellig in Verbindung. Zahlreiche BUND-Gruppen engagieren sich für den Schutz der Libellen und ihrer Lebensräume. Sie renaturieren Bäche, Auen oder Moore und setzen sich für eine Verbesserung der Wassergüte ein. Sie überzeugen Landwirte und Behörden, nicht bis an den Rand von Gewässern zu mähen. Oder sie werben dafür, Gewässer nicht künstlich mit Fischen zu besetzen. Und sie dokumentieren vielerorts die Libellenfauna und geben damit wichtige Hinweise auf die Entwicklung unserer Natur. Schon in den er Jahren brachten mehrjährige Kampagnen wie »Mehr Natur in Dorf und Stadt« einen wesentlichen Beitrag zum ersten Umdenken und zur Entwicklung der heutigen Naturgartenbewegung, die den Schutz von Schmetterlingen und Bienen in die Wohnzimmer und Küchen brachte. Kleingärten und Privatgärten und kommunale Grünflächen mit ihrer Biodiversität sind Teil des deutschen Kulturerbes und haben enormes Potenzial für Lebensräume für Insekten, sofern sie pestizidfrei und naturnah bewirtschaftet werden: In Deutschland gibt es  Millionen Privat- und Kleingärten mit einer Gesamtfläche von . Hektar. Das entspricht , Prozent der Gesamtfläche unseres Landes. Seit  hat der BUND e.V. die Arbeit zum Insektenschutz wesentlich verstärkt, mit Informationskampagnen zu Wildbienen und Bestäubern sowie  dem Nationalen Bienenaktionsplan. Dieser diente an vielen Stellen als Blaupause für den später verabschiedeten Aktionsplan Insektenschutz der Bundesregierung. Zeitgleich entstanden verstärkt zahlreiche Praxisprojekte zum Insektenschutz in den Landesverbänden. Zusammen bildet dieses Engagement die Grundlage für die zentralen Informations- und Politikkampagnen des Bundesverbandes zum Insektenschutzgesetz und vor allem der politischen »Insektenschutzwelle« der letzten zwei Jahre: In BadenWürttemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen konnte der BUND mit Partnern den Insektenschutz in den Mittelpunkt der Volksbegehren und Initiativen zum Naturschutz stellen, gerade weil über mehrere Jahre Informations-, Bildungs-, praktischer Naturschutz und Politikarbeit zusammenwirken. Auch in Rheinland-Pfalz und Thüringen engagiert sich der BUND erfolgreich in zahlreichen Kooperationen und politischen Aktivitäten, insbesondere für mehr Artenschutz in der Landwirtschaft. So konnte unter anderem der Biotopverbund durch den Schutz von Randstreifen gestärkt, mehr Förderprogramme für Naturschutz in der Landwirtschaft geschaffen und auch zukünftig mehr Betriebe beim Artenschutz vor Ort beraten werden. In diesen Tagen sollte der Deutsche Bundestag nun hoffentlich ein ganzes Gesetzespaket zum Schutz der Insekten beschließen. Für den BUND sind mit der Frage des Natur- und Insektenschutzes jedoch auch immer die wesentlichen Zukunftsfragen verbunden: Wie wollen wir zukünftig leben? Wie sollen unsere Nahrungsmittel wachsen, unsere Rohstoffe genutzt und Energie produziert werden? Nicht von ungefähr ist eine der ältesten Kulturarten des Menschen ein Insekt, die Honigbiene, seit langer Zeit das Symboltier für den Einsatz gegen die Verwendung von Pestiziden. Auch der von BUND und Heinrich-BöllStiftung gemeinsam veröffentlichte »Insektenatlas« setzt Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft in diesen gesamtgesellschaftlichen Kontext einer sozialökologischen Transformation. schutzmittel-Anwendungsverordnung – aber nicht ansatzweise so effektiv ausgefallen, wie es notwendig wäre, um den Insektenschwund aufzuhalten. Der Entwurf regelt nur einige wenige Dinge, wie beispielsweise Einschränkung der Lichtverschmutzung sowie den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in Schutzgebieten. Eine allgemeine Reduktion dieser Gifte ist nicht vorgesehen. Für einen wirksamen Insektenschutz reicht das nicht, sondern kann höchstens ein Anfang sein. Bei all diesen Punkten sollte im Laufe der nächsten Legislaturperiode noch nachgeschärft werden – vor allem das Thema Pestizideinsatz außerhalb von Schutzgebieten muss unbedingt schärfer geregelt werden. mer Dichter und Maler inspiriert: Goethes »Gefunden«, sein »Heidenröslein« oder van Goghs »Sonnenblumen« hätte es ohne Insekten als Bestäuber nie gegeben. Auch unsere Küchenkultur wäre ohne die Leistung der Insekten deutlich ärmer: Rund  Prozent aller Nutzpflanzen werden von Insekten bestäubt. Aber auch die Insekten selbst, ihre höchst unterschiedliche Gestalt, ihre Vielfalt an Farben und Lebensformen inspirieren immer wieder zu Kunstwerken, Musikstücken und Literatur. Denken Sie nur an Kafkas »Die Verwandlung«, den »Hummelflug« von Rimski-Korsakow oder auch Kinderbuchklassiker wie »Die kleine Raupe Nimmersatt« und »Biene Maja«. Die Kunst hat also viele Möglichkeiten, Insekten und ihre Lebenswelten zum Thema zu machen und Menschen für diese faszinierende Tiergruppe zu begeistern. Ja, Insekten sind »systemrelevant«. Dies scheint allerdings nur ein Teil der Erfolgsgeschichte unseres Engagements zu sein All dies fußt beim BUND auf dem Engagement Zehntausender Menschen gerade auf der lokalen Ebene. Was treibt uns dabei an – was gibt uns so viel Unterstützung in der Gesellschaft? Sicherlich die Bedeutung der Insekten für die biologische Vielfalt und die Produktion von Lebensmitteln. Ja, Insekten sind »systemrelevant«. Mir scheint dies allerdings nur ein Teil der Erfolgsgeschichte unseres Engagements zu sein. Ganz wesentlich geht es auch um den Erhalt und die Begeisterung für Schönheit und deren Vielfalt in der Natur. Die ist nämlich ansteckend und inzwischen zum breiten gesellschaftlichen Phänomen geworden. Dem können sich weder Landwirtschaftsministerinnen noch Bauernpräsidenten entziehen. Wenn ich bei Exkursionen zu Insektenschutzprojekten in die Gesichter der Menschen blicken, dann erkenne ich die Faszination an den »sechs Beinen« und ihren schier unendlich vielen Formen und Farben. Es geht auch ohne Fachkenntnisse. Einfach mal länger auf eine blühende Wiese schauen – es könnte ein Blick auf eine Kulturrevolution im friedlichsten Sinne sein. Ich spüre dann diese Chance in dem Miteinander von uns Menschen und den Insekten: Wird aus der Bewegung der »Schädlingsbekämpfer«, die inzwischen ihre eigene Lebensgrundlage ausrotten könnten, ein neues Miteinander in Schönheit und Sicherung unserer Lebensgrundlagen? Olaf Bandt ist Vorsitzender des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland »Wir müssen dringend handeln« Drei Fragen an NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger Was tut der NABU für den Insektenschutz? Wie wird der Entwurf des Insektenschutzpaketes der Bunderegierung beurteilt? Und welche kulturelle Bedeutung kommt Insekten zu? NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger antwortet. Was tut der NABU für den Insektenschutz? Welche Projekte und Initiativen gilt es besonders hervorzuheben? In vielen Naturschutzgebieten sorgen ehrenamtliche NABU-Gruppen durch gezielte Pflege dafür, dass Heuschrecken, Libellen, Schmetterlinge und andere Insekten geeignete Lebensräume vorfinden. In den NABU-Naturgärten können Besucher sich zum Insektenschutz im Garten informieren. Und auch politisch kämpft der NABU für einen besseren Schutz der Insekten und fordert unter anderem die Reduzierung von Pestiziden in der Landwirtschaft. Wir müssen dringend handeln: Die Zahl der Insektenarten und auch die der Individuen befindet sich in einem dramatischen Sinkflug. Mancherorts ist die Biomasse der Fluginsekten seit  um bis zu  Prozent zurückgegangen. Jede dritte Insektenart ist inzwischen nach der bundesweiten Roten Liste gefährdet bis ausgestorben. In der heutigen hochintensiven Landwirtschaft bieten die monotonen Agrarflächen nur sehr widrige Lebensbedingungen, in denen notwendige Nahrungs- und Nistmöglichkeiten fehlen.  haben wir einen Insektenschutzfonds aufgelegt, in den Unternehmen einzahlen können. Auch der Erlös aus unserer Sammlung von alten Handys fließt in den Fonds. Mit dem Geld werden Ackerflächen und Wiesen durch die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe gekauft und als Lebensraum für Insekten gesichert. Zudem wurde auf drei Flächen ein Insektenmonitoring gestartet, also Insekten beobachtet, ihre Bestände erfasst und ihre Ent- wicklung dokumentiert. In verschiedenen Regionen Deutschlands haben unsere Ehrenamtlichen Blühwiesen angelegt, in Kommunen Gärten und Straßenränder insektenfreundlich aufgewertet, vielerorts wurden Insektennisthilfen aufgestellt. Zudem wollen wir Menschen über die Bedeutung von Insekten informieren und ein Bewusstsein für diese Tiere schaffen. Darum haben wir die Mitmachaktion »Insektensommer« ins Leben gerufen. Dabei kann jeder und jede selbst herausfinden, welche Insekten zu Hause im eigenen Garten, im Park oder Wald leben, und mehr über sie erfahren. Wie beurteilen Sie den Entwurf des Insektenschutzpaketes der Bundesregierung? Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass nach den langen Diskussionen und Ankündigungen nun Entwürfe zum Insektenschutz vorliegen. Leider sind die Maßnahmen des Insektenschutzpakets – es besteht aus Insektenschutzgesetz und Pflanzen- Welche kulturelle Bedeutung kommt Insekten Ihres Erachtens zu? Inwieweit kann Kultur helfen, den Insektenschutz weiter voranzubringen? Vielfältige Landschaften voller Blütenpflanzen haben schon im- Jörg-Andreas Krüger ist Präsident des NABU INSEKTEN & KULTUR 31 Politik & Kultur | Nr. / | Juni  »Weniger töten, mehr retten« Fünf Fragen an Hans-Dietrich Reckhaus Reckhaus Fruchtfliegen-Retter ermöglichen es, die Tiere unversehrt ins Freie zurückzubringen. Und unsere insektenfreundlichen Lebensräume im Siedlungsgebiet gleichen draußen die Verluste aus, die durch Bekämpfungsprodukte drinnen entstehen. Was macht die kulturelle Bedeutung von Insekten Ihres Erachtens aus? Das ambivalente Verhältnis zwischen Menschen und Insekten ist kulturell spannend. Sie sind in doppelter Hinsicht kleine Riesen: Als »Nützlinge«, wie bereits beschrieben, aber auch als »Schädlinge«. Sie können Krankheiten übertragen, Ernten zerstören und Nutztieren zusetzen. In alten Bildern und Texten sehen wir, dass sich der Mensch bereits seit . Jahren gegen Flöhe, Läuse, Mücken, Wespen und andere Insekten wehrt. Alte Gräber in China zeigen Reis-, Tabak- und Brotkäfer. Im alten Griechenland kämpfte man mit Seuchen, die Fliegen ausgelöst hatten, und die Römer beschwerten sich über schmerzende Mückenstiche, wie wir es auch heute als Aufregerthema im Sommerloch der Medien kennen. Insekten stehen damit als Symboltiere für die Ambivalenz zwischen menschlicher Kultur und der – auch menschlich konstruierten – Natur. Ihre Bedeutung für unser Fortbestehen kann als existenziell bezeichnet werden. Aber um dem Insektensterben entgegenzuwirken, braucht es einen bewussteren kulturellen Umgang mit Insekten und der Natur und eine daraus entstehende breite Bewegung. Deshalb wollen wir unser bewährtes Konferenz-Format, den »Tag der Insekten«, im Jahr  dem Thema Kultur widmen. Wir freuen uns dazu auf die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturrat und der Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft der Deutschen Bundesregierung. Wie kann Kultur helfen, Insekten besser zu schützen? Das Insektensterben ist in den Massenmedien und in den Köpfen der Menschen angekommen. Wir haben genug Informationen! Was fehlt, ist die innere Haltung, mehr Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen. Wir brauchen einen neuen kulturellen Umgang mit der Natur. »Kultur« ist der Schlüssel. In der lateinischen Wortherkunft »cultura«, was ja so viel wie beackern und pflegen heißt, steckt dieser Gedanke bereits: Ein gesamtgesellschaftlicher (Bewusstseins-)Wandel fängt bei jedem Einzelnen an, im eigenen Garten und Umfeld. Von dort kann er durch kulturelle Praktiken in die Gesellschaft strahlen. Es sind Erzählungen und Geschichten, die uns berühren und zum Umdenken und neu Handeln bewegen. Für den Naturschutz und Insektenschutz heißt das: Man schützt nur, was man kennt. Das Verständnis für die Natur und die natürlichen Zusammenhänge, zu denen wir als Menschen gehören, müssen wir uns kulturell (wieder) aneignen – um letztendlich unser eigenes Überleben und Millionen andere Arten zu sichern. Hans-Dietrich Reckhaus ist Initiator von Insect Respect und Transformierender Gesellschafter der Reckhaus GmbH & Co. KG FOTO: OLAF ZIMMERMANN »Insect Respect« will Bewusstsein für das Insektensterben schaffen und ein Umdenken und anderes Handeln in der Gesellschaft erreichen. Der Initiator der Initiative, Hans-Dietrich Reckhaus, be- Wie kamen Sie – ursprünglich richtet. Hersteller von Insektenbekämpfungsmitteln – auf die Idee zu InWas ist Insect Respect? sect Respect? Welche Rolle kommt Als Initiative und Gütesiegel steht Indabei der Aktion »Fliegen retten in sect Respect für einen neuen Umgang Deppendorf« zu? mit Insekten. Sie sind eben nicht ein hatte ich die Idee für eine neue fach schädlich, ekelig oder lästig. Wir Fliegenfalle, die ich genial fand. Mit müssen als Gesellschaft verstehen, einem kleinen Unternehmen hat man dass wir ohne sie gar nicht existieren aber wenig Möglichkeiten, so ein könnten. Sie bestäuben Pflanzen, Produkt zu bewerben. Als großer Fan zersetzen Abfall, dienen als wichtiges der Kunst fragte ich deshalb Frank Glied in Nahrungsketten. Der Speiund Patrik Riklin vom Atelier für Sonseplan von Süßwasserfischen besteht deraufgaben in St. Gallen nach einer zum Beispiel bis zu  Prozent aus Idee. Doch die beiden querdenkenden Insektenlarven. Außerdem helfen Konzeptkünstler konfrontierten mich sie uns bei der Textilproduktion, in mit der Frage: »Was ist der Wert einer der Chemiebranche, in der WissenFliege?« Der Dialog mit der Kunst, der schaft. All das verdient Respekt. Und daraus entstand, hat mir die Augen darauf machen wir aufmerksam: mit geöffnet. Wir entwickelten gemeinBewusstseinsbildung über Publikatio- sam die Kunstaktion »Fliegen retten nen, Veranstaltungen, Medienbeiträin Deppendorf« und retteten am . ge, Ausstellungen und Aktionen. September  mit einem ganzen Auf Produkten steht das Gütesiegel Dorf einen Tag lang Fliegen. Im Entdafür, dass wir die Insektenbekämpwicklungsprozess mit den Riklins gab fung reduzieren, ökologisieren und es dann eine Sternstunde: Mir wurde kompensieren müssen. Weniger töten, klar, dass ich nicht nur ein einziges mehr retten. Präventionstipps helfen Mal Fliegen retten und dann weiter Konsumentinnen und Konsumentöten wollte. Sondern dass jede Fliege ten, damit Insekten im Wohnraum zählt und ich für jedes Produkt einen gar nicht erst zum Problem werden. Ausgleich schaffen will. So entstand Rettungsprodukte wie z. B. der Dr. Insect Respect. Was planen Sie gerade für Insect Respect? Unser Highlight ist zurzeit unsere monatliche »Stunde der Insekten«. In dieser Online-Veranstaltung erzählen Referentinnen und Referenten über ihre spannende Arbeit – im Mai beispielsweise zwei Naturfilmer, die den Insekten auf Augenhöhe begegnen. Am . Juni werden die Biologen Auguste Prinzessin von Bayern und Thassilo Franke uns zeigen, wie Museen der Zukunft die Insektenwelt und Artenvielfalt fördern, indem sie Begeisterung für Natur und Nachhaltigkeit entfachen. Bei jedem dieser Web-Events seit Mai  lassen wir auch Ausschnitte aus dem »Insect Concerto« des Komponisten Gregor A. Mayrhofer erklingen. Als er einmal über seine Aufnahmen dafür berichtete, staunten wir alle nicht schlecht: Er hatte in minutiöser Detailarbeit die Geräusche von Grillen und anderen Sechsbeinern eingefangen und kunstvoll in die Komposition verwebt. Außerdem wollen wir ab Herbst eine Insect-Respect-Akademie starten. Dadurch erhalten Garten- und Landschaftsbauer die Möglichkeit, alles über insektenfreundliche Flächen zu lernen und so bundesweit Gärten, Kommunen und Firmenflächen artenreich zu begrünen. Lehmwespenflug 32 DAS LETZTE www.politikundkultur.net Kurz-Schluss Wie ich einmal bei der Umsetzung eines beschlossenen Heftschwerpunktes massiv ins Schleudern geriet THEO GEIẞLER Bekannt und beliebt in gewissen gebildeten Kreisen bin ich für die trockene Präzision meiner Sprache, für die wissenschaftliche Exaktheit meiner Abhandlungen gerade im Rahmen dieser Rubrik unserer Kultur- und Naturzeitschrift. Während die meisten Autorinnen und Autoren des vorliegenden Themenheftes sich etwas überraschend teils mit der faszinierenden Vielfalt und Historie der Kerbtiere befassen oder mit deren auch pestizidverursachten Auslöschung, samt den für uns Menschen verheerenden Folgen, gerate ich in die mentale Zwangsjacke einer dramatischen Kindheitserinnerung: Ein Schulfreund, Sohn des örtlichen Kinobesitzers, ermöglichte mir schon im zarten Alter von sieben Jahren den heimlichen Besuch des dörflichen Lichtspiel-Häuschens. Schon als zweites oder drittes Filmerlebnis geriet ich in den Bann des soeben erschienenen Science-Fiction-Thrillers (in edlem Schwarz-Weiß) namens »Formicula«. Kurz der Plot, soweit ich mich entsinne: In der Wüste New Mexicos wird ein verstörtes und völlig verängstigtes Mädchen aufgegriffen, deren Eltern wenig später tot aufgefunden werden. Da sich die örtliche Polizei keinen Reim auf das schreckliche Verbrechen machen kann, ziehen sie einen Biologen hinzu, dem schon bald klar wird, dass es sich bei den Tätern um mutierte Riesenameisen handelt. Denn die Todesursache ist Ameisensäure. Zu Monstern gerieten die Ameisen, weil in dieser Gegend Atombombenversuche stattfanden. Jede Menge Menschen wurden noch gemeuchelt, bevor die Brut – sie hatte inzwischen Los Angeles erobert – dank Flammenwerfern vernichtet werden konnte. Bibbernd verließ ich das Kino, machte künftig größere Bögen um Ameisenhaufen, bis mir – ich war trotz des anhaltenden Schocks zum ScienceFiction-Fan geworden – ein, wie es meine Eltern definierten, sogenanntes Schundheft aus der seinerzeit berühmtberüchtigten »Terra-Reihe« die Augen öffnete. Der – wie ich fand – geniale Schriftsteller K. H. Scheer beschrieb in knappen Sätzen auf den handelsüblichen  Seiten der Edition den durch Aliens verursachten Untergang der menschlichen Zivilisation aufgrund absichtlicher radioaktiver Verseuchung des Planeten. Es ging um Ausbeutung der Bodenschätze und gemeinen Wasserraub. Nur eine kleine Schar Frauen, Männer, Kinder konnten sich in Höhlensysteme retten und nannten sich Formicanten – die Ameisenmenschen. Leider kann ich mich nicht daran erinnern, wie das Ganze ins Happy End gewendet wurde. Allerdings fiel es mir wie Schuppen von den Augen (ich las das Heft gerade während des Mathematikunterrichts unter der Bank), dass natürlich nicht die Krabbeltiere Verursacher allen Übels waren, sondern eine gewisse machtgierige technophile Fraktion der Gattung Homo sapiens. So hörte ich mit etwa zwölf Jahren auf, Maikäfer in Kisten zu sperren, Ameisenhaufen mit Stöcken zu traktieren und Wespennester auszuräuchern. All das gab es seinerzeit noch – ich lebte, wie eingangs gesagt, auf dem Land. Nach dem berufsbedingten Umzug meiner Familie in die Großstadt ersetzten recht bald andere Interessen meine Naturaffinität. Immerhin geriet ich umgehend zu einem begeisterten Ostermarschierer, im Kampf gegen Atomwaffen und auf der Suche nach engagierten Weggefährtinnen. Die Beschreibung der nächsten  Jahre meiner wechselvollen Biografie erspare ich Ihnen schon aus Platzgründen. Ein wenig erklärungsbedürftig allerdings mag ausgerechnet der Grund für mein aktuell plötzlich erwachtes Interesse an chitingepanzerten Tierwesen sein. Wie es sich für eine meinungsstarke diskussionsfreudige demokratischdiverse Redaktion einer Kultur- – und neuerdings zusätzlich auch Naturzeitschrift gehört, werden Themenschwerpunkte am Zustand der Gesellschaft abgemessen, evaluiert und gründlich besprochen. Für dieses Heft waren zentral ursprünglich Aufsätze über Dystopie und Science Fiction vorgesehen. Allerdings ist mein geschätzter Mitherausgeber ein wirklich umfassend engagierter Kulturmensch, der nicht nur Museen aller Art, Galerien, Konzertsäle und Abgeordnetenhäuser durchforscht, sondern auf allen Vieren auch Wald- und Wiesenböden. Er fotografiert hochwertigst und kartiert unbekannte und bekannte Käfer-, Wespen- oder Ameisenarten. Als ich meine ScienceFiction-Story für dieses Heft – eine düstere Geschichte über künstliche Intelligenz und Virtual Reality – schon fertig hatte, machte er mich in einer langen lautstarken Diskussionsnacht darauf aufmerksam, dass das Insektensterben eine mindestens ebenso große Gefahr für die menschliche Zivilisation sei wie die weißrussische Atombombe. Zwischendurch spielte er mir auf seinem Tablet eine Doku über Horden von Zwangsarbeitern vor, die Fruchtblüten mangels Bienen (Glyphosat) händisch bestäuben, damit wir fetten alten weißen Männer an vitaminreiches Obst kommen. Als ich etwas verwirrt einwandte, dass auch die Natur grob sei, die Bienen beispielsweise ihre Drohnen im Herbst verhungern ließen, schalt er mich einen ungebildeten Kretin und verwies darauf, dass ich mir dystopisches Geschwurbel angesichts der biologischen Realitäten sparen könne. Science sei jetzt wichtiger als Fiction. »Wir machen ein zukunftsweisendes Insektenheft.« Da überfiel mich statt wütender Widerrede meine Kindheitserinnerung, Formica und die Formicanten – und ich fand die Präzisierung des zentralen Heftthemas leider plötzlich schlüssig … Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur TAUBENSCHISS  DIE P&K FAKENEWS Magazin »Nature Astronomy« berichtet. Das andauernde Grundrauschen sei sehr schwach und monoton, heißt es, außerdem findet es laut Studie in einem engen Frequenzbereich statt. Dazu der Kölner Bischof Rainer Maria Woelki: »Gott ist nicht nur groß, er ist auch tief.« Politik & Kultur erscheint zehnmal im Jahr. der Newsletter des Deutschen Kulturrates unter www.kulturrat.de abonniert werden. ABONNEMENT  Euro pro Jahr (inkl. Zustellung im Inland) BESTELLMÖGLICHKEIT Politik & Kultur, Taubenstraße ,  Berlin Tel.:  .   , Fax:  .    [email protected] HAFTUNG Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine Haftung. Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Politik & Kultur bemüht sich intensiv um die Nennung der Bildautoren. Nicht immer gelingt es uns, diese ausfindig zu machen. Wir freuen uns über jeden Hinweis und werden nicht aufgeführte Bildautoren in der jeweils nächsten Ausgabe nennen. nicht unbedingt die Meinung des Deutschen Kulturrates e.V. wieder. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird manchmal auf die zusätzliche Benennung der weiblichen Form verzichtet. Wir möchten deshalb darauf hinweisen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll. VERKAUFSSTELLEN Politik & Kultur ist im Abonnement, in Bahnhofsbuchhandlungen, großen Kiosken sowie an Flughäfen erhältlich. Alle Ausgaben können unter www.politikundkultur.net auch als PDF geladen werden. Ebenso kann HINWEISE Der Deutsche Kulturrat setzt sich für Kunst-, Publikations- und Informationsfreiheit ein. Offizielle Stellungnahmen des Deutschen Kulturrates sind als solche gekennzeichnet. Alle anderen Texte geben FOTO: KLAUS STUTTMANN Freiburg: Der Bundestag hat das novellierte Urheberrecht beschlossen, und für den digitalpolitischen Sprecher der SPD, Jens Zimmermann, ist klar: »Ohne den Druck der Straße hätte dieses Gesetz anders ausgesehen.« Anlass der Neuregelung waren die Beschwerden von Musik- und Filmwirtschaft, dass YouTube und ähnliche Plattformen mit den hochgeladenen Inhalten viel Werbegeld verdienen, davon aber zu wenig an die Kreativindustrie abgeben – obwohl diese doch die eigentliche Leistung erbringt. Dazu der populäre Trompeter Till Brönner: »Genau. Ich hole mir so viele Anregungen aus YouTube-Filmchen, dass deren Macher auch mal was verdienen können.« Berlin: Corona bringt viele Menschen dazu, ihr Zuhause schöner einzurichten. »Cocooning« hat die Baubranche zum Krisengewinner gemacht, auch Installateure und Badausstatter. Ein neues Bad wird so schnell zur Kostenfalle. Umso wichtiger ist es für Haus- und Wohnungseigentümer, bei Bau- und Sanierungsvorhaben die Kosten richtig zu schätzen und Einsparmöglichkeiten zu suchen. Gerade bei vergleichsweiPluto, Cap Canaveral, Köln: Als ers- se kostspieligen Vorhaben wie einer te aktive Sonde hatte Voyager  den Badezimmersanierung und -einrichEinflussbereich des Sonnenwinds ver- tung lassen sich durch Vergleichen lassen und war in den interstellaren und die gezielte Auswahl der MateRaum vorgedrungen. Als Erste hat sie rialien einige Tausend Euro sparen, ohne sich in der Region umgehört und dabei auf qualitativ hochwertige Ausstatden Sound des Kosmos aufgezeichnet. tung zu verzichten. Den besten SparDie Messungen verraten etwas über die effekt, so Gesundheitsminister Spahn, Plasmadichte und Turbulenzen in dem erzielt man durch Verzicht auf Wasser. weit entfernten Reich, wie ein Team im (Thg) IMPRESSUM Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates c/o Deutscher Kulturrat e.V. , Taubenstraße   Berlin, Telefon:  .    Fax:  .   , www.politikundkultur.net, [email protected] HERAUSGEBER Olaf Zimmermann und Theo Geißler REDAKTION Olaf Zimmermann (Chefredakteur v.i.S.d.P), Gabriele Schulz (Stv. Chefredakteurin), Theresa Brüheim (Chefin vom Dienst), Barbara Haack, Maike Karnebogen, Andreas Kolb ANZEIGENREDAKTION Martina Wagner, ConBrio Verlagsgesellschaft Telefon:  .  -, Fax: .-- [email protected] VERLAG ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Brunnstraße ,  Regensburg Telefon:  .  -, www.conbrio.de DRUCK Freiburger Druck GmbH & Co. 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