Politik
2012 ist das UN-Jahr der Genossenschaften. Seit
der Finanzkrise erleben sie eine Renaissance.
Vor 150 Jahren kämpfte eine Volksbewegung
für die staatliche Anerkennung der modernen
Selbsthilfe-Firma.
P&K HISTORIE – TEIL 6 DER SERIE
V ON MA R C O A LT H A U S
F
erdinand Lassalle tobte. Dieser verdammte Schulze! Im
Winter 1862/63 stand die Gründung der Arbeiterpartei
bevor. Mit zwei Punkten sollte sie antreten: demokratisches
Wahlrecht und Produktionsgenossenschaften. Lassalle meinte
Industriebetriebe in Arbeiterhand, finanziert durch Staatskredite. Ausgerechnet jetzt tingelte der Liberale Hermann SchulzeDelitzsch durch die Arbeiterbildungsvereine. Er predigte seinen
„Arbeiterkatechismus“: Die Arbeiter sollten sich Kredit- und
Konsum-Genossenschaften anschließen, die soziale Frage durch
Selbsthilfe und Solidarhaftung lösen, das nötige Kapital ansparen. Ganz ohne Staat. „Haarsträubender Blödsinn! Hirsebrei!“,
schimpfte Lassalle. „Gedankenloses Bimbamgeläute!“
Dieser Schulze wurde gefährlich. Gefährlicher sogar als der
Überlinke Karl Marx in London. Schulze blökte sein Nein zu
Subventionen in die Säle, die Arbeiter schrien Hurra! Schulze
begriff nicht, dass Industriearbeiter anders waren als Handwerker und Krämer. Sie würden immer lohnabhängig bleiben, am
Existenzminimum krebsen. Ein ehernes Gesetz. Da gab’s keine
Spargroschen zu sammeln. Pumpvereine, Kleinbetriebsnetze
und Gemeinschaftsläden? Lächerliche Antworten auf die Industriemoderne. Bürgerliche Selbstverantwortung hielt Lassalle für
weltfremd bei Arbeitern. Sie brauchten straffe zentrale Führung.
Lassalles Führung.
Im Februar 1863 kam Post aus Leipzig. Das Zentralkomitee
der Sozialisten bereitete den Gründungsparteitag vor, bat um
Programmideen und suchte einen Chef. Lassalle verfasste ein
„Offenes Antwortschreiben“. Das 40-Seiten-Pamphlet erschien
im März mit 12.000 Exemplaren: der Urknall des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins (ADAV), Vorläufer der SPD.
„Schulze ist aufgeschlitzt“
Den größten Spaß hatte Lassalle an der Abrechnung mit der
Selbsthilfe-Idee. „Schulze-Delitzsch und sein ganzer Standpunkt
ist aufgeschlitzt und seine Eingeweide ans Licht gekehrt“, schrieb
er einem Parteifreund. „Der Hass, der mich dafür treffen wird,
wird beispiellos sein.“ Kaum war Lassalle ADAV-Präsident geworden, formierte der erboste sozialliberale Flügel als Konkurrenz
42
Wortgewaltiger Redner mit scharfem Witz: Der Liberale Schulze-Delitzsch war von 1867 bis 1883 Reichstagsabgeordneter. Seine Reden
zogen das Plenum in den Bann, das Protokoll verzeichnet oft ein
„stürmisches Bravo“, heftigen Applaus und Heiterkeit auf allen Bänken. Bismarck (ganz links) fand es selten lustig: Regelmäßig war der
Reichskanzler die Zielscheibe. Zeichnung von Hermann Lüders in der
Illustrierten „Die Gartenlaube“, 1874.
„Kriegskassen der Demokratie“
Bismarck sah Schulzes Genossenschaften als Tarnung alter
Revolutionäre des Jahres 1948. Wer vor Bajonett und Geheimpolizei nicht ins Exil geflüchtet war, machte jetzt in Gemeinwirtschaft. Vorbild waren Pioniere aus England und Frankreich.
Genossen übersetzten deren Praxisleitfäden, schickten Trainer auf Tournee, luden zu Gründer-Workshops. In Zeitschriften sezierten sie Satzungs-, Finanz- und Geschäftsmodelle.
Kaschiert als Unternehmensberatung, war es doch umstürzlerisches Ideengut. Besonders gefährlich: Darlehensvereine, die
die Kreditklemme des Kleingewerbes au�ogen. „Volksbanken“
nannte sie Schulze neuerdings. In Bismarcks Augen waren sie
„die Kriegskassen der Demokratie, die unter Regierungsgewalt
gestellt werden müssen“.
Doch Schulze musste die Rechtsfrage stellen, keine Machtfrage. Sicher, Genossenschaften waren eine Schule der Demokratie („ein Mitglied, eine Stimme“). Doch das allein sicherte
kein Überleben der inzwischen 1600 Vereine mit 400.000 Mitgliedern. Im Handelsrecht waren sie nur geduldete Zwitter zwischen Personen- und Kapitalgesellschaft. Behörden übten Willkür, Gerichte fällten wirre Urteile. Schulze, der Jurist, wusste:
Genossenschaften benötigten eine eigene Rechtsform. Schulze,
der Politiker, wusste: Für ein Reformgesetz brauchte er Helfer
in Bismarcks Kabinett. Das Manöver würde nur gelingen, wenn
die Vereine aus der Radikalenecke herauskämen. Mit Statistik
wies er ihre volkswirtschaftliche Leistung nach. Sozialutopisten
zwang er ins Korsett harter kaufmännischer Vorgaben.
Clever spielte Schulze die nationale Karte. Die Genossenschaft stärke das „Gefühl der Einheit“ der Deutschen. Hatte
er früher wie Franzosen und Briten von Assoziationen gesprochen, was in den Ohren der Obrigkeit welsch und radikal klang,
pol i t ik & kommu nikation | N ovemb er 2011
Fotos: Die Gartenlaube (1874), Heft 18, S. 294, Zeichnung Hermann Lüders, Quelle: Wikimedia Commons; Privat
Genossen
gegen
Genossen
den Vereinstag Deutscher Arbeitervereine. Als erstes empfahl
dieser den Massen Genossenschafts-Gründungen à la Schulze.
Der smarte Sozialistenführer trieb den Keil tiefer, hetzte in
der Presse gegen den „Sparapostel“ Schulze und ließ Spottlieder
singen: „Der gute Mann beweist uns ganz geschwind, dass wir ja
alle Kapitalisten sind. Sand, Sand, Sand in die Augen!“ In einem
Buch mixte Lassalle einen feurigen Cocktail aus Wirtschaftstheorie und ätzendem Sarkasmus. „Verlogenste Täuschung“
und „nervenschmerzerregend“ sei der Versuch, Arbeitern Mittelstandsträume einzuimpfen. Eine „kleinbürgerliche Seele“ sei
Schulze, ein Provinzler: „Sind Sie denn nie aus Bitterfeld und
Delitzsch herausgekommen?“
Ein druckfrisches Exemplar schickte Lassalle an Ministerpräsident Otto von Bismarck, „zu tödlichem Gebrauche“ gegen
die liberale Fortschrittspartei, für die Schulze im preußischen
Parlament saß. Bismarck würde „aus diesem Holz Kernbolzen
schnitzen können, sowohl im Ministerrat wie den Fortschrittlern gegenüber“, so Lassalle. In Geheimtreffen hatten sie sich
schätzen gelernt. Beide sahen die Lösung der sozialen Frage
beim starken Staat. Beide dachten: Der Feind meines Feindes
ist mein Freund.
Der Abgeordnete Schulze zerrte an Bismarcks Beinkleidern
wie ein Terrier. Verleger rissen sich um seine Artikel, eine Zeitung gab er selbst heraus. Bismarck zählte ihn zu den „hervorragendsten und entschiedensten Gegnern“, deren „agitatorische Wirksamkeit überwiegend darauf gerichtet ist, politischen
Einfluss auf die Arbeiter und Handwerker zu gewinnen, um die
Fortschrittspartei gegen die Regierung zu verstärken“.
verordnete er seinen Mitstreitern nun den deutschen Begriff
Genossenschaft. Er bediente antifranzösische Ressentiments.
Frankreich gelte es zu übertrumpfen. Bürokratischer Zentralismus sei „romanisch“. „Germanisch“ sei die „mannigfaltigste
Gliederung“ in freien Gruppen, „von denen jede ihre besondern
Angelegenheiten selbst ordnet und auf die eigne Kraft gestützt
fremde Hilfe und Leitung weder verlangt noch duldet“. Spindoktor Schulze deutete das Importmodell zum Symbol urdeutscher Stammeskraft um.
Auf Schulzes Pult entstand ein Gesetzentwurf. Zunächst
war er chancenlos. Schulze brachte ihn immer wieder ein, aber
scheiterte stets an Bismarcks Vorgabe: Der Staat würde Genossenschaften eine Konzession verleihen und diese überwachen.
So nicht, blockierte Schulze. Die Behörden sollten „unsern Vereinen nichts darein zu reden haben“.
Ab 1864 wurde der Weg frei. Mit einer Kugel im Gemächt
verschied sein Gegner Lassalle, der liebestoll in ein Duell um
seine Herzdame getreten war. Pulver und Blei, Blut und Eisen
verschoben auch Bismarcks Interessen. Während die Kanonen
der Einigungskriege donnerten, fädelte Schulze mit Handelsund Justizministern einen Deal ein: keine politische Betätigung,
rein wirtschaftlicher Förderzweck, aber freie Gründung ohne
Konzessionszwang. 1867 bekam er sein Genossenschaftsgesetz.
Bald galten Schulzes Paragraphen auch im Reich – und sie gelten bis heute. Eins gelang Schulze aber nicht: die Rivalen aus der
Rheinprovinz wegzubeißen. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hatte
im Westen ein andersartiges Genossenschaftswesen aufgebaut.
pol it i k & kommu nikation | N ovemb er 2011
Mit Hilfe von Pfarrern sammelte der christlich beseelte Bürgermeister überschuldete Bauern. Agrarkassen, Läden und Lagerhäuser entstanden. „Das Geld des Dorfes dem Dorfe“, tönte er.
„Einer für alle, alle für einen.“ Der sanfte Raiffeisen war anfangs
nur ein Local Hero. Einst hatte er den großen Schulze um Hilfe
gebeten. Der aber zog Raiffeisen öffentlich durch den Kakao.
Er sah in ihm „einen Fantasten oder einen Mitläufer, der nur
eine schlechte Kopie seiner Genossenschaftsidee produzieren
wollte“, meint der Historiker Walter Koch. „Eine eklatante Fehleinschätzung.“
Rivale Raiffeisen
Schulzes System war gut für Betriebe in der Stadt. Raiffeisens Klientel waren Bauern. Sie bezahlten Saatgut, Chemiedünger und
Gerät mit der Ernte, die sie gemeinsam verkauften. Kredite mussten länger laufen, Risiken anders verteilt werden. Schulze blieb
stur: sein System oder keins. Unter den Schutz seines Gesetzes
sollte Raiffeisen nicht schlüpfen. Als ein Verbot fehlschlug, sorgte
Schulze als Reichstagsmitglied für Schikanen. Die von ihm so oft
beklagte Staatswillkür setzte er gezielt gegen die Konkurrenz ein.
Raiffeisen kam spät, aber gewaltig. Sein System wurde weltweit erfolgreicher. In Deutschland dauerte der „Systemstreit“
noch 100 Jahre. Erst 1972 machten die beiden Lager Frieden miteinander. Und die Sozialisten? Die entdeckten auch noch ihren
Schulze. Kurz vor 1900 setzte ein Boom „roter“ Konsum-, Sparund Bauvereine ein. Und die richtige Anrede für Sozialisten lautet natürlich: Genosse.
Marco Althaus
ist Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule
Wildau.
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2012 ist das UN-Jahr der Genossenschaften. Seit
der Finanzkrise erleben sie eine Renaissance.
Vor 150 Jahren kämpfte eine Volksbewegung
für die staatliche Anerkennung der modernen
Selbsthilfe-Firma.
P&K HISTORIE – TEIL 6 DER SERIE
V ON MA R C O A LT H A U S
F
erdinand Lassalle tobte. Dieser verdammte Schulze! Im
Winter 1862/63 stand die Gründung der Arbeiterpartei
bevor. Mit zwei Punkten sollte sie antreten: demokratisches
Wahlrecht und Produktionsgenossenschaften. Lassalle meinte
Industriebetriebe in Arbeiterhand, finanziert durch Staatskredite. Ausgerechnet jetzt tingelte der Liberale Hermann SchulzeDelitzsch durch die Arbeiterbildungsvereine. Er predigte seinen
„Arbeiterkatechismus“: Die Arbeiter sollten sich Kredit- und
Konsum-Genossenschaften anschließen, die soziale Frage durch
Selbsthilfe und Solidarhaftung lösen, das nötige Kapital ansparen. Ganz ohne Staat. „Haarsträubender Blödsinn! Hirsebrei!“,
schimpfte Lassalle. „Gedankenloses Bimbamgeläute!“
Dieser Schulze wurde gefährlich. Gefährlicher sogar als der
Überlinke Karl Marx in London. Schulze blökte sein Nein zu
Subventionen in die Säle, die Arbeiter schrien Hurra! Schulze
begriff nicht, dass Industriearbeiter anders waren als Handwerker und Krämer. Sie würden immer lohnabhängig bleiben, am
Existenzminimum krebsen. Ein ehernes Gesetz. Da gab’s keine
Spargroschen zu sammeln. Pumpvereine, Kleinbetriebsnetze
und Gemeinschaftsläden? Lächerliche Antworten auf die Industriemoderne. Bürgerliche Selbstverantwortung hielt Lassalle für
weltfremd bei Arbeitern. Sie brauchten straffe zentrale Führung.
Lassalles Führung.
Im Februar 1863 kam Post aus Leipzig. Das Zentralkomitee
der Sozialisten bereitete den Gründungsparteitag vor, bat um
Programmideen und suchte einen Chef. Lassalle verfasste ein
„Offenes Antwortschreiben“. Das 40-Seiten-Pamphlet erschien
im März mit 12.000 Exemplaren: der Urknall des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins (ADAV), Vorläufer der SPD.
„Schulze ist aufgeschlitzt“
Den größten Spaß hatte Lassalle an der Abrechnung mit der
Selbsthilfe-Idee. „Schulze-Delitzsch und sein ganzer Standpunkt
ist aufgeschlitzt und seine Eingeweide ans Licht gekehrt“, schrieb
er einem Parteifreund. „Der Hass, der mich dafür treffen wird,
wird beispiellos sein.“ Kaum war Lassalle ADAV-Präsident geworden, formierte der erboste sozialliberale Flügel als Konkurrenz
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Wortgewaltiger Redner mit scharfem Witz: Der Liberale Schulze-Delitzsch war von 1867 bis 1883 Reichstagsabgeordneter. Seine Reden
zogen das Plenum in den Bann, das Protokoll verzeichnet oft ein
„stürmisches Bravo“, heftigen Applaus und Heiterkeit auf allen Bänken. Bismarck (ganz links) fand es selten lustig: Regelmäßig war der
Reichskanzler die Zielscheibe. Zeichnung von Hermann Lüders in der
Illustrierten „Die Gartenlaube“, 1874.
„Kriegskassen der Demokratie“
Bismarck sah Schulzes Genossenschaften als Tarnung alter
Revolutionäre des Jahres 1948. Wer vor Bajonett und Geheimpolizei nicht ins Exil geflüchtet war, machte jetzt in Gemeinwirtschaft. Vorbild waren Pioniere aus England und Frankreich.
Genossen übersetzten deren Praxisleitfäden, schickten Trainer auf Tournee, luden zu Gründer-Workshops. In Zeitschriften sezierten sie Satzungs-, Finanz- und Geschäftsmodelle.
Kaschiert als Unternehmensberatung, war es doch umstürzlerisches Ideengut. Besonders gefährlich: Darlehensvereine, die
die Kreditklemme des Kleingewerbes au�ogen. „Volksbanken“
nannte sie Schulze neuerdings. In Bismarcks Augen waren sie
„die Kriegskassen der Demokratie, die unter Regierungsgewalt
gestellt werden müssen“.
Doch Schulze musste die Rechtsfrage stellen, keine Machtfrage. Sicher, Genossenschaften waren eine Schule der Demokratie („ein Mitglied, eine Stimme“). Doch das allein sicherte
kein Überleben der inzwischen 1600 Vereine mit 400.000 Mitgliedern. Im Handelsrecht waren sie nur geduldete Zwitter zwischen Personen- und Kapitalgesellschaft. Behörden übten Willkür, Gerichte fällten wirre Urteile. Schulze, der Jurist, wusste:
Genossenschaften benötigten eine eigene Rechtsform. Schulze,
der Politiker, wusste: Für ein Reformgesetz brauchte er Helfer
in Bismarcks Kabinett. Das Manöver würde nur gelingen, wenn
die Vereine aus der Radikalenecke herauskämen. Mit Statistik
wies er ihre volkswirtschaftliche Leistung nach. Sozialutopisten
zwang er ins Korsett harter kaufmännischer Vorgaben.
Clever spielte Schulze die nationale Karte. Die Genossenschaft stärke das „Gefühl der Einheit“ der Deutschen. Hatte
er früher wie Franzosen und Briten von Assoziationen gesprochen, was in den Ohren der Obrigkeit welsch und radikal klang,
pol i t ik & kommu nikation | N ovemb er 2011
Fotos: Die Gartenlaube (1874), Heft 18, S. 294, Zeichnung Hermann Lüders, Quelle: Wikimedia Commons; Privat
Genossen
gegen
Genossen
den Vereinstag Deutscher Arbeitervereine. Als erstes empfahl
dieser den Massen Genossenschafts-Gründungen à la Schulze.
Der smarte Sozialistenführer trieb den Keil tiefer, hetzte in
der Presse gegen den „Sparapostel“ Schulze und ließ Spottlieder
singen: „Der gute Mann beweist uns ganz geschwind, dass wir ja
alle Kapitalisten sind. Sand, Sand, Sand in die Augen!“ In einem
Buch mixte Lassalle einen feurigen Cocktail aus Wirtschaftstheorie und ätzendem Sarkasmus. „Verlogenste Täuschung“
und „nervenschmerzerregend“ sei der Versuch, Arbeitern Mittelstandsträume einzuimpfen. Eine „kleinbürgerliche Seele“ sei
Schulze, ein Provinzler: „Sind Sie denn nie aus Bitterfeld und
Delitzsch herausgekommen?“
Ein druckfrisches Exemplar schickte Lassalle an Ministerpräsident Otto von Bismarck, „zu tödlichem Gebrauche“ gegen
die liberale Fortschrittspartei, für die Schulze im preußischen
Parlament saß. Bismarck würde „aus diesem Holz Kernbolzen
schnitzen können, sowohl im Ministerrat wie den Fortschrittlern gegenüber“, so Lassalle. In Geheimtreffen hatten sie sich
schätzen gelernt. Beide sahen die Lösung der sozialen Frage
beim starken Staat. Beide dachten: Der Feind meines Feindes
ist mein Freund.
Der Abgeordnete Schulze zerrte an Bismarcks Beinkleidern
wie ein Terrier. Verleger rissen sich um seine Artikel, eine Zeitung gab er selbst heraus. Bismarck zählte ihn zu den „hervorragendsten und entschiedensten Gegnern“, deren „agitatorische Wirksamkeit überwiegend darauf gerichtet ist, politischen
Einfluss auf die Arbeiter und Handwerker zu gewinnen, um die
Fortschrittspartei gegen die Regierung zu verstärken“.
verordnete er seinen Mitstreitern nun den deutschen Begriff
Genossenschaft. Er bediente antifranzösische Ressentiments.
Frankreich gelte es zu übertrumpfen. Bürokratischer Zentralismus sei „romanisch“. „Germanisch“ sei die „mannigfaltigste
Gliederung“ in freien Gruppen, „von denen jede ihre besondern
Angelegenheiten selbst ordnet und auf die eigne Kraft gestützt
fremde Hilfe und Leitung weder verlangt noch duldet“. Spindoktor Schulze deutete das Importmodell zum Symbol urdeutscher Stammeskraft um.
Auf Schulzes Pult entstand ein Gesetzentwurf. Zunächst
war er chancenlos. Schulze brachte ihn immer wieder ein, aber
scheiterte stets an Bismarcks Vorgabe: Der Staat würde Genossenschaften eine Konzession verleihen und diese überwachen.
So nicht, blockierte Schulze. Die Behörden sollten „unsern Vereinen nichts darein zu reden haben“.
Ab 1864 wurde der Weg frei. Mit einer Kugel im Gemächt
verschied sein Gegner Lassalle, der liebestoll in ein Duell um
seine Herzdame getreten war. Pulver und Blei, Blut und Eisen
verschoben auch Bismarcks Interessen. Während die Kanonen
der Einigungskriege donnerten, fädelte Schulze mit Handelsund Justizministern einen Deal ein: keine politische Betätigung,
rein wirtschaftlicher Förderzweck, aber freie Gründung ohne
Konzessionszwang. 1867 bekam er sein Genossenschaftsgesetz.
Bald galten Schulzes Paragraphen auch im Reich – und sie gelten bis heute. Eins gelang Schulze aber nicht: die Rivalen aus der
Rheinprovinz wegzubeißen. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hatte
im Westen ein andersartiges Genossenschaftswesen aufgebaut.
pol it i k & kommu nikation | N ovemb er 2011
Mit Hilfe von Pfarrern sammelte der christlich beseelte Bürgermeister überschuldete Bauern. Agrarkassen, Läden und Lagerhäuser entstanden. „Das Geld des Dorfes dem Dorfe“, tönte er.
„Einer für alle, alle für einen.“ Der sanfte Raiffeisen war anfangs
nur ein Local Hero. Einst hatte er den großen Schulze um Hilfe
gebeten. Der aber zog Raiffeisen öffentlich durch den Kakao.
Er sah in ihm „einen Fantasten oder einen Mitläufer, der nur
eine schlechte Kopie seiner Genossenschaftsidee produzieren
wollte“, meint der Historiker Walter Koch. „Eine eklatante Fehleinschätzung.“
Rivale Raiffeisen
Schulzes System war gut für Betriebe in der Stadt. Raiffeisens Klientel waren Bauern. Sie bezahlten Saatgut, Chemiedünger und
Gerät mit der Ernte, die sie gemeinsam verkauften. Kredite mussten länger laufen, Risiken anders verteilt werden. Schulze blieb
stur: sein System oder keins. Unter den Schutz seines Gesetzes
sollte Raiffeisen nicht schlüpfen. Als ein Verbot fehlschlug, sorgte
Schulze als Reichstagsmitglied für Schikanen. Die von ihm so oft
beklagte Staatswillkür setzte er gezielt gegen die Konkurrenz ein.
Raiffeisen kam spät, aber gewaltig. Sein System wurde weltweit erfolgreicher. In Deutschland dauerte der „Systemstreit“
noch 100 Jahre. Erst 1972 machten die beiden Lager Frieden miteinander. Und die Sozialisten? Die entdeckten auch noch ihren
Schulze. Kurz vor 1900 setzte ein Boom „roter“ Konsum-, Sparund Bauvereine ein. Und die richtige Anrede für Sozialisten lautet natürlich: Genosse.
Marco Althaus
ist Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule
Wildau.
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