I nte rnational
1900 in Bremerhaven („Pardon wird nicht gegeben, Gefangene
nicht gemacht“) bis zu jenem peinlichen Interview mit dem Daily
Telegraph auf einer Englandreise, das 1908 Thron und Regierung
in eine tiefe Krise stürzte. Mit diesem Skandal hatten selbst die
Kaisertreuen genug: Wilhelm wurde zur öffentlichen Unterwerfungserklärung unter das Primat der Politiker gezwungen. Von da
an steckte der Kaiser im Korsett amtlicher Kommunikation.
„Überraschend ist, dass es bei der Menge an Reden, die er
hielt, gar nicht so viele peinliche Stellen gibt“, findet Eberhard
Straub, „sonst würden nicht immer die wenigen und stets gleichen Stellen als Vorwurf wiederholt.“ Anders urteilt der Historiker Christopher Clark: „Wilhelm war denkbar ungeeignet für die
kommunikativen Aufgaben seines Amtes.“ Ein „Meister öffentlicher Auftritte“ sei er wohl gewesen, der seine Reise-Reden
„bewusst als spontane, unvermittelte Akte der Kommunikation
inszeniert“ habe. Die Inhalte aber waren allzu oft katastrophal
fehlplatziert.
Heildirim
Sonderzug
Wilhelm II. galt als „Reisekaiser“, seine Touren
bedienten die Medienlogik wie nie zuvor. Doch
sie lösten auch Krisen aus.
P&K HISTORIE – TEIL 11 DER SERIE
V ON MA R C O A LT H A U S
H
Tour d’Allemagne: Der Reise- als Redekaiser
Drittens ging es um die nationale Einheit, um die „innere Reichsbildung“ über seine Person. Cäsaristisch-plebiszitär suchte er
die direkte Kommunikation mit dem Volk. Wenn er ein echter
„Deutscher Kaiser“ sein und politische Wirkung erzielen wollte,
ging es nur so. Die Verfassung sah für den Kaiser kaum Aufgaben vor. So tat er das, was ein Bundespräsident heute tut: reisen und reden. Er besuchte Hunderte deutscher Städte, Industriebetriebe und Einrichtungen. „Seine Regierungszeit ist eine
36
Wilhelm im Wüstenzelt
ununterbrochene Tour d’Allemagne“, befindet Kaiserkenner
Eberhard Straub.
Kein Monarch sprach an so vielen Orten so oft vor so Vielen wie „Wilhelm der Redselige“. Sein pompöses Politainment in
wechselnder Kostümierung traf den Geschmack. Als Redner war
er besser als viele Parteipolitiker. Kraftvoll sprach er, meist frei
und vom Impuls getragen – und genau das trieb der Regierung
den Schweiß auf die Stirn, vor allem in der Außenpolitik. Störrisch hielt er an dynastischer Diplomatie zwischen den Monarchen fest. Von den Leisetretern des Auswärtigen Amts hielt
Wilhelm wenig: „ICH bin das Auswärtige Amt!“ Das war der
vierte Grund seiner Reisen, die ihn nach London, St. Petersburg,
Wien, Stockholm, Kopenhagen, Athen, Rom, Tanger und Konstantinopel führten.
Auf Reisen war Wilhelms Rededrang besonders schwer zu
kontrollieren. Spontane Pointen verwirrten Freund und Feind.
Hektisch versuchten Minister hinterher, die Presse von der Wiedergabe des Originaltons abzuhalten und empörte Diplomaten
zu besänftigen. Zuweilen versenkte Wilhelm treffsicher Deutschlands Image in der Welt: Von der barbarischen „Hunnenrede“
pol i t i k & kommu nikation | Ju li/A u g u st 2012
Fotos: Privat
eil dir im Sonderzug“, krähten die Spötter, wenn der Kaiser kam und die Hymne „Heil dir im Siegerkranz“ ertönte.
Vor Spott war das stets mobile Reichsoberhaupt nie sicher.
Wilhelm zeichnete mit „I.R.“. Das steht für„Imperator Rex“, Kaiser und König. „Immer reisefertig“, flachste das Volk. Und: „Wilhelm I. war der greise Kaiser, Friedrich III. der weise Kaiser, Wilhelm II. der Reisekaiser.“
In Berlin und Potsdam blieb er nur wenige Monate im Jahr.
Von 30 Kaiserjahren verbrachte er viereinhalb auf der Staatsjacht „Hohenzollern“. 500-mal rollte sein Hofzug aus dem Potsdamer Depot. Die neuesten Mercedes-Motorkutschen besaß
Wilhelm und knatterte damit übers Land. Kein Monarch seiner
Zeit reiste öfter, keiner schuf so mehr Pseudoereignisse. Das galt
nicht nur für Staatsbesuche, „Kaisertage“ in der Provinz, „Kaisermanöver“, Paraden und Regatten. Genauso öffentlich waren
private Segeltörns, Jagdausflüge, Familienbesuche in England,
der Sommer in Norwegen, Italien und auf Korfu. Nie zuvor hatten die Massen so viel Einblick in Familie, Freizeit, Urlaub eines
Monarchen. Niemand in Europa wurde mehr fotografiert. Sein
Kaisertum war ein endloser Bilderdienst – wohlgesteuert vom
Hofmarschallamt.
Die Reiserei hatte viele Gründe. Wilhelm flüchtete vor dem
Verwaltungsalltag. Für seine Minister hieß Regieren daher
Depeschen schreiben oder mit ihren Vorträgen und Akten hinterher reisen. Für Abgeordnete war er noch schwerer zu greifen. Das war Absicht. „Entrückt dem Parteigetriebe“ wollte Wilhelm sein. Zweitens verkörperte der mobile Kaiser Modernität:
„Geschwindigkeit und Beweglichkeit wurden zu einem Signum
der wilhelminischen Monarchie“, meint der Historiker Martin
Kohlrausch. 1904 erklärte Techniknarr Wilhelm das 20. zum
„Jahrhundert des Verkehrs“. Er war Symbolfigur des neuen Massentourismus, sogar Kunde beim Reisebüro Thomas Cook. Das
organisierte seine Palästinareise 1898.
Bei der Reise ins Osmanische Reich 1898 schwelgte Wilhelm
in einem Orientmärchen. Gastgeber Abdülhamid II. ließ ihn
– brauchte er doch dringend einen Freund, seit sich der Westen wegen der blutigen Pogrome an Armeniern vom „roten Sultan“ distanzierte. Wilhelm kampierte im Wüstenzelt; 1300 Tiere
schleppten die 230 Zelte seiner KaraÜber 40 Kameras bringt
wane. Wie ein Kreuzritter ritt er in
Henri Meyer (1844–99)
Adlerhelm, glänzendem Kürass und lanin seiner Karikatur unter
gem Mantel in Jerusalem ein. Wilhelm
– die Fotografen knipsen
war auf Wallfahrt. Würdenträger der
selbst von den Minaretten, vom Felsendom und
Kirche und Hunderte Pilger begleiten
den Mauern Jerusalems.
ihn. Er weihte in Jerusalem die ErlöserSein Titelbild für die
kirche ein, besuchte Bethlehem und ließ
illustrierte Beilage der
sich von deutschen Siedlern als SchutzPariser Tageszeitung Le
herr feiern. Auch für die antiken Stätten
Petit Journal (Auflage:
1 Million Exemplare) vom hatte der Hobbyarchäologe ein Auge.
Fotos und Berichte begeisterten daheim
6. November 1898 macht
die Öffentlichkeit. Aber wie stets kam
sich über den Medienwirbel um die Orientreise auch Spott: „Willkommen Fürst, in meiWilhelms II. lustig.
nes Landes Grenzen, willkommen mit
dem holden Ehgemahl, mit Geistlichkeit, Lakaien, Excellenzen und Polizeibeamten ohne Zahl“, ließ
Dichter Frank Wedekind im Satireblatt Simplicissimus König
David zur Harfe singen. „Es freuen rings sich die histor’schen
Orte seit Wochen schon auf deine Worte, und es vergrößert ihre
Sehnsuchtspein der große Wunsch, photographiert zu sein.“ Die
Polizei riss das Heft von den Kiosken, Wedekind saß ein halbes
Jahr in Festungshaft.
Davon abgesehen: Toleranz hieß die große Botschaft der Reise.
Zur Zeltaudienz bat Wilhelm Theodor Herzl, der einen Judenstaat in Palästina unter deutschem Protektorat anstrebte. Der Kaiser antichambrierte beim Sultan für die Zionisten, aber erfolglos.
Erfreut war Abdülhamid, als der Kaiser in Damaskus einen goldenen Kranz am Grab Saladins niederlegte, dem islamischen Helden der Kreuzzüge. Der Symbolik nicht genug, sprach Wilhelm,
die Kufiya eines Scheichs auf dem Haupt: „Möge der Sultan und
mögen 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut
lebend, in ihm den Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass
zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“
Ein harmloser Trinkspruch? Mitnichten. Es regnete gefährlichen Fallout in London, Paris und St. Petersburg. Wilhelms
pol it i k & kommu nikation | Ju li/A u g u st 2012
Damaskusrede deuteten sie als Schutzmachtanspruch im Kontext deutschen Drangs nach Osten. In Paris fragte Le Figaro:
„Wird man ihn für die Muselmanen Indiens intervenieren sehen,
die sicherlich in den 300 Millionen enthalten sind, oder für russische Untertanen, oder österreichische, oder französische?“
„Jeder weiß, dass sich deutsche Augen schon lange auf Kleinasien als Feld für Expansion und Handel gerichtet haben“,
schrieb der Daily Chronicle in London. „Sicher nicht für nichts
ergreift der deutsche Kaiser den Pilgerstab und zieht die Pilgerschuhe an.“ Wohl wahr: Beim Sultan machte Wilhelm Konzessionen für sein Prestigeprojekt klar, die 2000 Kilometer lange
Bagdadbahn vom Bosporus bis zum Persischen Golf. Die Deutsche Bank führte das Konsortium. Von Krupp kam Stahl, Borsig lieferte Loks, Philipp Holzmann baute Gleise, Brücken, Tunnel, Bahnhöfe. Deutschland hoffte mit der Bahn auf Absatzmärkte und Rohstoffe, auf Baumwolle und Erdöl. Die Alldeutschen Blätter jubelten: „Volldampf vorwärts nach dem Euphrat
und Tigris und nach dem Persischen Meer und damit der Landweg nach Indien wieder in die Hände, in die er allein gehört, in
die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände!“ Zentral für
den immer engeren deutsch-türkischen Militärpakt wurde die
Bahn ebenso. Für all das war die Kaiserreise 1898 der Schlüssel.
Hadschi Wilhelm Mohammed
Die Stilisierung Wilhelms als treuen Freund aller Muslime sollte
lange nachwirken. Im Weltkrieg las die islamische Welt in einer
Broschüre: „Kaiser Wilhelm II. ist zum Islam übergetreten, er
nennt sich nun Hadschi Wilhelm Mohammed und hat bereits
heimlich eine Pilgerreise nach Mekka unternommen. Immer
mehr Deutsche folgen seinem Beispiel und werden Mohammedaner.“ Was so absurd klingt, ließ die Regierung in Berlin drucken und von deutschen Agenten verteilen. Hinter der Kampagne steckte der „deutsche Lawrence von Arabien“: Max von
Oppenheim baute ab 1914 die „Nachrichtenstelle für den Orient“
auf (Jahresetat: eine Million Mark). Das NfO-Team produzierte
in vielen Sprachen Propagandamedien, die ins Feindgebiet einsickerten. In osmanischen Grenzregionen richtete es Lesesäle ein,
baute Kurierdienste und Zeitungen auf. Selbst für muslimische
Kriegsgefangene druckte die NfO ein Lagerblatt: El-Dschihad.
Dschihad? In der Tat rief Berlin, im Tandem mit dem Sultan, die
Moslems zum Heiligen Krieg gegen die Christen auf – jedenfalls
Briten, Franzosen und Russen. Von osmanischen Einflusszonen
aus sollten in Nordafrika, Afghanistan, Indien und im Kaukasus Revolten gegen die Alliierten angezettelt werden. Doch der
Dschihad made in Germany scheiterte an allen Fronten.
1917 gab der Kaiser am Bosporus noch einmal die OrientShow, Filmaufnahmen für die Wochenschau-Kinos inklusive.
Ein Jahr später trat er seine letzte Auslandstour an, bei Nacht
und Nebel, nicht in Glanz und Gloria. In Panik floh er nach Holland. Für den Reisekaiser war hier Endstation. Seine vielen Reisesouvenirs ließ er aber nachsenden, nebst 12.000 Fotos, die
meisten von sich selbst als auf Tour.
Marco Althaus
ist Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule
Wildau.
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I nte rnational
1900 in Bremerhaven („Pardon wird nicht gegeben, Gefangene
nicht gemacht“) bis zu jenem peinlichen Interview mit dem Daily
Telegraph auf einer Englandreise, das 1908 Thron und Regierung
in eine tiefe Krise stürzte. Mit diesem Skandal hatten selbst die
Kaisertreuen genug: Wilhelm wurde zur öffentlichen Unterwerfungserklärung unter das Primat der Politiker gezwungen. Von da
an steckte der Kaiser im Korsett amtlicher Kommunikation.
„Überraschend ist, dass es bei der Menge an Reden, die er
hielt, gar nicht so viele peinliche Stellen gibt“, findet Eberhard
Straub, „sonst würden nicht immer die wenigen und stets gleichen Stellen als Vorwurf wiederholt.“ Anders urteilt der Historiker Christopher Clark: „Wilhelm war denkbar ungeeignet für die
kommunikativen Aufgaben seines Amtes.“ Ein „Meister öffentlicher Auftritte“ sei er wohl gewesen, der seine Reise-Reden
„bewusst als spontane, unvermittelte Akte der Kommunikation
inszeniert“ habe. Die Inhalte aber waren allzu oft katastrophal
fehlplatziert.
Heildirim
Sonderzug
Wilhelm II. galt als „Reisekaiser“, seine Touren
bedienten die Medienlogik wie nie zuvor. Doch
sie lösten auch Krisen aus.
P&K HISTORIE – TEIL 11 DER SERIE
V ON MA R C O A LT H A U S
H
Tour d’Allemagne: Der Reise- als Redekaiser
Drittens ging es um die nationale Einheit, um die „innere Reichsbildung“ über seine Person. Cäsaristisch-plebiszitär suchte er
die direkte Kommunikation mit dem Volk. Wenn er ein echter
„Deutscher Kaiser“ sein und politische Wirkung erzielen wollte,
ging es nur so. Die Verfassung sah für den Kaiser kaum Aufgaben vor. So tat er das, was ein Bundespräsident heute tut: reisen und reden. Er besuchte Hunderte deutscher Städte, Industriebetriebe und Einrichtungen. „Seine Regierungszeit ist eine
36
Wilhelm im Wüstenzelt
ununterbrochene Tour d’Allemagne“, befindet Kaiserkenner
Eberhard Straub.
Kein Monarch sprach an so vielen Orten so oft vor so Vielen wie „Wilhelm der Redselige“. Sein pompöses Politainment in
wechselnder Kostümierung traf den Geschmack. Als Redner war
er besser als viele Parteipolitiker. Kraftvoll sprach er, meist frei
und vom Impuls getragen – und genau das trieb der Regierung
den Schweiß auf die Stirn, vor allem in der Außenpolitik. Störrisch hielt er an dynastischer Diplomatie zwischen den Monarchen fest. Von den Leisetretern des Auswärtigen Amts hielt
Wilhelm wenig: „ICH bin das Auswärtige Amt!“ Das war der
vierte Grund seiner Reisen, die ihn nach London, St. Petersburg,
Wien, Stockholm, Kopenhagen, Athen, Rom, Tanger und Konstantinopel führten.
Auf Reisen war Wilhelms Rededrang besonders schwer zu
kontrollieren. Spontane Pointen verwirrten Freund und Feind.
Hektisch versuchten Minister hinterher, die Presse von der Wiedergabe des Originaltons abzuhalten und empörte Diplomaten
zu besänftigen. Zuweilen versenkte Wilhelm treffsicher Deutschlands Image in der Welt: Von der barbarischen „Hunnenrede“
pol i t i k & kommu nikation | Ju li/A u g u st 2012
Fotos: Privat
eil dir im Sonderzug“, krähten die Spötter, wenn der Kaiser kam und die Hymne „Heil dir im Siegerkranz“ ertönte.
Vor Spott war das stets mobile Reichsoberhaupt nie sicher.
Wilhelm zeichnete mit „I.R.“. Das steht für„Imperator Rex“, Kaiser und König. „Immer reisefertig“, flachste das Volk. Und: „Wilhelm I. war der greise Kaiser, Friedrich III. der weise Kaiser, Wilhelm II. der Reisekaiser.“
In Berlin und Potsdam blieb er nur wenige Monate im Jahr.
Von 30 Kaiserjahren verbrachte er viereinhalb auf der Staatsjacht „Hohenzollern“. 500-mal rollte sein Hofzug aus dem Potsdamer Depot. Die neuesten Mercedes-Motorkutschen besaß
Wilhelm und knatterte damit übers Land. Kein Monarch seiner
Zeit reiste öfter, keiner schuf so mehr Pseudoereignisse. Das galt
nicht nur für Staatsbesuche, „Kaisertage“ in der Provinz, „Kaisermanöver“, Paraden und Regatten. Genauso öffentlich waren
private Segeltörns, Jagdausflüge, Familienbesuche in England,
der Sommer in Norwegen, Italien und auf Korfu. Nie zuvor hatten die Massen so viel Einblick in Familie, Freizeit, Urlaub eines
Monarchen. Niemand in Europa wurde mehr fotografiert. Sein
Kaisertum war ein endloser Bilderdienst – wohlgesteuert vom
Hofmarschallamt.
Die Reiserei hatte viele Gründe. Wilhelm flüchtete vor dem
Verwaltungsalltag. Für seine Minister hieß Regieren daher
Depeschen schreiben oder mit ihren Vorträgen und Akten hinterher reisen. Für Abgeordnete war er noch schwerer zu greifen. Das war Absicht. „Entrückt dem Parteigetriebe“ wollte Wilhelm sein. Zweitens verkörperte der mobile Kaiser Modernität:
„Geschwindigkeit und Beweglichkeit wurden zu einem Signum
der wilhelminischen Monarchie“, meint der Historiker Martin
Kohlrausch. 1904 erklärte Techniknarr Wilhelm das 20. zum
„Jahrhundert des Verkehrs“. Er war Symbolfigur des neuen Massentourismus, sogar Kunde beim Reisebüro Thomas Cook. Das
organisierte seine Palästinareise 1898.
Bei der Reise ins Osmanische Reich 1898 schwelgte Wilhelm
in einem Orientmärchen. Gastgeber Abdülhamid II. ließ ihn
– brauchte er doch dringend einen Freund, seit sich der Westen wegen der blutigen Pogrome an Armeniern vom „roten Sultan“ distanzierte. Wilhelm kampierte im Wüstenzelt; 1300 Tiere
schleppten die 230 Zelte seiner KaraÜber 40 Kameras bringt
wane. Wie ein Kreuzritter ritt er in
Henri Meyer (1844–99)
Adlerhelm, glänzendem Kürass und lanin seiner Karikatur unter
gem Mantel in Jerusalem ein. Wilhelm
– die Fotografen knipsen
war auf Wallfahrt. Würdenträger der
selbst von den Minaretten, vom Felsendom und
Kirche und Hunderte Pilger begleiten
den Mauern Jerusalems.
ihn. Er weihte in Jerusalem die ErlöserSein Titelbild für die
kirche ein, besuchte Bethlehem und ließ
illustrierte Beilage der
sich von deutschen Siedlern als SchutzPariser Tageszeitung Le
herr feiern. Auch für die antiken Stätten
Petit Journal (Auflage:
1 Million Exemplare) vom hatte der Hobbyarchäologe ein Auge.
Fotos und Berichte begeisterten daheim
6. November 1898 macht
die Öffentlichkeit. Aber wie stets kam
sich über den Medienwirbel um die Orientreise auch Spott: „Willkommen Fürst, in meiWilhelms II. lustig.
nes Landes Grenzen, willkommen mit
dem holden Ehgemahl, mit Geistlichkeit, Lakaien, Excellenzen und Polizeibeamten ohne Zahl“, ließ
Dichter Frank Wedekind im Satireblatt Simplicissimus König
David zur Harfe singen. „Es freuen rings sich die histor’schen
Orte seit Wochen schon auf deine Worte, und es vergrößert ihre
Sehnsuchtspein der große Wunsch, photographiert zu sein.“ Die
Polizei riss das Heft von den Kiosken, Wedekind saß ein halbes
Jahr in Festungshaft.
Davon abgesehen: Toleranz hieß die große Botschaft der Reise.
Zur Zeltaudienz bat Wilhelm Theodor Herzl, der einen Judenstaat in Palästina unter deutschem Protektorat anstrebte. Der Kaiser antichambrierte beim Sultan für die Zionisten, aber erfolglos.
Erfreut war Abdülhamid, als der Kaiser in Damaskus einen goldenen Kranz am Grab Saladins niederlegte, dem islamischen Helden der Kreuzzüge. Der Symbolik nicht genug, sprach Wilhelm,
die Kufiya eines Scheichs auf dem Haupt: „Möge der Sultan und
mögen 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut
lebend, in ihm den Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass
zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“
Ein harmloser Trinkspruch? Mitnichten. Es regnete gefährlichen Fallout in London, Paris und St. Petersburg. Wilhelms
pol it i k & kommu nikation | Ju li/A u g u st 2012
Damaskusrede deuteten sie als Schutzmachtanspruch im Kontext deutschen Drangs nach Osten. In Paris fragte Le Figaro:
„Wird man ihn für die Muselmanen Indiens intervenieren sehen,
die sicherlich in den 300 Millionen enthalten sind, oder für russische Untertanen, oder österreichische, oder französische?“
„Jeder weiß, dass sich deutsche Augen schon lange auf Kleinasien als Feld für Expansion und Handel gerichtet haben“,
schrieb der Daily Chronicle in London. „Sicher nicht für nichts
ergreift der deutsche Kaiser den Pilgerstab und zieht die Pilgerschuhe an.“ Wohl wahr: Beim Sultan machte Wilhelm Konzessionen für sein Prestigeprojekt klar, die 2000 Kilometer lange
Bagdadbahn vom Bosporus bis zum Persischen Golf. Die Deutsche Bank führte das Konsortium. Von Krupp kam Stahl, Borsig lieferte Loks, Philipp Holzmann baute Gleise, Brücken, Tunnel, Bahnhöfe. Deutschland hoffte mit der Bahn auf Absatzmärkte und Rohstoffe, auf Baumwolle und Erdöl. Die Alldeutschen Blätter jubelten: „Volldampf vorwärts nach dem Euphrat
und Tigris und nach dem Persischen Meer und damit der Landweg nach Indien wieder in die Hände, in die er allein gehört, in
die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände!“ Zentral für
den immer engeren deutsch-türkischen Militärpakt wurde die
Bahn ebenso. Für all das war die Kaiserreise 1898 der Schlüssel.
Hadschi Wilhelm Mohammed
Die Stilisierung Wilhelms als treuen Freund aller Muslime sollte
lange nachwirken. Im Weltkrieg las die islamische Welt in einer
Broschüre: „Kaiser Wilhelm II. ist zum Islam übergetreten, er
nennt sich nun Hadschi Wilhelm Mohammed und hat bereits
heimlich eine Pilgerreise nach Mekka unternommen. Immer
mehr Deutsche folgen seinem Beispiel und werden Mohammedaner.“ Was so absurd klingt, ließ die Regierung in Berlin drucken und von deutschen Agenten verteilen. Hinter der Kampagne steckte der „deutsche Lawrence von Arabien“: Max von
Oppenheim baute ab 1914 die „Nachrichtenstelle für den Orient“
auf (Jahresetat: eine Million Mark). Das NfO-Team produzierte
in vielen Sprachen Propagandamedien, die ins Feindgebiet einsickerten. In osmanischen Grenzregionen richtete es Lesesäle ein,
baute Kurierdienste und Zeitungen auf. Selbst für muslimische
Kriegsgefangene druckte die NfO ein Lagerblatt: El-Dschihad.
Dschihad? In der Tat rief Berlin, im Tandem mit dem Sultan, die
Moslems zum Heiligen Krieg gegen die Christen auf – jedenfalls
Briten, Franzosen und Russen. Von osmanischen Einflusszonen
aus sollten in Nordafrika, Afghanistan, Indien und im Kaukasus Revolten gegen die Alliierten angezettelt werden. Doch der
Dschihad made in Germany scheiterte an allen Fronten.
1917 gab der Kaiser am Bosporus noch einmal die OrientShow, Filmaufnahmen für die Wochenschau-Kinos inklusive.
Ein Jahr später trat er seine letzte Auslandstour an, bei Nacht
und Nebel, nicht in Glanz und Gloria. In Panik floh er nach Holland. Für den Reisekaiser war hier Endstation. Seine vielen Reisesouvenirs ließ er aber nachsenden, nebst 12.000 Fotos, die
meisten von sich selbst als auf Tour.
Marco Althaus
ist Professor für Sozialwissenschaften an der Technischen Hochschule
Wildau.
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