Empowerment, soziale Bewegungen und das Recht auf Gesundheit
Einleitung
Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Rolle von Praktiken, die unter dem Begriff Empowerment subsumiert werden, in ihrer Relevanz für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit darzustellen. Weiter unten wird eine konzisere Auseinandersetzung mit diesem Begriff stattfinden, vorläufig mag die an Norbert Herriger (2014) angelehnte Bestimmung des Empowermentkonzepts als Sammelbegriff für Praktiken zur (Wieder-) Herstellung von Selbstbestimmung genügen. Schon in der Ottawa-Charta von 1986 als Resultat der ersten Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung wurde folgendes festgehalten:
„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Lebensumstände und Umwelt zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, daß sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.“ (WHO 1986, Hervorhebungen MH)
Im Rahmen dieses Aufsatzes wird es nicht zuletzt darum gehen, welche Art von Verantwortung sich damit verbindet bzw. wer nun letztendlich für den Prozess der Ermöglichung von Selbstbestimmung (qua Empowerment) Verantwortung übernehmen kann und sollte; es wird sich bei näherem Hinsehen herausstellen, dass nicht nur Staaten und ihre Institutionen als Garanten der Menschenrechte in die Pflicht zu nehmen sind, sondern auch Wirtschaftsunternehmen, NGOs und nicht zuletzt die betroffenen Menschen selbst (vgl. schon die Erklärung von Alma Ata, WHO 1978). Daher ist es naheliegend, auch und gerade soziale Bewegungen als Versuch der Mobilisierung zu kollektiver Selbstermächtigung in den Fokus zu rücken. Einerseits tragen sie oftmals entscheidend dazu bei, den konkreten Inhalt des Rechts auf Gesundheit zu bestimmen, zumal gesundheitsbezogene Bedürfnisse sich in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen divers gestalten können und diese Bedürfnisse aus der Sicht staatlicher Institutionen und genereller sozialer Anerkennung nicht immer hinreichend wahrgenommen werden bzw. wahrnehmbar sind. Hintergrund ist die Tatsache, dass je betroffene Menschen in ihren sozialen Rollen selbst die kompetenten ExpertInnen für die eigenen Angelegenheiten und Bedürfnisse sind, vorausgesetzt, sie sind fähig, diese Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren. Andererseits tragen soziale Bewegungen wesentlich zu einer konkreten Umsetzung des Rechts auf Gesundheit bei, weil sie u.a. den Zugang zu gesundheitsrelevanten Ressourcen für bestimmte (meist besonders vulnerable) soziale Gruppen ermöglichen, indem die jeweilige Bedürfnisse sichtbar und anerkennbar gemacht werden.
Im Rahmen dieser Einleitung macht es Sinn, kurz den Begriff der Gesundheit zu reflektieren. Gesundheitsbegriffe können sehr unterschiedlich strukturiert sein. Christopher Boorse zufolge stellt Krankheit eine Abweichung von einem statistischen Mittelwert dar; Gesundheit sei die Abwesenheit von Krankheit (wobei weder Gesundheit noch Krankheit normative Bedeutung hätten; vgl. Boorse 1977). Im Kontrast dazu finden sich in den Debatten sogenannte konstruktivistische Theorien, die auf eine mehr oder minder bloße soziale Konstruktion von Gesundheit bzw. Krankheit hindeuten: Krank ist, wer sich als krank wahrnimmt. (Engelhardt jr. 1975, Rosenberg 1992).
Aus der Sicht von Boorse wäre dann auch eine Person mit geringer Körpergröße krank, jedoch ohne normative Konsequenzen. Weder Kleinwüchsigkeit noch das Vorliegen des HI-Virus wären dann konstitutiv für irgendwelche moralischen (bzw. politischen) Ansprüche auf Unterstützung durch die Gemeinschaft. Aus der Sicht des Konstruktivismus (der von Engelhardt und Rosenberg nicht vertreten, sondern bloß beschrieben wird) wäre krank, wer aufgrund von Konventionen als krank deklariert wird. Dies hat aus historischer Sicht homosexuelle Menschen ebenso betroffen wie etwa an Drapetomanie „erkrankte“ SklavInnen, die „zwanghaft“ Fluchtversuche unternommen haben. Die Aporien dieser beiden einseitigen Sichtweisen sind also schnell offensichtlich. Eine plausible Mittelposition nimmt Charles Rosenberg ein, der Gesundheit und Krankheit als Begriffe auffasst, die sowohl statistisch und naturwissenschaftlich als auch gesellschaftlich geprägt sind und aus dieser Perspektive ein biologische Korrelat, aber auch ein soziales „Framing“ aufweisen (vgl. Rosenberg 1992, xviiff.). Damit zeigt sich allerdings auch, dass die Anerkennung von Krankheiten als Krankheiten eine fundamentale Rolle spielt für die Medizin, medizinische Einrichtungen und die gesellschaftliche Akzeptanz von besonderen Bedürfnissen, besonderen Aufwendungen und besonderen Rechten (z.B. temporär oder nur bedingt zu arbeiten und trotzdem finanziell unterstützt zu werden).
Das Recht auf Gesundheit
Zunächst ist festzustellen, dass dem Recht auf Gesundheit folgende, zweiteilige Bestimmung des Gesundheitsbegriffes zugrundeliegt:
1. Ein Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. 2. Die Verringerung der auf erkennbare Krankheiten oder Störungen zurückzuführenden Mortalität, Morbidität und Behinderung und die Verbesserung des subjektiv empfundenen Gesundheitszustands. Die erste in der WHO-Satzung verankerte Definition drückt ein Ideal aus, das das Ziel aller gesundheitlichen Entwicklungstätigkeiten sein sollte (d. h. Gesundheit als ein Grundrecht des Menschen und als ein weltweites soziales Ziel). Es eignet sich allerdings nicht als objektive Meßgröße, weshalb man eine enger gefaßte Arbeitsdefinition braucht. Für diesen Zweck benutzt man normalerweise die zweite Definition (z. B. in der Gesundheitsstatistik). (WHO 1999, 258)
Grundsätzlich geht die Deklaration des Rechts auf Gesundheit
Schon 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 25) wird der Anspruchscharakter der Gesundheit deutlich: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“ (UNO 1948) von einem positiven Gesundheitsbegriff aus, der mit erlebtem Wohlbefinden assoziiert wird und sich eben nicht nur auf körperliche und/oder psychische Gesundheit beschränkt, sondern auch die Sozialität in die Gesundheit mit hereinnimmt. Damit ist implizit, aber dennoch deutlich eine entscheidende anthropologische Voraussetzung gemacht: Das Individuum ist kein solus ipse, das für sich steht und bloß in seiner Individualität betrachtet wird.
Die Anthropologie eines per se sozialen Menschen ist auch sichtbar in der Beschreibung der Gesundheit als eines Anliegens des täglichen Lebens, das nicht nur die eigene Person, sondern auch Nahestehende betrifft (vgl. UNO 2008, 1). Die Rolle von Individuen innerhalb sozialer Strukturen, mithin auch ihre Anerkennung, ist also immanenter Teil der Gesundheit. Dies wird in weiterer Folge auch relevant sein im Hinblick auf das Verständnis der Selbstbestimmung (siehe die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Autonomie weiter unten) eines in sich sozialen Wesens.
Als „Grundrecht“ des Menschen und als „soziales“ Ziel bestimmt, zeigt sich einerseits ein fundamentaler Anspruchscharakter menschlicher Vulnerabilität (auf den dieses Grundrecht hin responsiv bezogen ist); andererseits ist der Adressatenkreis dieses Anspruchs weit und vielleicht prima facie auch diffus erscheint. Es handelt sich nicht ausschließlich um staatliche Institutionen und VerantwortungsträgerInnen innerhalb dieser Institutionen, sondern um ein Ziel, das potentiell auf die gesamte Gesellschaft bezogen ist (WHO 1978, 1986). Damit ist die prinzipielle Möglichkeit zur Übernahme von Verantwortung (für sich und andere) etwas, das dem Menschen generell offen bleiben sollte (durch demokratische Strukturen und Partizipationsmöglichkeiten) und worin wechselseitige Unterstützung durchaus auch den Charakter einer Verpflichtung annimmt.
Zwei (miteinander verbundene) Charakteristika des Rechts auf Gesundheit sind besonders hervorzuheben:
Erstens handelt es sich dabei um ein inklusives Recht, d.h. dass die Bedingungen von Gesundheit einen integralen Bestandteil dieses Rechts bilden. Gemeint ist damit der Zugang zu sauberem Trinkwasser, sicheren und adäquaten Nahrungsmitteln, Hygiene, adäquate Unterbringung, entsprechende Arbeitsbedingungen, hinreichende Umweltqualität, Sexual- und reproduktive Gesundheit, Gesundheitserziehung und Information sowie Geschlechtergerechtigkeit (UNO 2008, 3). In concreto bedeutet dies, dass sich die Gewährleistung dieses Rechts nicht auf die bloße Gesundheitsfürsorge im engeren Sinn beschränken kann (UNO 2000, 14; WHO 2008, 3).
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die ökonomische Situation, in der sich ein Staat befindet, nur bedingt die Gesundheitspolitik bestimmen sollte; Staaten sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Erfordernissen des Rechts auf Gesundheit entsprechen.
Diese Leistungen im engeren Sinne bezogen auf Prävention, Behandlung und Rehabilitation sind gleichberechtigt und zeitgerecht zugänglich zu machen.
Hier deutet sich an, dass die Verfügbarkeit von Gütern ebenso wie deren Verfügbarmachung eine signifikante Rolle spielen. Im Rahmen der Verfügbarmachung geht es nicht nur darum, ob etwa der politische Wille in einem Staat vorhanden ist, Ressourcen zugänglich zu machen; es ist auch relevant, ob die Bedürfnisse von Individuen und Gruppen hinlänglich sichtbar und anerkannt sind. In den Allgemeinen Bemerkungen zum Recht auf Gesundheit ist festgehalten, dass Diskriminierung bzw. Ungleichbehandlung als solche nicht zwingend offensichtlich sind (UNO 2000, 13). Die Anerkennung von spezifischer Vulnerabilität (und der sich damit verbindenden Bedürfnisse) wie auch der Selbstbestimmtheit von Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit ist offenbar prädeterminiert durch bestehende Strukturen, Praktiken und Verhältnisse. Judith Butlers Begriff der recognizability, den man etwa mit Anerkennbarkeit übersetzen könnte (Butler 2009, 2), gibt ein wichtiges Fundament für das Verstehen dieser Voraussetzungen für die Anerkennung von Vulnerabilitäten, aber auch von Selbstbestimmtheit ab. Dieses Konzept macht deutlich, dass die bisweilen selektive Sichtbarkeit und Verstehbarkeit von Vulnerabilität abhängig ist von einer Art historischem Apriori (vgl. ibid., 6); dafür verwendet Butler – in einer gewissen Analogie zu Rosenberg, wenn auch mit einem anderen Fokus – den Begriff des frame (ibid., 1 u.ö.). In ihrer Auseinandersetzung mit leiblicher Bedürftigkeit und ihrer Anerkennbarkeit unterscheidet Butler ferner zwischen precariousness und precarity (ibid., 3): Unter precariousness versteht sie jene Angewiesenheit, die sozusagen ontologisch ist – niemand von uns kann ein Leben lang ohne Unterstützung durch andere auskommen (Kindheit, Alter, Krankheit und Krisen machen uns alle in gewissen Zeiträumen nicht- oder weniger autonom). Precarity hingegen benennt jene Form der Vulnerabilität, die durch besondere Situationen (Krankheit, Behinderung, Armut etc.) oder auch soziale Rollen (Marginalisierung) konstituiert wird; diese kann Frauen (durch die Kombination von biologischen und soziokulturellen Faktoren [vgl. UNO 2000, 13]) ebenso betreffen wie Menschen mit Behinderung, PatientInnen mit AIDS/HIV, Angehörige von ethnischen Minderheiten innerhalb eines soziokulturellen Kontextes oder Menschen aus bildungsschwachem Milieu. Der besondere normative Anspruch, der sich mit der precarity verbindet, wird nun eben nur explizit, wenn diese besondere Vulnerabilität als solche anerkennbar (geworden) ist, etwa wenn die Vulnerabilität einer sozialen Gruppe im öffentlichen Diskurs explizit oder eine bestimmte Pathologie als Pathologie definiert worden ist. Ein fast schon allzu populäres Beispiel hierfür wäre das sog. AD(H)S, das Aufmerksamkeitsdefizit (und Hyperaktivitäts-) Syndrom; wurden Kinder mit einschlägigen Symptomen (motorische Unruhe, sprunghafte Aufmerksamkeit, Störung des Sozialverhaltens, Angst, Depression etc.; vgl. Klasen et al. 2015) in früheren Jahren meist diszipliniert, so gibt es heute die Möglichkeit, therapeutisch mit diesen Symptomen umzugehen, weil sie als Krankheit „geframed“ sind. Erst dadurch wird diese Erkrankung anerkennbar und dem Recht auf Gesundheit kann zumindest ein Stück mehr genüge getan werden.
Dass sich eine solche Praxis in eine Medikalisierung von unerwünschten Verhaltensweisen bei Kindern übersteigern kann, ist zwar zu erwähnen (wiewohl mittlerweile auch einigermaßen gemeinhin bekannt), geht jedoch über das Thema dieses Aufsatzes hinaus.
Gerade Menschen mit Behinderung oder auffälligem Sozialverhalten haben ferner häufig das Problem, unter „epistemischer Ungerechtigkeit“
Unter epistemic injustice versteht Fricker (2009) entweder die durch ihre soziale Rolle eingeschränkte Glaubwürdigkeit von Individuen (testimonial injustice) oder das Fehlen von adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten für Verletzungen und Diskriminierungen (hermeneutical injustice). zu leiden (Fricker 2007): Ihre Beschreibungen von körperlichen und psychischen zuständen, ihre Willensäußerungen wie auch ihre Stellungnahmen ganz generell werden nicht immer hinreichend berücksichtigt und ernst genommen werden. Auch dies könnte man mit der recognizability von Butler in Verbindung bringen, zumal die soziale Anerkennung von geistig behinderten Menschen als kompetente Subjekte ihres Lebens auf einen historisch gesehen noch jungen Prozess zurückgeht, der – wenn er überhaupt je „abgeschlossen“ sein kann – immer noch in Bewegung ist. Frappierenderweise hat dies auch körperbehinderte Menschen betroffen, die in der allgemeinen Wahrnehmung
Butler unterstreicht mehrfach, dass die Frames, von denen sie spricht, nicht auf der Ebene von Intentionen wirksam sind, sondern schon unsere Wahrnehmungen determinieren (Butler 2009, 29). Insofern liegt hier etwas zunächst und zumeist unseren Intentionen und Entscheidungen voraus. implizit oft auch als eingeschränkt im kognitiven Sinne erschienen sind (vgl. Toombs 2001). Für beide (sehr unterschiedlichen) Personengruppen gilt im übrigen, dass die bis vor wenigen Jahrzehnten noch relative Unsichtbarkeit dieser Menschen und ihrer Bedürfnisse im öffentlichen Raum eindeutig reduziert ist, aber von umfassender Inklusion bei weitem nicht die Rede sein kann.
Zweitens ist relevant, dass das Recht auf Gesundheit – wie alle Menschenrechte – nicht für sich allein steht: „Human rights are interdependent, indivisible and interrelated.“
Bedeutsam scheint jedoch, dass Gesundheit als fundamentales Gut betrachtet wird. Sie ist unerlässlich für die Ausübung bzw. den Genuss aller anderen Menschenrechte (UNO 2000, 1); Gesundheit ist also nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts (vgl. Huth 2011, 182). Damit bildet sie nicht nur das Fundament des bloßen Überlebens, sondern auch des guten Lebens. (UNO 2008, 6) Dies zeigt sich einerseits im Recht auf Gesundheit selbst, das, wie eben angedeutet worden ist, die Bedingungen von Gesundheit integriert und damit auf andere Menschenrechte verweist; dies betrifft insbesondere die Nichtdiskriminierung beispielsweise aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Behinderung. Andererseits finden sich Elemente des Rechts auf Gesundheit bzw. Verweise auf Gesundheit auch in anderen Formulierungen etwa des International Covenant on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination von 1965, der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (1979) oder in der Convention on the Protection of Persons with Disabilities (WHO 2008, 9). Interessant ist dabei die (hier nicht erschöpfend zu beantwortende) Frage, auf welche historischen Ereignisse und/oder auf welche Art der Sichtbarwerdung und Repräsentation diese Formulierungen antworten. Was also waren die historischen Ermöglichungsbedingungen (im Sinne eines historischen Apriori), eine Diskriminierung von Menschen festzustellen, sichtbar zu machen und mit einem (möglichst absoluten) Unterlassungsverbot zu belegen? Greifen wir noch einmal das Beispiel von Menschen mit geistiger Behinderung auf, so denkt man (zu Recht) schnell an die menschenverachtenden Behandlung dieser Individuen im Dritten Reich und ihre Aufarbeitung nach 1945. Aber die Orientierung an diesem summum malum scheint, wiewohl notwendig und wichtig, nicht hinreichend zu sein, um alle Aspekte der Diskriminierung dieser Menschen in den Blick zu bekommen – bloß als Reaktion auf die Gewalt gegen behinderte Menschen im Dritten Reich wären Forderungen wie Inklusion oder Normalisierung nicht hinreichend erklärbar. Die UNO anerkennt aber explizit, dass Menschen mit Behinderung lange marginalisiert und vernachlässigt worden sind in Strukturen, Richtlinien und Praktiken – auch in nichtautoritären politischen und sozialen Zusammenhängen. Gerade deshalb scheint von Bedeutung, dass ein Augenmerk darauf gelegt wird, dass das Recht auf Gesundheit nicht unabhängig von Nichtdiskriminierung, Teilhabe, Autonomie und sozialer Inklusion, Respekt für Andersheit, Fragen der Zugänglichkeit, Chancengleichheit und Achtung für (bzw. auf) sich entwickelnde Fähigkeiten gesehen und behandelt wird (UNO 2008, 16).
Dabei ist gerade die Autonomie dieser Personen – aus historischer Sicht fast unabhängig davon, ob es sich um körperlich, geistig oder mehrfach behinderte Menschen handelt – eine besonders zu beachtende Kategorie. Die tendenzielle oder weitgehende Verobjektivierung dieser Personen in alltäglichen Behandlungspraktiken durch das Fehlen eines informierten Einverständnisses oder in Kulminationspunkten extremer Vernachlässigung, Ausbeutung, erzwungener Sterilisation (nicht nur im Nationalsozialismus; vgl. UNO 2008, 16) oder der radikalen Verdinglichung zu Anschauungsobjekten bei Menschenversuchen zeigt eine besondere Vulnerabilität dieser Bevölkerungsgruppe weniger durch fehlende individuelle Fähigkeiten (wobei dies natürlich auch eine Rolle spielt) als durch (oftmals implizite) marginalisierende Strukturen und Praktiken. Gerade diese Einsicht ist aber auch Anlass und Movens dafür, dass diesen Individuen durch Empowerment-Interventionen Kompetenzen zur Verfügung gestellt werden, die ihnen eine Repräsentation (als selbstmächtige Subjekte mit Rechtsansprüchen) im öffentlichen Raum ermöglicht.
Ferner ermöglicht eine solche Historisierung der Menschenrechte die Perspektive einer immer noch ausstehenden Auseinandersetzung mit Ungleichbehandlung. Gemeint ist hiermit, dass es noch andere als die in den existierenden Formulierungen berücksichtigten Bevölkerungsgruppen (wie auch Individuen) gibt, die einer Diskriminierung ausgesetzt sind, die es womöglich allererst festzustellen und anzuerkennen gilt (Fineman 2008); etwas weiter unten werde ich darauf noch einmal zurückkommen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Struktur, die sich etwa bei Butler (2009) findet, nämlich eine Anerkennung, die immer noch „im Kommen“ ist und einer Logik des futur antérieur unterliegt.
Die nun schon angedeutete Dimension der Autonomie als wesentliches Element des Rechts auf Gesundheit wird im Verlauf der folgenden Reflexionen noch eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich dabei um die Möglichkeit, wirksame Willensäußerungen zu machen oder den Schutz vor Behandlungen, die auf keinem informierten Einverständnis beruhen. Eingriffe, die gegen die Willensäußerung oder ohne Willenserklärung bzw. ohne hinreichende Information der Patientin bzw. des Patienten durchgeführt werden, sind grundsätzlich als nicht menschenrechtskonform anzusehen, weil sie nicht mit der Forderung nach Autonomie kompatibel sind (UNO 2008, 14f.).
Unter Autonomie wird im folgenden – im Anschluss an den alltäglichen Sprachgebrauch – die Selbstbestimmung von Menschen verstanden; es handelt sich also nicht um die Autonomie als praktisch-vernünftige Selbstgesetzgebung, die die Grundlage der Kantischen Ethik bildet. Dabei geht es hier zunächst selbstverständlich nicht darum, dass jemand autonom sein solle, sondern ihre oder seine Autonomie als solche anerkannt sei, wie dies auch Beauchamp und Childress in ihren berühmten Principles of Biomedical Ethics darlegen:
Being autonomous is not the same as being respected as an autonomous agent. To respect an autonomous agent is, at minimum, to acknowledge that person´s right to hold views, to make choices, and to take actions based on personal values and beliefs. Such respect involves respectful action, not merely a respectful attitude. (Beauchamp und Childress 2001, 125).
Eine Überlegung ist im Zusammenhang mit diesen allgemeinen Erwägungen zum Recht auf Gesundheit noch von Bedeutung. Alle bislang genannten Elemente des Rechts auf Gesundheit sind nicht bloß Gegenstand einer Logik, die bloß Übergriffe durch den Staat (etwa in Form von institutioneller Diskriminierung) oder durch Dritte (behandelnde ÄrztInnen, die im Extremfall gar Menschenversuche ohne informiertes Einverständnis durchführen) verhindern soll; dies wäre eine Beschränkung auf ein bloßes Abwehrrecht, die die Möglichkeit einer relationalen, sozial bedingten Autonomie nicht hinreichend berücksichtigen würde. Eine solche Struktur vermutet etwa Roberto Esposito hinter den Begriffen der Person (als normativem Begriff) und den sich damit verbindenden Rechtsstrukturen (Esposito 2011). Dies scheint jedoch nicht in Erwägung zu ziehen, dass (nicht nur) in der Darlegung des Rechts auf Gesundheit die Begriffe respect, protect aber eben auch fulfil (UNO 2008, 26f.) bzw. die Pflichten der Achtung, des Schutzes sowie der Gewährleistung, wie es in der deutschen Übersetzung heißt (vgl. UNO 2000, 19), eine prominente Rolle spielen. Respect meint das bestehen von (absoluten) Unterlassungspflichten, d.h. sozusagen negativen Pflichten. Unter der Kategorie protect werden Regelungen und Maßnahmen subsumiert, die Dritte davon abhalten sollen, die Rechte von Individuen zu verletzen (etwa das Exempel von MedizinerInnen, die Versuche an Menschen ohne deren Einverständnis durchführen). Fulfil schließlich ist bezogen auf die staatliche Verpflichtung, aktiv Mittel zur Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit zur Verfügung zu stellen; damit sind Gesetze ebenso gemeint wie die Bereitstellung von Ressourcen wie einem für alle zugänglichen Gesundheitswesen, Nahrung, sauberes Wasser, Hygiene, Möglichkeiten im Hinblick auf sexuelle bzw. reproduktive Gesundheit oder auch von Informationen. Eine solche Gewährleistungsverpflichtung umfasst das Erkennen von günstigen Faktoren – d.h. eine adäquate Forschungslandschaft –, kulturell angemessene Gesundheitsdienste, Aufklärung und Information sowie das Angebot, bei gesundheitsbezogenen Entscheidungen Unterstützung zu erhalten (UNO 2000, 23). In diesem Zusammenhang kann auch noch einmal auf Beauchamp und Childress verwiesen werden, die die Relationalität der Autonomie in ihrer (medizin-)ethischen Grundlegung anerkennen: „[M]any decisions in health care depend less on respecting autonomy than on maintaining the capacity for autonomy and the conditions of meaningful life“ (Beauchamp und Childress 2001, 126).
Gerade der letzte Punkt zeigt noch einmal deutlich, dass die implizite Anthropologie dieses Menschenrechts keine ist, die das menschliche Individuum als isolierte, selbstmächtige Entität betrachtet, sondern die Bezogenheit menschlich-leiblichen Existierens als Ausgangspunkt dafür heranzieht, eine eventuell bedingte, graduelle oder relationale Autonomie zu berücksichtigen. Damit ist aber auch schon mehr als angedeutet, dass Empowerment eine wesentliche Rolle in der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit spielen kann und muss.
Eine Frage von Anerkennung und Verantwortung
In verschiedenen Dokumenten der UNO bzw. der WHO ist festgehalten, dass der jeweilige Staat verpflichtet ist, responsiv im Hinblick auf die jeweilige precarity zu sein: „[The states] should disaggregate their health laws and policies and tailor them to those most in need of assistance rather than passively allowing seemingly neutral laws and policies to benefit mainly the majority groups“. (UNO 2008, 11)
Selbst in ökonomisch prekären Situationen gibt es eine aufrechte Verpflichtung, schutzbedürftige Mitglieder einer Gesellschaft durch Programme mit vergleichsweise geringem Kostenaufwand zu schützen. Vor allem jene Menschen, die keine ausreichenden Mittel zur Verfügung haben, sollen Zugang zu Krankenversicherung und Gesundheitsfürsorge erhalten (vgl. UNO 2000, 12). Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass diese besondere Form der Vulnerabilität sichtbar und mithin „anerkennbar“ ist. Die generelle Struktur der Anerkennbarkeit ist (auch Butler zufolge) jedoch notgedrungen selektiv; denn eine besondere Aufmerksamkeit auf alle Personengruppen, die vulnerabel sind, würde aufhören, noch eine besondere Aufmerksamkeit zu sein (und der Begriff der precarity an Relevanz einbüßen). Auch Martha Fineman macht darauf aufmerksam, dass der Begriff der „vulnerablen Gruppe“ den entscheidenden Nachteil hat, potentiell selektiv zu sein im Hinblick auf einen Ausschluss von Individuen, die nicht gesondert als vulnerable anerkannt sind (vgl. Fineman 2008). Zwar tragen einige Formulierungen im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit dem Rechnung, etwa wenn „non-exhaustive grounds of discrimination“ aufgezählt werden (Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische Überzeugung etc., vgl. UNO 2008, 7), jedoch zeigt sich damit eigentlich auch, dass eine solche Anerkennung für besonders vulnerable Gruppen und Individuen immer potentiell noch aussteht.
Eine solche Selektivität kann übrigens auch dann vorliegen, wenn medizinisches Handeln sich auf seltene Krankheiten bezieht. Unter dem Schlagwort der neglected diseases werden solche Krankheiten subsumiert, für die es nur unzulängliche, womöglich besonders hochpreisige oder gar keine Therapie (sowie Forschung zum Erlangen einer solchen Therapie) gibt (UNO 2008, 8). Dabei ist zu bemerken, dass Diskriminierung ebenso als Ursache wie als Folge dieser Erkrankungen gelten kann.
Gerade die (strukturelle) Anerkennung ist es jedoch, die den Staat zwar als zentralen, aber nicht alleinigen Akteur bzw. Verantwortungsträger im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit konstituiert. Medizinisches Personal ebenso wie Familien, lokale Gemeinschaften, NGOs sowie Organisationen der Zivilgesellschaft sollen dem Recht auf Gesundheit auf je eigene Weise entsprechen. Ferner werden Wirtschaftsunternehmen als verantwortlich beschrieben (UNO 2008, 30; UNO 2000, 25). Insbesondere private Anbieter sozialer und gesundheitsbezogener Leistungen dürfen nicht gegen das grundlegende Diskriminierungsverbot verstoßen (UNO 2000, 15).
Good governance include accountability of politicians and managers through an information flow to the public, enhanced civil liberties, lower corruption, and increased responsiveness of an institution to public health needs and problems, and reciprocal relationships with a public empowered with greater access to transparent information and control over resources. (WHO 2006, 10)
Dieses reziproke Verhältnis zwischen Politik, Wirtschaft und Institutionen einerseits und einer „ermächtigten“ Öffentlichkeit andererseits, wie es in diesem Passus beschrieben wird, ist jedoch eines, das nicht einfach hergestellt werden könnte und dann Bestand hätte. Es handelt sich vielmehr um ein dynamisches Gleichgewicht (das immer wieder neu zu konstituieren und mithin auch immer in Gefahr ist), zumal sich politische und wirtschaftliche Strukturen ebenso verändern wie Wissensbestände und kulturelle Praktiken. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass es eine merkwürdige Ausblendung gesellschaftlicher Verhältnisse bedeuten würde, „die Öffentlichkeit“ als eine homogene Menge an Individuen zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um ein Netz verschiedener sozialer Gruppen, die unterschiedlichen Zugang zu Information und unterschiedliche Grade an Kontrolle über Ressourcen und ihre Lebensumstände ganz allgemein haben – bis hin zu marginalisierten und (bisweilen sehr subtil) unterdrückten Gruppen, die nicht nur in ökonomisch prekären Umständen leben (vgl. Young 1999, AB 13). Machtlosigkeit gilt als entscheidender Risikofaktor für einen schlechten Gesundheitszustand anerkannt ist (Wallerstein 2002, 72f.) nicht nur wegen des fehlenden oder eingeschränkten Zugangs zu medizinischer Versorgung, sondern auch wegen der fehlenden oder eingeschränkten sozialen Anerkennung und Selbstwirksamkeitserfahrung. Zumal soziale Erfahrungen internalisiert werden und das (förderliche oder schädliche) Selbstverhältnis von Menschen determinieren, muss ein unterstütztes (pädagogisches) Empowerment als entscheidende Gesundheitsressource betrachtet werden. Zugleich ist aber auch festzuhalten, dass bereits im Artikel IV der Erklärung von Ata das Recht auf Gesundheit mit einer eindeutigen Obligation zur Partizipation und Selbstermächtigung korreliert: „Die Menschen haben das Recht und die Verpflichtung, sich individuell und kollektiv an der Planung und Umsetzung ihrer Gesundheitsversorgung zu beteiligen.“ (UN 1978, Art. IV; vgl. auch UNO 2000, 31)
Das Recht auf Gesundheit und die Pflicht zum Empowerment
Für die WHO spielt der Begriff des Empowerment schon seit längerem eine entscheidende Rolle im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit (WHO 1978, 1986). Norbert Herriger bezeichnet den Begriff des Empowerment als Sammelkategorie für Arbeitsansätze in der psychosozialen Praxis, die zur Entdeckung je eigener Kompetenzen ebenso beitragen sollen wie zur (Wieder-) Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie (Herriger 2014, S.70ff.; vgl. schon Rappaport 1987, 122 u.ö.). Damit soll sich der Intention nach einerseits ein Einwirken auf die Fremdwahrnehmung – z.B. geistig behinderter Menschen, aber auch anderer tendenziell nicht zuletzt aufgrund ihrer Marginalisierung vulnerabler sozialer Gruppen – befördern lassen (um einer einseitigen Defizitorientierung – s.u. – entgegenzuwirken), andererseits soll sie auch zu einer Änderung der Selbstwahrnehmung und Steigerung des Selbstvertrauens beitragen. Gerade bei schwerer beeinträchtigen Menschen ist es nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit, sie als autonome Personen und als Rechtsträger wahrzunehmen. Hingegen ist die sog. Defizitorientierung eine subtile, jedoch wirkmächtige Struktur, die sich in Praktiken, Verfahrensweise und selbst in Wahrnehmungen (vgl. Butler 2009, 29) einschreibt und dadurch als ein schwer erkennbares Hindernis der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit für geistig behinderte Menschen darstellt. Jedoch betrifft dies bisweilen auch körperlich eingeschränkte Menschen und generell potentiell marginalisierte Personengruppen wie MigrantInnen, psychische erkrankte Menschen und andere. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Empowerment mit einer Art Paradigmenwechsel assoziiert wird, der von einer Verpflichtung zu Fürsorge und Unterstützung hin zu einem Verständnis des Ermöglichens übergeht. Anstatt also vulnerable Personengruppen als – zugespitzt formuliert – Objekte von Unterstützung und Wohlfahrtsleistung zu begreifen, werden sie als Subjekte der eigenen Lebensgestaltung im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Bedürfnisse verstanden. Eine ähnliche Tendenz findet sich in Martha Nussbaum’s Capability Approach (2006), der etwas unglücklich mit „Fähigkeitenansatz“ übersetzt wird. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Bedürftigkeit und Autonomie vor dem Hintergrund gerechtigkeitsbezogener Erwägungen legt sie einen Katalog an grundlegenden capabilities vor, die eben nicht vorgegebene Fähigkeiten sind, sondern (ggf. durch Empowerment) zu erwerbende Möglichkeiten der Lebensgestaltung.
Die Capabilities bei Nussbaum umfassen: Leben normaler Dauer; Gesundheit; körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft, Denken inkl. selbstgewählter Kulturalität und Religion; Gefühle, emotionale Entwicklung; praktische Vernunft inkl. eigener Auffassung des Guten; Zugehörigkeit so- wie soziale Grundlagen der Selbstachtung; Konfrontation mit anderen Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt im Sinne von politischer Partizipation und von konkreter inhaltlicher Gestaltung (Nussbaum 2010, 112–114).
Nun stellt sich die Frage, worin Empowerment konkret bestehen kann. Empowerment-bezogene Interventionen sind – nicht zuletzt der WHO zufolge – keine allgemeinen Techniken der Befähigung. Da Hürden für Autonomie und den Zugang zu Ressourcen sich in unterschiedlichen sozioökonomischen Kontexten und auch bei unterschiedlichen sozialen Gruppen und Individuen verschieden manifestieren, kann es also keine standardisierten und kontext- bzw. kulturunabhängigen Methoden des Empowerment geben (WHO 2006, 4f.). Dennoch schlägt die WHO einige Eckpunkte einschlägiger Maßnahmen vor: (a) die Verfügbarmachung von Information und Fähigkeiten um bürgerliche Kontrolle über Ressourcen zu ermöglichen, (b) die Unterstützung von kritischem Bewusstsein, einer förderlichen Umwelt sowie eines Gemeinsinnes (sense of community), (c) die Förderung von Gemeinschaft durch die kollektive Einbeziehung in Entscheidungen sowie (d) eine Sensibilität für die Bedürfnisse einer Gemeinschaft wie die Mitglieder derselben sie selbst definieren (ibid., 5). An der Allgemeinheit (und vielleicht Vagheit) dieser Vorschläge wird besonders jene Zurückhaltung deutlich, die eine responsive Grundhaltung gegenüber spezifischen Gruppen und Individuen mit spezifischen Bedürfnissen und Sinnhorizonten verlangt. Als besonders grundlegend stellt sich dabei die Einbeziehung von betroffenen Individuen selbst heraus (vgl. ibid., 9), um dadurch paternalistische Tendenzen ebenso wie Interventionen, die an konkreten Bedürfnissen vorbeigehen, hintanzuhalten: „Citizen participation seems critical in reducing dependency on health professionals, ensuring cultural and local sensitivity of programs, facilitating capacity and sustainability of change efforts, enlisting community stakeholders in program improvement, enhancing the productivity, effectiveness and efficiency of programmes and enhancing health in its own right.” (ibid., 8) Partizipation ist nun wiederum ein Begriff, der keine eindeutige Strategie der Umsetzung impliziert, sondern der einen Prozess markiert, in dem unterschiedliche Involvierte auf je verschiedene Weise eine Rolle spielen. Wichtig ist ferner, dass eine Kontrollierbarkeit oder Vorhersagbarkeit eines solchen Prozesses nicht einfach gewährleistet ist (WHO 2006, 8), wobei jedoch in unterschiedlichen Kontexten zu erheben wäre, woran eine gelingende Teilnahme zu bemessen wäre.
Einfach wäre nun, bloß auf die Wahrnehmung der betroffenen Individuen zu rekurrieren. Wer sich als eingebunden erlebt, ist ja wohl eingebunden. Dem ist in gewisser Hinsicht selbstverständlich stattzugeben, jedoch lauert hinter einer solchen Sichtweise die Gefahr, dass die Anschauungen und wahrgenommenen Bedürfnisse einer sozialen Gruppe selbst korrumpiert sind, ohne dass dies deutlich wird. Wenn Menschen ihre realen Fähigkeiten und Bedürfnisse wie auch die herrschenden Verhältnisse nicht hinreichend einzuschätzen imstande sind, so werden ihre Lebensentwürfe entsprechend hinter oder sozusagen neben ihren Möglichkeiten bleiben.
Der Begriff des Empowerment lässt sich in sich noch einmal differenzieren im Hinblick auf mögliche Adressaten und damit verbundenen Praktiken: Unterschiedliche Fokussierungen werden eingenommen, wenn es darum geht, Gruppenunterstützung, Bildungsmöglichkeiten, Empowerment der Betreuungspersonen, Unterstützung der PatientInnenentscheidung, Änderungen in den Betreuungsangeboten bzw. den Bemühungen um Stellvertretung zu forcieren (WHO 2006, 11). In Anlehnung an Herriger (2014, 85ff.) möchte ich drei Perspektiven von Empowermentprozessen besonders hervorheben, die im Hinblick auf eine strukturierte Auseinandersetzung mit dem Konzept besonders bedeutsam erscheinen.
(a) Empowerment von Individuen (oben angedeutet als Unterstützung der PatientInnenentscheidung) bedeutet, ein Individuum darin zu unterstützen, Kompetenzen und Ressourcen für Selbstvertretung zu entdecken, zu entwickeln und zu nützen. Dies ist einerseits belangvoll im Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen im engeren Sinn, zumal dann etwa konkrete gesundheitliche Probleme, Bedürfnisse und Wünsche besser wahrgenommen und formuliert werden können; schon alleine die Anamnese zur Erstellung einer Diagnose wird dadurch wesentlich erleichtert und dem Recht auf ein jeweiliges Höchstmaß an Gesundheit besser entsprochen. Andererseits ist belegt, dass eine erhöhte Partizipation bzw. Selbstwirksamkeitserfahrung sich positiv auf den Allgemeinzustand auswirkt und weniger oft eine depressive Symptomatik entsteht oder sich selbige bessert (WHO 2006, 10). Ein solches Empowerment kann aber auch eine indirekte Strategie verwenden, als es auch Unterstützungssysteme, Pflegepersonal etc. adressieren kann (vgl. WHO 2006, 14).
Hintergrund und Ziel einschlägiger Interventionen zugleich ist ferner die Anerkennung von Autonomie und das Recht auf Ausübung dieser Autonomie. Auch wenn sich eine solche als relational oder graduell herausstellt, so ist dadurch das genannte Recht darauf in keinster Weise eingeschränkt (Kniel und Windisch 2005, 22). Die Erwähnung dieses Rechts, das dem Recht auf Gesundheit immanent scheint, ist deshalb nicht trivial, weil die Perspektive sozialer Anerkennung offenbar durch die „Ideologie des heroischen Subjekts“ (Herriger 2014, 23) imprägniert ist und Autonomie daher oft binär verstanden wird – entweder eine Person ist autonom im umfänglichsten Sinne oder ihr wird jegliche Autonomie abgesprochen.
Gerade im Kontext neuerer Theorien zur Vulnerabilität wurde auf die Aporien einer solchen Sichtweise hingedeutet. Zumal Kindheit, Alter, Krisen o. dgl. in jedem Leben Angewiesenheit und Einschränkungen von Autonomie bedeuten, ist die Ideologie des heroischen Subjekts nicht mehr als ein Phantasma, jedoch eines, das unweigerlich soziale Ausschlüsse, Paternalismus und Diskriminierung erzeugt. Diese in der Literatur mittlerweile oftmals als ableism (Campbell 2009) bezeichnete Form einer subtilen Diskriminierung ist zwar durch diese Begrifflichkeit expliziter geworden, aber die Debatten um adäquate Formen von Sachwalterschaft und Stellvertretung (Ackermann und Dederich 2011) zeigen, dass hier immer noch große Unsicherheit in den Grenzziehungen zwischen Autonomie, Empowerment und stellvertretender Entscheidung vorliegen.
Dieser ableism qua strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderung gibt drückt sich in fehlender Barrierefreiheit ebenso aus wie im alltäglichen Umgang mit den betroffenen Menschen. Die unsensible Kommunikation buchstäblich über die Köpfe Rollstuhl fahrender Menschen scheint nach wie vor häufig zu sein – frappierenderweise auch im klinischen Kontext (Toombs 2001, 255). Wenn jedoch Kommunikation ein wichtiges Element bzw. auch eine wichtige Ressource für eine gelingende medizinische Behandlung darstellt, folgt daraus natürlich, dass das Recht auf Gesundheit hier (auf eine nicht allzu offensichtliche Art und Weise, aber doch eindeutig) verletzt wird.
(b) Die soziale Gruppe als Adressat von Empowerment-Interventionen erzeugt einen anderen Fokus, der allerdings mit dem der Individuen überlappend erscheint. Nach innen könnte dies Solidarität und wechselseitige Unterstützung fördern (WHO 2006, 10), sodass im günstigsten Fall das relationale Empowerment in einen Prozess der Selbstermächtigung umschlägt. Nach außen hin, so wäre denkbar, verbindet sich damit eine Akkumulation von Energie und eine erhöhte Sichtbarkeit der jeweiligen Gruppe und ihrer Anliegen im Hinblick auf die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit – soziale Bewegungen könnten genau hier ihre Grundlage bzw. ihren jeweiligen Startpunkt finden. Adressaten einer solchen Selbstvertretung auf kollektiver Ebene sind einerseits natürlich staatliche Institutionen, andererseits auch „die Gesellschaft“ und das kollektive Bewusstsein im Hinblick auf die Bedürfnisse von Menschen mit spezifischer Vulnerabilität. Insofern sind auch generelle Normenänderungen und die Wahrnehmung von Gleichheit mögliche Resultate von Empowerment (ibid.).
(c) Empowerment mit Fokus auf Institutionen nimmt gleichsam die entgegengesetzte Perspektive ein. Es geht nun nicht darum, die Vertretung von berechtigten Interessen zu befördern, als vielmehr darum, die Responsivität von Institutionen zu stärken. Damit ist unter anderem gemeint, dass eine gewisse Kenntnis der und Sensibilität für Bedürfnisse und die Situation besonders vulnerabler Menschen grundgelegt und unterstützt wird. Unkenntnis genereller Art kann dazu führen, dass spezifische Vulnerabilität nicht oder nur unzureichend wahrgenommen und daher auch in der institutionellen und politischen Praxis marginalisiert wird (Fineman 2013). Gerade etwa für Menschen mit geistiger Behinderung sind weniger die materiellen als die virtuellen Zugangsschwellen zu Gesundheitseinrichtungen jedweder Art problematisch (etwa wenn Leichter-Lesen-Varianten von Informationen nicht zur Verfügung stehen o.ä.). Die erlebte Asymmetrie (des Ausdrucksvermögen, der sozialen Rollen, der Kenntnisse etc.), an deren unterem Ende sich die betroffenen Menschen zu befinden scheinen, hält viele davon ab, Bedürfnisse und Befindlichkeiten hinreichend und adäquat zum Ausdruck zu bringen. Dies unterminiert einerseits des Zugang zur bestmöglichen Therapie; denn diese hängt wesentlich von einer geglückten Anamnese ab und von der Äußerung je eigener Vorlieben, Ängste, Bedürfnisse usw. Andererseits ist die Autonomie, die ja auf der Artikulation von Wünschen und Vorlieben fußt, selbst dadurch potentiell in Mitleidenschaft gezogen.
Die WHO hat bereits vor einiger Zeit datenbasierte Darstellungen der Effizienz von Empowerment publiziert (WHO 2006). Diese Effizienz ist einerseits dadurch gegeben, dass Menschen direkt davon profitieren, indem sie Sichtweisen und habitualisierte Verhaltensweisen verändern (seien es nun jene Individuen, die Unterstützung in Anspruch nehmen oder jene, die eine solche gewährleisten). Allerdings kann die Wirksamkeit sich andererseits auch indirekt und über den eigentlichen Adressatenkreis hinaus manifestieren, zumal sich durch Empowerment-bezogene Interventionen auch Änderungen innerhalb sozialer Beziehungen der direkt Betroffenen einstellen können (ibid., 13). A forteriori ist dies bei Maßnahmen zum Empowerment von Frauen der Fall, zumal sich eine Verbesserung des Zugangs zu Information ebenso wie eine Verbesserung der Ernährungssituation oder auch des Zugangs zu Gesundheitsfürsorge eindeutig auf die Gesundheit ungeborener Kinder sowie Säuglingen auswirkt (ibid.). Schließlich wäre auch denkbar, dass ein weiterer Kreis davon profitiert, insofern auch in einem weiteren sozialen Kontext ein Wandel von Normen und Perspektiven befördert werden könnten (ibid.).
Allerdings wäre es auch problematisch, die Möglichkeiten von Empowerment zu überschätzen und falsche Hoffnungen und Zielsetzungen zu erzeugen: „There are clearly limits to locally-based or specific population programmes for overcoming political, socio-economic or institutional forces that maintain inequities.” (ibid., 14) Das bedeutet, dass bloße Partizipation nicht hinreichend ist, wenn nicht auch adäquate Voraussetzungen für eine sinnvolle Selbstvertretung und eine Responsivität der relevanten Institutionen garantiert sind. Damit wird deutlich, dass Empowerment keine Technik oder Methode darstellt, die für sich stehend und ohne weitere Begleitmaßnahmen und –umstände Autonomie und die relevanten Voraussetzungen für Gesundheit einfach herstellen könnte. Zwar macht die WHO explizit, dass Empowerment sich als Strategie bezeichnen lässt, durch die herrschende Strukturen und Überzeugungen herausgefordert werden können (was der Begriff power im Konzept Empowerment andeutet, vgl. WHO 2006, 18), jedoch verbindet sich damit die Frage nach dem Grad an Autorität und potentieller Gewalttätigkeit herrschender Eliten und Strukturen (vgl. auch der Begriff der strukturellen Gewalt bei Young 1999). Trotzdem scheinen Partizipation und Demokratie ein tragendes Element der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit darzustellen: „A robust public health, with adequate policies and institutions, is at the same time dependent on truly democratic governance and a demonstration of its adequacy.“ (De Camargo Jr. 2017, 1855)
Empowerment und Soziale Bewegungen
Dem Begriff des Empowerment wurde schon vor fast fünf Jahrzehnten von Paulo Freire in seinem 1970 erstmals erschienen Buch Pedagogy of the Oppressed (Freire 2000) eine genuin aktivische Bedeutung verliehen. Dort heißt es, dass die fundamentalen Säulen von Empowerment in „knowledge in solidarity with action“ (Freire 2000, 38) bestehen; ein in Dialog bzw. Verständigung generiertes Wissen bezieht sich dabei auf herrschende Hürden, Normen und Institutionen, die Teilhabe und Mitbestimmung erschweren oder verunmöglichen. Schon in der bereits erwähnten Erklärung von Alma Ata von 1978 wurde jedoch ausgeführt, dass Partizipation und Gleichstellung von entscheidender Bedeutung sind für Gesundheit.
Während Empowerment auch im heutigen Diskurs oft in Verbindung gebracht wird mit einer relationalen Konstitution von Autonomie der betreffenden Individuen und Gruppen (zumal die einschlägigen Strategien durch pädagogische bzw. unterstützende Maßnahmen umgesetzt werden; vgl. Herriger 2014), ist die soziale Bewegung ein Phänomen, die in einem engeren Sinne Selbstvertretung und Selbstermächtigung (qua Empowerment) zum Ziel hat; der Sozialen Bewegung liegen nicht unbedingt pädagogische Interventionen zugrunde oder voraus.
Es steht hier nicht zur Diskussion, Fremdempowerment und Selbstempowerment gegeneinander auszuspielen oder auch nur trennscharf von einander abzugrenzen. Vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das Relationalität und Sozialität als unhintergehbare Elemente der Existenz anerkennt, würde eine solche Demarkationslinie auch keinen Sinn ergeben.
Dabei geht es anfänglich einmal darum, eine Kollektivität bzw. eine Gruppenidentität durch geteilte Anliegen zu konstituieren: „Soziale Bewegungen haben gemeinsame Ziele, Überzeugungen und Deutungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die kollektives Handeln ermöglichen.“ (Roth und Rucht 2008, 23) Um potentielle MitstreiterInnen zu gewinnen, sind Strategien der (emotionalen) Affizierung oftmals das Mittel der Wahl: „Ohne starke Emotionen und Motive, ohne Moral und Empörung, ohne Mitleid und Solidarität, ohne Zuspitzung und Dramatisierung kommen sie nicht zustande und nicht aus.“ (ibd., 24) Thema einer solchen Emotionalisierung ist oftmals eine je noch ausstehende Sichtbarkeit und Anerkennung von besonderen Vulnerabilitäten und Bedürfnissen. Dies trifft auf die sog. Independent Living Bewegung (s.u.) ebenso zu wie etwa auf die sozialen Bewegungen, die in den 1980ern und 90ern auf die Situation von Menschen mit AIDS/HIV aufmerksam gemacht haben.
Grundsätzlich ist zu erwähnen, dass sie eine gewisse zeitliche Kontinuität sowie eine gewissen Grad an Organisation erfordern, wobei soziale Bewegungen auch niemals straff durchorganisiert sind, wodurch sie keine politische Interessensvertretung oder gar Institution im engeren Sinn darstellen (ibid., 25; Cross und Snow 2012, 522; Kapilashrami et al. 2015, 414). Insofern sind sie prototypische Beispiele für eine Verantwortungsübernahme von BürgerInnen, die komplementär zu staatlicher Verantwortung ist. Außerdem manifestieren sie Formen politischer Partizipation, die prinzipiell außerhalb bestehender Strukturen und Institutionen stattfindet. Dies scheint in dem „trivialen“ Umstand grundgelegt, dass ihr Fokus genau jene Nischen betrifft, die von institutioneller Seite im zeithistorischen Kontext jeweils ausgespart (gewesen) sind (Herriger 2014, 29).
Für unseren Zusammenhang ist nun ein Merkmal von Relevanz, das vielen, aber nicht allen sozialen Bewegungen eignet und im folgenden Zitat zusammengefasst ist:
[S]ocial movements play a major role in highlighting distributional and procedural inequities, are often the organizational carriers of constituent concerns regarding various ‘social problems’, frequently function as visible indicators or outcroppings of emerging social and cultural concerns, and generally provide a ‘voice’ for the adherents and bind them together into highly salient collective identities.” (Cross und Snow 2012, 523)
Soziale Bewegungen stellen daher exemplarische Strategien des Empowerments dar, zumal sie nicht nur Gruppenidentität und Solidarität, sondern auch ein gemeinsames und bisweilen konzertiertes Auftreten gegen Marginalisierung befördern (vgl. Freire 2000, Herriger 2014) und eine Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit spezifischer Anliegen oder von Ungleichbehandlungen fördern und fordern.
Jedoch ist damit noch nichts über die inhaltlichen Ziele ausgesagt, die zwischen dem civil rights movement der 1960er Jahren, der Frauenbewegung oder der Independent-Living-Bewegung und radikal-konservativen oder rechtsextremen Bewegungen sehr stark differieren können; es kann gleichsam nur konstatiert werden, dass es in jeder dieser Bewegungen als solche wahrgenommene Missstände den Boden einer kollektiven Mobilisierung bilden (Cross und Snow 2012, 524). Die implizite Anerkennbarkeit von Bedürfnissen und Vulnerabilitäten in einem soziokulturellen Kontext soll in ihrer Selektivität und Exklusivität explizit werden und dadurch nicht nur zum Thema, sondern veränderbar werden: „Ohne sichtbaren Protest gibt es keine soziale Bewegung. Alltagsroutinen bestätigen den Status quo. Wer mehr und anderes will, muss sich etwas einfallen lassen. Deshalb sind Strategien und Aktionsformen zentral.“ (Roth und Rucht 2008, 26)
Dabei spielen gesundheitsbezogene Bedürfnisse oftmals auch dann eine eminent bedeutsame Rolle, wenn es sich nicht um Soziale Bewegungen mit einem einschlägigen Fokus im engeren Sinne handelt. „Because health concerns are so pervasive throughout society, people are more likely to focus many grievances through the lens of health.“ (Brown und Zavestoski 2004, 685) Als konkretes und wohl auch äußerst prominentes Beispiel nennt Hofmann die civil rights movements: „For many civil rights activists, the fight against segregation was inseparable from demands for national health care.“ (Hofmann 2003, 80)
Es ist aber auch noch darauf hinzuweisen, dass soziale Bewegungen nicht nur von ihrer eigenen Mobilisierungskraft abhängen, sondern auch von politischen und sozialen Strukturen, die hemmend oder begünstigend sind (Cross und Snow 2012, 525). Dies bedeutet, dass einerseits die politischen Verhältnisse und institutionelle Strukturen, in denen eine soziale Bewegung sich für Anliegen einsetzt, die unter die Forderungen des Rechts auf Gesundheit subsumiert werden können, den Erfolg prädeterminieren. Andererseits sind soziale Bewegungen eingebettet in diskursive Felder, die den Bedeutungshorizont bzw. Möglichkeitshorizont dieser Bewegungen prädeterminieren: „[T]he concept of discursive fields (…) conceptualizes an aspect of the context in which discourse and meaning-making processes, such as framing and narration, are generally embedded.” (ibid., 532)
Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass soziale Bewegungen nicht zwingend in politischer Änderung (und der damit einhergehenden Änderung von rechtlichen Rahmenregelungen) ihre Ziele erfüllt sehen, sondern evtl. auch im Wandel von Atmosphären, des common sense oder allgemeiner Praktiken – d.h in Veränderungen der Struktur jener recognizability/Anerkennbarkeit bzw. frames, von denen oben schon mehrfach die Rede. Wenn nun jedoch, wie bereits angedeutet, die Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit sich gerade nicht auf die Ebene staatlicher Institutionen und Strukturen beschränken lässt, so finden wir auch in diesem „kulturellen Wandel“ (vgl. ibid., 535) einen entscheidenden Beitrag zur Umsetzung dieses Menschenrechts. Dadurch wäre also denkbar, dass auch oberflächlich betrachtet wenig erfolgreiche Bewegungen sich als effektiv herausstellen – nämlich dann, wenn sie die subtilen Strukturen der Anerkennbarkeit verändern und ein kollektives Bewusstsein für Bedürfnisse und Formen der Vulnerabilität schaffen, die bislang nicht oder nicht zureichend anerkannt waren.
Soziale Bewegungen mit explizit gesundheitsbezogenen Zielsetzungen finden sich nicht erst im 20. Jahrhundert (einem zeithistorischen Kontext, der für soziale Bewegungen offensichtlich sehr fruchtbar war, denkt man allein an das civil rights movement in den USA); das Phänomen lässt sich schon bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen (Brown und Fee 2014, 386). Schon von Anbeginn an waren dieselben orientiert an dringenden, jedoch in der Wahrnehmung der ProtagonistInnen nicht hinreichend anerkannten Bedürfnissen besonders vulnerabler sozialer Gruppen. Kinder stehen an den historischen Anfängen wenig überraschend sehr oft im Fokus (Brown und Fee 2014, 388), was übrigens auch mit Philippe Ariès’ berühmter These korreliert, dass die Kindheit als eigenes Lebensalter (mit spezifischer Vulnerabilität, wie wir hinzufügen) erst in der Moderne entdeckt worden sei. Dies würde auch den genannten Hinweis bestätigen, dass politische und a forteriori soziale Strukturen (der Anerkennung) die Grundlage für Konstitution und Wirkmacht von sozialen Bewegungen bilden.
Bevor ich mich auf zwei konkrete Beispiele sozialer Bewegungen konzentriere, die gesundheitsbezogene Anliegen vertreten und damit das Recht auf Gesundheit zur Manifestation und Umsetzung verhelfen, möchte ich noch kurz verdeutlichen, worin denn eigentlich generell die Wirkmacht solcher Bewegungen gesehen wird. Ich habe schon mehrfach auf die Änderungen in der strukturellen Anerkennbarkeit von gesundheitsbezogenen Bedürfnissen gesprochen. Allerdings scheint damit diese Wirkmacht noch etwas unterkomplex und zu oberflächlich dargestellt. Einschlägig forschende Soziologen wie Brown und Zavestoski sehen die Auswirkungen sozialer Bewegungen zwar einerseits ebenfalls in dieser Konstitution sozialer Sichtbarkeit und Responsivität, jedoch auch in konkreteren Maßnahmen und Veränderungen bis hinein in relativ gesonderte Bereiche unserer Lebenswelt – wie etwa den Forschungsbetrieb:
„First, they produce change in the health care and public systems, both in terms of health care delivery, social policy and regulation. Second, they produce changes in medical science, through the promotion of innovative hypotheses, new methodological approaches to research and changes in funding priorities. Third, health social movements produce changes in civil society by pushing to democratize those institutions that shape medical research and policy-making (…).” (Brown und Zavestoski 2004, 687)
Es ließe sich also behaupten, dass soziale Bewegungen nicht nur die generelle Aufmerksamkeit für spezifische gesundheitsrelevante Anliegen befördern, sondern auch das Gesundheitssystem im engeren Sinn sowie sogar die biomedizinische Forschung (ibid., 689). Da auch der Forschung im Rahmen des Rechts auf Gesundheit eine eminente Bedeutung eingeräumt wird, kann auch in dieser Hinsicht den sozialen Bewegungen eine vielleicht bisweilen subtile, jedoch entscheidende Rolle in der Umsetzung zugeschrieben werden.
Ein „klassisches“ Beispiel für soziale Bewegungen mit Relevanz für die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit ist die Independent Living Bewegung, die – eingebettet im Kontext von Bürgerrechtsbewegung, Selbsthilfebewegung, Verbraucherbewegung, Bewegung für Entmedizinisierung sowie die Bewegung für Deinstitutionalisierung, Normalisierung und Mainstreaming – das Empowerment für behinderte Menschen entscheidend vorangetrieben hat. Noch bis ins 21. Jahrhundert hinein gibt es Ausläufer eines Verständnisses von Behinderung, das einen Umgang mit den betroffenen Menschen in traditionellen medizinischen Rehabilitationssystemen vorsieht (vgl. De Jong 1983).
In Wien lebten beispielsweise noch bis vor wenigen Jahren einige geistig und mehrfach behinderte Menschen innerhalb des Sozialmedizinischen Zentrums Baumgartner Höhe; sie verbrachten dort also keine temporären stationären Aufenthalte, sondern hatten ihren Lebensmittelpunkt innerhalb der Struktur eines Krankenhauses mit psychiatrischem Schwerpunkt. Dies war (und ist zum Teil noch immer) eine entscheidende Einschränkung vor allem im Hinblick auf Selbstbestimmung. Aber auch was die Diskurse und Praktiken innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen anbelangt, ist eine Exklusion von behinderten Menschen bzw. eine eingeschränkte Anerkennung als Rechtsträger immer noch ein Problem. Jedoch war es nicht zuletzt aufgrund der Independent Living Bewegung, die hier entscheidende Fortschritte befördert hat.
Ab den 1960er Jahren waren es zunächst die sog. Rolling Quads, im Rahmen derer v.a. (zum Teil hochgradig) körperbehinderte Menschen im Rahmen von Demonstrationen auf sich und ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten aufmerksam machten, aber durch dieses fundamentalen Empowerment auch auf die generelle Selbstwahrnehmung dieser Menschen Einfluss nahmen: „[The Rolling Quads] realized that we could change some things. First we needed to change our own attitudes about ourselves. (...). And go out and change things for others and ourselves“ (Ed Roberts zit. nach medium.com). 1972 wurde das erste Centre for Independent Living in den USA etabliert, ab 1981 kam es zu Verbreitung in Europa; 1986 etwa wurde das erste in Deutschland eröffnet, 1994 entstand auch eines in Österreich. Ziel dieser Einrichtung ist es einerseits, informelle Hilfe (nicht nur) in gesundheitsbezogenen Fragen anzubieten und ein Forum für peer support/peer counselling (Beratung durch ExpertInnen in eigener Sache, s.o.) anzubieten. Die an diese Bestrebungen anknüpfende Behindertenbewegung als ganze versucht aber andererseits auch eine Interessensvertretung nach außen zu bewerkstelligen; gemeint ist hier in erster Linie ebenfalls eine Unterstützung der Anerkennbarkeit der betroffenen Menschen durch Inklusion, Normalisierung und Partizipation.
Schließlich möchte ich noch kurz auf das People’s Health Movement eingehen. Dies ist eine vergleichsweise neue soziale Bewegung, die ihre erste Zusammenkunft 2000 (nach etwa einem Jahr Mobilisierungsarbeit) in Bangladesch abgehalten hat (vgl. Kapilashrami et al. 2016, 414). Das Ziel dieser Bewegung ist nicht im eigentlichen Sinne neu zu nennen; es geht um eine Revitalisierung bzw. eine Refokussierung auf jene Anliegen, die schon 1978 in Alma Ata diskutiert worden sind und seither in immer neuen Anläufen spezifiziert worden sind (z.B. in der Ottawa Charta 1986). Es geht einmal mehr um die Umsetzung einer Gesundheitsversorgung, die nicht erst bei medizinischen Einrichtungen beginnt, sondern bei den Bedingungen von Gesundheit (s.o.). Für diesen Aufsatz stellt das People’s Health Movement aus folgenden Gründen ein sprechendes Beispiel für die Rolle sozialer Bewegungen im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit dar: Erstens handelt es sich um eine soziale Bewegung par excellence – es ist eine relativ organisierte, aber nicht durchorganisierte Bewegung von betroffenen Menschen, die sich auf internationaler Ebene etabliert hat. Zweitens ist das Anliegen eines, das immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss. Der Prozesscharakter der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit wird damit einmal mehr deutlich; der, oberflächlich betrachtet, alten Forderung nach Partizipation und gerechter Ressourcenverteilung wird im zeitgenössischen Kontext neu Ausdruck verliehen. Drittens wird durch diese Bewegung versucht, Anliegen und Vulnerabilitäten sichtbar und anerkennbar zu machen. Es geht weniger um die Forderung von kleinteiligen Maßnahmen als um die grundlegende Haltung, die sich in politischen Entscheidungen und sozialen Strukturen manifestieren soll (vgl. auch Kapilashrami et al. 2016, 414).
Conclusio
Das Recht auf Gesundheit betrifft das Gesundheitssystem mit seinen Einrichtungen, die Verteilung der darin zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber auch die Grundbedingungen von Gesundheit (sauberes Wasser, Nahrung, adäquate Unterkünfte, Sanitäranlagen, hinreichende Information usw.). Dabei scheint es aber so zu sein, dass die Umsetzung dieses Rechts besondere Formen der Bedürftigkeit und Vulnerabilität berücksichtigen muss, um den darin enthaltenen Forderungen gerecht zu werden; sehr oft muss es – durch Empowerment und das Engagement sozialer Bewegungen – um die grundsätzliche Sichtbarkeit und Anerkennbarkeit (vgl. Butlers Begriff der recognizability) dieser Vulnerabilität(en) gehen, um die gesellschaftliche Solidarität zu konstituieren, die es braucht – denn eine bloß staatliche Verantwortung würde dem Recht auf Gesundheit nicht genüge tun können.
Diese Solidarität betrifft nicht nur besondere Aufwendungen etwa für Kinder, behinderte Menschen, oder MigrantInnen, sondern auch die Konstitution bzw. Aufrechterhaltung einer Autonomie, die dann als relationale Autonomie nicht weniger Achtung verdient als eine „reine Autonomie“ (die ohnehin ein Phantasma darstellt). Insofern ist das Empowerment der betreffenden sozialen Gruppen Teil der Umsetzung des Rechts auf Gesundheit; dies wurde auch mit Nussbaum’s Capability Approach verdeutlicht.
Zu erwähnen bleibt jedoch, dass eine solche Anerkennbarkeit immer im Prozess bleibt und keinen fixen Erwerb darstellt. Dies besagt einerseits, dass sie immer wieder aufs Neue gestiftet werden muss (vgl. das People’s Health Movement, das „jahrzehntealte“ Forderungen neu aufgreift) bzw. durch die UNO (etwa mittels Special Rapporteur; vgl. WHO 2008, 31f.) überprüft und überwacht werden muss. Andererseits ist es jederzeit möglich, dass Empowerment und soziale Bewegungen die Möglichkeit schaffen, neue Vulnerabilitäten anzuerkennen und die entsprechende Solidarität zu erzeugen. Insofern bleibt die Anerkennung von Vulnerabilität als strukturelle Umsetzung des Rechts auf Gesundheit immer „im Kommen“.
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