Titelthema | Kulturerbe Europas – Mobilität
Auf schwankendem Grund: Moorwege
Über Jahrtausende prägten Moore die Landschaften Nordwesteuropas. Sie entstanden
mit der allmählichen Wiedererwärmung am Ende der letzten Eiszeit und dehnten
sich immer weiter aus. Vor Beginn der Entwässerung und Kultivierung im 18. Jh. war
der Norden Niedersachsens zu einem Drittel von Mooren bedeckt. Mobilität hieß:
Moore überwinden!
Von Marion Heumüller und Anke Matthes
M
oore zwangen die Bewohner
in den vergangenen Epochen,
sich den dort herrschenden
Bedingungen anzupassen. Davon zeugt
ein breites Spektrum menschlicher Hinterlassenschaften, die sich im Gegensatz
zu anderen archäologischen Funden
meist durch eine hervorragende Überlieferung organischer Substanzen auszeichnen. Holz, z. B. ganze Einbäume,
Wolle, Leder, Haut und Haare bleiben
aufgrund des sauren, anaeroben und
wassergesättigten Milieus im Moor erhalten. Daher ist das Fundspektrum ausgesprochen vielfältig. Es umfasst Siedlungen und Lagerplätze, verloren gegangene oder absichtlich deponierte Ge-
28
Archäologie in Deutschland 1 | 2018
genstände und sogar menschliche Überreste, die so genannten Moorleichen. Einige Funde sind 10 000 Jahre alt. Darüber
hinaus kennen wir zahlreiche Zeugnisse der Mobilität im Moor: Wege gebaut
aus Holz.
Vom Neolithikum bis zur Neuzeit
über 500 Wege
Moorlandschaften umfassten oft riesige Gebiete, im Extremfall bis zu 360 km2.
Das war nicht nur ein unwirtlicher, zum
Siedeln wenig geeigneter Lebensraum,
sondern stellte auch ein erhebliches
räumliches Hindernis dar. Nur über Wege, die aus Holzkonstruktionen bestanden, konnte es den Menschen gelingen,
Rechte Seite: Der Bohlenweg Pr 6 zwischen
Diepholz und Lohne
datiert in die Jahre
56 bis 43 v. Chr. Eine
Teilstrecke wurde 2011
ausgegraben.
Der älteste Moorweg Europas wird
in die Jahre 4629 bis
4545 v. Chr. datiert.
Das stabile Bauwerk
hat man im Neolithikum mehrmals repariert.
die ausgedehnten Moorflächen zu überqueren, neue Räume oder im Moor gelegene Geestflächen zu erschließen und
bestehende Siedlungskammern miteinander zu verbinden. Moorwege aus
Holz machen daher einen großen und
charakteristischen Teil der archäologischen Fundstellen in Niedersachsen aus
und sind eine eigene, sehr spezielle
Denkmalgruppe: Kaum eine andere archäologische Fundkategorie steht in solchem Maße für Bewegung, Dynamik
und Veränderung. Gleichzeitig sind diese Wege eine bedeutende Quelle für die
Verkehrsgeschichte. Wege durchs Moor
wurden von der Jungsteinzeit bis zur
Neuzeit angelegt – über 500 hat man in
Niedersachsen gezählt. Etwa 350 datieren in die Vorgeschichte und sind fast die
einzigen Wegebauten, die wir aus dieser
Zeit kennen.
Auch in anderen moorreichen Regionen Nordwesteuropas finden sich solche Wege – doch Niedersachsen kann
mit einigen Besonderheiten aufwarten,
zumal die Forschung hier auf eine lange
Tradition zurückblickt. Erste Berichte
stammen aus dem 17. Jh. Gegen 1890
brachten die Kartierungen und Konstruktionszeichnungen des preußischen
Kreisbauinspektors der Grafschaft Diepholz Hugo Prejawa enormen Erkenntniszuwachs. Ab Anfang der 1950er Jahre beschäftigte sich Hajo Hayen als Mitarbeiter des Landesmuseums für Natur
und Mensch Oldenburg mit der Erfassung, Ausgrabung und Dokumentation
der durch Torfabbau und Kultivierungsmaßnahmen immer stärker gefährdeten
niedersächsischen Moorwege. Bis zu seinem Ruhestand 1988 führte er zahlreiche Untersuchungen durch. Maßgebliche Erkenntnisse zur Konstruktion der
Wege, zu Verkehrsgeschichte und Fahrzeugtechnik gehen auf ihn zurück. Sein
Nachfolger, Alf Metzler, hat sich zusammen mit Andreas Bauerochse am Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege vor allem auf die Wege des
Campemoors und die damit einhergehenden siedlungsgeografischen, paläoökologischen und klimatologischen Fragen konzentriert.
Am Beginn stand die Sesshaftigkeit
Anhand einiger gut untersuchter Beispiele lassen sich die wesentlichen Entwicklungslinien der vorgeschichtlichen
Wege umreißen: Der Bau massiver Wegkonstruktionen reicht offenbar weit über
6000 Jahre zurück. Im Campemoor im
westlichen Dümmerbecken wurde mit
dem Pr 31 der älteste Moorweg entdeckt,
der überhaupt bekannt ist. Dendrochronologische Analysen ermöglichen es,
den Zeitpunkt der Erbauung und mehrere Reparaturphasen zu bestimmen.
Der Weg wurde 4629 v. Chr. eingerichtet und bis 4545 v. Chr., also mehr als sieben Jahrzehnte, immer wieder repariert.
Die wenigen Funde machen Angehörige der Swifterbant-Kultur als Erbauer
wahrscheinlich: Diese Menschen vollzogen den Übergang vom Dasein als Jäger und Sammler zur sesshaften, bäuerlichen Lebensweise.
Steinzeitliche Wege waren meist relativ einfach konstruiert. Auf mehreren
Längsunterzügen – die Anzahl richtete
sich nach dem Untergrund – wurden als
Belag meist 2,5 bis 3,5 m lange Rundhölzer quer verlegt. Verschiedentlich
wurden feuchtere Stellen zusätzlich mit
Knüppeln oder Strauchwerk befestigt.
Ganz offensichtlich fuhren auf diesen
holprigen Wegen auch Wagen, wie Achsen belegen, die bei Ausgrabungen der
Wege Pr 7 und Le 15 in den Landkreisen Diepholz und Aurich entdeckt wurden. Zusammen mit verhältnismäßig
großen einteiligen Scheibenrädern gehörten sie zu schweren, vierrädrigen Wagen mit Spurweiten zwischen 140 und
155 cm. Sie datieren in die Zeit zwischen
3000 und 2500 v. Chr. und zählen damit
zu den ältesten Nachweisen von Fahrzeugen in Nordeuropa – nur wenige Jahrhunderte jünger als die ältesten Belege
für Wagenverkehr im Vorderen Orient.
Offenbar verfügten auch die bäuerlichen
Gesellschaften in Nord- und Mitteleuropa über die technischen und kulturellen Voraussetzungen für den Bau von Wagen. Rinder als Zug- bzw. Arbeitstiere
waren zu dieser Zeit ebenfalls verfügbar.
Aufwendige Wegebauten in der
Bronzezeit
Entscheidende bautechnische Neuerungen werden in der Bronzezeit fassbar.
Beim Weg Ip 36 im Moor südlich von VaArchäologie in Deutschland 1 | 2018
29
Titelthema | Kulturerbe Europas – Mobilität
rel im Landkreis Friesland (1358 v. Chr.)
wurden die Unterzüge streckenweise mit
Pfeilern gestützt und für den Belag gespaltene Eichenbohlen verwendet. Die
Vorteile der Spaltbohlen gegenüber
Rundhölzern liegen auf der Hand: Die
Oberfläche war vergleichsweise eben und
der Materialverbrauch blieb geringer.
In der späten Bronze-und frühen Eisenzeit kamen ausgefeilte technische
Wegkonstruktionen hinzu, die mittels
senkrechter Pfeiler und längs gerichteter
Spannhölzer über weite Strecken als zusammenhängende, brückenartige Holzbauwerke konzipiert waren. Paradebeispiel hierfür der durch das Ipweger Moor
führende Ip 12, der mit rund 6,5 km als
längster Bohlenweg Nordwestdeutschlands gilt.
Aufwendig konstruierte brückenartige Abschnitte wechseln sich mit Bereichen ab, bei denen die Holzbohlen des
Belags mit Pflöcken im Untergrund fixiert wurden. Dendrochronologische
Untersuchungen ergaben, dass diese aufwendig konstruierten Wege mehrheitlich in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr.
gebaut und zum Teil einige Jahrzehnte
instandgehalten wurden.
Derart aufwendige Techniken sind
aus späteren Jahrhunderten nicht mehr
nachgewiesen. Weiterhin wurden die
Wege aber meist aus Bohlen konstruiert,
die durch Pflöcke im Moor fixiert wurden. Einer dieser Wege verläuft zwischen
Diepholz und Lohne und durchquert
dort einen langgestreckten Moorkomplex. Der dendrochronologisch von 56
Die Wege wurden mit Bezeichnungen
versehen, die sich aus einem Buchstabenkürzel und einer laufenden Nummer
zusammensetzen. Das Kürzel steht für die
Fundregion oder einen Forscher:
Le – Lengener Moor
Ip – Ipweger Moor
Pr – Prejawa nach dem verdienten
Forscher Hugo Prejawa
Zugespitzte Bohlen
wurden als Pfeiler in
den Untergrund getrieben. Das obere Ende ist
rechteckig ausgespart.
Durch die Aussparung
wurden oben und unten Längshölzer geschoben, zwischen denen man die quer verlegten Bretter des Belags verkeilte.
Rad aus dem Teufelsmoor bei Gnarrenburg.
Das einteilige Scheibenrad wurde aus der
Spaltbohle eines
mächtigen Eichenstammes herausgearbeitet.
bis 43 v. Chr. datierte Bohlenweg Pr 6 ist
rund 4 km lang und unterscheidet sich
durch seine sorgfältige Konstruktion von
den meisten niedersächsischen Moorwegen. Darüber hinaus wurden hier besonders viele und zum Teil ungewöhnliche Funde geborgen – u. a. unterschiedliche Radtypen sowie aufwendig geglättete und geschnitzte Holzstäbe, die man
vermutlich zum Messen verwendete.
Schmale Pfade und breite Straßen
Bis heute sind allein aus dem nördlichen Dümmerbecken 20 Bohlenwege
aus der Zeit zwischen 3000 v. Chr. und
dem 3. Jh. n. Chr. bekannt. Die enorme
Dichte erklärt sich aus der geografischen
Lage und Größe des vermoorten Dümmerbeckens, das sich in nordsüdlicher
Richtung über eine Länge von rund
40 km erstreckte, von Westen nach Osten aber nur etwa 2 bis 4 km breit ist. EiAchsen vom neolithischen Weg
im Landkreis Diepholz. Auf den
Achsschenkeln waren Holzräder
befestigt, fixiert zwischen Stoßring
und Achsnagel. Der Wagenkasten
war wahrscheinlich mittig mit einem
Holznagel verbunden und seitlich
durch Lederschnüre am Aufbau
befestigt.
30
Archäologie in Deutschland 1 | 2018
denkt man, dass selbst im Mittelalter der
Bau von Straßen und ihre Instandhaltung vielfach kaum zu bewältigende Probleme darstellten, kann man diese Leistung kaum hoch genug einschätzen.
Bislang hat man den genauen Verlauf der postulierten Fernwege noch
nicht zu rekonstruieren versucht. Ebenso wenig wurden mögliche zeitgleiche
Siedlungen und andere Fundstellen zu
den Moorwegen in Beziehung gesetzt. In
den meisten Publikationen werden die
Moorfunde isoliert betrachtet.
Namen für die Moorwege
ne Kartierung des nördlichen Dümmerbeckens zeigt, dass man die meisten Wege gezielt an der schmalsten Stelle des
Moores anlegte. Auf einem Luftbild erkennt man jedoch auch, wie gefährdet
diese Denkmalgattung ist: Die meisten
Wege dürften heute als Folge von Torfabbau und Landwirtschaft zerstört sein.
In Niedersachsen gibt es relativ viele
stabil gebaute, 2 bis 3 m breite Wege, die
Fahrstraßen teils durchaus ähneln und
deren Konstruktion einen beträchtlichen Materialaufwand erforderte. Rund
ein Viertel der Moorwege gehört zu dieser Kategorie. Den weitaus größeren Teil
machen schmale Fußwege aus. Ihre Bauweise reicht von mit Reisigbündeln befestigten Pfaden zu Stegen oder Dämmen aus Rundhölzern oder Spaltbohlen.
Wie Hayen bei seinen Untersuchungen
im Ipweger Moor feststellte, hatten solche Fußwege meist nicht das Ziel, ein
Moor zu überqueren. Größtenteils überbrückten sie lediglich den nassen Randhang und führten auf die Hochmoorfläche. Ihr Zweck, ihre Datierung sowie
die Beziehung der Wege zu Siedlungen,
Gräbern und Einzelfunden sind erst in
Ansätzen bekannt.
Lokale Verbindung oder
Fernverkehr?
Überhaupt waren die Gründe für den
Bau von Moorwegen vielgestaltig, wie
die verhältnismäßig gut erforschten
Moore des Dümmerbeckens exempla-
risch veranschaulichen. Gerade die Deutung der breit und stabil angelegten Wegetrassen ist umstritten. Paläoökologische Untersuchungen im Umfeld des
westlichen Dümmerbeckens, des Campemoors, zeigten, dass die Bohlenwege
in einer Landschaft angelegt wurden, die
durch den Wechsel von vermoorten Senken mit kleinen Seen oder Tümpeln sowie von erhöhten, trockenen Sandflächen mit Eichen und Kiefernbeständen
gekennzeichnet war. Sie wurden vor allem in Phasen ansteigenden Grundwasserspiegels bzw. zunehmender Vernässung der Moore gebaut. Die Auswertung
der Pollenprofile ergab zugleich, dass
bereits mit dem ältesten Moorweg typische Siedlungsanzeiger zu fassen sind.
Mit Beginn des verstärkten Hochmoorwachstums im 3. Jt. wird auch der Wegebau eingestellt, zugleich nehmen Siedlungsanzeiger deutlich ab; offenbar wurden die Siedlungen weg vom Moor auf
höher gelegene trockene Standorte verlagert. Hier scheint die Anlage der Wege also unmittelbar mit der Nutzung der
Niedermoorlandschaft bzw. ihres Umfelds verbunden zu sein.
Ganz anders stellt sich die Situation
im nördlichen Dümmerbecken dar. Die
hier entdeckten Wege durchquerten die
Hochmoore über eine Länge von 2 bis
4 km. War es ihr Ziel, den weit ins Moor
ragenden Mineralbodensporn, die Lindloge, als bevorzugte und geschützte Siedlungs- und Wirtschaftsfläche zu erreichen, oder bildeten sie Teile vorgeschichtlicher Wege- und Handelsnetze,
ja sogar befahrener Fernwege, wie Hayen vermutete? Sind sie im Zusammenhang mit den täglich anfallenden Transportaufgaben einer bäuerlichen Gemeinschaft zu sehen oder wurden Handelsgüter transportiert? In jedem Fall
ist der hinter ihrer Konstruktion stehende logistische Aufwand enorm. Be-
Bohlenwege im Großen Moor zwischen
Diepholz und Lohne,
einem der fundreichsten Moorgebiete Niedersachsens. Infolge
von Torfabbau (braune Flächen) und Landwirtschaft dürfte der
größte Teil zerstört
worden sein.
Digitale Erfassung ermöglicht neue
Forschungsansätze
Heute stehen uns mit der GIS-gestützten Denkmaldatenbank ADABweb
effektive Methoden zur Verfügung, um
zeitgleiche Fundstellen kleinräumig und
großräumig herausfiltern und siedlungsgeografische Schlüsse zu ziehen.
Eine Voraussetzung hierfür war die
Übertragung des bislang analog geführten Moorweg-Katasters in die ADABweb. Die nun fertiggestellte Kartierung
erlaubt jetzt einen Überblick über die Lage und den Verlauf der Moorwege sowie ihre Konzentrationen. Zugleich
macht sie deutlich, in welchen Regionen es noch Potenzial für weitere Forschungen gibt. Mit Sicherheit zerstörte
Wege häufen sich als Folge des Torfabbaus vor allem im Regierungsbezirk Oldenburg. Doch auch von den nicht als
zerstört markierten Wegen dürfte nur
noch ein kleiner Teil existieren, da die
Moore heute meist entwässert sind und
landwirtschaftlich genutzt werden.
Künftig sollten neben der Erforschung und siedlungsgeografischen
Analyse der Fundstellen die Erhaltung
dieser Bodendenkmale überprüft, eine
systematische Überwachung aufgebaut
und wo möglich Schutzzonen geschaffen werden.