Gerechtigkeit in der GegenwartskunstRestitution ist nicht
genug
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Wann sollten Museen Kunstwerke restituieren – und wann verkaufen? Die Restitution
von kolonialem Raubgut zur Korrektur historischer Ungerechtigkeiten wird derzeit rege
diskutiert. Doch der Aspekt, vergessenen oder ignorierten Kunstwerken ihren Platz in
der Kunstgeschichte zuzugestehen, kommt in der Debatte immer noch zu kurz.
Aber kann man es rechtfertigen, Werke lebender oder erst kürzlich verstorbener
Künstler zu verkaufen, um solche Werke in die Sammlung zu bringen?
Julia Pelta Feldman ist Doktorandin am Institute of Fine Arts, New York University. Sie
lebt aktuell in Berlin und ist assoziierte Wissenschaftlerin am Institut für Kunst- und
Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist USamerikanische Kunst der 1960er und 1970er Jahre. Als Kritikerin beschäftigt sie sich mit
Ungerechtigkeit und Politik in der Kunstwelt.
Im November 2018 veröffentlichten die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der
Ökonom Felwine Sarr ihren vieldiskutierten Bericht zur Restitution von Kulturgütern.
Darin forderten sie die französischen Nationalmuseen auf, Kunstgegenstände
zurückzugeben, die entweder geplündert worden oder zumindest auf ethisch
fragwürdige Weise aus den Kolonialgebieten Afrikas nach Frankreich gelangt sind. Dass
ihre Arbeit von Emmanuel Macron in Auftrag gegeben worden war, zeigt, wie ernst man
dieses Thema heute nimmt, auch wenn die meisten Länder, die im Besitz solcher Objekte
sind – Frankreich eingerechnet – nur zögerlich handeln. Obwohl Deutschland sich bereits
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seit Jahrzehnten darum bemüht, unter den Nationalsozialisten gestohlene Kunstwerke
aktiv zu restituieren, beginnt man hierzulande erst langsam, der eigenen kolonialen
Vergangenheit ins Gesicht zu sehen. Savoy, Professorin für Kunstgeschichte an der
Technischen Universität Berlin, ist in der deutschen Museumswelt für ihre Streitbarkeit
bekannt: 2017 trat sie aus dem Beirat des Berliner Humboldt-Forums aus und verwies
auf die mangelnde Bereitschaft des Trägers, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die
Herkunft seiner wertvollen ethnologischen Sammlung zu untersuchen:
„Ich will wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft“, sagte sie in einem Interview
mit der „Süddeutschen Zeitung“.
Erwerb war oftmals mit Ausübung von Gewalt verbunden
Savoy ist nicht allein in ihrem Bestreben, mehr über deutsche Sammlungen und deren
Herkunft in Erfahrung zu bringen. Im Juli 2019 veröffentlichte der Deutsche
Museumsbund, die Interessenvertretung der deutschen Museen, den zweiten Entwurf
seines offiziellen Leitfadens zum „Umgang mit Sammlungen aus kolonialen Kontexten“.
Darin fordert er unter anderem mehr Mittel und Personal zur Provenienzforschung. Der
erste Entwurf, der im Mai 2018 veröffentlicht wurde, ist sich des grundsätzlichen
Problems bewusst.
„Objekte aus kolonialen Kontexten sind historisch sensible Objekte, mit deren
Geschichte und Charakter sich Museen auseinandersetzen müssen. Ihr Erwerb war
oftmals mit Ausübung von Gewalt und/oder ausgeprägten Abhängigkeitsverhältnissen
verbunden.“
Als Wiebke Ahrndt, Direktorin des Bremer Übersee-Museums und Projektleiterin gefragt
wurde, wie sich der „Leitfaden“ vom Savoy-Sarr-Bericht unterscheide, sagte sie: „Wir
gehen weiter.“
Sarr und Savoy diskutierten nur das Subsahara-Afrika, während sich der Museumsbund
auch mit anderen kolonialen Kontexten befasse. Seine geographische Reichweite mag in
der Tat größer sein – aber das ist auch seine Zimperlichkeit, wenn es um die Rückgabe
gestohlener Gegenstände geht: Nach der Veröffentlichung der ersten Version des
Leitfadens wurde der Museumsbund gerade dafür kritisiert, sich vom französischen
Fokus auf Restitution entfernt und sich stattdessen auf Wissensaustausch und
Digitalisierung konzentriert zu haben. Der neue Leitfaden zieht Forschung,
Wissensaustausch und digitale Lösungen der tatsächlichen Restitution von Objekten vor:
Wichtiger als die Rückgabe, erklärte Ahrndt, sei die „Teilhabe“ von Ländern, deren
Kunstwerke noch immer in Europa sind.
Provenienzforschung ist kein Garant für Gerechtigkeit
In seiner offiziellen Antwort auf den ersten Entwurf bemerkte Kwame Opoku,
ghanaischer Anwalt und Restitutionsexperte, dass im Leitfaden, „die Museen
aufgefordert werden, Alternativen zur Rückgabe des physischen Gegenstands zu prüfen“.
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Und weiter: „Dekolonisation bedeutet zwangsläufig die Rückgabe einiger afrikanischer
Kunstwerke.“ – Eine einfachen Wahrheit, die nur wenige anerkennen.
Sorgfältige Provenienzforschung sei außerdem keineswegs ein Garant für Gerechtigkeit,
wie Opoku feststellt. So hat 2018 das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe die
Ergebnisse einer gründlichen Untersuchung der Herkunft dreier seiner Benin-Bronzen
abgeschlossen. Das Fazit in der Pressemitteilung:
„Dass es sich bei den Bronzen um Raubkunst handelt, steht heute außer Frage.“
Doch statt diesen Prozess in die Rückführung der Objekte nach Nigeria münden zu
lassen, wurden sie an das Hamburger Museum für Völkerkunde übertragen; es sei am
besten in der Lage, „den notwendigen Zusammenhang für die weitere Erforschung der
Herkunftsgeschichte und den transnationalen Austausch mit Nigeria und dem
Königshaus“ zu bieten.
Deutsche Museen bemühen sich eifrig um Diskussion, Debatte und Forschung, und sie
sind sogar bereit, ihre eigene Verantwortung zu akzeptieren. Aber oft ziehen sie die
Grenze dort, wo es ernst wird und wo es darum ginge, einen Teil von sich selbst auf- und
Kunstwerke zurückzugeben. Eine ständige Sammlung soll schließlich „ständig“ bleiben.
Museumssammlung ist mehr als eine Anhäufung von
Wertgegenständen
Die Restitution eines Kunstwerks ist eine Form von „deaccessioning“. Dieses Wort
beschreibt, was passiert, wenn ein Museum ein Kunstwerk aus seiner ständigen
Sammlung entfernt. Der sich auf Deutsch nur zögerlich durchsetzende Begriff für
„deaccession“ lautet: „Entsammeln“. Doch trotz der relativen Neuheit des Wortes gibt es
dessen Idee und Praxis so lange, wie es Museen gibt. Man entsammelt aus ganz
unterschiedlichen Gründen, die vom Alltäglichen bis zum Skandalösen reichen. Immer
aber ist dieser Prozess geeignet, starke Gefühle hervorzurufen. Einer Öffentlichkeit, die
es mit einigem Recht als die Aufgabe eines Museums ansieht, die Objekte seiner
Sammlung auf Dauer zu pflegen, mag das Entsammeln widersprüchlich, wenn nicht
sogar empörend erscheinen. Eine Museumssammlung ist schließlich viel mehr als nur
eine Anhäufung von Wertgegenständen. Vor allem die Sammlungen staatlicher Museen
stehen für die Werte einer Kultur selbst, für das, was sie für wesentlich und
erhaltenswert hält – was sie buchstäblich zur Schau stellen möchte. Museen wissen, dass
das Publikum sich ihren Sammlungen oft tief verbunden fühlt und dass der Ausschluss
eines Werkes aus dieser Sammlung in manchen das Gefühl wecken mag, einen Teil von
sich selbst zu verlieren.
Die von Sarr und Savoy empfohlene Art der Restitution – jene Rückgabe von
Kulturschätzen, die der Museumsbund vermeiden will – wäre ein wichtiger Anfang für
deutsche Museen. Sie reicht aber nicht aus, um die historischen Ungerechtigkeiten der
Sammlungen dieses Landes zu korrigieren. Das Problem mit unseren Museen, in
Deutschland wie Nordamerika, besteht nicht bloß darin, dass sich Dinge in ihrem Besitz
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befinden, die sie nicht haben sollten, weil sie geraubt oder unter ethisch dubiosen
Umständen von Menschen oder Gruppen erworben wurden, die nicht in der Lage waren,
zu widersprechen. Der Kunstkritiker Stefan Heidenreich beschreibt das Problem
prägnant:
„Wann immer wir etwas sammeln, gibt es zwei Arten von Dingen, die uns fehlen. Einmal
das, was wir gern hätten, aber nicht bekommen. Und dann noch all das, was uns gar
nicht erst interessiert. Schwierig wird die Lage, wenn wir feststellen, dass uns gerade
Letzteres doch hätte interessieren sollen. Das heißt nämlich, dass uns nicht nur ein paar
Dinge fehlen, sondern dass vielleicht mit der ganzen Sammlung etwas nicht stimmt.“
US-Museum erwirbt nur noch Werke von Künstlerinnen
Neben der Rückgabe von Kulturgütern brauchen wir daher noch eine andere Form der
Restitution – eine Restitution von Bedeutung, die vergessenen oder ignorierten
Kunstwerken ihren Platz in der Kunstgeschichte zugesteht. Ein derartiger Prozess mag
emotional und ethisch nicht weniger belastend sein. Raum für neue Stimmen und
Visionen zu schaffen heißt schließlich, einen geliebten und vertrauten Kanon der Kunst in
Frage zu stellen. Und wo die Budgets von Museen so begrenzt sind wie der Platz an ihren
Wänden, stehen schwierige Entscheidungen an. In Nordamerika suchen Museen neue
Antworten auf diese Fragen.
Im November gab das Baltimore Museum of Art bekannt, dass es im Jahr 2020 nur noch
Werke von Künstlerinnen erwerben werde. Der Direktor, Christopher Bedford, sieht in
dieser Maßnahme ein notwendiges Korrektiv:
„Wir versuchen, unseren eigenen Kanon zu berichtigen.“
Derzeit stammten nur 4 Prozent der 95.000 Kunstwerke des Museums von Frauen, und
um andere amerikanische Museen steht es nicht viel besser: Eine aktuelle Studie über 18
der prominentesten Museen des Landes ergab, dass von den Künstlern ihres Bestands
87 Prozent männlich und 85 Prozent weiß sind. Auch jahrzehntelanger Aktivismus hat an
diesen Zahlen verblüffend wenig ändern können. Im Gegensatz zu der gerne und
lautstark wiederholten Meinung, dass Gleichberechtigung heute mehr oder weniger
erreicht worden sei, zeigen solche Zahlen ein weiter fortdauerndes Missverhältnis. Wenn
man Museen wirklich verändern will, sagt Bedford, „dann kauft man nicht einfach ein
Bild von einer schwarzen Künstlerin und hängt es neben ein Bild von Mark Rothko. Um
Jahrhunderte der Ungleichheit zu korrigieren, muss man etwas Radikales tun.“
Diversifizierung einer Museumssammlung
Bedfords Worte weisen auf etwas Entscheidendes hin: Bei den Bemühungen um die
Diversifizierung einer Museumssammlung geht es auch darum, die Fehler der
Vergangenheit zu korrigieren und sich der fortdauernden Erbschaft von Unterdrückung
und Marginalisierung zu stellen. Das Baltimore Museum und andere nordamerikanische
Institutionen denken deshalb nicht nur über ihre zukünftigen Erwerbungen nach,
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sondern auch über ihre vergangenen. Und sie haben das Entsammeln als Instrument
entdeckt, um jene andere Form der Restitution zu verwirklichen, die Restitution von
Bedeutung. Das ist nicht unwidersprochen geblieben. Ein Kunstwerk seinem
rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben ist das eine – aber was ist damit, es zu verkaufen
und mit dem Geld neue Werke zu erwerben, zumal solche marginalisierter Gruppen?
In den letzten zwei Jahren haben das Baltimore Museum, das San Francisco Museum of
Modern Art und die Art Gallery of Ontario Werke von weißen männlichen Künstlern
veräußert, um den Erlös für Neuerwerbungen zu verwenden – insbesondere von
Werken, die von Frauen, People of Color, indigenen Künstlern und anderen
unterrepräsentierten Gruppen stammen. Obwohl die Fälle keineswegs identisch sind,
versuchen doch all diese Museen, ihre Sammlungen zu diversifizieren und
kunsthistorische Lücken zu schließen. Bedford erklärt ausdrücklich:
„Die Entscheidung dazu beruht sehr stark auf meinen Bemühungen, den
Nachkriegskanon neu zu schreiben.“
Dabei geht es nicht allein um ein abstraktes, kunsthistorisches Gerechtigkeitsgefühl: Der
Kauf neuer Werke kommt nicht nur den so wieder sichtbar gemachten Künstlern,
sondern auch dem Publikum des Museums zugute: Ihm wird eine umfassendere,
nuanciertere und breitere Kunsterfahrung geboten. Und auch wenn sich diese Praxis
stark vom Entsammeln im Zuge von Restitutionsbestrebungen unterscheidet, zielt sie
doch darauf ab, frühere Fehler eines Museums zu korrigieren – und zwar durch Eingriffe
in den kulturell und emotional aufgeladenen Bereich der ständigen Sammlung.
Bedenken gegen das Entsammeln
Professionelle Museumsorganisationen, deutsche wie internationale, geben Richtlinien
vor, wie ein Museum ein Objekt, das es nicht mehr haben will, am besten abstoßen kann.
Die Gründe dafür können vielfältig sein: Das Objekt ist stark beschädigt, es passt nicht
mehr zum Auftrag des Museums oder seine Qualität oder Bedeutung liegt unter den
Ansprüchen der Sammlung. Sofern es nicht um die Rückführung eines geraubten Werks
an seine rechtmäßigen Eigentümer geht, gehen solche Richtlinien in Deutschland davon
aus, dass entsammelte Objekte für Museen beinahe wertlos sind. Es ist daher
verständlich, dass sie keine Hinweise darauf geben, wie sich ein Museum bewusst von
einem wertvollen, begehrenswerten Objekt in seiner Sammlung trennen kann – etwa,
um damit Mittel für etwas Neues zu beschaffen. Doch wenn das in Deutschland möglich
wäre, könnte auch diese Praxis eine Form der Restitution sein. In nordamerikanischen
Museen dient sie bereits diesem Zweck.
Entsammeln zum Ausbau der Sammlung zu verwenden, ist, gelinde gesagt, eine
umstrittene Strategie. Einigen scheint es immer unvertretbar, Kunstwerke aus einer
Museumssammlung zu verkaufen, auch, wenn mit dem Erlös neue erworben werden:
Entscheidungen dieser Art seien kurzsichtig, zudem müssten Museen, die mit der
Erhaltung unseres kulturellen Erbes für die Zukunft betraut sind, immun gegen Moden
und Politik sein. In Deutschland wie nirgendwo sonst ist klar, dass es dabei nicht nur um
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Kunst sondern auch um Integrität geht. In einer aktuellen Ausstellung, die Werke von
Max Liebermann zeigt, informiert das Museum der bildenden Künste in Leipzig auch
darüber, 1936/37 im Tausch für andere Werke zwei Gemälde des jüdischen Malers
„ohne Zwang“ abgegeben zu haben, um die Sammlung „ideologisch zu reinigen“.
Doch obwohl die Bedenken dem Entsammeln gegenüber unter diesem Gesichtspunkt
historisch verständlich sind und solche Verfehlungen erschweren sollen, verhindert ein
völliger Verzicht doch auch die Korrektur bereits gemachter Fehler. Die Probleme und
Defizite bestehender Sammlungen sind dabei nicht allein auf identifizierbare falsche
Entscheidungen von Individuen zurückzuführen, sondern durchaus auf ganze kulturelle
Paradigmen: Der Kolonialismus ließ Museen Kunstwerke durch Diebstahl anhäufen; aus
Sexismus ignorierten oder marginalisierten sie die Kunst von Frauen.
Sonderausstellungen können Meinungen ändern
Dies zu korrigieren bedeutet natürlich für eine Unternehmung wie das Humboldt‑Forum
mit seinem Schwerpunkt auf historischen Artefakten etwas anderes als für Museen, die
moderne und zeitgenössische Kunst ausstellen. Im Jahr 2016 eröffnete das Münchner
Haus der Kunst die wegweisende, ambitionierte und mit einigem Forschungsaufwand
kuratierte Ausstellung „Postwar“, die die typische Erzählung der künstlerischen
Produktion in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich erweiterte. „Postwar“
präsentierte, ganz ohne Klischees vom Kalten Krieg zwischen Ost und West, künstlerische
Positionen und Dialoge aus aller Welt, aus Afrika, Südamerika, dem Mittleren Osten und
Ostasien. Im folgenden Jahr wandte sich die Kunsthalle Bremen mit der Schau „Der
blinde Fleck: Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit“ ihrer eigenen Geschichte zu. Die
Ausstellung versuchte nicht nur, die Präsenz des Kolonialismus im Werk der klassischen
Moderne zu untersuchen – etwa bei Paula Modersohn-Becker und Emil Nolde – sie
wollte auch „diese europäischen Sichtweisen in der Sammlung der Kunsthalle Bremen
mit außereuropäischen, darunter auch zeitgenössischen Positionen der Kunst in Dialog“
setzen.
Wir brauchen mehr solcher Ausstellungen; von ihnen gehen anregende Impulse aus.
Doch oft sind ihre Effekte nur flüchtig. Das Haus der Kunst besitzt keine eigene
Sammlung und „Postwar“ bestand zur Gänze aus Leihgaben. Die Kunsthalle Bremen, in
der sich die umfangreiche Sammlung des Bremer Kunstvereins befindet, bietet laut
Selbstaussage „über 600 Jahre Kunstgeschichte"“ – drückt diese Bandbreite aber als eine
einzige Linie von weißen männlichen Künstlern aus Westeuropa und den USA aus, „von
Dürer über Monet und Picasso zu Turrell.“
Sonderausstellungen können Meinungen ändern, aber die Sammlungen bleiben
unverändert. Und doch bilden gerade sie das Fundament der Museen.
Mit der eigenen Institutionsgeschichte auseinandersetzen
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Die Arbeit der Kunsthalle Bremen zeigt aber, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen
Institutionsgeschichte, den „blinden Flecken“ in der eigenen Sammlung
auseinanderzusetzen. Das versuchte auch der Berliner Hamburger Bahnhof 2018 mit
„Hello World: Revision einer Sammlung“, einer umfangreichen Ausstellung – besser
gesagt, 13 Ausstellungen, organisiert von einem breitgefächerten Kuratoren‑Team –, die
die weitläufigen Galerien des Museums bis zum Rand füllte. Gemäß ihres Leitbildes
umfasst die Sammlung des Hamburger Bahnhofs „die vielfältigen Entwicklungen in der
Kunst seit 1960 bis in die Gegenwart“.
Die Trends, die sie als ihre Schwerpunkte identifiziert – Malerei, Skulptur und
Bewegtbildmedien –, sind weltweite Phänomene. Die Sammlung konzentriert sich jedoch
auf Kunst von überwiegend männlichen weißen Künstlern aus Westeuropa und
Nordamerika. Diese begrenzte Bandbreite schadet nicht nur den vielen Künstlern, die so
aus der Kunstgeschichte herausgeschrieben werden, sondern auch dem Publikum, dem
eine enge Erzählung präsentiert wird, die der vielfältigen, globalen Blüte der Kunst im 20.
Jahrhundert kaum gerecht wird. „Hello World“ schien darauf abzuzielen, diese Defizite
auszuräumen. Eine Broschüre zu diesem ehrgeizigen Projekt stellte die provokante
Frage:
„Wie sähe die Sammlung heute aus, hätte ein weltoffeneres Verständnis ihre Entstehung
und ihren Kunstbegriff geprägt?“
Die Antwort des Museums lautete, den typischen Kanon seiner Sammlung – Beuys,
Richter, Warhol und andere – durch Werke von Künstlern aus afrikanischen Staaten,
Indien, Indonesien, Osteuropa, Mexiko und vielen anderen Ländern zu ergänzen, die sich
oft nicht auf dem Radar des zeitgenössischen Kunstbetriebs befinden. Viele Rezensionen
der Ausstellung konzentrierten sich auf die gewagte Entscheidung des Museums,
Objekte aus der eigenen Sammlung neben rund 150 Kunstwerken und Artefakten aus
anderen öffentlichen Sammlungen Berlins zu zeigen, wie dem Ethnologischen Museum,
dem Museum für Asiatische Kunst und dem Ibero‑Amerikanischen Institut. Doch obwohl
einige Kritiker Bedauern darüber äußerten, dass dieses Familientreffen nur von kurzer
Dauer sein würde, kommentierte niemand die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der
ausgestellten Objekte eben nicht aus den Schwestersammlungen des Hamburger
Bahnhofs, sondern aus anderen Sammlungen auf der ganzen Welt stammten.
Die Sammlung selbst einer Veränderung unterziehen
In Ergänzung zu den eigenen Beständen wollte das Museum erklärtermaßen, „blinde
Flecken in der Geschichtsschreibung“ untersuchen und „ein Aufbrechen des westlichen
Kanons vorantreiben“.
Das sind lobenswerte Ziele und die Ausstellung war allgemein gut und erhellend
kuratiert. Doch ihr Problem wird schon im Titel deutlich: „Hello, World“ impliziert, dass
eine einzige, temporäre Sonderausstellung tief verwurzelte institutionelle Verzerrungen
zu korrigieren im Stande wäre. Der Titel erinnert an den Gebrauch des Begriffs
„Weltmusik“; beide beziehen sich vage und zusammenfassend auf etwas außerhalb der
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westlichen Tradition. Der Untertitel der Ausstellung – „Revision einer Sammlung“ –
verunklarte die Tatsache, dass die nicht-westlichen Werke – die „Revisionen“ – Leihgaben
aus anderen Museen waren. Nach Ende der Ausstellung kehrten sie dorthin zurück, wo
sie herkamen. So fragt man sich, ob das Museum lediglich einen Punkt auf der Liste
einmal zu diskutierender Themen abhakte, damit es anschließend guten Gewissens zu
Warhol und Beuys zurückkehren konnte.
Typischerweise bedeutet „Restitution“, etwas zurückzugeben. Bei ignorierter oder
unterrepräsentierter moderner und zeitgenössischer Kunst kann Restitution aber auch
das Gegenteil bedeuten: den Ankauf – und nicht nur das vorübergehende Ausstellen –
solcher „Revisionen“. Wenn der Hamburger Bahnhof es mit seinem erklärten
Veränderungswillen ernst meint, müsste er seine ständige Sammlung selbst einer
Veränderung unterziehen. Das Museum weiß das: In den letzten Jahren hat es begonnen,
Kunstwerke außerhalb seines traditionellen geografischen Schwerpunkts zu sammeln,
auch wenn die Direktorin Gabriele Knapstein einräumt, dass dies „nur ein Anfang“ sei.
Auch sei das Ankaufsbudget des Museums begrenzt; um Lücken in der Sammlung
auszugleichen, plant der Hamburger Bahnhof daher Partnerschaften und den Austausch
mit Museen im Ausland. Wie die Beispiele aus Nordamerika zeigen, müssen begrenzte
Mittel für den Ankauf aber keineswegs die Entwicklung einer Sammlung behindern.
Für eine neue Form von Ganzheit
Wichtig ist die Selbstverpflichtung dieser Museen, deren Entsammelnspraxis für die
deutsche Kunstwelt ein strahlendes Vorbild sein könnte: Sie sind bereit, ein Stück von
sich selbst für eine neue Form von Ganzheit aufzugeben.
Woher auch immer die Mittel eines Museums kommen, immer sind sie so begrenzt wie
der Platz in seinen Ausstellungsräumen. Das heißt nicht zwingend, dass Museen wie der
Hamburger Bahnhof und die Kunsthalle Bremen ihre bereits vorhandenen Werke
aufgeben müssen – auch wenn das im Rahmen ihrer Möglichkeiten läge. In jedem Fall
aber bedeutet es, dass einige dieser Werke mehr Zeit im Depot verbringen müssen.
Man kann mit einigem Recht einwenden, dass die Situation in den Vereinigten Staaten –
wo selbst so genannte „öffentliche“ Museen einen Teil oder sogar den Großteil ihrer
Finanzierung aus privaten Quellen aufbringen müssen – nicht mit der in Deutschland
vergleichbar ist, wo sich ein staatliches Museum als Verwalter des gemeinsamen
Kulturbesitzes versteht. Wie kann ein Museum dann den Verkauf von etwas
rechtfertigen, das der deutschen Bevölkerung gehört? Das amerikanische Modell, das
Museen in erster Linie als Bildungseinrichtungen und nicht als Aufbewahrungsorte für
angehäuften Besitz betrachtet, bietet hier erneut eine Perspektive. Deutsche Museen
sollten sich fragen, wie ihre Sammlungen den Menschen, denen sie gehören, am besten
dienen können. Ist es im Interesse der Öffentlichkeit, die Sammlung in ihrem aktuellen
Zustand zu erhalten? Oder vermisst das Publikum von heute Werke, die die Kuratoren
von gestern nicht gesammelt haben?
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In der Tat ist jeder Fall anders. Die Entscheidung, ein Kunstwerk zu entsammeln, sollte
niemals leichtfertig getroffen werden. Das bedeutet aber nicht, dass sie überhaupt nicht
getroffen werden sollte.
Intelligentes Entsammeln
Das Baltimore Museum etwa hat Gemälde von Franz Kline, Kenneth Noland, Jules Olitski,
Robert Rauschenberg und Andy Warhol entsammelt und verkauft. Das Museum besitzt –
das ist wichtig – noch andere Werke dieser Künstler, die in den amerikanischen Museen
im Allgemeinen gut vertreten sind. Relevant ist auch, dass der Verkauf eines Rothko oder
Warhols Mittel für Dutzende von Neuerwerbungen junger Künstler bereitstellen kann.
Noland und Olitski hingegen sind ein gutes Beispiel für eine andere Art des intelligenten
Entsammelns: In den Sechzigerjahren wurden beide als große amerikanische Maler
gefeiert. Aus der kunsthistorischen Rückschau einiger Jahrzehnte wird aber deutlich,
dass diese Euphorie übertrieben war; das Baltimore Museum ist wahrscheinlich nicht die
einzige Institution, die mehr Werke dieser Künstler besitzt, als sie damit anzufangen
weiß.
Im Dezember 2018 kündigte das Museum Neuerwerbungen an, darunter bedeutende
schwarze Künstler wie Carrie Mae Weems, Senga Nengudi und Melvin Edwards sowie
jüngeren Persönlichkeiten wie Amy Sherald und Meleko Mokgosi. Im Juni 2019 gab das
SFMOMA in San Francisco bekannt, den Erlös aus dem Verkauf ihres Rothko zur
Finanzierung einer Reihe von Neuerwerbungen zu verwenden, darunter Alma Thomas,
Kay Sage und Frank Bowling, sowie einen neuen Stiftungsfonds einzurichten, der für
zukünftige Käufe vorgesehen ist. Dazu Ausstellungsmacher Gary Garrels.
„Das ist der Traum eines jeden Kurators, unsere Ankaufmittel sind in einem normalen
Jahr sehr begrenzt, aber dieser Umstand hat uns in die Lage versetzt, zu tun, was wir am
meisten tun wollen. Die Sammlung zu diversifizieren ist die wichtigste und wesentlichste
Aufgabe für uns.“
Wie bei allen Plädoyers, die eine gewisse Differenzierung erfordern, ist es einfach, auch
dieses zu verzerren. Genau das geschah im Fall von Sarr und Savoy. Erzürnte Kritiker
begehrten auf gegen den vermeintlichen Wunsch, europäische Museen zu plündern,
obwohl weder Savoy/Sarr noch der afrikanische Kunstbetrieb derartiges vorschlagen: Es
geht um hunderte, nicht tausende, Objekte. Unsere Museen sind ein Teil dessen, was wir
sind, und es ergibt Sinn, dass wir sie schützen wollen. Entsammeln zum Aufbau von
Sammlungen kann ohne Frage kurzsichtig und unethisch erfolgen. Aber ebenso kann
man es auch auf eine umsichtige Weise betreiben und so die Sammlung bereichern und
die kunsthistorische Erzählung des Museums erweitern, ohne die Reputation der
betroffenen Künstler zu beeinträchtigen oder die Chancen des Publikums zu mindern,
ihre Werke zu sehen.
Respekt und ein Platz in der Kunstgeschichte
Wenn ich diese Form des Entsammelns mit der von Sarr, Savoy und Opoku
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vorgeschlagenen verbinde, bedeutet das, für eine andere Art der Restitution einzutreten:
eine Restitution von Bedeutung. Es geht um Respekt und einen Platz in der
Kunstgeschichte. Sarr und Savoy sprechen in ihrem Plädoyer für eine andere
Restitutionspolitik, von einem „Neuanfang“: Museen könnten nicht die Zeit zurückdrehen
und ihre Sammlungen in einer wirklich pluralistischen (statt kolonialistischen) Weise
neuerschaffen; aber sie könnten heute damit beginnen – im Bereich moderner und
zeitgenössischer Kunst. Sie könnten Werke von Künstlern aus anderen Kulturen und von
Minderheiten innerhalb ihrer eigenen Kultur erwerben.
Es geht nicht nur darum, die Sammlung neu zu betrachten, sondern sie auch zu etwas
Neuem zu machen. Ohne die Bereitschaft, Museumssammlungen wirklich zu verändern,
wird der Versuch, seine Lücken und blinden Flecken zu schließen, nicht länger währen
als die Dauer einer Sonderausstellung.
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