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Hero’s Space. Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis

2019, In: Oliver Schelske, Christian Wendt (eds.), Mare nostrum – mare meum. Wasserräume und Herrschaftsrepräsentation, Hildesheim: Olms, 31- 54

MARE NOSTRUM – MARE MEUM Wasserräume und Herrschaftsrepräsentation Herausgegeben von Oliver Schelske und Christian Wendt 2019 GEORG OLMS VERLAG HILDESHEIM · ZÜRICH · NEW YORK Hero’s Space. Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis Robert Kirstein (Tübingen) I. Einleitung 1. Die Aeneis als ‚Raumepos‘ Vergils Aeneis erzählt die fiktive Geschichte einer epischen Heldenfigur, die nach Jahren gefährlicher Fahrt und ungewisser Zielbestimmung schließlich als „Last Trojan Hero“ (Hardie 2014) nach Italien gelangt, – in ein Land, das den Flüchtigen nach der Zerstörung Trojas neuen Siedlungsraum und neue Staatlichkeit zu bieten verspricht, bestimmt durch höhere Schicksalsbestimmung (fatum) und den höchsten Willen Jupiters. Die Landnahme vollzieht sich freilich um den Preis erneuten Krieges, der – unter Vertauschung der initialen Rollen – aus Angegriffenen nun selbst Angreifer werden lässt, wodurch nicht zuletzt die wesenhafte Ambiguität des „Systems Krieg“ (Hüppauf) freilegt wird, werden doch Teile der italischen Lokalbevölkerung wie der aus Arkadien stammende Euander explizit als ebenfalls zugewandert beschrieben.1 Thema der Aeneis ist aber nicht nur das Land, sondern zugleich auch das ‚Raumobjekt‘ Meer. Beide Bereiche zusammen deuten in der teleologischen Ausrichtung der Aeneis auf die spätere Vorherrschaft Roms zu Land und zur See voraus. Die Vergil-Forschung hat stets hervorgehoben, dass die Aeneis dieses Programm in literaturgeschichtlicher Perspektive dadurch umsetzt, dass sie als Prätexte insbesondere Ilias und 1 Verg. Aen. 8,50-54. Hüppauf (2013), 24 unterscheidet drei systematische Ebenen: Militärischer Kampf, Kriegsdiskurs, Kulturgeschichte des Krieges. Zu Aspekten von Ambiguität s. Bauer/Knape/Koch/Winkler (2010). 32 Robert Kirstein Odyssee sowie Apollonius’ Argonautika verarbeitet und auf diese Weise traditionelle epische Stoffe von Krieg und Eroberung zu Land mit solchen von Irrfahrt und Abenteuer zur See verknüpft: auf lange Irrfahrten – allein sieben Jahre vergehen bis zur Anlandung in Karthago im ersten Buch der Aeneis – folgen Phasen der kriegerischen Eroberung, die in der Tötung des lokalen Rutulerfürsten Turnus durch Aeneas ihren vorläufigen Höhepunkt findet, ein Akt, der zugleich das scheinbar abrupte Ende der Aeneis im zwölften Buch markiert.2 Die Gründung der Stadt Rom selbst ist in dieser myth-historischen Konstruktion späteren Generationen vorbehalten und liegt außerhalb der erzählten Welt des Epos. Die Aeneis endet somit, ohne die in ihr angelegte Raumdimension späterer Augusteischer Herrschaft erzählerisch über die werkimmanenten Prolepsen hinaus zu vollenden.3 Räume spielen in der Aeneis eine zentrale Rolle, ja man könnte in Anlehnung an moderne Romantheorien geradezu von einem ‚Raumepos‘ sprechen. Damien Nelis hat jüngst das literarische „Cityscaping“ in Vergils Aeneis – Rom, Karthago, Troja – einer genauen Analyse unterzogen und in den weiteren Kontext von Vergils Gesamtwerk gestellt. Der vorliegende Beitrag schließt daran an, indem er den Fokus von der Stadt auf das Meer – sozusagen von Cityscaping auf ‚Seascaping‘ – verschiebt.4 2. Das Meer Zu den zahlreichen Schauplätzen, Landschaften, Naturerscheinungen oder, allgemeiner formuliert, zu den Räumen und Raumobjekten der Aeneis gehört in zentraler Weise das Meer. Kaum ein anderer römischer Dichter hat das Meer in solcher Dichte und lexikalischer Differenzierung motivisch verarbeitet wie der Augusteer Vergil. Schon Hodnett hat auf diese Besonderheit vergilischer Dichtung hingewiesen: S. dazu unten 4. Ausblick: Aeneas, Turnus und das Ende der Aeneis. Zu Augustus und Vergil s. z.B. Hardie (1986), Harrison (1990), Kennedy (1992), Galinsky (1996), 20-24 u. 246-253, Tarrant (1997), Thomas (2001), 25-54. 4 Nelis (2015), 28-41. Zum Begriff des Cityscaping s. Fuhrer/Mundt/Stenger (2015), 1-3. Zum Raum in der antiken Literatur vgl. u.a. de Jong (2012a), Skempis/Ziogas (2013), Huss/König/Winkler (2016), Rimell/Asper (2017). 2 3 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 33 In fact, there are four outstanding ways in which Vergil differs from the poets of the Republic; he uses shades, whereas they used only primary colors in describing the sea; he uses a much greater variety of nouns, aequor, unda, pelagus, altum, fretus, pontus, gurges, vada, marmor, salum, Thetis, Oceanus, and he emphasizes the boundlessness, the immensity of the sea, whereas they emphasized its treacherous and fearful aspects. With the exception of Catullus, the poets of the Republic disliked it at all times, whereas Vergil apparently liked it in its calm and quiet aspects – the halcyons, the ships in harbor, the hush and quiet of night of the waves, the sea undisturbed by the wind, even if he did treat very summarily sunrises at sea.5 Das Meer – und damit implizit das Thema späterer römischer Seeherrschaft – ist im gesamten Werk präsent, insbesondere in der ersten Werkhälfte, die häufig als der Irrfahrten- oder Odyssee-Teil der Aeneis charakterisiert wird, aber auch innerhalb der berühmten Schildbeschreibung des achten Buches in der zweiten Werkhälfte. Allerdings besteht von vornherein ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Meer des Odysseus und dem Meer des Aeneas. Denn in der teleologischen Ausrichtung der Aeneis ist das von Aeneas durchfahrene textweltliche Meer mit der realweltlichen Seeherrschaft des Augusteischen Imperium Romanum nach Actium in einer Art und Weise verknüpft, die für die Odyssee in diesem Maße nicht parallelisierbar ist. Dieses politische Semantisierungspotential des Meeres vor dem Hintergrund römischer Herrschaft verwandelt das textweltliche Meer der Aeneis deshalb von vornherein in einen ‚imperialen Ausdehnungsraum‘.6 Die zentrale Bedeutung des Meeres für das Gesamtkonzept der Aeneis ist bereits in den Eröffnungsworten des Proömiums angelegt, die unter Bezugnahme auf die Odysseus-Figur die zahlreichen Leiden des Aeneas andeuten, die dieser zu Lande wie zu Wasser erlitten habe (1,1-4): Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam – fato profugus – Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto vi superum saevae memorem Iunonis ob iram, Hodnett (1919), 71. In der Terminologie von Barbara Piatti ([2009], 22-23) lässt sich das realweltliche Mittelmeer als „Georaum“ bezeichnen, das sich darauf beziehende Meer in der Aeneis dagegen als „fiktionalisierter Raum“. Zur Präsenz des Meeres in den Bildprogrammen und -semantiken der augusteischen Zeit vgl. Zanker (1997), 88-90. 5 6 34 Robert Kirstein Die Waffen und den Mann besinge ich, der – durch das Schicksal zum Flüchtling geworden – zuerst von Trojas Gestaden nach Italien und an die Küste Laviniums kam, vielfach hin und her geworfen zu Land und zur See durch die Gewalt der Götter, wegen des nachtragenden Grolls der grimmigen Juno, […] Von ‚Meer‘ ist genau genommen nicht erst in altum (V. 3), sondern bereits in den Ortsbestimmungen Troiae ab oris (1) und Laviniaque litora (2-3) die Rede, denn die Küste als liminale Übergangszone zwischen Land und Meer evoziert gleichermaßen beide durch sie markierte Bereiche.7 Der erste Hinweis auf das Meer erfolgt vielleicht sogar noch früher, nämlich im allerersten Wort des Werkes. Zwar bezieht sich arma primär auf die späteren Kämpfe des Aeneas in Italien und evoziert intertextuell die Ilias als literarischen Prätext von Krieg, Gewalt und Eroberung, zugleich wird aber auch ein atmosphärischer Vorverweis auf Aeneas als seefahrenden Helden geliefert, denn arma bezeichnet im Lateinischen nicht nur ‚Waffen‘, sondern auch die Takelage und sonstige Ausrüstungsgegenstände von Schiffen. Eine solche Interpretation erscheint schon deshalb naheliegend, weil diese nautisch-technische Verwendung von arma auch sonst in vergilischen Texten belegt ist (Aen. 5,15; 6,353), schließlich aber auch, weil das erste Auftreten des Helden Aeneas diesen ausgerechnet auf hoher See und in einem lebensbedrohlichen Seesturm zeigt, einem Sturm, der ihn und seine Gefolgsleute zunächst vom Zielland Italien weit wegführen und an die Küste Nordafrikas verschlagen wird (1,84-87): Incubuere mari, totumque a sedibus imis una Eurusque Notusque ruunt creberque procellis Africus, et vastos voluunt ad litora fluctus; insequitur clamorque virum stridorque rudentum. Sie [i.e. die Winde] stürzen sich aufs Meer, alles wühlen sie auf von den untersten Gründen, Eurus und Notus und der wellenreiche Africus, und gewaltige Fluten wälzen sie an die Küsten; es folgt das Geschrei der Männer und das Ächzen der Schiffstaue. Doch kehren wir noch einmal zum Proömium der Aeneis zurück. Wenn unmittelbar in den ersten drei Versen des Vorworts von den Küsten 7 Zu Grenzen und mentalen Raumbildern vgl. Hänger (2001), 16. Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 35 Trojas als Ausgangs- und den italischen Küsten als Aeneas’ Zielpunkt Rede ist (1,1-3), wird damit eine erste, Meer und Land umfassende Topographie innerhalb der Textwelt der Aeneis konstruiert. Wie eng Raum und Zeit sich dabei chronotopisch verschränken, wird in dem Adjektiv Lavinia deutlich (1,2-3 Lavinia … litora), das nicht nur auf einen Ort – die italische Stadt Lavinium –, sondern zugleich auch auf ein zukünftiges Ereignis verweist, denn Lavinium entsteht überhaupt erst im Verlauf der Handlung als urbane Neugründung.8 Auf die ersten sieben Verse der Aeneis folgt ein vier Verse umfassender Musenanruf (1,8-11), der konventionell nach den Ursachen (causae) des erzählten Geschehens fragt, um dann, zunächst eher überraschend und weniger konventionell, den Blick auf einen weiteren Ort, die phönikische Gründung Karthago, zu lenken (1,12-18).9 Karthago wird dabei in eine direkte räumliche Relation zu dem Ort gebracht, an dem später die Stadt Rom entstehen wird. Die politische Semantisierung der Raumobjekte verdichtet sich dabei in dem zunächst unauffälligen Wort contra / ‚gegenüber‘ (1,13), das zugleich eine räumliche und eine übertragene Bedeutung trägt.10 Nachdem das Thema ‚Meer‘ in den ersten sieben Versen eingeführt worden war, tritt jetzt mit der Nennung Karthagos, dem jahrhundertelangen Erzrivalen Roms im Ringen um die Vorherrschaft des westlichen Mittelmeers, das zentrale Thema ‚Herrschaft über das Meer‘ (‚Seeherrschaft‘) hinzu. Das Gegenüber der beiden Antagonisten Rom und Karthago wird auf Ebene des Textes schließlich dadurch verräumlicht, dass beiden Städten jeweils exakt sieben Verse zugeteilt werden, so dass das Erzählen der jeweiligen Räume von identischer Dauer ist. Werner Suerbaum hat betont, dass der Anfang der Aeneis einen ‚idealen Leser‘ konstruiert, einen Leser, der u.a. über das kulturelle und literaturgeschichtliche Wissen verfügt, um die intertextuellen RefeVgl. Lebek (1982), 198. Nelis (2015), 28 mit Anm. 27 (weitere Literatur). Auf die Abruptheit des Urbs antiqua fuit in V. 12 weist Otis (1964), 229 hin: „The apparent digression (the deferring of a direct answer by the descriptive Urbs antiqua fuit, &c.) only makes the final answer so much the more emphatic.“ 10 Vgl. Korenjak (2004), 647, der einen Einfluss des Eratosthenes auf Vergil wahrscheinlich macht: „Virgil and his contemporaries imagine the Apennine peninsula stretching almost exactly from west to east, that is, virtually parallel to the North African coast. Thus from their perspective Carthago not only lies on the other side of the Mediterranean, but also frontally faces Italy.“ 8 9 36 Robert Kirstein renzen des Werkes decodieren zu können.11 Daran anschließend könnte man von der Konstruktion eines ‚idealen Raumes‘ in der Aeneis sprechen, eines Raumes, der sich im Lotmanschen Sinne als hochgradig polyphon darbietet.12 Und dies nicht nur in dem geschilderten Sinne, dass verschiedene Räume, die sowohl zeitlich wie räumlich distant sind, zu einem übergreifenden narrativen Raumgebilde, einem Narrative universe (Ryan), zusammengeführt werden, sondern auch in dem Sinne, dass den LeserInnen zugleich Künstlichkeit und Konstruktcharakter dieses Narrative universe metafiktional vor Augen geführt werden und vorschnellen Referenzierungen auf die Realwelt eine Warnung in den Weg gelegt wird.13 3. Fragestellung Das Meer ist unter mindestens zwei Gesichtspunkten von zentraler Bedeutung für die Aeneis. Zum einen enthält es politische Semantisierungen, die über die eigentliche Textwelt hinaus auf die spätere Herrschaft Roms im Sinne eines ideologisierten römischen mare nostrum hinweisen. Zum anderen gehört das Meer zu denjenigen Raumobjekten, die in besonderer Weise geeignet sind, Aspekte wie Liminalität und Ereignishaftigkeit narrativ umzusetzen; nicht zufällig gehört gerade der Seesturm seit Homer zu den festen Bauelementen antiker Epik. Wie, so lässt sich fragen, wird in Vergils Aeneis das Meer als Raum erzählt und im Text überhaupt konstruiert? In welcher Verbindung steht das Meer als Raumobjekt zu Figuren und Handlung? Und welche Semantisierungen oder ‚Ideologisierungen‘ des Raumes ergeben sich aus diesen narrativen Strukturen und Konstruktionen? Suerbaum (1999), 15-45. Vgl. Lotman (1993), 328-329: „verschiedene Helden können nicht nur zu verschiedenen Räumen gehören, sondern auch mit verschiedenen, bisweilen unvereinbaren Typen der Raumaufteilung gekoppelt sein. Dann erweist sich ein und dieselbe Welt des Textes als für die jeweiligen Helden in verschiedener Weise aufgeteilt. Es entsteht sozusagen eine Polyphonie der Räume, ein Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung.“ Zu Lotman s. Frank (2009), Nünning (2009), 37, Koschorke (2012), 116-128. 13 Ryan (2014), s. auch unten Anm. 22. 11 12 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 37 Die folgenden Überlegungen nähern sich dieser Fragestellung über einen raumnarratologischen Ansatz. Dabei sollen insbesondere zwei Textstellen näher analysiert werden, in denen der erzählte Raum der Aeneis ein auffälliges Zoom-In erfährt und diesen zu einem spezifischen Raum des Helden Aeneas, zu einem Hero’s space, werden lässt: die bereits erwähnte Seesturmszene und die Beschreibung der Anlandung an der nordafrikanisch-libyschen Küste nach dem überstandenen Seesturm. II. Hero’s space: Aeneas als ‚Raumheld‘ 1. Raumdarstellung und Fokalisation Für die Frage, wie in Vergils Aeneis das Meer als Raum erzählt wird und wie sich die Heldenfigur Aeneas diesen Raum im Textverlauf ‚zu eigen macht‘, erscheint eine integrierende Betrachtungsweise von Raumaspekten mit solchen der ‚Fokalisation‘ von besonderem Interesse. Dabei geht es um die Bestimmung derjenigen Instanzen, durch die Räume in der Aeneis gesehen oder, allgemeiner gesprochen, erlebt und insgesamt wahrgenommen werden, sei es auf optische, taktile oder andere Art und Weise.14 In einer auktorialen Erzählung wie der Aeneis steht in der Regel zu Beginn bzw. auf der höchsten logischen Ebene der Erzählung ein primary narrator focalizer. Diese Auffassung von Fokalisation folgt Bal und de Jong und legt zugrunde, dass jede Erzählung, auch die auktoriale Erzählung eines allwissenden Erzählers, fokalisierend ist.15 Da die Erzählinstanz in einer auktorialen Erzählung nicht Teil der erzählten Welt ist, kann man genauer von einem external primary narrator focalizer sprechen. Für die vorliegende Fragestellung von Zu den verschiedenen, in Texten repräsentierten Wahrnehmungsmöglichkeiten vgl. Jahn (2008), 174 (mit Verweis auf Nelles [1997]); de Jong (2004), 31. 15 Im Gegensatz zu Genette, für den Fokalisation nicht zwingend gegeben ist, sondern nur eine Option des Erzählens ist und der entsprechend eine auktorial-allwissende Erzählung als Null- bzw. als Nicht-Fokalisation kategorisiert. Bal (2009), 145: „The axiom of this section is that whenever events are presented, they are always presented from within a certain ‚vision‘“; vgl. de Jong (2004), 30-31, (2012b), 25 (Homer), (2014), 47 und Ludwig (2014), 14. 14 38 Robert Kirstein geringerer Bedeutung und im Fall antiker Epen mitunter schwierig zu beantworten, ist die Frage, ob es sich um einen Erzähler handelt, der sich dabei offen zu erkennen gibt (overt) oder einen, der verborgen bleibt (covert). In den Einleitungsversen der Aeneis gibt sich ein (covert) primary narrator focalizer zu erkennen, durch dessen ‚Augen‘ die Objekte der Erzählung wahrgenommen werden: die Hauptfigur Aeneas, Juno und mit ihr die anderen olympischen Gottheiten, ebenso die zugehörigen Räume, das Meer, Troja, Italien mit Lavinium, Alba und Rom, der Tiber, Karthago und die Insel Samos. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, welchen Sehpunkt, oder mit de Jong, welchen spatial standpoint, der Erzähler einnimmt. De Jong hat darauf hingewiesen, dass die durch Genette ausgelöste Diskussion um den Fokalisationsbegriff und die Frage nach der subjektiven Filterung der Wahrnehmung von Erzählstimme und Figuren die Frage nach dem eingenommen räumlichen Sehpunkt, dem spatial standpoint, innerhalb einer Erzählung in den Hintergrund hat treten lassen: As a consequence, an aspect which used to be encompassed in the earlier, so to speak commonsensical or pre-theoretical concept of perspective, namely the spatial standpoint of the narrator or Erzählerstandpunkt, has receded into the background.16 Die Weite der Räume, die zu Beginn der Aeneis in einem großen ZoomOut erzählt werden, führt den Leser automatisch in einen von oben nach unten gerichteten, alle Teilräume zugleich erfassenden Sehpunkt, den man als panoramic standpoint bezeichnen kann. Dieser Blick wird vom idealen, mit der Gattung vertrauten Rezipienten schon alleine deshalb gewählt, weil er der konventionelle Blick für den allwissenden Erzähler ist, insbesondere dort, wo Texte einführenden Charakter haben. Das Proömium der Aeneis enthält zudem einen klaren sprachlichen Marker, durch den ein panoramic standpoint generiert wird, denn durch contra (1,13, s. oben Seite 35) werden Karthago und Rom nicht nur semantisch aufeinander bezogen, sondern auch in einem gemeinsamen, nur von oben möglichen Blick zu einem übergreifenden narrativen Raumgebilde verbunden. 16 De Jong/Nünlist (2004), 63; vgl. de Jong (2014), 60. Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 39 2. Der Seesturm Die Hauptfigur Aeneas betritt, wie vielfach beobachtet worden ist, erst spät die Bühne der Erzählung, darin etwa den homerischen Vorbildern Achill und Odysseus vergleichbar.17 Aeneas’ Name fällt nicht früher als in dem von Juno veranlassten und vom Windgott Aeolus ins Werk gesetzten Seesturm, knapp hundert Verse nach dem Proömium (V. 92). Für die vorliegende Fragestellung ist die Seesturmszene auch unter dem Aspekt der späteren Seeherrschaft Roms nicht ohne Signifikanz, präsentiert sie den Helden auf den ersten Blick doch gerade nicht in einer Rolle eines souveränen Herrschers, sondern umgekehrt als vom Element des Meeres Beherrschten, beherrscht in einem Maße, dass Todesund Götterfurcht sich Ausdruck bahnen in dem Wunsch, lieber auf heldenhafte Weise im Kampf um Troja gefallen zu sein als im Sturm ruhmlos unterzugehen.18 Die passivische Rolle des Aeneas spiegelt sich unmittelbar in der Passivform solvuntur in V. 92 wider. Die entscheidenden Verse lauten (1,88-96): Eripiunt subito nubes caelumque diemque Teucrorum ex oculis; ponto nox incubat atra; intonuere poli et crebris micat ignibus aether, 90 praesentemque viris intentant omnia morte extemplo Aeneae solvuntur frigore membra; ingemit, et duplicis tendens ad sidera palmas talia voce refert: ‚O terque quaterque beati, quis ante ora patrum Troiae sub moenibus altis 95 contigit oppetere! […]‘ Plötzlich entreißen die Wolken Himmel und Tageslicht den Augen der Trojaner; tiefschwarze Nacht liegt auf den Wogen. Es donnern die Pole der Himmelsachsen, und der Äther zuckt vor häufigen Blitzen, alles streckt den Männern gegenwärtigen Tod entgegen. Sogleich lösen sich dem Aeneas vor Schrecken die Glieder. Er seufzt auf, und indem er seine beiden Hände zu den Sternen streckt, spricht er mit folgender Stimme: ‚O dreifach und vierfach Glückselige, denen vergönnt war im Angesicht der Väter unter Trojas hohen Mauern zu sterben.‘ […] 17 Andere First-entry-scenes: Achill betritt Il. 1,54 und 58 die Bühne des Geschehens, Odysseus erst in Od. 5,82. Zum Seesturm als typischer Szene s. Dunsch (2013). 18 Für eine politische Interpretation Neptuns, der den Seesturm ‚staatsmännisch‘ wieder beendet, s. Hardie (1986), 204 (vgl. auch 90-97), Galinsky (1996), 20-21. 40 Robert Kirstein In dieser Partie liegt die Fokalisation zunächst bei der auktorialen Erzählinstanz. Die RezipientInnen nehmen dabei automatisch die Perspektive eines panoramic standpoint ein, denn das zuvor erfolgte Göttergespräch zwischen Juno und dem Windgott Aeolos hatte explizit auf einem erhöhten Ort (celsa arce) stattgefunden (1,56-57). Mit den Worten eripiunt … ex oculis (V. 88-89) wird die Fokalisierung dann jedoch an die Gruppe der im Seesturm befangenen Trojaner abgegeben. Die adverbielle Bestimmung ex oculis, ‚aus den Augen‘, ersetzt dabei ein die Fokalisation indizierendes Verb des Sehens, mit dem Effekt, dass der spatial standpoint von einem panoramic zu einem scenic standpoint wechselt, die Blickrichtung somit von einer vertikalen in eine horizontale Orientierung gewissermaßen ‚umknickt‘. Die rezipierende Instanz ‚sieht‘ nun mit den Augen der Seeleute, ist nah mitten im Geschehen – das Pathos der Szene hebt sich durch Aufhebung der erzählerischen Distanz. Zu dieser Interpretation passt die Bemerkung des spätantiken Grammatikers und Vergil-Kommentators Servius Honoratus, der hervorhebt, dass Vergils Verse über die Himmelsverdunkelung im Seesturm sich nicht auf die Natur als ganze bezögen, sondern nur auf die Perspektive der Figuren.19 Das erste Auftreten des Aeneas in der Seesturmszene enthält zugleich seine erste, an ihn selbst gerichtete Rede, deren Inhalt der verzweifelte und irreale Wunsch ist, im Kampf um Troja wie andere Helden einen ehrenvollen Heldentod erfahren zu haben.20 Da der auktoriale Erzähler hier die Stimme an eine seiner Figuren abgibt, die selbst Teil der erzählen Welt ist, kann kann man von einem secondary narrator focalizer sprechen.21 Unter raumnarratologischen Gesichtspunkten bemerkenswert ist das Hineinholen eines anderen, nicht unmittelbar gegebenen Raumes durch Figurenphantasie. Denn ähnlich wie im Proömium unter dem Aspekt der Verehrung der Juno die Insel Samos und Serv. Aen. 1,89: Teucrorum ex oculis: numquam enim totum caelum nubibus tegitur, sed illa pars, contra quam flauerint uenti. quod autem dixit diem eripi, ad uidentum oculos rettulit, non ad naturam. Zu Fokalisation und „evaluative lexical items“ (atra) s. Herman (2002), 309. 20 Vgl. Perkell (1999), 39-42 „The first speeches of the Roman hero Aeneas“. Die Beinahe-Tötung des Aeneas durch Diomedes und die Rettung durch Aphrodite wird in Il. 5,297-318 geschildert, vgl. bes. 311-312: καί νύ κεν ἔνθ᾽ ἀπόλοιτο ἄναξ ἀνδρῶν Αἰνείας,/ εἰ µὴ ἄρ᾽ ὀξὺ νόησε Διὸς θυγάτηρ Ἀφροδίτη. 21 De Jong (2014), 50. 19 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 41 dadurch metonymisch Griechenland als externer spatial frame innerhalb des unmittelbar gegebenen settings aktiviert wird, so integriert Aeneas’ Rede die Schlachtfelder um Troja als externen spatial frame in das setting der aktuellen Handlung, das Meer irgendwo vor der Küste Karthagos.22 Auch tritt hier wieder die chronotopische Verknüpfung von Raum und Zeit hervor, denn so wie der Ort Lavinium für die Zukunft, so steht Troja für die Vergangenheit. Besonders auffällig ist die narrative Technik des Zoom-In. Hatte die Wendung Teucrorum ex oculis (V. 89) zunächst die Umwendung der Perspektive in die horizontale Blickrichtung der Figuren – vom panoramic zum scenic standpoint – vollzogen, so erfährt diese Blickrichtung jetzt eine zweite Verengung, ein weiteres Zoom-In, von der Gruppe der Trojaner hin auf deren Anführer Aeneas. Denn im Weiteren heißt es, dass eine riesige Welle ‚direkt vor den Augen des Aeneas‘ auf das Achterdeck seines Schiffes stürzt (1,114-116): ipsius ante oculos ingens a vertice pontus in puppim ferit: excutitur pronusque magister 115 volvitur in caput. Direkt vor seinen Augen [i.e. des Aeneas] schlägt eine riesige Woge von oben herab aufs Schiffsheck: der Steuermann wird herausgeschleudert, und vorwärts geneigt wird er kopfüber (über Bord) gewälzt. Das Zoom-In auf die Fokalisation durch Aeneas ist durch das am Versanfang stehende ipsius deutlich markiert.23 Die LeserInnen ‚sehen‘ von jetzt an durch die Augen des Aeneas, sehen, wie der Steuermann von der Wucht des Wassers ergriffen und über Bord geschleudert wird. Die Blickrichtung ändert sich mit dieser Verschiebung der Fokalisation von der Gruppe des Aeneas-Gefolges auf Aeneas nicht, sie bleibt horizontal 22 Diese Unterscheidung in setting (Ort der aktuellen Handlung) und distantere räumliche frames in Anlehnung an Ronen (1986), 423: „A setting is the zero point where the actual story-events and story-states are localized.“ Ein darauf aufbauendes, modifiziertes Modell bietet Ryan (2014). Zu beachten ist allerdings, dass Ryan die Begriffe setting und frame anders verwendet als Ronen, Ronens setting als ‚Nullpunkt‘ wird bei ihr durch spatial frame(s) ersetzt. 23 Quinn (1965), 103: „The storm redoubles in frenzy […]“. Vgl. auch Austin (1971), 61: „ipse is used of the dominant personage, although Aeneas has not been directly mentioned since iactanti (102).“ 42 Robert Kirstein und scenic. Was jedoch geschieht, ist dass der erzählte Raum sich noch einmal verkleinert, wodurch umgekehrt Pathos und subjektives Empfinden gehoben werden. Im kritischsten Moment des passivischen Ausgeliefertseins verengt sich der erzählte Raum somit in einem dreifachen Zoom-In. Der Raum umfasst die Hauptfigur jetzt wie ein „Container“ (Dennerlein).24 3. Die Anlandung an der libyschen Küste Die Anlandungsszene an der Küste von Karthago bildet einen denkbar scharfen Kontrast zur Seesturmszene.25 Waren Aeneas und seine Mannschaft dort zunächst fröhlich (1,35 laeti) in See gestochen, um dann plötzlich und unerwartet in Sturm und Todesangst versetzt zu werden, landen sie hier von den überstandenen Gefahren erschöpft (1,157 defessi) an, um nach einer alle eigene Bedenken überspielenden Rede des Aeneas langsam wieder neuen Mut zu fassen (1,218 spemque metumque inter dubii), Optimismus und pessimistische Stimmung wechseln sich in chiastischer Reihung ab. Der Seesturm enthält Aeneas’ erste Rede, eine an ihn selbst gerichtete Verzweiflungsrede, die Anlandungsszene bietet seine erste an andere gerichtete Rede; sie ist eine Mut- und Durchhalterede, in der Aeneas den Sturm und seine katastrophalen Folgen für die Unternehmung verarbeitet und zugleich die eigenen Sorgen gegenüber den Kameraden verborgen hält (1,198-207). Mit den Worten est in secessu longo locus … (1,159) wird in typisch episch-erzählender Weise eine Ortsbeschreibung im locus-estSchema (Ekphrasis topou) eingeleitet. Fokalisierende Instanz ist Dennerlein (2009), 64. Vgl. Heinze (1965), 397: „Die Beschreibung von Örtlichkeiten beschränkt sich […] auf ganz wenige Fälle, in denen der Handlung ein stimmungsvoller Hintergrund gegeben werden soll. Am ausführlichsten wird, in acht Versen, der Hafen an der libyschen Küste beschrieben […] das ist Imitation einer Schilderung der Odyssee und will als solche bemerkt werden; bei Vergil soll die Schilderung nicht in erster Linie die Situation veranschaulichen, sondern uns in die Stimmung der aus dem wildesten Aufruhr der Elemente Geretteten versetzen, die ein vor jedem Windhauch und Wellenschlag geschützter Zufluchtsort aufnimmt.“ Zur Anlandungsszene vgl. auch Leach (1988), 27-72, hier bes. 31-36; zur Odyssee-Imitation im anschließenden Trost an die Gefährten s. Schmit-Neuerburg (1999), 87-95; zur Homerrezeption bei Vergil Barchiesi (2015). 24 25 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 43 zunächst wieder die auktoriale Erzählstimme. Auffällig sind Umfang und Detail der Beschreibung über nicht weniger als elf Verse. Die Deskription verlangsamt das Erzähltempo und bewirkt zugleich einen effektvollen Kontrast zur Geschwindigkeit der Seesturmszene: der Rhythmus der Erzählung schlägt abrupt von schnell in langsam um. Der Küstenabschnitt ist als nahezu idealer Ort beschrieben, die Bucht so ruhig zwischen schützenden Felsen eingefasst, dass Schiffe ohne Eisen ankern können, schimmernde Wälder an den Hängen, schließlich eine Quelle mit Süßwasser. ‚Nahezu ideal‘ deshalb, weil auch von einem dunklen Hain und drohendem Schatten die Rede ist (1,165 desuper horrentique atrum nemus imminet umbra). Fokalisierende Instanz ist die Stimme des auktorialen Erzählers (external primary narrator focalizer). De Jong deutet diese Ekphrasis topou so, dass der auktoriale Erzähler sich von einer Panorama-Perspektive in eine szenische Perspektive begibt, gleichsam als habe er die Szene zuvor wahrnehmend erfasst (narratorial scenic standpoint): „the Virgilian narrator takes stock of the place where the Trojans will land after the storm as it were visiting it before them.”26 Allerdings werden unmittelbar vor und nach der Ekphrasis Aeneas und seine Mannschaft als handelnde Figuren genannt (1,157-158 defessi Aeneadae … / contendunt petere und 170-171 huc … Aeneas … / … subit), so dass man vielleicht in Modifikation der Interpretation von de Jong auch von einem impliziten Übergang der Fokalisation vom Erzähler zu den Figuren selbst sprechen kann, denn man ‚sieht‘ die rettende Bucht automatisch mit den Augen der ankommenden Trojaner, die so unmerklich die Rolle der embedded or secondary focalizer übernehmen (Charakterfokalisation). Wie nicht selten in der Literatur bleibt auch hier die Fokalisation gleitend, ambig.27 Denn dass sich innerhalb der Höhle eine Süßwasserquelle befindet (1,166-168), ist ein ‚Wissen‘, das außerhalb möglichen Figurenwissens liegt. Fasst man die Szene als embedded focalization auf mit Aeneas und seiner Restmannschaft als embedded focalizer, wird man in dem Wissen um die Süßwasserquelle mit Genette einen Informationsüberschuss sehen (Paralepse), eine Technik, die an späterer Stelle wieder begegnet, wenn De Jong (2014), 63. Zu Aspekten von Ambiguität bei der Fokalisation s. de Jong (2014), 54; Fowler (1990); Ludwig (2014), 91-98. 26 27 44 Robert Kirstein Aeneas von einem Aussichtspunkt die im Aufbau begriffene Stadt Karthago prospektiert.28 Eine solche Interpretation im Sinne einer narrativization of description erscheint noch unter einem weiteren Gesichtspunkt attraktiv: Die Ekphrasis topou gewinnt an Dynamik, wenn sie als Teil der (fokalisierenden) Raumaneignung durch die Figuren aufgefasst wird und nicht als statische Information des Erzählers unter Ausblendung der Figurenhandlung: And although a description often creates a pause in the story, this certainly is not always the case […] or the description may be made part of the action, as when an object is described while it is being made or a location while it is being traversed. This phenomenon of the narrativization of descriptions should be connected to the fact that, from early times onwards, narrators have invented all kinds of devices to integrate descriptions into the narrative flow of their stories as much as possible.29 Auf die Ortsbeschreibung folgt die eigentliche Anlandungsszene von Aeneas’ Flotte (1,170-173):30 Huc septem Aeneas collectis navibus omni ex numero subit, ac magno telluris amore egressi optata potiuntur Troes harena, et sale tabentis artus in litore ponunt. 170 Hierhin gelangt Aeneas, nachdem sieben Schiffe aus der Gesamtzahl sich gesammelt haben, und in großem Verlangen nach festem Boden steigen die Trojaner aus und bemächtigen sich des ersehnten Sandes, und lagern ihre von Salzwasser triefenden Glieder auf dem Strand. Die Formulierung des Verses 172 macht aus dem nautischen Anlanden zugleich eine historisch-politisch deutbare ‚Landnahme‘, denn das Verbum potiri ist lexikalisch ambig: es kann sowohl ‚erlangen‘ im räumlichen Sinne bedeuten, es ist aber auch ein Verb des ‚Sich-Bemächtigens‘. Dies ist an der vorliegenden Stelle umso auffälliger, als potiuntur Genette (2010), 125. De Jong (2014), 114; vgl. auch de Jong (2012a), 5-8. 30 Zur epischen Landschaft vgl. auch Curtius (1993), 206-208, hier bes. 207: „Das epische Geschehen muss an Wende- und Höhepunkten durch summarische Bezeichnung der Lokalität verdeutlicht werden, wie dramatische Vorgänge eine – noch so primitive – Dekoration verlangen, und wäre es nur eine Tafel mit der Aufschrift: ‚dies ist ein Wald‘. Wir fanden solche ‚epische Markierung der Landschaft‘ schon in der Ilias.“ 28 29 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 45 in effektvoller Spannung zum eigentlich seesturmgeschwächten Zustand der Seeleute steht.31 Einmal gelandet, bereitet Aeneas’ Freund Achates Feuer, während die Mannschaft sich emsig um die verbliebenen und vom Salzwasser beschädigten Vorräte kümmert. Eduard Norden bemerkt in Anschluss an Servius, dass Aeneas selbst sich um derlei vorrats- und haushaltstechnische Details nicht kümmert.32 Stattdessen besteigt er einen Felsen am Rande der Bucht, um sich einen Überblick über das Meer zu verschaffen und nach versprengten Schiffbrüchigen Ausschau zu halten (1,180-182). Aeneas scopulum interea conscendit, et omnem 180 prospectum late pelago petit, Anthea si quem iactatum vento videat Phrygiasque biremis […] Aeneas besteigt unterdessen eine Klippe und sucht einen Überblick weithin über das Meer, ob er irgendjemand wie Antheus, hin und her geworfen vom Wind, vielleicht sichten könne und die phrygischen Zweiruderer […] An dieser Stelle erfährt die Fokalisation eine signifikante Änderung. Denn der durch Alliteration betonte Ausdruck prospectum pelago petit und die weiteren Verben des Sehens (V. 182 videre, 185 prospicere, vgl. 184 in conspectu) machen Aeneas wieder explizit zum embedded focalizer. Da dieser auf einem Felsen steht, der ihm freie Sicht sowohl in Richtung See als auch in Richtung Land gewährt, liegt ein ungehinderter actorial panoramic standpoint vor, nun freilich nicht des auktorialen Erzählers, sondern einer ihm untergeordneten Figur. Beides, die Übernahme der Fokalisation und das Gewinnen eines erhöhten Standpunktes mit Panaromablick, verleihen der Aeneas-Figur nun auf Handlungsebene eine aktive statt einer passiven Rolle. Wie um dies zu unterstreichen, erblickt der gerade seine Handlungsfähigkeit wiedererlangende Held eine Gruppe von Hirschen, die er mit Pfeil und Bogen erlegt, sieben Stück für die Mannschaft der sieben geretteten Schiffe (1,184-185). 31 Sale tabentis artus greift das einleitende defessi aus V. 157 auf; vgl. 178 fessi. Die Wendung magno telluris amore in V. 171 deutet zugleich atmosphärisch auf die DidoEpisode, die im vierten Buch ihren dramatischen Höhepunkt erfährt, voraus. 32 Norden (1957), 117 zu Aen. 6,9-41 (Besuch bei der Sibylle); Serv. Aen. 1,180: Aeneas merita personarum vilibus officiis interesse non debent. 46 Robert Kirstein tris litore cervos prospicit errantis; hos tota armenta sequuntur […] 185 Drei Hirsche erblickt er von fern am Strand umherschweifend; diesen folgt ein ganzes Rudel. […] Aus dem Anschauungsraum, wie er in der Ekphrasis topou konstruiert worden war, wird durch diesen Akt ein Handlungsraum, ein Raum, der dem Anti-Handlungsraum der Seesturmszene diametral entgegengesetzt zu sein scheint.33 Diese spatiale Anordnung bringt den Anführer Aeneas zugleich in eine symbolische Parallele zum obersten Göttervater Jupiter, von dem es in der anschließenden Götterszene heißt, dass er sich auf den ‚höchsten Punkt des Aether‘ begebe, um von dort Aussicht auf Libyens Küste und das Geschehen um Aeneas zu gewinnen (1,223-226):34 Et iam finis erat, cum Iuppiter – aethere summo despiciens mare velivolum terrasque iacentis litoraque et latos populos – sic vertice caeli 225 constitit et Libyae defixit lumina regnis. Und schon war es vorbei, als Jupiter – vom höchsten Punkt des Aether herabblickend auf das segelbefahrene Meer und auf die dahinliegenden Länder und auf die Küsten und die weitverstreuten Völkerschaften – so [i.e. auf diese Weise herabblickend] innehielt auf dem Himmelspol und seine Augen auf das Königreich Libyen heftete. III. Ergebnisse Die These, die abschließend vertreten werden soll, lautet, dass die Aneignung des Raumobjektes ‚Meer‘ samt dem zugehörigen ‚imperialen‘ Zu Handlungs-, Anschauungs- und gestimmtem Raum s. Haupt (2004) und z.B. Kirstein (2015). Zur Jagdszene im Spannungsfeld zwischen optimistischer und pessimistischer Vergil-Exegese s. Staley (2000). 34 Vgl. Il. 1,498-499 (Thetis bittet Zeus): εὗρεν δ ᾽ εὐρύοπα Κρονίδην ἄτερ ἥµενον ἄλλων / ἀκροτάτῃ κορυφῇ πολυδειράδος Ο ὐλύµποιο. In der Dios-apate-Szene lässt sich Hypnos auf der höchsten Tanne des Ida nieder (Il. 14,286-288), während er im Dienst der Hera Zeus abzulenken hilft: ἔνθ᾽ Ὕπνος µὲν ἔµεινε πάρος Διὸς ὄσσε ἰδέσθαι / εἰς ἐλάτην ἀναβὰς περιµήκετον, ἣ τότ᾽ ἐν Ἴδῃ / µακροτάτη πεφυυῖα δι᾽ ἠέρος αἰθέρ᾽ ἵκανεν. 33 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 47 Deutungspotential weit tiefer in der narrativen Mikrostruktur des Textes angelegt ist, als dies die Vergil-Forschung bisher angenommen hat. Nicht erst in der Anlandungsszene gewinnt Aeneas seine Handlungsinitiative zurück, die in dem Besteigen der Anhöhe am Strand sowie in dem feldherren- und jupitergleichen Rundumblick ihren sinnfälligen spatialen Ausdruck findet. Vielmehr eignet sich Aeneas den Raum bereits in der davor liegenden Seesturmszene an, indem er als fokalisierende Instanz in einem mehrstufigen Zoom-In vom Raum ‚Besitz ergreift‘. Zwar ist er hier noch passivisch gezeichnet, als eine Figur, die Elementen und höheren Mächten ausgeliefert ist. Zugleich ist er aber auch derjenige, über dessen eingebettete Fokalisation der Raum wahrgenommen und somit narrativ überhaupt erst konstruiert wird. In Hinblick auf die Grundstruktur des Textes bedeutet dies, dass Aeneas in der Seesturmszene auf Ebene der erzählten Welt – im Sinne traditioneller Interpretationen – eine passive Rolle, auf Ebene der narrativen Repräsentation dagegen bereits eine aktive Rolle einnimmt, sein ‚erster Akt‘ mithin signifikant früher in die Gesamterzählung eingebaut ist als es auf den ersten Blick erscheint. Die bezeichnete Kollision von Aktivität und Passivität auf den verschiedenen erzählerischen Ebenen eröffnet noch zwei weitere Richtungen der Interpretation: zum einen entfaltet sich so innerhalb der ersten hundert Verse der Aeneis der grundlegend ambige Charakter ihrer Hauptfigur. Und zugleich kann das Spiel mit der Fokalisation als ein illusionsdurchbrechender und metafiktionaler Marker gelesen werden, durch den der fiktionale Status der Figuren ins Bewusste gehoben werden. Die beiden exemplarischen Szenen verdeutlichen, was für das erste Buch der Aeneis insgesamt gilt: es lässt sich als gradueller und incrementeller ‚Raumaneignungsprozess‘ lesen, durch den die Hauptfigur gewissermaßen zur ‚Raumfigur‘ wird. Dies hat weitreichende Folgen, denn der Textraum des Helden Aeneas wandelt sich durch die teleologische Ausrichtung der Aeneis auf das historisch-politische Selbstverständnis Roms im Akt der Rezeption zu einem – in Anlehnung an die Terminologie von Barbara Piatti – ‚imperialen Georaum‘,35 der unmittelbar auf die institutionellen Hochsemantiken der Augusteischen 35 Piatti (2009). 48 Robert Kirstein Zeit verweist – oder zumindest als ein solcher Verweis gelesen werden kann. Lesend, so könnte man schließlich sagen, eignen sich die RezepientInnen dann performativ den Raum an, dessen sich die literarische Figur Aeneas fokalisierend bemächtigt. Weitreichend auch deshalb, weil die literarische Konstruktion von Räumen Rückwirkungen auf den Realraum (oder Georaum) ausübt, wie dies unter anderem Doležel pointiert formuliert hat: in one direction, in constructing fictional worlds, the poetic imagination works with ‚material‘ drawn from actuality; in the opposite direction, fictional constructs deeply influence our imaging and understanding of reality.36 IV. Ausblick: Aeneas, Turnus und das Ende der Aeneis Die bisherigen Beobachtungen zur narrativen Mikrostruktur haben auch Auswirkungen auf das Verständnis der makrostrukturellen Disposition der Aeneis insgesamt. Denn von der Szene, die Aeneas im Seesturm zeigt, führt eine direkte Linie zum Schluss des Werkes.37 Dort, am Ende des langen zwölften Buches, tötet Aeneas seinen italischen Widersacher, den Rutulerfürsten Turnus. Die Szene ist von der Vergilforschung immer wieder diskutiert worden, überwiegend unter dem Aspekt des abrupt wirkenden, ja abbreviaturhaften Werkschlusses sowie im Hinblick auf die ethische Beurteilung von Aeneas’ Racheakt.38 Der erstgenannte Aspekt hat die Vergil-Forschung der vergangenen Jahre unter dem Schlüsselbegriff des ‚closure‘ beschäftigt, also der Frage danach, wie Erzählungen enden. 39 Legt man die narrative Mikrostruktur der Seesturmszene am Werkanfang zugrunde, wird der Bezug zur Turnusszene am Ende evident: Wieder ist Aeneas fokalisierende Instanz, wieder ist der Raum in einem extremen Zoom-In zusammengezogen, der räumliche „Container“ umfasst nur noch die beiden Kontrahenten Turnus und Aeneas. Doležel (1998): X; vgl. dazu auch Piatti (2009), 23-24. Für die intratextuellen Bezüge zwischen den Büchern 1 und 12 vgl. Tarrant (2012), 3. 38 Einen Überblick über den Forschungsstand gibt Tarrant (2012), 16-30. 39 Wegweisend sind die Arbeiten Donald Fowlers, insbesondere Fowler (2000), s. jetzt auch Schmitz/Telg genannt Kortmann/Jöne (2017). 36 37 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 49 Zugleich sind Figuren und Raum gleichermaßen ‚verkörperlicht‘: Hände, Schultern, Körperglieder, Wunden, Rüstungs- und Kleidungsgegenstände bilden ein dichtes Netzwerk, seelische Vorgänge sind in körperliche Handlungen und Gesten umgesetzt (12,938-952): stetit acer in armis Aeneas volvens oculos dextramque repressit; et iam iamque magis cunctantem flectere sermo 940 coeperat, infelix umero cum apparuit alto balteus et notis fulserunt cingula bullis Pallantis pueri, victum quem vulnere Turnus straverat atque umeris inimicum insigne gerebat. ille, oculis postquam saevi monimenta doloris 945 exuviasque hausit, furiis accensus et ira terribilis: ‚tune hinc spoliis indute meorum eripiare mihi? Pallas te hoc vulnere, Pallas immolat et poenam scelerato ex sanguine sumit.’ hoc dicens ferrum adverso sub pectore condit 950 fervidus; ast illi solvuntur frigore membra vitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras. Grimmig stand Aeneas da in seiner Waffenrüstung, die Augen rollend, und hielt seine Rechte zurück; und mehr und mehr begann die Rede [i.e. des Turnus] den Zögernden umzustimmen, als ihm hoch oben an der Schulter das unheilvolle Wehrgehenk ins Auge sprang und der Gürtel mit den bekannten Buckeln des jungen Pallas aufschien. Ihn hatte Turnus besiegt und mit einer Wunde niedergestreckt, und (jetzt) trug er den Feindesschmuck an seiner Schulter. Jener, nachdem er mit seinen Augen die Erinnerungsstücke des grimmen Schmerzes und die Rüstung verschlungen hatte, (sprach) entflammt von Furien und von Groll furchterregend: ‚Du willst Dich mir entreißen, angetan mit den Spolien der Meinen? Mit dieser Wunde schlachtet Dich Pallas, Pallas nimmt Rache aus dem befleckten Blut.’ Mit diesen Worten stößt er ihm von vorne das Schwert in die Brust, glühend; aber jenem lösen sich die Glieder vor Kälte, und das Leben flieht mit einem Aufseufzer empört hinunter zu den Schatten. Dass die Aeneas-Figur an dieser entscheidenden Stelle embedded focalizer ist, wird in auffälliger Weise gleich mehrfach hervorgehoben: zunächst durch die Wendung des ‚die Augen Rollens‘ – in V. 939 volvens oculos, – und dann durch die auffällige Wortverbindung oculis … haurire in V. 945f., ‚mit den Augen verschlingen‘. Hinzu kommen weitere Begriffe, die auf die sinnlich-optische Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit abheben, wie apparere in V. 941, ‚erscheinen‘, und fulgere in 50 Robert Kirstein V. 942, ‚aufblitzen‘. Auf das – im Sinne Wolf Schmids – ‚ereignishafte‘ Sehen kommt in dieser finalen Partie alles an: Aeneas ‚erblickt‘ an Turnus’ Rüstung die Kriegsspolien des Trojaners Pallas, dem jungen Verbündeten und Begleiter des Aeneas (Sohn Euanders), der von Turnus’ Hand zuvor getötet worden war. Furchtbare Wut steigt in ihm auf, und nach kurzen Worten handelt er, indem er nun seinerseits Turnus mit dem Schwert tötet. Die Turnusszene am Schluss der Aeneis fordert die Bezugnahme auf die Seesturmszene geradezu ein, dies ergibt sich aus V. 951, dessen auf Turnus bezogene Wendung ast illi solvuntur frigore membra direkt auf V. 92 des ersten Buches rekurriert.40 Die intratextuelle Verklammerung der beiden zentralen Szenen im ersten und zwölften Buch durch die fast wörtliche Wiederholung eines Verses ist umso auffälliger, als diese Wendung sonst in der Aeneis an keiner anderen Stelle vorkommt. Setzt man auf dieser Grundlage die beiden Szenen zueinander in Bezug, kann man folgern, dass Aeneas die im ersten Buch angelegte sukzessive Aneignung des Raumes – indem er nun nicht nur ‚sieht‘, sondern zugleich ‚sehend handelt‘ – in der Turnusszene zum Abschluss bringt. Dann aber ist der Schluss der Aeneis nicht so abrupt wie bisher angenommen, sondern in Hinblick die narrative Mikro- und Makrostruktur des Textganzen sogar konsequent.41 Vgl. Hom. Od. 5,297 καὶ τότ᾽ Ὀδυσσῆος λύτο γούνατα καὶ φίλον ἦτορ, und Livius Andronicus fr. 16 Ulixi cor frixit prae pavore. Eine Diskussion der Vorlagen schon bei Serv. Aen. 1,92. 41 Vgl. Tarrant (2012), 341: „The repetition is a marker of A.’s transformation, from the terrified victim of Juno’s anger to the angered (i.e. Juno-like) avenger who acts with the support of Jupiter. In the earlier scene A. wished that he had met death at the hands of Diomedes (1.96-8); now he kills a would-be Diomedes.“ Polleichtner (2009), 77 weist darauf hin, dass in Aen. 1,92 das ‚Lösen der Glieder‘ keine lange Nachwirkung hat: schon im nächsten Vers hat er wieder genügend Kraft, die Hände zum Himmel zu heben. Die Partie in Buch 1 kann auch unter dem Aspekt des Neides gelesen werden, denn Aeneas beneidet diejenigen, die vor Troja einen helden- und ehrenhaften Tod in der Schlacht gefunden haben. 40 Raum und Fokalisation in Vergils Aeneis 51 Bibliographie Textausgaben P. Vergilius Maro: Aeneis. Recensuit atque apparatu critico instruxit Gian B. Conte, Berlin 2009 (Bibliotheca Teubneriana). P. Vergili maronis Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger A. B. Mynors, Oxford 21972 (Oxford Classical Texts). Sekundärliteratur Adler (2002) = Adler, Eve: Vergil’s Empire. Political Thought in the Aeneid, London 2002. Austin (1971) = Austin, Roland G.: P. 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