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2014, Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik

Degner · Mengaldo (Hg.) DER DICHTER UND SEIN SCHATTEN Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München Uta Degner · Elisabetta Mengaldo (Hg.) DER DICHTER UND SEIN SCHATTEN Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik Wilhelm Fink Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung Essen und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg Umschlagabbildung: Friedrich Hölderlin: Homburger Folioheft © Stadt Bad Homburg v. d. Höhe Georg Trakl: „Gericht“ © Forschungsinstitut Brenner-Archiv Innsbruck Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5607-6 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München INHALT UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 MARCEL BEYER Das Fremde singen. Pound, Benn, Dylan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 WOLFRAM GRODDECK Verzweigte Bezüge. Robert Walser und Paul Verlaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 NORBERT CHRISTIAN WOLF Paare und Passant(inn)en. George, Hofmannsthal und Baudelaire . . . . . . . . . 57 HANS-JOST FREY Überlieferung und Textbeziehung bei Franz Josef Czernin . . . . . . . . . . . . . . . 89 DIETER BURDORF Bakchenrasereien. Thomas Kling liest Rudolf Borchardt . . . . . . . . . . . . . . . . 117 ELISABETTA MENGALDO „Die Poesie / ändert nichts. Nichts ist sicher. Also schreib“. Franco Fortini liest Bertolt Brecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 ECKHARD SCHUMACHER „… plan wie eine Sense“ – Über Oberflächenübersetzungen . . . . . . . . . . . . . 151 JOHANN REISSER Die Wiedergänger der Musikbox. Rolf Dieter Brinkmann zwischen untoten Sprachmustern und hybriden Medienmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 MICHAEL GRATZ Die Hölle in Sachsen. Unvorgreifliche Gedanken zur Danterezeption bei mitteldeutschen Dichtern des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 6 INHALT UTA DEGNER Anrufung der großen Männer. Zur intertextuellen Emphase von Marie-Thérèse Kerschbaumers Gedichtzyklus Neun Canti auf die irdische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 HANS-JOACHIM HAHN Beeinflusster Fährmann? Zur Lyrik Henryk Bereskas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 THERESIA PRAMMER „Das Substrat glüht“. Oswald Egger, im Wegzusammenhang . . . . . . . . . . . . . 235 ARMIN SCHÄFER „Outcast on the Mountains of the Heart“: Rilkes Gedichte in William H. Gass’ Roman The Tunnel . . . . . . . . . . . . . . . . 261 LYRISCHE SCHATTENSPIELE: GESPRÄCHE UND SELBSTAUSSAGEN URS ALLEMANN Die dunkle Branche des Schneckenflugs. Gespräch mit Wolfram Groddeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 MONIKA RINCK Verhexte Spediteure. Gespräch mit Elisabetta Mengaldo . . . . . . . . . . . . . . . . 303 STEFFEN POPP Fragen an die Boxmaschine. Versuche zu einer kollaborativen Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO EINLEITUNG Sucht nach Originalität ist gelehrter, grober Egoïsm. Wer nicht jeden fremden Gedanken, wie einen Seinigen, und einen Eigenthümlichen, wie einen fremden Gedanken behandelt – ist kein ächter Gelehrter. […] Der Gelehrte weiß das Fremde sich zuzueignen und das Eigne fremd zu machen. Novalis1 „[V]on Ihnen dependir’ ich unüberwindlich“, gesteht Friedrich Hölderlin am 20. Juni 1797 Friedrich Schiller.2 „Fühlst Du mein Lebtum / Überall / Wie ferner Saum?“ fragt Else Lasker-Schüler 1912 in einem Gedicht an Gottfried Benn.3 Und Paul Celan, der seinen 1963 entstandenen Gedichtband Die Niemandsrose dem Andenken Ossip Mandelstams gewidmet hat, spricht dort mit vielen: Friedrich Hölderlin, Heinrich Heine, Mandelstam, Rainer Maria Rilke oder etwa Nelly Sachs: „Dein Aug sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte“.4 Dies sind wenige Beispiele dafür, wie selbstverständlich und oft emphatisch sich Dichter zu anderen Dichtern bekennen und ihnen in ihren Texten explizit oder implizit poetische Reverenz erweisen. In der Forschung hingegen steht oft ein Dichten, das sich allzu stark an einer anderen Poetik orientiert, unter Verdacht, ja die Kultur der Moderne scheint einer Poetik forcierter Vorbilder generell nicht gerade aufgeschlossen zu sein. Grundlegende Theorieentwürfe nennen Originalität und Innovation – Prinzipien der Abweichung vom Bisherigen – als Kriterien für ästhetisches Gelingen und künstlerischen Erfolg. Wie beispielsweise Boris Groys in seinem Versuch einer Kulturökonomie darlegt, fußt die implizite Werthierarchie aller (!) Kulturen geradezu auf dem Prinzip des Neuen: „Das Grundprinzip der Gestaltung der kulturellen Archive“, so Groys, „besteht […] darin, daß diese das Neue notwendigerweise in sich aufnehmen und das Nachahmende ignorieren. Was schon Vorhandenes nur reproduziert, wird vom organisierten kulturellen Gedächtnis als überflüssig und tautologisch 1 Novalis, Das Allgemeine Brouillon. Materialien zu einer Enzyklopädistik 1798/99. Mit einer Einleitung von Hans-Joachim Mähl, Hamburg,1993, S. 165, Nr. 716. 2 Friedrich Hölderlin, Brief an Friedrich Schiller vom 20.06.1797, in: Ders., Briefe, hg. v. Adolf Beck (= Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe; Bd. 6, 1), Stuttgart, 1954, S. 241. 3 Else Lasker-Schüler, „Höre!“, in: Dies., Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, Frankfurt a.M., 1996, Nr. 229, S. 172f., hier S. 173. 4 Paul Celan, „Zürich, Zum Storchen“, in: Ders., Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Axel Gellhaus, Bd. 6.1: Die Niemandsrose, Frankfurt a.M., 2001, S. 16f., hier S. 16. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 8 UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO abgelehnt“.5 Auch Harold Blooms wirkungsmächtiger Begriff der „Einfluss-Angst“6 leitet sich aus einer Auffassung der dichterischen Errungenschaften als originelle Abweichungen von den Vorläufern und den kulturcodierten Modellen ab und etabliert eine überaus normative Typologie der dichterischen Bezugnahmen: Eine intensive agonale Spannung des Bezugs wird als stark gewertet, affirmierende, positive Arten der Intertextualität gelten automatisch als schwach: „Poetischer Einfluss bedeutet“, so Bloom, „daß Individuen durch Zustände hindurchgehen, aber dieses Hindurchgehen ist schlecht vollzogen, wenn es kein Abweichen ist.“7 Bloom kommt jedoch das Verdienst zu, die emotionale Valenz ästhetischer Dialogizität ins Bewusstsein gerückt zu haben, wie sie auch in diesem Band als poetischer Impetus immer wieder anklingt. Intertextualität erweist sich dabei weniger als Ausweis der Gelehrsamkeit, sondern hat oft ästhetischen und auch privaten Bekenntnischarakter, woraus auch das Bloom zufolge notwendige misreading der Vorbilder entspringt. Ausgangspunkt des Tagungsprojekts, das diesem Band zugrundliegt, war die Idee, Blooms affektive Aufladung des Intertextualitätsprinzips aufzunehmen, seiner Konzeption der Einfluss-Angst allerdings Ästhetiken der Einfluss-Lust gegenüberzustellen.8 Denn gerade Autoren des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart beziehen sich oft nicht angst-, sondern lustvoll auf literarische Vorbilder und erweisen in ihrem Werk dem Schaffen der Kollegen poetische Reverenz; nicht zufällig erleben gerade kopierende Verfahrensweisen und literarische ready mades wie Ernst Jandls „Ein Gleiches“, Nachdichtungen, Umdichtungen, Weiterdichtungen und andere affirmative Formen von Intertextualität in dieser Epoche einen Siegeszug und es etabliert sich „jene Form von Montage- und Zitatkunst, angesichts derer die defizitären Aspekte der Epigonalität irrelevant werden“.9 Den Tel QuelTheoretikern und am prominentesten Julia Kristeva (der wir die Einführung des Begriffs Intertextualität verdanken) kommt zwar das große Verdienst zu, der etwas monolithischen Textauffassung der Strukturalisten ein dynamischeres Konzept gegenübergestellt zu haben, nach dem jeder Text sich als „Mosaik von Zitaten“ aufbaut und als „Absorption und Transformation eines anderen Textes“10 erweist. Eine solche Öffnung und Dynamisierung des Textbegriffs enthält jedoch in sich 5 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München, 1992, S. 55. 6 Harold Bloom, Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem Amerikanischen von Angelika Schweikhart, Basel/Frankfurt a.M., 1995 (= nexus 4). 7 Ebd., S. 42; Herv. Hg. 8 Wenn wir den Begriff „Einfluss“ hier verwenden, so möchten wir allerdings nicht dessen traditionelle, aus der Einfluss-Forschung stammende Konnotation übernehmen, welche eine pure Passivität des übernehmenden Parts suggeriert. Im Gegenteil soll die Formulierung Einfluss-Lust betonen, dass das vermeintlich beeinflusste Objekt Subjekt einer ästhetischen Entscheidung ist, Einfluss zuzulassen, ja diesen aktiv (aus)sucht. 9 Burkhard Meyer-Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen/Basel, 2001, S. 17. 10 Julia Kristeva, „Dialog und Roman bei Bachtin“, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3, hg. v. Jens Ihwe, Frankfurt a.M., 1972, S. 345-374, hier S. 347. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München EINLEITUNG 9 schon die Keime ihrer Fragwürdigkeit, denn je radikaler sie wird, desto mehr verwischt sich der Horizont der intertextuellen Verweisungen. Die poststrukturalistische Auffassung des Textes als Gewebe von Zitaten und als (unendlich bedeutungsoffene) „stereographische Pluralität der Signifikanten“11 sowie die Erweiterung des Textbegriffs auf den Kulturtext selbst reichen nicht aus, um einer oft ostentativ zur Schau gestellten Nachahmungs- und Wiederholungslust Rechnung zu tragen. Diese ist weder als reines Epigonentum abzuwerten noch gehört sie als bloße Iterabilität des Zeichens in die subjektlose „Struktur des Geschriebenen selbst“12, sondern sie macht das Hervortreten einer imitationsbejahenden Ästhetik sichtbar. Die Dichtung des 20. Jahrhunderts, so unsere Ausgangsthese, hat längst begonnen, in der Praxis mit den Schatten der Vorgänger zu spielen: nicht Einfluss-Angst, sondern Einfluss-Lust bestimmt vielfach die Textproduktion. Die im April 2011 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald durchgeführte Tagung wollte der Frage nachgehen, inwiefern es möglich ist, derartige nach Bloom vermeintlich „schwache“ – Poetiken als stark zu profilieren. In zwei Richtungen schien uns ein solches Denkexperiment gewinnbringend. Zunächst einmal erscheint eine agonale Kulturauffassung unterkomplex in ihrer Weise, die Rhetorik der Agonalität zunächst nicht als das zu verstehen, was sie zunächst ist (nämlich eben eine Rhetorik), sondern sie als poetische Tatsache zu nehmen. Ein allzu simples Verständnis der Regeln der Kunst durch das Bourdieusche Prinzip der Distinktion lässt das außer Acht, was (auch bei Bourdieu) immer deren Basis ist: Die Grundierung jedes Textes durch eine – bewusste oder unbewusste – Adaptation, ein Anknüpfen an das kulturelle Gedächtnis und die poetische Tradition. Statt eines Entweder-oder ist das Verhältnis von Text und Vorläufer genauer dialektisch zu denken, als ein Bedingungsverhältnis von Bruch und Kontinuität. So liest Adorno in seiner Ästhetischen Theorie die Beziehung zwischen Nachahmung und künstlerischer Freiheit dezidiert hegelianisch-dialektisch. Zwar ist das Ziel Freiheit und Autonomie, dieses setzt sich jedoch nicht in Unabhängigkeit von, sondern mittels eines dialektischen Spannungsverhältnisses von imitatio und aemulatio durch: [E]rst in seiner Selbstentfremdung durch Nachahmung kräftigt das Subjekt sich so, daß es den Bann der Nachahmung abschüttelt. Worin Kunstwerke Jahrtausende lang als Bilder von etwas sich wußten, das enthüllt durch Geschichte, ihren Kritiker, sich als ihr Unwesentliches. Kein Joyce ohne Proust und dieser nicht ohne den Flaubert, auf den er herabsah. Durch Nachahmung hindurch, nicht abseits von ihr hat Kunst zur Autonomie sich gebildet; an ihr hat sie die Mittel ihrer Freiheit erworben.13 11 Roland Barthes, „Vom Werk zum Text“ (1971), in: Texte zur Theorie des Textes, hg. v. Stephan Kammer und Roger Lüdeke, Stuttgart, 2005, S. 40-51, hier S. 45. 12 Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext“, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien, 1988, S. 291-314, hier S. 300. 13 Theodor W. Adorno, Paralipomena [zur Ästhetischen Theorie], in: Ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2003, Bd. 7, S. 389-490, hier S. 424f. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 10 UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO Wenn man nun Adornos Überlegung konsequent weiter denkt, führt sie zu einem weiteren Punkt, in dem eine Neubewertung poetischer Heteronomie fruchtbringend erscheint: Denn stellt es nicht in einer Epoche, in der das Prinzip der Originalität eine solche Bedeutung aufweist wie gegenwärtig, geradezu ein non plus ultra der Originalität dar, nicht originell sein zu wollen? Und wäre in diesem Zusammenhang nicht auch an die polemische, politische Disposition all der Formen von Imitation, Nachdichtung, Parodie und Pastiche zu erinnern, insofern sie Einspruch gegen die elitären Mythen von der „großen Kunst“ und der „dichterischen Autonomie“ erheben? Die Unmöglichkeit, sich ein gänzlich originelles Werk zu denken, das vollständig ohne Vorläufer auszukommen im Stande wäre und für dessen Entstehung das kulturelle Archiv bedeutungslos wäre, erweist die Verabsolutierung von Originalität als Fiktion. Frühere Epochen haben das Verhältnis von imitatio und aemulatio in der Tat noch weitaus intrikater gedacht. So die Poetik des Barock, die Nachahmung als Feld für Innovation versteht, indem Eigenständigkeit erst im Durchgang durch die Nachahmung möglich wird.14 Noch Winckelmann propagiert 1755 Nachahmung als „einzige[n] Weg, […] unnachahmlich zu werden“.15 Bekanntlich ist die Idee absoluter Originalität erst eine Erfindung des Geniekults des Sturm-und-Drang und der frühromantischen Ästhetik; doch schon der mittlere, antiromantische Friedrich Nietzsche hat in Der Wanderer und sein Schatten, dem sich der Titel dieses Bandes entlehnt, an mehreren Stellen den Fragen von Originalität und Konvention eine andere Wendung gegeben, indem er versuchte, deren wechselseitige Bedingtheit zu unterstreichen und Originalität als Konsequenz eines modernen Kults der Unverständlichkeit deutete. Kannten die Antiken ihm zufolge keine Angst vor der Konvention und vor der Wiederholung erprobter Kunstmittel, weil sie sich so ihrem Publikum verständlich machten und mit ihm zusammenhingen, so habe sich ab 1770 ein gewaltiger Paradigmenwechsel ereignet, dem Nietzsche durchaus skeptisch gegenübersteht: Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass er eine neue Convention s c h a f f t . Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?16 Bereits hier erweist sich die „Originalitätswuth“ als rhetorische Chimäre, von der bei genauerer Betrachtung der Dinge, d .h. der Texte, nicht viel übrig bleibt. Mit seiner 14 Vgl. z. B. Philipp Harsdörffer, „Von der Nachahmung“, in: Poetik des Barock, hg. v. Marian Szyrocki, Stuttgart, 1977, S. 138-142, insbes. S. 142. 15 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke der Malerei und Bildhauerkunst, hg. v. Ludwig Uhling, Stuttgart, 1995, S. 4. 16 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches II (Vermischte Meinungen und Sprüche. Der Wanderer und sein Schatten), in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Berlin u.a., 1999ff., Bd. 2, S. 604f. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München EINLEITUNG 11 Polemik gegenüber der gewollten Unverständlichkeit moderner Literatur setzte sich der junge Nietzsche jedoch nicht nur der frühromantischen Poetik entgegen, sondern berührt einen heiklen, bis heute andaudernden ästhetischen Selbstwiderspruch. Die Frage nämlich nach der Rolle, welche die Konvention und ein transparentes bzw. verstecktes Verhältnis gegenüber Vorbildern spielen, wird nicht zuletzt in der modernen Lyrik virulent, die seit dem französischen Symbolismus ja immer mehr zu opaker Intransitivität und Hermetik tendiert. Worin besteht die Einfluss-Lust in einer Lyrik, die immer mehr selbstreferenzielle Züge trägt und sich als Bannerträgerin ästhetischer Autonomie versteht bzw. häufig so selbststilisiert? Nicht zuletzt die praktizierte Literatur der Gegenwart scheint ein wichtiges Korrektiv für solche Fragen bereitzustellen, da die gegenwärtige Dichtergeneration oftmals unverkrampfter und intensiver mit der Tradition umgeht als viele ihrer modernistischen Vorgänger. Uns war es daher von Anfang an ein großes Anliegen, auch Gegenwartsautorinnen und -autoren Gehör zu verschaffen. Urs Allemann, Marcel Beyer, Monika Rinck, Steffen Popp und Bertram Reinecke sind nach Greifswald gekommen und haben eigene Texte vorgelesen und/oder einen Vortrag gehalten (Beyer, Popp) bzw. sich für Gespräche über ihr poetisches Schaffen und ihren Umgang mit Vorgängern zur Verfügung gestellt (Allemann, Rinck). Ihre Teilnahme ermöglichte eine Veranschaulichung, aber auch wichtige Korrekturen unserer anfänglichen Thesen und wir danken ihnen daher ganz besonders dafür. Die Einschränkung auf Lyrik war reizvoll für uns, da sie eine konzentrierte Diskussion je einzelner Werke ermöglichte und zugleich einem immer noch verbreiteten Vorurteil begegnen konnte, demzufolge Lyrik monologisch sei.17 Die hier versammelten Beiträge, die sich wiederholt auch mit dem für diese Fragestellungen zentralen Gebiet der Übersetzung von Lyrik auseinandersetzen,18 zeigen in ihrer Diversität die Vielfalt der möglichen dichterischen Umgangsweisen mit einer Poetik der Einfluss-Lust – und zuweilen auch Einfluss-Angst – und machen deutlich, wie sehr der Bezug zu poetischen Schatten jeweils zum Zentrum der individuellen Poetik der/des jeweiligen Autorin/s gehört. Intertextualität ist, sofern sie sich nicht auf gelehrtes Beweisen von Wissen beschränkt, keine Methode, sondern eine Funktion von Autorschaft, die wie diese sehr individuell konzipiert sein kann. Der Bezug auf ein und denselben Dichter wird daher in der Regel gänzlich unterschiedliche Züge besitzen. Gerade das macht aber die Rekonstruktion von emphatischen Bezugnahmen von Dichter/in zu Dichter/in für die Literaturwissenschaft so interessant: denn in ihrem Nachvollzug zeigen sich Essenzen des poet(olog)ischen Selbstverständnisses der/s Bezugnehmenden. 17 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a.M./Berlin/Wien, 1985, S. 223. Vgl. dagegen den Band „Rupfen in fremden Gärten“. Intertextualität im Schreiben Friederike Mayröckers, hg. v. Inge Arteel und Heidy Margrit Müller, Bielefeld, 2002. 18 Vgl. dazu u. a. Theresia Prammer, Übersetzen – Überschreiben – Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede, Wien, 2009. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 12 UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO Marcel Beyer (Berlin) beweist dies gleich in seinem anspielungsreichen Eröffnungsbeitrag „Das Fremde singen. Pound, Benn, Dylan“, der für eine Mehrstimmigkeit plädiert, die er zugleich darstellerisch umsetzt: Ausgehend von einem Song der Gruppe The Ink Spots von 1940 – „We three (My Echo, My Shadow and Me)“ – unternimmt er einen hochgradig poetischen Parcours über Ezra Pound (Paradigma für intertextuelle „Abwehr“) und Gottfried Benn (Paradigma für intertextuelle „Hingabe“) bis hin zu einer eigenen Übersetzung des Bob Dylan-Songs „I shall be released“: Statt wörtliche Texttreue transponiert Beyer das bei Dylan wahrgenommene Prinzip des „Zusammenwirken[s] von individueller und kollektiver Stimme, die gegenseitige Durchdringung von Eigen- und Fremdmaterial“, die durch den Transfer in den andersartigen deutschsprachigen Kontext zu einem gänzlich neuen Text führt, in dem der Ausgangstext gleichwohl wiederzuerkennen ist. Eine solche „Mehrstimmigkeit“ identifiziert Beyer als „das einzige wirksame Gegengift gegen den monolithischen, fanatischen Schwachsinn in der Poesie“ und formuliert damit ein Credo, das ganz zentral sein eigenes Schreibverfahren bestimmt.19 Wolfram Groddeck (Zürich) entfaltet in seinem Beitrag „Verzweigte Bezüge. Robert Walser und Paul Verlaine“ anhand mehrerer Textentwürfe aus Robert Walsers Mikrogrammen dessen komplexe poetische Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolisten Paul Verlaine. Im close reading zweier Gedichte zeigt Groddeck, wie sich Walsers Perspektive auf Verlaine im Spannungsfeld von Identifikation, ironischer Distanz und „aggressiver Gegenübertragung“ verortet, wobei letztere eher den Verlaine-Übersetzungen und der Person ihres Übersetzers, Stefan Zweig, zu gelten scheinen, wie Groddecks sensible Lektüre aufdeckt. Gerade im Akt der Distanznahme von der „preziöse[n] wie epigonale[n] Edel-Lyrik des frankophilen Stefan Zweigs“ eröffne sich eine „eigenwillige poetische Verwandtschaft“ Walsers zu Verlaine. Norbert Christian Wolf (Salzburg) widmet sich dem Verhältnis von Hofmannsthal und George. Sein Beitrag „Paare und Passant(inn)en. George, Hofmannsthal und Baudelaire“ geht der spannungsgeladenen Begegnung der beiden jungen Dichter in Wien nicht nur in biographischer Hinsicht nach, sondern betont insbesondere deren konfliktuöse Verlängerung in die Dichtung hinein, wie Wolf u. a. an Georges und Hofmannsthals Übertragungen, Um- und Weiterdichtungen sowie lyrischen Kontrafakturen ausgehend von Baudelaires berühmtem Gedicht „À une Passante“ zeigt. „Delikat“ erscheint dabei nicht zuletzt, dass George wohl eine recht unverblümte Einfluss-Lust auf Hofmannsthal auszuüben versuchte, auf welche dieser mit Einfluss-Angst reagierte. Wolf zeigt aber darüber hinaus, wie solche brisanten Konstellationen Teil von „auktorialen Werkpolitik[en]“ werden, welche sich gar bis in die Literaturgeschichtsschreibung fortzusetzen vermögen. Die Texte von Hans-Jost Frey (Zürich) und Dieter Burdorf (Leipzig) setzen sich beide (u. a.) mit der Rezeption Rudolf Borchardts durch Autoren des 20. Jahrhunderts auseinander. In seinem Beitrag „Überlieferung und Textbeziehung bei Franz 19 Vgl. Henning Heske, „Echos aus der Vergangenheit. Intertextualität in der Lyrik von Marcel Beyer“, in: Literatur im Unterricht 6 (2005), H. 1, S. 33-37. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München EINLEITUNG 13 Josef Czernin“ analysiert Frey zuerst zwei Sonette Czernins mit doppelter Bezugnahme auf Dante und dessen Übersetzung durch Rudolf Borchardt (elemente, nach borchardt nach dante). Dabei erweist Frey die Beziehung als eine nicht so sehr inhaltliche, sondern vor allem sprachliche Vermittlung, die in beiden Übertragungen unter dem gemeinsamen Nenner der Sprachverfremdung steht. In diesem Zusammenhang wird die Elementenlehre, die thematisch den ganzen Zyklus bestimmt, als die „Darstellung einer Struktur“ verstanden, die auch in der Übersetzungstheorie Borchardts und Czernins begegnet: eine Struktur, in der „die Beziehung zwischen zwei Instanzen in deren gemeinsamer Herkunft aus einer dritten besteht“. Im zweiten Teil seines Beitrags widmet sich Frey Czernins poetischer Auseinandersetzung mit den Gedichten Mechthild von Magdeburgs und liest sie als Versuch, mit modernen Sprachmitteln die Wirkung zu reproduzieren, die diese mystischen Texte auf Czernin ausgeübt haben. Dieter Burdorf beschäftigt sich in seinem Beitrag „Bakchenrasereien. Thomas Kling liest Rudolf Borchardt“ mit einer weiteren Spielart produktiver Lektüre, nämlich Borchardts und Klings Rezeption des antiken Backchen-Stoffes. Lässt sich Borchardts Projekt „Bacchische Epiphanie“ als „ekstatische Kontrafaktur“ zu Schillers „Das Eleusische Fest“ lesen, erweist sich Klings Prosatext „Projekt Vorzeitbelebung“ aus dem Band Auswertung der Flugdaten als eine doppelte Auseinandersetzung: mit Euripides’ Stück und seinem rituellen und mythologischen Hintergrund (den Gottheiten Dionysos und Hermes, der schamanistischen disiectio membrorum als Metapher des Schreibens) und mit der „Borchardtschen Antikenverwaltung“ als „Re-Konstruktion einer […] Sprach-Göttererscheinung“20. Eins der letzten Gedichte Klings („Sibylla Delphica“) liest Burdorf schließlich als einen „Akt der Aemulatio“ und eine Hommage an Borchardt, die aber „ins leise Genre des Liebesgedichts und des Bildgedichts sublimiert“ werde. Elisabetta Mengaldo (Greifswald) präsentiert in ihrem Beitrag „‚Die Poesie / ändert nichts. Nichts ist sicher. Also schreib‘. Franco Fortini liest Bertolt Brecht“ den italienischen Lyriker und Publizisten Franco Fortini als kongenialen Leser und Übersetzer Brechts. Das, was Fortini die „Brecht-Funktion“ nennt (eine Verschränkung von anti-lyrischem Verfremdungseffekt, Antithese der lyrischen Bilder und allegorisch-parabelhaftem Ton), sei sowohl für seine Übersetzungstätigkeit als auch für die Entwicklung seiner eigenen Schreibweise in den 60er Jahren zentral gewesen und habe ihm dazu gedient, seine eigene poetische Praxis gegen den symbolistisch-hermetischen Kanon der italienischen Lyrik des 20. Jahrhunderts zu legitimieren. Anhand von zwei Gedichten, die sich in der Sammlung Traducendo Brecht („Beim Übersetzen von Brecht“) befinden, zeigt Mengaldo, wie Fortinis Dichtung sich einerseits stark an Brechts Programmatik einer politischen Lyrik anlehnt, diese andererseits jedoch als Kontrastfolie verwendet, um eine eigene utopische Rede zu formulieren, die sich von Brechts Auffassungen abhebt und unter anderen historischen und theoretischen Voraussetzungen steht. 20 Thomas Kling, Auswertung der Flugdaten, Köln, 2004, S. 45. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 14 UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO Die Beiträge von Eckhard Schumacher (Greifswald) und Johann Reißer (Frankfurt/Oder) beschäftigen sich – bei Schumacher u. a. – mit der lyrischen Produktion und der Übersetzungstätigkeit Rolf Dieter Brinkmanns und mit ihnen betritt der Band das für die vorliegende Fragestellung so ergiebige Gebiet der Pop-Literatur. Schumacher widmet sich in seinem Aufsatz „ ‚… Plan wie eine Sense‘. Über Oberflächenübersetzungen“ einer ganz speziellen Form der Übersetzung, die sich gerade nicht darum bemüht, den Sinn eines Textes zu übertragen, sondern bewusst beim bloßen Signifikanten, vorzugsweise bei den klanglichen Qualitäten, halt macht. In Brinkmanns und Rygullas deutscher Version des Apollinaire-Gedichts „La jolie rousse“ (übersetzt als „Der joviale Russe“) wird daher etwa aus „plein de sens“ „plan wie eine Sense“ und es entsteht so ein neues Gedicht, was die von Brinkmann und Rygulla gewählte Bezeichnung dieses Textes als eine „Zusammenarbeit“ zwischen ihnen und Apollinaire erklärt. Lässt sich in diesem „Gaghaft-Flachen“ einerseits eher ein „Abbruch der Verbindung“ als eine Einfluss-Lust feststellen, betont Schumacher andererseits die bewusste Kontinuität zwischen den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts und dem Pop der 1960er Jahre. So liest sich die Übersetzung „gleichsam mit und ohne Apollinaire“ als ein impliziter häretischer Kommentar auf die deutschsprachige Lyrik der 1950er Jahre und schreibt sich in dieser Hinsicht auch in die Spur Ernst Jandls und seiner Übersetzungen ein. Reißers Text „Die Wiedergänger der Musikbox. Rolf-Dieter Brinkmann zwischen untoten Sprachmustern und hybriden Medienmechanismen“ setzt sich dagegen hauptsächlich mit Brinkmanns Rezeption der US-amerikanischen Nachkriegslyrik auseinander. Brinkmanns Versuch, gegen die deutschen Kulturgüter als „Totgeburten“ eine „Umfunktionalisierung vorgefundener Formen und Inhalte zu bewirken“ misst sich zwar auch an deutschsprachigen Modellen und Gegenmodellen (etwa dem Grimmschen Schneewittchen im Gedicht „Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand“ oder Celans „Todesfuge“ in „Die Klapper des Narren“). Er ist aber auch von Anleihen aus der amerikanischen Populär- und Avantgardekultur geprägt (Cut-Up-Verfahren übernimmt Brinkmann etwa von William S. Burroughs’ Roman Soft Machine), was Reißer auf Brinkmanns Interesse für die technischen Medien und vor allem für Schallplatte und Musikbox zurückführt. Seine These lautet, dass Brinkmanns Texte „eine Serie von Experimenten dar[stellen], welche die Potenziale verschiedener Apparaturen ausloten“. Gerade die Musikbox wird für ihn im Laufe der Jahre selbst zu einer konventionellen und kommerziellen Apparatur, die nichts mehr von der anfänglichen befreienden Kraft besitzt. Michael Gratz (Greifswald) untersucht in seinem Beitrag „Die Hölle in Sachsen. Unvorgreifliche Gedanken zur Danterezeption bei mitteldeutschen Dichtern des 20. und 21. Jahrhunderts“ Dante-Bezüge bei Karl Mickel, Norbert Lange und Bertram Reinecke und entdeckt in ihnen gänzlich andere Seiten als in westdeutschen lyrischen Dante-Bezügen, wie sie in der Forschung bislang dominierten. Gegenüber einer kulturkritisch-lamentierenden Bezugnahme à la Durs Grünbein fungiert Dante bei Mickel als Spiritus rector eines sensualistischen Liebesprogramms, der zudem die Selbstermächtigung eines jungen Autors unterstützt und Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München EINLEITUNG 15 dann später Pate für das poetologische Programm eines unbedingten Wahrnehmens steht. Langes Nachdichtung einer Passage aus Dantes Inferno in „CUTS / SCHNITTE (2)“ versetzt die Szenerie in die Gegenwart und nutzt die daraus entstehenden Reibungsflächen für eine Ästhetik der harten Schnitte, während Reinecke Dante (bzw. dessen deutsche Übersetzung von Karl Streckfuß) noch entschiedener als Sprachmaterial benutzt, aus denen er Gedichte im Cento-Stil generiert. Uta Degner (Salzburg) schließt mit einer Interpretation der Neun Canti auf die irdische Liebe der österreichischen Gegenwartsautorin Marie-Thérèse Kerschbaumers thematisch daran an, denn auch in Kerschbaumers Lyrik spielt die DanteRezeption eine zentrale Rolle, sie dient einer commemoratio-Poetik, wie sie in Dantes Divina Commedia bereits angelegt ist. Kerschbaumer steigert diese – auch in der Bezugnahme auf John Donne – zu einer regelrechten Liebespoetik, die eine poetologische Dimension in Hinblick auf Kerschbaumers gesamtes Werk besitzt. Eine eigentümliche, selbstreflexive Schlagseite bekommen diese Reverenzen an klassische Dichter der Vergangenheit, wenn man zugleich die Frage stellt, wie sich Kerschbaumer mit ihrer Poetik im literarischen Feld positioniert: Denn dann wird das hochgradig Unzeitgemäße ihrer Ästhetik sichtbar. Die liaison dangereuse mit den Klassikern Dante und John Donne fungiert vor diesem Hintergrund auch als Bündnispartnerschaft gegen bestimmte Normen der avancierten österreichischen Literatur. Hans-Joachim Hahn (Leipzig) eröffnet mit seinem Beitrag „Beeinflusster Fährmann? Zur Lyrik Henryk Bereskas“ eine neue Dimension, indem er die Kategorie des Einflusses statt auf einer individuellen auf der kollektiven Ebene der Tradition profiliert. Bereskas Übersetzungstätigkeit bestimmte den polnischen Kanon in der DDR entscheidend mit – seine eigene Lyrik evoziert jedoch die Aura gänzlicher Einflusslosigkeit, die Hahn als Reflex der Abgeschnittenheit von einem literarischen Kanon interpretiert. Zugleich jedoch spiegelt sich darin die Bedeutung wider, welche die schmucklose, lakonische Lyrik des polnischen Autors Tadeusz Różewicz für Bereskas eigenes Schreiben besessen hat: Der „Kult der Einflusslosigkeit“ zeigt sich hier selbst als Produkt literarischer Prägung. In ihrem Beitrag „ ‚Das Substrat glüht‘. Oswald Egger, im Wegzusammenhang“ zeigt Theresia Prammer (Berlin) am südtirolischen Lyriker und Übersetzer Oswald Egger, dass Einfluss „nichts Willkürliches, Zufälliges oder Passives […], vielmehr bewusste Teilnahme an einem von anderen auf den Weg gebrachten Gespräch“ ist. Prammer fokussiert zunächst Eggers Nachdichtungen der Verse des spanischen Mystikers Juan de la Cruz im Zeichen des unentwegten „Wachseins in Sprache“. Ähnlich wie für Czernins Auseinandersetzung mit Mechthild von Magdeburg steht auch hier der Versuch eines modernen Lyrikers im Vordergrund, mystische Lyrik wieder zugänglich zu machen und umzufunktionieren – in diesem Fall, indem das Vokabular weltlicher Liebe für transzendente Dimensionen fruchtbar gemacht und der Zusammenhang von mystischem Sprechen und Sprachreflexion aufgezeigt wird. Anhand weiterer intertextueller Bezüge (vor allem zu Augustinus‘ Reflexionen über das Gedächtnis und die Zeitebenen) und Sprachverfahren wie dem Anagramm macht Prammer außerdem deutlich, wie Egger moderne Gedich- Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München 16 UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO te als „Wegnetze des Andenkens“ auffasst, in denen Substrate wie im Gedächtnis weiterleben. Indem er zwischen Nachdichtungen und Überschreibungen grundsätzlich unterscheidet, versteht er Begegnungen mit anderen Texten sowohl als „gerichtete Bewegungen“ als auch als „bewegte Richtungen“. Armin Schäfer (Hagen) stellt schließlich in seinem Beitrag „‚Outcast on the Mountains of the Heart‘: Rilkes Gedichte in William H. Gass’ Roman The Tunnel“ eine Fehllektüre von Rilke-Gedichten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In Gass’ Roman sind Übertragungen von Gedichten Rilkes eingebettet, die der Hauptfigur, einem chauvinistischen und rassistischen amerikanischen Professor namens W.F. Kohler, zugeschrieben sind. Unter anderem an der unterschiedlichen Funktion der Figur der Prosopopoia als „the master trope of poetic discourse“ (Paul de Man) zeigt Schäfer, wie die Übersetzungen den Prätext umkrempeln und ihm eine neue, aggressive, faschistisch aufgeladene Semantik aufzwingen. So wird etwa im „Lied eines Selbstmörders“ die Differenz evident „zwischen einer Innerlichkeit, die das außen einschließt, und einem Ressentiment, das sich als Gefühl auf sich selbst richtet“. Die Figur Kohlers wie auch seine RilkeÜbertragungen lassen sich nach Schäfer als eine klare Denunziation der dekonstruktivistischen Methode (etwa bei de Man) lesen, die Gass zufolge jede Semantik und Referenz zugunsten einer politisch verantwortungslosen Rhetorizität der poetischen Sprache aufgibt und Rilke auf diese Weise entpolitisiert und harmlos macht. Unter dem Titel „Lyrische Schattenspiele“ dokumentiert der Band Werkstatteinblicke in die poetische Produktion zeitgenössischer DichterInnen. Das DichterGespräch „Die dunkle Branche des Schneckenflugs“ mit dem Basler Autor Urs Allemann (geführt von Wolfram Groddeck) eröffnet einen intimen Einblick in die Dichterwerkstatt Allemanns. Anhand einer Umdichtung eines Trakl-Gedichts („An den Knaben Elis“) erläutert Allemann seine poetische Verfahrensweise, die Ähnlichkeiten mit den Verfahren der konkreten Poesie aufweist und die – zumindest in diesem Fall – darin besteht, bestimmte Wortgruppen durch Äquivalente aus anderen Texten (von Kafka bis Adorno) zu ersetzen. Nicht um Texttreue geht es Allemann dabei, sondern um die Lust am Mixen, die Sinn zugleich auflöst wie kombinatorisch und auf kaum vorhersehbare Weise neu konstituiert. Unter dem Titel „Verhexte Spediteure“ umkreist die in Berlin lebende Autorin Monika Rinck (im Gespräch mit Elisabetta Mengaldo) die vielfältige intertextuelle Beziehung zu anderen Texten und Autoren anhand diverser Themen: zur Sprache kommen das Verhältnis zwischen den verschiedenen Medien (Buch, Hörbuch, Zeichnungen, Internet) in ihrem Werk; sprachphilosophische und psychoanalytische Reflexionen und Metaebenen, die in ihrer Lyrik eine sehr große Rolle spielen (etwa anhand von Verhasplern, Freudschen Witzen sowie Hypnose, Drogen und anderen „Grenzräumen des Bewusstseins“); das gestische und performative Moment; schließlich das für ihre Poetik zentrale Spiel mit Prätexten. Exemplarisch dafür sind Rincks Variationen über ein Sonett von Jules Laforgue („Encore à cet astre“), in denen Verfahren der Differenz in der Wiederholung ausprobiert werden, sowie ihre „osmotische“ Prosaadaption von Emily Dickinsons berühmtem Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München EINLEITUNG 17 Gedicht „I dwell in Possibility“, bei der Rinck sich an der Metapher vom „Haus der Dichtung“ abarbeitet. Steffen Popp (Berlin) stellt zuletzt eine „kollaborative Poetik zeitgenössischer LyrikerInnen“ vor. Anhand der Gemeinschaftspublikation von ihm selbst, Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson und Monika Rinck, die unter dem Titel Helm aus Phlox: Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs im merve-Verlag erschienen ist, berichtet Popp von konkreten Erfahrungen mit der Frage der wechselseitigen Einflussnahme zeitgenössischer Autoren untereinander und betont dabei auch die immense Rolle, die persönliche Sympathien und Antipathien bei der dichterischen Einfluss-Lust spielen können, jenseits von poetischen Anschlussmöglichkeiten. Die Schwierigkeit, derartigen, höchst subjektiven Faktoren literaturwissenschaftlich Rechnung zu tragen, sei noch ungelöst; Popp plädiert jedoch dafür, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auch auf solche Phänomene zu richten. Last but not least haben wir zu danken: Dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald (namentlich dem wissenschaftlichen Geschäftsführer Dr. Christian Suhm sowie Siri Hummel aus dem Tagungsbüro) für seine ideelle, personelle und finanzielle Förderung der Tagung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre finanzielle Beteiligung an der Durchführung der Tagung und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg, der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für großzügige Druckkostenzuschüsse. Wir möchten uns auch bei Prof. Dr. Cornelia Ortlieb für ihre Unterstützung und bei Dr. Silke Nowak bedanken, die uns bei der konzeptionellen Organisation der Tagung half und sie aus der Ferne begleitete. Schließlich gilt unser Dank Katharina Krüger, die den ganzen Band sorgfältig und aufmerksam lektoriert hat. Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München