Degner · Mengaldo (Hg.)
DER DICHTER UND SEIN SCHATTEN
Urheberrechtlich geschütztes Material! © 2014 Wilhelm Fink Verlag, München
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Uta Degner · Elisabetta Mengaldo (Hg.)
DER DICHTER
UND SEIN SCHATTEN
Emphatische Intertextualität
in der modernen Lyrik
Wilhelm Fink
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung
für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Alfried Krupp von Bohlen und
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Friedrich Hölderlin: Homburger Folioheft
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Georg Trakl: „Gericht“
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ISBN 978-3-7705-5607-6
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INHALT
UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
MARCEL BEYER
Das Fremde singen. Pound, Benn, Dylan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
WOLFRAM GRODDECK
Verzweigte Bezüge. Robert Walser und Paul Verlaine . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
NORBERT CHRISTIAN WOLF
Paare und Passant(inn)en. George, Hofmannsthal und Baudelaire . . . . . . . . .
57
HANS-JOST FREY
Überlieferung und Textbeziehung bei Franz Josef Czernin . . . . . . . . . . . . . . .
89
DIETER BURDORF
Bakchenrasereien. Thomas Kling liest Rudolf Borchardt . . . . . . . . . . . . . . . . 117
ELISABETTA MENGALDO
„Die Poesie / ändert nichts. Nichts ist
sicher. Also schreib“. Franco Fortini liest Bertolt Brecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
ECKHARD SCHUMACHER
„… plan wie eine Sense“ – Über Oberflächenübersetzungen . . . . . . . . . . . . . 151
JOHANN REISSER
Die Wiedergänger der Musikbox.
Rolf Dieter Brinkmann zwischen untoten Sprachmustern
und hybriden Medienmechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
MICHAEL GRATZ
Die Hölle in Sachsen.
Unvorgreifliche Gedanken zur Danterezeption bei
mitteldeutschen Dichtern des 20. und 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 189
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6
INHALT
UTA DEGNER
Anrufung der großen Männer. Zur intertextuellen Emphase von
Marie-Thérèse Kerschbaumers Gedichtzyklus
Neun Canti auf die irdische Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
HANS-JOACHIM HAHN
Beeinflusster Fährmann? Zur Lyrik Henryk Bereskas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
THERESIA PRAMMER
„Das Substrat glüht“. Oswald Egger, im Wegzusammenhang . . . . . . . . . . . . . 235
ARMIN SCHÄFER
„Outcast on the Mountains of the Heart“:
Rilkes Gedichte in William H. Gass’ Roman The Tunnel . . . . . . . . . . . . . . . . 261
LYRISCHE SCHATTENSPIELE:
GESPRÄCHE UND SELBSTAUSSAGEN
URS ALLEMANN
Die dunkle Branche des Schneckenflugs.
Gespräch mit Wolfram Groddeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
MONIKA RINCK
Verhexte Spediteure. Gespräch mit Elisabetta Mengaldo . . . . . . . . . . . . . . . . 303
STEFFEN POPP
Fragen an die Boxmaschine.
Versuche zu einer kollaborativen Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
EINLEITUNG
Sucht nach Originalität ist gelehrter, grober Egoïsm. Wer nicht jeden fremden Gedanken, wie einen Seinigen, und einen Eigenthümlichen, wie einen fremden Gedanken
behandelt – ist kein ächter Gelehrter. […] Der Gelehrte weiß das Fremde sich zuzueignen und das Eigne fremd zu machen.
Novalis1
„[V]on Ihnen dependir’ ich unüberwindlich“, gesteht Friedrich Hölderlin am 20.
Juni 1797 Friedrich Schiller.2 „Fühlst Du mein Lebtum / Überall / Wie ferner Saum?“
fragt Else Lasker-Schüler 1912 in einem Gedicht an Gottfried Benn.3 Und Paul Celan, der seinen 1963 entstandenen Gedichtband Die Niemandsrose dem Andenken
Ossip Mandelstams gewidmet hat, spricht dort mit vielen: Friedrich Hölderlin,
Heinrich Heine, Mandelstam, Rainer Maria Rilke oder etwa Nelly Sachs: „Dein Aug
sah mir zu, sah hinweg, / dein Mund / sprach sich dem Aug zu, ich hörte“.4 Dies sind
wenige Beispiele dafür, wie selbstverständlich und oft emphatisch sich Dichter zu
anderen Dichtern bekennen und ihnen in ihren Texten explizit oder implizit poetische Reverenz erweisen. In der Forschung hingegen steht oft ein Dichten, das sich
allzu stark an einer anderen Poetik orientiert, unter Verdacht, ja die Kultur der Moderne scheint einer Poetik forcierter Vorbilder generell nicht gerade aufgeschlossen zu
sein. Grundlegende Theorieentwürfe nennen Originalität und Innovation – Prinzipien der Abweichung vom Bisherigen – als Kriterien für ästhetisches Gelingen und
künstlerischen Erfolg. Wie beispielsweise Boris Groys in seinem Versuch einer Kulturökonomie darlegt, fußt die implizite Werthierarchie aller (!) Kulturen geradezu auf
dem Prinzip des Neuen: „Das Grundprinzip der Gestaltung der kulturellen Archive“,
so Groys, „besteht […] darin, daß diese das Neue notwendigerweise in sich aufnehmen und das Nachahmende ignorieren. Was schon Vorhandenes nur reproduziert,
wird vom organisierten kulturellen Gedächtnis als überflüssig und tautologisch
1 Novalis, Das Allgemeine Brouillon. Materialien zu einer Enzyklopädistik 1798/99. Mit einer
Einleitung von Hans-Joachim Mähl, Hamburg,1993, S. 165, Nr. 716.
2 Friedrich Hölderlin, Brief an Friedrich Schiller vom 20.06.1797, in: Ders., Briefe, hg. v. Adolf
Beck (= Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe; Bd. 6, 1), Stuttgart, 1954, S. 241.
3 Else Lasker-Schüler, „Höre!“, in: Dies., Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, hg. v. Norbert
Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 1: Gedichte. Bearbeitet von Karl Jürgen
Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, Frankfurt a.M., 1996, Nr. 229, S. 172f.,
hier S. 173.
4 Paul Celan, „Zürich, Zum Storchen“, in: Ders., Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v.
Axel Gellhaus, Bd. 6.1: Die Niemandsrose, Frankfurt a.M., 2001, S. 16f., hier S. 16.
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
abgelehnt“.5 Auch Harold Blooms wirkungsmächtiger Begriff der „Einfluss-Angst“6
leitet sich aus einer Auffassung der dichterischen Errungenschaften als originelle Abweichungen von den Vorläufern und den kulturcodierten Modellen ab und etabliert
eine überaus normative Typologie der dichterischen Bezugnahmen: Eine intensive
agonale Spannung des Bezugs wird als stark gewertet, affirmierende, positive Arten der
Intertextualität gelten automatisch als schwach: „Poetischer Einfluss bedeutet“, so
Bloom, „daß Individuen durch Zustände hindurchgehen, aber dieses Hindurchgehen
ist schlecht vollzogen, wenn es kein Abweichen ist.“7 Bloom kommt jedoch das Verdienst zu, die emotionale Valenz ästhetischer Dialogizität ins Bewusstsein gerückt zu
haben, wie sie auch in diesem Band als poetischer Impetus immer wieder anklingt.
Intertextualität erweist sich dabei weniger als Ausweis der Gelehrsamkeit, sondern hat
oft ästhetischen und auch privaten Bekenntnischarakter, woraus auch das Bloom zufolge notwendige misreading der Vorbilder entspringt.
Ausgangspunkt des Tagungsprojekts, das diesem Band zugrundliegt, war die
Idee, Blooms affektive Aufladung des Intertextualitätsprinzips aufzunehmen, seiner Konzeption der Einfluss-Angst allerdings Ästhetiken der Einfluss-Lust gegenüberzustellen.8 Denn gerade Autoren des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart
beziehen sich oft nicht angst-, sondern lustvoll auf literarische Vorbilder und erweisen in ihrem Werk dem Schaffen der Kollegen poetische Reverenz; nicht zufällig erleben gerade kopierende Verfahrensweisen und literarische ready mades wie
Ernst Jandls „Ein Gleiches“, Nachdichtungen, Umdichtungen, Weiterdichtungen
und andere affirmative Formen von Intertextualität in dieser Epoche einen Siegeszug und es etabliert sich „jene Form von Montage- und Zitatkunst, angesichts derer die defizitären Aspekte der Epigonalität irrelevant werden“.9 Den Tel QuelTheoretikern und am prominentesten Julia Kristeva (der wir die Einführung des
Begriffs Intertextualität verdanken) kommt zwar das große Verdienst zu, der etwas
monolithischen Textauffassung der Strukturalisten ein dynamischeres Konzept gegenübergestellt zu haben, nach dem jeder Text sich als „Mosaik von Zitaten“ aufbaut und als „Absorption und Transformation eines anderen Textes“10 erweist.
Eine solche Öffnung und Dynamisierung des Textbegriffs enthält jedoch in sich
5 Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München, 1992, S. 55.
6 Harold Bloom, Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung. Aus dem Amerikanischen von Angelika Schweikhart, Basel/Frankfurt a.M., 1995 (= nexus 4).
7 Ebd., S. 42; Herv. Hg.
8 Wenn wir den Begriff „Einfluss“ hier verwenden, so möchten wir allerdings nicht dessen
traditionelle, aus der Einfluss-Forschung stammende Konnotation übernehmen, welche eine pure Passivität des übernehmenden Parts suggeriert. Im Gegenteil soll die Formulierung
Einfluss-Lust betonen, dass das vermeintlich beeinflusste Objekt Subjekt einer ästhetischen
Entscheidung ist, Einfluss zuzulassen, ja diesen aktiv (aus)sucht.
9 Burkhard Meyer-Sickendiek, Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen/Basel, 2001, S. 17.
10 Julia Kristeva, „Dialog und Roman bei Bachtin“, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3, hg. v. Jens Ihwe, Frankfurt a.M., 1972, S. 345-374, hier S. 347.
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EINLEITUNG
9
schon die Keime ihrer Fragwürdigkeit, denn je radikaler sie wird, desto mehr verwischt sich der Horizont der intertextuellen Verweisungen. Die poststrukturalistische Auffassung des Textes als Gewebe von Zitaten und als (unendlich bedeutungsoffene) „stereographische Pluralität der Signifikanten“11 sowie die Erweiterung des
Textbegriffs auf den Kulturtext selbst reichen nicht aus, um einer oft ostentativ zur
Schau gestellten Nachahmungs- und Wiederholungslust Rechnung zu tragen. Diese ist weder als reines Epigonentum abzuwerten noch gehört sie als bloße Iterabilität des Zeichens in die subjektlose „Struktur des Geschriebenen selbst“12, sondern
sie macht das Hervortreten einer imitationsbejahenden Ästhetik sichtbar.
Die Dichtung des 20. Jahrhunderts, so unsere Ausgangsthese, hat längst begonnen, in der Praxis mit den Schatten der Vorgänger zu spielen: nicht Einfluss-Angst,
sondern Einfluss-Lust bestimmt vielfach die Textproduktion. Die im April 2011
am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald durchgeführte Tagung wollte
der Frage nachgehen, inwiefern es möglich ist, derartige nach Bloom vermeintlich
„schwache“ – Poetiken als stark zu profilieren. In zwei Richtungen schien uns ein
solches Denkexperiment gewinnbringend. Zunächst einmal erscheint eine agonale
Kulturauffassung unterkomplex in ihrer Weise, die Rhetorik der Agonalität zunächst nicht als das zu verstehen, was sie zunächst ist (nämlich eben eine Rhetorik),
sondern sie als poetische Tatsache zu nehmen. Ein allzu simples Verständnis der
Regeln der Kunst durch das Bourdieusche Prinzip der Distinktion lässt das außer
Acht, was (auch bei Bourdieu) immer deren Basis ist: Die Grundierung jedes Textes durch eine – bewusste oder unbewusste – Adaptation, ein Anknüpfen an das
kulturelle Gedächtnis und die poetische Tradition. Statt eines Entweder-oder ist
das Verhältnis von Text und Vorläufer genauer dialektisch zu denken, als ein Bedingungsverhältnis von Bruch und Kontinuität.
So liest Adorno in seiner Ästhetischen Theorie die Beziehung zwischen Nachahmung und künstlerischer Freiheit dezidiert hegelianisch-dialektisch. Zwar ist das
Ziel Freiheit und Autonomie, dieses setzt sich jedoch nicht in Unabhängigkeit von,
sondern mittels eines dialektischen Spannungsverhältnisses von imitatio und aemulatio durch:
[E]rst in seiner Selbstentfremdung durch Nachahmung kräftigt das Subjekt sich so,
daß es den Bann der Nachahmung abschüttelt. Worin Kunstwerke Jahrtausende lang
als Bilder von etwas sich wußten, das enthüllt durch Geschichte, ihren Kritiker, sich
als ihr Unwesentliches. Kein Joyce ohne Proust und dieser nicht ohne den Flaubert,
auf den er herabsah. Durch Nachahmung hindurch, nicht abseits von ihr hat Kunst
zur Autonomie sich gebildet; an ihr hat sie die Mittel ihrer Freiheit erworben.13
11 Roland Barthes, „Vom Werk zum Text“ (1971), in: Texte zur Theorie des Textes, hg. v. Stephan Kammer und Roger Lüdeke, Stuttgart, 2005, S. 40-51, hier S. 45.
12 Jacques Derrida, „Signatur, Ereignis, Kontext“, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien,
1988, S. 291-314, hier S. 300.
13 Theodor W. Adorno, Paralipomena [zur Ästhetischen Theorie], in: Ders., Gesammelte
Schriften in 20 Bänden, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M., 2. Aufl. 2003, Bd. 7,
S. 389-490, hier S. 424f.
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
Wenn man nun Adornos Überlegung konsequent weiter denkt, führt sie zu einem
weiteren Punkt, in dem eine Neubewertung poetischer Heteronomie fruchtbringend erscheint: Denn stellt es nicht in einer Epoche, in der das Prinzip der Originalität eine solche Bedeutung aufweist wie gegenwärtig, geradezu ein non plus ultra
der Originalität dar, nicht originell sein zu wollen? Und wäre in diesem Zusammenhang nicht auch an die polemische, politische Disposition all der Formen von
Imitation, Nachdichtung, Parodie und Pastiche zu erinnern, insofern sie Einspruch
gegen die elitären Mythen von der „großen Kunst“ und der „dichterischen Autonomie“ erheben? Die Unmöglichkeit, sich ein gänzlich originelles Werk zu denken, das vollständig ohne Vorläufer auszukommen im Stande wäre und für dessen
Entstehung das kulturelle Archiv bedeutungslos wäre, erweist die Verabsolutierung
von Originalität als Fiktion.
Frühere Epochen haben das Verhältnis von imitatio und aemulatio in der Tat
noch weitaus intrikater gedacht. So die Poetik des Barock, die Nachahmung als
Feld für Innovation versteht, indem Eigenständigkeit erst im Durchgang durch die
Nachahmung möglich wird.14 Noch Winckelmann propagiert 1755 Nachahmung
als „einzige[n] Weg, […] unnachahmlich zu werden“.15 Bekanntlich ist die Idee
absoluter Originalität erst eine Erfindung des Geniekults des Sturm-und-Drang
und der frühromantischen Ästhetik; doch schon der mittlere, antiromantische
Friedrich Nietzsche hat in Der Wanderer und sein Schatten, dem sich der Titel dieses Bandes entlehnt, an mehreren Stellen den Fragen von Originalität und Konvention eine andere Wendung gegeben, indem er versuchte, deren wechselseitige
Bedingtheit zu unterstreichen und Originalität als Konsequenz eines modernen
Kults der Unverständlichkeit deutete. Kannten die Antiken ihm zufolge keine
Angst vor der Konvention und vor der Wiederholung erprobter Kunstmittel, weil
sie sich so ihrem Publikum verständlich machten und mit ihm zusammenhingen,
so habe sich ab 1770 ein gewaltiger Paradigmenwechsel ereignet, dem Nietzsche
durchaus skeptisch gegenübersteht:
Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfindet, das giebt er aus freien
Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass
er eine neue Convention s c h a f f t . Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt,
mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden; der Convention hartnäckig ausweichen heißt: nicht verstanden werden wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin?16
Bereits hier erweist sich die „Originalitätswuth“ als rhetorische Chimäre, von der bei
genauerer Betrachtung der Dinge, d .h. der Texte, nicht viel übrig bleibt. Mit seiner
14 Vgl. z. B. Philipp Harsdörffer, „Von der Nachahmung“, in: Poetik des Barock, hg. v. Marian
Szyrocki, Stuttgart, 1977, S. 138-142, insbes. S. 142.
15 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke der
Malerei und Bildhauerkunst, hg. v. Ludwig Uhling, Stuttgart, 1995, S. 4.
16 Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches II (Vermischte Meinungen und Sprüche.
Der Wanderer und sein Schatten), in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15
Einzelbänden, Berlin u.a., 1999ff., Bd. 2, S. 604f.
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EINLEITUNG
11
Polemik gegenüber der gewollten Unverständlichkeit moderner Literatur setzte sich
der junge Nietzsche jedoch nicht nur der frühromantischen Poetik entgegen, sondern berührt einen heiklen, bis heute andaudernden ästhetischen Selbstwiderspruch.
Die Frage nämlich nach der Rolle, welche die Konvention und ein transparentes
bzw. verstecktes Verhältnis gegenüber Vorbildern spielen, wird nicht zuletzt in der
modernen Lyrik virulent, die seit dem französischen Symbolismus ja immer mehr zu
opaker Intransitivität und Hermetik tendiert. Worin besteht die Einfluss-Lust in einer Lyrik, die immer mehr selbstreferenzielle Züge trägt und sich als Bannerträgerin
ästhetischer Autonomie versteht bzw. häufig so selbststilisiert?
Nicht zuletzt die praktizierte Literatur der Gegenwart scheint ein wichtiges Korrektiv für solche Fragen bereitzustellen, da die gegenwärtige Dichtergeneration oftmals unverkrampfter und intensiver mit der Tradition umgeht als viele ihrer modernistischen Vorgänger. Uns war es daher von Anfang an ein großes Anliegen,
auch Gegenwartsautorinnen und -autoren Gehör zu verschaffen. Urs Allemann,
Marcel Beyer, Monika Rinck, Steffen Popp und Bertram Reinecke sind nach
Greifswald gekommen und haben eigene Texte vorgelesen und/oder einen Vortrag
gehalten (Beyer, Popp) bzw. sich für Gespräche über ihr poetisches Schaffen und
ihren Umgang mit Vorgängern zur Verfügung gestellt (Allemann, Rinck). Ihre
Teilnahme ermöglichte eine Veranschaulichung, aber auch wichtige Korrekturen
unserer anfänglichen Thesen und wir danken ihnen daher ganz besonders dafür.
Die Einschränkung auf Lyrik war reizvoll für uns, da sie eine konzentrierte Diskussion je einzelner Werke ermöglichte und zugleich einem immer noch verbreiteten Vorurteil begegnen konnte, demzufolge Lyrik monologisch sei.17 Die hier versammelten Beiträge, die sich wiederholt auch mit dem für diese Fragestellungen
zentralen Gebiet der Übersetzung von Lyrik auseinandersetzen,18 zeigen in ihrer
Diversität die Vielfalt der möglichen dichterischen Umgangsweisen mit einer Poetik der Einfluss-Lust – und zuweilen auch Einfluss-Angst – und machen deutlich,
wie sehr der Bezug zu poetischen Schatten jeweils zum Zentrum der individuellen
Poetik der/des jeweiligen Autorin/s gehört. Intertextualität ist, sofern sie sich nicht
auf gelehrtes Beweisen von Wissen beschränkt, keine Methode, sondern eine
Funktion von Autorschaft, die wie diese sehr individuell konzipiert sein kann. Der
Bezug auf ein und denselben Dichter wird daher in der Regel gänzlich unterschiedliche Züge besitzen. Gerade das macht aber die Rekonstruktion von emphatischen
Bezugnahmen von Dichter/in zu Dichter/in für die Literaturwissenschaft so interessant: denn in ihrem Nachvollzug zeigen sich Essenzen des poet(olog)ischen
Selbstverständnisses der/s Bezugnehmenden.
17 Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a.M./Berlin/Wien, 1985,
S. 223. Vgl. dagegen den Band „Rupfen in fremden Gärten“. Intertextualität im Schreiben
Friederike Mayröckers, hg. v. Inge Arteel und Heidy Margrit Müller, Bielefeld, 2002.
18 Vgl. dazu u. a. Theresia Prammer, Übersetzen – Überschreiben – Einverleiben. Verlaufsformen
poetischer Rede, Wien, 2009.
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
Marcel Beyer (Berlin) beweist dies gleich in seinem anspielungsreichen Eröffnungsbeitrag „Das Fremde singen. Pound, Benn, Dylan“, der für eine Mehrstimmigkeit
plädiert, die er zugleich darstellerisch umsetzt: Ausgehend von einem Song der
Gruppe The Ink Spots von 1940 – „We three (My Echo, My Shadow and Me)“ –
unternimmt er einen hochgradig poetischen Parcours über Ezra Pound (Paradigma
für intertextuelle „Abwehr“) und Gottfried Benn (Paradigma für intertextuelle
„Hingabe“) bis hin zu einer eigenen Übersetzung des Bob Dylan-Songs „I shall be
released“: Statt wörtliche Texttreue transponiert Beyer das bei Dylan wahrgenommene Prinzip des „Zusammenwirken[s] von individueller und kollektiver Stimme,
die gegenseitige Durchdringung von Eigen- und Fremdmaterial“, die durch den
Transfer in den andersartigen deutschsprachigen Kontext zu einem gänzlich neuen
Text führt, in dem der Ausgangstext gleichwohl wiederzuerkennen ist. Eine solche
„Mehrstimmigkeit“ identifiziert Beyer als „das einzige wirksame Gegengift gegen
den monolithischen, fanatischen Schwachsinn in der Poesie“ und formuliert damit
ein Credo, das ganz zentral sein eigenes Schreibverfahren bestimmt.19
Wolfram Groddeck (Zürich) entfaltet in seinem Beitrag „Verzweigte Bezüge. Robert Walser und Paul Verlaine“ anhand mehrerer Textentwürfe aus Robert Walsers
Mikrogrammen dessen komplexe poetische Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolisten Paul Verlaine. Im close reading zweier Gedichte zeigt Groddeck,
wie sich Walsers Perspektive auf Verlaine im Spannungsfeld von Identifikation,
ironischer Distanz und „aggressiver Gegenübertragung“ verortet, wobei letztere
eher den Verlaine-Übersetzungen und der Person ihres Übersetzers, Stefan Zweig,
zu gelten scheinen, wie Groddecks sensible Lektüre aufdeckt. Gerade im Akt der
Distanznahme von der „preziöse[n] wie epigonale[n] Edel-Lyrik des frankophilen
Stefan Zweigs“ eröffne sich eine „eigenwillige poetische Verwandtschaft“ Walsers
zu Verlaine.
Norbert Christian Wolf (Salzburg) widmet sich dem Verhältnis von Hofmannsthal und George. Sein Beitrag „Paare und Passant(inn)en. George, Hofmannsthal
und Baudelaire“ geht der spannungsgeladenen Begegnung der beiden jungen
Dichter in Wien nicht nur in biographischer Hinsicht nach, sondern betont insbesondere deren konfliktuöse Verlängerung in die Dichtung hinein, wie Wolf u. a. an
Georges und Hofmannsthals Übertragungen, Um- und Weiterdichtungen sowie
lyrischen Kontrafakturen ausgehend von Baudelaires berühmtem Gedicht „À une
Passante“ zeigt. „Delikat“ erscheint dabei nicht zuletzt, dass George wohl eine
recht unverblümte Einfluss-Lust auf Hofmannsthal auszuüben versuchte, auf welche dieser mit Einfluss-Angst reagierte. Wolf zeigt aber darüber hinaus, wie solche
brisanten Konstellationen Teil von „auktorialen Werkpolitik[en]“ werden, welche
sich gar bis in die Literaturgeschichtsschreibung fortzusetzen vermögen.
Die Texte von Hans-Jost Frey (Zürich) und Dieter Burdorf (Leipzig) setzen sich
beide (u. a.) mit der Rezeption Rudolf Borchardts durch Autoren des 20. Jahrhunderts auseinander. In seinem Beitrag „Überlieferung und Textbeziehung bei Franz
19 Vgl. Henning Heske, „Echos aus der Vergangenheit. Intertextualität in der Lyrik von Marcel Beyer“, in: Literatur im Unterricht 6 (2005), H. 1, S. 33-37.
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EINLEITUNG
13
Josef Czernin“ analysiert Frey zuerst zwei Sonette Czernins mit doppelter Bezugnahme auf Dante und dessen Übersetzung durch Rudolf Borchardt (elemente, nach
borchardt nach dante). Dabei erweist Frey die Beziehung als eine nicht so sehr inhaltliche, sondern vor allem sprachliche Vermittlung, die in beiden Übertragungen
unter dem gemeinsamen Nenner der Sprachverfremdung steht. In diesem Zusammenhang wird die Elementenlehre, die thematisch den ganzen Zyklus bestimmt,
als die „Darstellung einer Struktur“ verstanden, die auch in der Übersetzungstheorie Borchardts und Czernins begegnet: eine Struktur, in der „die Beziehung zwischen zwei Instanzen in deren gemeinsamer Herkunft aus einer dritten besteht“.
Im zweiten Teil seines Beitrags widmet sich Frey Czernins poetischer Auseinandersetzung mit den Gedichten Mechthild von Magdeburgs und liest sie als Versuch,
mit modernen Sprachmitteln die Wirkung zu reproduzieren, die diese mystischen
Texte auf Czernin ausgeübt haben.
Dieter Burdorf beschäftigt sich in seinem Beitrag „Bakchenrasereien. Thomas
Kling liest Rudolf Borchardt“ mit einer weiteren Spielart produktiver Lektüre,
nämlich Borchardts und Klings Rezeption des antiken Backchen-Stoffes. Lässt sich
Borchardts Projekt „Bacchische Epiphanie“ als „ekstatische Kontrafaktur“ zu
Schillers „Das Eleusische Fest“ lesen, erweist sich Klings Prosatext „Projekt Vorzeitbelebung“ aus dem Band Auswertung der Flugdaten als eine doppelte Auseinandersetzung: mit Euripides’ Stück und seinem rituellen und mythologischen Hintergrund (den Gottheiten Dionysos und Hermes, der schamanistischen disiectio
membrorum als Metapher des Schreibens) und mit der „Borchardtschen Antikenverwaltung“ als „Re-Konstruktion einer […] Sprach-Göttererscheinung“20. Eins
der letzten Gedichte Klings („Sibylla Delphica“) liest Burdorf schließlich als einen
„Akt der Aemulatio“ und eine Hommage an Borchardt, die aber „ins leise Genre
des Liebesgedichts und des Bildgedichts sublimiert“ werde.
Elisabetta Mengaldo (Greifswald) präsentiert in ihrem Beitrag „‚Die Poesie / ändert nichts. Nichts ist sicher. Also schreib‘. Franco Fortini liest Bertolt Brecht“ den
italienischen Lyriker und Publizisten Franco Fortini als kongenialen Leser und
Übersetzer Brechts. Das, was Fortini die „Brecht-Funktion“ nennt (eine Verschränkung von anti-lyrischem Verfremdungseffekt, Antithese der lyrischen Bilder
und allegorisch-parabelhaftem Ton), sei sowohl für seine Übersetzungstätigkeit als
auch für die Entwicklung seiner eigenen Schreibweise in den 60er Jahren zentral
gewesen und habe ihm dazu gedient, seine eigene poetische Praxis gegen den symbolistisch-hermetischen Kanon der italienischen Lyrik des 20. Jahrhunderts zu legitimieren. Anhand von zwei Gedichten, die sich in der Sammlung Traducendo
Brecht („Beim Übersetzen von Brecht“) befinden, zeigt Mengaldo, wie Fortinis
Dichtung sich einerseits stark an Brechts Programmatik einer politischen Lyrik
anlehnt, diese andererseits jedoch als Kontrastfolie verwendet, um eine eigene utopische Rede zu formulieren, die sich von Brechts Auffassungen abhebt und unter
anderen historischen und theoretischen Voraussetzungen steht.
20 Thomas Kling, Auswertung der Flugdaten, Köln, 2004, S. 45.
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
Die Beiträge von Eckhard Schumacher (Greifswald) und Johann Reißer (Frankfurt/Oder) beschäftigen sich – bei Schumacher u. a. – mit der lyrischen Produktion
und der Übersetzungstätigkeit Rolf Dieter Brinkmanns und mit ihnen betritt der
Band das für die vorliegende Fragestellung so ergiebige Gebiet der Pop-Literatur.
Schumacher widmet sich in seinem Aufsatz „ ‚… Plan wie eine Sense‘. Über
Oberflächenübersetzungen“ einer ganz speziellen Form der Übersetzung, die sich
gerade nicht darum bemüht, den Sinn eines Textes zu übertragen, sondern bewusst
beim bloßen Signifikanten, vorzugsweise bei den klanglichen Qualitäten, halt
macht. In Brinkmanns und Rygullas deutscher Version des Apollinaire-Gedichts
„La jolie rousse“ (übersetzt als „Der joviale Russe“) wird daher etwa aus „plein de
sens“ „plan wie eine Sense“ und es entsteht so ein neues Gedicht, was die von
Brinkmann und Rygulla gewählte Bezeichnung dieses Textes als eine „Zusammenarbeit“ zwischen ihnen und Apollinaire erklärt. Lässt sich in diesem „Gaghaft-Flachen“ einerseits eher ein „Abbruch der Verbindung“ als eine Einfluss-Lust feststellen, betont Schumacher andererseits die bewusste Kontinuität zwischen den
Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts und dem Pop der 1960er Jahre. So liest
sich die Übersetzung „gleichsam mit und ohne Apollinaire“ als ein impliziter häretischer Kommentar auf die deutschsprachige Lyrik der 1950er Jahre und schreibt
sich in dieser Hinsicht auch in die Spur Ernst Jandls und seiner Übersetzungen ein.
Reißers Text „Die Wiedergänger der Musikbox. Rolf-Dieter Brinkmann zwischen untoten Sprachmustern und hybriden Medienmechanismen“ setzt sich dagegen hauptsächlich mit Brinkmanns Rezeption der US-amerikanischen Nachkriegslyrik auseinander. Brinkmanns Versuch, gegen die deutschen Kulturgüter als
„Totgeburten“ eine „Umfunktionalisierung vorgefundener Formen und Inhalte zu
bewirken“ misst sich zwar auch an deutschsprachigen Modellen und Gegenmodellen (etwa dem Grimmschen Schneewittchen im Gedicht „Ihr nennt es Sprache
oder Spiegel an der Wand“ oder Celans „Todesfuge“ in „Die Klapper des Narren“). Er ist aber auch von Anleihen aus der amerikanischen Populär- und Avantgardekultur geprägt (Cut-Up-Verfahren übernimmt Brinkmann etwa von William
S. Burroughs’ Roman Soft Machine), was Reißer auf Brinkmanns Interesse für die
technischen Medien und vor allem für Schallplatte und Musikbox zurückführt.
Seine These lautet, dass Brinkmanns Texte „eine Serie von Experimenten dar[stellen], welche die Potenziale verschiedener Apparaturen ausloten“. Gerade die
Musikbox wird für ihn im Laufe der Jahre selbst zu einer konventionellen und
kommerziellen Apparatur, die nichts mehr von der anfänglichen befreienden Kraft
besitzt.
Michael Gratz (Greifswald) untersucht in seinem Beitrag „Die Hölle in Sachsen.
Unvorgreifliche Gedanken zur Danterezeption bei mitteldeutschen Dichtern des
20. und 21. Jahrhunderts“ Dante-Bezüge bei Karl Mickel, Norbert Lange und
Bertram Reinecke und entdeckt in ihnen gänzlich andere Seiten als in westdeutschen lyrischen Dante-Bezügen, wie sie in der Forschung bislang dominierten. Gegenüber einer kulturkritisch-lamentierenden Bezugnahme à la Durs Grünbein
fungiert Dante bei Mickel als Spiritus rector eines sensualistischen Liebesprogramms, der zudem die Selbstermächtigung eines jungen Autors unterstützt und
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dann später Pate für das poetologische Programm eines unbedingten Wahrnehmens steht. Langes Nachdichtung einer Passage aus Dantes Inferno in „CUTS /
SCHNITTE (2)“ versetzt die Szenerie in die Gegenwart und nutzt die daraus entstehenden Reibungsflächen für eine Ästhetik der harten Schnitte, während Reinecke
Dante (bzw. dessen deutsche Übersetzung von Karl Streckfuß) noch entschiedener
als Sprachmaterial benutzt, aus denen er Gedichte im Cento-Stil generiert.
Uta Degner (Salzburg) schließt mit einer Interpretation der Neun Canti auf die
irdische Liebe der österreichischen Gegenwartsautorin Marie-Thérèse Kerschbaumers thematisch daran an, denn auch in Kerschbaumers Lyrik spielt die DanteRezeption eine zentrale Rolle, sie dient einer commemoratio-Poetik, wie sie in Dantes Divina Commedia bereits angelegt ist. Kerschbaumer steigert diese – auch in der
Bezugnahme auf John Donne – zu einer regelrechten Liebespoetik, die eine poetologische Dimension in Hinblick auf Kerschbaumers gesamtes Werk besitzt. Eine
eigentümliche, selbstreflexive Schlagseite bekommen diese Reverenzen an klassische
Dichter der Vergangenheit, wenn man zugleich die Frage stellt, wie sich Kerschbaumer mit ihrer Poetik im literarischen Feld positioniert: Denn dann wird das
hochgradig Unzeitgemäße ihrer Ästhetik sichtbar. Die liaison dangereuse mit den
Klassikern Dante und John Donne fungiert vor diesem Hintergrund auch als
Bündnispartnerschaft gegen bestimmte Normen der avancierten österreichischen
Literatur.
Hans-Joachim Hahn (Leipzig) eröffnet mit seinem Beitrag „Beeinflusster Fährmann? Zur Lyrik Henryk Bereskas“ eine neue Dimension, indem er die Kategorie
des Einflusses statt auf einer individuellen auf der kollektiven Ebene der Tradition
profiliert. Bereskas Übersetzungstätigkeit bestimmte den polnischen Kanon in der
DDR entscheidend mit – seine eigene Lyrik evoziert jedoch die Aura gänzlicher
Einflusslosigkeit, die Hahn als Reflex der Abgeschnittenheit von einem literarischen Kanon interpretiert. Zugleich jedoch spiegelt sich darin die Bedeutung wider, welche die schmucklose, lakonische Lyrik des polnischen Autors Tadeusz
Różewicz für Bereskas eigenes Schreiben besessen hat: Der „Kult der Einflusslosigkeit“ zeigt sich hier selbst als Produkt literarischer Prägung.
In ihrem Beitrag „ ‚Das Substrat glüht‘. Oswald Egger, im Wegzusammenhang“
zeigt Theresia Prammer (Berlin) am südtirolischen Lyriker und Übersetzer Oswald
Egger, dass Einfluss „nichts Willkürliches, Zufälliges oder Passives […], vielmehr
bewusste Teilnahme an einem von anderen auf den Weg gebrachten Gespräch“ ist.
Prammer fokussiert zunächst Eggers Nachdichtungen der Verse des spanischen
Mystikers Juan de la Cruz im Zeichen des unentwegten „Wachseins in Sprache“.
Ähnlich wie für Czernins Auseinandersetzung mit Mechthild von Magdeburg
steht auch hier der Versuch eines modernen Lyrikers im Vordergrund, mystische
Lyrik wieder zugänglich zu machen und umzufunktionieren – in diesem Fall, indem das Vokabular weltlicher Liebe für transzendente Dimensionen fruchtbar gemacht und der Zusammenhang von mystischem Sprechen und Sprachreflexion
aufgezeigt wird. Anhand weiterer intertextueller Bezüge (vor allem zu Augustinus‘
Reflexionen über das Gedächtnis und die Zeitebenen) und Sprachverfahren wie
dem Anagramm macht Prammer außerdem deutlich, wie Egger moderne Gedich-
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UTA DEGNER UND ELISABETTA MENGALDO
te als „Wegnetze des Andenkens“ auffasst, in denen Substrate wie im Gedächtnis
weiterleben. Indem er zwischen Nachdichtungen und Überschreibungen grundsätzlich unterscheidet, versteht er Begegnungen mit anderen Texten sowohl als
„gerichtete Bewegungen“ als auch als „bewegte Richtungen“.
Armin Schäfer (Hagen) stellt schließlich in seinem Beitrag „‚Outcast on the
Mountains of the Heart‘: Rilkes Gedichte in William H. Gass’ Roman The Tunnel“ eine Fehllektüre von Rilke-Gedichten in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In Gass’ Roman sind Übertragungen von Gedichten Rilkes eingebettet, die
der Hauptfigur, einem chauvinistischen und rassistischen amerikanischen Professor namens W.F. Kohler, zugeschrieben sind. Unter anderem an der unterschiedlichen Funktion der Figur der Prosopopoia als „the master trope of poetic discourse“ (Paul de Man) zeigt Schäfer, wie die Übersetzungen den Prätext umkrempeln und ihm eine neue, aggressive, faschistisch aufgeladene Semantik aufzwingen. So wird etwa im „Lied eines Selbstmörders“ die Differenz evident „zwischen einer Innerlichkeit, die das außen einschließt, und einem Ressentiment, das
sich als Gefühl auf sich selbst richtet“. Die Figur Kohlers wie auch seine RilkeÜbertragungen lassen sich nach Schäfer als eine klare Denunziation der dekonstruktivistischen Methode (etwa bei de Man) lesen, die Gass zufolge jede Semantik
und Referenz zugunsten einer politisch verantwortungslosen Rhetorizität der poetischen Sprache aufgibt und Rilke auf diese Weise entpolitisiert und harmlos
macht.
Unter dem Titel „Lyrische Schattenspiele“ dokumentiert der Band Werkstatteinblicke in die poetische Produktion zeitgenössischer DichterInnen. Das DichterGespräch „Die dunkle Branche des Schneckenflugs“ mit dem Basler Autor Urs
Allemann (geführt von Wolfram Groddeck) eröffnet einen intimen Einblick in die
Dichterwerkstatt Allemanns. Anhand einer Umdichtung eines Trakl-Gedichts
(„An den Knaben Elis“) erläutert Allemann seine poetische Verfahrensweise, die
Ähnlichkeiten mit den Verfahren der konkreten Poesie aufweist und die – zumindest in diesem Fall – darin besteht, bestimmte Wortgruppen durch Äquivalente
aus anderen Texten (von Kafka bis Adorno) zu ersetzen. Nicht um Texttreue geht
es Allemann dabei, sondern um die Lust am Mixen, die Sinn zugleich auflöst wie
kombinatorisch und auf kaum vorhersehbare Weise neu konstituiert.
Unter dem Titel „Verhexte Spediteure“ umkreist die in Berlin lebende Autorin
Monika Rinck (im Gespräch mit Elisabetta Mengaldo) die vielfältige intertextuelle
Beziehung zu anderen Texten und Autoren anhand diverser Themen: zur Sprache
kommen das Verhältnis zwischen den verschiedenen Medien (Buch, Hörbuch,
Zeichnungen, Internet) in ihrem Werk; sprachphilosophische und psychoanalytische Reflexionen und Metaebenen, die in ihrer Lyrik eine sehr große Rolle spielen
(etwa anhand von Verhasplern, Freudschen Witzen sowie Hypnose, Drogen und
anderen „Grenzräumen des Bewusstseins“); das gestische und performative Moment; schließlich das für ihre Poetik zentrale Spiel mit Prätexten. Exemplarisch
dafür sind Rincks Variationen über ein Sonett von Jules Laforgue („Encore à cet
astre“), in denen Verfahren der Differenz in der Wiederholung ausprobiert werden, sowie ihre „osmotische“ Prosaadaption von Emily Dickinsons berühmtem
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Gedicht „I dwell in Possibility“, bei der Rinck sich an der Metapher vom „Haus
der Dichtung“ abarbeitet.
Steffen Popp (Berlin) stellt zuletzt eine „kollaborative Poetik zeitgenössischer LyrikerInnen“ vor. Anhand der Gemeinschaftspublikation von ihm selbst, Ann Cotten, Daniel Falb, Hendrik Jackson und Monika Rinck, die unter dem Titel Helm
aus Phlox: Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs im merve-Verlag erschienen ist,
berichtet Popp von konkreten Erfahrungen mit der Frage der wechselseitigen Einflussnahme zeitgenössischer Autoren untereinander und betont dabei auch die immense Rolle, die persönliche Sympathien und Antipathien bei der dichterischen
Einfluss-Lust spielen können, jenseits von poetischen Anschlussmöglichkeiten. Die
Schwierigkeit, derartigen, höchst subjektiven Faktoren literaturwissenschaftlich
Rechnung zu tragen, sei noch ungelöst; Popp plädiert jedoch dafür, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auch auf solche Phänomene zu richten.
Last but not least haben wir zu danken: Dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg
Greifswald (namentlich dem wissenschaftlichen Geschäftsführer Dr. Christian
Suhm sowie Siri Hummel aus dem Tagungsbüro) für seine ideelle, personelle und
finanzielle Förderung der Tagung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre
finanzielle Beteiligung an der Durchführung der Tagung und der Stiftungs- und
Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg, der Alfried Krupp
von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim
Stiftung für Geisteswissenschaften für großzügige Druckkostenzuschüsse. Wir
möchten uns auch bei Prof. Dr. Cornelia Ortlieb für ihre Unterstützung und bei
Dr. Silke Nowak bedanken, die uns bei der konzeptionellen Organisation der Tagung half und sie aus der Ferne begleitete. Schließlich gilt unser Dank Katharina
Krüger, die den ganzen Band sorgfältig und aufmerksam lektoriert hat.
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