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Wo die Hand werkt wird es menschlich

Handwerk Zeitpunkt 115 ls ich Anfang der 90er Jahre die Zu-kunftswerkstatt der Handwerkskammer Hamburg übernahm, eine kleine wis-senschaftliche Einrichtung des Hamburger Gewerbes, war Handwerk für mich ein unbekannter Kontinent. Natürlich wusste ich, dass es Bäcker und FriseurInnen gab, ich kannte den Klempner von nebenan. Aber Handwerk, das gehörte in die Welt der realen Arbeit, auf die wir Abiturienten und Studenten herab schauten. Hand-werker gehörten zu jener Klasse, die wir von ihrem (vermeintlichen) Elend befreien wollten. Als Leiterin der Zukunftswerkstatt begegnete ich auf Konferenzen Männern und Frauen, die sofort herablassend wur-den, wenn das Wort «Handwerk» fiel. Fernab dieser «Wissensgesellschaft», die so wenig über Handwerk weiss, gab es zahllose persönliche Begegnungen mit Handwerkern und Handwerke-rinnen, die mir ihre faszinierende Welt zeigten und ihre Visionen und Gedanken mit mir teilten. Ein Kosmos voller Persönlichkeiten, die von berechtigtem Stolz auf ihr Können erfüllt sind und deren Fähig-keiten mir nachhaltiger und sinnvoller vorkamen als die oft hohle Welt der Wissensgesellschaft. Ich ent-deckte, dass die Art und Weise, wie hier gedacht, ge-arbeitet und gewirtschaftet wurde, nichts mit meinem Bild von Wirtschaft zu tun hatte. Die Realität im Handwerk hatte nichts mit der Welt der «Zocker» zu tun, die für kurzfristige Gewinne alles aufs Spiel setzen. Mein Bild von der Wirtschaft wurde um die Erkenntnis bereichert, dass es «die Wirtschaft» nicht gibt. Wohl aber eine ganz unter-schiedliche Art und Weise der Wirtschaft und des Wirtschaftens. In der Welt des Handwerks jedenfalls fand ich etwas, das ich in der Welt der Konzerne nicht gefunden hatte: Eine Wirtschaftsweise, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Die Bücher über «Small is beautiful», «Small Scale Technologies» und «menschenzentrierte Produktionssysteme», die ich in der Vergangenheit gelesen hatte, bekamen hier ein sehr menschliches und reales Gesicht. Erstmals fordert die Geschichte der Arbeit von uns, den Wert des vermeintlich Überflüssigen, des Nicht-Rationalen anzuerkennen und zu würdigen. Das Handwerk hat nicht nur einen goldenen Boden: Es verbindet uns mit der realen Welt, fordert uns heraus und ist vielleicht die einzige Art, allen Menschen eine sinnvolle Arbeit zu geben. von Christine Ax

Handwerk Das Handwerk hat nicht nur einen goldenen Boden: Es verbindet uns mit der realen Welt, fordert uns heraus und ist vielleicht die einzige Art, allen Menschen eine sinnvolle Arbeit zu geben. von Christine Ax ls ich Anfang der 90er Jahre die Zukunftswerkstatt der Handwerkskammer Hamburg übernahm, eine kleine wissenschaftliche Einrichtung des Hamburger Gewerbes, war Handwerk für mich ein unbekannter Kontinent. Natürlich wusste ich, dass es Bäcker und FriseurInnen gab, ich kannte den Klempner von nebenan. Aber Handwerk, das gehörte in die Welt der realen Arbeit, auf die wir Abiturienten und Studenten herab schauten. Handwerker gehörten zu jener Klasse, die wir von ihrem (vermeintlichen) Elend befreien wollten. Als Leiterin der Zukunftswerkstatt begegnete ich auf Konferenzen Männern und Frauen, die sofort herablassend wurden, wenn das Wort «Handwerk» fiel. Fernab dieser «Wissensgesellschaft», die so wenig über Handwerk weiss, gab es zahllose persönliche Begegnungen mit Handwerkern und Handwerkerinnen, die mir ihre faszinierende Welt zeigten und ihre Visionen und Gedanken mit mir teilten. Ein Kosmos voller Persönlichkeiten, die von berechtigtem Stolz auf ihr Können erfüllt sind und deren Fähigkeiten mir nachhaltiger und sinnvoller vorkamen als die oft hohle Welt der Wissensgesellschaft. Ich ent- 6 Zeitpunkt 115 deckte, dass die Art und Weise, wie hier gedacht, gearbeitet und gewirtschaftet wurde, nichts mit meinem Bild von Wirtschaft zu tun hatte. Die Realität im Handwerk hatte nichts mit der Welt der «Zocker» zu tun, die für kurzfristige Gewinne alles aufs Spiel setzen. Mein Bild von der Wirtschaft wurde um die Erkenntnis bereichert, dass es «die Wirtschaft» nicht gibt. Wohl aber eine ganz unterschiedliche Art und Weise der Wirtschaft und des Wirtschaftens. In der Welt des Handwerks jedenfalls fand ich etwas, das ich in der Welt der Konzerne nicht gefunden hatte: Eine Wirtschaftsweise, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Die Bücher über «Small is beautiful», «Small Scale Technologies» und «menschenzentrierte Produktionssysteme», die ich in der Vergangenheit gelesen hatte, bekamen hier ein sehr menschliches und reales Gesicht. Erstmals fordert die Geschichte der Arbeit von uns, den Wert des vermeintlich Überflüssigen, des Nicht-Rationalen anzuerkennen und zu würdigen. Handwerk WelcHes HandWerk? Handwerk: So einfach der Begriff erscheint, im Gespräch zwischen Kulturen und Nationen führt seine Verwendung heute mehr denn je zu Verwirrungen. Würden wir rein formal vorgehen, dann wäre Handwerk stets das, was die nationalen Wirtschaftsordnungen als Handwerk vorgeben. Dann gäbe es in Deutschland, Österreich oder Luxemburg viel mehr Handwerk als in den meisten Ländern. Dies gilt insbesondere für England. Denn in Grossbritannien kennt die Wirtschaftsstatistik nur Industrien. Handwerk gehörte in die Welt der realen Arbeit, auf die wir Studenten herabschauten. Handwerker gehörten zu jener Klasse, die wir von ihrem (vermeintlichen) Elend befreien wollten. 1 Chup Friemert (Hg.), Oskar Negt, Kurt Löcher: «William Morris Zyklus» form+zweck Verlag 1998; 168 S., deutsch/englisch, ISBN-13 9783980467-95-7, Preis 9,90 Euro Ganz so einfach ist es bei Licht betrachtet selbstverständlich nicht. Denn auch England, das Mutterland der Industrie, kommt nicht ohne Handwerk aus. Wir finden es in allen «Industrien» – vor allem wenn sie «kreativ» ist. Und wir finden Handwerk vor allem in dem nicht immer rechtschaffenen, doch fast immer Werte schaffenden Kontinent der Schwarzarbeit, der Subsistenzwirtschaft und der Eigenarbeit, der weltweit heute Millionen von Menschen alles verdanken. Vor allem ihre Existenz. Zivilisatorischer Fortschritt und Hochkulturen gab es auch schon vor dem 18. Jahrhundert. Die Moderne und den Fortschritt aber – so steht’s in den Schulbüchern geschrieben – verdanken wir vor allem der Überwindung des Handwerks durch die Industrie. Wer über Handwerk nachdenkt, landet also notgedrungen immer auch beim Begriff der «Industrie». Doch was genau unterscheidet heute den Wirtschaftsbereich Handwerk in Westeuropa noch von der Industrie? Das häufig vermutete «Modernitätsdefizit» kann es angesichts der Vielzahl von Hightechwerkzeugen, die moderne Handwerker heute bedienen, nicht sein. Eher noch taugen als Unterschied der Aspekt der Standardisierung, die Stückzahlen, die hergestellt werden, der Grad der Arbeitsteilung und die Art und Weise auszubilden. Manches ist so nah, dass wir es nicht sehen können. Dazu gehört in Westeuropa das Handwerk. Die Blindheit unserer Zeit in Bezug auf dieses Phänomen ist offensichtlich. Wer in Bibliotheken nach Büchern zum Thema Handwerk sucht, wird nur schwer fündig. Handwerk kennen unsere Bibliotheken als Unterbegriff in der Volkskunde, als eher unbedeutendes Kapitel in der der Wirtschaftsgeschichte oder als Heilmittel in der Ergotherapie. Die Soziologie beschäftigt sich aus Prinzip vor allem mit der Automobilindustrie. Jedwede Managementliteratur arbeitet sich höchstens bis in den Mittelstand vor. Und wo sozialer Fortschritt draufsteht ist selten Handwerk drin: Die politische Linke hatte mit dem Handwerk noch nie was am Hut – gilt allerdings umgekehrt genauso. Zeitpunkt 115 7 Handwerk HandWerk als Utopie Die Geistesgeschichte und die Designgeschichte kennen Handwerk auch als Utopie. Der «Morriszyklus»1 erschuf Bilder und Sehnsüchte, die die Herzen der Menschen bis heute bewegen. Die Arts- and CraftsBewegung, der Werkbund und das Bauhaus: Sie alle wollten «zurück zum Handwerk». Die sozialen Bewegungen der 1960er, 70er und 80er diskutierten nicht nur Alternativen zu einer sich über alles erhebenden Megamaschine, viele lebten ihre Träume. Nicht nur auf dem Lande – auch im Handwerk. Doch was ist das Utopische am Handwerk? Vielleicht, dass es so real ist? Uns erdet? Unserem Wunsch nach Lebenswirklichkeit so schön entspricht? In der Werkstatt erscheint und wird so vieles möglich, weil alles wirklich ist. Wir nehmen die Welt in unsere Hände und gestalten sie ebenso eigen-sinnig wie eigenmächtig. In der Welt des Handwerks fand ich etwas, das ich in der Welt der Konzerne nicht gefunden hatte: Eine Wirtschaftsweise, in der der Mensch im Mittelpunkt steht. Das «Prinzip Handwerk» beruht auf dem Ausprobieren, dem Experiment und der Chance zum Scheitern. Handwerk ist «Zen», ist ein Tätigsein, das uns hilft, uns selbst zu finden und zu bilden. Mit der Chance, an unseren eigenen Grenzen und an denen, die die Welt uns gesetzt hat, zu wachsen. Manchmal sogar über uns selber hinaus. Als Individuen und als Gattung. Handwerk macht heute mehr denn je Sinn in einer Welt, die für alle immer schwerer zu durchschauen und zu beherrschen ist. In der die Abhängigkeit von Weltmarkt, von Banken, Börsenkotierungen, Ratingagenturen, Währungskrisen und Schuldenhaushalten uns belastet, unsere Existenz in Frage stellt und lähmt. Handwerk war und bleibt ein Gegenentwurf zum Wahn-Sinn der Risikogesellschaft. Wo Hand angelegt wird, da bleibt es im besten Sinne menschlich. Denn während das Geld sich an den Börsen scheinbar ganz von alleine vermehrt und vernichtet, liefert Handwerk uns reale Werte: Häuser, Möbel, Wohn- und Esskultur, dass die Waschmaschine wieder funktioniert oder die Solaranlage. Hier finden wir bis heute das Besondere, das Eigene, das Persönliche, Kostbares, Kunstvolles und Delikates. 8 Zeitpunkt 115 Zeitlos Und modern Handwerk war und ist widerständig und eigensinnig und kann, ja muss sich das immer wieder leisten. Nur der Eigen-Sinnigkeit und den Eigenheiten vieler HandwerkerInnen haben wir zu verdanken, dass vieles an Könnerschaft und Techniken heute noch oder wieder blüht, was kürzlich totgesagt wurde. Als immaterielles, kulturelles Erbe sichert Handwerk regionale Identitäten und kulturelle Vielfalt. Es überliefert das Wissen und Können, uns immer wieder neu zu erfinden, immer wieder «à la mode» zu sein. Zumal das, was wir für «modern» halten, immer öfter das «Gestrige» ist, das wir neu interpretieren. Und wer es sich leisten konnte, trug schon immer Handwerkskunst am Leibe. Früher und heute auch zum Zwecke der Repräsentation. Manchmal aber auch als Zeichen eines zeitlos guten Geschmacks – als einen nachhaltigen, langlebigen Luxus. das HandWerk der ZUkUnft Das 21. Jahrhundert markiert einen Wendepunkt. Wir stehen – wie Mitte des 19. Jahrhunderts – vor einer neuen «industriellen Revolution». Wir müssen unseren Wohlstand in Zukunft um ein vielfaches effektiver erzeugen. Die Grenzen des Wachstums sind erreicht. Dies geht nicht nur weltweit alle Regierungen an. Es verlangt von jedem, auch von uns Verbrauchern und Protagonisten der alten «Arbeitsgesellschaft», eine Bereitschaft zum Wandel. So dramatisch sich die ökologischen Zielkorridore anhören – wenn wir es klug anfangen und keine Zeit mehr verlieren, gibt es keinen Grund zur Panik. Wohl aber eine zwingende Notwendigkeit, ab sofort jeden Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckte, verbanden viele mit ihren neuen, mächtigen Werkzeugen einen kühnen Traum: Am Ende des Weges sollte eine Welt frei von Entfremdung, eine Welt selbstbestimmten Lebens und Arbeitens stehen. Der Kapitalismus neuen Typs erweist sich jedoch heute als ein teuflischer Plan: Je effizienter und produktiver wir werden, desto notwendiger wird eine Teilhabe an der Arbeitswelt: Zur Absicherung des Lebensunterhaltes, zur sozialen Anerkennung und zum persönlichen Glück. Unter dem Vorzeichen maximaler industrieller Effizienz und maximaler Rentabilität entstand eine Welt voller Paradoxien. Doch was unter den Bedingungen frühkapitalistischer Not rational war, gerät uns heute, in Folge der Globalisierung unserer ökologisch nicht durchhaltbaren Wirtschaftsund Lebensweise, zu einem tödlichen Risiko. wo die Hand werkt, … Christine Ax, M.A., Philosophin und Ökonomin. Expertin für Nachhaltige Entwicklung und Handwerk und Autorin. Seit 2000 selbständig. Projektentwicklung und Forschung rund um das Thema Nachhaltigkeit – stets mit einem Bezug zu Themen der Regionalen und Lokalen Ökonmie, zu Handwerk und Nachhaltiger Entwicklung. 1997 erschien «Das Handwerk der Zukunft», 2009: «Die Könnensgesellschaft». Zahlreiche weitere Veröffentlichungen, Vorträge über Handwerk, Zukunft, Arbeit, Nachhaltigkeit. arbeit an der GrenZe Schon der Psychologe Abraham H. Maslow (1908– 1970), der durch seine Bedürfnispyramide bekannt wurde, wusste: Die Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse ist nach oben offen. Der «Nörgelfaktor» holt uns immer wieder ein. Jenseits der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse und eines «Lebens ohne Scham» sind es jedoch weder Geld noch Konsum, die dauerhaft zufrieden machen. Der Wunsch nach Familie, Gesundheit, Freunden, Gemeinschaft und einer sinnvollen, guten Arbeit treten stärker denn je in den Vordergrund. Das Paradigma der Effizienz ist in Bezug auf menschliches Leben nur in Grenzen sinnvoll. Dem «grösstmöglichen Glück für die grösstmögliche Zahl» kommen wir mit unserem verzweifelten «Weiter so!» nicht näher. Zukunftsfähig, dies ist die Botschaft vieler einflussreicher Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen unserer Zeit2, ist eine Gesellschaft, die allen Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu leben und «gedeihen» zu lassen. Ohne ein Umdenken in Sachen Arbeit kann der Übergang in eine nachhaltigere Wirtschafts- und Lebensweise nicht gelingen. perspektivenWecHsel WaGen Noch haben wir die Wahl. Jenseits der Grenzen des Wachstums, jenseits selbst produzierter Unfreiheiten und Notwendigkeiten gibt es den Raum des Möglichen. Eine Zukunft, in der Menschen ihre Fähigkeiten und ihr Können verschwenden und leben dürfen. Eine Welt, in der wir als Menschen und Kulturen innerhalb von Grenzen nicht nur gut leben und wachsen dürfen, sondern es auch können.3 Erstmals fordert die Geschichte der Arbeit von uns, den Wert des vermeintlich Überflüssigen, des Nicht-Rationalen anzuerkennen und zu würdigen. Dies gilt nicht nur für soziale Beziehungen, es gilt auch für die Welt der Dinge und der Welt der Arbeit. Das von der Natur gesegnete Europa tut gut daran, sich auf seine Herkunft zu besinnen. Europas Reichtum beruht nicht nur auf seiner günstigen geo- Doch was ist das Utopische am Handwerk? Vielleicht, dass es so real ist? Uns erdet? Unserem Wunsch nach Lebenswirklichkeit so schön entspricht? grafischen Lage, sondern auch auf der Vielfalt seines über Jahrhunderte erarbeiteten kulturellen Vermögens. Eines der bedeutendsten davon ist die Vielfalt an Könnerschaft, die das Handwerk repräsentiert. Dieses Vermögen, Natur und Kultur, wird auch dann noch produktiv sein, wenn Arbeits- und Finanzmärkte versagen. Als eine Quelle von sinnstiftender, guter Arbeit, die solange dauerhaft zu Verfügung stehen wird, wie wir es selber in der Hand haben. Auf Dauer sind nicht diejenigen Gesellschaften reich, die möglichst viel verbrauchen. Dauerhaft reich sind Kulturen, die die Kraft aufbringen, innerhalb von Grenzen zu wachsen und Vermögen bewahren und weiterentwickeln, das die Zeit überdauert. 2 Stellvertretend für viele: Amartya Sen: «Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft»; München 2000; Tim Jackson: «Wohlstand ohne Wachstum»; Oekom Verlag 2011 3 Christine Ax: «Die Könnensgesellschaft – Mit guter Arbeit aus der Krise»; Rhombos Verlag 2009 Warum um Himmels willen? Rudolf Strahm sass 1991 bis 2004 für die SP im Nationalrat und war von 2004 bis 2008 schweizerischer Preisüberwacher. Aktuell präsidiert er u.a. den Schweiz. Verband für Weiterbildung. Rudolf Strahms letztes Buch «Warum wir so reich sind – Wirtschaftsbuch Schweiz». 2. Aufl. Hep-Verlag, 2010. 306 S., 1079 Grafiken. Fr. 38.– . Der vorliegende Text erschien unter dem Titel «Ein Buch fürs Leben› erstmals als Kolumne im «Magazin» des Tagesanzeigers und hat für Verärgerung unter Bildungswissenschaftlern geführt. Da kommt einer, der unser vorherrschendes Arbeitsverständnis und praktisch die ganze Bildungspolitik unserer Zeit grundsätzlich infrage stellt. Und zwar in einem Argumentationsstil, dem man kaum widersprechen und schon gar nicht ausweichen kann. Sennett beschreibt, wie die Mehrzahl der Arbeitnehmer den Drang verspührt, «eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen». Ihre Triebkräfte seien nicht blosse Lohnanreize oder Boni, sondern der «Stolz auf die eigene Arbeit», die Erfüllung durch immer besser entwickelte Fertigkeiten. Auch in repetitiven Tätigkeiten konstatiert Sennett bei vielen Menschen eine Erfüllung und Sinnstiftung. Seit Jahren hatte ich mich immer wieder gefragt: Warum um Himmels willen befasst sich niemand in der akademischen Welt mit der Bedeutung der praktischen Intelligenz und der Intuition? Alle stürzen sich ständig auf Intelligenztests und Bildungsratings. In «Handwerk» setzte Sennett erstmals einen Kontrapunkt gegen diese geistig schmalbrüstige Mainstream-Erziehungswissenschaft. Sennett erhebt die praktische Intelligenz zu einem beachtenswerten Kulturgut, obschon sie nicht gleichermassen messbar ist wie schulisches Wissen. Man wird seine scharfe analytische Demontage der gängigen Intelligenztests, die nur das schulisch-kognitive Wissen mit einem reduktiven Verfahren messen, nach der Lektüre von «Handwerk» nie mehr vergessen. Unsere Bildungspolitiker, die sich in ihrer Hilflosigkeit immer mehr auf standardisierte IQ-Tests, Pisa-Ratings und Befragungsraster berufen, stehen nach diesem Buch mit verkürztem Kopf in der Landschaft. Rudolf Strahm Zeitpunkt 115 9