Blogbeitrag in materia classica, 29.3.2018 (Klaus Junker)
Zur Berliner Rekonstruktion der Laokoongruppe
Hinweis: Der Beitrag erscheint vorerst ohne Bilder, da das Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität keine
Publikationsgenehmigung erteilt hat. Ich verweise deshalb auf
https://www.welt.de/geschichte/article159477379/So-sah-das-groesste-Kunstwerk-der-Antike-wirklich-aus.html
Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk, entstanden unter der Ägide von Susanne
Muth in Verbindung mit dem Sonderforschungsbereich 644 Transformationen der Antike
verfolgt zwei Ziele. Kernpunkt und Legitimation der Unternehmung ist eine neue Rekonstruktion des vatikanischen Laokoon. Sie wird in einer kleinen Ausstellung (mitverantwortet
von Agnes Henning) präsentiert. Im umfangreichen Katalog gruppieren sich um die
Rekonstruktionsfragen zahlreiche Beiträge eines großen Autorenkreises, die auf die
unterschiedlichsten Aspekte der Erforschung und des Nachlebens der Statuengruppe
eingehen und insgesamt ein umfassendes und sehr informatives Handbuch zum Thema
darstellen. Hervorzuheben ist dabei die sorgfältige und instruktive Dokumentation zum
antiken Bestand der Skulpturengruppe. Dabei, wie dann auch bei der Rekonstruktion des
originalen Zustands, leistet die digitale Aufbereitung gute Dienste. Ausstellung und Katalog
stellen auch eine schöne Gemeinschaftsaufgabe dar, bei der erfahrene Wissenschaftler und
Nachwuchskräfte eines Universitätsinstituts und darüber hinaus umfassend kooperieren.
Die neue Rekonstruktion
Der Ertrag an neuer Forschung im eigentlichen Sinne ist relativ gering: Dass bei der
Laokoongruppe der Kopf der oberen Schlange eventuell nicht an der linken Hüfte zu
rekonstruieren ist, sondern am Kopf des Protagonisten, ist in den letzten Jahrzehnten schon
mehrfach vertreten worden. Dieser Grundgedanke wird nun in neuer Ausprägung präsentiert,
mit einer Doppelwindung des Reptils um den linken Arm des Laokoon, vor allem aber mit
dem Kopf der Schlange direkt unter dem Ansatz des rechten Arms, so dass Laokoon seinen
Kopf in einer spontanen Reaktion von der akuten Bedrohung abzuwenden scheint. Wichtigstes Indiz für diesen Vorschlag ist die Anatomie der Schlangen. Doch die Beobachtungen
an der besser erhaltenen unteren Schlange reichen nicht aus, um bei der oberen Schlange
auch nur vorne und hinten wirklich zuverlässig zu bestimmen. Ich würde den neuen
Vorschlag nicht rundweg verwerfen (wie Bernard Andreae in seiner etwas wirren Rezension:
Gnomon 90, 2018, 74–79), doch scheint mir die materiale Grundlage zu schwach für ein
bestimmtes Urteil und vor allem scheint mir der Realismus der Gruppe falsch verstanden.
Trotz des großen Aufwands bei der Beschreibung des Rekonstruktionsvorgangs und bei der
im Katalog geleisteten Kontextualisierung wird eine wesentliche Frage nicht ausreichend
thematisiert: Die Rekonstruktion ist geleitet von der Erwartung, in der Statuengruppe eine
realistische Wiedergabe eines Angriffs von zwei Schlangen auf drei Menschen vor sich zu
haben. Muth (und ihr Team) ist dabei von einem engen Realismusbegriff geleitet und will alle
wesentlichen Elemente, also die Art des Angriffs der Schlangen wie auch die Art der
Gegenwehr von Laokoon und seinen Söhnen, als genaue Übertragung einer realen Situation
verstehen. Über die Frage, ob Laokoons Leiden echt ist (und ob er »schreit«), wird seit
Winckelmann und Lessing gestritten. Ich vertrete die Seite der Forschung, die in der
Statuengruppe eine zwar dramatische, aber recht artifizielle, schön in der Fläche
ausgebreitete Komposition sieht, die ihre Wirkung auch durch die sehr realistischen
Oberflächenformen erhält. Wenn man diese beiden Ebenen unterscheidet, dann erscheint es
undenkbar, dass die energische Kopfwendung des Laokoon, in der die durch den ganzen
Körper gehende Anspannung der Figur kulminiert, durch eine zuschnappende Schlange
motiviert sein soll. Für den großen Mann und die monumental angelegte Statuengruppe ist
das ein entschieden zu schwaches Motiv. Den drei berühmten rhodischen Bildhauern darf
man zutrauen, dass sie mit den Möglichkeiten einer mimetischen Darstellungsweise gut und
also sehr selektiv umzugehen wussten und dass sie bei ihrem zweiten archäologisch
dokumentierten Werk, der Skyllagruppe in Sperlonga, diese Mittel auf andere Weise
eingesetzt haben, indem nun nicht nur die Oberfläche, sondern auch die Aktion selbst sehr
realistisch dargeboten wird.
Archäologische Forschung als dramatischer Prozess
Muth macht es mit der von ihr gewählten Zugangsweise und sprachlichen Form den Lesern
im übrigen auch nicht ganz leicht, Vertrauen aufzubauen. Es herrscht ein befremdlicher
Superlativismus vor, nach beiden Seiten hin: Einmal wird der – seit über 500 Jahren intensiv
diskutierte – Gegenstand der Untersuchung in übertriebener Weise als unbekannt oder
verkannt hingestellt, zum anderen der eigene Weg der Erschließung als raffinierte
„Spurensuche“, als endlich stattfindende Beschäftigung „mit der Statue selbst“ (31)
bezeichnet, und dann erweist sich das Werk als „genial“, das Können der Bildhauer als
„geheime Meisterschaft“ und dergleichen. Das scheint eher der Dramaturgie eines
Abenteuerfilms abgeschaut als an sorgfältiger archäologischer Methodik orientiert, zu der
auch gehören würde, stets die Grenzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten zu sehen. Zum
wenig kontrollierten Optimismus ist auch zu rechnen, wenn Muth sich sehr direkt in den
„antiken Betrachter“ hineinversetzt, als ließe sich die Distanz zum Gegenstand vollständig
überwinden (S. 335–340).
Dass die neue Rekonstruktion sich durchsetzen wird, ist wenig wahrscheinlich; dafür fehlt als
elementare Voraussetzung eine schlagende neue Beobachtung innerhalb des hochkomplexen skulpturalen Befunds. Interessant sind aber die ersten Reaktionen. Im Katalog
selbst warnt eine Stimme davor, den Bogen nicht zu überspannen. Stephan G. Schmid stellt
nachdrücklich heraus, »dass nicht alle uns bekannten Puzzlestücke der klassischen Antike
zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden können (und sollen)« (393; auch
Anm. 22). Umgekehrt setzt sich Muths Superlativismus in der ungehemmten Begeisterung
von zwei Beiträgen im Feuilleton großer Tageszeitungen fort. Fern jeder Realität meint
Andreas Kilb (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.11.2016) zur neuen Rekonstruktion
„Ganze Bibliotheken voller Laokoon-Deutungen fallen damit in sich zusammen“. Berthold
Seewald (Die Welt vom 14.11.2016) redet im Titel seines Beitrags gleich vom „größten
Kunstwerk der Antike“ und folgt anschließend nicht weniger unkritisch den Aussagen im
Ausstellungskatalog, mitunter bis in die Formulierungen hinein. Solches Lob kann man
schwerlich als Auszeichnung verstehen. Stattdessen zeigt sich darin einmal mehr die
zwiespältige Popularität der Klassischen Archäologie: die Freude an der Sensation ersetzt
die Auseinandersetzung mit der archäologischen Arbeitsweise und ihren Möglichkeiten und
Grenzen. Dazu passt, dass die FAZ, anders als in früheren Jahren, in ihren Literaturbeilagen
zwar noch neue anspruchsvolle Arbeiten aus der Kunstgeschichte vorstellt, schon lange aber
nicht mehr Bücher zur antiken Kunst.