DOI 10.1515/bz-2013-0013
BZ 2013; 106(1): 173–190
Nina-Maria Wanek
DIE SOGENANNTE MISSA GRAECA –
SCHNITTSTELLE ZWISCHEN OST UND WEST?
Abstract: The Article deals with the so-called Missa graeca, i. e. chants of the
Roman ordinary of the mass with Greek texts in Latin manuscripts written with
Latin neumes. These texts can be found in choral manuscripts from the 9th to the
11th century. Over the past hundred years the Missa graeca has been researched –
mainly by Western scientists – but still many questions remain unsolved: Is there
an actual melodic connection between the Byzantine chants and those of the
Missa graeca? What are the models for these chants? Where do the mistakes in the
transliterated texts come from? Who wrote the chants down, who sang them, ec.?
The article tries to examine these questions on the basis of the Sanctus/Hagios,
looking at its Greek and Latin text as well as examining the different melodies.
Furthermore the article tries to compare the melody of the Byzantine Hagios with
that of the Sanctus in the Missa graeca, although such a comparison is difficult due
to the different neumatic systems used as well as due to the time difference of the
manuscripts: Western manuscripts containing the Missa graeca date from the 10th
century, while Byzantine codices incorporating the Hagios are preserved only from
the 14th century.
Adresse: Dr. Nina-Maria Wanek, Harbach 69, 3970 Moorbad Harbach, Österreich,
[email protected]
Der vorliegende Beitrag entstand auf Basis meines Vortrags für die Cantus Planus-Tagung in
Wien im August 2011. Zuvor hatte ich mich für meinen Artikel „Missa graeca: Eine Standortbestimmung“ für das Buchprojekt der Leipziger Universität Byzanzrezeption in Europa mit dem
Phänomen griechischer Gesänge in lateinischen Handschriften beschäftigt. WO IN DER BZ
ANGEZEIGT?
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Byzantinische Zeitschrift Bd. 106/1, 2013: I. Abteilung
Allgemeines
Forschungslage
Seit über hundert Jahren sind die Teile der Missa graeca Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung.¹ Zwar hat die Literatur zur Missa graeca bereits einen
großen Umfang erreicht, trotzdem sind die grundlegenden (und dabei vor allem
die musikwissenschaftlichen) Fragen nach wie vor weitgehend ungeklärt. So
konnte bisher immer noch nicht eindeutig nachgewiesen werden, ob nun tatsächlich byzantinische Melodien in den lateinischen Handschriften tradiert
werden und wenn ja weshalb. Ursachen, warum diese Fragen bisher offen blieben,
sind u. a.
· geringe Kenntnis der byzantinischen Musik
· hauptsächlich westliche Forscher arbeiteten/arbeiten an diesem Gebiet, seltener jedoch griechische Wissenschaftler
· nur sporadische Einbeziehung byzantinischer Quellen² (bedingt u. a. dadurch, dass solche weit weniger zur Missa graeca enthalten sind, als westliche)
· der Schwerpunkt liegt vor allem auf der historischen Ebene, nur ein kleiner
Teil der relevanten Literatur nähert sich der Missa graeca von der musikwissenschaftlichen bzw. ein noch kleinerer von der byzantinistisch-musikologischen Seite her an.
Schwierigkeiten des Vergleichs lateinischer und byzantinischer Handschriften³
entstehen aufgrund der unterschiedlichen Neumensysteme⁴ und aufgrund der
Zeitdifferenz: Westliche Codices aus dem 10. Jh. bringen bereits Messgesänge,
während auf byzantinischer Seite jedoch keine Asmatika (d. h. Gesangsbücher, die
1 Als einer der ersten Wissenschaftler, der sich mit der Missa graeca befasste, gilt Amédée
Gastoué, der bereits Ende des 19. Jh.s Artikel zu diesem Thema verfasste: Grecs et Latins. Le
chant du Gloria in excelsis. Tribune de St. Gervais 3 (1897) 6 – 74 und Le Trisagion. Tribune de St.
Gervais 3 (1897) 166 – 168 sowie Le Sanctus et le Benedictus. Revue du chant grégorien 38 (1934)
163 – 168 und 39 (1935) 12– 17, 35 – 39.
2 E. Jammers/R. Schlötterer/H. Schmid/E. Waeltner, Byzantinisches in der karolingischen
Musik, Berichte zum XI. Internationalen Byzantinisten-Kongress. München 1958, 1.
3 Siehe dazu auch L. Nardini, Aliens in disguise: Byzantine and Gallican chants in the Latin
liturgy. Plainsong and Medieval Music 16 (2007) 146, die feststellt: „Reconstructing the nature
and extent of musical exchanges between Byzantine and Western chants is problematic because
of the elusiveness of surviving written documentation. The earliest notated Byzantine sources
originate later than their Western counterparts and reflect a diversified set of liturgical practices.“
4 Jammers/Schlötterer/Schmid/Waeltner, Byzantinisches (wie oben Fußnote 2) 5.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
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Messgesänge enthalten) aus dem 10./11. Jh. in paläobyzantinischer, adiastematischer Notation erhalten geblieben sind.⁵
Definition der Missa graeca
Der Terminus Missa graeca bezeichnet Gesänge des römischen Ordinarium missae
mit griechischem Text in lateinischer Transliterierung, die sich in westlichen
Choralhandschriften des 9. bis 11. Jh.s finden.⁶ Oftmals wird in den Codices der
griechische zusammen mit dem lateinischen Text wiedergegeben. Auch eine lateinische interlineare Version oder eine lateinische Übersetzung kann jeweils nach
einem Abschnitt zu finden sein. Häufig sind die griechischen Texte mit Neumen
versehen, was wohl darauf hindeutet, dass sie auch tatsächlich gesungen wurden.⁷
Zu beachten ist, dass die mittelalterlichen Handschriften selbst nicht die
Bezeichnung Missa graeca aufweisen. Es hat sich jedoch in der einschlägigen
Literatur eingebürgert, dass das Gloria (Doxa), das Credo (Pisteuo), das Sanctus
(Hagios) und das Agnus Dei (Amnos tu theu) zur Missa graeca gezählt werden,
obwohl auch andere Gesänge (beispielsweise der Cherubimhymnus Hoi ta cherubim – Qui Cherubim mystice) auf Griechisch in den Codices vorkommen können.⁸
Zumeist enthalten die Handschriften nur einzelne Gesänge der Missa graeca,
selten ist ein geschlossener Zyklus zu finden.⁹ Offensichtlich wurden die Teile der
5 Vgl. N. Moran, The Ordinary Chants of the Byzantine Mass. Investigations, 1. Bd. Hamburg
1975, 10.
6 Ch. M. Atkinson, Zur Entstehung und Überlieferung der „Missa graeca“. Archiv für Musikwissenschaft 39/2 (1982) 113, Fußnote 2 sowie, ders., The Doxa, the Pisteuo, and the ellinici
fratres: some anomalies in the transmission of the chants of the „Missa graeca“. Journal of
Musicology 7 (1989) 81, Fußnote 1: Wie Atkinson anführt, geht der Terminus „Missa graeca“ bis
zu A. J. H. Vincents Artikel Note sur la messe grecque qui se chantait autrefois a l’abbaye royale
de Saint-Denis le jour de l’octave de la fete patronale. Revue Archéologique 4 (1864) 268 – 281
zurück.
Siehe weiters zur Geschichte der Missa graeca v. a.: Ch. M. Atkinson, Further Thoughts on the
Origin of the Missa graeca. De Musica et cantu, Studien zur Geschichte der Kirchenmusik und
der Oper. Helmut Hucke zum 60. Geburtstag (edd. P. Cahn/A.-K. Heimer). Hildesheim 1993; O.
Ursprung, Um die Frage der Echtheit der Missa graeca. Die Musikforschung 6 (1953) 289 – 296;
B. Kaczynski, Greek in the Carolingian Age: The St. Gall Manuscripts. Cambridge/Mass. 1988;
Byzantinisches in der karolingischen Musik; E. Jammers, Abendland und Byzanz: II. Kirchenmusik: Byzanz und die abendländische Musik. Reallexikon der Byzantinistik Reihe A, Heft 3 (ed.
P. Wirth). Amsterdam 1969, 169 – 227.
7 Kaczynski (wie oben Fußnote 6) 104.
8 Atkinson, Zur Entstehung (wie oben Fußnote 6) 13, Fußnote 1.
9 Kaczynski (wie oben Fußnote 6) 102; Atkinson, Zur Entstehung (wie oben Fußnote 6) 137.
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Byzantinische Zeitschrift Bd. 106/1, 2013: I. Abteilung
Missa graeca eher willkürlich denn systematisch im Laufe des 9. Jh.s aufgenommen.¹⁰ Die früheste Handschrift des 8./9. Jh.s, die alle vier Stücke jedoch ohne
Neumen enthält, ist der Codex Paris 2290 (entstanden um das Jahr 867).¹¹ Bis jetzt
wurden etwas mehr als 60 Handschriften des 8. bis 14. Jh.s¹² gefunden, die
griechische Messgesänge aufweisen,¹³ wovon wiederum ca. 48 neumiert sind.
Alleine St. Gallen werden insgesamt dreizehn Handschriften mit Teilen der Missa
graeca zugeschrieben, so dass hier mehr Handschriften mit griechischen Gesängen überliefert sind als von jedem anderen Kloster.¹⁴
Sanctus / Hagios
Für den vorliegenden Artikel soll das versucht werden, was eines der nach wie vor
ausstehenden Desiderata der Missa graeca-Forschungen ist: Einen Gesang – und
zwar das Sanctus / Hagios – anhand lateinischer und byzantinischer Handschriften miteinander zu vergleichen. Denn diese Vorgangsweise ist trotz aller
Schwierigkeiten die einzig mögliche, um durch den direkten Melodievergleich
dem Ursprung der Missa graeca auf die Spur zu kommen und ev. solcherart
herauszufinden, ob nun byzantinische Melodien diesen Gesängen in westlichen
Handschriften zugrunde liegen oder nicht.
Das Sanctus bietet sich insofern an, als es relativ häufig – und auch in frühen –
byzantinischen Handschriften auftritt. Darüber hinaus gibt es bereits zwei Stu10 Atkinson, Zur Entstehung (wie oben Fußnote 7) 137.
11 Atkinson, Zur Entstehung (wie oben Fußnote 6) 137. Kaczynski (wie oben Fußnote 6) 103.
Siehe zu dieser Handschrift u. a.: J. Deshusses, Chronologie des grands sacramentaires de SaintAmand. Revue Bénédictine 87 (1977) 230 – 237; C. Nordenfalk, Ein karolingisches Sakramentar
aus Echternach und seine Voräufer. Acta Archaeologica 2 (1931) 207– 244; A. Boutemy, Le style
franco-saxon, style de Saint-Amand. Script 3 (1949) 260 – 264.
12 Diese Gesänge finden sich u. a. in Psalter, Grammatiken und verschiedenen anderen
Sammlungen, hauptsächlich jedoch in Musikhandschriften und hier wiederum vor allem in
Troparien und Gradualen des 10. und 11. Jh.s.
13 Siehe die Listen bei Ch. M. Atkinson, O amnos tu theu: The Greek Agnus Dei in the Roman
Liturgy from the Eighth to the Eleventh Century. Kirchenmusikalisches Jahrbuch 65 (1981) 9 – 14
und ders., Zur Entstehung (wie oben Fußnote 6) 120 – 125.
14 Auf www.cesg.unifr.ch sind mittlerweile ca. 400 Handschriften der St. Gallener Bibliothek in
digitalisierter Form abrufbar. Kaczynski (wie oben Fußnote 6) 104 führt dazu weiters an, dass in
diesen Handschriften weit mehr griechische Texte enthalten sind, als der Missa graeca zugeschrieben werden. Beispielsweise ist v. a. in St. Gallener Handschriften auch das Vater Unser
zusammen mit den Messgesängen vorhanden. Der Codex St. Gallen MS 381 beinhaltet den
vollständigsten Satz, d. h. die Große Doxologie, das apostolische Credo (in Griechisch), das Vater
Unser, das Nicea-Credo, das Amnos tu Theu und das Hagios. Darüber hinaus befindet sich hier
auch Notkers berühmtgewordener Brief über die „ellinici fratres“ an Lantpert.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
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dien, die sich im speziellen mit dem westlichen Sanctus und dem byzantinischen
Hagios befassen: Die erste stammt von Michel Huglo aus dem Jahr 1950,¹⁵ die
zweite – und auf Huglos Artikel teilweise aufbauende – Studie legte Kenneth Levy
Ende der 1950er Jahre vor.¹⁶ Das Sanctus eignet sich für einen direkten Vergleich,
da dieser Gesang – wie Levy es formuliert¹⁷ – „[…] shows at its most striking the
liturgical and musical relationship between East and West, and because it has –
among all those of the Ordinary – a special claim to antiquity.“
Darüber hinaus findet sich das Hagios zusammen mit den anderen drei Missa
graeca-Gesängen auch in einer einzigen Wiener Handschrift, dem Cod. Vind.
lat. 1888 (auf fol. I*v), einem Sakramentar aus dem Kloster St. Alban in Mainz, das
um 950 datiert wird¹⁸ und eine linienlose deutsche Neumennotation aufweist.¹⁹
Als Referenzhandschriften dazu wurden die folgenden neun Codices verwendet:²⁰
· St. Gallen 381, p. 315 und St. Gallen 484, p. 305 (beide 10. Jh., Tropar)
· Düsseldorf D2, 203r (10. Jh., Sakramentar)²¹
· Bodleian Library, Selden Supra 27, fol. 89v (fr. 11. Jh., Tropar, Heidenheim)²²
15 M. Huglo, La tradition occidentale des mélodies byzantines du Sanctus. Der kultische Gesang der abendländischen Kirche. Ein gregorianisches Werkheft aus Anlass des 75. Geburtstages
von D. Johner (ed. F. Tack). Köln 1950, 40 – 46.
16 K. Levy, The Byzantine Sanctus and its modal tradition in East and West. Annales Musicologiques 6 (1958 – 1963) 7– 67.
17 Levy (wie oben Fußnote 16) 7.
18 H. Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der österreichischen
Nationalbibliothek, 1. Bd. Berlin 1960, 60 f.: um 950, Karolingische Buchschrift. H. J. Hermann,
Die frühmittelalterlichen Handschriften des Abendlandes (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich, 1. Band: Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Nationalbibliothek in Wien). Leipzig 1923, 185 f.: „In der Mainzer Diöcese in der 2.
Hälfte des X. Jahrhunderts geschrieben, einst wohl im Gebrauche von St. Alban in Mainz, wie
das häufige Vorkommen von St. Albans in den Gebeten, Litaneien u.s.w. annehmen lässt.“ Seit
1576 ist die Handschrift Eigentum der Hofbibliothek.
19 Siehe die CVP-Beschreibung der gesamten Handschrift von H. Zühlke (Musikalische Quellen
des Mittelalters in der Österreichischen Nationalbibliothek – FWF-Projekt der ÖAW: http://www.
oeaw.ac.at/kmf/cvp: access: 1.8. 2011.
20 Die Handschrift aus der British Library, MS Add. 19768 (Mitte 10. Jh. Mainz/St. Alban), die
Atkinson, O Amnos (wie oben Fußnote 13) 27, Fußnote 55 als „companion manuscript“ der
Wiener Handschrift ausgibt, war leider online nicht zugänglich.
21 E. Jammers, Die Essener Neumen-Hs. der Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf. Ratingen
1952. I. Opelt, Die Essener „Missa Greca“ der liturgischen Handschrift Düsseldorf D2. JÖB 23
(1974) 77– 88. E. Wellesz, Eastern Elements in Western Chant. Oxford 1947, 33 f.
22 D. Smoje, Oxford, Bodleian Library, MS. Selden Supra 27; Prosaire-Tropaire de Heidenheim.
Ottawa 2006.
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Paris, Cod. n.a. lat. 1871, fol. 23r (11. Jh., Tropar von Moissac)²³ und Cod. n.a.
lat. 2290, fol. 8v (ca. 867, Sakramentar, St. Amand)²⁴
München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 14083, fol. 96r (Cantatorium, Mitte
11. Jh., St. Emmeram), Clm 14322, fol. 5v (Cantatorium, 1024– 1027 und Mitte 11.
Jh., Regensburg) und Clm 19440, fol. 4r (11./12. Jh., Tegernsee).
Wie bereits oben erwähnt, sind dazu keine zeitgleichen byzantinischen Asmatika
erhalten. Laut Levy²⁵ findet sich die älteste erhaltene Version des Hagios in der
süditalienischen Handschrift der Universitätsbibliothek Messina 161 (fol. 74) aus
dem 13. Jh., „[…] an extremely florid ‘kalophonic’ chant in the G-mode Plagal […]“²⁶
Für den hier angestrebten Vergleich wurden die zwei mir zugänglichen frühestmöglichen Handschriften (beide aus dem 14. Jh. und aus der Athener Nationalbibliothek) in mittelbyzantinischer Notation herangezogen:
· EBE 2458 , fol. 167v (4. März 1336, Papadike); laut Touliatos-Miles die früheste
erhaltene Akoluthie²⁷
· EBE 2454, fol. 42r (ca. zwischen 1328 und 1341, Papadike Akoluthia)²⁸
Auf Basis der in diesen beiden Codices enthaltenen Versionen dürfte dann auch
Ioannes Glykys (Ende 13./Anfang 14. Jh.) seine (kalophonische) Fassung des
Sanctus aufgebaut haben. Daher wurden noch ergänzend drei spätere Wiener
Handschriften aus dem 17. /18. Jh. für den vorliegenden Vergleich herangezogen,
die die Hagios-Fassung von Ioannes Glykys enthalten (Suppl. gr. 100 [73v], Suppl.
gr. 130 [p. 342] und Suppl. gr. 190 [100r]²⁹ – siehe dazu weiter unten den Punkt
„Melodievergleich“).
23 M.-N. Colette/M.-Th. Gousset (edd.), Tropaire séquentiaire prosaire prosulaire de Moissac
(Troisième quart du XIe siècle) Manuscrit Paris, Bibliothèque nationale de France, n. a. l. 1871.
Paris 2006.
24 Abgebildet bei Atkinson, O amnos (wie oben Fußnote 13) 28, Fig. 1: In dieser, der frühesten
erhaltenen Handschrift, die alle vier Teile der Missa graeca enthält, befindet sich nur der unneumierte Text des Hagios.
25 Levy (wie oben Fußnote 16) 11.
26 Die Datierung stammt von L. Tardo, I MSS. greci di musica bizantina nella Biblioteca
Universitaria di Messina. Archivio storico per la Calabria e la Lucania 23 (1954) 187 f.
27 Siehe die Beschreibung der Handschrift bei D. H. Touliatos-Miles, A Descriptive Catalogue
or the Musical Manuscript Collection of the National Library of Greece. Byzantine Chant and
Other Music Repertory Recovered. Aldershot 2010, 400 – 406.
28 Touliatos-Miles (wie oben Fußnote 27) 391– 394.
29 Zu den Wiener Supplement-Handschriften siehe N.-M. Wanek, Nachbyzantinischer liturgischer Gesang im Wandel: Die Musikhandschriften des Supplementum graecum der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien 2007.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
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Textvergleich
Zu Beginn soll der Text, wie er in den hier verwendeten lateinischen Handschriften
aufscheint, verglichen werden. Die textlichen und linguistischen Merkmale und
Besonderheiten der Missa graeca lassen nämlich unter Umständen Rückschlüsse
auf die noch immer ungeklärte Streitfrage zu, ob diese Gesänge von Griechen im
Westen vorgetragen wurden, oder aber von lediglich griechischkundigen westlichen Mönchen. Dies wiederum könnte die Frage, ob die Gesänge tatsächlich
byzantinischen Ursprungs sind, einen Schritt näher zur Klärung bringen.
Zu den Texten der Missa graeca haben bereits Ilona Opelt³⁰ und Charles Atkinson³¹ Detailstudien vorgelegt, auf denen hier aufgebaut werden soll. Opelt hat
auf Basis der Missa graeca-Texte versucht, Rückschlüsse auf das gesprochene
Griechisch des 9./10. Jh.s zu ziehen. Denn anhand der transliterierten Texte in den
lateinischen Handschriften lässt sich erkennen, dass die Aussprache bereits zu
einem bedeutenden Teil jener des Neugriechischen gleicht. Die Schreibfehler bei
der Transliterierung deuten weiters daraufhin, dass die Texte nach mündlicher
Wiedergabe aufgezeichnet wurden³²: „Man ist sich bereits relativ einig“, merkt
Opelt an³³, „dass die Texte nur nach Gehör, also nach Diktat aufgeschrieben
worden sein können, so lassen sich die Fehler erklären […] Daraus wäre der
Schluss zu ziehen, dass nicht westliche, griechisch-kundige Mönche die Texte
vorgelesen/vorgesungen haben könnten, da diese wohl eine andere Aussprache
als Griechen aus Byzanz gehabt hätten.“ Außerdem lassen die Art der Fehler den
Schluss zu, dass die Schreiber des Griechischen unkundig waren,³⁴ bzw. die Fehler
durch Abschreiben oftmals von Codex zu Codex tradiert wurden.
Anhand ihrer Studien zu dem Codex Düsseldorf D2 kommt Opelt³⁵ – ähnlich
wie Atkinson³⁶ – zu folgenden Erkenntnissen in Bezug auf die Aussprache des
Griechischen im 10. Jh.³⁷:
30 Opelt (wie oben Fußnote 21) 77– 88. Zu dieser Handschrift siehe auch Jammers (wie oben
Fußnote 21). Auch Wellesz, Eastern Elements 33 f. geht auf die zweisprachigen Gesänge in
diesem Codex ein.
31 Siehe Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) ab S. 118 sowie ders., The Doxa (wie oben
Fußnote 6) 82.
32 Siehe Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 127.
33 Opelt (wie oben Fußnote 22) 87. Vgl. dazu ebenfalls Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 126.
34 Opelt (wie oben Fußnote 21) 85.
35 Opelt (wie oben Fußnote 21) 80 – 84.
36 Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 119; ders., The Doxa (wie oben Fußnote 6) 88.
37 Opelt (wie oben Fußnote 21) 84, 86.
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Itazismus im Bereich des Vokalismus³⁸
Monophthongisierung der Diphthonge ei (ει) und oi (οι) zu i (ι) bzw. ai (αι) zu e
(ε)
y (υ) teilweise auch als i (ι)
γ einerseits als y (im Anlaut vor einem palatalen Vokal, wenn es als j ausgesprochen wird), andererseits als g (vor velarem Vokal)
χ (ch) teilweise als c (vor velarem Vokal), ansonsten als k
eu (ευ) und au (αυ): Es ist unklar, ob dies bereits als ef und af wie im Neugriechischen ausgesprochen wurde oder nicht (siehe dazu auch weiter unten)³⁹
Krasis (Wortzusammenziehung): Fehlende Trennung zwischen Präposition/
Konjunktion und Nomen bzw. Artikel, sowie zwischen Artikel und Nomen
Grammatikalische Fehler (z. B. was die verschiedenen Fälle und ihre Endungen betrifft)
Falsche Doppelkonsonanten
Auslassungen einzelner Buchstaben (z. B. aios statt agios) u. a.⁴⁰
Absichtliche Hinzufügungen/Veränderungen⁴¹: So wird etwa versucht, den
transliterierten griechischen an den lateinischen Text anzupassen (z. B. kyrios
o theos für dominus deus – siehe weiter unten).
38 Zu dieser Erkenntnis gelangte auch B. Bischoff, Das griechische Element in der abendländischen Bildung des Mittelalters. BZ 55 (1951) 44, der schreibt: „Das sprachliche Material,
über das man im Abendland verfügte, bot in der Regel das Formenbild der Literatur oder der
Hochsprache, auch wenn seine Aufzeichnung itazistisch gefärbt war.“
39 Opelt (wie oben Fußnote 21) 87.
40 Opelt (wie oben Fußnote 21) 85; Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 118 f., 126 f.;
ders., The Doxa (wie oben Fußnote 6) 83 f. (siehe bei Atkinson v. a. die Aufzählung ein und der
selben Textstelle und deren unterschiedliche Wiedergabe in verschiedenen Handschriften).
41 Atkinson, The Doxa (wie oben Fußnote 6) 106 vermutet jene St. Gallener Mönche „who were
fond of Greek, but who had probably not had formal training in the language“, die Notker in
seinem Brief als ellinici fratres bezeichnet, als Urheber der „gezielten“ Abänderungen an jenen
Stellen, wo der griechische an den lateinischen Text angeglichen wird. Siehe dazu weiters
Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 118, ab 128 und Fußnote 33 sowie Opelt (wie oben
Fußnote 21) 85.
Selden Su- Paris BN
pra
lat.
München München München
Clm
Clm
Clm
Ἅγιος, ἅγιος,
ἅγιος
Sanctus,
sanctus,
sanctus
Agyos
agyos
agyos
Agios
agios
agios
Ayos
ayos
Agios
agios
agios
Agios
agios
agios
Agios
agios
agios
ΑΓΙΩΣ
ΑΓΙΩΣ
ΑΓΙΩΣ
κύριος
σαβαώθ
dominus
deus
sabaoth
pleni sunt
coeli
et terra
gloria tua
kyrios
sabaoth
kyrios
sabaoth
Agyo,
*,
s agyos
agyos
kyrios
kyrios
kyrios
sabaoth sabaoth sabaoth
Kirios
sabaoth
pliris
ouranos
ke igitis
doxis
plirus
uranos
keyetis
doxis
pliris
uranos
Kepis
doxis
kyrios
sabaoht
[sic]
pliris
uranos
ke epiis
doxis
osanna
emptis
ipsistis
Eulogimenos
oercomenos
kena
nomatis
kiriu
osanna
emptis
ipsistis
osanna
entys
ypsistys
Eulogimenos
oercomenos
Enonamati
kyriu
osanna
entys
ypsistis
pliris
urannos
ke epigis
doxis
osanna
enpti
ipsistis
Eloymenos
o erchomenos
Enonomati
kyrios
osanna
enpti
ipsistis
kirios
otheos
sabaoth
pliris
urannos
keepigi
ΚΙΡΡΙΟΣ
ΣΑΒΑΩΘ
pliris
uranus
keie tis
doxis
kyryos
o theos
sabaoth
pliris
ouranos
ke igitis
doxis su
osanna
entis
ypsistis
Euloymenos o
ercomenos
Enonomati
kyriu
osanna
entis
ypsistis
osanna
emptis
ipsistis
eloymenos
o erchomenos
osanna
entis
ypsystis
eulogimenos
o erchomenos
en onomati Kirios
osanna
emptis ipsistis
Enonomati kiriu
πλήρης ὁ
οὐρανὸς
καὶ ἡ γῆ τῆς
δόξης σου
Ὡσαννὰ ἐν
Hosanna
τοῖς ὑψίστοις in excelsis
εὐλογημένος Beneὁ ἐρχόμενος dictus qui
venit
ἐν ὀνόματι
Κυρίου
in nomine
Domini
Ὡσσανὰ ὁ ἐν Hosanna
τοῖς ὑψίστοις in excelsis
Agios
agios
agios
Agios a
gios
agios
pliris
urannos
ke epigis
doxis
osanna
enpti
ipsistis
Eloymenos
o erchomenos
Enonomati
kyrios
osanna
enpti
ipsistis
osanna
entys ipsystys
s doxis
osanna
emptis
ipsistis
Eloymenos o
erchomenos
Enonomati
kirios
osanna
emptis
ipsistis
osanna
empti
ipsistis
Eloymenos o
erchomenos
Enonomati
kyrio
osanna
empti
ipsistis
ΠΛΙΡΙΣ
ΥΡΑΝΩΣ
ΚΤΕΠΙΓΙΣ
ΩΣΑΝΝΑ
ΕΜΠΘΙΣ
ΥΠΣΙΣΘΙΣ
ΕΛΩΙΜΕΝΩΣ
ΩΕΡCΩΜΕΝΩ
ΕΝΩΝΩ ΜΑΘΙ
ΚΥΡΙΩΣ
ΩΣΑΝΝΑ
ΕΜΠΘΙΣ
ΥΠΣΙΣΘΙΣ
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Lateinischer Cod.
Paris BN St. Gal- St. Gal- Düsseldorf
Text
Vind. lat. len len D
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
Griechischer
Text
182
Byzantinische Zeitschrift Bd. 106/1, 2013: I. Abteilung
Wie sieht dies nun im Wiener Codex bzw. in den Vergleichshandschriften aus
(siehe dazu auch die Tabelle auf S. *)?
· Spiritus asper: Es finden sich in keinem der Codices aspirierte Anlaute, also
beispielsweise hagios, ho für den Artikel, hosanna etc., was bereits der neugriechischen Aussprache entspricht.
· γ: Cod. 1888 und Düsseldorf D2 schreiben Agyos mit gy, während die anderen
Handschriften durchwegs ein i, d. h. Agios,verwenden. Hier ist fraglich, ob das
Wort dann tatsächlich wie im Neugriechischen, also mit j ausgesprochen
wurde, oder aber mit g-i, also Ag-ios. Der neugriechischen Aussprache am
ähnlichsten kommt in seiner Schreibweise Selden Supra 27, der Ayos mit y und
ohne g angibt (siehe dazu auch weiter unten εὐλογημένος).
· υ: Zusammen mit der Wiener Handschrift verwenden die meisten anderen
Codices dafür ein y, also den entsprechend transliterierten Buchstaben. Der
neugriechischen Aussprache näher sind hingegen Selden Supra 27 und
München Clm 14083, die dafür ein i schreiben. Paris BN lat. 1871 notiert sogar
das zweite ι in κύριος mit y, was sonst nirgendwo zu finden ist.
· Ergänzungen: Paris BN lat. 1871 und München Clm 14083 fügen zwischen
kyrios und sabaoth noch ein o theos ein, um sich offensichtlich mehr dem
lateinischen Text anzunähern, der ja dominus deus sabaoth lautet.⁴²
· η: Das η wird bei πλήρης bis auf Düsseldorf D2 in allen Handschriften mit i
wiedergegeben; desgleichen auch das η des Artikels τῆς sowie von δόξης.
· οὐ: Bei οὐρανὸς wird das οὐ in den Pariser Handschriften korrekt mit ou
transliteriert – möglicherweise hatte der Schreiber doch (rudimentäre?)
Griechischkenntnisse. Die anderen Codices geben οὐ dann durchwegs mit
dem gehörten u wieder. Die Betonung auf der Endsilbe -ὸς und der vorangehende kurze Vokal -α- dürfte einige der Schreiber darüber hinaus dazu
verleitet haben, ein Doppel-n in ou/urannos einzufügen. Außerdem ändert der
Schreiber in Cod. Vind. 1888 die ihm wohl weniger geläufige Endsilbe -ὸς
kurzerhand in die lateinisch klingende -us (also zu uranus) um.
· καὶ ἡ γῆ: Offensichtlich massive Schwierigkeiten gab es jedoch bei der Niederschrift von καὶ ἡ γῆ und dem darauffolgenden τῆς, was keiner der
Schreiber als drei bzw. vier einzelne Worte identifizieren konnte. Zumeist
bringen die Handschriften zwei Wörter dafür oder überhaupt nur eines: zwei
Wörter vermutlich deshalb, weil ja auch im Lateinischen nur zwei (et terra – da
42 Vgl. Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 132: „Aquitanische Manuskripte und einige
ostfränkische Quellen des 11. Jahrhunderts fügen dem Ausdruck Kyrios sabaoth die Apposition o
theos (ὁ θεός) hinzu, bringen so diesen Textteil in Übereinstimmung mit dem lateinischen
Sanctus […] und bieten demnach eine gegenüber den Quellen des 9. und den ostfränkischen
Handschriften des 10. Jahrhunderts geringfügig veränderte Fassung.“
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
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kein Artikel gebraucht wird) stehen. Καὶ wird in allen Codices hier durchgehend als ke wiedergegeben. Cod.Vind. 1888 sowie Düsseldorf D2 kommen mit
keie bzw. keye […] der tatsächlichen Aussprache relativ nahe, allerdings wird
bei beiden hier für η ein e – und nicht wie sonst üblich i – geschrieben (die
anderen Codices verwenden ein i dafür). Das γ von γῆ wird zumeist als g
transliteriert, in Düsseldorf D2 als y, in Clm 14322 als i.
Krasis: Darüber hinaus ziehen Paris BN 2290 und 1871 und Düsseldorf D2 noch
das τῆς von δόξης dazu. Interessant ist hier besonders die Version, wie sie in
den beiden St. Galler und den drei Münchener Handschriften sowie in Selden
Supra 27 aufscheint: Hier wird nämlich ἡ γῆ τῆς durch das καὶ ἐπὶ γῆς aus der
zweiten Zeile des Doxa/Gloria καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ersetzt, was allerdings keinen
Sinn mehr ergibt (denn statt „erfüllt sind Himmel und Erde von deiner
Herrlichkeit“ heißt es nun „erfüllt sind Himmel und auf der Erde von deiner
Herrlichkeit“).⁴³
Ergänzungen: Paris BN lat. 1871 übersetzt als einzige der Handschriften hier
außerdem auch das σου von τῆς δόξης σου analog zum Lateinischen gloria
tua. Dies stimmt mit Atkinsons Ergebnissen überein, der dazu folgendes anmerkt⁴⁴: „Während die ältesten Quellen wie auch die ostfränkischen aus dem
10. Jahrhundert eine den byzantinischen Akoluthiai ähnliche Textfassung
überliefern, lassen die westlichen Quellen das σοῦ von τῆς δόξης σοῦ und den
Artikel ὁ im Hosianna aus, um diese Abschnitte enger an ihre biblischen
Vorlagen in Jesaja 6, 3 und Matthäus 21, 9 anzunähern.“
γ: Bei dem Wort εὐλογημένος finden wir wiederum die schon bei ἅγιος angetroffenen Varianten für die Wiedergabe der Silbe -γη: Die beiden Pariser
Codices sowie die Wiener Handschrift geben diese mit -gi wieder; die anderen
Handschriften verwenden dafür hingegen ein y.
43 Vgl. dazu Atkinson, The Doxa (wie oben Fußnote 6) 104 f., der dies ebenfalls anführt: „There
is yet another purposive alteration among the chants of the Missa graeca that is specific to
manuscripts in the St. Gall orbit and that provides us another bit of information about the level
of Greek learning in the medieval Latin West. I am speaking here about the substitution of ke
epigis doxis for the phrase ke igitis doxis in the Agios or Sanctus (Figure 9). The words ke epi gis
– ‘and on earth’ – make perfectly good sense in the second line of the Doxa: καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη
(‘and on earth peace, good will to men’). Substituted for ke igitis doxis (καὶ ἡ γῆ τῆς ἐδόξης) in
the Agios, however, they make little sense. Both the Latin Sanctus and the Agios of the Byzantine Akoluthiai have ‘heaven and earth’ in nominative: Latin: Pleni sunt caeli et terra. Greek:
πλήρης ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ. The Greek text then places ‘your glory’ in the genitive, τῆς δόξης
σου, giving the reading ‘Full are heaven and earth of your glory.’ With the substitution of ke
epigis (‘and on earth’), as it appears in the ‘St. Gall’ version of the Agios, the text reads, ‘Full is
heaven, and on earth, of glory’ – hardly an improvement on the original!“
44 Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 131 f.
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eu: Interessant ist hier, dass die St. Gallener und die Münchener Handschriften sowie Selden Supra 27 offensichtlich näher an der aus dem Neugriechischen bekannten Aussprache des eu als ef sind, indem sie die
Schreibweise eloymenos aufweisen. Es ist gut vorstellbar, dass das (e)f von
εὐλογημένος beim Singen nicht wahrgenommen wurde.⁴⁵
Krasis: Die beiden folgenden Worte ὁ ἐρχόμενος werden in einigen Handschriften wiederum zu einem einzigen Wort zusammengezogen.
χ: Weiters wird hier das χ von ἐρχόμενος entweder korrekt als ch wiedergegeben, oder jedoch als c (was Opelts Beobachtungen entspricht, dass χ als c
vor velaren Vokalen erscheint; siehe oben).
Krasis: Bei ἐν ὀνόματι kann man wieder die schon öfter beobachtete Krasis zu
einem einzigen Wort erkennen.
α / o: Darüber hinaus dürfte es bei der Verständlichkeit der Vokale a und o zu
Schwierigkeiten und daher zu Verwechslungen gekommen sein, wie an den
Varianten enonamati (BN lat. 2290) oder kenanomatis (Cod. Vind. 1888) zu
sehen ist. Woher das anlautende k in der Wiener Handschrift stammt, bleibt
allerdings fraglich.
Die oben aufgezählten orthographischen Fehler, Abänderungen und Abweichungen legen den Schluss nahe, dass kaum Griechen selbst als Schreiber in Frage
kommen, ja dass die Schreiber mehrheitlich sogar des Griechischen unkundig
gewesen sein dürften⁴⁶ (durch Abschreiben dürften diese Fehler dann auch oftmals von Codex zu Codex weitergegeben worden sein).
Weiters ist bei diesen Überlegungen allerdings nicht außer Acht zu lassen,
dass die Texte vermutlich nach mündlicher Wiedergabe aufgezeichnet wurden⁴⁷
und dabei wohl kaum vorgesprochen, sondern vorgesungen wurden – was die
Verständlichkeit nochmals bedeutend erschwert haben muss. Allerdings konnte
an den oben aufgezählten Punkten beobachtet werden, dass – wie erwähnt – die
Aussprache bereits zu einem bedeutenden Teil jener des Neugriechischen gleicht.
Hätten nun westliche, des klassischen Griechisch kundige Mönche die Texte
vorgesungen, ist anzunehmen, dass diese wohl eine andere Aussprache als
muttersprachliche Griechen gehabt hätten. Dies könnte die Hypothese untermauern, dass die Gesänge der Missa graeca zwar von westlichen Schreibern
45 Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass im Lateinischen der Buchstabe „u“ auch für „v“
verwendet wurde, also „eu“ auch als „ev“ zu verstehen gewesen sein könnte (mein Dank für
diesen Hinweis gilt Stefan Engels).
46 Opelt (wie oben Fußnote 21) 85.
47 Siehe Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 126 f. und Opelt (wie oben Fußnote 21) 87.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
185
aufgezeichnet wurden, allerdings in Anwesenheit von Griechen, die diese vortrugen.⁴⁸
Melodievergleich der byzantinischen Quellen
Wie bereits oben erwähnt, bringt der Vergleich lateinischer und griechischer
Handschriften einige Probleme mit sich, vor allem aufgrund des Zeitunterschieds
von fast 400 Jahren sowie aufgrund der unterschiedlichen Neumenschriften.
Trotzdem soll hier eine Gegenüberstellung des ältesten Exemplars einer erhaltenen Akoluthie, EBE 2458 (1336) und des nur unwesentlich jüngeren Codex EBE
2454 aus der Athener Handschriftensammlung mit den oben angeführten lateinischen Handschriften, allen voran dem Wiener Codex 1888, versucht werden.
Die Versionen des Hagios für die Basileios-Liturgie in EBE 2458 und EBE 2454,
beide im Echos Deuteros auf g, weisen denselben Melodieverlauf auf. Es ist also
davon auszugehen, dass – wie Levy⁴⁹ in seiner Studie des Sanctus angibt – zwischen dem 10. und 16. Jh. ein elementarer Gesang für das byzantinische Sanctus
verwendet wurde.
Dass es sich bei der Melodie in EBE 2458 und EBE 2454 um die ursprüngliche
Version handeln dürfte, wird auch bei einem Vergleich mit der Fassung von Ioannes Glykys deutlich: Obwohl die dafür herangezogenen Wiener SupplementumHandschriften (Suppl. gr. 100, 130 und 190) aus dem 17./18. Jh. stammen, zeigt sich
bei der Gegenüberstellung mit den ausgewählten Athener Codices, wie stabil das
Repertoire über die Jahrhunderte blieb.
48 Siehe dazu wiederum Opelt (wie oben Fußnote 21) 87, die ebenfalls zu diesem Schluss
kommt: „Man ist sich bereits relativ einig, dass die Texte nur nach Gehör, also nach Diktat
aufgeschrieben worden sein können, so lassen sich die Fehler erklären […] Daraus wäre der
Schluss zu ziehen, dass nicht westliche, griechisch-kundige Mönche die Texte verlesen/vorgesungen haben könnten, da diese wohl eine andere Aussprache als Griechen aus Byzanz gehabt
hätten.“ Vgl. ebf. Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 127, der diese Hypothese folgendermaßen untermauert: „Daher sei die Behauptung aufgestellt, dass sich der Text eines
griechischsprachigen Gesanges, der im Westen notiert wurde und Krasis zeigt, aber keine
grammatikalischen Fehler enthält, nicht als ‘schlechtes Griechisch’ abtun lässt. Denn in solchem Fall besteht die Möglichkeit, dass der Text von einem Griechen gesungen, doch von einem
Franken aufgezeichnet wurde.“ Weiters gibt Atkinson, Entstehung 127 zu bedenken, dass „man
im ältesten Manuskript [i.e. Paris 2290] mit vollständiger Aufzeichnung der Missa graeca etliche
Fälle von Krasis, doch fast keine Beispiele für fehlerhaftes Griechisch [findet…] Derjenige, der
die Gesänge der Missa graeca für Paris 2290 ‘diktierte’, beherrschte offenkundig das Griechische
gut; derjenige, der sie transkribierend aufzeichnete, war jedoch mit dieser Sprache ungenügend
vertraut“ (siehe auch ders., The Doxa, wie oben Fußnote 6, 93 f.).
49 Levy (wie oben Fußnote 16) 17.
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Byzantinische Zeitschrift Bd. 106/1, 2013: I. Abteilung
In der ursprünglichen Sanctus-Version wird das dreimalige Hagios zu Beginn
dreimal mit der selben Melodie gebracht. Diese Melodie übernimmt Glykys beim
ersten und zweiten Mal mit geringen Abweichungen (so verwendet er genauso wie
das Vorbild die Formel mit dem Kratemohyporrhoon) und hängt lediglich ein
längeres Melisma an das Ende des jeweiligen Hagios an. Bei der dritten Wiederholung übernimmt er das Hagios vom Original mit kleinen Abänderungen,
schmückt es jedoch nicht mit einem Melisma am Schluss aus.
Bei den darauffolgenden Abschnitten bis einschließlich εὐλογημένος weicht
Glykys’ Melodie stärker von der ursprünglichen Version ab, kommt jedoch an
einzelnen Punkten immer wieder zu ihr zurück. Zusätzliche Melismata fügt Glykys
allerdings nirgends ein. Ab ὁ ἐρχόμενος schließlich übernimmt Glykys das Original zur Gänze mit lediglich zwei geringfügigen Abweichungen bei (το)ῖς
ὑψίσ(τοις), wie er auch am Ende des Gesangs eine andere Schlussformel einfügt.
Auch wenn die Stabilität byzantinischer Gesänge hinlänglich bekannt ist, überrascht es doch immer wieder, wie nahe die Meloden am Original blieben und wie
lange die Melodien in späteren Handschriften bis herauf ins 18. Jh. ohne wesentliche Veränderungen weitergegeben wurden.
Melodievergleich der lateinischen Quellen
Zu Beginn sei angemerkt, dass jeweils die beiden St. Gallener Handschriften
miteinander konform gehen und die drei Münchener Codices ebenfalls untereinander weitestgehend die selbe Melodielinie enthalten.
Im Vergleich mit den übrigen Handschriften ist zu erkennen, dass die lateinischen Codices zwei verschiedene Melodietraditionen bringen: So scheint einerseits eine einfachere, nicht melismatisch verzierte Melodielinie in den Codices
Cod. Vind. 1888, Düsseldorf D2 und Paris BN lat. 1871 auf. Allerdings kann man
nicht von ein und derselben Melodie in diesen drei Handschriften sprechen, da sie
– soweit dies ohne exakte Tonhöhen zu rekonstruieren ist – immer wieder von
einander abweichen. Dabei scheinen Düsseldorf D2 und Cod. Vind. 1888 noch
einander näherzustehen, als die Pariser Handschrift.
Die St. Gallener sowie die Münchener Handschriften und Selden Supra 27
hingegen bringen eine verzierte Melodieversion des Hagios, bei der alle drei
weitgehend übereinstimmen. Trotz dieser Verzierungen lässt sich eine gewisse
Verwandtschaft zwischen den beiden Melodieversionen erkennen. Zu einem
ähnlichen Schluss gelangt auch Atkinson, der schreibt, dass das Sanctus in ostund westfränkischen Handschriften „noch eine gemeinsame Melodie“ besitzt.⁵⁰
50 Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 138.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
187
Dazu führt er weiters an⁵¹, dass es (wie auch Levy aufzeigt⁵²) „zwei verschiedene
ostfränkische Melodiegestalten [gibt], von denen die eine aber nur eine ausgeschmückte Version der anderen zu sein scheint.“
Die reicher verzierte Melodielinie bringt zumeist ein längeres Melisma auf den
Schlusssilben der einzelnen Wörter (siehe jeweils am Ende von agios, agios, agios,
kyrios, sabaoth, uranos, doxis, erchomenos, ipsistis, am Beginn eines Wortes aber
nur bei agios und osanna). Das Melisma am Wortbeginn von agios findet sich aber
auch bei jenen Handschriften, die ansonsten die weniger verzierte Version bevorzugen. Allerdings weisen diese Codices kleine Verzierungen an Stellen auf, die
wiederum bei den anderen Handschriften unverziert bleiben, so z. B. bei kai e ge
tis. Auf der letzten Silbe von erchomenos scheint bei beiden Melodieversionen ein
Melisma auf.
Melodievergleich byzantinische und lateinische Quellen
Ein Vergleich der Hagios-Melodie der Athener Handschriften EBE 2458 und 2454
mit dem Sanctus, wie es in den oben beschriebenen lateinischen Handschriften
vorkommt, wird also nochmals durch die verschiedenen Fassungen in den einzelnen Codices erschwert. Darüber hinaus handelt es sich bei den lateinischen
Neumenschriften hier um adiastematische (außer den aquitanischen Punktneumen in Paris BN lat. 1871, die bereits eine relative Diastemie angeben⁵³), so dass die
Tonhöhen im Gegensatz zu den bereits diastematischen byzantinischen Neumen
des 14. Jh.s nicht exakt wiedergegeben werden können.
Daher sollen für den direkten Vergleich Levys Transkriptionen herangezogen
werden. Levy stützte sich auf die Transkriptionen von Gustave Morelot und Michel
Huglo⁵⁴, die die aquitanischen Neumen der Handschrift Paris BN lat. 1121 dafür
heranzogen, die wiederum mit dem hier verwendeten Pariser Codex BN lat. 1871
weitgehend übereinstimmen.
Es sei vorangeschickt, dass Levy zu folgendem Ergebnis aufgrund eines
Vergleichs der griechischen und lateinischen Melodien kommt:⁵⁵ „If we […]
compare our Eastern and Western chants for the Sanctus, the basic identity of the
Western chant with Greek text of the tenth century and the Byzantine chant of the
fourteenth may seem reasonably certain“. Levy geht also davon aus, dass es eine
51
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55
Atkinson, Entstehung (wie oben Fußnote 6) 138 f., Fußnote 52.
Levy (wie oben Fußnote 16) 8.
Siehe dazu M. Haas, Musikalisches Denken im Mittelalter: Eine Einführung. Bern 2005, 374 f.
Levy (wie oben Fußnote 16) 9.
Levy (wie oben Fußnote 16) 15.
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Byzantinische Zeitschrift Bd. 106/1, 2013: I. Abteilung
gewisse elementare Übereinstimmung zwischen dem byzantinischen und dem
Sanctus der Missa graeca gibt. Davon ausgehend nimmt Levy nun an, dass es sich
bei der Hagios-Version, wie sie sich in EBE 2458 und EBE 2454 findet (die – wie
oben gezeigt – Glykys als Vorbild diente) und die für den Chor bestimmt war,
bereits um eine weiterentwickelte und melismatisch erweiterte Fassung handelt⁵⁶,
die jedoch aufgrund des Fehlens früherer Akoluthien nicht erhalten blieb, bzw.
dass es daneben noch eine einfachere (nicht melismatische) Version für das Volk
gab. Daraus zieht Levy den Schluss, dass die westlichen Melodien für das Hagios
der Missa graeca auf diese einfachere byzantinische Version zurückgehen und
Gemeinsamkeiten damit aufweisen.⁵⁷
Stellt man Levys Transkription aus der Pariser Handschrift 1121 nun dem
Hagios aus EBE 2458 und 2454 gegenüber, fallen folgende Punkte ins Auge: Die
Melodie beim anfänglichen Hagios stimmt tatsächlich fast überein, zumindest
was den Wortanfang agios betrifft. Hier steigen zuerst beide Melodieversionen in
Sekundschritten von g nach c hinauf und anschließend über c–h–a wieder ab. Die
Version in der westlichen Handschrift lässt auf der letzten Silbe agios nur noch die
Noten h–a–a folgen, während die byzantinische Melodie ein längeres Melisma
hier ausformt. Dies würde mit Levys Hypothese übereinstimmen, dass es sich bei
der Fassung des Missa graeca-Sanctus um eine vereinfachte Form der byzantinischen Melodie handelt. Allerdings wird beim byzantinischen Sanctus das hagios dreimal zur selben Melodie wiederholt, während in der lateinischen Fassung
das dritte agios leicht verändert gesungen wird.
Im weiteren Verlauf entfernen sich die beiden Melodiefassungen jedoch immer mehr voneinander, wie die folgende Melodiekurve veranschaulichen soll:
Anhand der Kurve (und des Vergleichs der Codices miteinander) wird ersichtlich,
dass die beiden Melodien bis auf den Beginn und einige kleine Stellen (mit
strichlierter Linie dargestellt) nicht übereinstimmen. Die lateinische Melodieversion scheint auch keine verkürzte Fassung der byzantinischen zu sein, da sich die
beiden Melodien kaum an einzelnen Punkten wieder treffen bzw. annähern, wie
dies der Fall ist, wenn ein Melodie die Kurzfassung einer anderen darstellt. Dies ist
umso auffälliger, als die lateinische Version häufig sogar in die Gegenrichtung im
Vergleich zur byzantinischen strebt.
56 Levy (wie oben Fußnote 16) 12– 14.
57 Levy (wie oben Fußnote 16) 15.
N.-M. Wanek, Die sogenannte Missa graeca
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Melodiekurve. Gestrichelte Linie = EBE 2458 und EBE 2554; durchgehende Linie = Paris 1121 und
Paris 1871
Conclusio
Mit Hilfe des Sanctus alleine kann naturgemäß nicht schlüssig belegt werden, ob
nun die Melodien der Gesänge der Missa graeca tatsächlich von byzantinischen
Vorbildern abgeleitet wurden oder nicht. Die Melodielinie des Sanctus, wie sie aus
dem 14. Jh. erhalten ist, unterscheidet sich jedoch wesentlich von jener, die Pariser
Handschriften aus dem 11. Jh. aufweisen. Die Stabilität byzantinischer Melodien
über die Jahrhunderte ist bekannt. Es ist daher kaum davon auszugehen, dass sich
das byzantinische Hagios des 14. Jh.s so weit von der (nicht erhaltenen) Fassung
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des 11. Jh.s entfernt hat. Man kann also annehmen, dass das Hagios des 11. Jh.s
wohl syllabischer und weniger verziert war, als drei Jahrhunderte später. Von
vielen Vergleichen byzantinischer Melodien aus verschiedenen Jahrhunderten
wissen wir aber, dass doch stets die „Eckpunkte“ einer Melodie auch in späteren,
ausgeschmückten Versionen erhalten blieben (siehe z. B. auch die oben erwähnte
Fassung des Hagios von Ioannes Glykys, die der anonymen Melodie ebenfalls
äußerst ähnlich ist).
Anhand der Textanalysen konnte allerdings gezeigt werden, dass sich doch
Griechen im Westen befunden und den Text sogar vorgesungen haben dürften. Es
ist jedoch bei aller Vorsicht nur schwer vorstellbar, dass ein westlicher Mönch, mit
westlichen Neumen die doch wesentlich anders klingenden und andere Tonabstände verwendenden byzantinischen Melodien aufzuzeichnen im Stande war.
Wie kann man sich dann dieses „Vorsingen“ vorstellen? Oder handelte es sich
lediglich um ein Vortragen bzw. um ein Vorsprechen? Wie zu sehen ist, müssen
viele Fragen um die Missa graeca nach wie vor offen bleiben. Dass es sich bei
diesen Gesängen um eine Schnittstelle zwischen Ost und West gehandelt haben
dürfte, scheint positiv zu beantworten sein. Es dürfte ein Austausch stattgefunden
haben – in welcher Form jedoch und in welchem Ausmaß, muss (noch) offen
bleiben, will man nicht zu sehr in Hypothesen abgleiten.