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Digitale Revolution

Published in ÖGL 58, 2014/3, "Innovationen"

312 Digitale Jose/Köstibauer In einem ausfiihrlichen Debattenheitrag in der Frankfärtei Allgemeinen Zeitung im März 2014 sprach sich die europäische Kommissarin für Digitale Agenda, die Niederländerin Neelie Kroess, flur eine Politik „der digitalen Revolution“ aus.‘ I)ie Kommissarin ist dabei nur eine von vielen Stimmen, die allenthalben versichern 2 oder bestätigen, dass wir uns mitten in einer digitalen Revolution befinden. Eine digitale Revolution‘? Als Revolutionen bezeichnete man einst erschreckende Schauspiele der gewaltsamen, umstürzenden Neuorientierung gesellschaftlicher und politischer Systeme. Eine Revolution fand statt, als man in Frankreich den König absetzte. köpfte und eine radikale politische Version einer republikanischen Ordnung verwirklichte. Eine Revolution fand statt, als 1917 in Russland die Bolschewiki die Macht übernahmen und die Diktatur des Proletariats ausriefen. Die dem lateinischen Wortstamm innewohnende Bedeutung des Zurück- oder Wiederkehrens ist in den heutigen Bedeutungen kaum mehr erkennbar. Heute ist Revolution ein Schlagwort geworden, mit dem überaus unbestimmt umfassende Veränderungen mit weitreichenden Folgen bezeichnet werden. Revolutionen oder re volutionärer Wandel finden heute überall statt, in der Nahrungsmittel- und Kosmetik industrie genauso wie in autoritär regierten arabischen Staaten. Die Verwendung des Begriffs scheint dabei eher einem Bedürfiuis nach Superlativen geschuldet, Termini wie „Neuerung“ oder „Veränderung“ scheinen dem Vokabular von Marketingahtei lungen und Nachrichtenredaktionen zu leise, zu unaufgeregt zu sein. Mittlerweile 3 und im hat sogar die Steinzeit eine Revolution (die sog. Neolithische Revolution) 2 1. Jahrhundert findet eben eine digitale Revolution statt. Natürlich ist es unmöglich, öffentliche Diskurse und ihre Terminologien ins Korsett wohldefinierter wissenschaftlicher Begrifflichkeit zu zwängen. Vielmehr muss die Wissenschaft darauf achten, hier nicht allzu unhedacht Schlagwörter zu übernehmen, die gerade im Schwange sind. Besonders den Geisteswissenschaften als schreibende Wissenschaften sollte die fluide, manchmal trügerische Natur des Wortes selbstverständlich sein immerhin ist es ihre die Aufgabe, Diskurse zu analysieren und in Beziehungen zu Motiven und gesellschaftlichen oder kulturellen Formationen zu setzen. Revolution ist letztlich nur ein Wort und Semantiken sind nicht stabil. Die Bedeu tung des Wortes Revolution hängt von den Sprechenden ah. Die digitale Revolution kann daher aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive mit zwei Fragen — Dr. Josef Köstlbauer, Historiker am institut für Geschichte der Universität Wien, forscht und lehrt zu atlantischer Geschichte in der Früheim Neuzeit, barockcrAllegorik und Digital Flumanities. Neelie Kroess: Die EU und die digitale Revolution. In: FAZ 24.3.2014. Online: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debattenldie-digital-dehatte/politik-in-der-digitalen-welt/ dieeu-und-die-digitale-revolution-ich-hiii-nicht-naiv-und-europa-darf-es-auch-nicht sein-12860365.htrnl (237.2014). Was wäre angemessener als die Suclimaschinc (3oogle dazu zu befragen? Die Eingabe der Begriffe „digital revolution“ bzw. „digitale RevolLitioll“ liefert acht- bzw. sieben stellige Ergehniszahlen. Dieser Begriff bezeichnet die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht in der frühen J ungsteinzeit. 3 13 konfrontiert werden. Erstens: Ist dieser Begriff angebracht? Zweitens: Was bedeu tet es also, dass wir uns, wie vielfach versichert und wiederholt, in einer digitalen Revolution befinden? Diese beiden Fragen leiten die folgenden Ausführungen und sollen zumindest in Teilen beantwortet werden. Digitale Revolution 2 I?ei‘olution Historizität und Historisierung In diesem Artikel geht es nicht dannn, eine Geschichte des Digitalen zu erzählen. Stattdessen werde ich danach trachten, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dieses Bündel an Phänomenen historisiert werden könnte. Historisieren bedeutet stets auch zu problematisieren, und das heißt in diesem Fall, die Begriffe und Narrative zu problematisieren. die dabei den Diskurs dominieren. Wie könnte eine historische Annäherung aussehen? Zwei gegenläufige Narra tive bieten sich an. Das erste stellt den Bruch, den tiefgreifenden Wandel in den Vordergrund. Das wäre die Geschichte der digitalen Revolution und bedeutete ein Aufsetzen auf populären Interpretamenten des alles verändernden Einflusses der I)igitalität. Das andere Narrativ beschriebe die langfristigen historischen Prozesse, die historischen Linien, die sich vom Analogen in das Digitale hineinziehen. Dies wäre eine Geschichte der evolutiven Innovationen und Transformationen, der stän digen technischen Entwicklungen und medialen I.Jberformungen. Beide Narrative haben ihre Fallen. Im ersten Fall besteht die Gefahr, Kontinuitäten und letztlich die Flistorizität des [)igitalen zu übersehen. [m zweiten Fall kann eine sehr teleologische Erzählung entstehen, in der jede Entwicklung zwangsläufig erscheint und alles auf das Digitale hinausläuft. Eine solche Rückprojektion des Gegenwärtigen ins Ver gangene verlangt zumindest große methodische Sensibilität. Beide Narrative könnten Geschichte im Sinne einer Technikgeschichte erzählen. Man kann eine (Männer-)Geschichte des Computers erzählen, die VOti Mathematikern und Technikern wie Claude Shannon, Alan Turing, John von Neumann, Konrad Zuse oder Heinz Zemanek handelt. Oder man rekonstruiert die Geschichte des Netzes rund um Vannevar Bushs Memex, Ted Nelsons Xanadu 4 5 und die Freischaltung der ersten Website im Jahr 1991 am CERN durch Tim Berners-Lee. Aber die Geschichte des Digitalen wie des CompLiters lässt sich auch bereits mit der 1813 entworfenen (und nie gebauten) „Analytical Engine“ des Astronomen Charles Babbage begin nen oder mit der Programmierung der ersten Software durch die Mathematikerin Ada Lovelace. Oder man könnte mit den Jacquardwebst-ühlen einsetzen, die durch Lochkarten gesteuert wurden, also programmierbare Apparate waren und daher bereits dem Prinzip des Digitalen, der fundamentalen Unterscheidung von 0 und 1, ‘ 5 unterstanden. 4fenier (Memory Extender) war der Entwurf einer aLifMikrofilmen basierenden Spei cher- und Arbeitsumgebung, den der Ingenieur Vannevar Bush 1945 in einem Artikel flur The Atlantic vorstellte. Aufgrund der Betonung assoziativer Verbindungen zwischen den Datenbeständen gilt Meniex als Vorwegnahme späterer Hypertextkonzepte. tännei‘ar Bush:As we may think. In: TheAtlantic, Juli 1945. Online: http://www.theatlantic.com/ magazine/archive/ 1 94 5/O7/as-we-may-think/303 881 / (23.7.2014). Pro/ect Xanadu wurde 1960 von Ted Nelson gegründet, es war der erste Versuch. ein computerbasiertes Hypertextsystem zu entwickeln. Eine öffentliche, aber unvollständige Version wurde als .‚working deliverahle“ 2014 (!) veröffemlicht. Webseite des Projekts: http://xanadu.com/ (23.7.2014). Pierre Li‘: Die Erfindung des Computers. In: ?rlichel Seen‘s (Kg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Frankfurt anm Main 1998, S. 905-944, hier S. 908-911; Dorothe S‘tein: Ada: A Life and Legacy. Cambridge. Mass. u. a. 1987. 11 .Jovej Kösrlbciuer 314 Wo ist also der Punkt, an dem das Digitale einsetzt? Vollends schwierig wird das Ansetzen eines Startpunktes bei einer Geschichte der Kulturtechniken, der Praxen und ihrer Veränderung, Erweiterung. Wie schreiben sich neue technische Medien in etablierte soziale und kulturelle Praxen ein, wie verändern sie Kulturtechniken? Diese Geschichte enthält immer den Schritt vom Analogen zum Digitalen. Ich \‘er weise auf Bernhard S iegert, der eine beziehungsreiche Geschichte der Aufschreibc praktiken der frühneuzeitlichen Wissenschaften geschrieben hat und aufzeigt, wie die Entwicklung von Diskursen und Zeichensystemen schließlich die „Passage des 7 Digitalen“ zur Folge hat oder ermöglicht. Digitalisierung Gemeinhin meint der Begriff der digitalen Revolution die Durchsetzung digitaler Medien in weiten Teilen unserer Gesellschaften und die dadurch hervorgerufenen Veränclerungen in den kulturellen Praxen. Voraussetzung dafür sind digitale Technik und der Apparat Computer. Was ist nun das Digitale? Letztlich bedeutet es die Chiffrierung der Welt. Die Welt wird in mathematisch beschreibbare Elemente zerlegt, die vom Computer verarbeitet werden können. Grundlage dafür ist der Binärcode, der seinerseits auf den diskreten Zuständen 0 und 1 basiert Strom fließt oder fließt nicht. Alle Objekte digitaler Medien existieren demnach nur als numerische Repräsentationen, sind digitaler Code. Das gilt selbst für Objekte, denen wir analog begegnen, etwa Text in einem gedruckten Buch. Bevor heute Text auf Seiten gebannt wird, existiert er bereits in mehrfacher Weise digital: im Computer des Autors, als per Email versandte Datei (inklusiver zahlreicher temporärer (,der permanenter Kopien auf den Servern, die die elektronische Botschaft auf dem Weg von Sender zu Empfänger berührt) und auch die Druckmaschine wird mit einer eigenen digitalen Vorlage gespeist. Es gibt in dieser Kette nichts Analoges mehr, alles ist digitaler Prozess. Mittlerweile ist oft genug auch das Endprodukt Buch, um bei unserem Beispiel zu bleiben, längst in die I)igitalität eingegaHgen und wird als E-Book verlegt. Das Gleiche gilt natürlich für Film, Musik. Fotografie etc. Die beschriebene Ubersetzung eines analogen Objekts in ein digitales Objekt wird mit dem Begriff 1)igitalisierung bezeichnet. Es stellt sich die Frage, ob alles codierhar ist und was die Codierung, die „Ma thematisierung der Welt“, mit sich bringt. Zum einen geht die digitale Codierung von Inhalten immer über eine reine Zuweisung einer spezifischen Kombination von Null und Eins hinaus. Sie bedeutet eine komplexere Transformation. eine „Zurichrung“ von Inhalten, die sie bearbeitbar macht für Programme. Programme sind Entscheidungskalküle. Sie bestehen aus Befehlsketten, die einem logischen wenn-dann-Schema folgen. Dem muss Rechnung getragen werden, jede Eingabe muss geschlossen sein, jede Entscheidungskette muss zu einem vorbestimmten Ende ablaufen können. Zum anderen bedeutet Digitalisierung den Einsatz von Computern in immer weiteren Bereichen des menschlichen Lebens. Sie haben fast einen Zustand der Allgegenwärtigkeit erreicht. Computer steuern Produktionsanlagen, Autornotoren und Telefone genauso wie Lagerhaltungen oder den Handel mit Wertpapieren. Sie sind zu ubiquitären Kornmunikationsmaschinen geworden. Das bedeutet jedoch, dass immer größere Bereiche von Wirklichkeit in irgendeiner Form in Code und Programmstrukturen abgebildet und damit zugleich auch von diesen geprägt verden. Bernhard Siegett: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissen schaften t 500-1 900. Berlin 2003. 1 1 Digitale Rei‘ohuion 315 „Was nicht Zahl ist, muss Zahl werden“, so der digitale Irnperativ. Die immer weitere Einbindung von Computem in die Organisation menschlichen Lebens bedeutet eine Unterwerfung unter die Art und Weise wie Computer operieren. Das ist vermutlich in vieler Hinsicht irrelevant. So ist es für uns meist unerheblich, dass beim Telefo nieren unsere Stimme digital codiert wird, um beim Gesprächspartner dann wieder decodiert zu werden. Aber wenn ausgefeilte digitale Systeme entwickelt werden, die den automatisierten Handel auf den Finanzmärkten abwickeln, dann hat das durchaus Auswirkungen auf das Wohl und Wehe sehr vieler Menschen. Das grundlegende Problem ist, dass sich Wirklicnkeit nicht in Entscheidungen vonja/nein oder 0/1 auflösen lässt. Wir haben es hier also mit einem philosophischen Problem zu tun. Die Entscheidung zwischen ja und nein impliziert ganz klar, dass auch über die Resultate Gewissheit besteht. Das hat nichts mit einer Wirklichkeit zu tun, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass vollständige Information und Absehbarkeit von Handlungsfolgen eben nicht gegeben sind. Dieter Mersch hat dieses Verhältnis präzise definiert ausgedrückt: „Die Digitalisierung von Wirklichkeit untersteht entsprechend der paradigmatisclien Setzung. Sie lässt sich in keinem Fall rechtfertigen, sie entspricht gleichsam einer praktikablen Willkür.“ 9 Digitale Medien Die digitale Revolution ist eine Medienrevolution. Der Computer per se, schon Mitte des 20. Jahrhunderts erfunden, hat die Welt nicht sofort tiefgreifend verändert. Es ist die digitale Infonnations- und Medientechnologie, der zugeschrieben wird, eine Revolution ausgelöst zu haben eine Revolution, die noch immer stattfindet. Lev Manovich hat in einem 2001 erschienen und viel beachteten Buch The Lan guage ofNew Media die folgenden fünf Prinzipien digitaler Medien festgelegt:‘° Numerische Repräsentation (siehe oben), Modularitlit, Automation, Variabilität und Transcodierung. Modularität bedeutet, dass digitale Objekte aus verschiedenen anderen Objekten zusammengesetzt werden, die dabei unabhängig von dem neuen, zusammengesetz ten Objekt weiterexistieren.“ So können etwa im Netz aufgefundene Bilder auf der eigenen Webseite. in einem Video oder in einer Präsentation verwendet und dafür angepasst oder verändert werden. Dass alles beeinflusst aber nicht den Zustand des ursprünglichen Objektes an seinem Auffindungsort. Es ist ein permanentes Spiel von Zusammensetzen, AlTangieren und Kollagieren. das hier stattfindet. Die Frage nach dem Original wird dabei zunehmend inelevant, das Kopieren wird zum eigentlichen Zweck, der Gegensatz Original-Kopie beginnt sich aufzulösen, wird gegenstandslos. Dieses Grundprinzip der neuen Medien führt auf rechtlicher und wirtschaftlicher Ebene zu zahlreichen Problemen, da Urheberrechte wie Venvertungsrechte für analoge Medi en entwickelt wurden und nach wie vor von der Kontrolle über ein Original ausgehen. Das World Wide Web selbst kann als komplett modulares Objekt bezeichnet wer den. Manifest wird diese Modularität beispielsweise in Webbrowsern. Google etwa stellt auf seinen Ergebnisseiten kurze Textfragmente aus Webseiten oder Büchern dar, seine Bildersuche konstruiert eine Fototapete aus aufgefundenen Bildern. All das ist gleichzeitig Text, Bild und Verweis auf andere (zusammengesetzte) digitale Objekte. — Dieter Mervch: Digitalität und Nicht—Diskursives Denken. In: Dieter Mersch/Jcinos Kiistci/Ni/,-z (Hg.): Computer, Kultur, Geschichte. Beiträge zur Philosophie des Infbr rnationszejtalters. Wien 1991, S. 110. Ebenda: S. 111. Leu‘Mano-,ieh: The Language of New Media. Cambridge, Mass. 2001. Ebenda: S. 51 f. r 1• 316 .Josef Köst1hauL‘ Digitale Revolution Die Prinzipien der numerischen Repräsentation und die modulare Strukturierung sind die Voraussetzung flirAutomatisation. Manovich, selbst als Computergratiker und Programmierer tätig, verweist auf Bildbearheitungsprogramme, die digitale Bilder automatisch korrigieren, oder Software, die automatisch 3D-Modelle von 2 Auf Landschaften und Lebewesen konstruiert oder animierte Figuren schafft.‘ technisch weitaus höhereni Niveau gibt es heute bereits lernfähige Programme. die selbstständig miteinander kommunizieren. Automationsprozesse stecken freilich auch hinter den lndexierungsprozessen der Suchmaschinen und der Generierung von individualisierten Suchergebnissen und Produktvorschlägen, denen man im Weh ständig ausgesetzt ist. Auf den Prinzipien der binären Codierung, Modularität und Automation beruht das 3 Digitale Objekte existieren in einei Vielzahl von Kopien. Prinzip der Variabilität.‘ l)as Beispiel der Email wurde bereits angesprochen: Auch wenn wir gemeinhin in der Illusion agieren, dass wir eine Nachricht verfassen, die als geschlossenes Objekt transportiert und dann beim intendierten Empfänger als solches ankommt, so ist das lediglich eine bequeme Analogie zum klassischen Postversand. Dem wird schon in der Terminologie und ikonischcn Ausstattung der Interfaces der Email-Software Rechnung getragen. Das beginnt bei Begriffen wie „E-Mail“ oder „Posteingang“ und endet bei den üblicherweise verwendeten Briefchen-Icons. Tatsächlich operieren die beteiligten Programme nach ganz anderen Systernatiken. und jeder Emailversand löst zahlreiche Prozesse der Codierung. Zerlegung und Zusammensetzung aus und generiert eine Vielzahl von Kopien. Außerdem finden zahlreiche automatisierte Leseprozesse statt, die, wie mittlerweile sattsam bekannt, auch von staatlichen Diensten genutzt verden. Am Ende wird dann beim Enipmnger wieder die Illusion der Postsendung erzeugt. Aber schon im Vorgang des Schreibens werden auf der lokalen Festplatte Si cherungskopien angelegt, die den Schreibenden gemeinhin verborgen bleiben. l)ie zunehmende Verlagerung der Speicherung und des Arbeitens in den Online-Bereich (Stichwort „Cloud Computing) intensiviert diese Prozesse nochmals. Jede Hand lung hinterlässt online ein sich vervielfältigendes Netz von Spuren, das nur partiell wieder verschwindet. Die angeführten Prozesse der Indexierung und der Individualisierung von Suchergebnissen oder Interfaces lassen sich alle auch unter dem Gesichtspunkt der Variabilität fassen. Ein digitales Objekt kann auf den unterschiedlichsten Bühnen gleichzeitig auftreten beziehungsweise löst es sich in einem Gewimmel von Ko pien auf. Ein klassisches Exempel flur das Prinzip der Variabilität konstituiert sich laut Manovich im Hypertext (oder anderen Flypermedienstrukturen): ‚‚ Einzelne digitale Objekte (Texte). die den Hypertext ausmachen, sind durch Verweise (Hyperlinks) untereinander verbunden. Es gibt keinen vorgegebenen Weg durch dieses Netzwerk, die L.esenden bestimmeim selbst die Abfolge. in der sich die einzelnen Objekte anein anderreihen. Jeder Leser. jede Leserin liest so einen individuellen Text, gemäl3 den 5 eigenen Interessen. Im Zuge der Lektüre entsteht jedes Mal ein neues [)okurnent.‘ Letztlich kann das World Wide Web selbst als [-lypermedia-Struktur verstaimden 2 ‚ [ Ebenda S. 53. Ebenda. S. 56. ‚ Ebenda: S. 61-63. ‚ Ein Beispiel, einen geschichtswissensclmaftlichen Hypertext zu schaffen, war das For schungsprojekt Pastperfect.at. in den Jahren 2001 2003. Die Projekt—Wehseite (http:i/ www.pastperfi3ct.at) ist derzeit nicht zu erreichen. Ältere Versionen können mittels der Waybackmachine des Internet 1,chu,‘e eingesehen werden: https://arehiveorg/wehi 317 werden, in der sich die einzelnen Objekte entsprechend der Navigationsstrategien der Userlnnen arrangieren. Weitaus alltäglichere Beispiele zur Illustration des Prinzips der Variabilität sind RSS-Feeds, also einfache Veröffentlichungsdienste für Blogs oder Newsseiten und sogenannte Feedreader, die Veröffentlichungsrneldungen sammeln und den Abonnenten in Form simpler Nachrichtenseiten zur Verfligung stellen. Analog dazu erlauben Podcatcher das Abonnieren und Verwalten von Pod- beziehungsweise Net casts. Apples Multimedia-Venvaltungsprogramm „iTunes“ beinhaltet beispielsweise diese Funktion. J)as Prinzip des Abonnements, also der nach bestimmten Vorgaben automatisiert ablaufenden Angebotserstellung von Inhalten. ist in den letzten zehn Jahren zunehmend wichtig geworden. So funktionieren der Kurznachrichtendienst Twitter oder das soziale Netzwerk Facebook, um zwei dominante digitale Medienphänomene zu nennen, nach diesem Muster.‘ 6 In Twitter abonniert man die (bzw. „folgt“ man den) Veröffentlichungen anderer „Twitterati“ oder Mikrobloggern, die auf einer eigenen, radikal einfachen Seite in Echtzeit aufgelistet werden. Ahnlich werden Meldungen von Facebook-Benutzerlnnen auf den Seiten der „Friends“ (wie hier die Abonnenten heißen) nach einem automatisierten Auswahiverfahren dargestellt. In beiden Fällen kommt das Prinzip der Variabilität insofern zum Tragen, als ein Inhalt vielfach gespiegelt wird und sich bei den Abonnentinnen als Element einesjeweils individuell unterschiedlichen Arrangements wiederfindet. „Retweets“, „Likes“, Kommentare oder referenzierte Meldungen speisen dabei eine sich ständig erweiternde Fülle neuer Inhalte. Twitter und RSS-Feeds weisen noch eine weitere Dimension der Vernetzung auf, da „Tweets“ oder „Feeds“ in andere Plattfonnen integriert werden können. Das Prinzip der Transkodierung beruht auf dem Gegensatz analog digital. Technisch gesehen ist ein analoges Signal ein kontinuierliches Signal, während sich ein Digitalsignal aus begrenzten Impulsen zusammensetzt (wert- und zeitdiskret). Abgesehen von dieser rein technischen Definition werden die Termini einerseits herangezogen, um auf Computertechnik basierende Medien von davor bestehender Medientechnik (TV, Radio etc.) abzugrenzen bzw. überhaupt einen unscharf be stimmten Bereich des Digitalen von der restlichen Welt zu unterscheiden. Letzteres ist insofern stimmnig, als die reale Welt „irreduzibel analog“ ist.‘ Das gilt auch flur den Menschen. Daher muss es immer einen Punkt geben, an dem das Analoge ins Digitale übersetzt wird und umgekehrt. Transkodierung meint eben diese, letztlich auch immer eine Urncodiening von Signalen beinhaltende, Ubersetzungsleistung. So muss eine digitale Audiodatei immer in analoge Schallwellen umgewandelt werden, um beim Menschen anzukommen. Der Computer selbst braucht keinen Ton. 1 — Interface I)as Prinzip der Transkodierung fahrt uns direkt zu den Interfaces. Die Entwicklung von „Graphical User Interfaces also der grafischen Benutzerschnittstellen, stellt einen entscheidenden Schritt in der digitalen Durchdringung unserer Welt dar. Sie waren die Voraussetzung dafl.ir, dass Computer von Geräten fl3r Spezialisten oder technikaffine Personen zu ubiquitären Kommunikations- und Unterhaltungsmaschi nen werden konnten. Viel präziser als der deutsche Begriff „Benutzerschnittstelle“ drückt das engli sche „interface“ aus, worum es sich handelt. Es ist nicht einfach ein Ort. an dem ‘, ‚ :1E Zu nennen wären auch die Dienste Tumhlr, Flickr, Digg oder Linkedin. Hart,nut Il,,kle,: Basiswissen Medien. Frankfurt am Main 2008, S. 129. 1;1 ‚ .Josef Kövtlhauer 318 der Maschine Anweisungen gegeben werden. Vielmehr ist es sowohl die Grenz fläche zwischen Apparat und Mensch als auch eine Verbindung, über die Mensch und Maschine verkoppelt werden. So wie das Interftice eine Anpassung der digital operierenden Maschine an das analoge Wesen Mensch beinhaltet (mit grafischen Oberflächen und auf die analoge Welt verweisender Symbolik), so setzt es auch eine Anpassung des Menschen an die Erfordernisse der Digitalität voraus. Dank des Interface werden uns die digitalen Mediengeräte zur Prothese, die dem Mängelwesen Mensch immer weitgehendere Möglichkeiten erschließen. Es entspricht dies dem Bild von Freuds ..Prothesengott“: das Interface. das Zwischen gesicht. ist der Ort des Cyhorg, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, von Software und Gehirn. Die Unterbrechungen. Störungen, Fehler und Zugänglich keitsschwellen. die den Apparatcharakter von Medien immer wieder hervorgehoben haben. weichen heute zunehmend perfekten digitalen Inszenierungen interaktiv bedienbarer Oberflächen. Es gibt keine Kommandozeile mehr, die ungeduldig blinkend eine Anweisung fordert. Es gibt auch keine .‚Blue Screens mehr, die immer wieder brutal die hübschen Oberflächen der Betriebssysteme durchbrachen und unheilschwanger VOfl schweren Ausnahmefehlern kündeten. Gleichzeitig ist es auch der Schleier, der die Maschine verdeckt und dem menschlichen Sinn etwas vorgaukelt. Das bringt vielleicht auch eine subtile Ermächtigung der analogen Moments: Das Bestreben möglichst lückenlose Interfaces zwischen Mensch und Maschine zu schaffen, führt dazu, dass die Modi menschlicher Wahrnehmung neue Bedeutung erfuhren. Verdichtung Sucht man dcii durch die [)igitalisierung ausgelösten Wandel zu benennen, dann bietet sich das Schlagwort der medialen Verdichtung an. In der Verdichtung der Me diensysteme laufen alle bisher angeführten Aspekte zusammen. War der Computer ursprünglich noch ein Ungetüm, ein Einzelgerät, bedient von einer Kaste technikbegeisterter „Geeks“, so ist er heute zu einem ubiquitären Gegenstand geworden. Voraussetzungen dafür waren die Verbreitung des Heimcomputers ab den frühen 1980er Jahren. die Entwicklung der grafischen Interfaces. die Vernetzungsmöglich keiten durch das Internet und die Möglichkeiten, große Datenmengen zu sammeln. zu verwalten und automatisiert nutzbar zu machen. Heute stecken Computer in den verschiedensten Geräten. Wir registrieren ihre Anwesenheit meist genauso wenig wie wir wissen, welche Software gerade aktiv ist und was sie gerade tut egal. ob im Laptop. im Telefon. im Auto oder in den großen Netzen, mit denen wir auf die eine oder andere Art verbunden sind. In der Temino logie der Marketingahteilungen ist das neue Schlagwort dafür „smart“: Smartphones, Smartcars, Smarthomes. Alles soll klug sein, alles will für uns denken. bis hin zur Küchenmaschine. Hier findet eine beispiellose Verdichtung statt, all diese Geräte kommunizieren, die Vernetzung wird zunehmend engmaschiger, wir bewegen uns in einem immer stärker zLisamrnenwachsenden Mediensystem. Es ist auch eine Verdichtung in deni Sinn, dass das Digitale die klassischen Ein zelmedien usurpiert und sich einverleibt. Sie alle durchlaufen heute das I)igitale und werden zunehmend in digitalen Interfaces repräsentiert. Film, Fernsehen, Radio. Zeitung, Telefon: alle diese einst analogen Medien sind zu großen Teilen oder voll ständig digitalisiert worden. erst bei den Konsumentlnnen treten sie noch einmal in — Digitale Reol,,tion analoger Form wieder zutage und auch das nicht immer. Tageszeitungen beispiels weise existieren heute meist parallel auf Papier und digitalem Format. Waren dabei die Redaktionen für Print- und Onlineausgaben früher noch getrennt, so werden sie heute immer öfter zusammengelegt. Mit Plattforrnen wie Youtuhe oder Twitter sind gleichzeitig genumn digitale und der Online-Sphäre zugehörige Konkurrenzformen entstanden. Das manifestiert sich auch auf wirtschaftlicher Ebene. lT-Konzerne wie Apple oder Google haben sich in klassischen Industriefeldem etabliert und produ zieren heute Telefone und demnächst wohl auch Fernseher. Eine weitere Ebene der Verdichtung spielt sich in der oft konstatierten Perforation der Grenzen zwischen Produktion und Konsumation von Inhalten ab. Das Einweg system der klassischen Massenmedien gehört der Vergangenheit an, das Internet ist voll von eigenproduzierte Inhalten. auch wenn etwa im News-Bereich durchaus eule große Beharrungskraft der klassischen Medien festzustellen ist. l‘rotzdern haben Blogs, Youtube oder Twitter die Konfigurationen medialer Offentlichkeit nachhaltig verändert. Für den Zusammnenfall der Positionen von Produzent und Konsument wurde sogar ein neuer Begriff geprägt, nämlich „Prosumer“. Bezeichnenderweise entstand dieser ungelenk anmutende Begriff bereits in in den 1980er Jahren. Der Futurologe Alvin Toffier erfand den Begriff damals, um eine Vision personalisierter Produktionsme chanismen zu beschreiben: Konsurnentlmnmen würden ihre Wünsche und Präferenzen bekannt geben. um individuell zugeschnittene Angebote zu erhalten. Damit würden die Konsurnentlnnen (bis zu einem gewissen Grad) auch zu Produzentlnnen.‘ 9 Erst Anfaiig der 21. Jahrhunderts fund der Begriff dann Eingang in die Terminologie zur Beschreibung sozialer Netzwerke: Durch das Verfassen, Teilen. Verlinken und Kommentieren von Einträgen, also durch die Eigenschaften der Modularität und Variabilität, werden Konsumenten in diesem Sinne selbst dann zu Produzenten, wenn sie nicht selbst Inhalte erstellen und hochladen. Es sei dahingestellt, ob der I3egriff passend ist. Offensichtlich ist aber, dass die ursprüngliche, kommerzielle Vision Toffiers von Amazon, Google & Co längst umgesetzt wurde. Bemerkenswert ist, dass viele dieser Veränderungen vergleichsweise wenig sichtbar sind. Natürlich haben sich in vielen Bereichen Kulturtechniken und Praxen deutlich verändert. Das zeigt sich etwa bei der wissenschaftlichen Arbeit, wo Re cherche und Textproduktion in den letzten zehn Jahren tiefgreifende Veränderungen und Weiterungen erfahren haben. ° Aber radikale Veränderungen wie die Verwal 2 tung umuübersehharer Datenbestände, die im Begriff sind. tradierte Vorstellungen von Offentlichkeit. Privatheit. Ethik. ja vom Subjekt. aus den Angeln zu heben. ollziehen sich (meist) abseits alltäglicher Erfahrung. Obwohl wir alle dazu mehr oder weniger aktiv durch unsere Mediennutzung beitragen, bleiben diese Prozesse hinter den Schleiern der Interfuces verborgen. — Diskurse Aus medienhistorischer Perspektive betrachtet sind es jedoch weniger technische Entwicklungen. die die „neuen Medien allererst als neue Medien etablieren und somit eiutscheidender Faktor für ihre Durchsetzung. für ihre Eriblgsgescluichte. für ‚ A[ui,, Tojfler: I)ie dritte Welle Zukunftschance. Visionen für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. ünchen 1987. Für (lie Geschichtswissenschaft vgl. etwa Peter Naher: Digital Past. (ieschichtswis senschaf nn digitalen Zeitalter. München 2011. — Sigmuncl Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Fiankfiirt am Main 1991, S. 57. 1 319 20 320 ihre Positionierung in der Geschichte der Medien sind“. Bestimmend ist vielmehr der Diskurs über die neuen Medien. Angesichts der Jahrzehnte. die seit der Erfindung des Computers oder der Etablie rung des Internet ins Land gezogen sind, ist es schon beachtlich, dass nach wie vor von neuen Medien gesprochen wird. Der deutlich passendere Begriff des I)igitalen ist heute zwar ebenfalls ein allgegenwärtiger Begriff, aber er taucht in den verschie densten Kontexten auf und hat ein entsprechend unscharfes Bedeutungsspektnim gewonnen. Er ist in die Alltagssprache eingegangen als Synonym flur Neues, fir Innovation, Fortschritt und High-Tech. Dabei, und das ist interessant, vet-drängt das Adjektiv „digital“ in diesen Zusammenhängen das Präfix .‚e-“ genauso wie das Adjektiv „elektronisch“. Der Hintergrund ist vermutlich die zunehmende Unsicht harkeit der Hardware. Auch die Software tarnt ihren elektronischen Charakter und versteckt sich hinter visuellen Repräsentationen analoger Wirklichkeit. Der Diskurs über „neue“ Medien ist in ganz signifikanter Weise von tradierten Mustern bestimmt, die aufgerufen werden, sobald ein neues Medium ins Bewusst sein tritt. Die Aussagen darüber, was diese Medien bewirken, bewirken werden oder bewirken sollen, ähneln sich über die Zeitläufe hinweg. Sie sind nicht das Resultat von Analyse und Extrapolation. sondern Ausdruck von Hoffnungen und Idealen, die in der Gesellschaft bereits vorliegen. Dabei ist gerade die Medienwahrnehmung seit der Neuzeit stark von Technikhildern dominiert. Paradigmatische Funktion kommt dabei dem Buchdruck zu. Die Entstehung dessen, was seit Marshall McLuhan gerne als „Gutenberg Galaxis“ bezeichnet wird, liefert die Folie flur die Beurteilung des 22 Dazu kommt, dass unsere Utopien sehr oft technische Utopien sind: Ei Digitalen. senbahn, Telegrafie, Radio. Femsehen, Verbrennungsmotoren, Atomenergie usw. All diesen technischen Erfindungen wurde das Potenzial zugeschrieben, gesellschaftliche und politische Utopien zu realisieren. Steigerung der Uhertragungsgeschwindigkeit, Massendistrihution, Egalisierung des Zugangs, Aufhebung von Raum und Zeit das waren die Momente, die immer wieder Friede, politische Freiheit. Befieiung des In dividuums, Demokratie zu versprechen scheinen. Bereits im Zuge der Französischen Revolution beschäftigte man sich mit neuen Medien der Nachrichtenübertragung in der Hoffnung auf ein egalitäres. „revolutionäres“ Massenmedium. 1789 genehmigte das Direktorat der französischen Republik die Konstruktion eines „tlologue“, einer 22 Das atlantische Anlage, mit der eine ganze Stadt kommunizieren können sollte. 24 Bertolt Uberseekabel Mitte des 19. Jahrhunderts sollte dem Weltfrieden dienen. Brecht beschrieb das Radio 1927 als Möglichkeit „an die wirklichen Ereignisse 21 22 Eckl,arclSchu,,zacher: Revolution, Rekursion, Rernediation: Hypertext und World Wide Web. In: Albert Küniniel/Leander Sehnlz/Eekhard Schnnnache, ([-Ig.): Eintührting in die Geschichte der Medien. Paderborn 2004. S. 255280. hier S. 257. tvIa,shall MeLuha,,: The Gutenberg Galaxy. The Making offypographic Main. Foronto ua. 1995. Exemplarisch hat Michael Giesecke die Etablierung des gedruckten Textes als neues Medium untersucht. Siehe Jtfk-hael (Jiesecke: Geschichte des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informa— lions- und Komrnunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1Q91; Helmut Schanze untersuchte das Weiterwirkeii der Metaphorik des T3uchdrucks in den netten Medien. 22 21 Digitale I?ei‘ofz,tjo,, .JosejKöstlbauer Siehe Helnutt Sc-lianze: Die Wiederkehr des Buches. Zur \ietapliorik der 1)igitalinedien. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 50 (l95), 8. 53-60. Dieter L)aniels: Kunst als Sendung: Von der Telegrafie zum Internet. München 2002. S. 28. Frai/c Hmtnnann: Globale Medienkulttir. Technik, Geschichte, llieorieii. Wien 2006, S. 77. 321 näher heranzukommen“ und so an der Aufklärung der Öflntlichkeit tnitzu wirken. 25 Marshall McLuhan konstatierte ein Schrumpfen der Welt zum „global village“: Aufgrund der Uherwindung von Zeit und Raum durch elektronische Medien würde eine neue Kollektivität entstehen. McLuhan dachte 1962 allerdings in erster Linie an das Fernsehen. 26 Der durchaus skeptische Charakter von McLuhans Bestandsauf nahme wurde in der populären Rezeption durch eine sehr optimistische Vorstellung vom globalen Dorf als weltumfassender Solidaritätsgemeinschaft überlagert. Im Jahr 1970 pochte Hans Magnus Enzensberger auf das revolutionäre Potenzial der elektronischen Medien und sah sie als Agens einer umfassenden Teilnahme am ge sellschaftlichen Prozess-. ‚.Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen: die Programme sind lmn1ateriell und beliebig 27 reproduzierbar.“ Freilich sind Enzensbergers „neue Medien“ unsere alten Medien, nämlich Radio und Fernsehen. Und seine Revolution war die sozialistische Revolution. Immer wieder zielen die technischen Utopien auf die Erweiterung oder Auflösung des Subjekts. Sei es McLuhans Bild von den elektronischen Weiterungen des Men schen oder der vernetzte Mensch von heute. 26 Diesen Erweiterungen des Menschen entspricht spiegelbildlich die Vorstellung von der Subjektwerdung der Maschine. Die Fantasien von menschenähnljchen Automaten. Robotern und Androiden sind eine Begleiterscheinung unserer Technikhegeisterung seit der Aufklärung. Heute werden die imaginierten nichtrnenschliclien \Vesen zunehmend körperlos. Es ist der Code, der verspricht, den Menschen zu simulieren. Im Diskurs über die digitalen Medien kann man all diese utopischen Vorstellun gen (und ihre dystopischen Entsprechungen) in vielfacher Weise wieder auffinden. Der Medienwissenschaftler Felix Stalder hat zwei Phasen des digitalen Zeitalters beschrieben, die sich auch im Diskurs abbilden. 29 In der ersten Phase erscheinen die digitalen Medien als Agens, das die Utopie der Vernetzung ennöglicht. Informationen und Wisseii verden damit allgemein zugänglich, die Kontrolle über Inhalte wandert von wenigen institutionalisierten Sendern hin zu allen am Netz Teilhabenden. Gerade das World Wide Web war Fokus breiter utopistischer Erwartungen. Es sollte ein freier Marktplatz der Ideen sein, frei von regulatorischen Interventionen. Dabei erfüllt das Netz in den 1990er Jahren durchaus Erwartungen an nette For meii individueller und kollektiver Autonomie. Horizontale, dezentrale offene und transparente Kommunikationsfonnen machten kollaborative Projekte möglich. Freiwilligkeit und aktive Partizipation, Freie Software und die Open Source Bewegung schufen erstaunliche Projekte wie Wikipedia. Die Tätigkeit engagierter Blogger ließ Ideen von der Abschaffung des klassischen Journalismus durch Bür gerjournalisten aufkommen.° Einen Höhepunkt in den Erwartungen an neue, durch 25 Berrolt Brecht: Radio ente vorsintflutliche Erfindung? (1927). In: Günter Helnnes/ Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart 2002, S. 149-154. lfrlcLithan: The Gutenberg (ialaxy (wie Anm. 22). Hans Magnus Enzeiisbeiger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. tu: Kursbuch 20 (1970), S.l59-l86, hier S. 167. Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man. London 1964. F“e/i. Stalde,-: In der zweiten digitalen Phase. Daten versus Konununikation. In: Le mon— dc diplomatique, 14.2.2014. Online: http://vww.inonde-diplornatique de/pm/ 014/O)/ 14. 2 mondeiext.artikel.a0040.idx.5 (23.7.2014). Erik Möller: Die heimliche Medienrevolution. Wie Wehlogs, Wikis und freie Software die Welt verändern. Hannover 2005; Horst Pn/unger: Arc You Serious‘? The potential und the reality of wehlogs as mass media, and why they matter. 2004. Online: http:// www.aardvark.at/blog/stories/ prillingerblogtalkü4.pdf (23.7.2014). - 26 27 28 20 ‘° 1 .322 Josef Köstlbauer soziale Netzwerke ermöglichten Organisationsfbrinen markierte das Schlagwort der Schwarrnintelligenz, das Mitte der 2000er Jahre in den Diskurs über die neuen Medien Eingang fand. Welche Macht der Diskurs dabei über die Wahrnehmung hat, illustrieren die po litischen Revolutionen des arabischen Früh lings 2010/2011. In der Beurteilung der Geschehnisse wurde in der Berichterstattung sehr früh die Rolle (digitaler) sozialer Medien fokussiert. In Tunesien oder Agypten boten Online-Netzwerke einerseits Räume. die von Zensur weitgehend unbehelligt waren, andererseits ermöglichten diese Netzwerke die Koordination von politischen Aktionen und die Kommuni kation mit einer globalen Offentlichkeit. Sie stellten also alternative Veröffentli chungskanäle für Botschaften und Informationen über das aktuelle Geschehen dar. Cierade Letzteres führte dazu, dass die westliche Offeritlichkeit das Geschehen vor allem über die sozialen Netzwerke wahrnahm. Der arabische Frühling wurde damit kurzerhand zur Erfolgsgeschichte von Twitter und Youtube erklärt, in der das de mokratische, befreiende Element der neuen Medien sozusagen zu sich selbst fand. Das legt zumindest den Verdacht nach, dass in Unkenntnis lokaler Gegebenheiten und genauer Umstände das einzige, das bekannt erscheint, alle Aufmerksamkeit auf sich zieht --vor allem dann, wenn es in den etablierten Diskurs passt. Während neue Medien zweifellos eine signifikante Rolle in den Ereignissen in Tunesien oder in Agypten 2011 spielten, besteht in dieser Form der Berichterstattung die Gefahr. dass die komplexe und widersprüchliche Natur von Revolutionen nivelliert wird. Die vielfältigen Motive der Beteiligten. politische Zusammenhänge sowie die Be ‘ 3 deutung anderer Formen der Kommunikation und Vernetzung bleiben unsichtbar. Aber die Heilsversprechen und Heilserwartungen entfalten auch selbst Wirkung. treiben Geschichte voran. Dem unterliegt selbst die gegnerische Seite: Die restriktive Netzpolitik von Staaten wie C‘hina oder die cholerischen Ereiferung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan über social networks zeigen. dass die Mächtigen die dominante Auffassung von der Wirkung neuer Medien längst übernommen haben. Natürlich verschieben neue Technologien und neue Medien Verhältnisse. entstehen neue Praxen. verändern sich alte. Nur ist darauf zu achten, dass nicht in teleolo gischer Manie rückwirkend alles als Medienwirkung oder Folge technologischer Entwicklungen erklärt wird. Die Gefahr dabei ist, dass Motive, Hintergründe oder gegenläufige Entwicklungen übersehen werden. Das heilsgeschichtliche Narrativ der neuen Medien wird zur immer verfügbaren, alles befriedigenden Erklärung. Bezeichnend ist, dass Medienphänomene, für die keine tradierten Muster im Dis kurs über neue Medien vorliegen, dort kaum auftauchen. Ein drastisches Beispiel ist die Porno-Industrie, die seit von Anbeginn an die Potenziale des World Wide Web erkannte und in großem Stil für sich nutzte. Bis heute gehören sogenannte „Adult 32 Sites“ zu den größten Webseiten im Netz mit Milliarden von Klicks pro Monat. Die „zweite digitale Phase“ bezeichnet Felix Stalder als gegenrevolutionäre Phase. Ihr Symbol ist „nicht mehr die Community. sondern das Datencenter-- eine Black hox mit industriellen Dimensionen, kapitalintensiv. komplex und opak“. Wollte man Digitale Re“o/ution den Beginn dieser zweiten Phase chronologisch verorten, so bieten sich die Veröf fentlichungen der Organisation Wikileaks des Jahres 2010 an, in denen unzählige geheime Dokumente US-amerikanischer Institutionen veröffentlicht wurden. 34 Die in den Enthüllungen des Wh i stleblowers Edward Snowden offenbarte Datensamm lungswut der Geheimdienste zeigt, dass die Realität in einer erschreckenden Weise an die dystopische Visionen zu „neuen“ Technologien herangerückt ist. Es ist so etwas wie ein Kampf entbrannt zwischen den Gläubigen der ersten Phase des Internets und den Verwaltei-n und Profiteuren des Datensamrnelns. Massiv zutage trat das im Fall der Wikileaks und der Diskussion um die Strafverfolgung und Flucht des Mithegründers Julian Assange im Jahr 2012. Aber die schon zuvor stattfindenden Diskussionen uni Datenschutz, Vorratsdatenspeicherung oder Staatstroj aner zeigten, dass es sich nicht einfach um ein Problem der Kontrolle von Nachrichtendiensten handelt. Vielmehr werden Daten mittlerweile überall erzeugt, verwaltet, verwendet und gehandelt. Es gibt längst keine klaren Frontverläufe in dieser Auseinanderset zung mehr. Wie der Flistoriker Wolfgang Schmale und die Juristin Marie-Therese Tinnefeld feststellen, ist mit der Aushöhlung der Privatheit im digitalen Zeitalter ein Angriff auf die demokratische Ordnung unserer Gesellschaften, auf zivilisatorische Eriungenscha ften verbunden. ‘ 3 32 1 Bewertung: Revolution, Evolution, Innovation Über die Hinterfragung diskursdoininierender Begrifflichkeiten hinaus ist es müßig, Medienrevolutionen zu begründen oder zu bestreiten. Im Blick in die Vergangenheit lässt sich das Revolutionäre schwer chronologisch festniachen: jedes Datum. jedes Ereignis, das genannt wird, ist letztlich wenig mehr als ein Anker flur Narrative. Viel besser lassen sich evolutionäre Entwicklungen beschreiben. Das bedeutet keines wegs, dass deren Auswirkungen nicht tiefgreifend sind. Jedenfhlls schadet es nicht, apodiktischen Fonmilierungen mit Vorsicht zu begeg nen, etwajener Stefan Münkers und Alexander Roeslers: „Kein Medium hat jemals zuvor so schnell so viele grundlegende gesellschaftliche Anderungen und technische Innovationen mit sich gebracht wie das Internet; und dessen Erfolgsgeschichte ist noch nicht am Ende.“ 37 Findet hier nicht die Fortschreibung eines Commonsense statt, der nicht mehr hinterfragt wird, aber zu hinterfragen wäre gerade aus histo rischer und aus diskursanalytischer Perspektive? Vielleicht ist es zu früh für den Versuch einer Einordnung. Eine vorläufige Bewer tung könnte eine Phase der sich intemisivierenden Medienevolutionen beschreiben. ausgelöst und am Laufen gehalten durch eine Kette technischer [nnovation. die ihrerseits auf niedieninduzierte Veränderungen kultureller Praxen reagieren. Wenn es stimmt, was Schmale und Tinnefeld über die Bedrohung der Privatheit schreiben und was Neelie Kroess konstatiert, 35 dann passiert möglicherweise erst gerade jetzt eine Revolution und zwar im Sinne einer radikalen Veränderung des — Afghan War Diary 25. Vgl. etwa Co/in Delanev: How Social Mcdiii accelerated Tunisma‘s Revolution: An Inside View. In: Huffington Post 2. 10.20 t 1. Online: http://www.huftingtoiipost.com‘ colin-delany/how-social-media-accelerab 82 1497.html (23.7.2014). Genaue quantitative Untersuchungen dazu scheint es nicht zu geben. Ich verweise auf zwei journalistische Beiträge aus dein Jahr 2012. Burkhard Schröder. Pornos machen das Netz schneller. In: Taz, 6.6.2012. Online: http://www.taz.de/!94778/ (18.7.2014); Se bastian Anthoni: Just how hig are porn sites? In: Extreme lech, 4.4.2012. Online: http:// www.extrernetech.com/computing/l 23929-just-how-hig-are-porn-smtes (18.72014). StaMer: Zweite digitale Phase (wie Anm. 29). 323 JLilI 2010 http://www.wmkileaks.org/wikj/Afgha,3wa,.Dja ry,2004-20l0; traq War Logs 22. Oktober 2010 https://wikileaks.org/irq/ Zu Staatstrojaner siehe Wo1fang Sc/i,nale/Marie-T/,eres Tinne/ld: Privatheit 6 ‘ talen Zeitalter. Wien u. a. 2014, S. 97-110. Ebenda: 5. 163-168, mi digi Ste,f,ii Miinkrr/,4lexanderRoesler (hg.): Vom Mythos zur Praxis. In: Dies. (lfg.): Praxis Internet. Frankfurt am Mai,, 2002, S. II. „Ich glaube, dass die jüngsten Spionageskandale das Band zwischen Technologie und Demokratie durchtrennt haben.“ Kioess: Die FU und die digitale Revolution (wie Anm. 1). -1 lose! Köstfhauer 324 Menschenbildes in unseren Gesellschaften. Oh das Adjektiv „digital“ noch ange messen sein wird, um diese Revolution zu charakterisieren, das muss offen bleiben. Für die Geschichtswissenschaft bedeutet die „digitale (R)Evolution“ eine einma lige Situation. weil damit die analytische Durchdringung eines Wandels verlangt ist, der sich eben vollzieht und der mitten in die wissenschaftliche Tätigkeit, in die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen hineinreicht. Dem gerecht zu werden, wird eine „nahe Beobachtung“, ein „dose reading“ unserer eigenen Umstände brauchen und ein geschärftes Bewusstsein flur Wesen und Bedeutung von Medien. Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie) - ÖGL --Ati ISSN 0029-8743 Gedruckt mit Förderung durch das Kuhuramt der Stadt Wien, Abteilung Wissenschafis- und Forschungsförderung, die Kulturabteilung des Landes Niederösterreich und aus den Mitteln des Bundesministeriums für Verkehr. Innovation und Technolouie StaDt;; VV1Cfl I‘ KULTUR NIEDERÖSTERREICH 1 k UrflF .‚ — Impressum nach § 24 MedienG.: Medieninhaber und Herausgeber: Institut für Österreichkunde. Redaktion: Dr. Andrea Schnöller, Koordination: Univ.-Prof. i. R. Dr. Hannes Stekl, Dr. Andrea Sclinöller. A-1010 Wien. Hanuschgasse 3/Stiege 4/Top.1046 (e-mail: ioek.wirt Für [email protected], www.oesterreichkunde.ac.at, Tel. + Fax 512 79 32). unverlangte Manuskripte keine Gewähr. Die Beiträge drücken nicht unbedingt die Meinung Erscheinungshinweise: viermal im Jahrgang. Preis: Jahresabonnemcnt der Redaktion aus. 40,- Für Mitglieder des institutes für Österreichkuimde Jahresabonnement € 35,-; für stu dentische Mitglieder € 21,--. (Zuzüglich Versandkosten; inkl. 10% MwSt.). Abbestellungen Einzelheft ah Jahrgang 2009 € 12. ältere Jahrgänge: Einzelheft € 7, -: nur mit Jahrgangsende. Amiderthalbheft € 10.50: Doppelheft € 14,-; Satzherstellung: Melitta Binder. 3970 Wemtra - . -. - Druck: Interpress. Bcsi üt 67, H-1037 Budapest Offenlegung nach § 25 MedienG.: Medieninhaber: Institut für Österreichkunde A-1010 Wien. Ha nuschgasse 3/Stiege 4‘Top. 1046. Vorsitzender Unix-Prof. i. R. [)r, Enist Bruckmüller. Vereinszweck gemäß § 2 der Statuten des Vereines „limstitut für Österreichkunde“. „Zweck: 1)er Verein, dessen Tätigkeit gemeinnützig und nicht auf Gewinn gerichtet ist, betreibt Forschung nnd Lehre mit dem Ziel eines besseren Verständnisses von Geschichte, Kultur, Politik und Gesellschaft Österreichs. [.1 Dieser Zweck soll erreicht werden durch: 1...] b) Herausgabe von Publikationen [.1“ —