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Digitale
Jose/Köstibauer
In einem ausfiihrlichen Debattenheitrag in der Frankfärtei Allgemeinen Zeitung
im März 2014 sprach sich die europäische Kommissarin für Digitale Agenda, die
Niederländerin Neelie Kroess, flur eine Politik „der digitalen Revolution“ aus.‘ I)ie
Kommissarin ist dabei nur eine von vielen Stimmen, die allenthalben versichern
2
oder bestätigen, dass wir uns mitten in einer digitalen Revolution befinden.
Eine digitale Revolution‘? Als Revolutionen bezeichnete man einst erschreckende
Schauspiele der gewaltsamen, umstürzenden Neuorientierung gesellschaftlicher und
politischer Systeme. Eine Revolution fand statt, als man in Frankreich den König
absetzte. köpfte und eine radikale politische Version einer republikanischen Ordnung
verwirklichte. Eine Revolution fand statt, als 1917 in Russland die Bolschewiki die
Macht übernahmen und die Diktatur des Proletariats ausriefen.
Die dem lateinischen Wortstamm innewohnende Bedeutung des Zurück- oder
Wiederkehrens ist in den heutigen Bedeutungen kaum mehr erkennbar. Heute ist
Revolution ein Schlagwort geworden, mit dem überaus unbestimmt umfassende
Veränderungen mit weitreichenden Folgen bezeichnet werden. Revolutionen oder re
volutionärer Wandel finden heute überall statt, in der Nahrungsmittel- und Kosmetik
industrie genauso wie in autoritär regierten arabischen Staaten. Die Verwendung des
Begriffs scheint dabei eher einem Bedürfiuis nach Superlativen geschuldet, Termini
wie „Neuerung“ oder „Veränderung“ scheinen dem Vokabular von Marketingahtei
lungen und Nachrichtenredaktionen zu leise, zu unaufgeregt zu sein. Mittlerweile
3 und im
hat sogar die Steinzeit eine Revolution (die sog. Neolithische Revolution)
2 1. Jahrhundert findet eben eine digitale Revolution statt.
Natürlich ist es unmöglich, öffentliche Diskurse und ihre Terminologien ins
Korsett wohldefinierter wissenschaftlicher Begrifflichkeit zu zwängen. Vielmehr
muss die Wissenschaft darauf achten, hier nicht allzu unhedacht Schlagwörter zu
übernehmen, die gerade im Schwange sind. Besonders den Geisteswissenschaften
als schreibende Wissenschaften sollte die fluide, manchmal trügerische Natur des
Wortes selbstverständlich sein
immerhin ist es ihre die Aufgabe, Diskurse zu
analysieren und in Beziehungen zu Motiven und gesellschaftlichen oder kulturellen
Formationen zu setzen.
Revolution ist letztlich nur ein Wort und Semantiken sind nicht stabil. Die Bedeu
tung des Wortes Revolution hängt von den Sprechenden ah. Die digitale Revolution
kann daher aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive mit zwei Fragen
—
Dr. Josef Köstlbauer, Historiker am institut für Geschichte der Universität Wien, forscht
und lehrt zu atlantischer Geschichte in der Früheim Neuzeit, barockcrAllegorik und Digital
Flumanities.
Neelie Kroess: Die EU und die digitale Revolution. In: FAZ 24.3.2014. Online: http://
www.faz.net/aktuell/feuilleton/debattenldie-digital-dehatte/politik-in-der-digitalen-welt/
dieeu-und-die-digitale-revolution-ich-hiii-nicht-naiv-und-europa-darf-es-auch-nicht
sein-12860365.htrnl (237.2014).
Was wäre angemessener als die Suclimaschinc (3oogle dazu zu befragen? Die Eingabe
der Begriffe „digital revolution“ bzw. „digitale RevolLitioll“ liefert acht- bzw. sieben
stellige Ergehniszahlen.
Dieser Begriff bezeichnet die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht in der frühen
J ungsteinzeit.
3 13
konfrontiert werden. Erstens: Ist dieser Begriff angebracht? Zweitens: Was bedeu
tet es also, dass wir uns, wie vielfach versichert und wiederholt, in einer digitalen
Revolution befinden? Diese beiden Fragen leiten die folgenden Ausführungen und
sollen zumindest in Teilen beantwortet werden.
Digitale Revolution
2
I?ei‘olution
Historizität und Historisierung
In diesem Artikel geht es nicht dannn, eine Geschichte des Digitalen zu erzählen.
Stattdessen werde ich danach trachten, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dieses
Bündel an Phänomenen historisiert werden könnte. Historisieren bedeutet stets
auch zu problematisieren, und das heißt in diesem Fall, die Begriffe und Narrative
zu problematisieren. die dabei den Diskurs dominieren.
Wie könnte eine historische Annäherung aussehen? Zwei gegenläufige Narra
tive bieten sich an. Das erste stellt den Bruch, den tiefgreifenden Wandel in den
Vordergrund. Das wäre die Geschichte der digitalen Revolution und bedeutete ein
Aufsetzen auf populären Interpretamenten des alles verändernden Einflusses der
I)igitalität. Das andere Narrativ beschriebe die langfristigen historischen Prozesse,
die historischen Linien, die sich vom Analogen in das Digitale hineinziehen. Dies
wäre eine Geschichte der evolutiven Innovationen und Transformationen, der stän
digen technischen Entwicklungen und medialen I.Jberformungen. Beide Narrative
haben ihre Fallen. Im ersten Fall besteht die Gefahr, Kontinuitäten und letztlich die
Flistorizität des [)igitalen zu übersehen. [m zweiten Fall kann eine sehr teleologische
Erzählung entstehen, in der jede Entwicklung zwangsläufig erscheint und alles auf
das Digitale hinausläuft. Eine solche Rückprojektion des Gegenwärtigen ins
Ver
gangene verlangt zumindest große methodische Sensibilität.
Beide Narrative könnten Geschichte im Sinne einer Technikgeschichte erzählen.
Man kann eine (Männer-)Geschichte des Computers erzählen, die VOti Mathematikern
und Technikern wie Claude Shannon, Alan Turing, John von Neumann, Konrad Zuse
oder Heinz Zemanek handelt. Oder man rekonstruiert die Geschichte des Netzes
rund um Vannevar Bushs Memex,
Ted Nelsons Xanadu
4
5 und die Freischaltung der
ersten Website im Jahr 1991 am CERN durch Tim Berners-Lee. Aber die Geschichte
des Digitalen wie des CompLiters lässt sich auch bereits mit der 1813 entworfenen
(und nie gebauten) „Analytical Engine“ des Astronomen Charles Babbage begin
nen oder mit der Programmierung der ersten Software durch die Mathematikerin
Ada Lovelace. Oder man könnte mit den Jacquardwebst-ühlen einsetzen, die durch
Lochkarten gesteuert wurden, also programmierbare Apparate waren und daher
bereits dem Prinzip des Digitalen, der fundamentalen Unterscheidung von 0 und 1,
‘
5
unterstanden.
4fenier (Memory Extender) war der Entwurf einer aLifMikrofilmen basierenden
Spei
cher- und Arbeitsumgebung, den der Ingenieur Vannevar Bush 1945 in einem Artikel
flur The Atlantic vorstellte. Aufgrund der Betonung assoziativer Verbindungen zwischen
den Datenbeständen gilt Meniex als Vorwegnahme späterer Hypertextkonzepte. tännei‘ar
Bush:As we may think. In: TheAtlantic, Juli 1945. Online: http://www.theatlantic.com/
magazine/archive/ 1 94
5/O7/as-we-may-think/303 881 / (23.7.2014).
Pro/ect Xanadu wurde 1960 von Ted Nelson gegründet, es war der erste Versuch. ein
computerbasiertes Hypertextsystem zu entwickeln. Eine öffentliche, aber unvollständige
Version wurde als .‚working deliverahle“ 2014 (!) veröffemlicht. Webseite des Projekts:
http://xanadu.com/ (23.7.2014).
Pierre Li‘: Die Erfindung des Computers. In: ?rlichel Seen‘s (Kg.): Elemente einer
Geschichte der Wissenschaften. Frankfurt anm Main 1998, S. 905-944, hier S. 908-911;
Dorothe S‘tein: Ada: A Life and Legacy. Cambridge. Mass. u. a. 1987.
11
.Jovej Kösrlbciuer
314
Wo ist also der Punkt, an dem das Digitale einsetzt? Vollends schwierig wird das
Ansetzen eines Startpunktes bei einer Geschichte der Kulturtechniken, der Praxen
und ihrer Veränderung, Erweiterung. Wie schreiben sich neue technische Medien
in etablierte soziale und kulturelle Praxen ein, wie verändern sie Kulturtechniken?
Diese Geschichte enthält immer den Schritt vom Analogen zum Digitalen. Ich \‘er
weise auf Bernhard S iegert, der eine beziehungsreiche Geschichte der Aufschreibc
praktiken der frühneuzeitlichen Wissenschaften geschrieben hat und aufzeigt, wie
die Entwicklung von Diskursen und Zeichensystemen schließlich die „Passage des
7
Digitalen“ zur Folge hat oder ermöglicht.
Digitalisierung
Gemeinhin meint der Begriff der digitalen Revolution die Durchsetzung digitaler
Medien in weiten Teilen unserer Gesellschaften und die dadurch hervorgerufenen
Veränclerungen in den kulturellen Praxen. Voraussetzung dafür sind digitale Technik
und der Apparat Computer.
Was ist nun das Digitale? Letztlich bedeutet es die Chiffrierung der Welt. Die Welt
wird in mathematisch beschreibbare Elemente zerlegt, die vom Computer verarbeitet
werden können. Grundlage dafür ist der Binärcode, der seinerseits auf den diskreten
Zuständen 0 und 1 basiert Strom fließt oder fließt nicht. Alle Objekte digitaler
Medien existieren demnach nur als numerische Repräsentationen, sind digitaler
Code. Das gilt selbst für Objekte, denen wir analog begegnen, etwa Text in einem
gedruckten Buch. Bevor heute Text auf Seiten gebannt wird, existiert er bereits in
mehrfacher Weise digital: im Computer des Autors, als per Email versandte Datei
(inklusiver zahlreicher temporärer (,der permanenter Kopien auf den Servern, die
die elektronische Botschaft auf dem Weg von Sender zu Empfänger berührt) und
auch die Druckmaschine wird mit einer eigenen digitalen Vorlage gespeist. Es gibt
in dieser Kette nichts Analoges mehr, alles ist digitaler Prozess. Mittlerweile ist oft
genug auch das Endprodukt Buch, um bei unserem Beispiel zu bleiben, längst in die
I)igitalität eingegaHgen und wird als E-Book verlegt. Das Gleiche gilt natürlich für
Film, Musik. Fotografie etc. Die beschriebene Ubersetzung eines analogen Objekts
in ein digitales Objekt wird mit dem Begriff 1)igitalisierung bezeichnet.
Es stellt sich die Frage, ob alles codierhar ist und was die Codierung, die „Ma
thematisierung der Welt“, mit sich bringt. Zum einen geht die digitale Codierung
von Inhalten immer über eine reine Zuweisung einer spezifischen Kombination
von Null und Eins hinaus. Sie bedeutet eine komplexere Transformation. eine
„Zurichrung“ von Inhalten, die sie bearbeitbar macht für Programme. Programme
sind Entscheidungskalküle. Sie bestehen aus Befehlsketten, die einem logischen
wenn-dann-Schema folgen. Dem muss Rechnung getragen werden, jede Eingabe
muss geschlossen sein, jede Entscheidungskette muss zu einem vorbestimmten
Ende ablaufen können.
Zum anderen bedeutet Digitalisierung den Einsatz von Computern in immer
weiteren Bereichen des menschlichen Lebens. Sie haben fast einen Zustand der
Allgegenwärtigkeit erreicht. Computer steuern Produktionsanlagen, Autornotoren
und Telefone genauso wie Lagerhaltungen oder den Handel mit Wertpapieren. Sie
sind zu ubiquitären Kornmunikationsmaschinen geworden. Das bedeutet jedoch,
dass immer größere Bereiche von Wirklichkeit in irgendeiner Form in Code und
Programmstrukturen abgebildet und damit zugleich auch von diesen geprägt verden.
Bernhard Siegett: Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissen
schaften t 500-1 900. Berlin 2003.
1
1
Digitale Rei‘ohuion
315
„Was nicht Zahl ist, muss Zahl werden“, so der digitale Irnperativ. Die immer weitere
Einbindung von Computem in die Organisation menschlichen Lebens bedeutet eine
Unterwerfung unter die Art und Weise wie Computer operieren. Das ist vermutlich
in vieler Hinsicht irrelevant. So ist es für uns meist unerheblich, dass beim Telefo
nieren unsere Stimme digital codiert wird, um beim Gesprächspartner dann wieder
decodiert zu werden. Aber wenn ausgefeilte digitale Systeme entwickelt werden,
die den automatisierten Handel auf den Finanzmärkten abwickeln, dann hat das
durchaus Auswirkungen auf das Wohl und Wehe sehr vieler Menschen.
Das grundlegende Problem ist, dass sich Wirklicnkeit nicht in Entscheidungen
vonja/nein oder 0/1 auflösen lässt. Wir haben es hier also mit einem philosophischen
Problem zu tun. Die Entscheidung zwischen ja und nein impliziert ganz klar, dass
auch über die Resultate Gewissheit besteht. Das hat nichts mit einer Wirklichkeit
zu tun, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass vollständige Information
und Absehbarkeit von Handlungsfolgen eben nicht gegeben sind. Dieter Mersch hat
dieses Verhältnis präzise definiert ausgedrückt: „Die Digitalisierung von Wirklichkeit
untersteht entsprechend der paradigmatisclien Setzung. Sie lässt sich in keinem Fall
rechtfertigen, sie entspricht gleichsam einer praktikablen Willkür.“
9
Digitale Medien
Die digitale Revolution ist eine Medienrevolution. Der Computer per se, schon Mitte
des 20. Jahrhunderts erfunden, hat die Welt nicht sofort tiefgreifend verändert. Es
ist die digitale Infonnations- und Medientechnologie, der zugeschrieben wird, eine
Revolution ausgelöst zu haben eine Revolution, die noch immer stattfindet.
Lev Manovich hat in einem 2001 erschienen und viel beachteten Buch The Lan
guage ofNew Media die folgenden fünf Prinzipien digitaler Medien festgelegt:‘°
Numerische Repräsentation (siehe oben), Modularitlit, Automation, Variabilität und
Transcodierung.
Modularität bedeutet, dass digitale Objekte aus verschiedenen anderen Objekten
zusammengesetzt werden, die dabei unabhängig von dem neuen, zusammengesetz
ten Objekt weiterexistieren.“ So können etwa im Netz aufgefundene Bilder auf der
eigenen Webseite. in einem Video oder in einer Präsentation verwendet und dafür
angepasst oder verändert werden. Dass alles beeinflusst aber nicht den Zustand des
ursprünglichen Objektes an seinem Auffindungsort. Es ist ein permanentes Spiel von
Zusammensetzen, AlTangieren und Kollagieren. das hier stattfindet. Die Frage nach
dem Original wird dabei zunehmend inelevant, das Kopieren wird zum eigentlichen
Zweck, der Gegensatz Original-Kopie beginnt sich aufzulösen, wird gegenstandslos.
Dieses Grundprinzip der neuen Medien führt auf rechtlicher und wirtschaftlicher Ebene
zu zahlreichen Problemen, da Urheberrechte wie Venvertungsrechte für analoge Medi
en entwickelt wurden und nach wie vor von der Kontrolle über ein Original ausgehen.
Das World Wide Web selbst kann als komplett modulares Objekt bezeichnet wer
den. Manifest wird diese Modularität beispielsweise in Webbrowsern. Google etwa
stellt auf seinen Ergebnisseiten kurze Textfragmente aus Webseiten oder Büchern dar,
seine Bildersuche konstruiert eine Fototapete aus aufgefundenen Bildern. All das ist
gleichzeitig Text, Bild und Verweis auf andere (zusammengesetzte) digitale Objekte.
—
Dieter Mervch: Digitalität und Nicht—Diskursives Denken. In: Dieter Mersch/Jcinos
Kiistci/Ni/,-z (Hg.): Computer, Kultur, Geschichte. Beiträge zur Philosophie des Infbr
rnationszejtalters. Wien 1991, S. 110.
Ebenda: S. 111.
Leu‘Mano-,ieh: The Language of New Media. Cambridge, Mass. 2001.
Ebenda: S. 51 f.
r
1•
316
.Josef Köst1hauL‘
Digitale Revolution
Die Prinzipien der numerischen Repräsentation und die modulare Strukturierung
sind die Voraussetzung flirAutomatisation. Manovich, selbst als Computergratiker
und Programmierer tätig, verweist auf Bildbearheitungsprogramme, die digitale
Bilder automatisch korrigieren, oder Software, die automatisch 3D-Modelle von
2 Auf
Landschaften und Lebewesen konstruiert oder animierte Figuren schafft.‘
technisch weitaus höhereni Niveau gibt es heute bereits lernfähige Programme. die
selbstständig miteinander kommunizieren. Automationsprozesse stecken freilich
auch hinter den lndexierungsprozessen der Suchmaschinen und der Generierung
von individualisierten Suchergebnissen und Produktvorschlägen, denen man im
Weh ständig ausgesetzt ist.
Auf den Prinzipien der binären Codierung, Modularität und Automation beruht das
3 Digitale Objekte existieren in einei Vielzahl von Kopien.
Prinzip der Variabilität.‘
l)as Beispiel der Email wurde bereits angesprochen: Auch wenn wir gemeinhin in
der Illusion agieren, dass wir eine Nachricht verfassen, die als geschlossenes Objekt
transportiert und dann beim intendierten Empfänger als solches ankommt, so ist das
lediglich eine bequeme Analogie zum klassischen Postversand. Dem wird schon in
der Terminologie und ikonischcn Ausstattung der Interfaces der Email-Software
Rechnung getragen. Das beginnt bei Begriffen wie „E-Mail“ oder „Posteingang“ und
endet bei den üblicherweise verwendeten Briefchen-Icons. Tatsächlich operieren die
beteiligten Programme nach ganz anderen Systernatiken. und jeder Emailversand
löst zahlreiche Prozesse der Codierung. Zerlegung und Zusammensetzung aus und
generiert eine Vielzahl von Kopien. Außerdem finden zahlreiche automatisierte
Leseprozesse statt, die, wie mittlerweile sattsam bekannt, auch von staatlichen
Diensten genutzt verden. Am Ende wird dann beim Enipmnger wieder die Illusion
der Postsendung erzeugt.
Aber schon im Vorgang des Schreibens werden auf der lokalen Festplatte Si
cherungskopien angelegt, die den Schreibenden gemeinhin verborgen bleiben. l)ie
zunehmende Verlagerung der Speicherung und des Arbeitens in den Online-Bereich
(Stichwort „Cloud Computing) intensiviert diese Prozesse nochmals. Jede Hand
lung hinterlässt online ein sich vervielfältigendes Netz von Spuren, das nur partiell
wieder verschwindet.
Die angeführten Prozesse der Indexierung und der Individualisierung von Suchergebnissen oder Interfaces lassen sich alle auch unter dem Gesichtspunkt der
Variabilität fassen. Ein digitales Objekt kann auf den unterschiedlichsten Bühnen
gleichzeitig auftreten beziehungsweise löst es sich in einem Gewimmel von Ko
pien auf.
Ein klassisches Exempel flur das Prinzip der Variabilität konstituiert sich laut
Manovich im Hypertext (oder anderen Flypermedienstrukturen): ‚‚ Einzelne digitale
Objekte (Texte). die den Hypertext ausmachen, sind durch Verweise (Hyperlinks)
untereinander verbunden. Es gibt keinen vorgegebenen Weg durch dieses Netzwerk,
die L.esenden bestimmeim selbst die Abfolge. in der sich die einzelnen Objekte anein
anderreihen. Jeder Leser. jede Leserin liest so einen individuellen Text, gemäl3 den
5
eigenen Interessen. Im Zuge der Lektüre entsteht jedes Mal ein neues [)okurnent.‘
Letztlich kann das World Wide Web selbst als [-lypermedia-Struktur verstaimden
2
‚
[
Ebenda S. 53.
Ebenda. S. 56.
‚
Ebenda: S. 61-63.
‚
Ein Beispiel, einen geschichtswissensclmaftlichen Hypertext zu schaffen, war das For
schungsprojekt Pastperfect.at. in den Jahren 2001 2003. Die Projekt—Wehseite (http:i/
www.pastperfi3ct.at) ist derzeit nicht zu erreichen. Ältere Versionen können mittels der
Waybackmachine des Internet 1,chu,‘e eingesehen werden: https://arehiveorg/wehi
317
werden, in der sich die einzelnen Objekte entsprechend der Navigationsstrategien
der Userlnnen arrangieren.
Weitaus alltäglichere Beispiele zur Illustration des Prinzips der Variabilität sind
RSS-Feeds, also einfache Veröffentlichungsdienste für Blogs oder Newsseiten
und sogenannte Feedreader, die Veröffentlichungsrneldungen sammeln und den
Abonnenten in Form simpler Nachrichtenseiten zur Verfligung stellen. Analog dazu
erlauben Podcatcher das Abonnieren und Verwalten von Pod- beziehungsweise Net
casts. Apples Multimedia-Venvaltungsprogramm „iTunes“ beinhaltet beispielsweise
diese Funktion. J)as Prinzip des Abonnements, also der nach bestimmten Vorgaben
automatisiert ablaufenden Angebotserstellung von Inhalten. ist in den letzten zehn
Jahren zunehmend wichtig geworden. So funktionieren der Kurznachrichtendienst
Twitter oder das soziale Netzwerk Facebook, um zwei dominante digitale Medienphänomene zu nennen, nach diesem Muster.‘
6 In Twitter abonniert man die (bzw.
„folgt“ man den) Veröffentlichungen anderer „Twitterati“ oder Mikrobloggern, die
auf einer eigenen, radikal einfachen Seite in Echtzeit aufgelistet werden. Ahnlich
werden Meldungen von Facebook-Benutzerlnnen auf den Seiten der „Friends“
(wie hier die Abonnenten heißen) nach einem automatisierten Auswahiverfahren
dargestellt. In beiden Fällen kommt das Prinzip der Variabilität insofern zum Tragen,
als ein Inhalt vielfach gespiegelt wird und sich bei den Abonnentinnen als Element
einesjeweils individuell unterschiedlichen Arrangements wiederfindet. „Retweets“,
„Likes“, Kommentare oder referenzierte Meldungen speisen dabei eine sich ständig
erweiternde Fülle neuer Inhalte. Twitter und RSS-Feeds weisen noch eine weitere
Dimension der Vernetzung auf, da „Tweets“ oder „Feeds“ in andere Plattfonnen
integriert werden können.
Das Prinzip der Transkodierung beruht auf dem Gegensatz analog
digital.
Technisch gesehen ist ein analoges Signal ein kontinuierliches Signal, während sich
ein Digitalsignal aus begrenzten Impulsen zusammensetzt (wert- und zeitdiskret).
Abgesehen von dieser rein technischen Definition werden die Termini einerseits
herangezogen, um auf Computertechnik basierende Medien von davor bestehender
Medientechnik (TV, Radio etc.) abzugrenzen bzw. überhaupt einen unscharf be
stimmten Bereich des Digitalen von der restlichen Welt zu unterscheiden. Letzteres
ist insofern stimmnig, als die reale Welt „irreduzibel analog“ ist.‘ Das gilt auch flur
den Menschen. Daher muss es immer einen Punkt geben, an dem das Analoge ins
Digitale übersetzt wird und umgekehrt. Transkodierung meint eben diese, letztlich
auch immer eine Urncodiening von Signalen beinhaltende, Ubersetzungsleistung. So
muss eine digitale Audiodatei immer in analoge Schallwellen umgewandelt werden,
um beim Menschen anzukommen. Der Computer selbst braucht keinen Ton.
1
—
Interface
I)as Prinzip der Transkodierung fahrt uns direkt zu den Interfaces. Die Entwicklung
von „Graphical User Interfaces also der grafischen Benutzerschnittstellen, stellt
einen entscheidenden Schritt in der digitalen Durchdringung unserer Welt dar. Sie
waren die Voraussetzung dafl.ir, dass Computer von Geräten fl3r Spezialisten oder
technikaffine Personen zu ubiquitären Kommunikations- und Unterhaltungsmaschi
nen werden konnten.
Viel präziser als der deutsche Begriff „Benutzerschnittstelle“ drückt das engli
sche „interface“ aus, worum es sich handelt. Es ist nicht einfach ein Ort. an dem
‘,
‚
:1E
Zu nennen wären auch die Dienste Tumhlr, Flickr, Digg oder Linkedin.
Hart,nut Il,,kle,: Basiswissen Medien. Frankfurt am Main 2008, S. 129.
1;1
‚
.Josef Kövtlhauer
318
der Maschine Anweisungen gegeben werden. Vielmehr ist es sowohl die Grenz
fläche zwischen Apparat und Mensch als auch eine Verbindung, über die Mensch
und Maschine verkoppelt werden. So wie das Interftice eine Anpassung der digital
operierenden Maschine an das analoge Wesen Mensch beinhaltet (mit grafischen
Oberflächen und auf die analoge Welt verweisender Symbolik), so setzt es auch eine
Anpassung des Menschen an die Erfordernisse der Digitalität voraus.
Dank des Interface werden uns die digitalen Mediengeräte zur Prothese, die
dem Mängelwesen Mensch immer weitgehendere Möglichkeiten erschließen. Es
entspricht dies dem Bild von Freuds ..Prothesengott“: das Interface. das Zwischen
gesicht. ist der Ort des Cyhorg, der Verschmelzung von Mensch und Maschine, von
Software und Gehirn. Die Unterbrechungen. Störungen, Fehler und Zugänglich
keitsschwellen. die den Apparatcharakter von Medien immer wieder hervorgehoben
haben. weichen heute zunehmend perfekten digitalen Inszenierungen interaktiv
bedienbarer Oberflächen. Es gibt keine Kommandozeile mehr, die ungeduldig
blinkend eine Anweisung fordert. Es gibt auch keine .‚Blue Screens mehr, die
immer wieder brutal die hübschen Oberflächen der Betriebssysteme durchbrachen
und unheilschwanger VOfl schweren Ausnahmefehlern kündeten. Gleichzeitig ist es
auch der Schleier, der die Maschine verdeckt und dem menschlichen Sinn etwas
vorgaukelt. Das bringt vielleicht auch eine subtile Ermächtigung der analogen
Moments: Das Bestreben möglichst lückenlose Interfaces zwischen Mensch und
Maschine zu schaffen, führt dazu, dass die Modi menschlicher Wahrnehmung neue
Bedeutung erfuhren.
Verdichtung
Sucht man dcii durch die [)igitalisierung ausgelösten Wandel zu benennen, dann
bietet sich das Schlagwort der medialen Verdichtung an. In der Verdichtung der Me
diensysteme laufen alle bisher angeführten Aspekte zusammen. War der Computer
ursprünglich noch ein Ungetüm, ein Einzelgerät, bedient von einer Kaste technikbegeisterter „Geeks“, so ist er heute zu einem ubiquitären Gegenstand geworden.
Voraussetzungen dafür waren die Verbreitung des Heimcomputers ab den frühen
1980er Jahren. die Entwicklung der grafischen Interfaces. die Vernetzungsmöglich
keiten durch das Internet und die Möglichkeiten, große Datenmengen zu sammeln.
zu verwalten und automatisiert nutzbar zu machen.
Heute stecken Computer in den verschiedensten Geräten. Wir registrieren ihre
Anwesenheit meist genauso wenig wie wir wissen, welche Software gerade aktiv ist
und was sie gerade tut egal. ob im Laptop. im Telefon. im Auto oder in den großen
Netzen, mit denen wir auf die eine oder andere Art verbunden sind. In der Temino
logie der Marketingahteilungen ist das neue Schlagwort dafür „smart“: Smartphones,
Smartcars, Smarthomes. Alles soll klug sein, alles will für uns denken. bis hin zur
Küchenmaschine. Hier findet eine beispiellose Verdichtung statt, all diese Geräte
kommunizieren, die Vernetzung wird zunehmend engmaschiger, wir bewegen uns
in einem immer stärker zLisamrnenwachsenden Mediensystem.
Es ist auch eine Verdichtung in deni Sinn, dass das Digitale die klassischen Ein
zelmedien usurpiert und sich einverleibt. Sie alle durchlaufen heute das I)igitale und
werden zunehmend in digitalen Interfaces repräsentiert. Film, Fernsehen, Radio.
Zeitung, Telefon: alle diese einst analogen Medien sind zu großen Teilen oder voll
ständig digitalisiert worden. erst bei den Konsumentlnnen treten sie noch einmal in
—
Digitale Reol,,tion
analoger Form wieder zutage und auch das nicht immer. Tageszeitungen beispiels
weise existieren heute meist parallel auf Papier und digitalem Format. Waren dabei
die Redaktionen für Print- und Onlineausgaben früher noch getrennt, so werden sie
heute immer öfter zusammengelegt. Mit Plattforrnen wie Youtuhe oder Twitter sind
gleichzeitig genumn digitale und der Online-Sphäre zugehörige Konkurrenzformen
entstanden. Das manifestiert sich auch auf wirtschaftlicher Ebene. lT-Konzerne wie
Apple oder Google haben sich in klassischen Industriefeldem etabliert und produ
zieren heute Telefone und demnächst wohl auch Fernseher.
Eine weitere Ebene der Verdichtung spielt sich in der oft konstatierten Perforation
der Grenzen zwischen Produktion und Konsumation von Inhalten ab. Das Einweg
system der klassischen Massenmedien gehört der Vergangenheit an, das Internet
ist voll von eigenproduzierte Inhalten. auch wenn etwa im News-Bereich durchaus
eule große Beharrungskraft der klassischen Medien festzustellen ist. l‘rotzdern
haben Blogs, Youtube oder Twitter die Konfigurationen medialer Offentlichkeit
nachhaltig verändert.
Für den Zusammnenfall der Positionen von Produzent und Konsument wurde sogar
ein neuer Begriff geprägt, nämlich „Prosumer“. Bezeichnenderweise entstand dieser
ungelenk anmutende Begriff bereits in in den 1980er Jahren. Der Futurologe Alvin
Toffier erfand den Begriff damals, um eine Vision personalisierter Produktionsme
chanismen zu beschreiben: Konsurnentlmnmen würden ihre Wünsche und Präferenzen
bekannt geben. um individuell zugeschnittene Angebote zu erhalten. Damit würden
die Konsurnentlnnen (bis zu einem gewissen Grad) auch zu Produzentlnnen.‘
9 Erst
Anfaiig der 21. Jahrhunderts fund der Begriff dann Eingang in die Terminologie
zur Beschreibung sozialer Netzwerke: Durch das Verfassen, Teilen. Verlinken und
Kommentieren von Einträgen, also durch die Eigenschaften der Modularität und
Variabilität, werden Konsumenten in diesem Sinne selbst dann zu Produzenten,
wenn sie nicht selbst Inhalte erstellen und hochladen. Es sei dahingestellt, ob der
I3egriff passend ist. Offensichtlich ist aber, dass die ursprüngliche, kommerzielle
Vision Toffiers von Amazon, Google & Co längst umgesetzt wurde.
Bemerkenswert ist, dass viele dieser Veränderungen vergleichsweise wenig
sichtbar sind. Natürlich haben sich in vielen Bereichen Kulturtechniken und Praxen
deutlich verändert. Das zeigt sich etwa bei der wissenschaftlichen Arbeit, wo Re
cherche und Textproduktion in den letzten zehn Jahren tiefgreifende Veränderungen
und Weiterungen erfahren haben.
° Aber radikale Veränderungen wie die Verwal
2
tung umuübersehharer Datenbestände, die im Begriff sind. tradierte Vorstellungen
von Offentlichkeit. Privatheit. Ethik. ja vom Subjekt. aus den Angeln zu heben.
ollziehen sich (meist) abseits alltäglicher Erfahrung. Obwohl wir alle dazu mehr
oder weniger aktiv durch unsere Mediennutzung beitragen, bleiben diese Prozesse
hinter den Schleiern der Interfuces verborgen.
—
Diskurse
Aus medienhistorischer Perspektive betrachtet sind es jedoch weniger technische
Entwicklungen. die die „neuen Medien allererst als neue Medien etablieren und
somit eiutscheidender Faktor für ihre Durchsetzung. für ihre Eriblgsgescluichte. für
‚
A[ui,, Tojfler: I)ie dritte Welle Zukunftschance. Visionen für die Gesellschaft des 21.
Jahrhunderts. ünchen 1987.
Für (lie Geschichtswissenschaft vgl. etwa Peter Naher: Digital Past. (ieschichtswis
senschaf nn digitalen Zeitalter. München 2011.
—
Sigmuncl Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften.
Fiankfiirt am Main 1991, S. 57.
1
319
20
320
ihre Positionierung in der Geschichte der Medien sind“. Bestimmend ist vielmehr
der Diskurs über die neuen Medien.
Angesichts der Jahrzehnte. die seit der Erfindung des Computers oder der Etablie
rung des Internet ins Land gezogen sind, ist es schon beachtlich, dass nach wie vor
von neuen Medien gesprochen wird. Der deutlich passendere Begriff des I)igitalen
ist heute zwar ebenfalls ein allgegenwärtiger Begriff, aber er taucht in den verschie
densten Kontexten auf und hat ein entsprechend unscharfes Bedeutungsspektnim
gewonnen. Er ist in die Alltagssprache eingegangen als Synonym flur Neues, fir
Innovation, Fortschritt und High-Tech. Dabei, und das ist interessant, vet-drängt
das Adjektiv „digital“ in diesen Zusammenhängen das Präfix .‚e-“ genauso wie das
Adjektiv „elektronisch“. Der Hintergrund ist vermutlich die zunehmende Unsicht
harkeit der Hardware. Auch die Software tarnt ihren elektronischen Charakter und
versteckt sich hinter visuellen Repräsentationen analoger Wirklichkeit.
Der Diskurs über „neue“ Medien ist in ganz signifikanter Weise von tradierten
Mustern bestimmt, die aufgerufen werden, sobald ein neues Medium ins Bewusst
sein tritt. Die Aussagen darüber, was diese Medien bewirken, bewirken werden oder
bewirken sollen, ähneln sich über die Zeitläufe hinweg. Sie sind nicht das Resultat
von Analyse und Extrapolation. sondern Ausdruck von Hoffnungen und Idealen, die
in der Gesellschaft bereits vorliegen. Dabei ist gerade die Medienwahrnehmung seit
der Neuzeit stark von Technikhildern dominiert. Paradigmatische Funktion kommt
dabei dem Buchdruck zu. Die Entstehung dessen, was seit Marshall McLuhan gerne
als „Gutenberg Galaxis“ bezeichnet wird, liefert die Folie flur die Beurteilung des
22 Dazu kommt, dass unsere Utopien sehr oft technische Utopien sind: Ei
Digitalen.
senbahn, Telegrafie, Radio. Femsehen, Verbrennungsmotoren, Atomenergie usw. All
diesen technischen Erfindungen wurde das Potenzial zugeschrieben, gesellschaftliche
und politische Utopien zu realisieren. Steigerung der Uhertragungsgeschwindigkeit,
Massendistrihution, Egalisierung des Zugangs, Aufhebung von Raum und Zeit das
waren die Momente, die immer wieder Friede, politische Freiheit. Befieiung des In
dividuums, Demokratie zu versprechen scheinen. Bereits im Zuge der Französischen
Revolution beschäftigte man sich mit neuen Medien der Nachrichtenübertragung in
der Hoffnung auf ein egalitäres. „revolutionäres“ Massenmedium. 1789 genehmigte
das Direktorat der französischen Republik die Konstruktion eines „tlologue“, einer
22 Das atlantische
Anlage, mit der eine ganze Stadt kommunizieren können sollte.
24 Bertolt
Uberseekabel Mitte des 19. Jahrhunderts sollte dem Weltfrieden dienen.
Brecht beschrieb das Radio 1927 als Möglichkeit „an die wirklichen Ereignisse
21
22
Eckl,arclSchu,,zacher: Revolution, Rekursion, Rernediation: Hypertext und World Wide
Web. In: Albert Küniniel/Leander Sehnlz/Eekhard Schnnnache, ([-Ig.): Eintührting in
die Geschichte der Medien. Paderborn 2004. S. 255280. hier S. 257.
tvIa,shall MeLuha,,: The Gutenberg Galaxy. The Making offypographic Main. Foronto
ua. 1995. Exemplarisch hat Michael Giesecke die Etablierung des gedruckten Textes
als neues Medium untersucht. Siehe Jtfk-hael (Jiesecke: Geschichte des Buchdrucks in
der Frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informa—
lions- und Komrnunikationstechnologien. Frankfurt am Main 1Q91; Helmut Schanze
untersuchte das Weiterwirkeii der Metaphorik des T3uchdrucks in den netten Medien.
22
21
Digitale I?ei‘ofz,tjo,,
.JosejKöstlbauer
Siehe Helnutt Sc-lianze: Die Wiederkehr des Buches. Zur \ietapliorik der 1)igitalinedien.
In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 50 (l95), 8. 53-60.
Dieter L)aniels: Kunst als Sendung: Von der Telegrafie zum Internet. München 2002.
S. 28.
Frai/c Hmtnnann: Globale Medienkulttir. Technik, Geschichte, llieorieii. Wien 2006,
S. 77.
321
näher heranzukommen“ und so an der Aufklärung der Öflntlichkeit tnitzu wirken.
25
Marshall McLuhan konstatierte ein Schrumpfen der Welt zum „global village“:
Aufgrund der Uherwindung von Zeit und Raum durch elektronische Medien würde
eine neue Kollektivität entstehen. McLuhan dachte 1962 allerdings in erster Linie
an das Fernsehen.
26 Der durchaus skeptische Charakter von McLuhans Bestandsauf
nahme wurde in der populären Rezeption durch eine sehr optimistische Vorstellung
vom globalen Dorf als weltumfassender Solidaritätsgemeinschaft überlagert. Im
Jahr 1970 pochte Hans Magnus Enzensberger auf das revolutionäre Potenzial der
elektronischen Medien und sah sie als Agens einer umfassenden Teilnahme am ge
sellschaftlichen Prozess-. ‚.Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch
einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen: die Programme
sind lmn1ateriell und beliebig 27
reproduzierbar.“ Freilich sind Enzensbergers „neue
Medien“ unsere alten Medien, nämlich Radio und Fernsehen. Und seine Revolution
war die sozialistische Revolution.
Immer wieder zielen die technischen Utopien auf die Erweiterung oder Auflösung
des Subjekts. Sei es McLuhans Bild von den elektronischen Weiterungen des Men
schen oder der vernetzte Mensch von heute.
26 Diesen Erweiterungen des Menschen
entspricht spiegelbildlich die Vorstellung von der Subjektwerdung der Maschine.
Die Fantasien von menschenähnljchen Automaten. Robotern und Androiden sind
eine Begleiterscheinung unserer Technikhegeisterung seit der Aufklärung. Heute
werden die imaginierten nichtrnenschliclien \Vesen zunehmend körperlos. Es ist der
Code, der verspricht, den Menschen zu simulieren.
Im Diskurs über die digitalen Medien kann man all diese utopischen Vorstellun
gen (und ihre dystopischen Entsprechungen) in vielfacher Weise wieder auffinden.
Der Medienwissenschaftler Felix Stalder hat zwei Phasen des digitalen Zeitalters
beschrieben, die sich auch im Diskurs abbilden.
29 In der ersten Phase erscheinen die
digitalen Medien als Agens, das die Utopie der Vernetzung ennöglicht. Informationen
und Wisseii verden damit allgemein zugänglich, die Kontrolle über Inhalte wandert
von wenigen institutionalisierten Sendern hin zu allen am Netz Teilhabenden.
Gerade das World Wide Web war Fokus breiter utopistischer Erwartungen. Es
sollte ein freier Marktplatz der Ideen sein, frei von regulatorischen Interventionen.
Dabei erfüllt das Netz in den 1990er Jahren durchaus Erwartungen an nette For
meii individueller und kollektiver Autonomie. Horizontale, dezentrale offene und
transparente Kommunikationsfonnen machten kollaborative Projekte möglich.
Freiwilligkeit und aktive Partizipation, Freie Software und die Open Source
Bewegung schufen erstaunliche Projekte wie Wikipedia. Die Tätigkeit engagierter
Blogger ließ Ideen von der Abschaffung des klassischen Journalismus durch Bür
gerjournalisten aufkommen.° Einen Höhepunkt in den Erwartungen an neue, durch
25
Berrolt Brecht: Radio
ente vorsintflutliche Erfindung? (1927). In: Günter Helnnes/
Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart 2002, S. 149-154.
lfrlcLithan: The Gutenberg (ialaxy (wie Anm. 22).
Hans Magnus Enzeiisbeiger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. tu: Kursbuch 20
(1970), S.l59-l86, hier S. 167.
Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man. London 1964.
F“e/i. Stalde,-: In der zweiten digitalen Phase. Daten versus Konununikation. In: Le mon—
dc diplomatique, 14.2.2014. Online: http://vww.inonde-diplornatique de/pm/
014/O)/ 14.
2
mondeiext.artikel.a0040.idx.5 (23.7.2014).
Erik Möller: Die heimliche Medienrevolution. Wie Wehlogs, Wikis und freie Software
die Welt verändern. Hannover 2005; Horst Pn/unger: Arc You Serious‘? The potential
und the reality of wehlogs as mass media, and why they matter. 2004. Online: http://
www.aardvark.at/blog/stories/ prillingerblogtalkü4.pdf (23.7.2014).
-
26
27
28
20
‘°
1
.322
Josef Köstlbauer
soziale Netzwerke ermöglichten Organisationsfbrinen markierte das Schlagwort
der Schwarrnintelligenz, das Mitte der 2000er Jahre in den Diskurs über die neuen
Medien Eingang fand.
Welche Macht der Diskurs dabei über die Wahrnehmung hat, illustrieren die po
litischen Revolutionen des arabischen Früh lings 2010/2011. In der Beurteilung der
Geschehnisse wurde in der Berichterstattung sehr früh die Rolle (digitaler) sozialer
Medien fokussiert. In Tunesien oder Agypten boten Online-Netzwerke einerseits
Räume. die von Zensur weitgehend unbehelligt waren, andererseits ermöglichten
diese Netzwerke die Koordination von politischen Aktionen und die Kommuni
kation mit einer globalen Offentlichkeit. Sie stellten also alternative Veröffentli
chungskanäle für Botschaften und Informationen über das aktuelle Geschehen dar.
Cierade Letzteres führte dazu, dass die westliche Offeritlichkeit das Geschehen vor
allem über die sozialen Netzwerke wahrnahm. Der arabische Frühling wurde damit
kurzerhand zur Erfolgsgeschichte von Twitter und Youtube erklärt, in der das de
mokratische, befreiende Element der neuen Medien sozusagen zu sich selbst fand.
Das legt zumindest den Verdacht nach, dass in Unkenntnis lokaler Gegebenheiten
und genauer Umstände das einzige, das bekannt erscheint, alle Aufmerksamkeit
auf sich zieht --vor allem dann, wenn es in den etablierten Diskurs passt. Während
neue Medien zweifellos eine signifikante Rolle in den Ereignissen in Tunesien oder
in Agypten 2011 spielten, besteht in dieser Form der Berichterstattung die Gefahr.
dass die komplexe und widersprüchliche Natur von Revolutionen nivelliert wird.
Die vielfältigen Motive der Beteiligten. politische Zusammenhänge sowie die Be
‘
3
deutung anderer Formen der Kommunikation und Vernetzung bleiben unsichtbar.
Aber die Heilsversprechen und Heilserwartungen entfalten auch selbst Wirkung.
treiben Geschichte voran. Dem unterliegt selbst die gegnerische Seite: Die restriktive
Netzpolitik von Staaten wie C‘hina oder die cholerischen Ereiferung des türkischen
Ministerpräsidenten Erdogan über social networks zeigen. dass die Mächtigen die
dominante Auffassung von der Wirkung neuer Medien längst übernommen haben.
Natürlich verschieben neue Technologien und neue Medien Verhältnisse. entstehen
neue Praxen. verändern sich alte. Nur ist darauf zu achten, dass nicht in teleolo
gischer Manie rückwirkend alles als Medienwirkung oder Folge technologischer
Entwicklungen erklärt wird. Die Gefahr dabei ist, dass Motive, Hintergründe oder
gegenläufige Entwicklungen übersehen werden. Das heilsgeschichtliche Narrativ
der neuen Medien wird zur immer verfügbaren, alles befriedigenden Erklärung.
Bezeichnend ist, dass Medienphänomene, für die keine tradierten Muster im Dis
kurs über neue Medien vorliegen, dort kaum auftauchen. Ein drastisches Beispiel ist
die Porno-Industrie, die seit von Anbeginn an die Potenziale des World Wide Web
erkannte und in großem Stil für sich nutzte. Bis heute gehören sogenannte „Adult
32
Sites“ zu den größten Webseiten im Netz mit Milliarden von Klicks pro Monat.
Die „zweite digitale Phase“ bezeichnet Felix Stalder als gegenrevolutionäre Phase.
Ihr Symbol ist „nicht mehr die Community. sondern das Datencenter-- eine Black hox
mit industriellen Dimensionen, kapitalintensiv. komplex und opak“. Wollte man
Digitale Re“o/ution
den Beginn dieser zweiten Phase chronologisch verorten, so bieten sich die Veröf
fentlichungen der Organisation Wikileaks des Jahres 2010 an, in denen unzählige
geheime Dokumente US-amerikanischer Institutionen veröffentlicht wurden.
34 Die
in den Enthüllungen des Wh i stleblowers Edward Snowden offenbarte Datensamm
lungswut der Geheimdienste zeigt, dass die Realität in einer erschreckenden Weise
an die dystopische Visionen zu „neuen“ Technologien herangerückt ist.
Es ist so etwas wie ein Kampf entbrannt zwischen den Gläubigen der ersten Phase
des Internets und den Verwaltei-n und Profiteuren des Datensamrnelns. Massiv zutage
trat das im Fall der Wikileaks und der Diskussion um die Strafverfolgung und Flucht
des Mithegründers Julian Assange im Jahr 2012. Aber die schon zuvor stattfindenden
Diskussionen uni Datenschutz, Vorratsdatenspeicherung oder Staatstroj aner zeigten,
dass es sich nicht einfach um ein Problem der Kontrolle von Nachrichtendiensten
handelt. Vielmehr werden Daten mittlerweile überall erzeugt, verwaltet, verwendet
und gehandelt. Es gibt längst keine klaren Frontverläufe in dieser Auseinanderset
zung mehr. Wie der Flistoriker Wolfgang Schmale und die Juristin Marie-Therese
Tinnefeld feststellen, ist mit der Aushöhlung der Privatheit im digitalen Zeitalter ein
Angriff auf die demokratische Ordnung unserer Gesellschaften, auf zivilisatorische
Eriungenscha ften verbunden.
‘
3
32
1
Bewertung: Revolution, Evolution, Innovation
Über die Hinterfragung diskursdoininierender Begrifflichkeiten hinaus ist es müßig,
Medienrevolutionen zu begründen oder zu bestreiten. Im Blick in die Vergangenheit
lässt sich das Revolutionäre schwer chronologisch festniachen: jedes Datum. jedes
Ereignis, das genannt wird, ist letztlich wenig mehr als ein Anker flur Narrative. Viel
besser lassen sich evolutionäre Entwicklungen beschreiben. Das bedeutet keines
wegs, dass deren Auswirkungen nicht tiefgreifend sind.
Jedenfhlls schadet es nicht, apodiktischen Fonmilierungen mit Vorsicht zu begeg
nen, etwajener Stefan Münkers und Alexander Roeslers: „Kein Medium hat jemals
zuvor so schnell so viele grundlegende gesellschaftliche Anderungen und technische
Innovationen mit sich gebracht wie das Internet; und dessen Erfolgsgeschichte ist
noch nicht am Ende.“
37 Findet hier nicht die Fortschreibung eines Commonsense
statt, der nicht mehr hinterfragt wird, aber zu hinterfragen wäre gerade aus histo
rischer und aus diskursanalytischer Perspektive?
Vielleicht ist es zu früh für den Versuch einer Einordnung. Eine vorläufige Bewer
tung könnte eine Phase der sich intemisivierenden Medienevolutionen beschreiben.
ausgelöst und am Laufen gehalten durch eine Kette technischer [nnovation. die
ihrerseits auf niedieninduzierte Veränderungen kultureller Praxen reagieren.
Wenn es stimmt, was Schmale und Tinnefeld über die Bedrohung der Privatheit
schreiben und was Neelie Kroess konstatiert,
35 dann passiert möglicherweise erst
gerade jetzt eine Revolution und zwar im Sinne einer radikalen Veränderung des
—
Afghan War Diary 25.
Vgl. etwa Co/in Delanev: How Social Mcdiii accelerated Tunisma‘s Revolution: An
Inside View. In: Huffington Post 2. 10.20 t 1. Online: http://www.huftingtoiipost.com‘
colin-delany/how-social-media-accelerab 82 1497.html (23.7.2014).
Genaue quantitative Untersuchungen dazu scheint es nicht zu geben. Ich verweise auf
zwei journalistische Beiträge aus dein Jahr 2012. Burkhard Schröder. Pornos machen
das Netz schneller. In: Taz, 6.6.2012. Online: http://www.taz.de/!94778/ (18.7.2014); Se
bastian Anthoni: Just how hig are porn sites? In: Extreme lech, 4.4.2012. Online: http://
www.extrernetech.com/computing/l 23929-just-how-hig-are-porn-smtes (18.72014).
StaMer: Zweite digitale Phase (wie Anm. 29).
323
JLilI
2010 http://www.wmkileaks.org/wikj/Afgha,3wa,.Dja
ry,2004-20l0; traq War Logs 22. Oktober 2010 https://wikileaks.org/irq/
Zu Staatstrojaner siehe Wo1fang Sc/i,nale/Marie-T/,eres Tinne/ld: Privatheit
6
‘
talen Zeitalter. Wien u. a. 2014, S. 97-110.
Ebenda: 5. 163-168,
mi digi
Ste,f,ii Miinkrr/,4lexanderRoesler (hg.): Vom Mythos zur Praxis. In: Dies. (lfg.): Praxis
Internet. Frankfurt am Mai,, 2002, S. II.
„Ich glaube, dass die jüngsten Spionageskandale das Band zwischen Technologie und
Demokratie durchtrennt haben.“ Kioess: Die FU und die digitale Revolution (wie
Anm. 1).
-1
lose! Köstfhauer
324
Menschenbildes in unseren Gesellschaften. Oh das Adjektiv „digital“ noch ange
messen sein wird, um diese Revolution zu charakterisieren, das muss offen bleiben.
Für die Geschichtswissenschaft bedeutet die „digitale (R)Evolution“ eine einma
lige Situation. weil damit die analytische Durchdringung eines Wandels verlangt
ist, der sich eben vollzieht und der mitten in die wissenschaftliche Tätigkeit, in die
eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen hineinreicht. Dem gerecht zu werden, wird
eine „nahe Beobachtung“, ein „dose reading“ unserer eigenen Umstände brauchen
und ein geschärftes Bewusstsein flur Wesen und Bedeutung von Medien.
Österreich in Geschichte und Literatur (mit Geographie)
-
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Gedruckt mit Förderung durch das
Kuhuramt der Stadt Wien, Abteilung Wissenschafis- und Forschungsförderung,
die Kulturabteilung des Landes Niederösterreich
und aus den Mitteln des Bundesministeriums für Verkehr. Innovation und Technolouie
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KULTUR
NIEDERÖSTERREICH
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[.1 Dieser Zweck soll erreicht werden durch: 1...] b) Herausgabe von Publikationen [.1“
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